Wissen und Entscheidungen: Herausgegeben und übersetzt von Hardy Bouillon [1 ed.] 9783428583515, 9783428183517

Wissen motiviert unsere Entscheidungen, die wir unter Anreizen und Beschränkungen treffen, die Wirtschaft, Gesellschaft

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Wissen und Entscheidungen: Herausgegeben und übersetzt von Hardy Bouillon [1 ed.]
 9783428583515, 9783428183517

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Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 5

Thomas Sowell

Wissen und Entscheidungen

Duncker & Humblot · Berlin

THOMAS SOWELL

Wissen und Entscheidungen

Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 5

Thomas Sowell

Wissen und Entscheidungen Herausgegeben und übersetzt von

Hardy Bouillon

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 2510-2893 ISBN 978-3-428-18351-7 (Print) ISBN 978-3-428-58351-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber Mit der Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus sollen einschlägige Schriften, die in der Tradition des Klassischen Liberalismus und in geistiger Nähe zu Friedrich August von Hayek stehen, einer deutschsprachigen Leserschaft nähergebracht werden. Zu diesem Zweck werden Schlüsselwerke bedeutender Autoren übersetzt und in deutscher Erstausgabe herausgegeben. Gleichwohl ist die Schriftenreihe nicht auf Übersetzungen beschränkt, sondern auch offen für Arbeiten gegenwärtiger Autoren, die sich der Schule des Klassischen Liberalismus und dem freiheitlichen Denken Hayeks eng verbunden fühlen. Auf den Autor des fünften Bandes trifft beides zu. Wissen und Entscheidungen (Knowledge and Decisions) ist eine Abhandlung, die Grundmuster individueller und kollektiver Entscheidungen untersucht und der Frage nachgeht, welche Rolle das Wissen in den Prozessen der Entscheidungsfindung spielt bzw. zum Wohle der Freiheit und aus Gründen der individuellen und kollektiven Effizienz spielen sollte. Es ist ein Frühwerk des Autors und das erste, das ins Deutsche übertragen wurde. Zu seinen übrigen Werken zählen On Classi­ cal Economics (2006), Wealth, Poverty and Politics (2016) und Discrimination and Disparities (2018). Viele seiner Schriften wurden in insgesamt 13 Sprachen übersetzt. Wissen und Entscheidungen ist wohl dasjenige von Sowells Werken, das in Tenor, Tiefe und Tendenz den Einfluss Hayeks am deutlichsten erkennen lässt. Thomas Sowell wurde 1930 in den USA geboren. Seine Jugend verbrachte er in North Carolina und New York. Über Umwege – er ging zunächst zum Militär und versuchte sich als Photograph – fand er den Weg zur Universität und zu den Wirtschaftswissenschaften. Sowell studierte Ökonomie in Harvard. In Cornell wurde er Assistenzprofessor, bevor er 1968 in Chicago promovierte. Professuren führten ihn an die Brandeis Universität und die UCLA. Ende der 70er Jahre wurde er an die Hoover Institution in Stanford berufen. Dort lehrt er seit über 40 Jahren als Senior Fellow. Und dort entstand auch Knowledge and Decisions, das 1980 erschien. Nach Die Theorie der dynamischen Effizienz von Jesús Huerta de Soto ist Wis­ sen und Entscheidungen der fünfte Band der Reihe. Weitere Bände anderer Autoren sind in Planung und sollen im Jahresrhythmus erscheinen. Die Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus wird unterstützt von der Friedrich August von Hayek-Stiftung, Berlin. Prof. Dr. Hardy Bouillon  Prof. Dr. Gerd Habermann  Prof. Dr. Erich Weede

Einleitung des Herausgebers und Übersetzers Wie kaum eine andere Größe prägt und motiviert unser Wissen die Entscheidungen, die wir unter den Anreizen und Beschränkungen treffen, die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik vorgeben. Aber wie läuft der vom Wissen maßgeblich beeinflusste Entscheidungsprozess ab? Wie wirken sich die Anreize und Schranken seitens Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auf ihn aus? Und welche Folgen hat es, wenn Letztere das Wissen und die Entscheidungsprozesse verzerren? In Wis­ sen und Entscheidungen geht Thomas Sowell derlei Fragen mit großer Hingabe nach. Eine seiner wichtigsten Thesen – wenn nicht sogar die Kernthese – könnte man wie folgt wiedergeben: Entscheidungsprozesse führen nur dann zum Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft, wenn prospektiv gerichtetes und unverzerrtes Wissen zur Wirkung kommt, weil retrospektiv geartetes Wissen nur kategorische Entscheidungen zulässt, nicht aber jene systemischen und inkrementellen Entscheidungen, die der Komplexität des gesellschaftlichen Lebens besser gerecht werden als ihre kategorische Alternative. Wissen und Entscheidungen ist eine gleichermaßen umfassende wie tiefschürfende Analyse der genannten Wechselwirkung, die Wissen, Wirtschaft und Gesellschaft unter der Maßgabe von Recht und Politik eingehen – bebildert und beleuchtet vor dem Hintergrund der jüngeren amerikanischen Geschichte. Sowell hat sein Buch zweigeteilt. Der erste Part (Gesellschaftliche Institutionen) ist vornehmlich analytischer Natur, während der zweite Teil (Themen und Tendenzen) primär der Anschauung dient. Teil 1 beginnt mit zwei einführenden Kapiteln, in denen Sowell die Rolle des Wissens und die Struktur der Entscheidungsprozesse analysiert, bevor er sich – in Kapitel 3 – der Struktur jeder wissensbasierten Entscheidungsfindung annimmt, die in Gestalt einer das Wissen widerspiegelnden Güterabwägung zum Ausdruck kommt. Kapitel 4 gilt dieser Güterabwägung in den Bereichen Gesellschaft und Politik, und Kapitel 5 dem politischen und verwaltungstechnischen Problem, das der systemisch bedingten Priorisierung kategorischer Entscheidungen zulasten inkrementeller Entscheidungen entspringt. In Kapitel 6 fasst Sowell die Kernthesen des ersten Teils zusammen. In Teil 2 dominieren die Fallbeispiele. Mit ihrer Hilfe veranschaulicht Sowell seine Thesen aus dem ersten Teil des Buches. Aber nicht nur das! Er führt auch eindringlich vor Augen, wie folgenreich jene externen Verzerrungen von Wissen und Entscheidungsprozessen sind, die vielerorts um sich greifen und dabei bestimmte Tendenzen erkennen lassen. In Kapitel 7 stimmt er dieses Tendenzthema historisch an, um dann in sehr ausführlicher Weise bestimmte Trends in Ökonomie, Recht und Politik nachzuzeichnen. Für den Wirtschaftssektor (Kapitel 8) wählt er

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Themen wie Preiskontrolle, Mietpreisbindung und andere Formen ökonomischer Intervention bis hin zur Wirtschaftsplanung. Das Aufkommen der Bundesbehörden und die mit ihnen einhergehende Neuauslegung der Verfassung sind ein zentrales Thema von Kapitel 9 (Rechtswesen). Gleiches gilt für die partielle Aushebelung der klassischen und föderalen Gewaltenteilung in den USA, die Sowell mit namhaften Gerichtsfällen zur Rassenfrage und zur Kriminalität illustriert. Kapitel 10 richtet das Augenmerk auf Tendenzen in der Politik, vor allem auf die Zunahme staatlichen Handelns und staatlicher Macht sowie die Rolle der Intellektuellen. Sowell führt die Verzerrung von Wissen, die Verlagerung von Entscheidungseinheiten und die Veränderung der Entscheidungsprozesse, welche die genannten Tendenzen kennzeichnen, vornehmlich auf den Einfluss von Intellektuellen zurück. Viele der Analysen und Fallbeispiele haben seit Erscheinen der Erstausgabe kaum an Aktualität eingebüßt und erinnern zudem an Phänomene aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, die man in vielen Demokratien der Gegenwart beobachten kann. Das gilt auch im Hinblick auf die Intellektuellen und deren Rolle in der Gesellschaft. Sowell definiert sie als „Personen, die mit der Übermittlung verallgemeinerter Ideen ihr Geld verdienen.“ Die Anfänge ihres Aufstiegs legt er in die Zeit des New Deal. „Die New Deal-Regierung nahm in den 30er Jahren auch sehr viele Intellektuelle in den Staatsdienst auf. Am New Deal-Prozess wirkten viele von ihnen mit – nicht nur in den Behörden. Andere wurden an den Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen zu Mitstreitern ihrer Gesinnungsgenossen. Auch dies wurde zu einem dauerhaften Merkmal der politischen Entscheidungsfindung. Intellektuelle Weltanschauungen und Moden machten sich in der politischen Entscheidungsfindung breit, aber nicht offen und erkennbar unter dem Banner einer Interessengruppe oder Ideologie, sondern verschleiert und abgekapselt als ‚Expertise‘.“ Den Begriff des Experten verwendet Sowell kaum, ohne ihn mit Anführungszeichen zu versehen – zu suspekt ist ihm die Form der Wissensverzerrung, die von jenen ausgeht, bei denen Entscheidungsdrang und entscheidungsrelevante Kenntnisse in einem unausgewogenen Verhältnis zueinanderstehen. Es ist nicht nur die Anmaßung von Wissen schlechthin, die Sowell kritisiert, sondern auch die mit ihr einhergehende Verkennung dessen, wer was erkennen und entscheiden kann, damit es ihm und der Gesellschaft bestmöglich nutzt. Sowell erinnert mit seiner erkenntnistheoretischen Kritik an einen anderen Autor in dieser Schriftenreihe. Gemeint ist Herbert Spencer, der einst schrieb: „Kein Mensch und keine Gruppe kann durch Überprüfung erkennen, was die Gesellschaft am meisten braucht; man muss es der Gesellschaft überlassen, selbst zu spüren, was sie am dringendsten braucht. Die Methode, das herauszufinden, muss eine experimentelle sein, keine theoretische.“1

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Spencer (2019), S. 44.

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Sowell kritisiert nicht das theoretische Wissen an sich. Ganz im Gegenteil! Aber er rügt die in der Politik verbreitete Verkürzung der Rationalität auf die in Theorien gegossenen Erkenntnisse. Wenn er von Rationalität spricht, dann hat er vor allem Güterabwägungen im Sinn. Individuelle Rationalität meint demnach die Güterabwägung des Einzelnen, soziale oder systemische Rationalität die Güterabwägung, die das Interesse der Gesellschaft bzw. des Systems widerspiegelt. Sowell weiß um die Besonderheiten, die Teilen seiner Terminologie eigen sind. Daher lässt er es nie an sorgfältigen Begriffserläuterungen fehlen. So lernt der Leser, wie der Autor verstanden sein will, auch wenn dessen Begriffe und Ausdrücke im Verlaufe des Buches zusätzliche Bedeutungen erfahren. Das gilt gleichermaßen für Begriffspaare, denen eine Schlüsselbedeutung zukommt (z. B. prospektiv vs. retrospektiv, inkrementell vs. kategorisch, systemisch vs. intentional, artikuliert vs. implizit, usw.). Für Übersetzungen birgt derlei mitunter ein Dilemma: Einerseits will man die Authentizität wahren, die der Autor mit seinem Stil an den Tag legt, andererseits riskiert man, mit einem starren Festhalten an stehenden Begriffen und Begriffspaaren beim Leser ungewollt Befremden oder gar Unverständnis auszulösen. Dergleichen will man verständlicherweise vermeiden – etwa durch ein kontextorientiertes Ausweichen auf sinnverwandte Begriffe und Ausdrücke (z. B. „rückblickend“ oder „im Nachhinein“ statt „retrospektiv“). Von dieser Möglichkeit wurde auch hier Gebrauch gemacht – wo es sinnvoll erschien. In anderen Fällen war es geboten, die Authentizität des Stils stärker zu gewichten – z. B. dort, wo Sowell von Intellektuellen und dementsprechend vom „intellektuellen Prozess“ spricht. Wir gaben hier der wörtlichen Übersetzung den Vorzug vor der übertragenen – obwohl in einigen Fällen der Begriff „geistiger Prozess“ das vom Autor erzeugte Bild passender beschrieben hätte. „Inkrementell“ ist ein von Sowell oft und gern benutzter Ausdruck, vor allem um einen Entscheidungstypus zu charakterisieren, der den Kontrast zum Typus der kategorischen Entscheidung betonen soll. Inkrementelle Entscheidungen sind demnach kasuistischer Natur. Sie gestalten sich von Fall zu Fall anders, weil sie von der momentanen Situation, den aktuellen Anreizen und Zwängen, abhängen. Sie können zudem stufen- bzw. schrittweise erfolgen, aber das heißt nicht, dass das Ziel der Reise vorab geplant sein müsste oder von Anfang an klar wäre, wohin die Treppe (respektive der Weg) führt. Manchmal, etwa beim Begriff der inkrementellen Kosten, sind schlicht die Zusatzkosten gemeint – in Abgrenzung zu den Fixkosten, die mit kategorischen Entscheidungen (ein Unternehmen zu gründen u. ä.) einhergehen. Meistens aber will Sowell mit dem Begriff der inkrementellen Kosten einem aus dem Kontext leicht zu erschließenden Umstand gerecht werden. Gemeint ist, dass die Kosten im Schritt der jeweils getroffenen Entscheidungen variieren (können). Es gäbe noch einige Begriffspaare und Distinktionen, die man hier erwähnen könnte, weil ihnen im Buch eine wichtige Rolle zukommt und sie die terminologischen Vorlieben des Autors zum Ausdruck bringen – etwa die Unterscheidung

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zwischen systemischen Erklärungen und intentionalen Erklärungen, also zwischen jenen Erklärungen, die das zu erläuternde Phänomen mit den Eigenschaften des Systems erhellen wollen, und solchen, die es auf Absichten zurückführen, die Einzelne oder Gruppen verfolgen. Bei Übersetzungen sind nicht nur Besonderheiten zu beachten, die mit den terminologischen Vorlieben des Autors einhergehen, sondern auch solche, die den Gepflogenheiten des Faches geschuldet sind – etwa die, je nach Kontext „government“ besser mit „Staat“ als mit „Regierung“ zu übersetzen. Sowell spricht oft von der Regierung, wo wir im Deutschen eher vom Staat sprechen würden. Stets wörtlich zu übersetzen, hätte in derlei Fällen den Sinn zu arg entstellt. Ähnliches gilt für sinnverwandte Begriffe. So wurde z. B. „scope of government“ mit „Umfang der Staatstätigkeit“ übersetzt, und „big government“ mit „ausgeprägte Staatstätigkeit“. „Liberals“ – ein Wort, das im Amerikanischen oft pejorativ gemeint ist, wurde mit „Linksliberale“ wiedergegeben. Einige Begriffe, denen im Buch einzelne Unterkapitel gewidmet sind – wie z. B. „affirmative action“ – und die inzwischen entweder eingedeutscht sind oder unter diversen deutschen Äquivalenten gehandelt werden (positive Diskriminierung, Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen u. ä.), wurden vorzugsweise durch kurze Termini (in diesem Fall durch „Fördermaßnahmen“) übersetzt. Man hätte mit guten Gründen auch den Begriff „positive Diskriminierung“ wählen können, zumal es Sowell ein Anliegen ist, dass die Korrektur negativer Diskriminierung nicht in Gestalt positiver Diskriminierung erfolgt, sondern durch Abstinenz jeglicher Diskriminierung. Andererseits verwendet er den Begriff der positiven Diskriminierung hier und da auch in einem allgemeineren Sinn. Insofern schien es geboten, „affirmative action“ mit „Fördermaßnahmen“ statt mit „positive Diskriminierung“ zu übersetzen. Die Übersetzung folgt Sowell darin, dort, wo es machbar und vorzugswürdig zu sein schien, Fachtermini durch kürzere Bezeichnungen zu ersetzen, um einer ermüdenden Monotonie vorzubeugen, die durch ständige Wiederholungen unvermeidbar gewesen wäre. So wurde z. B. statt der „Oberste Gerichtshof“ auch gelegentlich der „Gerichtshof“, das „Oberste Gericht“ oder auch nur das „Gericht“ verwendet, wo dies sinnvoll, dem Lesefluss zuträglich und ohne Verwechslungsgefahr möglich war. Ähnliches gilt für Begriffe wie „Verfassungszusatz“ und „Zusatzartikel“ oder die Termini „ordentliches Verfahren“, „ordentlicher Prozess“ und „rechtsstaatliches Verfahren“. Diese Vorgehensweise orientiert sich an zweierlei. Zum einem nimmt sie Maß am auch im deutschen Recht geltenden Grundsatz „falsa demonstratio non nocet“, demzufolge eine falsche Bezeichnung nicht schadet bzw. nicht schaden soll. Dieses Prinzip legt die Anregung nahe, etwaige Fehlbezeichnungen zu dulden, sofern sie keinen Schaden anrichten (Missverständnisse, Fehlauslegungen etc.). Zum anderen folgt die besagte Vorgehensform der Haltung des Autors, die derselbe in seinen

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Ausführungen zum „Präzisionsfehlschluss“ dokumentiert: so viel Präzision wie nötig, und so viel Freiraum wie möglich. Nach diesem Stilmotto – so es denn das des Autors ist – verwundert es kaum, dass Sowell gern auf Beispiele, Sprachfiguren und Metaphern des Alltags zurückgreift. Es wurde versucht, dieser Vorliebe mit den Möglichkeiten, die das Deutsche bietet, zu entsprechen. Das gilt auch für den feinen, fast schelmenhaften Humor, der hier und da aufblitzt – beispielsweise in Sowells Definitionen bzw. in deren Herleitungen, für die er sich Zeit und Raum (im Buch) nimmt. So heißt es bei ihm: „Selbst dann, wenn man (wie dieser Autor) der Meinung ist, dass ein Industriemeister für Fotographie über mehr Intelligenz und überprüftes Wissen verfügen muss als ein Soziologe, ist doch der Soziologe ein Intellektueller und der Industriemeister nicht, weil der eine Verallgemeinerungen vermittelt und der andere Ideen verwendet, die weitaus weniger allgemein sind.“ Sowells Kritik an der Klasse der Intellektuellen (und Linksliberalen) ist umfangreich und schwerwiegend, vor allem in Bezug auf die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Autor weiß aber auch, dass der Missbrauch am Kanon der Gesetze von Linken wie von Rechten stammt bzw. stammen kann: „Jeder, der ein objektives Interesse an einem Kanon bekannter und verlässlicher Gesetze und Politikmaßnahmen hat, zahlt die Kosten der innovativen Politikaktivitäten. Von diesen Kosten sind wirklich alle in der Gesellschaft betroffen, auch jene, die von bestimmten Teilbeständen dieser Änderungen profitieren. Es sind nicht nur die sogenannten „Linksliberalen“ („liberals“), die erfinderisch sind. Die sogenannten „Konservativen“ können mit ihren „Steuerbremsen“ und den für zahlreiche ihrer Wählergruppen gewährten monopolistischen Ausnahmen genauso kreativ sein, wie es ihre politischen Widersacher mit ihren staatlichen Kontrollen und Förderprogrammen sind, die sie vielen ihrer Wählergruppen gewähren.“ Es ist die kreative Politik mit ihren Heilsversprechen und ihrer Tendenz, die Verfassung aufzuweichen, vor der Sowell warnt. Und er weiß, warum die Warnung lohnt: „In der amerikanischen Verfassung ist wenig Platz für Philosophenkönige und Erlöser.“ Wie anderenorts erwähnt, gehört es zu den Grundsätzen dieser Reihe, bei Zitaten nach Möglichkeit die einschlägigen deutschen Übersetzungen bzw. Originalfassungen heranzuziehen, um etwaige Fehldeutungen durch Neuübersetzungen zu vermeiden. Wie auch schon bei den vorherigen Bänden der vorliegenden Reihe, so wurde auch hier davon Abstand genommen, in irgendeiner Weise wohlmeinend vom Original abzuweichen. Gleichwohl galt es, die verlegerischen Standards der Reihe zu wahren. Im Hinblick darauf wurden die bibliographischen Angaben, die ursprünglich in die Anmerkungen oder im Text eingebunden waren, in ein eigens für sie erstelltes Literaturverzeichnis übertragen und hier und da ergänzt. Der Index orientiert sich an der Originalausgabe, verzichtet aber auf Einträge, die lediglich auf Absätze bzw. Unterkapitel der Hauptkapitel verweisen, da diese ohnehin im

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detaillierten Inhaltsverzeichnis – das wiederum in der amerikanischen Ausgabe fehlt – nachzulesen sind. Mir bleibt am Ende – traditionsgemäß –, all denen zu danken, die zum Erscheinen dieses Bandes maßgeblich beigetragen haben. Dank verdient zum einen die Friedrich August von Hayek-Stiftung, und zwar für ihre großzügige Unterstützung bei der Übersetzung und Herausgabe dieses Buches. Der größte Dank gebührt indes dem Urheber des Werkes, Thomas Sowell. Seine Zustimmung zur Übersetzung und Vorfreude darauf, dass – nach etlichen Übersetzungen seiner Bücher in andere Sprachen – zum ersten Mal eines seiner Werke den Weg auf den deutschen Buchmarkt finden sollte, haben die vorliegende Übersetzung erst möglich gemacht. 

Hardy Bouillon

Danksagungen Bei der Abfassung dieser Arbeit haben mir so viele – und das in so vielfältiger Weise – geholfen, dass jede Aufzählung derer, denen ich Dank schulde, unvollständig sein muss und ich mich bei denen zu entschuldigen habe, die unerwähnt bleiben. In intellektueller Hinsicht ist dieses Buch das Ergebnis einer geistigen Odyssee, die mehr als drei Jahrzehnte zurückliegt. Das philosophische Spektrum derer, denen ich die eine oder andere Einsicht verdanke, reicht von Karl Marx bis Milton Friedman, und die Disziplinen reichen von der Biologie bis zur Jurisprudenz. Wenn es aber eine Schrift gibt, die mehr als alle anderen zu dem Rahmen beigetragen hat, innerhalb dessen diese Arbeit entstanden ist, dann war es der Aufsatz mit dem Titel „The Use of Knowledge in Society“. Er war im September 1945 in der American Economic Review erschienen und stammte von Friedrich August von Hayek, der später einer der Nobelpreisträger der Ökonomie wurde. Dieser klare und scheinbar einfache Aufsatz offenbarte ein tiefes Verständnis von den Wegen, die zu Funktion und Fehlfunktion von Gesellschaft führen, und enthielt den Schlüssel zu der Erkenntnis darüber, warum die beiden so oft und grundlegend missverstanden werden. Das unmittelbare Umfeld, in dem ich für dieses Buch forschte, war das Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Stanford, Kalifornien. An ihm war ich von 1976–1977 als Fellow tätig. Die Vorbereitungsmaßnahmen zum Buch führte ich von 1974–1976 durch. Großzügige Stipendien des American Enterprise Institute in Washington, D. C., und der Hoover Institution an der Stanford Universität gaben mir damals hinreichend Gelegenheit zu Reflektionen und reiflichem Nachdenken. Als ich 1977 für einige Monate als Senior Fellow an der Hoover ­Institution verbringen konnte, hatte ich die Möglichkeit, meine Forschungen abzuschließen, die ich am Center for Advanced Study begonnen hatte, und die Niederschrift in Angriff zu nehmen. Diejenige, mit der ich das Buch in der Zeit der Niederschrift am häufigsten diskutiert habe, ist Mary M. Ash, eine Anwältin in Palo Alto, Kalifornien. Ihr juristisch geschulter Verstand und ihre Kritik erwiesen sich nicht nur bei der Erörterung rechtlicher Fragen als hilfreich, sondern auch für das Buch als Ganzes. Ihre Freundschaft und Ermunterung hielten mich und meine Bestrebungen bei Laune. Eine zweitägige Konferenz, die 1978 am Center for Law and Economics an der Universität von Miami stattfand und deren Mittelpunkt ein von mir verfasster Aufsatz zu Rechtsthemen bildete, war für mich eine Erfahrung von unschätzbarem Wert. Ich konnte führenden Vertretern aus den Bereichen Recht, Ökonomie und

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Danksagungen

Politik die Ideen vorstellen, auf denen dieses Buch aufbaut. Dank der großzügigen Unterstützung des Liberty Fund in Indianapolis, Indiana, war dieses Zusammentreffen von herausragenden Gelehrten aus allen Teilen des Landes möglich geworden. Und dank der generösen Zustimmung von Professor Henry G. Manne, Direktor des Center for Law and Economics, konnte jener Aufsatz Teil dieses Buches werden. Weitere Diskussionen zu den sonstigen Themen des Buches, die nach und nach hinzukamen, wurden an der Berkeley Universität in Kalifornien, der Wesleyan Universität in Connecticut, der Universität von Maryland und der Universität San Jose in Kalifornien geführt. Ich habe bei allen von ihnen etwas gelernt. Die Unterstützung, Begeisterung, Nachsicht, Hilfsbereitschaft und Weisheit meiner Lektorin Midge Decter waren in all den Jahren des Schreibens, die scheinbar nicht enden wollten, und bei der Glättung des steinigen Wegs zwischen Manuskript und fertigem Buch von unschätzbarem Wert. All die guten Dinge, die ich über sie gehört hatte, bewahrheiteten sich, und mit Freude korrigiere ich hiermit meine langgehegte Überzeugung, nur ein toter Lektor sei ein guter Lektor. (Einige andere Ausnahmen mögen einem hier auch noch einfallen.) Die genannten Unterstützer bilden nur die Spitze des Eisbergs. Viele Bibliothekare, Kollegen, Sekretärinnen – und vor allem die Mitarbeiter am Center for Advanced Study – halfen mir auf dem weiten Weg. Letzten Endes aber bin ich, trotz aller Einflüsse, Helfer und Helfershelfer, für alle Schlussfolgerungen und Fehler allein verantwortlich. University of California, Los Angeles 9. Mai 1979

Thomas Sowell

Inhaltsverzeichnis 1. Teil

Gesellschaftliche Institutionen 19

Kapitel 1

Die Rolle des Wissens

19

Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Die Quantität des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Die Bedeutung von „Wissen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Entscheidungseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Die Struktur der Anreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Kapitel 2 Entscheidungsprozesse

37

Informelle Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Strukturierte Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Ökonomische Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Politische Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Richterliche Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Kapitel 3

Ökonomische Güterabwägungen

62

Wissen in der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Kosten und inkrementeller Ersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Kosten und Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Stückkosten versus inkrementelle Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Nachlassende Erträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

16

Inhaltsverzeichnis

Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Investition und Desinvestition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Residualansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Der physikalische Fehlschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Optimalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Kapitel 4

Gesellschaftliche Güterabwägungen

100

Auswahl und Auszeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Die Feinheit der Sortierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Zeithorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Der animistische Fehlschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Systemische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Kultur und Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

Kapitel 5

Politische Güterabwägungen

135

Freiheit und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Nicht-staatliche „Macht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Eigentumsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Gleiche Rechte versus spezielle Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Allgemeine Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Temporale Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Inhärente Kontinuität und willkürliches Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Kategorische versus inkrementelle Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Politische Maschinerie (Klientelpolitik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Inhaltsverzeichnis

17

Bürokratien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Institutionelle Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Kapitel 6

Ein Überblick

175

2. Teil

Themen und Tendenzen 186

Kapitel 7

Historische Tendenzen

186

Kapitel 8

Tendenzen in der Ökonomie

189

Das Kontrollieren der Preise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Erzwungene Preisanhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Erzwungene Preissenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Erzwungene Kostenänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Erzwungener Ressourcentransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Das Kontrollieren der Produzenten und Händler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Erzwungene Wettbewerbsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 „Wirtschaftsplanung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Artikulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Wissenstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Nicht-ökonomische Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Kapitel 9

Tendenzen im Rechtswesen

259

Verwaltungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Redefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

18

Inhaltsverzeichnis

Rasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Staatliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Affirmative action (Fördermaßnahmen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Schulische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Das Besondere an der Rasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Kriminalitätsraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Strafrechtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Bestrafung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Die Auslegung der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Judizieller Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Ordentliches Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

Kapitel 10

Tendenzen in der Politik

353

Größe und Umfang der Staatstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Konstitutionelle Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Begründungen für die Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Die politische Rolle der Intellektuellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Der intellektuelle Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Intellektuelle als soziale Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 „Relevanz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Die intellektuelle Vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Zusammenfassung: Die umkämpfte Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Die militärische „Balance“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Die Zukunft der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

1. Teil

Gesellschaftliche Institutionen Kapitel 1

Die Rolle des Wissens Ideen gibt es überall, aber Wissen ist rar. Selbst eine sogenannte „sachkundige“ Person hat normalerweise nur in einigen speziellen Bereichen, die letzten Endes einen kleinen Bruchteil des gesamten Spektrums menschlicher Angelegenheiten ausmachen, ein solides Wissen. Der Humorist Will Rogers sagte einmal: „Jeder ist unwissend, aber jeder in einem anderen Bereich.“ Wie löst eine unwissende Welt all die schwierigen Aufgaben, die ein enormes Wissen erfordern? Derlei schwierige Aufgaben schließen nicht nur wissenschaft­ liche Wundertaten wie Luftfahrt und Weltraumforschung ein, sondern auch die komplexen ökonomischen Prozesse, die Ihnen morgens zum Frühstück eine Scheibe Brot und ein Stück Butter bescheren. Jeder, der den wirklichen Prozess erforscht hat, nach dem Tag für Tag Lebensmittel geplant, hergestellt und verteilt werden, weiß, dass dessen Komplexität den Geist überfordert. Viele höchst intelligente und bestens geschulte Personen untersuchen diesen Prozess ihr Leben lang und lernen immer noch dazu. Für jene, die mit diesen Waren finanziell spekulieren, ist wirtschaftliches Desaster tägliches Brot; auch dann noch, wenn sie Jahre damit zugebracht haben, den Markt zu analysieren. Kurz und gut, individuell wissen wir erbärmlich wenig, und dennoch nutzen wir als Gesellschaft Wissen in einem Umfang und einer Komplexität, die jeden Computer überfordern würden. Die Frage ist nicht nur, wie die vorhandenen Institutionen (einschließlich ganzer Gesellschaften) es hinbekommen, dies zu tun, sondern auch, wie all die unterschiedlichen Institutionen (und Gesellschaften) sich in der Art und Effektivität, mit der sie dies tun, unterscheiden – und was die historischen und anhaltenden Veränderungen der Art, wie jene Einrichtungen funktionieren, für die Zukunft bedeuten. Wir werden mit der Produktion von Wissen beginnen – mit dem Prozess, der die Ideen filtert und in anerkanntes Wissen verwandelt, das die Kraft besitzt, Entscheidungen zu lenken. Danach werden wir die Anwendung von Wissen in ökonomischen, rechtlichen, sozialen und politischen Institutionen betrachten. Und schließlich werden wir uns mit der Evolution von Institutionen, Einstellungen und Überzeugungen befassen; und mit der Art, auf der diese unsere Fähigkeit, Wissen zu bilden und anzuwenden, künftig beeinflussen wird.

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

Ideen Physiker haben herausgefunden, dass selbst die dichteste und schwerste Materie, die wir erkennen können, hauptsächlich leerer Raum ist. Aber unterhalb der mikroskopischen Ebene haben die Materieteilchen, die in einer riesigen Leere verstreut sind, eine solch unglaubliche Dichte und Schwere und sind durch derart mächtige Kräfte miteinander verbunden, dass sie all die Eigenschaften produzieren, die Beton, Gusseisen und fester Fels auszeichnen. In recht ähnlicher Weise sind die Wissensfragmente in einer riesigen Leere der Unwissenheit verteilt und hängt alles davon ab, wie solide die einzelnen Wissensteilchen sind und wie stark sie miteinander verbunden und untereinander abgestimmt sind. Die riesigen Räume der Ignoranz halten die Wissensteilchen nicht davon ab, eine solide Struktur zu bilden, auch wenn hinreichend viel Missverständnis in nahezu der gleichen Weise zu dessen Zerfall führen kann, in der radioaktive atomare Strukturen den Zerfall von Uran (zu Blei) bewirken oder Explosionen verursachen können. Ideen, als das Rohmaterial, aus dem Wissen gebildet wird, gibt es im Überfluss. Aber das erschwert die Produktion eher, als dass es sie erleichterte. Viele Ideen – vermutlich die meisten von ihnen – werden auf dem Weg zur Bildung des für wahr befundenen Wissens verworfen. Die Authentifikation ist genauso wichtig wie die Rohinformationen selbst, und die Art und Geschwindigkeit des Authentifizierungsprozesses kann entscheidend sein: Der Überraschungsangriff auf Pearl Harbor gelang ungeachtet der Tatsache, dass das Wissen über den bevorstehenden Angriff das Kriegsministerium in Washington schon mehrere Stunden, bevor er erfolgte, erreicht hatte. Das Bombardement traf Pearl Harbor dennoch überraschend, weil die Information noch nicht den Authentifizierungsprozess durchlaufen hatte, den die militärischen Institutionen eingerichtet hatten. Worin auch immer die Stärken oder Schwächen der am 7. Dezember 1941 existierenden Institutionen bestanden mochten, soviel ist klar: Irgendeinen Authentifizierungsprozess muss jede militärische Organisation haben. Ansonsten kann jede unbestätigte Idee, die in das System eindringt, einen Krieg auslösen. Erst vor kurzem hat ein Schoof kanadischer Gänse das amerikanische Warnsystem dazu gebracht, nahende Atomraketen zu melden. Nur die nachfolgenden Authentifikationsprozesse konnten einen „nuklearen“ Vergeltungsschlag abwenden, der leicht in den 3. Weltkrieg hätte münden können. Die jeweiligen Arten von Ideen können anhand ihrer Verhältnisse zum Authentifikationsprozess klassifiziert werden. Es gibt Ideen, die systematisch für die Authentifikation hergerichtet werden („Theorien“), Ideen, die nicht aus irgendeinem systematischen Prozess stammen („Visionen“), Ideen, die keinen vernünftigen Authentifikationsprozess überstünden („Illusionen“), Ideen, die sich jeglichem Authentifikationsprozess entziehen („Mythen“), Ideen, die bereits einen Authentifikationsprozess bestanden haben („Fakten“), aber auch Ideen, die solche Prozesse nicht überstanden haben – oder sicher nicht überstehen würden („Falschheiten“ – seien es Irrtümer oder Lügen).

Kap. 1: Die Rolle des Wissens

21

Obwohl diese verschiedenen Formen von Ideen sich konzeptionell unterscheiden, kann ein bestimmter Begriff viele dieser Formen durchlaufen und sich wandeln. Es kann z. B. damit beginnen, dass wir einen allgemeinen Eindruck davon haben, warum gewisse Dinge so stattfinden, wie sie es tun, ohne dafür einen tatsächlichen Beleg oder ein logisch strukturiertes Argument zu haben. Aber nachdem wir mit einer solchen Vorstellung begonnen haben, können wir einen Schritt weiter gehen, um systematisch festzulegen, dass, sollte diese Vorstellung korrekt sein, bestimmte empirische Folgen unter den entsprechenden Umständen beobachtet werden können. Die „Vision“ hat zu einer „Theorie“ geführt. Die entsprechenden Umstände können in einem Laboratorium hergestellt, in der Geschichte beobachtet oder auf andere Weise konstruiert oder entdeckt worden sein, und die Gültigkeit und Verlässlichkeit der Ergebnisse mag der Kritik mehr oder weniger zugängig sein. Der Punkt ist einfach nur der, zwischen derartigen systematischen Authentifikationsprozeduren und Entscheidungen, die auf Konsens, Empfindungen und Traditionen gründen, zu unterscheiden. An dem einen Ende menschlichen Denkens steht die reine Wissenschaft, und an dem anderen der pure Mythos. Das eine wird vollständig von systematischen, logischen Prozeduren getragen, das andere von der konsensualen Bestätigung der Zeitgenossen oder deren Vorfahren, die von den herrschenden Traditionen repräsentiert werden, oder von der Nachwelt, sofern man sich eine Bestätigung durch die Geschichte erhofft. Der entscheidende Unterschied liegt im Verfahren, nicht im Ergebnis. Die Korrektheit der Wissenschaft ist nicht sicherer als jene des Mythos. Viele wissenschaftlichen Theorien haben sich mittels wissenschaftlicher Methoden als falsch erwiesen, während die großen beständigen Überzeugungen, die den Status von Mythen haben, oftmals eine wichtige Wahrheit – oder Teilwahrheit – enthalten. Beide, systematische Authentifikation und konsensuale Zustimmung, lassen sich weiter zerlegen. Systematische Authentifikation meint auch eine Überprüfung der logischen Struktur einer Theorie auf innere Konsistenz und eine Überprüfung der Theorieergebnisse auf externe Übereinstimmung mit den beobachtbaren Tatsachen der realen Welt. Konsensuale Zustimmung kann die Zustimmung der allgemeinen Öffentlichkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt oder die Zustimmung einer speziellen Referenzgruppe meinen – einer gesellschaftlichen Klasse, einer religiösen Sekte, einer ideologischen Bewegung usw.; sei es in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft. Ideen, denen es an Unterstützung durch logische, empirische oder allgemeine Zustimmung mangelt, können sich auch weiterhin halten, wenn sie konsensual von denen akzeptiert werden, die sich für die Gralswächter einer besonderen Wahrheit halten, d. h. für die Referenzgruppe, die wirklich entscheidend ist. Der implizite Elitismus einer solchen Position kann manchmal abgemildert werden, indem man die fragliche Idee (religiöse Erlösung, politische Wiederherstellung usw.) so darstellt, als wäre sie im Großen und Ganzen zum Wohle der Menschheit

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

und die Gruppe nur ein vorübergehender Platzhalter für eine größere Wählerschaft, welche die Idee letztendlich gutheißen würde. Diese Behauptung ist allerdings auch nur eine weitere Idee, der es an empirischer Bestätigung oder allgemeiner Zustimmung mangelt. Von den beiden Grundtypen der Ideenbestätigung gibt es viele Spielarten, und oft werden Kombinationen dieser Variationen genutzt – in vielen Fällen Mischformen mit systematischen und konsensualen Methoden der Verifizierung, und das in einem und demselben Beweisgang. So mag – ja, muss sogar – z. B. eine wissenschaftliche Demonstration die schrankenlose Verifikation eines jeden einzelnen Aspekts im Beweisgang vermeiden. Man darf also nicht sagen, „jeder wisse“ dies und jenes, und dann nur die Dinge überprüfen, die Überprüfung brauchen.1 Ähnlich verhält es sich mit Überzeugungen. Überzeugungen, die hauptsächlich auf konsensuale Zustimmung gründen – z. B. religiöse Überzeugungen – können logische und empirische Techniken einsetzen, so wie den wissenschaftlichen „Nachweis“ von der Existenz Gottes, der im 18. und 19. Jahrhundert vor Darwin gängige Praxis war. Diese mehr oder weniger offenen Kombinationen bereiten keine besonderen Probleme. Ein Problem entsteht allerdings dann, wenn eine Methode in der Maske der anderen auftritt – z. B., wenn die Ergebnisse eines hauptsächlich konsensualen Prozesses sich selbst als wissenschaftlich präsentieren, wie es oft bei den sogenannten „Sozialwissenschaften“ der Fall ist. Diese kurze Skizzierung der Produktion authentifizierten Wissens aus rohen, unbegründeten Ideen muss in den nachfolgenden Betrachtungen ökonomischer, juristischer und politischer Organisationen noch genauer ausgeführt werden. Jetzt aber sind zuerst – in gleichermaßen kurzer und allgemeiner Weise – der Umfang und die Art des produzierten Wissens und die Art, in der es verwendet wird, zu betrachten.

Die Quantität des Wissens Viele glauben, dass die moderne Gesellschaft über eine größere Menge an Wissen als primitive Gesellschaften verfüge, die Quantität des Wissens wachse und das Wissen, das der Durchschnittsbürger zum Leben in einer modernen Gesellschaft „braucht“, ebenfalls zunehme. Der komplexe Apparat des modernen Lebens ist gewiss jenseits dessen, was die meisten nicht-modernen Menschen damals wie heute begreifen. Nicht ganz so offensichtlich, aber ebenfalls wahr ist, dass die meisten modernen Menschen sich gleichermaßen schwer damit täten, als Individuum in einer „primitiven“ oder nicht-modernen Welt zu überleben. Kurz und gut, es ist weder klar noch offensichtlich, dass die gesamte Wissensmenge eines „wilden“ Menschen von der eines „zivilisierten“ Menschen verschieden ist. Sehr viel leichter nachzuweisen ist, dass die Arten des Wissens, die Mitglieder der primitiven und 1

Friedman (1953), S. 32 ff.

Kap. 1: Die Rolle des Wissens

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der modernen Welt normalerweise haben, sehr verschieden sind und jeder in der Welt des anderen sich in ernsthafter Gefahr befände. Man stelle sich einen modernen, zivilisierten Menschen vor, der plötzlich im Urzeitdschungel landet, abgeschnitten von der modernen Technologie und ohne jegliche Hilfe von den primitiven Menschen, die in dieser Umgebung leben mögen. Selbst dann, wenn der zivilisierte Mensch ein gebildetes Individuum wäre, das in einem komplizierten Berufsfeld wie der Buchhaltung oder der Elektronikbranche arbeitete, darf bezweifelt werden, ob sein Wissen ausreichend wäre, um sein Leben in einer Umgebung aufrechtzuerhalten, wo primitive Völker seit Urzeiten leben. Der zivilisierte Mensch würde wie oft vor der Wahl stehen, entweder weiter zu hungern oder wilde Pflanzen zu essen, die sich sowohl als nahrhaft wie auch als giftig erweisen könnten. Einen sicheren Platz für die Nacht zu finden, würde ihm mehr Wissen über die Gewohnheiten und Fähigkeiten wilder Tiere abverlangen, als er besitzt. Schlangenbisse, ungenießbares Wasser und Begegnungen mit Raubtieren zu vermeiden, zählte zu seinen Problemen, und gewöhnliche Krankheiten, die in einer zivilisierten Gemeinschaft schnell und leicht auskuriert wären, könnten ihm weitaus gefährlicher werden, hier, abseits vom wissenschaftlichen Medizinwissen und ohne die Heilkräuter und sonstigen bewährten Heilmittel, über die der primitive Mensch verfügt. In derselben Umgebung könnte der Wilde nicht nur überleben, sondern gedeihen, Hütten bauen, Kleidung und andere Annehmlichkeiten anfertigen. Andererseits dürften die Überlebenschancen eines primitiven Menschen, der plötzlich mitten in New York oder Los Angeles rausgelassen würde, auch sehr düster sein. Worin besteht also sonst der geistige Vorteil, den die Zivilisation gegenüber der primitiven Urzeit hat? Nun, nicht jeder zivilisierte Mensch muss mehr Wissen haben, aber er braucht weniger davon. Ein primitiver Wilder muss eine breite Palette an Dingen und Dienstleistungen für sich selbst herstellen und erbringen, und eine primitive Gemeinschaft muss sein Wissen wiederholt duplizieren und von unzähligen Zeitgenossen ausprobieren lassen. Im Gegensatz dazu muss der zivilisierte Buchhalter oder Elektronikexperte außer Buchhaltung und Elektronik nur wenig anderes verstehen. Die Lebensmittel erreichen seinen Supermarkt über Vorgänge, von denen er wahrscheinlich gar nichts weiß oder nur falsche Informationen hat. Er lebt in einem Zuhause, dessen Errichtung Prozesse involvierte, von deren technischen, wirtschaftlichen und politischen Feinheiten er kaum etwas ahnt und noch weniger weiß. Sein Zuhause ist voller Gerätschaften, die nach mechanischen und elektronischen Prinzipien funktionieren, die er weder theoretisch versteht, geschweige denn praktisch beherrscht. Die chronischen Beschwerden und Skandale über die Reparaturleistungen an Geräten und Automobilen belegen zuhauf, wie es um das dürftige Wissen des zivilisierten Menschen steht, das dieser von jenen Geräten des Alltag hat, von denen er abhängt. Ein primitiver Wilder könnte nie überleben, wenn er genauso wenig über die Herstellung und den Gebrauch von Speeren und Grashütten wüsste oder eine genauso große Naivität an den Tag legte, wenn es darum geht, welche Beeren giftig, welche Schlangen gefährlich und wel-

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

che Mittel und Wege möglich sind, sollte man mit Löwen, Tigern und Gorillas in einem und demselben Dschungel zusammenleben. Zivilisation ist eine wunderbare Einrichtung für den wirtschaftlichen Umgang mit Wissen. Die Zeit und der Aufwand (einschließlich teurer Fehler), die man zur Erlangung von Wissen braucht, sind durch Spezialisierungen auf ein Minimum reduziert, soll heißen, durch drastische Begrenzungen der Menge an Wissensduplizierungen unter den Mitgliedern der Gesellschaft. Eine vergleichsweise kleine Zahl zivilisierter Menschen weiß, wie man Lebensmittel produziert, eine andere, wie man Kleidung, Medizin, Elektrogeräte, Häuser etc. herstellt. Die enormen Kosten, die man einspart, indem man die Bestände an Wissen und Erfahrung nicht im großen Umfang in der Bevölkerung duplizieren muss, machen es möglich, dass die Menschen in den gesellschaftlichen Teilgruppen derlei Wissen in ihren jeweiligen Spezialgebieten weiterentwickeln.

Die Bedeutung von „Wissen“ Obwohl die Formulierung „unwissender Wilder“ sich eigentlich selbst widerspricht, ist sie eine gängige Vorstellung mit einer gewissen Grundlage. In einem engeren, spezifischen Sinne von Wissen ist der Wilde in der Tat vollkommen frei; nämlich von dem abstrakten und systematischen Wissen, das man an den Schulen lehrt. Bedenkt man indes den enormen Reichtum menschlichen Wissens, von den intimen persönlichen Kenntnissen einzelner Individuen bis hin zu den Komplexitäten von Organisationen und den Feinheiten der Empfindungen, dann ist es schon bemerkenswert, dass allein ein Stern an diesem Firmament als einzige Determinante darüber entscheiden soll, ob jemand generell als kenntnisreich oder ignorant zu gelten hat. Aber im Leben ist es nun mal so, dass der unbelesene Bauer als unwissend gilt, ganz egal, wieviel er über die Natur und den Menschen weiß, während ein promovierter Mensch nie für unwissend gehalten wird, egal, wie beschränkt er auch außerhalb seines Fachgebiets sein mag und wie wenig er von menschlichen Empfindungen und komplexen gesellschaftlichen Vorgängen mitbekommt. Wir sprechen hier und da vom „Fachidioten“, aber mit dem Begriff „Idiot“ meint man Unzulänglichkeiten im Verstehensprozess (dass man jemanden leicht täuschen oder foppen kann), wohingegen es in Wirklichkeit Wissen ist, das fehlt, soll heißen, dass der „studierte“ Mensch sich von der menschlichen Erfahrung nur eine dünne Scheibe abgeschnitten hat. Es geht hier nicht darum, den Gebrauch bestimmter Wörter zu beklagen. Der Punkt ist, eine drastische und willkürliche Einengung der Wissensdiskussion zu vermeiden und buchstäblich nicht zu realisieren, was gerade passiert. Wir müssen das Wissen in seiner vollen Tiefe und Breite berücksichtigen. Das heißt, wird müssen nicht nur überlegen, wieviel wir kennen, sondern auch wie gut. Beginnen wir mit einer Vorstellung! Es kann sich bei ihr um einen Sinneseindruck handeln – etwas, das unser Augenmerk erfährt und unsere Neugier weckt.

Kap. 1: Die Rolle des Wissens

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Oder sie kann ein Gedanke sein – z. B. ein Tagtraum oder eine Theorie. Während nun diese Vorstellung oder Theorie den Authentifizierungsprozess durchläuft, kann sie verifiziert, widerlegt oder abgewandelt werden, um der übrigen und anderslautenden Evidenz zu entsprechen. Wenn aber der Authentifizierungsprozess seine Sache richtig macht, dann wird die Schlussfolgerung zunehmend sicherer, egal, wie sie auch ausfallen mag (auch dann, wenn dies heißt, dass die ursprüngliche Idee zunehmend dubioser erscheint). Das heißt, dass die Wahrscheinlichkeit einer fehlerhaften Konklusion ab einem gewissen Punkt im Authentifizierungsprozess so klein ist, dass wir sagen können, dies oder jenes zu „wissen“. Wo dieser Punkt liegt, ist von Person zu Person verschieden, so dass das „Wissen“ des einen für den anderen lediglich ein plausibler Glaube oder nur eine Theorie ist. Jeder von uns hat einen Punkt – eine Wahrscheinlichkeitsschwelle –, jenseits derer wir davon reden, etwas zu „wissen“. Aber eine absolute Sicherheit gibt es für nichts: Selbst das Leben kann ein Traum und die Logik eine Täuschung sein. Dennoch müssen wir entscheiden, weil wir handeln müssen. Wie entschlossen wir dabei handeln können, hängt davon ab, wie gut wir die Konsequenzen kennen. Wieviel Wissen es gibt, hängt davon ab, wo wir die Grenze zwischen all den Wahrscheinlichkeiten ziehen. Im Rahmen der vorhandenen Wahrscheinlichkeitsanforderung des „Wissens“ variiert die Menge dessen, was gewusst wird, enorm; von einem Lebensbereich zum anderen, aber auch von einer historischen Epoche zur anderen, und, natürlich, von einem Individuum zum anderen. Weil die Reichweite der Entscheidung meistens über jene des Wissens hinausragt, müssen wir daran glauben – oder zumindest darauf hoffen –, einen Ersatz für das Wissen zu finden, wo es uns fehlt. Dies wiederum heißt, dass das Verhältnis von Wissen und Glauben im Leben von Fall zu Fall sehr verschieden sein kann. Die spezifische Natur des jeweiligen Authentifikationsprozesses in den verschiedenen Lebensbereichen des Menschen wird dadurch zu einer entscheidenden Größe. Wenn wir sagen, ein Bauernjunge wisse, wie eine Kuh zu melken ist, dann meinen wir, dass wir ihn mit einem leeren Eimer in den Kuhstall schicken und von ihm erwarten können, dass er mit einem Eimer Milch zurückkehrt. Wenn wir sagen, ein Kriminologe wisse, was Kriminalität ist, dann meinen wir nicht, dass wir ihn mit einem Stipendium oder einem Gesetz losschicken und von ihm erwarten können, dass er mit einer geringeren Kriminalitätsrate zurückkehrt. Er wird vielmehr eher mit einem Bericht darüber zurückkehren, warum er noch nicht erfolgreich war, inklusive der unvermeidlichen Erklärung, mehr Geld, mehr Mitarbeiter und umfassendere Befugnisse usw. zu brauchen. Kurz gesagt, der Grad der Wissensüberprüfung mag in den „höheren“ intellektuellen Regionen niedriger und in solchen, die Intellektuelle für „niedriger“ halten, sehr viel höher sein. Ein Unternehmen, das ein Produkt herstellt, das die Menschen nicht in genügend großer Stückzahl oder nicht zu dem Preis kaufen, der zur Kostendeckung nötig ist, wird seine Vorstellungen bestätigt finden – in dem Falle vielmehr widerlegt finden –, und zwar in einem kurzen und schmerzhaften Prozess, dem es umgehend Beachtung schenken muss, will es dem Bankrott entgehen. Die Ergebnisse kann

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

man nicht schönreden. Aber in vielen Bereichen geistiger Auseinandersetzung, vor allem in den sogenannten „Sozialwissenschaften“, gibt es weder einen kurzen noch einen sicheren Authentifizierungsprozess für Ideen, und die einzige ultimative Validierung ist, ob ausreichend viele bzw. die richtigen Personen die Ideen plausibel finden. Die strengeren Standards und die unabhängige, meist schlüssige Evidenz in den Naturwissenschaften können nicht generell für sämtliche geistigen Tätigkeiten angenommen werden, auch wenn so manche Intellektuellen sich die Aura wissenschaftlicher Vorgehensweise und Ergebnisse zu eigen machen. Weil die Bedeutung von „Wissen“ so enorm variiert – gemessen an den jeweils zur Verfügung stehenden Authentifikationsprozessen  – ist ganz und gar nicht klar, ob es in zivilisierten Ländern mehr Wissen gibt als in primitiveren Ländern oder unter Intellektuellen mehr Wissen als unter den weniger Gebildeten einer Gesellschaft. Es ist sehr gut möglich, dass die Standards für „Wissen“ unter den Landwirten, von denen immer mehr sich Bildung aneignen, statt mit wenig oder ohne Schulbildung zu leben, sinkt, während die Bereiche, in denen sie nur flüchtige Kenntnisse oder solche aus zweiter Hand haben, wachsen. Wie sagt doch der Dichter: „Wir kannten tausend Dinge, die wir kaum verstanden.“2 Doch es mag nicht nur eine qualitative Einbuße an „Wissen“ geben, sondern – was wichtiger ist – auch eine Aushöhlung der Bedeutung von „Wissen“. Man könnte beispielsweise über einen jungen Mann sagen, er wisse, wie man eine Kuh melkt, wenn er einen Aufsatz zu diesem Thema schreiben könnte und wir gar nicht verlangten, dass er mit einem Eimer in den Stall zu gehen und mit Milch zurückzukehren habe. An dieser Stelle müssen wir nicht darauf bestehen, dass die durchschnittliche Menge an persönlichem Wissen mit der Zeit weniger geworden ist. Es reicht, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass es gegenläufige Trends gibt und das Ergebnis unterm Strich offen ist. Wir müssen uns nicht den Schlussfolgerungen anschließen, die gern das Bild von einer zunehmend wissenderen Gesellschaft malen, deren Bürger die Schulbank sogar noch ein paar Jahre länger drücken sollten. Dass Wissenschaft und Technologie auf dem Weg sind, heißt nicht, dass das Leben der meisten Menschen geistig komplexer würde. Oft meint es das Gegenteil. Matthew Brady musste, um während des Bürgerkriegs mit seiner unhandlichen Ausrüstung Bilder schießen zu können, weit mehr über fotographische Vorgänge wissen als ein moderner Fotograph von heute, der Automatikkameras benutzt. Wissenschaft und Technologie haben die heutige Herstellung von Kamera und Film viel komplexer gemacht, aber diese zunehmende Komplexität unter einer Handvoll Technikern erlaubt einer Menge von Leuten größere Simplizität (und Ignoranz) bei der heutigen Nutzung moderner Fotoausrüstungen und -materialien. In vielen anderen Bereichen sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Automobile sind sehr viel komplizierter zu bauen, aber viel einfacher zu handhaben als in den Tagen vor der automatischen Zündung, automatischen Übertragungen, automatischen Starter, 2 Fearing (1940), S. 7. Im Original heißt es: „We knew a million things we could hardly understand.“

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selbstdichtenden Reifen usw. Die Technologie, die im modernen Haushalt zur Verfügung steht, verringert nicht nur die Zeit, sondern auch das Wissen der modernen Hausfrau. Sogar ein einfacher Mann kann heute häusliche Pflichten verrichten, für die man früher Mädchen und junge Frauen jahrelang schulen musste. Die zunehmende Komplexität von Wissenschaft, Technologie und Organisation fordert weder ein wachsendes Wissen noch einen wachsenden Bedarf für Wissen innerhalb der Bevölkerung. Im Gegenteil, die zunehmend komplexeren Prozesse führen normalerweise zu zunehmend einfacheren und leichter zu verstehenden Produkten. Die Genialität der Massenproduktion liegt nun einmal genau darin, mehr Produkte für mehr Menschen leichter erreichbar zu machen, sowohl wirtschaftlich als auch geistig. Elektronische Taschenrechner lassen den mathema­ tischen Analphabeten Rechnungen durchführen, die früher nur bestens geschulte Personen mit Leichtigkeit bewältigen konnten. Die Druckerpresse vollbringt Tag für Tag Kommunikationswunder, die im Mittelalter keine Armee von hochgeschulten und hingebungsvollen Schreibern hätte bewirken können. Der Organisationsfortschritt ähnelt dem Fortschritt in Wissenschaft und Technologie und erlaubt ultimative Simplizität durch zwischenzeitliche Komplexität. Ein einfacher Mensch kann heute mit Leichtigkeit eine Reise zusammenstellen, die ihn über Tausende von Kilometern durch ihm unbekannte Städte führt, indem er das Wissen von Reise­kaufleuten und / oder das vom Amerikanischen Automobilclub anzapft. Oder er kann die Verdienste kommerzieller Produkte, deren individuelle Mechanismen ihm völlig fremd sind, gegeneinander abwägen, indem er (einfache) Ergebnisse höchst komplizierter Tests nachliest, die von Konsumentenmagazinen oder von Fachzeitschriften durchgeführt wurden, die auf bestimmte Produkte wie Autoradios oder Motorräder spezialisiert sind.

Entscheidungseinheiten Man mag das Wissen als spekulative Form der Unterhaltung schätzen, aber man braucht es, um Entscheidungen zu treffen. Die Entstehung von Ideen und die Authentifizierung von Wissen sind Teil eines kontinuierlichen Prozesses, der das Wissen schließlich den Entscheidungen zuführt – wenn das System ideal funktioniert. Im wahren Leben kann der Prozess, der das Wissen zur Geltung bringen soll, natürlich auch schon einmal schiefgehen, obwohl irgendwo im System akkurates Wissen bereitsteht. Worauf es eigentlich ankommt, ist das Wissen, das bei der Entscheidungsfindung tatsächlich genutzt wird, nicht das Wissen, das im Entwicklungs- oder Authentifizierungsprozess steckt, und auch nicht das Wissen, das bestimmten Individuen oder Organisationen innerhalb der Gesellschaft offenkundig zu sein scheint. Auch wenn man Entscheidungen oft für das Werk einzelner Individuen in sehr konkreten Situationen hält, so ist doch der Prozess der Entscheidungsfindung weitaus gewöhnlicher, und zwar in dem Sinne, dass verschiedene Gruppierungen von Individuen wiederholt und regelmäßig bestimmte Klassen von Entscheidungen treffen und auf diese Art kontinuierlich agierende

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

Entscheidungseinheiten bilden, vom Ehepaar über die Polizeistation bis hin zur Bundesregierung. Ein Einzelner kann auch eine Entscheidungseinheit für bestimmte Zwecke bilden oder – was wahrscheinlicher ist – gleichzeitig Teil mehrerer Entscheidungseinheiten sein, wobei die Zusammensetzung solcher Einrichtungen mit der Zeit variieren kann. Der Hinweis auf die einzelnen Entscheidungseinheiten ist vor allem in einer Zeit notwendig, in der man gern in Metaphern spricht und von einer gestaltlosen „Gesellschaft“ sagt, dass sie dies oder jenes entscheide: „Die Gesellschaft“ achtet nicht auf die Reinhaltung des Wassers, „die Gesellschaft“ straft, unterdrückt, ist frivol, altbacken, großzügig, rücksichtslos usw. Metaphern mögen ab und an nützliche Abkürzungen sein. Aber wie andere Abkürzungen auch, können sie uns von unserem Ziel fernhalten und unsere Ankunft verzögern oder unterbinden. Metaphern, die suggerieren, „die Gesellschaft“ sei eine Entscheidungseinheit, können sehr leicht in die Irre führen, indem sie verkennen, dass in bestimmten Situationen Entscheidungen deswegen sind, was sie sind, weil die betreffende Entscheidungseinheit einer besonderen Art von Anreizstruktur gegenübersteht. Die besondere Natur der Entscheidungseinheit zu verkennen, bedeutet Verbesserung zu erhoffen, indem man „die Guten“ an die Stelle „der Bösen“ setzt, oder auf den Messias zu warten, oder darauf, dass sich die Vernunft durchsetzen wird, was von beiden auch immer das weniger Unwahrscheinliche oder Entrückte sein mag. Gelegentlich wird die Metapher von „der Gesellschaft“ tendenziöser genutzt, um den Ort der Entscheidung still und leise von kleinen und vielköpfigen Entscheidungseinheiten zu einer einzigen landesweiten Entscheidungseinheit zu verschieben. Die Stärken und Schwächen eines solchen Wechsels werden in den jeweiligen Fällen durch Metaphern überbrückt, die so tun, als ob „die Gesellschaft“ jetzt dies tue, aber eigentlich jenes tun sollte. In Wirklichkeit aber handelt eine Gruppe von Entscheidungseinheiten genau jetzt unter einer bestimmten, strukturierten Anreizsituation und die Vor- und Nachteile einer alternativen Entscheidungseinheit und einer alternativen Anreizmenge sind genau das, was explizit zu analysieren wäre und nicht mittels einer Metapher von „der Gesellschaft“ verkleistern werden sollte. Es gibt niemanden namens „Gesellschaft“, der irgendetwas entscheiden würde. Selbst in den demokratischsten Staaten gibt es wenig, das durch ein spezielles landesweites Referendum entschieden wird. Und selbst wenn es dergleichen zuhauf gäbe, wer würde sagen, dass eine einfache Mehrheit, die zu einem bestimmten Zeitpunkt herrscht, das Urteil einer organischen Gesellschaft darstellt und die Zeit vieler Generationen übersteht? Solange die landesweiten Gesetze nicht sprichwörtlich sich von einem auf den anderen Moment ändern, müssen bestimmte Entscheidungseinheiten für andere Einheiten Entscheidungen treffen, zu denen diese entweder ihre Zustimmung nicht geben oder nicht befragt wurden. Die Nachkommen werden natürlich nie gefragt. Eine der Besonderheiten der Amerikanischen Revolution war, dass deren Führer ihre Hoffnungen an die Organisierung von Entscheidungseinheiten, deren An-

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reizstrukturen und das gegenseitige in Schach halten der Entscheidungseinheiten knüpften, und nicht an das üblichere (und spannendere) Prinzip, die „Guten“ gegen die „Bösen“ einzutauschen – d. h., das „Volk“ gegen die „Unterdrücker“, die Gläubigen gegen die Nichtgläubigen, die Juden gegen die Heiden, die Heiden gegen die Juden, und andere solcher Austauschlösungen, die auf Unterschiede in Geschichte, Physiognomie oder Riten basieren. Die Domänen der Entscheidungseinheiten müssen weder separat noch exklusiv sein. Eigentlich können sie weder noch sein. Ansonsten gäbe es kein soziales Phänomen, das uns veranlasste, auch nur im metaphorischen Sinne von „der Gesellschaft“ zu reden. Entscheidungseinheiten haben nur selten die volle Kontrolle, auch nicht über ein einzelnes Segment der Gesellschaft, und keine Entscheidungseinheit kontrolliert die ganze Gesellschaft, bestenfalls annäherungsweise, wie im Falle eines totalitären Regimes. Die Entscheidungseinheiten überschneiden sich bis zu einem gewissen Grad. Selbst da, wo solche Einheiten in einer Hierarchie einander untergeordnet sind, ist die Unterordnung in der Praxis nie vollständig. Sogar im Extremfall der Sklaverei unternehmen die untergeordneten Einheiten Maßnahmen gegen die allgemeinen Begierden und einzelnen Anordnungen der höheren Einheiten – von der passiven oder aktiven Sabotage bis hin zum Mord an Aufsehern und Sklavenhaltern.3 Die praktischen Begrenzungen der völligen Unterordnung zeigten sich wiederholt durch die verschiedenen wirtschaftlichen Anreize, auf die man in der Sklaverei zurückgreifen musste, vor allem um eine höhere Qualität bei der Arbeitsverrichtung zu erzielen.4 Die Fähigkeit untergeordneter Entscheidungseinheiten, unabhängig von den Strategien der höheren Einheiten (oder diesen gar entgegen) zu wirken, hängt im Allgemeinen von Unterschieden im Wissen ab. Die höheren Einheiten mögen Befugnisse haben, die jene der untergeordneten Einheiten einschließen, aber nahezu nie gilt dies im Hinblick auf das Wissen. Weil die Macht der höheren Entscheidungseinheiten die Macht einschließt, Wissenstransfer zu verlangen, können die Wissensvorteile der untergeordneten Einheiten entweder unmöglich fortbestehen oder bedeuten für die höhere Einheit ungeheure Kosten für die unabhängige Akquirierung desselben Wissens, um feststellen zu können, wie akkurat die untergeordnete Einheit das Wissen übermittelt hat. Kurz gesagt, es gibt Unterschiede in den jeweiligen Kosten der Wissensaneignung. Genauer gesagt, es gibt Kosten­ differenzen zwischen den höheren und unteren Entscheidungseinheiten, die je nach Art des infrage stehenden Wissens variieren. Normalerweise wird allgemeines Wissen – Expertisen, Statistiken etc. – von den höheren Entscheidungseinheiten wirtschaftlicher genutzt. Wenn z. B. eine Entscheidungseinheit, die fünf untergeordnete Entscheidungseinheiten einschließt, eine vorhandene Expertise oder statistische Daten erwerben kann und allen fünf Einheiten zur Verfügung stellt, dann wären die Kosten fünfmal so hoch, wenn al 3 4

Genovese (1974), S. 587–621. Sowell (1975a), S. 11–15.

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ternativ jede der fünf Einheiten dieselbe Expertise oder Statistik zu erwerben hätte. Für diese Art von Wissen liegen die Kostenvorteile normalerweise auf der Seite der größeren Entscheidungseinheit. Geht es aber um höchst spezifisches Wissen – der lokale Lifestyle, die Verlässlichkeit bestimmter Lieferanten, die Qualitäten eines Managers usw. –, dann können die untergeordneten Einheiten, die mit den relevanten Sachverhalten täglich im engen Kontakt stehen, das Wissen weitaus einfacher und billiger zusammenstellen und Schlüsse aus ihm ziehen. Man muss keine allgemeine Regel dazu aufstellen, wie der Vergleich der jeweiligen Erkenntniskosten der größeren und kleinen Entscheidungseinheiten letztlich ausgeht. Es ist wichtiger zu verstehen, dass (1) die jeweiligen Kostenvorteile der großen und kleinen Einheiten in Bezug auf die Art des genutzten Wissens (allgemein oder spezifisch) bestehen, dass (2) die meisten Entscheidungen Mischungen aus den beiden Wissensarten erfordern und daher die Nettovorteile der größeren und kleineren Einheiten mit der Entscheidungsart variieren, und dass (3) die Wirksamkeit hierarchischer Unterordnung in dem Ausmaß variiert, in dem die untergeordnete Einheit Wissensvorteile gegenüber der höheren Einheit hat. In jenen Fällen, in denen die untergeordnete Einheit über bessere Informationen verfügt, ist das Wissen im Sinne des Entscheidungsprozesses an einem Ort vereint, und die Macht an einem anderen. Die Qualität der Entscheidung leidet unter diesem Ergebnis. Außerdem wird die Unterordnung selbst insofern illusorischer, als die niedere Einheit ihr Wissen nutzen kann, um den Druck der Anweisungen ihrer nominellen Aufseher zu umgehen, zu konterkarieren oder umzuleiten. Ein paar Beispiele aus unterschiedlichen Institutionen und Gesellschaften können diese entscheidenden Aspekte illustrieren. Die Landwirtschaft hat ihre allgemeinen Prinzipien und statistischen Daten, aber die landwirtschaftliche Produktion verlangt viel an spezifischem Wissen über die Eigenschaften und Umrisse bestimmter Landstiche oder über Frische, Geschmack und Aufbewahrungs­ modalitäten bestimmter Obst- und Gemüsesorten oder Milchprodukte, die sich allesamt stündlich ändern können. Kein Fachmann kann aus 100 Meilen Ent­fernung und ohne vorherige Inaugenscheinnahme sagen, ob die diesjährige Ernte gut ist; noch nicht einmal, ob die Früchte, die letzte Woche gut waren, es heute immer noch sind. Im Gegensatz dazu kann ein Fachmann für Stahlherstellung die Qualität eines Stahls, der unter Verwendung einer festgelegten Mischung aus Eisenerz und Kohle bei einer bestimmten Temperatur produziert wird, exakt spezifizieren. Aus diesem Grund wird die Stahlproduktion in vielen Ländern erfolgreich zentral geplant und kontrolliert, während die landwirtschaftliche Produktion in zentralen Planwirtschaften derart chronische Probleme und periodisch wiederkehrende Desaster kennt, dass selbst die höchstzentralisierten unter den kommunistischen Regierungen große Zugeständnisse in der Landwirtschaft machen mussten und dezentralisierte Entscheidungsfindungen unterschiedlicher Art gestattet haben. Aus ähnlichen Gründen ist es in kapitalistischen Ländern üblich, Lebensmittel­ ketten und Kaufhäuser zu haben, die standardisierte Artikel verkaufen. Aber dort

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findet man keine großen Ketten von Feinschmeckerrestaurants, in denen alles von der Atmosphäre und der Zubereitung der Speisen abhängt. Solche Restaurants verlangen, dass man die Manieren des Personals und die Gaumenkitzel des Chefkochs andauernd im Auge behält. Beides lässt sich von Experten aus der Ferne nicht wirksam kontrollieren. Der Inhaber oder Manager eines erfolgreichen Restaurants dieser Kategorie ist für gewöhnlich immer vor Ort, oft von dem Moment an, da es öffnet, bis spät in die Nacht, wenn es schließt. Im Gegensatz dazu müssen die Spitzenmanager von Sears oder Safeway bei keinem ihrer vielen hundert Kaufhäuser im Land vor Ort sein, weil sie viel von dem Wissen, das sie benötigen, aus Statistiken, Expertenmeinungen und Buchhaltungsdaten beziehen können.

Die Struktur der Anreize Während die Entscheidungen von den Formen der Organisationen und den Formen des Wissens, die zur Geltung kommen, geprägt werden, entspringt der Impetus zu Entscheidungen den internen Präferenzen und externen Anreizen derer, welche die Entscheidungen letztlich zu treffen haben. Die Anreize mögen positiv oder negativ sein, soll heißen, entweder Belohnungen oder Strafen sein. Bezeichnenderweise sind diese Anreize in einer bestimmten Art strukturiert, so dass es abhängig von den Formen der jeweiligen Ergebnisse korrespondierende Abstufungen bei den Belohnungen (oder Strafen) gibt. Es geht nicht nur um belohnen oder bestrafen oder darum, wie hoch die Belohnung oder Bestrafung ist, die den jeweiligen Entscheidungen wahrscheinlich folgt. Es geht schlicht und ergreifend um eine radikale Abkehr von der Praxis, Entscheidungen im Sinne „gesellschaftlicher“ Entscheidungen oder im Sinne des offiziellen und erkennbaren „Zwecks“ einer Organisation zu erklären. Eine Organisation mag Entscheidungen treffen, die den beabsichtigten Zweck verfehlen oder nicht den Interessen der Gesellschaft dienen, ohne dass es ihr an Verständnis oder Fähigkeiten „mangelt“; ganz einfach deshalb, weil sie im Angesicht der gegebenen Anreizstruktur und nicht auf die Rhetorik oder die Hoffnungen anderer Personen reagiert hat. Ein großer Teil der Kritik an den „unfähigen Bürokraten“ unterstellt implizit, dass die Menschen in den Amtsstuben das zugewiesene Ziel zwar verfolgen, aber aufgrund von Unfähigkeit nicht erreichen. In Wirklichkeit aber dürften sie auf die Anreize, vor denen sie stehen, überaus vernünftig und kompetent reagieren. So sind z. B. viele öffentliche Regulierungsbehörden bei der Kontrolle der Branche oder des Sektors, zu deren Regulierung sie gesetzlich verpflichtet sind, oft sehr ineffektiv. Andererseits ist es für Entscheidungsträger in solchen Behörden gang und gäbe, (1) weit weniger zu verdienen als ihre Standeskollegen im regulierten Sektor und (2) nach ein paar Jahren Berufserfahrung in den regulierten Sektor zu wechseln. Das heißt, sie regulieren ihre künftigen Arbeitgeber. Wenn der Korb der Anreize so aussieht, dann verwundert es kaum, dass die Entscheidungsträger in den Regulierungsbehörden denen, die sie maßregeln sollen, mit einer Haltung begegnen,

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

die Sympathie, Kooperation, ja sogar Fürsorge zum Ausdruck bringt. Der einzige Schutz des öffentlichen Interesses, der in die Anreizstruktur integriert ist, sind Strafen für unverhohlen illegales Verhalten, wie die Annahme von Bestechungsgeldern für das Treffen bestimmter Entscheidungen im Sinne bestimmter Firmen. Aber eindeutige Bestechungen sind selten nötig, damit die Regulierungsbehörde sich die Sichtweise jenes regulierten Sektors zu eigen macht, in dem viele Regulierungsbeamte sich eine längere und lukrativere Karriere versprechen als jene, die ihnen im öffentlichen Dienst winkt. Moralisch gesehen, mag man die Schwäche oder den Egoismus des Einzelnen missbilligen, aber nüchtern betrachtet gibt es kaum einen Grund, von einer repräsentativen Gruppe von Personen, die derselben Anreizstruktur gegenüberstehen, ein anderes Ergebnis zu erwarten. Reformen, bei denen man „die Halunken rauswirft“, scheinen weniger verheißungsvoll zu sein als Reformen, bei denen man die Anreizstruktur für jedweden, der die Position eines Entscheidungsträgers einnimmt, ändert. Das Beispiel der Regulierungsbehörde zeigt einen Fall, in dem die institutionellen Anreize mit äußeren Anreizen, die finanziell attraktiver sind, konkurrieren. Anreizstrukturen können aber auch für sich genommen Probleme bereiten, die nichts mit Wettbewerb zu tun haben. Allein der einfache Prozess, das zu formalisieren, was zu belohnen ist, birgt viele Verwicklungen und Fallstricke. Die meisten Probleme, Entscheidungen und Umsetzungen sind mehrdimensional, aber die Ergebnisse müssen irgendwie auf ein paar Schlüsselindikatoren reduziert werden, nach denen sie dann institutionell belohnt oder bestraft werden: Anwesenheitslisten, Testergebnisse, Leistung pro Zeiteinheit, Seniorität usw. Das Erfordernis, die Indikatoren auf einige handhabbare zu begrenzen, gründet nicht nur in der Notwendigkeit, Zeit (und Gesundheit) jener zu wahren, die über Belohnungen und Strafen befinden, sondern auch um jenen, die den besagten Anreizen ausgesetzt sind, einen objektiven Hinweis auf das zu geben, was man von ihnen erwartet und wie sie bewertet werden. Aber, wie der Name schon sagt, Schlüsselindikatoren können nie die ganze Geschichte erzählen. Dieser Umstand wirkt sich nicht nur auf die Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit der Belohnung aus, sondern auch auf das Verhalten an sich, das im Rahmen der gegebenen Anreizstruktur zutage tritt. So ist z. B. ein Indikator für militärischen Erfolg die Anzahl der getöteten Feinde. Doch dies ist bestimmt nicht der einzige Indikator, weil man ein großes militärisches Ziel auch erreichen kann, indem man den Feind umzingelt oder ihn die Übermacht so deutlich spüren lässt, dass er sich zurückzieht, oder indem man ihn mittels Täuschung zu Rückzug oder Aufgabe zwingt. Das ist sogar besser, als das Ziel im Sturm zu erobern, da der auf beiden Seiten viele Opfer fordert. Wenn aber die Anreizstruktur ausdrücklich die „Zahl der Toten“ auf Feindesseite („body count“) belohnt, dann ist damit auch der Anreiz gesetzt, mehr zu metzeln als eigentlich notwendig. Und da man die Zahl der feindlichen Opfer kaum erhöhen kann, ohne die eigenen Verluste in die Höhe zu treiben, setzt man einen Anreiz für Tod und unnötiges Blutvergießen in den eigenen Reihen. Noch einmal, moralische Verurteilung ohne Reform der Anreizstruktur bringt wenig. So konnte beispiels-

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weise die anhaltende Kritik an der Losung „Aufspüren und Zerstören“, welche die amerikanische Armee für Vietnam ausgegeben hatte, den Ansatz kaum verändern, weil in jenem Krieg der „body count“ ein Schlüsselindikator der militärischen Oberbefehlshaber war. Nach ihm belohnten und veröffentlichten sie die Erfolge ihrer Einheiten.

Zeit Für Schlüsselindikatoren muss es spezifizierte Zeitspannen geben, in denen sie zum Zwecke der Belohnung oder Bestrafung erfasst werden. Die Dauer kann je nach Prozess und Indikator enorm variieren. Mal ist es der Produktionsausstoß pro Stunde, mal die Inflationsrate per annum und mal die wöchentliche Bewertung der TV-Programme oder die Zweihundertjahrwürdigung einer Nation. Ganz gleich welche Zeitspanne man nimmt: sie alle enthalten vereinfachte oder gar übervereinfachte Darstellungen der Wirklichkeit. Die Zeit ist ein Kontinuum, und wenn man sie zu Beurteilungs- oder Belohnungszwecken in für sich stehende Einheiten parzelliert, dann bietet sich die Möglichkeit, das Verhalten auf die fragliche Zeitspanne zuzuschneiden, ohne die langfristigen Implikationen des Zuschnitts zu bedenken. Verzweifelte Anstrengungen vor dem Abgabetermin können ein recht ineffektives Mittel sein, das die langfristige Wirksamkeit von Mensch, Maschine oder Organisation reduziert. Die Sowjets haben dafür den Begriff „Ansturm“ geprägt, um derlei Verhalten zu beschreiben, das in sowjetischen Betrieben lange Zeit gang und gäbe war, um die monatlichen Quoten zu erfüllen. Ähnliche Verhaltensweisen zeigten sich das Jahr hindurch in den sowjetischen Agrarbetrieben, wo man versuchte, den jährlichen Ernteertrag zu maximieren, auch wenn dies zu Lasten der Pflege von Ausrüstung und Strukturen ging und die Böden auslaugte, denen man keine Ruhezeiten zur Wahrung der langfristigen Fruchtbarkeit gönnte. Vor dem Bürgerkrieg haben die Sklavenaufseher im Süden Mensch und Boden in ähnlicher Weise überfordert. Ihr Interesse galt allein der aktuellen Ernte und ging zu Lasten des Anbaus in den Folgejahren – in denen der Aufseher wahrscheinlich woanders arbeitete. Kurz gesagt, ähnliche Anreizstrukturen brachten ähnliche Ergebnisse hervor, selbst in sozioökonomischen Systemen mit höchst unterschiedlichen Historien, Ideologien und Rhetoriken.

Schlussfolgerungen All das Wissen, das zur Entscheidungsfindung notwendig ist, kommt durch verschiedene Systeme zum Tragen, welche die weit verstreuten Einzelinformationen der Individuen und Organisationen koordinieren. Unsere grobe Skizze der ihnen innewohnenden Prinzipien, Mechanismen und Fallstricke ist nur das Vorspiel einer umfangreicheren Betrachtung zur Nutzung von Wissen in Entscheidungsprozessen in den Bereichen von Ökonomie, Recht und Politik, die jeweils ihre

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eigenen Authentifizierungsprozesse und Rückmeldungsmechanismen haben, um bereits getroffene Entscheidungen zu revidieren. Ein Großteil der Diskussion über die Vor- und Nachteile einzelner „Aspekte“ verdeckt dabei die Tatsache, dass die wichtigste Entscheidung darüber fällt, wer die Entscheidung trifft, und auch unter welchen Zwängen und im Rahmen welcher Rückmeldungsmechanismen. Dieser Ansatz unterscheidet sich grundlegend von jenem, der bessere Entscheidungen erreichen will, indem man die „bösen Jungs“ durch die „guten Jungs“ ersetzt – soll heißen, indem man auf Unterschiede in der Aufrichtigkeit und Geschicklichkeit baut, nicht aber auf eine Anreizstruktur, die an einer Normalverteilung der Neigungen ausgerichtet ist. Bisher galt die Diskussion Entscheidungseinheiten, die bewusst geformt und hierarchisch strukturiert sind. Sie sind aber weder die einzigen noch notwendigerweise die besten Entscheidungseinheiten. Sie sind noch nicht einmal die am weitesten verbreiteten Entscheidungseinheiten, die man finden kann. Zu den alternativen Entscheidungseinheiten zählen (1) der alles entscheidende Zweikampf, der heutzutage für individuelle Entscheidungsfindungen kaum Anwendung findet, aber für souveräne Staaten immer noch der ultimative Entscheidungsmechanismus ist, (2) verschiedene, unter den Teilnehmern spontan entstandene Arrangements, wie z. B. Bieterverfahren in Märkten oder gegenseitige Fürsorge in Gruppen, die religiöse oder künstlerische Bande, Stammes- oder sonstige Verwandtschaftsbande eint, und (3) mit Bedacht eingesetzte Arrangements, bei denen jene, die in einem gewissen Sinne der Macht von anderen unterstellt sind, in einem anderen Sinne das Schicksal der hierarchisch Höherstehenden besiegeln – so wie im Falle demokratisch gewählter Regierungen oder solcher Regierungen, die im Windschatten ihrer eigenen Streitkräfte operieren, die ebenfalls den Willen und die Macht hätten, die Regierung loszuwerden. Alle diese Entscheidungsprozesse schließen sich untereinander nicht aus. Der Durchschnittsamerikaner lebt z. B. in einer Familie, die ihre Entscheidungen mit Rücksicht auf die persönlichen Gefühle fällt, arbeitet in einer hierarchisch strukturierten Organisation, deren Materialeinsatz und Warenausstoß von spontan entstehenden Märkten bestimmt werden, untersteht Gesetzen, die von einer Regierung eingebracht werden, deren Mitglieder von der Wählerschaft ausgewählt und aussortiert werden und die ihre Beziehungen zu anderen Regierungen in einer Atmosphäre unterhält, die von den jeweiligen Fähigkeiten zum bewaffneten Konflikt oder zur gegenseitigen Auslöschung beherrscht wird. Das Ineinandergreifen der verschiedenen Entscheidungsprozesse lässt es noch notwendiger erscheinen, die jeweiligen Prinzipien der einzelnen und unterschiedlichen Prozesse zu verstehen. Die kontinuierliche Entwicklung der Entscheidungseinheiten und Entscheidungsprozesse lässt es in gleicher Weise noch notwendiger erscheinen, die Auswirkungen der unterschiedlichen Prozesstypen zu verstehen, damit wir wissen, was uns erwartet, wenn die gegenwärtigen Trends anhalten. Die Vielfalt, die unter den Entscheidungseinheiten und Entscheidungsprozessen herrscht, waltet auch unter den Entscheidungstypen. Einige Entscheidungen

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sind z. B. binäre Entscheidungen – ja oder nein, Krieg oder Frieden, schuldig oder unschuldig –, während andere Entscheidungen schrittweise Entscheidungen mit dauernder Variabilität sind: mehr oder weniger Benzin verbrauchen, höhere oder niedrigere Löhne zahlen, ein hektischeres oder entspannteres Leben führen. Andere Entscheidungen hingegen sind endgültig – Freitod, Verlust der Jungfräulichkeit, Brand eines Rembrandtgemäldes – und wiederum andere sind durchaus umkehrbare Entscheidungen: ein langweiliges Programm abschalten, ein Abonnement abbestellen, den Erwerb bestimmter Markenartikel oder den Gebrauch bestimmter Klischees einstellen usw. Außerdem kann man Entscheidungen einzeln oder „im Paket“ treffen. Man kann Zwiebeln, Brot und Konserven in einem oder in mehreren Geschäften kaufen, aber wenn man sich für einen politischen Kandidaten entscheidet, dann muss man das ganze Paket des Kandidaten wählen. Man wählt seine Fiskal- und Außenpolitik, seine Haltung zu Umweltfragen oder Bürgerrechtsthemen usw. – in Abgrenzung zu dem Gesamtpaket, das der Gegner zu all diesen Themen mitbringt. Der Entscheidungstyp hängt nicht so sehr vom jeweiligen Gegenstand (z. B. Schuhe, Lebensmittel oder Bildung) ab, sondern vielmehr vom jeweiligen Entscheidungsprozess: ökonomische, gesetzgebende, politische u. a. Prozesse. Wenn man also eine Entscheidung von einer Entscheidungseinheit zur anderen weiterreicht, dann bedeutet das nicht nur, dass nun eine andere Gruppe von Leuten oder ein anderer Entscheidungsprozess die Entscheidung trifft. Auch die Natur der Entscheidung selbst kann sich in diesem Fall ändern. Das heißt, was früher eine kontinuierlich variable Entscheidung war, kann nun zu einer binären Entscheidung werden. Bevor es z. B. öffentliche Schulen und eine Schulpflicht gab, entschied die Familie darüber, wieviel Bildung sie für ihre Kinder erwarb. Danach gab es nur die Entscheidung, den Schulzwang zu befolgen oder nicht. Bevor das Konkurrieren mit der Post bei der Briefzustellung ein Verstoß gegen das Bundesgesetz wurde, konnte jeder Briefeschreiber unter mehreren Zustellerdiensten auswählen, aber danach bestand die Entscheidung nur noch darin, in Form eines Briefes oder anderweitig zu kommunizieren. Entscheidungen differieren auch im Hinblick darauf, ob sie gelegentlich oder sequentiell getroffen werden. Eine gelegentliche Entscheidung fällt zu einem gegebenen Zeitpunkt auf einmal, auch wenn ihr eine lange Zeit der Überlegung vorausging. Eine sequentielle Entscheidung fällt hingegen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, und zwar als Reaktion auf vorherige Teile der Entscheidung. Sie enthält zusätzliche Korrekturen, Improvisationen oder Bekräftigungen. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden ist, dass die eine Entscheidung ganz und gar anlässlich einer Gelegenheit und die andere schrittweise über eine längere Zeit gefällt wird. Beim Fällen sequentieller Entscheidungen steht dem Entscheidungsträger zu Beginn der Entscheidungsfindung das ganze Wissen noch nicht zur Verfügung und kann die darauffolgende Handlung eine ganz andere sein, als sie es wäre, hätte das ganze Wissen von Anfang an bereitgestanden oder hätte man die Entscheidung aufschieben können, bis alle Fakten vorliegen.

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

Viele der anfänglichen Unterstützer des Vietnamkriegs vertraten am Schluss die Position, dass der Krieg die Opfer nicht wert war und, nachdem die Gesamtkosten mit der Zeit erkennbar wurden, dass die ersten offiziellen Stellungnahmen zu den voraussichtlichen Opfern und dem mutmaßlichen Ausgang entweder sehr fehlerhaft oder absichtlich irreführend waren. Ein anderes zeitgenössisches Beispiel sequentieller Entscheidung aus einem völlig anderen Bereich ist der Gang, den die 1954 vom Obersten Gerichtshof gefällte Entscheidung im Fall Brown nahm. Das Urteil legte fest, dass der Staat Schüler nicht zum Zwecke der Ungleichbehandlung nach Rassen klassifizieren dürfe, und führte zu der umstrittenen „Buslösung“ („busing“), die gemäß der Entscheidung den Bundesstaaten oblag. Jahre des Widerstands gegen die Aufhebung der Rassentrennung an öffentlichen Schulen lösten zunehmend härtere Gerichtsurteile aus, um die verschiedenen Strategien des Widerstands, der Verzögerungen und Umgehungen zu besiegen – schließlich war man an einem Punkt angelangt, der am anderen Ende dessen lag, was die ursprüngliche Annahme oder Absicht des Obersten Gerichtshofs war. In einem früheren Abschnitt der Geschichte verfolgte der britische Premierminister Neville Chamberlain eine Außenpolitik, die mittels kleinerer Zugeständnisse einen Krieg mit Hitler vermeiden sollte. Aber letztendlich führte sie zu einer nicht vorhergesehenen Serie von Krisen und Konzessionen, die das Machtgleichgewicht zugunsten von Hitler veränderte und einen Krieg unvermeidbar machte. Keine dieser sequentiellen Entscheidungen war das Ergebnis einer „Gesellschaft“, die im Nachhinein gesehen und angesichts der nun zugänglichen Informationen dumm gewesen wäre, sondern die Folge von schrittweisen Entscheidungen, die ihre Eigendynamik entwickelten, und von individuellen Entscheidungsträgern, die gegen die sich nach und nach zeigenden Verwicklungen, die der sequentiellen Entscheidungsfindung innewohnen, machtlos sind. Lob oder Tadel ist hier nicht die Frage. Wichtig ist es, (1) zu erkennen, ob wir vor einer Situation stehen, die Teil einer sequentiellen Entscheidungsfindung ist, und welche Implikationen dies mit sich führt, und (2) zu verstehen, wenn unsere Institutionen einen sequentiellen Entscheidungsprozess in Gang setzen, obwohl ein alternativer Entscheidungsprozess zur Verfügung steht. So wird z. B. Kapitel 9 das Strafrechtssystem als eine Serie von sequentiellen Entscheidungen analysieren, die sich dem jungen Kriminellen so darstellt, dass mehr Menschen dazu gebracht werden, ein kriminelles Leben zu führen, als es der Fall wäre, wenn man ihnen alles Wissen über die Aussichten und Strafen von Anfang an nahebringen würde. Wir müssen nicht nur die Entscheidungsprozesse betrachten, sondern auch die Entscheidungskosten. Diese Kosten setzen sich nicht nur einfach aus den Gehältern der Entscheidungsfunktionäre zusammen, die sie während der Zeit beziehen, in der sie darüber nachdenken, was zu tun ist. Die Kosten der Auswertung von Geheimprotokollen bezüglich der japanischen Absichten, Pearl Harbor zu bombardieren, betrugen bestimmt nicht nur das, was man den Militärfunktionären bezahlte, um die Berichte zu studieren. Zu den Kosten dieser Prozesse gehörten auch eine der größten Militärkatastrophen der amerikanischen Geschichte und der Verlust von

Kap. 2: Entscheidungsprozesse

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Leben und Material nicht nur in Pearl Harbor, sondern auch in einer Reihe militärischer Niederlagen in den Folgemonaten, die im Fahrwasser der lähmenden Beinahe-Auslöschung der amerikanischen Pazifikflotte vom 7. Dezember 1941 erfolgten. Es geht hier nicht um die Verurteilung oder Auswertung des Entscheidungsprozesses, der seinerzeit im Militär vorherrschte. Die Sache ist eine andere, nämlich die, zu betonen, dass man die Kosten eines jeden Entscheidungsprozesses im Lichte aller Konsequenzen zu bewerten hat, die Teil alternativer Entscheidungsprozesse sind. Solche Prozesse kann man nicht mittels eng gefasster ökonomischer und finanzieller Kriterien beurteilen. Wie wir noch in Kapitel 3 sehen werden, kann man nicht einmal ökonomische Entscheidungen im Sinne eines engen Geldbegriffs bewerten. Die folgenden Kapitel werfen ein Licht auf die Nutzung von Wissen in wirtschaftlichen, gesetzgebenden und politischen Institutionen, die Natur des geistigen Prozesses und die Rolle der Intellektuellen als gesellschaftliche Klasse bei der Prägung von Trends in der modernen Gesellschaft. Einige irritierende Implikationen dieser Entwicklungen werden dabei erörtert.

Kapitel 2

Entscheidungsprozesse Ungeachtet der Modeerscheinung, „die Gesellschaft“ als einen Entscheidungsträger und Akteur zu personifizieren, kann man die Entscheidungsfindung im wirklichen Leben nur im Kontext der tatsächlich existierenden Entscheidungseinheiten und der jeweiligen spezifischen Mengen an Begrenzungen und Anreizen, unter denen sie agieren, verstehen. Eben jene Entscheidungseinheiten und -prozesse sind höchst verschieden und haben ebenso höchst verschiedene Implikationen. Da recht unterschiedliche Konstellationsformen der Entscheidungsfindung sogar in streng monolithischen Gesellschaften jahrhundertelang in institutioneller Koexistenz überdauert haben, darf man vermuten, dass jede Form menschlicher Organisation substanzielle Vor- und Nachteile hat, die man im Hinblick auf ihre Aktivitäten und Entscheidungen unterscheiden kann. Konstitutionalismus und Pluralismus sind lebende Beweise für diese Schlussfolgerung. Eine der grundlegenden Unterschiede zwischen den Verhältnissen, die Menschen untereinander eingehen, ist der zwischen freiwilligen Beziehungen, die man jederzeit und ohne Kosten (abgesehen vom Verlust der Beziehung selbst) beenden kann, und Verhältnissen, die von bestimmten Institutionen erzwungen und mit empfindlichen Strafen belegt werden können. Letztere können von privatrechtlichen Vertragsbruchklagen bis hin zur Exekution von Desserteuren im Krieg reichen. Der Unterschied liegt hier nicht in der Ernsthaftigkeit oder Schwere des Verlusts infolge der beendeten Beziehung. Der Unterschied liegt vielmehr darin, ob der Verlust eine künstliche Strafe zur Durchsetzung der Beziehungsklauseln

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ist oder dem Verlust der Beziehung selbst innewohnt. Liebespaare sind wohl das klassische Beispiel einer informellen freiwilligen Beziehung – deren Verlust bei weitem verheerender sein kann als beispielsweise der Bruch eines Mietvertrags. Gleichwohl ist das Abkommen zwischen Mieter und Vermieter, nachdem es unterzeichnet ist, nicht länger freiwillig, genauso wenig, wie das Verhältnis unter Liebenden nach der Heirat nicht länger wirklich freiwillig ist. Informelle Beziehungen müssen nicht so eng sein wie die unter Liebenden. Die Sprache ist ein ganzes Bündel von verwobenen Beziehungen, mehr gewachsen als geplant, und ihre „Regeln“ werden befolgt, ohne dass es einer Einrichtung bedürfte, die in der Lage wäre, Regelverstöße mit Strafen zu ahnden. Es mag für Schüler Strafen in Form von Noten geben, wenn sie die Sprache unsachgemäß verwenden, und manche rügen dergleichen auch in Form gesellschaftlicher Ablehnung. Aber solche Strafen sind eher mild, selten und wahrscheinlich nicht einmal besonders abschreckend – vor allem im Vergleich mit den überaus beachtlichen Kosten, die entstehen, wenn man die Regeln der Sprache erheblich missachtet. Wer diese Regeln nicht versteht oder missachtet, muss mit nahezu jedem in einem Zustand beiderseitigen Unverständnisses leben. Noch einmal, hier geht es um eine freiwillige Beziehung, die ohne Kosten beendet werden kann – wenn man einmal vom Verlust der Beziehung selbst absieht, der natürlich sehr groß sein kann. Im Gegensatz dazu verwenden institutionelle Beziehungen, die nach Plan entstehen, artifizielle Belohnungen und Strafen als Kompensation für das Befolgen und Missachten der Beziehungsklauseln und Wünsche der betroffenen Personen. Wirtschaftliche Organisationen stellen im Austausch gegen Geld Güter oder Dienstleistungen bereit, politische Organisationen stellen ihre Dienste im Austausch gegen Stimmen bereit und administrative Organisationen (staatliche Behörden, private „Non-Profit“-Organisationen usw.) verrichten ihre Aufgaben im Gegenzug für organisationsbezogene Belohnungen wie Prestige und individuelle Belohnungen wie Gehalt, Macht und Nebeneinkünfte. Es ist nicht so, dass diese Anreizmechanismen festlegten, was ökonomisch, politisch und administrativ ist. Sie definieren vielmehr, was organisatorisch ist, und nicht informell oder spontan. Die Kategorie der Organisation lässt sich demnach in ökonomische, politische und sonstige Unterkategorien einteilen. Darüber hinaus gibt es auch informelle (ökono­ mische, politische u. a. nicht-organisatorische) Aktivitäten, aber denen gilt unser Hauptaugenmerk nicht. Keine der genannten Kategorien ist hermetisch abgeriegelt oder repräsentiert eine exklusive Entität im strengen Sinne. Für unsere Zwecke reicht es, das Spektrum aller Formen menschlicher Beziehungen zur Kenntnis zu nehmen. Sie reichen von solchen, die in hohem Maße freiwillig und informell sind (Liebespaare), bis hin zu jenen, die organisatorisch durchstrukturiert und festgelegt sind (Wehrpflichtige in Kampfeshandlungen). Die jeweiligen Ausschnitte aus diesem Spektrum kann man dann unter verschiedenen Namen diskutieren, sofern man sich gegenwärtig hält, dass die gewählten übergangsfreien Bezeichnungen in der wirklichen Welt

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diverse Komplexe von Eigenschaften betreffen, die ineinander übergehen. So mag man z. B. eine Familie als eine informelle freiwillige Beziehung sehen, weil ihr Zusammenhalt und Funktionieren vor allem den intrinsischen Anreizen der Beziehung zu verdanken ist, und nicht dem organisatorisch ausgedachten, auch wenn diese ausgedachten Anreize zusätzlich hineinspielen, z. B. ins Familienrecht. Am Beispiel der Familie kann man auch erkennen, dass „informell“ oder „freiwillig“ nicht unbedingt schwächere Anreize impliziert. Familienanreize sind in der Tat so mächtig, dass sie zur Missachtung selbst harter Strafen führen können. Das Recht nimmt dies stillschweigend hin und versucht beispielsweise, nicht mit Gewalt durchzusetzen, dass Verwandte gegen Verwandte aussagen. In ähnlicher Weise berücksichtigen auch andere Organisationen, dass ihre formalen Anreize schwächer als die informellen Anreize der Familien sind. Regeln gegen Nepotismus beim Einstellen sind eine geläufige Form dieser Erkenntnis. Vergleiche unter den verschiedenen Konstellations- und Prozessarten menschlicher Entscheidungsfindung sind bis zu einem gewissen Grad auch Vergleiche unter verschiedenen Entscheidungen. Falls diese Ex-post-Tatsache implizierte, dass es ex ante nur eine einzige Beziehung zwischen Entscheidungsarten und Arten der Entscheidungsfindung gäbe, dann wäre es sowohl logisch unmöglich als auch gesellschaftlich sinnlos, verschiedene Beziehungen oder Institutionen als Entscheidungsmechanismen zu vergleichen. Die folgenden Betrachtungen postulieren nicht nur im theoretischen, sondern auch im faktischen Sinne, dass unter mehreren Institutionen jede beliebige von ihnen anstehende Entscheidungen treffen kann. In diesem Zusammenhang ist die empirische Tatsache, dass Familien normalerweise nicht darüber entscheiden, ob Krieg oder Frieden herrscht, und Behörden bezeichnender Weise nicht in Liebesangelegenheiten entscheiden, ein Sachverhalt, den man allein mit Hilfe der Vor- und Nachteile institutioneller Entscheidungsfindung erklären kann. Es gibt Situationen, in denen Familien tatsächlich Entscheidungen über Krieg und Frieden getroffen haben (Vendettas, dynastische Kriege) und computergestützte Organisationen (zumindest nach eigenem Bekunden) in der Lage sind, Liebespaare zusammenzuführen. Kurz gesagt, was wir hier diskutieren, setzt voraus, dass der institutionelle Ort bestimmter Entscheidungen keine Konstante, sondern eine Variable ist, und kommt zu dem Ergebnis, dass diese für das Wohl der Gesellschaft eine entscheidende Variable ist.

Informelle Beziehungen Zu den Vorteilen informeller Beziehungen, verstanden als Entscheidungseinheiten, zählen deren geringe Entscheidungskosten hinsichtlich der benötigten Zeit, des erforderlichen Wissens und der Fähigkeit zur „Feinabstimmung“ von Problem und Entscheidung. Mit Entscheidungskosten sind die Kosten des Prozesses der Entscheidung gemeint, und nicht die Kosten, die mit der Entscheidung zustande kommen. Inter-

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institutionelle Vergleiche von Entscheidungskosten sind nur dann sinnvoll, wenn die (wie auch immer definierte) „Qualität“ der Entscheidung für die Dauer des Vergleichs konstant gehalten wird. Das heißt nicht, dass aus theoretischen oder faktischen Gründen die Institutionen dieselben Probleme gleich gut zu entscheiden hätten. Es bedeutet nur, dass man interinstitutionelle Differenzen hinsichtlich der Entscheidungseffizienz genauso gut im Sinne von Kostendifferenzen bei der Produktion von Qualitätsentscheidungen ausdrücken kann wie auch im Sinne von Qualitätsdifferenzen bei gleichen Kosten. Wenn man interinstitutionelle Differenzen im Sinne der Kosten einer gegebenen Qualitätsentscheidung ausdrückt, dann vermeidet man, sich in den Schwierigkeiten des Abwägens der jeweiligen Vor- und Nachteile der verschiedenen Entscheidungen zu verlieren und kann den Fokus auf die Kosten richten, die mit dem Prozess verbunden sind, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einem bestimmten Bündel an Werten in dem gewünschten Ausmaß zu genügen. Die informelle Entscheidungsfindung unterliegt nicht den organisatorischen Anforderungen, die in anderen Situationen auftreten: bei schriftlichen Rechtfertigungen, diversen protokollarischen Rücksichtnahmen gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Untergebenen oder bei strikten Bestimmungen eines „geordneten Verfahrens“ in Körperschaften öffentlichen Rechts. Daher ist sie normalerweise nicht so kostspielig. Ein angesehener Ökonom meinte einmal, Lindberghs Atlantiküberquerung wäre keine so große Leistung gewesen, wenn er gemeinsam mit einem Ausschuss geflogen wäre.5 Ein großer Teil der Kosten formaler Entscheidungen hat nichts mit den momentan anfallenden Auslagen der aktuellen Entscheidung zu tun (sowohl in finanzieller wie auch in psychischer Hinsicht), sondern vielmehr mit der Investition (auch hier im finanziellen wie im psychischen Sinne) in eine „Versicherung“ zum eigenen Schutz vor künftigen Kosten infolge der persönlichen oder geschäftlichen Beziehungen zu den übrigen Entscheidungsparteien. Gesichtsverlust, verbale Missverständnisse, falschverstandene Absichten, Statusverlust und ähnliches zu vermeiden, ist teuer. Sie kosten den Einzelnen zweifellos viel Zeit und Nerven. Für eine Organisation, die ihre potenziellen Entscheidungsträger hinsichtlich deren Begabung, derlei Anforderungen zu genügen und zudem ausreichende geistige Fähigkeiten für qualitätsvolle Entscheidungen mitzubringen, durchleuchten muss, sind die Kosten direkter und finanziell greifbarer. Gewiss, je länger die Liste der Anforderungen, desto kleiner das Angebot an hinreichend qualifizierten Kräften und desto höher das zu zahlende Gehalt, das man im Wettbewerb mit den anderen Organisationen braucht, um sie einzustellen. Die finanziellen Phänomene der Institutionen sind hauptsächlich äußere Manifestationen der ihnen zugrundeliegenden psychischen Kosten, die den Einzelnen erwachsen. Die Findung informeller Entscheidungen vermeidet viele (wenn auch nicht alle) von diesen „Versicherungskosten“, weil weniger „Versicherung“ notwendig ist. Im

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George J. Stigler von der Universität Chicago, nach Verlassen einer Ausschusssitzung.

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Extremfall fällt ein Individuum eine rein private Entscheidung, die von allen als legitime Entscheidung, die in sein Ermessen fällt, angesehen wird (jemand, der allein das Fernsehprogramm anschaut, ein Junggeselle, der sein Essen einkauft usw.) und die er nicht durch zusätzliche Hand­lungen gegen feindselige Reaktionen anderer absichern muss. Bei informellen Entscheidungsprozessen kennen sich die anderen Parteien meistens gut genug und haben hinreichend feste Meinungen voneinander. Handlungen und Prozesse zur „Absicherung“ sind in diesen Fällen kaum notwendig oder nützlich. Diese Schlussfolgerung wirft uns in gewisser Weise in der Frage eher zurück, statt uns der Antwort näher zu bringen. Sie sagt uns, dass informelle Beziehungen wegen vergangener Investitionen in das gegenseitige Kennenlernen geringe lau­ fende Kosten haben. Dies wiederum sagt nichts über die Gesamtkosten der relevanten Zeitspanne. In informellen Beziehungen sind die Gesamtkosten tenden­ziell deshalb niedrig, weil die freiwilligen Interaktionen, die zu Vertrautheiten führen, alles in allem angenehm sind. Ansonsten hätte man die Interaktionen nicht ausgesucht und beibehalten. Die Kosten für Freunde, Verwandte oder Verliebte, einen Grad der Vertrautheit zu entwickeln, der ausreicht, um die Kosten der gegenseitigen „Absicherung“ gering zu halten, sind wahrscheinlich weit niedriger als die einer Detektei, einer Kreditanstalt oder eines investigativen Reporters, um die gleiche Menge an persönlichen Informationen zu erhalten. Die schlichte Tatsache, dass Letztere Geld dafür bekommen, Informationen auszugraben, lässt vermuten, dass ihre Freude am Vertrautwerden mit dem Subjekt nicht ausreicht, um die Mühe zu lohnen. Man kann die niedrigeren Kosten informeller Beziehungen mithilfe der Finanzierung kleiner Eigentümerunternehmen illustrieren. Die entscheidende Variable, welche die Erfolgsaussichten eines solchen Unternehmens bestimmt, sind Charakter, Talent, Ausdauer und sonstige persönliche Attribute des künftigen Unternehmers. Nur selten finanzieren Banken die Gründung von derlei Unternehmen, die normalerweise entweder durch den Eigentümer selbst und / oder Freunde, Familienmitglieder oder Nachbarn finanziert werden – d. h., von Menschen, die geringere Kosten bei der Akquirierung der notwendigen Informationen haben. Es ist Banken und anderen Einrichtungen nicht wirklich unmöglich, ähnliche Informationen einzuholen, aber die dazu erforderlichen Kosten wären weitaus höher. Ein Finanzinstitut kann nicht einfach die Bekannten des künftigen Eigentümerunternehmers um Auskunft bitten, weil deren persönliches Interesse an der Genauigkeit und Verlässlichkeit ihrer Bewertung nicht groß genug wäre. Wahrscheinlich würden sie für ihn Partei ergreifen, zumal dies auch ihrem Hang entspräche, nicht ihr eigenes Geld zu riskieren. Effektivere Methoden, mit denen man persönliche Informationen zur Vergangenheit der Investmentbewerber einholen könnte – oder Vorabinformationen über den Kreis der Personen, aus dem die Investmentbewerber voraussichtlich kommen –, würde Methoden (wie z. B. elektronische Abhörgeräte) erfordern, deren Illegalität die Kosten in die Höhe treiben würde. Es ist natürlich nicht illegal, dieselben Informationen durch informelle Beziehungen ein-

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zuholen. Außerdem ist eine solche Informationseinholung billiger, auch deshalb, weil der Umgang mit Menschen, die man selbst ausgesucht hat, geringere psychische Kosten mit sich bringt. Einige Einrichtungen schaffen es, Informationen anzuzapfen, die von informellen Beziehungen produziert werden. Arbeitgeber, die einen neuen Arbeitnehmer aufgrund der Empfehlung eines langjährigen Mitarbeiters der Firma einstellen, umgehen das Problem der Banken – gemeint ist, dass jene, die über die relevantesten Informationen verfügen, an der akkuraten Übermittlung ihres Wissens zu wenig Interesse haben. Wem die eigene Zukunft beim Arbeitgeber lieb ist, wird kaum jemanden empfehlen, der dem Angestelltenstandard nicht mindestens entspricht. Dass selbst Arbeitgeber mit Personalabteilungen und vermeintlich „wissenschaftlichen“ Auswahlverfahren auf solche Informationen vertrauen, lässt darauf schließen, dass das Unternehmen zumindest in Teilen die Kostenvorteile von informellen Beziehungen stillschweigend anerkennt. „Seilschaften“ unter Berufskollegen, denen weiterhin an ihren guten Beziehungen gelegen ist, sind gleichermaßen informelle Beziehungen, die auf dem rein organisatorischen Weg für das Unternehmen viel zu teuer wären. Das gilt vor allem für Berufe, bei denen die wichtigen Eigenschaften sehr von der jeweiligen Person abhängen – Temperament, Antrieb, Vorstellungsgabe, geistige Disziplin – und deshalb anhand formaler Kriterien wie Universitätsabschlüssen nicht objektiv spezifiziert oder definitiv gemessen werden können. Die sich häufenden Beschwerden über die „chaotischen“ Vermittlungs- und Einstellungsmethoden in solchen Berufen übersehen eben jenen Kostenvorteil informeller Beziehungen. Dass dieser Vorteil überaus groß sein kann, belegen (1) der Fortbestand solcher Vermittlungsmethoden auch angesichts wiederholter Versuche interner Reformen6 oder externer, per Gesetz auferlegter Anforderungen, z. B. durch „positive Diskriminierung“ („affir­ mative action“)7, (2) die Unzufriedenheit, die sowohl Arbeitgeber wie Arbeitnehmer mit den alternativen, „objektiveren“ und „rationaleren“ Verfahren bekunden8, und (3) die Bereitschaft von Arbeitgebern, gern eine Einschränkung ihrer Optionen in Kauf zu nehmen, indem sie bei Einstellungen nur auf solche Organisationen zurückgreifen, über die sie aus eigenen informellen Quellen genug wissen, wodurch sie einen Markt balkanisieren, der durchaus um ein Vielfaches größer sein kann.9 Die mancherorts gezeigte Geringschätzung und / oder moralische Verurteilung von Praktiken, die Kostenvorteile informeller Beziehungen nutzen, gründen oftmals auf der impliziten Annahme, Wissen sei kein wirtschaftliches Gut oder im Prinzip „gegeben“ und als ein gebündeltes Ganzes jedermann gleichermaßen zu-

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Caplow / McGee (1961), S. 138–255, Somers (1964), S. 516 ff., und Brown (1967), S. ­170–187. Lester (1974), S. 13–29. 8 Somers (1964), S. 517, Brook / Marshall (1974), S. 505 f., 508. 9 Brown (1967), Kapitel 4. 7

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gängig. In Wirklichkeit kann Wissen sehr teuer sein. Zudem besteht es oft aus vielen verstreuten Fragmenten, die für sich genommen zu klein sind, um für Entscheidungsfindungen brauchbar zu sein. Die Kommunikation und Koordinierung dieser verstreuten Wissensfragmente ist eines der Grundprobleme – vielleicht sogar das Grundproblem – jeder Gesellschaft und der sie konstituierenden Institutionen und Beziehungen.10 Informelle Beziehungen sind in vielen Fällen nicht nur in der Lage, Wissen zu geringeren Kosten einzuholen als formelle Einrichtungen. Im Allgemeinen können sie es auch in einer spezifischeren und in einer „feiner justierten“ Art für die Entscheidungsfindung einsetzen. Zu den Gründen zählt u. a., dass informelle Entscheidungen eher als formelle Verfahren schrittweise statt kategorisch ablaufen, Einzel- statt Gesamtvereinbarungen sind und von Fall zu Fall statt nach Präzedenzfällen entschieden werden. Informelle Beziehungen sind schon laut Definition eher von Regeln befreit als formelle Organisationen. Deshalb können erstere leichter festlegen, in welchem Umfang etwas zu tun ist – der Konsum eines Gutes, die Arbeit im Beruf oder die Einbindung einer weiteren Person –, und nicht nur, ob etwas zu tun ist oder nicht. So kennen beispielsweise persönliche Beziehungen viele subtile Abstufungen zwischen Formalität und Intimität, verglichen mit den offiziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer hierarchischen Organisation. Dort weisen die Beziehungen zweier im Amt befindlicher Personen weniger Abstufungen und Nuancen auf (es sei denn zwischen den Amtsinhabern bestünde auch eine informelle Beziehung). „Überzogene Konsequenz“ ist in informellen Beziehungen weitaus seltener notwendig. Der jüngste Spross einer Familie mag mit Blick auf einige Regeln (­ Anstand, Irrtümer) bevorzugt, und im Hinblick auf andere (Sicherheit, Geld) strenger kontrolliert werden. Sogar in vermeintlich männerdominierten Kulturen gibt es gewichtige Bereiche familiärer Entscheidungen, in denen der Ehemann nicht im Traum daran dächte, die Entscheidung der Ehefrau in Frage zu stellen, auch dann nicht, wenn die Entscheidung einen Großteil seines Einkommens in Beschlag nimmt.11 Die Spezialisierungsvorteile solcher reziproker oder austauschbarer Subordinationen werden in einer ordentlich hierarchischen Organisation geopfert. Dort steht der Vizepräsident immer über dem Pförtner – es sei denn, die Belegschaft entschlösse sich zu einem anderen Verhalten, um einige der Vorteile informeller Beziehungen in die formale Organisation hinüberzuretten. Wie weit dies in der Praxis gehen kann, mag die Tatsache illustrieren, dass es selbst in der extrem hierarchischen Rangordnung der Sklaverei sehr begabte, erfahrene und vertrauenswürdige Sklaven gab, deren Urteil in wichtigen Wirtschaftsfragen von den Sklavenhaltern mehr geschätzt wurde als das der weißen Aufse-

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Hayek (1945).  Gambino (1974), S. 7 f.

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her12 – so sehr, dass ein Bündnis aus solchen Sklaven, die unzufrieden waren, einen Aufseher den Job kosten konnte.13 Das Interesse an ökonomischer Effizienz, das dem Sklavenhalter wichtiger war als alles andere, reichte aus, um ihn sowohl das Prinzip der hierarchischen Rangordnung und die vorherrschende Rassenideologie verletzen zu lassen, damit er die Gewinne, die den Vorteilen informeller Beziehungen entspringen, einstreichen konnte. Entscheidungen, die infolge informeller Beziehungen entstehen, sind leichter zu individualisieren, als dies in Organisationen möglich ist, die ihren eigenen Regeln verpflichtet sind. Einem kranken Kind, das leidet oder sonst wie dauerhaft beeinträchtigt ist, kann man häppchenweise besondere Aufmerksamkeit schenken und ausnahmsweise seine Pflichten erlassen, aber nur soweit, solange und sofern es – aus Sicht der Eltern oder Geschwister – Hilfe braucht. In mancher Hinsicht mag es „spezielle“ Hilfe brauchen, in anderer nicht. Zu „spezielle“ Hilfe würde sowohl seine eigenen Beziehungen zu anderen als auch die innerhalb der Familie überstrapazieren. Formale Organisationen kennen auch Wege des Umgangs mit Krankheit und Versehrtheit, aber ihre Zuwendungen kommen im Allgemeinen nur Personen zugute, die bestimmten Kriterien, die im wörtlichen Sinne vorgeschrieben sind, entsprechen, und nicht einem Urteil ex post, das hinsichtlich der allgemeinen Natur und Schwere ihrer individuellen Beeinträchtigung gefällt wird. So kann einem Arbeiter, der eine bestimmte, gleichwohl geringfügige Verletzung erlitten hat, einen wahrer Geldsegen blühen, während man von seinem Kollegen, der nach einer zerbrochenen Liebesbeziehung am Boden zerstört ist, erwartet, dass er seine Arbeit so verrichtet, als wäre nichts geschehen. Es geht hier nicht um ein eventuelles Fehlverhalten der Unternehmensleitung – eine solches könnte es auch unter Eltern geben  –, sondern um inhärente Anomalien hierarchischer Organisationen. Wie gesagt, in einigen Fällen mag das Führungspersonal entscheiden, die Organisationsregeln so zu ändern, dass die Gewinne informeller Beziehungen nutzbar werden, aber derlei Änderungen sind nicht inhärenter Bestandteil hierarchischer Organisation. Vielmehr stehen sie im Konflikt mit ihr, und insofern dürfte ihre Reichweite umso begrenzter sein, je hierarchischer die Organisation ist. Den Soldaten im Kampfeinsatz gibt man nicht viel Zeit, wenn sie einen Brief erhalten, der mit „Mein Liebster“ anfängt. Informelle Entscheidungsfindung erlaubt also, Faktoren, die im Nachhinein besehen im Hinblick auf ihre Nettoeffekte höchst verschieden sind, zu übertragen. Der sprichwörtliche „Vorteil im Nachhinein“ kann in informellen Prozessen genutzt werden. Das formale Entscheiden in Organisationen tendiert hingegen zu einer vorausblickenden kategorischen Spezifizierung der auf spezifischen, vorprogrammierten Wegen zu berücksichtigenden Faktoren. Beide Verfahren haben ihre Vor- und Nachteile. Die Vorteile informeller Beziehungen sind wohl dort

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Fogel / Engerman (1974), S. 214 f. Fogel / Engerman (1974), S. 214 f., Genovese (1974), S. 14–20.

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am größten, wo über solche individuellen, persönlichen oder situationsbedingten Differenzen entschieden wird, die man im Vorfeld nicht explizit und ausführlich spezifizieren kann, weil sie das Ergebnis einer Vielzahl allzu weitreichender und verschiedener Einflussgrößen sind, die man nicht im Voraus auflisten oder nach Eintreten des Falles logisch überzeugend rekonstruieren kann und die eine riesige Menge höchst individueller Informationen zu niedrigen Kosten erfordern. Informelle Beziehungen lassen uns Entscheidungen aber auch in einem anderen Sinne individualisieren. Jede Entscheidung kann man relativ isoliert betrachten und muss sie nicht als Teil eines Pakets sehen, das man nur „ganz oder gar nicht“ haben kann. Eine Serie von Liebesaffären kann man nach Kriterien wie Persönlichkeitstyp, Dauer, Intimität oder Intensität unterscheiden, aber am anderen Ende des Spektrums – Heirat ohne Scheidungsoption mit harten Sanktionen bei außerehelichen Affären – steht ein „ganz oder gar nicht“-Abkommen, das für alle Zeit und im Hinblick auf die ganze Bandbreite an Charaktereigenschaften gilt, die der Ehepartner hat. Wenn man – zeitweise oder für immer – von dem einfühlsamen introvertierten Typen oder von dem Schlägertypen mit Mütze genug hat, dann kann man bei späteren Partnern nach anderen Qualitäten Ausschau halten. Wenn aber die nächste Beziehung für immer sein soll, dann dürfte dies Anlass genug sein, einem gänzlich anderen Gesamtcharakter den Vorzug einzuräumen. Dasselbe Prinzip gilt auch für weniger persönliche Entscheidungen. Eine Autofahrt von Stadt zu Stadt ist eine Entscheidung, die man jederzeit überdenken, ändern oder aufheben kann. Ein Flug zwischen eben diesen Städten ist eine „Gesamtpaket“. Sobald das Flugzeug abhebt, kann der Passagier überdenken, was er will: alternative Ziele, Abstecher, wen er hätte mitnehmen können, um mehr Spaß an der Reise zu haben, die optimale Ankunftszeit oder ob die Reise überhaupt eine gute Idee war, haben sich von selbst erledigt. All das wirkt sich auf den Flug nicht aus, es sei denn, der Passagier wäre bereit, hohe Kosten auszulösen und die Maschine zu entführen. Das Automobil, das Gesellschaftskritiker vorschnell als Ausdruck irrationaler Motive deuten, verdankt seine Anziehungskraft auch dem Potential an schrittweisen und stets revidierbaren Entscheidungen – geschmälert wird sie nur von den unterschiedlichen Abstufungen, die andere Transportmöglichkeiten haben. Wenn es um ökonomische Transaktionen geht, dann sind Paketlösungen recht anfällig. Die Autofirma Ford verlor ihre ehemalige Vorherrschaft in der Automobilbranche an General Motors, weil sie darauf bestand, das berühmte T-Modell nur als „Gesamtpaket“ anzubieten, das nur eine Mechanik, eine unveränderbare Karosserie und nur eine einzige Farbe (schwarz) vorsah, während General Motors Autos in einer Vielzahl jährlich sich ändernder Modelle und in jeder erdenklichen Farbe anbot. Ein Produzent, der ein Gesamtpaket anbietet, spielt mit dem Glück, denn er muss mit seiner Einschätzung, dass der Kunde bereit sei, alle Elemente des Gesamtpakets zu akzeptieren, zu jeder Zeit richtig liegen. Sogar sehr kleine „Pakete“ können in dieser Hinsicht ernsthafte Probleme bereiten. Wenn die Chancen eines Herstellers, bei drei Variablen richtig zu liegen, jeweils 75 % betragen, dann liegen seine Chancen, beim ganzen Paket die Nase vorn zu haben,

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unter 50 % (27⁄64).14 Die Modellvielfalt vieler Produkte ist eine Antwort auf die Risiken beim Versuch, die jeweilige Kombination an Eigenschaften, die den Kunden anspricht, zu erraten. Das Unvermögen des Herstellers, genau zu wissen, was der Kunde möchte, gehört zu den Grundproblemen eines jeden Wirtschaftssystems. Verschiedene Varianten desselben Grundprodukts sind eine Möglichkeit, dieser unausweichlichen Tatsache zu begegnen; und nicht eine willkürliche „Verschwendung“, wie gelegentlich behauptet wird. Nur dort, wo man ein Monopol hat, sei es privater oder staatlicher Art, kann man dem Kunden ausschließlich ein Paket der Marke „Nimm es oder lasse es!“ anbieten. Prozesse informeller Entscheidungen erlauben individualisierte Entscheidungen auch noch in einem anderen Sinn. Normalerweise werden aus den Entscheidungen keine Präzedenzfälle, die künftige Entscheidungen einengten. Wer heute Haferflocken zum Frühstück wählt, verbaut sich nicht die Option, morgen Eier zu essen oder das Frühstück ganz auszulassen. Die Vielfalt und Revidierbarkeit informeller Entscheidungen lassen nicht nur Korrekturen vergangener Entscheidungen und Anpassungen an akutes Verlangen nach Abwechslung zu. Sie ermöglichen auch eine Zukunftsplanung zu niedrigeren Kosten. Je größer die Anpassungsfähigkeit eines Entscheidungstypus, desto risikoärmer ist es, Pläne für die Zukunft zu schmieden, und umso wahrscheinlicher ist es auch, dass in solchen Bereichen mehr Leute planen. Verabredungen trifft man eher in Kulturen, in denen eine Verabredung kaum mehr heißt als eine kurzfristige Verpflichtung, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein, als in Kulturen, in denen man mit einer Verabredung sein Interesse an einer Person des anderen Geschlechts offen bekundet und die anschließenden Zeichen der Zuneigung Heiratsabsichten implizieren – und man soziale Ausgrenzung oder gar Gefahren für Leib und Leben auf sich nimmt, wenn man die Geschichte nicht bis zum Ende durchzieht. Auslandsinvestitionen tätigt man eher in einem Land, in dem man die Gewinne auf Wunsch in einer konvertiblen Währung realisieren kann, als in einem Staat, in dem rechtliche oder politische Hindernisse dies unmöglich oder teuer machen. So wie die meisten Autofahrer nur Lenkrad und Bremse brauchen, um bereitwillig mit hoher Geschwindigkeit über die Autobahn zu brausen, so wirken auch Variabilität und Reversibilität (im Sinne von Non-Präzedenz) als Instrumente künftiger Entscheidungen. Liquide Mittel und die Existenz von Marktoptionen übernehmen im wirtschaftlichen Sektor eine ähnliche Funktion. Die Preise, die man für Dinge bezahlt, um die Präzedenzelemente der Entscheidungsfindung zu modifizieren oder nullifizieren, sind ein handfester Indikator für den Wert von Verfahren, die nicht auf Präzedenzfälle rekurrieren. Die Zusatzkosten von Optionsmärkten und die entgangenen Erlöse aus einem Mehr an liquiden Mitteln sind recht offensichtliche Kosten. Im Falle eines Automobils kann man die 14 Die Wahrscheinlichkeit, alle drei Variablen gleichzeitig richtig einzuschätzen, entspricht dem Produkt der Einzelwahrscheinlichkeiten: ¾ × ¾ × ¾ = 27⁄64. Vgl. Wallis / Roberts (1956), S. 324 f.

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fehlende Bereitschaft, sich an vergangene Entscheidungen über Fahrziel und Geschwindigkeit zu binden, an den Kosten für Lenk- und Bremsvorrichtung ablesen. Weniger greifbare, aber nicht minder reale Kosten zahlen jene, die in Kulturen mit entsprechenden Vorentscheidungen auf ihre sozialen Interaktionen mit dem anderen Geschlecht teils oder ganz verzichten. Man kann die Sache aber auch so sehen: Die hohen Kosten, die man zu zahlen hat, um den Präzedenzentscheidungen zu entgehen, implizieren, dass die Kosten noch höher sind, wenn man an diese Präzedenzentscheidungen gebunden ist. Informelle Beziehungen sind nicht bloß die Lückenbüßer der wichtigen gesellschaftlichen Institutionen. Sie umfassen nicht nur wichtige Entscheidungsprozesse, wie jene der Familie, sondern produzieren auch einen großen Anteil des im Hintergrund wirkenden sozialen Kapitals, ohne das die übrigen großen gesellschaftlichen Institutionen nicht annähernd so wirkungsvoll funktionieren könnten, wie sie es tun. Wir haben bereits die Sprache als ein informell produziertes System erwähnt. Die Moralität ist ein weiterer wichtiger Bestandteil sozialen Kapitals, ohne den der Preis für alle Vorgänge, seien es Kreditkartenbuchungen oder Gerichtsverfahren, um vieles höher wäre – vielleicht sogar unerschwinglich. Gleiches kann im Hinblick auf Hygiene, Anstand und sonstige informell weitergegebene Eigenschaften gesagt werden. Ohne sie würden viele (oder gar alle) formale Organisationen enorme Operationskosten verursachen, sofern sie denn überhaupt funktionsfähig wären. Informelle Beziehungen oder Entscheidungsprozesse sind den eher formalen Beziehungen bzw. Prozessen nicht grundsätzlich überlegen. Verliebte heiraten, und Menschen mieten nicht nur, sondern leasen und kaufen auch. Astronauten steigen in Raketen, die weder Bremsen noch Lenkräder haben. Offenbar gibt es ausgleichende Vorteile, die in stärker strukturierten Beziehungen und verbindlichen Vorentscheidungen liegen, – oder vielmehr Sondervorteile solcher Beziehungen, die in jedem Fall größer, statt gleich groß oder kleiner als die Vorteile informeller Entscheidungsprozesse sind.

Strukturierte Organisationen Von den vielen Variablen, an denen unser Glück und Wohlergehen hängt, müssen einige relativ oft und andere gar nicht adjustiert werden. Manche sind ausschließlich aufgrund ihrer Konstanz von Wert. Formale Organisationen würden wohl kaum existieren, wenn informelle Beziehungen alle menschlichen Bedürfnisse befriedigten. Die Aufteilung der Entscheidungsfindung auf informelle und formelle Prozesse bedeutet ein Abwägen von Flexibilität und Sicherheit. Die Flexibilität von A bedeutet für B Unsicherheit im Hinblick darauf, was A wohl tun wird. Die Kosten der für B bestehenden Unsicherheit kann man nicht daran bemessen, was A wohl am

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ehesten tun wird bzw. in der Vergangenheit nachweislich getan hat. Die Unsicherheitskosten von B entsprechen den Kosten, die B hat, um sich auf eine Reihe mög­licher Verhaltensweisen von A einzustellen. Angesichts der Vorbeugekosten von B und dem Wert, den A der eigenen Flexibilität beimisst, können sich beide Seiten besserstellen, indem sie einen Vertrag unterzeichnen, der A Geld dafür zugesteht, sich im Vorfeld auf einen bestimmten Ablauf (oder bestimmte Varianten von Abläufen) festzulegen. Kurz gesagt, ein starrerer Prozess kann beiden schmackhaft gemacht werden. Ein volles Risiko kann in manchen Fällen durch Rigidität eingeschränkt werden, so wie in anderen Fällen durch Einschränkung der Flexibilität. In anderen Fällen kann auch ein viel rigideres Abkommen wirksam sein. Manchmal muss wohl die Gesellschaft dafür garantieren, dass bestimmte Verhältnisse auf jeden Fall rigide bleiben und nur in Ausnahmefällen verletzt werden dürfen. Viele gesellschaftlich nützliche Handlungen wird es ohne rigide Garantien nie (oder nur in geringerem Maße) geben. Die umfangreichen Investitionen an Emotionen, Zeit und Ressourcen, die man zum Großziehen eines Kindes braucht, würden in einer Gesellschaft seltener erbracht, wenn einem dort die Kinder jederzeit aus einer Laune heraus weggenommen werden könnten und man sie nie wiedersähe. Derlei Verhalten wird nicht nur wegen der retrospektiv feststellbaren Ungerechtigkeit, sondern auch wegen der zukünftigen Auswirkung auf das elterliche Verhalten abgelehnt. Der Staat wird nicht nur selbst derlei Verhalten unterlassen, sondern auch ernste Strafen über Privatpersonen verhängen, die derlei tun (Kindesentführer). Der rigide Rechtsrahmen für Eltern-Kinder-Beziehungen stellt ein Schutzgeflecht dar, innerhalb dessen überaus flexible Formen gesellschaftlicher Verhältnisse zwischen Eltern und Kind gedeihen. Formelle und informelle Prozesse schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. Es gibt eine Palette von gesellschaftlichen Arrangements, die dem Einzelnen und der Gesellschaft künftig zum Vorteil gereichen. Dazu gehören vor allem solche, für die sich einzelne Personen lange Zeit und in großem Umfang ins Zeug gelegt haben. Eigentumsrechte bringen für den Gebrauch vieler Ressourcen Rigiditäten mit sich, indem sie allen außer dem legalen Eigentümer die Mitsprache bei den meisten Entscheidungen hinsichtlich der Ressourcenverwendung verwehren. Das geschieht in der Annahme, dass solche Verluste, die sich infolge der Rigidität einstellen, durch die Gewinne aus dem künftigen Verhalten der Menschen, die unter diesen Garantien handeln, mehr als aufgewogen werden. Jemand, der lange Zeit für ein eigenes Zuhause arbeitet, will eine ziemlich rigide Zusicherung, dass sein Haus ihm gehört – dass er nicht durch jemanden, der physisch stärker, besser bewaffnet oder rabiater ist oder den die politische Führung für „verdienstvoller“ hält, vertrieben werden kann. Rigide Zusicherungen braucht man, damit wechselnde Moden, Sitten und Machtverhältnisse uns nicht plötzlich des Eigentums berauben und uns die Kinder oder das Leben nehmen. Informelle Beziehungen gedeihen in einer Gesellschaft durch den Schutz der Gesetze, die Eigen-

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tum, Kindesentführungen, Mord und andere wichtige Angelegenheiten regeln, die der Mensch lieber rigide geregelt haben will und nicht andauernd neu aushandeln und verändern möchte. Formelle und starre Entscheidungsprozesse (bzw. Rahmen für derlei Prozesse) sind nicht nur gesellschaftliche Investitionen in bestimmte Verhaltensmuster. Sie sind auch direkte Konsumgüter. Seelenfrieden sowie eine gewisse Unabhängigkeit und Würde sind unmittelbare psychische Dividenden, die alle aus dem Handeln unter bekannten Regeln ziehen und nicht von anderen Individuen persönlich zugestanden und kontrolliert werden. Informelle Entscheidungsprozesse florieren nur dort, wo deren Beurteilung und Kontrolle in den Händen derer liegt, die dem betroffenen Individuum zugeneigt sind – d. h. Familie, Freunde und Geliebte. Lägen solche informellen Prozesse in den Händen von Fremden, würde dergleichen kaum geduldet. Kurz und gut, es geht nicht nur um den Vergleich zweier unterschiedlicher Typen institutioneller Prozesse – formell vs. informell –, sondern um zwei verschiedene Prozesstypen, in denen sich unterschiedliche Arten von Menschen engagieren.

Ökonomische Institutionen Man kann wirtschaftliche Entscheidungen im Rahmen informeller Prozesse aber auch innerhalb strukturierter Organisationen treffen. Wenn der Rasen mal wieder gemäht werden muss, kann der Hausherr die Arbeit selbst erledigen, seinem Sohn auftragen, ihn dafür bezahlen, sonst jemanden für die Arbeit bezahlen, oder die Sache mit einem Gärtner vertraglich regeln. Ähnliches gilt für sein Gemüse. Er kann es selbst anbauen, beim benachbarten Bauern kaufen, auch im Laden, oder gleich fertig zubereitet im Restaurant. Das theoretische Spektrum, das von höchst informellen bis hin zu komplett formellen Entscheidungsprozessen reicht, ist weitaus größer als jenes, das einem im wirklichen Leben begegnet. Es lohnt sich, diesen Umstand zu analysieren, wenn man die besonderen Vor- und Nachteile der formellen und weniger formellen ökonomischen Prozesse verstehen will. Theoretisch betrachtet könnte jeder Konsument die verschiedenen Komponenten, die man üblicherweise für ein Produkt braucht, alle separat kaufen und entweder selbst zusammenfügen oder von Zeit zu Zeit jemanden für diesen Zweck beauftragen – so wie er einen Klempner oder Elektriker beauftragt, wenn er deren Dienste braucht. Es gibt keinen Grund an sich, warum es für ihn eine Firma geben müsste, die ihm ein fertiges Produkt verkauft. Und es gibt genauso wenig einen Grund, warum eine solche Firma Arbeiter einstellen müsste. Theoretisch könnten sie ihre Dienste denen, die sie brauchen, direkt verkaufen, so wie es Klempner, Ärzte oder Schuhputzer für gewöhnlich tun. Für manche Produkte gilt, zumindest bis zu einem gewissen Grad, dass der Konsument sie aus fertigen Produkten zusammenstellt. Stereoanlagen bestehen oft aus

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Verstärkern, Lautsprechern, Plattenspielern und Tonbandgeräten, die von verschiedenen Herstellern stammen und mit dem Wissen zusammengestellt wurden, das man dem Herausgeber eines Do-it-yourself-Büchleins abgekauft hat. Eine bereits zusammengestellte Stereoanlage kann man auch in einem Kaufhaus er­stehen. Für Kameras gilt ähnliches. Die Fotokamera, die der Berufsfotograph nutzt, besteht zunächst nur aus dem Kameragehäuse. Linse und Blende gehören nicht dazu, und auch nichts, in das man den Film einlegen kann. Alle diese wichtigen Komponen­ ten sind üblicherweise in einer großen Vielfalt und von vielen Herstellern zu bekommen. Der Fotograph muss sie zusammenstecken, um eine funktionierende Kamera zu erhalten. Auf der anderen Seite gibt es fertige Kameras, wie die „Instamatic“, deren Komponenten bereits ausgewählt, zusammengefügt und auf eine bestimmte Fokussierungsdistanz voreingestellt sind. Die Öffnungszeiten der Linse und die Geschwindigkeit der Blende sind vom Hersteller vorgegeben, der eigentlich ein „Paket“ verkauft, das nicht nur physische Einzelteile umfasst, sondern auch die Anwendung elementarer Kenntnisse der Bildaufnahme. Man kann daraus mühelos schließen, dass ein Grund für die Existenz der Firmen und des Fachhandels in der Möglichkeit steckt, von der Produktion und Anwendung von Wissen zu profitieren. Jeder Nutzer einer „Instamatic“ könnte sich so viel Wissen wie nötig aneignen, um Linse und Blende einzustellen, indem er ein Lehrbuch zur Fotographie erwerben und ein paar Stunden auf dessen Lektüre verwenden würde. Da der Konsument allenthalben Menschen mit einstellbaren Kameras um sich herum kennt, weiß er, dass es weder unmöglich noch sonderlich schwer sein kann, diese Kenntnis zu erwerben. Seine Entscheidung ist somit eine informierte Entscheidung, das Wissen vom Kamerahersteller zu kaufen, statt es selbst nach Anleitung eines Buches zu erstellen. Es liegt eine vollkommen rationale Entscheidung vor, da der Kamerahersteller die (für gelegentliche Schnappschüsse) notwendige Wissensmenge zu geringeren Kosten herstellen kann als der Konsument. Insgesamt – und aus gesellschaftlicher Perspektive heraus betrachtet  – werden weniger Ressourcen verbraucht, um ein bestimmtes Produkt oder Endergebnis zu erzielen. Einer der Gründe dafür, dass ein Unternehmen geringere Kosten hat, als es der Endkonsument hätte, liegt in der geringeren Anzahl von Transaktionen im Verhältnis zur Größe des Gesamtausstoßes. Ein Konsument, der gern einen Fotofachmann auswählen würde, der erklärte, wie er die Linse einzustellen habe, müsste abschätzen, welche Quellen die Experten wohl nutzen würden, und auch die Mittel haben, ihre Expertise beurteilen zu können. Außerdem dürfte er nicht mehr Fachwissen einkaufen als nötig und stünde noch weiteren Problemen gegenüber. Die Kosten für den Experten, die für ein oder zwei Kameras anfallen, liegen – pro Kamera oder pro Bild gerechnet – weit über denen, die ein Kamerahersteller hat, wenn er einen Experten beauftragt, ihm bei seinen Entscheidungen zu helfen, die Tausende von Kameras betreffen. Ähnliche Überlegungen kommen zum Tragen, wenn man die Beauftragung vieler Fachkräfte (einschließlich Management) mit der Ausleihe oder dem Erwerb einer Spezialausrüstung vergleicht.

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Im denkbaren Extremfall könnte jeder Arbeiter seine Zeit häppchenweise an verschiedene Arbeitgeber verkaufen. In der Tat tun dies manche Arbeiter, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Und zumindest theoretisch könnte der Arbeiter selbst kleinste Zeiteinheiten an unterschiedliche Arbeitgeber veräußern oder die Arbeitgeber jederzeit während eines Arbeitstages wechseln, sollten die Fluktuationen des Arbeitsmarktes ihm sonst wo einen marginalen Lohnzuwachs versprechen. Derlei Verhalten würde dem Arbeiter jedoch sehr hohe Transaktionskosten bescheren – auch dem Arbeitgeber, der dauernd darauf gefasst sein müsste, kurzfristig einen Springer einsetzen zu müssen. Vertragliche und halbvertragliche Arrangements, aber auch gute Sitten wie „rechtzeitig Bescheid geben“, reduzieren diese Kosten, und zwar auf Kosten reduzierter institutioneller Flexibilität hinsichtlich der Quantität und Qualität der eingesetzten Arbeitskräfte und im Hinblick auf Quantität und Qualität der erhältlichen Arbeit der verfügbaren Arbeitskräfte in Situationen, in denen die „sofortige Entlassung“ keine wirkliche Option darstellt. Dass viele Firmen derlei Kosten institutioneller Rigidität, die der Rückgriff auf „reguläre Angestellte“ mit sich bringt, freiwillig trugen – lange bevor es Gewerkschaften und gesetzlichen Arbeitsplatzschutz gab –, lässt vermuten, dass die ansonsten anfallenden Transaktionskosten erheblich gewesen wären. Dass andere Firmen zunächst derlei äußeren Druck abwarteten, legt indes nahe, dass die Abwägung der Kosten und Nutzen von Situation zu Situation variiert. So wie in der grundsätzlichen Frage nach den jeweiligen Vorteilen formeller und informeller Prozeduren auch, geht es hier nicht darum festzulegen, welche Kategorie die bessere ist. Im Gegenteil, der Punkt ist, sich klar zu machen, warum es eine Abwägung gibt. Die jeweiligen Besonderheiten dieser Abwägung und die Art und Weise, wie diese Besonderheiten schrittweise variieren, kennen jene, die direkt mit ihnen befasst sind, wahrscheinlich besser als die, die nur nach allgemeinen Prinzipien urteilen. Bei ökonomischen Vorgängen gibt es auch nach Einführung der für den Verkauf von Firmen an Kunden geltenden formellen Institutionsstrukturen immer noch bedeutende Elemente von eher schrittweiser als strikter Entscheidungs­ findung. Indem man auswählt, bei welcher Firma man Stammkunde wird, stimmt man auch über das eine oder andere Mitarbeiterteam und dessen Effektivität ab. Auf diese Weise werden manche mit langfristiger Beschäftigung belohnt und andere gezwungen, weniger oder gar nicht zu arbeiten – und das ungeachtet aller institutionellen Garantien. Bleibt die Konsumentennachfrage aus, kann das eine Firma aus dem Wettbewerb drängen. Auch dort, wo der Konsument sich für vorverpackte Produkte entscheidet, schützt ihn die Auswahl der Produkte und Anbieter davor, eine Art von „Nimm es oder lasse es!“-Entscheidung anzunehmen, wie sie in der Politik üblich ist, wo wir uns für einen Kandidaten und dessen „Paket“ aus Positionen zu Fragen der Außenpolitik, Bürgerrechte, Ökologie, Rassenbeziehungen, Geldpolitik usw. entscheiden müssen. Die nahezu ständige Revidierbarkeit wichtiger wirtschaftlicher Entscheidungen gibt diesen eine zeitliche Flexibilität, die dem politischen System mit seinen festen Amtszeiten und

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den dazu optionalen, aber kostspieligen Abwahlverfahren und Amtsenthebungen fremd ist. Da wirtschaftliche Transaktionen in vielen Fällen dieselben Wünsche wiederholt erfüllen, gibt es von denen, die am besten wissen, wie zufriedenstellend ein Produkt oder eine Dienstleistung ist, ständige Rückmeldungen – nämlich von den Konsumenten. Dieses Wissen ist obendrein nicht nur abstraktes Wissen, sondern Wissen in Form von Geld, das Überzeugungen und Informationen mitteilt. Ein ernstzunehmender Nachteil von Wirtschaftstransaktionen – ob nun Teil formeller oder informeller Prozesse – ist die Möglichkeit, dass Interessen übersehen werden, die nicht Teil der Transaktionen, aber von ihnen betroffen sind. Der Verkauf von Kohle an einen Stromkonzern mag aus Sicht der beiden beteiligten Unternehmen eine beiderseitig vorteilhafte Transaktion sein, kann aber Verschmutzungs- und Lungenerkrankungskosten in Millionenhöhe erzeugen, die in den Entscheidungen darüber, welche Kohle zum Einsatz kommt, wo das Elektrizitätswerk stehen soll, welche Geräte zur Reduzierung schädlicher Emissionen eingesetzt werden sollen und welche nicht, gar nicht auftauchen. Angenommen, man hätte ein perfekt funktionierendes und kostenloses Rechtssystem, dann würde man, theoretisch betrachtet, all diese Kosten in Form von Schadensregulierungen spüren, die zum Zeitpunkt der Transaktion vorhersehbar gewesen wären – und über die man auf die gleiche Weise hätte entscheiden können, indem man einfach die ausgeschlossenen dritten Parteien eingebunden hätte.15 Die externen Kosten mancher Wirtschaftsprozesse und die hohen Transaktionskosten für die Organisation von tausenden, weit verstreuten Individuen stellen die betroffenen Drittparteien vor besondere Probleme. Wenn man es als sozialen Vorgang betrachtet, dann besteht das Problem mit derlei Wirtschaftsprozessen darin, dass die Transaktionsparteien nicht mit den betrof­ fenen Parteien deckungsgleich sind. Für ein Wirtschaftssystem besteht aber auch ein Problem darin, dass die Menschen unterschiedliche Mengen an Geld haben, mit denen sie ihre Konsumentenpräferenzen den Herstellern mitteilen. Aus Sicht vieler Gesellschaftskritiker zerstört das alle Hoffnungen auf eine optimale Nutzung der Ressourcen via Marktprozesse. Wie auch immer, dieses Problem mag in der Theorie mehr beeindrucken als in der Realität. Wenn Konsumentengruppen um dieselben Produkte konkurrieren, dann hat normalerweise jede der rivalisierenden Gruppen eine breite Streuung an Einkommensniveaus, wodurch es zu einem Wettbewerb zwischen reich und arm erst gar nicht kommen muss. Und selbst dann, wenn es zu einem solchen Wettbewerb kommt, schnappen die Konsumenten mit den niedrigeren Einkommen den wohlhabenderen Konkurrenten oft die Güter und Ressourcen vor der Nase weg, und zwar schlicht durch ihre große Anzahl, wenn auch nicht in dem theoretisch optimalen Umfang. Die Entrüstung über die Zwischenhändler („Entwickler“, „kommerzielle Interessen“ usw.), die angeblich Ressourcen von einem „höheren“ zu einem „niederen“ Nutzen umleiten, ist zu einem großen Teil 15

Coase (1960).

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Ausdruck von Protest. Dieser richtet sich gegen die große Zahl der Menschen mit niedrigem Einkommen, die im Kollektiv reich genug sind, um Menschen mit hohem Einkommen beim Erwerb von Stränden, Wäldern und Grundstücken am See auszustechen und diesen damit die von ihnen vorgezogene Nutzung streitig zu machen. Stattdessen passen sie die Nutzung ihrem Geschmack an: das heißt intensivere Nutzung, Mehrfamilienwohnungen statt Einfamilienhäuser, Hotels statt Wochenendvillen, Straßenzufahrten für Rucksacktouristen usw. Der typische Mittelsmann hat keine Vorliebe für eine besondere Nutzungsart, aber eine fürs Geldverdienen  – so die bittere Abrechnung der Kritiker mit dem Mittelsmann, die nicht merken, wie widersprüchlich es ist, ihn für ein bestimmtes Endergebnis zur Rechenschaft zu ziehen.

Politische Institutionen In einigen wichtigen Lebensbereichen scheuen die Menschen die Transaktionskosten und die Demütigung, sich selbst (oder den Verhandlungen mit) jenen auszusetzen, die eine Gefahr für ihren Besitz, Nachwuchs oder Fortbestand bedeuten. In diesen Bereichen stellen ihnen politische und rechtliche Institutionen die Rigi­ ditäten  – „Rechte“  – zur Verfügung. Die Verfassungseinrichtungen versuchen, diesen Bereich der Grundrechte von anderen Bereichen abzutrennen, in denen der Ermessensspielraum und die Flexibilität individueller Entscheidungen und interpersoneller Abmachungen jedwedes Arrangement auf den Weg bringen mögen, das aus Sicht der betroffenen Individuen als allseits befriedigend gilt. Kurz gesagt, die verfassungspolitischen und -rechtlichen Einrichtungen trachten nach einer Eingrenzung ihres Zuständigkeitsbereichs, in dem ihre Entscheidungsprozesse relative Vorteile haben, und überlassen die übrigen Entscheidungsprozesse den sonstigen Bereichen, deren Vorteile entweder in der Qualität der Entscheidung oder in der persönlichen Würde der freien Wahl liegen. Mithilfe des Wahlvorgangs können die politischen Systeme Rückmeldungen erhalten und dementsprechend die Gesetze verbessern, aufheben oder angemessen mit finanziellen Mitteln versehen. Diese Rückmeldungen erfolgen allerdings nicht so schnell, allgemein und unmittelbar zwingend, wie es in Wirtschaftsprozessen der Fall ist. Das stetig wachsende Feld der Verwaltungsentscheidungen ist den Wahlrückmeldungen noch weiter entrückt, und die Rechtskörper der höheren Berufungsinstanzen sind sogar ganz von ihnen abgeschottet, mit Ausnahme der Zustimmungsverfahren. Vergleicht man sie mit den Institutionen des Wirtschaftslebens, dann liegen die Institutionstugenden von Politik, Recht und Verwaltung eher im Felde der Verlässlichkeit als dem der Verantwortung. Ihre Entscheidungen sind nicht separater oder episodischer Natur, sondern präzedenzieller Art. Solange niemand politische, legislative und administrative Anordnungen explizit aufgehoben oder für verfassungswidrig erklärt hat, sind sie in Kraft. Und der Widerwille, mit dem man überflüssige Änderungen von Gerichtsurteilen angeht, bringt eine Selbst-

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begrenzung richterlicher Entscheidungen mit sich. Der Grundrahmen der politischen, administrativen und richterlichen Entscheidungen ist kategorisch – legal oder illegal, schuldig oder unschuldig – und es braucht schon Einfallsreichtum, um Elemente der Flexibilität und schrittweisen Entscheidungen in diese institutionellen Prozesse einfließen zu lassen. Und dennoch sind diese inkrementellen Merkmale kein integraler Bestandteil derselben, in ökonomischen Prozessen hingegen schon. Politische Systeme gestatten betroffenen Drittparteien eine Einflussnahme auf ökonomische Transaktionen, die ihre Interessen außer Acht lassen. Politische Entscheidungsfindung kann Transaktionskosten mindern, indem sie stellvertretend einigen Wenigen erlaubt, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, die den Willen all jener Millionen widerspiegeln, die nicht genug Einfluss (oder Mittel) haben, um die riesigen Kosten zur Planung und Umsetzung der ihnen wichtigen Entscheidungen aufzubringen. Bei gesellschaftlichen Transaktionen kann es sein, dass Kosten entstehen, die nicht für die Transaktionspartner anfallen, aber auch, dass Vorteile entstehen, von denen die Transaktionspartner nichts haben. Solche Vorteile auf Kosten der Entscheidungsträger sehen ökonomische Institutionen nicht vor. Theoretisch könnten die Nutznießer darüber nachdenken, die Transaktionsparteien durch Belohnungsofferten dahin zu bringen, ihre Entscheidungen zum Vorteil dritter Parteien zu optimieren, aber in der Praxis verhindern die große Anzahl und Verbreitung der Nutznießer sowie die entsprechenden Kosten für die Identifizierung und Verschmelzung der diffusen Interessen zu einem stimmigen Geschäft, dass dergleichen am Ende herausschaut.16 Ein Sonderfall externaler Vorteile ist die „öffentliche Infrastruktur“ („social overhead capital“) – eine Investition, deren Vorteile einer Vielzahl von Individuen und Institutionen zugutekommen, die selbst nicht die Kosten für die Tätigung der Investition tragen. So reduziert z. B. ein Abwassersystem das Auftreten von Krankheit und Leid, lässt Arbeitnehmer mehr Tage im Jahr arbeiten und Geld verdienen und Arbeitgeber auf eine zuverlässigere Belegschaft zurückgreifen und entsprechend mehr Profit machen. Um ehrlich zu sein, das Großziehen von Kindern ist eine Investition der Eltern, aber zu den Nutznießern zählen auch Kreditkarten­ gesellschaften, Selbstbedienungsläden und Finanzämter. Der Umstand, dass Kostenträger und Dividendenbezieher der Investition nicht zu einem und demselben Personenkreis gehören, erschwert es ökonomischen Institutionen, das durch die Gewinne gerechtfertigte Investitionsniveau zu erreichen. Auf diese Weise kommen politische Ersatzlösungen ins Spiel. Der Zeithorizont des Wählers mag der eigenen Lebenszeit gelten, vielleicht auch noch der seiner Kinder oder sogar dem langfristigen Interesse der Gesellschaft als dauerhaftes Unternehmen. Für die natürliche Anreizstruktur, die der

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Demsetz (1967).

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politische Stellvertreter kennt, steht die Zeit im Vordergrund, die zwischen einer getroffenen Entscheidung und der nächsten Wahl liegt. Die Gelegenheit zu einer Politik mit unmittelbarem Nutzen und langfristig negativen Folgen ist offenkundig, nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Auf ähnliche Weise schaffen Unterschiede hinsichtlich der pro Nutzeneinheit gegebenen Informationen und Transaktionskosten, die es zwischen Bürgern und organisierten Interessengruppen genauso gibt wie zwischen Bürgern und politischen Stellvertretern, natürliche Anreize für eine Politik, die Vorteile konzentriert und Kosten diffus verteilt – selbst dann, wenn die Kosten die Vorteile in finanzieller oder sonstiger Hinsicht um ein Vielfaches übersteigen. Ein anderes Problem, das politischen Prozessen innewohnt, liegt darin, dass der Grad der Reliabilität und Rigidität, der für den staatlichen Rahmen gewünscht wird, innerhalb dessen individuelle Pläne und Handlungen stattfinden, von den politischen Anreizen, diesen Rahmen zum tatsächlichen oder mutmaßlichen Vorteil bestimmter Wählergruppen kontinuierlich anzupassen, gefährdet wird. Hier liegt ein Sonderfall von Nutzenkonzentration und Kostendiffusion vor. Jeder, der ein objektives Interesse an einem Kanon bekannter und verlässlicher Gesetze und Politikmaßnahmen hat, zahlt die Kosten der innovativen Politikaktivitäten. Von diesen Kosten sind wirklich alle in der Gesellschaft betroffen, auch jene, die von bestimmten Teilbeständen dieser Änderungen profitieren. Es sind nicht nur die sogenannten „Linksliberalen“ („liberals“), die erfinderisch sind. Die sogenannten „Konservativen“ können mit ihren „Steuerbremsen“ und den für zahlreiche ihrer Wählergruppen gewährten monopolistischen Ausnahmen genauso kreativ sein, wie es ihre politischen Widersacher mit ihren staatlichen Kontrollen und Förderprogrammen sind, die sie vielen ihrer Wählergruppen gewähren. Entscheidend ist, dass politische Stellvertreter, ungeachtet der Wählerschaft, der sie dienen, einen Anreiz zur kontinuierlichen Anpassung des rechtlichen Rahmenwerks haben  – wie auch immer diese im jeweiligen Moment aussehen mag, und auch ungeachtet ihrer Vor- und Nachteile. Diesen Anreiz haben sie, weil den diffusen Allgemein­ kosten für eine reduzierte Vorhersagbarkeit ein auf sie zugeschnittener Nutzen gegenübersteht. Dies ist weder als moralischer Kommentar gemeint noch als Mahnruf für mehr Bürgerwissen bezüglich einer bestimmten Regierungspolitik. Im Gegenteil, es ist vielmehr ein Versuch, die Ursachen dieser Phänomene mithilfe unterschiedlicher Informations- und Transaktionskosten sowie der Interessenkonflikte, die politischen Entscheidungsprozessen innewohnen, zu erklären. Den einzelnen Bürger zu ermahnen, mehr in das Wissen zu investieren, das dem der Lobbyisten und politischen Kreuzfahrer nahekommt (die beide viel geringere Kosten pro persönlicher Nutzeneinheit haben), bedeutet, ihm ein irrationales Verhalten aufzudrängen, das im Rahmen eines 24-Stunden-Tages womöglich gar nicht physisch zu leisten ist. Was aber zu weitaus geringeren Kosten möglich wäre, ist, sich dieses Problems, das der politischen Entscheidungsfindung innewohnt, bewusst zu sein, wenn man zwischen den Arten der Entscheidungsfindung wählen kann.

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Der Wettbewerb unter den politischen Gegnern schwächt diese Probleme tenden­ ziell etwas ab, aber die Bedingungen, unter denen dieser Wettbewerb stattfindet, unterscheiden sich erheblich von denen des ökonomischen Wettbewerbs. Das politische Wissen wird durch Artikulation weitergetragen, und die akkurate Weitergabe durch den politischen Wettbewerb hängt vom Vorwissen und Auffassungsvermögen der Bürger als Empfänger ab. Ökonomisches Wissen muss dem Konsumenten nicht artikuliert mitgeteilt werden, sondern wird in Gestalt von Preis und Güter­qualität übertragen bzw. zusammengefasst. Der Konsument hat vielleicht gar keine – oder nur eine falsche – Vorstellung davon, warum ein Produkt weniger kostet, seinen Zwecken aber besser dient. Das Endergebnis ist alles, was er kennen muss. Natürlich muss irgendeiner das spezifische Wissen darüber, wie man dieses Ergebnis erzielt, haben. Für den ökonomischen Wettbewerb ist entscheidend, dass besseres und akkurateres Wissen auf der Herstellerseite ein gravierender Vorteil ist, egal, ob der Konsument das Wissen teilt oder nicht. Im politischen Wettbewerb hat derlei akkurates Wissen keinen derart erheblichen Wettbewerbsvorteil, weil das, was „verkauft“ wird, kein Endergebnis, sondern eine plausible Annahme bezüglich eines komplexen Vorgangs ist. Wegen der Preisdifferenzen, die zwischen den Kosten von Prozessbeurteilung und Ergebnisbeurteilung liegen, ist es für politische mehr als für ökonomische Prozesse wichtig, dass die vielen, weitverstreuten Individuen, die von den Ergebnis­sen profitieren, den wenigen Entscheidungsträgern, die diese Ergebnisse verursachen, Rückmeldung geben. Dort, wo man auch die richterliche Entscheidungsfindung zur politischen Entscheidungsfindung rechnet, kommt die Rückmeldung der Betroffenen weniger zum Tragen. Außerdem können die Kosten leicht ins Unermessliche steigen, wenn die Gerichte ihre eigenen Entscheidungen auf den Prüfstand stellen, vor allem dann, wenn die Konsequenzen teilweise auch auf Menschen abfärben, die nicht Teil der legalen Handlung waren, aber deren gesamte Erwartungshaltung sich nun geändert hat. So kompliziert es auch sein mag, unmittelbar zu erkennen, was in jemandes Kopf vorgeht – z. B. eine Änderung der Erwartungen –, so haben diese Vorgänge doch konkrete Auswirkungen, die lange vor den erwogenen Ereignissen der Zukunft stattfinden. Wenn Eigentum bezüglich seiner künftigen Nutzung begrenzt wird, dann bedeutet dies, dass sein gegenwärtiger Wert reduziert wird, weil dieser zu einem Teil durch seine zukünftigen Veräußerungsmöglichkeiten bestimmt ist. Kurz gesagt, eine Einschränkung der Eigentumsrechte ist eine partielle Konfiszierung des Eigentums. Ökonomisch betrachtet macht es keinen Unterschied, ob man jemandem 10 % vom Wert seines Grundstücks oder gleich 10 % seines Grundstücks selbst wegnimmt. Ähnliche Überlegungen kann man mit Blick auf die Restriktionen anstellen, denen jene Werte ausgesetzt sind, die nicht in Geld ausgedrückt werden. Eltern reagieren recht unterschiedlich, wenn sich die Zukunftsaussichten ihrer schulpflichtigen Kinder im Hinblick auf das gesellschaftliche Umfeld ändern. In manchen

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Fällen können die gegenwärtigen Reaktionen weitaus heftiger ausfallen als jene, die nach Einsetzen des künftigen Ereignisses auftreten – wie z. B. manche Befürworter der „Buslösung“ behauptet haben. Aber dies veranschaulicht nur, dass man künftige Erwartungen ökonomisch wie nicht-ökonomisch zu Recht mit gegenwärtigen Kosten und Nutzen übersetzen (bzw. gleichsetzen) kann. Richterliche Prozesse Richterliche Entscheidungsfindung ist eine notwendige Folge sprachlicher Unzulänglichkeiten, auch dann, wenn jedermann willens ist, das Recht zu befolgen, soweit er es verstanden hat. Die politische Führung kann die Anwendung der von ihr in Gesetze gegossenen Prinzipien nicht erschöpfend spezifizieren. Außerdem können die Menschen in Momenten größerer Nüchternheit den Entschluss fassen, sich und ihre politischen Stellvertreter vor künftigen Handlungen zu wappnen, die sie in der Hitze des Gefechts ergreifen würden. Das heißt nur, dass die Flexibilität der Entscheidungsfindung jenseits einer bestimmten Linie für bedenklich gehalten wird und die Rigiditäten der verfassungsmäßigen Schranken in diesem Bereich der Entscheidungen bevorzugt werden. In der Ökonomie entspricht dies dem Gesetz nachlassender Erträge, demzufolge eine gegebene Einsatzmenge zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Auswirkungen auf den Ertrag hat, auch – ab einem gewissen Punkt – eine negative Auswirkung. Wenn man die Flexi­ bilität als Input in Entscheidungsprozesse betrachtet, dann gilt auch für sie, dass sie in vielen Fällen äußerst wertvoll ist, in anderen nicht ganz so kostbar, und in wiederum anderen sogar schädlich ist. Andernfalls würden wir uns unbegrenzte Flexibilität einräumen, um auf der Grundlage höchst flüchtiger 51 %-Mehrheiten äußerst radikale und dramatische Handlungen zu ergreifen. Stattdessen sind besondere Rigiditäten – „Rechte“ – in das System integriert, die auf solche Bereiche wie Leben, Freiheit und Eigentum gerichtet sind, für die wir uns in erster Linie Sicherheit und keine Feinabstimmung der sozialen Mechanismen zur Erlangung kurzfristiger Vorteile wünschen. Auch im Vergleich zu den formalen Prozessen in Wirtschaft und Politik ist die richterliche Entscheidungsfindung eher kategorisch als inkrementell. Es ist nicht nur so, dass man Strafsachen normalerweise nach schuldig oder unschuldig und Berufungsentscheidungen nach verfassungsgemäß oder verfassungsungemäß einteilt. Man legt Präzedenzfälle auch als Maßstab für alle Individuen an, die sich in ähnlicher Lage befinden – wobei die Ähnlichkeit in den artikulierten Eigenschaf­ ten, die für Dritte dokumentiert werden, liegt, egal, ob diese Eigenschaften das Verhalten entscheidend bestimmen und philosophisch den Ausschlag geben oder nicht. Im Gegensatz dazu können informelle Gesellschaftsprozesse Zeit, Reichweite und Grad der speziellen Behandlung der Sondermerkmale einer jeden Person und Episode angleichen, und zwar bestimmt durch die nähere Kenntnis und ohne Rücksicht auf die Beschränkungen der artikulierten oder aus zweiter Hand stammenden Daten, die im Rahmen der geltenden Evidenzregeln gefiltert wurden.

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In richterlichen Prozessen, deren gesellschaftlicher Nutzen die rigide Gestalt von auf bestimmte Kategorien anzuwendenden „Rechten“ und deren Kosten die Gestalt entsprechend rigider Verpflichtungen annehmen, kann man eine derart genaue Abwägung der inkrementellen Kosten und Vorteile nicht erwarten. Kurz gesagt, vor allem auf der Berufungsebene besteht die richterliche Entscheidungsfindung in „Paketlösungen“, die sowohl in zeitlicher wie auch räumlicher Sicht ein sehr ausgedehntes Paket enthalten, dessen Inhalte nur im Hinblick auf die artikulierten und dokumentierbaren Variablen homogen sind – und aus Sicht aller sonstigen Erwägungen, die Verhalten und Weltanschauung betreffen, sehr heterogen sein können.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die grundlegende aller Entscheidungen ist die, wer entscheiden soll. Das wird bei Diskussion oft vergessen, in denen man direkt zu den Vorteilen bestimmter Sachverhalte übergeht, als könnte man sie aus einer einheitlichen Perspektive, mit Gottes Auge sehen und beurteilen. Aus einer eher menschlichen Sicht muss man die jeweiligen Vor- und Nachteile der verschiedenen Entscheidungsprozesse zur Kenntnis nehmen. Das gilt auch für die sehr unterschiedlichen Kosten des Wissens, die eine besondere Berücksichtigung verlangen. Viele Analysen, in denen so vorgegangen wird, als stünde das Wissen komplett, kostenlos oder in einer „gegebenen“ Menge zur Verfügung, nehmen auf sie keine Rücksicht. Entscheidungsprozesse unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf Quantität, Qualität und Kosten zur ursprünglichen Generierung des Wissens, sondern auch und vielleicht sogar noch mehr hinsichtlich der Rückmeldungen auf das Wissen und deren Auswirkung auf die Modifizierung der ursprünglichen Entscheidung. Diese Rückmeldungen sind nicht nur zusätzliches Wissen, sondern ein Wissen der besonderen Art. Sie sind Wissen über zeitliche und räumliche Details und insoweit von Verallgemeinerungen aus zweiter Hand zu unterscheiden, die als „Expertisen“ bekannt sind. Die hohen persönlichen Kosten, die mit der Aneignung von Expertenwissen einhergehen, und die Gelegenheiten, die Rückmeldungen zur Darstellung individueller Talente und Begabungen bieten, machen sie zu einer spektakuläreren Form von Wissen, aber aus Sicht der Entscheidungsfindung nicht notwendigerweise zu einer wichtigeren Form des Wissens. Andererseits ist das Expertenwissen an sich unzureichend, wenn ihm das zusätzliche Wissen der direkt greifbaren Ergebnisse fehlt, das von vielen Individuen stammt, die sich durch den Besitz dieses Wissens nicht großartig von anderen Personen unterscheiden. „Die Gesellschaft“ ist nicht die einzige Sprachfigur, die von den eigentlichen Entscheidungseinheiten ablenkt und die tatsächlich wirkenden Anreize und Zwänge verkennt. „Der Markt“ ist auch so eine irreführende Sprachfigur. Freund und Feind ökonomischer Entscheidungsprozesse verweisen auf den „Markt“, als ob er eine Einrichtung wäre, die parallel und alternativ zur Institution der Regierung bestünde. Die Regierung ist tatsächlich eine Institution, aber „der Markt“ ist nichts

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weiter als eine Option für Individuen, aus einer Reihe von Institutionen eine passende auszuwählen oder neue Arrangements nach Gusto auf die eigene Situation zuzuschneiden. Der Staat ruft eine Armee oder ein Postamt als die Antwort auf ein vorhandenes Problem ins Leben. „Der Markt“ ist schlicht die Freiheit, unter vielen existierenden oder noch zu schaffenden Möglichkeiten zu wählen. Der Bedarf an Wohnraum kann auf tausend mögliche Arten, die jedem offenstehen, vom „Markt“ befriedigt werden – vom Leben in der Kommune bis zum Kauf eines Hauses, der Anmietung von Räumlichkeiten, dem Einzug bei Verwandten oder dem Leben in einem Quartier, das der Arbeitgeber stellt, usw. Der Bedarf an Lebensmitteln kann durch Einkauf beim Lebensmittelhändler, Essen im Restaurant, Züchtung im eigenen Garten oder dadurch gedeckt werden, dass man jemanden im Gegenzug für Arbeit, Eigentum oder Sex kochen lässt. „Der Markt“ ist kein besonderes Sortiment an Institutionen. Genau dieser Umstand macht seine Vor- und Nachteile aus. Jeder Vergleich von Marktprozessen und staatlichen Prozessen im Hinblick auf bestimmte Entscheidungen ist ein Vergleich zwischen vorhandenen Institutionen, die im Vorfeld festgelegt sind, und einer Option, Institutionen auszuwählen oder ad hoc zu schaffen. Natürlich gibt es auch in Märkten zu jeder Zeit gewisse Institutionen. Aber es gibt keinen Maßstab, nach dem man Marktinstitutionen – beispielsweise eine Firma – mit einer staatlichen Institution, wie z. B einer Bundesbehörde, vergleichen könnte. Das Unternehmen mag die dominierende institutionelle Alternative sein, um bestimmte Dinge während einer gewissen Ära zu erledigen, wird aber nie der einzige Marktmechanismus sein, nicht in jener Zeit, und gewiss nicht zu allen Zeiten. Partnerschaften, Kooperativen, gelegentliche individuelle Transaktionen und langfristige Vertragsvereinbarungen sind allesamt vorhandene Alternativen. Die Vorteile, die Marktinstitutionen gegenüber staatlichen Einrichtungen haben, liegen nicht so sehr in deren besonderer Charakteristik als Institutionen, sondern in der Tatsache, dass die Menschen normalerweise eine bessere Entscheidung treffen können, wenn ihnen mehrere Optionen offenstehen, und nicht nur ein vorgeschriebener Weg, dem sie zu folgen haben. Die Vielfalt der persönlichen Vorlieben stellt sicher, dass keine der vorhandenen Institutionen die Antwort auf ein menschliches Problem im Markt sein wird. Es gibt viele Wege, den Bedarf an Lebensmitteln, Wohnraum und anderen Desiderata zu decken. Was die einen lieben, wird die anderen abschrecken. Auf individuelle Vielfalt zu reagieren heißt, dass die Marktprozesse notwendigerweise für jene Personen „chaotische“ Resultate liefern, die einen ganz bestimmten Wertstandpunkt vertreten. Ungeachtet der Art und Weise, in der Menschen u. E. mit Wohnraum und Lebensmitteln versorgt (und ihre sonstigen Bedürfnisse befriedigt) werden sollten, erledigt dies der Markt nicht nur auf diese Art und Weise, weil er kein bestimmtes Sortiment von Institutionen ist. Jene, die glauben, ihre Werte wären die besten – nicht nur für sie, sondern auch für andere –, werden notwendigerweise von vielen Dingen, die in einer Marktwirtschaft stattfinden, gekränkt; egal, ob sie religiöse oder kommunistische Werte vertreten, an die weiße Vorherrschaft oder an

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die Rassenintegration glauben. Die Vielfalt der zufriedengestellten Geschmäcker mag die größte ökonomische Errungenschaft des Marktes sein, sie ist zugleich aber auch seine größte politische Schwachstelle. Jede Entscheidungsfindung hat neben den Kosten, die von den jeweils getroffenen Entscheidungen ausgelöst werden, Kosten, die der Entscheidungsprozess selbst verursacht, egal, um welchen Prozesstypus es sich handelt. Abkommen oder Resolutionen angesichts kontroverser Ansichten sind nie kostenlos zu haben. Man sollte die „Transaktionskosten“, wie sie bei den Ökonomen heißen, niemals als unbedeutenden Nebenposten abtun. Zu den Transaktionskosten, die mit der Wahl eines neuen römischen Imperators einhergingen, zählten oftmals das Leben zigtausender Soldaten sowie die Zerstörung von Städten und umliegenden Dörfern, wo die Bewerber sich ihre Schlachten lieferten. Die Begeisterung, die später viele vernünftige und am Allgemeinwohl orientierte Menschen für das Prinzip der königlichen Erbfolge aufbrachten, obwohl man dasselbe auf den ersten Blick für ein irrationales soziales Vorrecht hätte halten können, lässt sich vor dem geschicht­ lichen Hintergrund der astronomisch hohen Kosten, die bei der Wahl des nationalen Herrschers anfielen, leichter verstehen. Auch wer von einem König (oder von Königen im Allgemeinen) nicht mehr als durchschnittliche Intelligenz erwartete, manchmal vielleicht sogar nur unterdurchschnittliche, konnte immer noch eine vernünftige Entscheidung treffen, wenn er sich mit der königlichen Erbfolge abfand, sofern er annahm, dass die wahrscheinlichen Unterschiede in der Herrschaft nicht das Blutbad wert wären, welche die alternativen politischen Prozesse jener Zeit eingefordert hätten. Das Aufkommen moderner Verhältnisse – man denke an die Alphabetisierung und Massenkommunikation  – machte den Weg für demokratische und verfassungsgemäße Methoden des Herrschaftswechsels frei, was aber nicht heißt, dass dadurch Übereinkünfte zu einem freien Gut geworden wären. Noch einmal, die Tendenz, die „Lösung“ von „Problemen“ von einem bestimmten Wertstandpunkt aus oder vor dem Hintergrund bestimmter Werte direkt anzugehen, lässt uns etwas Entscheidendes leicht vergessen: Die Vielfalt der Standpunkte und Werte bedeutet, dass Kosten und Umfang des Wettbewerbs, der sich notwendig aus den unterschiedlichen Politiken ergibt, enorm variieren können. Die Nettodifferenz zwischen Politik x und Politik y kann viel geringer ausfallen als die Kosten der Wahl. Es kann auch sein, dass eine Politik mehr Konsens erfordert als eine andere. Der Auge-Gottes-Ansatz in der Gesellschaftspolitik ignoriert gleich zweierlei, die Vielfalt der Werte und die Kosten zwischenmenschlicher Übereinkünfte. Politische und / oder wirtschaftliche Systeme, die weniger Kontrolle von oben kennen, reduzieren die Wettbewerbskosten – die bis zu Konzentrationslagern und Völkermord reichen können. Für diejenigen, die ihre Werte für die Werte halten, stellen Systeme mit wenig Kontrolle „chaotische“ Spektakel dar, und das nur, weil diese Systeme auf eine Vielfalt von Werten eingehen. Je intensiver solche Systeme der Vielfalt gerecht werden, desto mehr „Chaos“ herrscht per definitionem, jedenfalls nach den

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Standards jedweden Systems, das nur seine Werte hat – und nicht Vielfalt oder Freiheit als Werte enthält. Anders formuliert, mit der Selbstgerechtigkeit des Beobachters wächst auch dessen Wahrnehmung von Chaos (und „Verschwendung“). Aufrufe zu mehr nationalem Konsens in dieser oder jener Frage sind im wörtlichen Sinne widersinnig, weil sie die Dinge verkehren. Im Nachhinein betrachtet stimmt es zwar, dass oft, wenn innerhalb der Nation Einigkeit erzielt wurde, diese für die Praxis recht nützlich war und zufriedene Gemüter zurückließ. Der Grund liegt in den enormen Kosten des Konsenses. Es ist nämlich sehr unwahrscheinlich, dass dieser erzielt wird, es sei denn, es geht um etwas, das für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung überaus dringlich ist. Einigkeit in Zeiten des Krieges, wenn das Überleben der eigenen Nation in Gefahr ist, ist ein bekanntes Beispiel. Kurz gesagt, der hohe Wert, der im Ergebnis liegt – in unserem Beispiel das Überleben –, lässt uns bereitwillig die hohen Kosten des Konsenses tragen. Wie auch immer, es sind es nicht die Kosten, die den Wert schaffen. Wir können auch nicht andere Dinge wertvoller machen, indem wir hohe Kosten für sie verursachen, etwa indem wir versuchen, für sie einen nationalen Konsens zu schaffen. Im Gegenteil, wir befriedigen unsere Wünsche zu den geringstmöglichen Kosten, indem wir die notwendige Menge an Konsens minimieren – was auch heißt, dass wir mehr von unseren anderen Wünschen erfüllen können. Wir können uns gerade deshalb leicht mit Lebensmitteln und Kleidung eindecken, weil wir keinen Konsens in der Frage, was das beste Essen und die beste Kleidung sei, benötigen. Wenn wir zuerst einen Konsens erzielen müssten, dann würden wir uns wahrscheinlich beim Versuch, die einfachsten Bedürfnisse zu befriedigen, selbst zerstören. Oft waren es die für den Menschen nicht minder wichtigen geistigen Bedürfnisse – egal, ob man ihnen auf religiösem oder ideologischem Wege nachkam –, die zu einer gegenseitigen Zerstörung führten. Wenn die Grundsätze bestimmter politischer oder religiöser Bekenntnisse Konsens verlangten, dann gab es von der Verfolgung bis zur kompletten Abschlachtung alles Mögliche. Individualismus und Pluralismus in sozialen, politischen und ökonomischen Prozessen reduzieren die Notwendigkeit eines Konsenses – bezahlen dafür aber mit einem Bild des ungeordneten „Chaos“, das in den Augen derer entsteht, die eifrig nach einem Konsens suchen, der ihren eigenen subjektiven Werten zuträglich ist. Die Verfassung der Vereinigten Staaten trägt den in manchen Bereichen sehr hohen Konsenskosten Rechnung, indem sie der Regierung schon allein den Versuch untersagt, einen Konsens in religiösen Angelegenheiten zu erzielen. Dennoch werden die Kosten implizit als vernachlässigbar abgetan, etwa wenn man sich darüber beschwert, dass „das amerikanische System offenbar nicht hinreichend an die Mobilisierung eines positiven, energischen Willens angepasst“17 sei. Dieser Mangel ist auch unter dem Namen Freiheit bekannt. Eines der Probleme, die mit dem Verstehen von Entscheidungsfindungen im Rahmen jedweder Institutionsprozesse einhergehen, besteht darin, dass die Ursa­ che einer Entscheidung vom Mechanismus, der die Entscheidung überträgt, unter 17

Dahl / Lindblohm (1976), S. xxii.

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schieden werden muss. Der antike Brauch, den Botschafter einer schlechten Nachricht zu töten, legt die Vermutung nahe, dass die Trennung zwischen Kausal­ faktoren und Übertragungsmechanismen vor allem in emotionsbelasteten Bereichen schwierig ist. Institutionen haben oft schlechte Nachrichten zu überbringen – z. B., dass man in der Schule oder bei der Arbeit inakzeptable Leistungen erbracht hat, manchmal auch, dass ein bestimmtes Gut nicht ausreichend vorhanden ist oder die Umsetzung der politischen Ideale, die man hat, unrealistisch ist. Die dann aufkommende Frage ist, ob die Institution selbst für das Ergebnis verantwortlich oder nur der Überbringer der schlechten Nachricht sei. Versuche, Institutionen von der Überbringung schlechter Nachrichten abzuhalten – z. B. durch Noten, die keinen durchfallen lassen, „Arbeitsplatzsicherung“, Preiskontrollen usw. –, erhöhen die Kosten der Wissensvermittlung und schieben die Anpassung an dieses Wissen vor sich her. Bevor man die Wirkung von Institutionen festlegen will, muss man die inhärenten Umstände, Beschränkungen und Antriebskräfte kennen, die in jenem Umfeld walten, in dem die institutionellen Mechanismen greifen. Die Untersuchung dieser Antriebskräfte und Beschränkungen  – d. h. „Sozialtheorie“  – muss die Überlegungen der institutionellen Mechanismen zumindest ergänzen. Entscheidungsfindung hängt nicht nur von den Prozesstypen ab, die zu den Entscheidungen führen, sondern auch von der Natur der anhängigen Abwägungen. Die Kosten-Nutzen-­ Abwägungen ökonomischer Art lassen sich wahrscheinlich am leichtesten vor Augen führen. Man kann sie in Geldeinheiten quantifizieren. Die darüber hinaus gehenden gesellschaftlichen Abwägungen dürften allerdings noch wichtiger sein, auch wenn man sie nur in weniger griffigen Formeln ausdrücken kann. Die Abwägungen ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Art: sie werden in den nächsten drei Kapiteln behandelt. Kapitel 3

Ökonomische Güterabwägungen Ein Wirtschaftssystem ist ein System zur Produktion und Distribution von Gütern und Dienstleistungen. Entscheidend aber zum Verstehen seiner Funktionsweise ist der Umstand, dass es ein System zur Rationierung von Gütern und Dienstleistungen ist, die zur Deckung all dessen, was die Menschen wollen, ungeeignet sind. Dies gilt für jedes Wirtschaftssystem, egal, ob man es Kapitalismus, Sozialismus, Feudalismus oder anders nennt. Der Garten Eden war, obwohl er Güter und Dienstleistungen produzierte und verteilte, kein Wirtschaftssystem, weil er seine Produkte in einem Ausmaß herstellte, das eine Rationierung unnötig machte. Ein Utopia wäre aus denselben Gründen auch kein Wirtschaftssystem. Kurz gesagt, auch wenn alle möglichen Wirtschaftssysteme damit prahlen, die Menschen mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, ist es doch nur eine Sache, die sie zu Wirtschaftssystemen macht: Sie verfügen über systematische Verfahren, um

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Menschen von Gütern und Dienstleistungen fernzuhalten. Sie verwehren ihnen den Zugang zu natürlichen Ressourcen, Werkzeugen und Ausrüstung zum ­Zwecke der Herstellung und beschränken sie darin, an den Aufgaben zu arbeiten, die ihnen lieb sind. Kapitalistische Systeme verwenden kapitalistische Methoden der Verwehrung, sozialistische Systeme hingegen sozialistische Methoden. Aber alle Wirtschaftssysteme müssen irgendeine Verwehrungsmethode benutzen. Man kann es auch so sehen, dass die inhärenten Zwänge, die es angesichts der natürlichen Begrenzungen und der unerschöpflichen Begierden des Menschen gibt, und die Wirtschaftssysteme einfach artifizielle Verfahren sind, mit denen die inhärenten Knappheiten gehandhabt werden. Die Knappheiten existieren unabhängig von den jeweiligen Wirtschaftssystemen und würden auch dann bestehen, wenn es gar kein Wirtschaftssystem gäbe und die Menschen einfach um das, was sie wollen, kämpften. Wirtschaftssysteme existieren, um der Nutzung von Input und Output eine Portion Rationalität und Effizienz zu verleihen. Folgt man der klassischen Definition von Ökonomie, dann ist sie die Lehre von der Allokation knapper Ressourcen, für die es verschiedene Verwendungsmöglichkeiten gibt. Wenn die Ressourcen – die Zutaten der Produktion – nicht knapp wären, dann gäbe es keine Ökonomie. Wir lebten entweder im Garten Eden oder in Utopia. Entsprechend gilt: Wenn man jede Ressource nur zu einem Zweck verwenden könnte, dann würden wir von jeder Ressource so viel wie möglich hernehmen, um damit das Einzige, das man mit ihr machen kann, im größtmöglichen Umfang herzustellen. Das einzige Wirtschaftsproblem bestünde darin, festzulegen, welches Individuum es herstellen und welches es konsumieren soll. Aber die Ökonomie ist weitaus komplizierter, weil in der realen Welt eine und dieselbe Ressource genutzt werden kann, um eine ganze Bandbreite von Produkten herzustellen. Aus Kohle kann man z. B. Färbemittel, Strom, Wärme, Nylon oder flüssigen Brennstoff für Automobile herstellen, und aus Milch Eiskrem, Joghurt, allerlei Käsesorten und Zutaten für unzählige Fertiggerichte. Ein Wirtschaftssystem muss festlegen, wieviel von jeder Ressource für welche ihrer möglichen Verwendungsmöglichkeiten genutzt werden soll, und das angesichts der inhärenten Beschränkung, dass man nicht allen Personen sämtliche Wünsche gleichzeitig erfüllen kann. Obwohl Wirtschaftssysteme durchaus komplex sein können, ist die wirtschaftliche Ausgangssituation bzw. Zwickmühle recht einfach: Es gibt nicht genug, um damit auszukommen. Inmitten aller komplizierten Erklärungsmuster und emotionsgeladener Rhetorik wird diese Tatsache, wie so manche andere, die ebenso schlicht und wichtig ist, oft außer Acht gelassen oder komplett ignoriert. So verweisen z. B. Sozialkommentatoren gern darauf, dass es in der Gesellschaft „ungestillte Bedürfnisse“ gäbe, die das „Scheitern“ des Wirtschaftssystems bewiesen. In Wirklichkeit aber hat jedes erfolgreich funktionierende Wirtschaftssystem überall „ungestillte Bedürfnisse“, weil Wirtschaftssysteme grundsätzlich rationieren. Die Alternative wäre, alle Bedürfnisse einer Kategorie – sei es die mit den drängendsten, vergleichsweise wichtigsten oder höchst nebensächlichen Bedürfnissen – zu

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befriedigen und noch mehr (und drängendere) Bedürfnisse, die es an anderer Stelle im Wirtschaftssystem gibt, unbefriedigt zu lassen. Man könnte z. B. das Parkplatzproblem in allen Innenstädten des Landes vollständig lösen, sodass jeder zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Parkplatz fände – aber die notwendigen Ressourcen würden schmerzhafte Einschnitte für Krankenhäuser, Schulen und Wasserhydranten bedeuten. Die profane Tatsache der Knappheit muss immer wieder betont werden, weil man in so vielen Diskussionen über „ungestillte Bedürfnisse“ so tut, als würden „bessere“ politische Maßnahmen, Vorgehensweisen oder Einstellungen das vorliegende Problem „lösen“, ohne an anderer Stelle neue Defizite zu schaffen. Bezeichnend für diese Einstellung ist der Kommentar des Sprechers – am Ende seiner Rede über ein Projekt, das ihm am Herzen liegt: „Wenn wir einen Menschen zum Mond schicken können, warum sollten wir dann das nicht können?“ Die Tatsache, dass wir einen Menschen zum Mond schicken, ist einer der Gründe, warum so viele andere Dinge nicht erledigt werden können.

Wissen in der Wirtschaft Wenn von der Ökonomie die Rede ist, dann denken viele Menschen an Geld. Und in der Tat wird das Wort „Ressourcen“ oft als ein elegantes Synonym für Geld verwendet. In der Realität hängt der wirtschaftliche Erfolg einer Nation allerdings eher von deren wirklichen Ressourcen ab – Land, Maschinen, Arbeitskräfte usw. – als von einzelnen oder gestückelten grünen Scheinchen, die der Staat gedruckt hat. Für den Wohlstand des Einzelnen mag das Geld, über das er verfügt, entscheidend sein, aber für eine Nation als Ganzes besteht Wohlstand aus Lebensmitteln, Wohnungen, Transportmitteln, medizinischer Versorgung usw.  – und nicht aus den grünen Scheinen, die man nutzt, um den Wohlstand innerhalb der Gesellschaft zu transferieren. Eine Nation ist dann wohlhabender, wenn sie mehr von solchen realen Dingen hat, und nicht, wenn auf ihren Währungsnoten größere Zahlen gedruckt sind. Weil eine Wirtschaft auf der Grundlage knapper Ressourcen mit alternativen Verwendungsmöglichkeiten funktioniert, muss es irgendeine Methode geben, um die Rationierungsprozesse und den größtmöglichen Ertrag der Produktionsfaktoren zu koordinieren. Es gibt genauso viele unterschiedliche Arten, dies zu tun, wie es unterschiedliche Wirtschaftssysteme gibt. Alle von ihnen setzen eine Nutzung von Wissen voraus, wobei entscheidend ist, wie effektiv das Wissen genutzt wird. Letztlich hatten die Höhlenmenschen dieselben natürlichen Ressourcen zur Verfügung wie wir heute. Der Unterschied zwischen ihrem Lebensstandard und unserem liegt in dem unterschiedlichen Wissen, das sie damals auf die Ressourcen anwenden konnten, und dem Wissen, das heute verwendet wird. Obgleich wir gern von „Produktion“ reden, schafft und zerstört der Mensch keine Materie, sondern verformt sie lediglich – und das Wissen, diese Transformationen durchzuführen, ist ein wirtschaftlicher Schlüsselfaktor. Auch unter den heutigen Nationen

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stehen die Unterschiede der jeweiligen wirtschaftlichen Bedingungen in einem engeren Zusammenhang mit den Unterschieden hinsichtlich des technologischen und organisatorischen Wissens als mit den jeweiligen Vorkommen an natürlichen Bodenschätzen. So haben z. B. die Japaner einen sehr hohen Grad an Prosperität erreicht, obwohl sie viele Produktionsgüter einführen müssen und einen großen Teil ihres Produktionsausstoßes exportieren. Was sie im Wesentlichen tun, ist, dem Rest der Welt ihr Wissen und Können zu verkaufen. Obwohl die Konsumenten in der Sache physikalisches Material kaufen, könnte dieses nicht direkt vom Lieferland ins Konsumentenland verschifft werden, ohne vorher in Japan haltzumachen  – weil die Japaner effizienter als die Konsumentennationen Einsatz in Ertrag verwandeln können. Viel tiefgreifender, als man das gemeinhin wahrnimmt, sind Wirtschaftstransaktionen Ver- und Ankäufe von Wissen. Sogar die Anstellung einer „ungelernten“ Hilfskraft, die an der Zapfsäule Benzin nachfüllen soll, schließt den Verkauf eines Wissens ein. Die Hilfskraft muss wissen, dass Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und der richtige Umgang mit den Kunden und Kollegen wichtig sind, ganz zu schweigen von bestimmten technischen Grundkenntnissen, um die Zapfsäule bedienen zu können. Das wird manchmal erdrückend deutlich, wenn amerikanische Firmen in unterentwickelten Ländern Filialen gründen wollen und dabei nicht genug „ungelernte“ Kräfte für die offenen Stellen finden können, obwohl es dort genug Menschen gibt, die sowohl arm als auch arbeitslos sind. Sogar in wirtschaftlich fortgeschrittenen Nationen, in denen bestimmte Fähigkeiten für so selbstverständlich gehalten werden, dass man jene, die über sie verfügen, „ungelernt“ nennt, werden diese Formen des Wissens in derart unterschiedlichem Maße beherrscht, dass man einige Angestellte anderen vorzieht und manche sogar entlassen muss, weil sie bei der Anwendung des Wissens versagen. Wenn z. B. ein Tankwartgehilfe nicht pünktlich und zuverlässig bei der Arbeit erscheint, um beim Feierabendansturm auszuhelfen, dann kann dies einige Autofahrer dazu bringen, mit ihren Autos zu anderen Tankstellen zu fahren, wo diese aufgetankt werden, ohne vorher lange in der Schlange zu warten. Umgekehrt kann es für das Geschäft der Tankstelle sehr förderlich sein, wenn es einen zweiten Tankwartgehilfen gibt, der außerordentlich effizient, aufmerksam und freundlich ist. Infolgedessen ist der Tankstellenpächter in der Lage, mittels unbekannter „Experten“ wichtige Differenzierungen unter all seinen „ungelernten“ Mitarbeitern vorzunehmen. Natürlich „weiß“ jeder im abstrakten bzw. rein geistigen Sinne um die Bedeutsam­ keit von Pünktlichkeit, Verlässlichkeit usw. – so, wie wir im Allgemeinen „wissen“, wie man eine Kuh melkt, obwohl die meisten von uns nicht wirklich mit einem leeren Eimer in den Stall gehen und mit Milch zurückkommen könnten. Im Wirtschaftsleben zählt aber nicht der oberflächliche Besitz von Wissen im abstrakten Sinne, sondern die wirksame Anwendung desselben. Wie im Falle von Pearl Harbour bedeutet die abstrakte Existenz von Wissen nichts, es sei denn, man wendete es zum Zeitpunkt der Entscheidung und Handlungen an.

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Es ist klar, dass bei komplexeren Vorgängen komplexeres Wissen zum Tragen kommt – oft viel zu komplex, als dass ein einzelner Mensch es verstehen könnte. Wer eine Zapfsäule korrekt bedienen oder sogar eine ganze Tankstelle leiten kann, weiß wahrscheinlich nichts oder wenig über die chemische Molekularstruktur des Benzins. Ein Molekularchemiker hat vermutlich genauso wenig Wissen oder Halbwissen zu Finanzierungsfragen, Produktmix, Standort oder sonstigen Faktoren, die über Erfolg und Misserfolg der Tankstelle entscheiden. Und wahrscheinlich wissen sowohl Tankstellenpächter und Chemiker gleichermaßen nichts über die geologischen Prinzipien, die über die beste Art und die besten Plätze der Ölförderung entscheiden – oder über die komplexen finanziellen Zusammenhänge spekulativer Investitionen, die für den kostspieligen und ungewissen Prozess aufkommen. Es heißt, dass ein Mensch allein nicht wissen kann, wie ein einfacher Bleistift gemacht wird. Das heißt, es gibt niemanden, der weiß, wie man Grafit aus einer Mine fördert, Holz anpflanzt, Radiergummi herstellt und Metall aufarbeitet, und zudem sämtliche finanziellen Kniffe kennt, um ein Geschäft zum Erfolg zu führen. Kurz und gut, wir alle sind damit beschäftigt, Wissen untereinander zu kaufen und verkaufen, weil jeder von uns keinerlei Ahnung davon hat, was man sonst noch zur Vervollständigung des Prozesses braucht, dessen Teil wir alle sind.

Kosten und inkrementeller Ersatz Weil allem Knappheit innewohnt, versucht jede Wirtschaftsform aus dem vorhandenen Einsatz den größtmöglichen Ertrag herauszuholen – oder, anders formuliert, für ihre Kosten den größtmöglichen Wert zu erhalten. Da es für Ressourcen alternative Verwendungsmöglichkeiten gibt und auch alternative Produkte zur Befriedigung des Konsumenten führen können, ist die Substitution ein entscheidender Faktor im Wirtschaftsleben. Das gilt sowohl für die Produktion als auch für die Konsumption. Wir haben bereits erwähnt, dass eine Zutat in viele unterschiedliche Produkte einfließen kann. Man sollte aber auch bedenken, dass viele unterschiedliche Produkte Zutaten im Wohlbefinden des Konsumenten sein können. Normalerweise denken wir bei Substituten an physikalisch ähnliche Produkte: Ford und Opel, Roggen- und Weizenbrot, Wodka und Gin usw. In Wirklichkeit aber treffen die Menschen auch ganz andere Entscheidungen: ob sie ihre disponiblen Mittel für den Hausausbau oder den Urlaub in Übersee nutzen, ihren Weinkeller aufstocken oder eine Jahreskarte für die Baseballsaison erwerben, sich früher pensionieren lassen oder das Kind aufs College schicken. Die jeweilige Natur der Befriedigung muss nicht immer dieselbe sein. Substitution muss nicht perfekte Substitution bedeuten. Die Substituierbarkeit kennt alle möglichen Grade: Die meisten Menschen würden zwei gute halbe Liter Milch als perfekten Ersatz für einen knappen Liter Milch halten, aber in einer kalten Dusche nur einen dürftigen Ersatz für Geschlechtsverkehr sehen. Wie sehr eine Sache eine andere Sache ersetzt, kann nicht durch die Ähnlichkeit ihrer physika-

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lischen Eigenschaften bestimmt werden, eigentlich durch keine objektiven Kriterien. Ökonomen definieren Substituierbarkeit anhand der subjektiven Präferenzen, welche die Menschen durch ihr Verhalten in der Öffentlichkeit bekunden. Wenn ein steigender Kaffeepreis die Menschen veranlasst, mehr Tee zu kaufen, dann kann man, ökonomisch betrachtet, ohne vorherige Untersuchung der chemischen oder physikalischen Eigenschaften von Kaffee und Tee sagen, sie seien Substitute. Gleiches kann man sagen, wenn ein Preisanstieg bei Stereoanlagen die Menschen dazu bringt, anstelle der Stereogeräte mehr Kleidung zu kaufen. Ökonomisch gesehen sind diese beiden Güter dann Substitute, und dies trotz ihrer materiellen Disparitäten oder wenig plausiblen Verbindung. Substitution gibt es sowohl in der Produktion wie auch in der Konsumption. Stromdrähte kann man aus Kupfer, Stahl oder Aluminium herstellen, und der Anteil der drei variiert mit dem Verhältnis ihrer jeweiligen Preise. Noch einmal, Substitute müssen keine perfekten Substitute sein. Der Gewichtsvorteil von Aluminium ist für einige Zwecke wichtiger. Für andere Zwecke reichen allein Preisdifferenzen aus, um Stahl und Kupfer untereinander auszutauschen. Mittels Substitution kann eine Ökonomie – im Endeffekt – ein Produkt in ein anderes verwandeln, indem es einige der üblichen zum Einsatz kommenden Güter austauscht. So kann man in der Ökonomie den alten Alchemistentraum, Blei in Gold zu verwandeln, leicht wahr werden lassen, indem man Arbeit, Maschinen und Führungsqualitäten, die man zur Herstellung von Blei braucht, in die Produktion von Gold verlegt. Aus ökonomischer Sicht ist es unerheblich, dass dies nicht wirklich ein Metall in ein physikalisch anderes Metall verwandelt. Es zählt allein, dass ein reduzierter Ertrag bei dem einen zu einem wachsenden Ertrag bei dem anderen führt. Im 2. Weltkrieg haben wir auf diesem Wege Ressourceneinsätze in die Herstellung anderer Produkte umgeleitet und so unsere Automobile und Kühlschränke in Panzer und Flugzeuge verwandelt. Weder in der Produktion noch in der Konsumption bedeutet Substitution totale Substitution. Vielmehr meint es eine schrittweise Substitution, bei der man hinnimmt, von einer Sache etwas weniger zu bekommen, um von einer anderen Sache etwas mehr zu erhalten. Fast nie müssen wir uns etwas derart Schwierigem wie der Entscheidung kategorischer Prioritäten stellen – ob Gemüse wichtiger ist als Schuhe oder Ferien wichtiger sind als Musik. Außerdem entscheiden wir uns meistens dafür, von jeder Option etwas zu haben. Obendrein ändert sich die relative Bedeutung jeder Wahl angesichts der jeweiligen Quantitäten infolge bereits vorgenommener Änderungen. Wenn wir z. B. ein Dutzend Orangen und einen großen Korb Äpfel hätten, dann wären wir vermutlich an einer weiteren Tüte Äpfel weniger interessiert als an einer zusätzlichen Tüte Orangen. Wahrscheinlich würden wir sogar statt ihrer eine Ananas oder eine Tüte Trauben vorziehen, selbst dann, wenn wir unter anderen Umständen entgegengesetzte Präferenzen hätten; beispielsweise dann, wenn wir zunächst gar kein Obst oder einen Korb Orangen und zehn Pfund Trauben hätten. Anders ausgedrückt: Die Substitutionsverhältnisse sind inkrementell variabel und nicht kategorisch fix.

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So einfach all dies auch sein mag, es widerspricht den oft vernommenen und gelegentlich auch befolgten Parolen, es sei dringend geboten, „Prioritäten zu schaffen“, sei es für die Nation, ein Unternehmen oder eine Organisation. In dem Moment, in dem derlei Rhetorik geäußert wird, mag tatsächlich ein zusätzlicher Bedarf an einer Sache auf Kosten einer anderen Sache dringend gegeben sein, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis mit der Änderung des Proporzes der beiden Sachen auch die entsprechende Dringlichkeit, von der anderen Sache etwas mehr zu haben, sich umkehrt. Kategorische Prioritäten lassen diese Tatsache außen vor, es sei denn, sie wären sehr flexibel und reversibel – ein Fall, in dem sie aber nicht wirklich „Prioritäten“ wären. Doch nüchterne Analysen verlocken eher selten zu Phrasen, und so werden oft Prioritäten geschaffen, welche die Notwendigkeiten, denen sie geschuldet sind, überleben. Eines der großen Probleme der öffentlichen Ordnung besteht darin, herauszufinden, welche Arten gesellschaftlicher Institutionen zu flexiblen und reversiblen Transformationen führen und kontinuierliche Anpassungen an sich ändernde Bedingungen erlauben und welche zu dauerhaften kategorischen Prioritäten führen, die unter früheren Bedingungen notwendig gewesen sein mochten, aber unter neuen Bedingungen kontraproduktiv werden können. Kosten und Werte Wenn erst einmal klar ist, dass ein Wirtschaftssystem – und zwar jede Art von Wirtschaftssystem – im Grunde genommen ein System zur Rationierung des unzureichenden Angebots und ein System inkrementeller Substitution ist, dann kommt dem Begriff der „Kosten“ eine neue Bedeutung zu. Die Kosten eines jeden Gutes sind die Kosten seiner Bestandteile, und deren Kosten wiederum das Alternativ­ gut (welches auch immer), auf das man verzichten muss, um die Teile dort zu nutzen, wo sie genutzt wurden. So sind z. B. die wirklichen Kosten einer Käseecke die Eiskrem oder Trockenmilch, die man mit derselben Ursprungsressource hätte produzieren können. Und wenn man mehr Kühe geschlachtet hätte, anstatt sie wegen ihrer Milch leben zu lassen, dann gäbe es mehr Steaks, Baseballhandschuhe und andere Rinderprodukte. Folglich zählen auch die Handschuhe der Fänger zu dem, was Joghurt wirklich kostet. Dies ist nicht nur die Betrachtungsweise des Philosophen, sondern die Art, in der die Wirtschaftssysteme der realen Welt funktionieren. Wenn die Nachfrage nach Joghurt wiederholt anstiege, würde die Joghurtherstellung all die Milch aufsaugen, die sonst der Eiskrem, dem Käse oder anderen Milchprodukten zugutegekommen wäre. Dies würde dazu führen, dass mehr Kühe zur Anhebung der Milchproduktion genutzt und weniger Kühe geschlachtet würden – und dies würde wiederum weniger Rinderprodukte und höherer Preise für Fängerhandschuhe bedeuten. In einer Wirtschaft, die nicht durch Preise, sondern durch Anweisungen der Regierung koordiniert wird, käme dasselbe Ergebnis zustande, und zwar durch die Be-

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fehle, die eine zentrale Planungsbehörde erteilte, wobei die striktere Rationierung der Fängerhandschuhe mittels Wartezeiten oder Wartelisten statt höherer Preise umgesetzt würde. Die physikalischen Unterschiede zwischen Milchprodukten und Rinderprodukten hat nichts mit deren Substituierbarkeit in den Produktionsprozessen zu tun. In welchem Umfang und in welcher Richtung die inkrementelle Substitution stattfindet, hängt von den jeweils zugrunde liegenden Werten ab. Eben diese Werte sind vollkommen subjektiv. Wenn man sagt, die Menschen wollten mehr Joghurt, dann meint man damit, dass der Joghurt für sie an Wert gewinnt. Die Informationen beider Aussagen sind exakt dieselben. Es gibt keinen „objektiven“ Wert des Joghurts, den man in einem chemischen Labor oder unter dem Mikro­ skop bestimmen kann. Auch politische oder philosophische Prozesse können nicht bestimmen, was er „wirklich“ wert ist. Der Wert, der letztlich ein subjektiver ist, variiert nicht nur von Person zu Person, sondern auch für jede Person von Zeit zu Zeit. Und er ändert sich auch in Abhängigkeit von der Menge, die man von einem Gut hat. Ein Mensch, der in der Wüste zu verdursten drohte, würde gewiss sehr viel mehr für ein Glas Wasser geben, als er es zuhause täte, wo ihm der Wasserhahn leichten Zugang zu Wasser gewährt. Kurz und gut, sogar für eine und dieselbe Person kann der Wert des Wassers gewissermaßen zwischen allem, was er hat, und null liegen – möglicherweise sogar unter null, sollte er für die Beseitigung des Wassers, das sein Erdgeschoss flutet, zahlen müssen. Die Kosten eines gegebenen Gutes kann man in rein physikalischen Größen angeben. Wenn man so und so viel Liter Milch braucht, um 10 Pfund Joghurt herzustellen, und wir wissen, wieviel Eiskrem man mit derselben Milchmenge hätte produzieren können, dann kennen wir auch das physikalische Verhältnis, in dem Eiskrem im Zuge inkrementeller Substitutionen des Produktionsprozesses zu Joghurt „transformiert“ wird. Gleichwohl wird mit der Angabe zu den physika­ lischen Möglichkeiten nichts darüber ausgesagt, wieviel Joghurt man tatsächlich im Verhältnis zu Eiskrem herstellt. Das hängt nämlich auch von dem Verhältnis der Werte ab, welche die Güter für ihre jeweiligen Konsumenten haben. Die Kenntnis dieser sich ändernden Werte kann in einer Marktwirtschaft durch Preisfluktuationen, in einer politisch-kontrollierten, „geplanten“ Wirtschaft durch Änderungen im Wahlausgang und in einer politisch-kontrollierten Wirtschaftsordnung, die nicht-demokratisch ist (Kommunismus, Faschismus usw.), durch direkte Befehle vermittelt werden. Anders formuliert: Während es zunächst so aussieht, als ob ein Individuum oder eine Ökonomie den subjektiven Wert eines Gutes mit dessen objektiven Kosten vergliche, wird letzten Endes der subjektive Wert eines Gutes mit dem subjektiven Wert eines anderen Gutes verglichen. Angesichts identischer Technologien und Ressourcen, die dem, was gegenwärtig möglich ist, Grenzen setzen, können unterschiedliche Güterkombinationen produziert werden, und zwar gemäß der subjektiven Präferenzen der Entscheidungsträger, egal, ob diese Konsumenten,

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Zentralplaner oder Monarchen sind. Keine dieser verschiedenen Güterzusammenstellungen – und daher auch keine der verschiedenen Ressourcennutzungen – muss „effizienter“ als andere sein. Die Effizienz, mit der Gütereinsatz in Güterausstoß verwandelt wird, kann man nur messen, nachdem man den infrage stehenden subjektiven Nutzen spezifiziert hat. Das ist auch in den scheinbar objektiven Naturwissenschaften der Fall. Die objektive „Effizienz“ eines Automobilmotors kann man erst bestimmen, nachdem man die Vorwärtsbewegung des Automobils als subjektives Ziel bestimmt hat. Ansonsten ist jeder Motor zu 100 % effizient in dem Sinne, dass alle eingesetzte Energie genutzt wird, sei es zur Vorwärtsbewegung des Automobils, zur Überwindung der Reibeverluste zwischen den Motorteilen oder zur Erzeugung von zufälligen Motorruckeleien. Obwohl weder Wert noch Effizienz vollkommen objektiv sind, ist die Vorstellung, dass sie es sind, kaum totzukriegen. Denunzierungen wie „Ineffizienz“ oder „Verschwendung“ sind meistens nichts anderes als Aussagen über anders besetzte Präferenzen. Pläne, nach denen bestimmte Entscheidungen oder Prozesse „Experten“ überlassen werden, die wissenschaftlich für eine neutrale „Effizienz“ sorgen, sind oft nur ein Weg, um einer Personengruppe zu gestatten, ihre subjektiven Präferenzen anderen aufzuzwingen. So enthalten beispielsweise Vorschläge, die Stadt nach Art eines Stadtmanagers zu führen und die städtischen Entscheidungen „aus der Politik“ herauszunehmen, in Wirklichkeit nichts anderes als die Idee, lokale Entscheidungen auf ein anderes Interessensspektrum abzustimmen als das der allgemeinen Wählerschaft. Über die Vorteile eines solchen Wechsels kann man je nach Standpunkt trefflich streiten. Hier zählen nur die Ungenauigkeit, mit der die Abläufe für gewöhnlich beschrieben werden, und die Missverständnisse (oder Unaufrichtigkeit), die hinter solchen Beschreibungen stehen. Als Mechanismus zur Nutzung von Wissen in der Gesellschaft blendet das Stadtmanagerarrangement einiges vom Wissen (der Wählerschaft) aus und bevorzugt das Wissen anderer, die zur Stadtverwaltung einen besseren Draht oder insgeheim Macht über dieselbe haben.18 18 Die zwei Arten des Wissens, die unterschiedlich gewichtet werden, umfassen nicht nur unterschiedliche Mengen an Expertise dazu, wie man städtische Angelegenheiten handhabt, sondern auch Wissen über die spezifischen Auswirkungen der Politik auf unterschiedliche Menschen, die unterschiedliche Werte haben. Idealerweise können jene mit der größten Expertise eine Stadt in einer Weise lenken, die zur maximalen Befriedigung der Werte aller führt, einschließlich derer, denen eine direkte (oder umfassend gewürdigte) Eingabe oder Rückmeldung auf die Entscheidungsprozesse verwehrt ist. Im Falle eines solch idealen Arrangements gewönnen die Entrechteten für ihre Werte sogar höhere Befriedigungsgrade, weil ihre Werte im Entscheidungsprozess vollkommen repräsentiert wären – so als ob sie mitbestimmten – und zudem mit größerer Expertise verfolgt würden, und zwar durch die Verwaltungsstatthalter, die man wegen ihres Talents und nicht wegen ihrer politischen Beredsamkeit oder Ausstrahlung ausgesucht hätte. In Wirklichkeit aber ist die Stadtmanagementlösung ein verführerisches Arrangement, um die Werte der Entrechteten gegen die Werte einiger anderer einzutauschen. Betrachtet man die Lösung als ein Vehikel der Wissensvermittlung, dann blendet sie einiges an Wissen hinsichtlich der Werte und Auswirkungen aus, und bietet keine institutionellen Anreize, die Ausblendungen zumindest indirekt zu berücksichtigen. Gleichwohl mag so mancher Entscheidungsträger sich aus Gewissensgründen dazu durchringen.

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Stückkosten versus inkrementelle Kosten Wenn Menschen umgangssprachlich von „den“ Produktionskosten einer Sache sprechen, dann meinen sie für gewöhnlich die Stückkosten – also die Gesamtkosten für das laufende Unternehmen, geteilt durch die Anzahl der produzierten Gütereinheiten. Wenn aber für einen bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidung ansteht, dann sind die inkrementellen Kosten ausschlaggebend. Die Gesamtkosten, die beim Betreiben einer Fluglinie anfallen, schließen offensichtlich die Kosten für die Flugzeuge ein. Wenn aber zu entscheiden ist, ob ein bestimmter Flug stattfinden soll oder nicht, dann zählt in diesem Moment, ob die zusätzlichen Kosten des Fluges durch den zusätzlichen Wert für die Passagiere, der sich in dem, was sie zu zahlen bereit sind, zeigt, gedeckt sind. Dieser Frage muss man sich stellen, egal, ob die Fluglinie ein privates Unternehmen in einer freien Marktwirtschaft, ein Staatsunternehmen in einem sozialistischen Land oder eine andere Kombination aus wirtschaftlichen und politischen Institutionen ist. Die Mechanismen, nach denen die Entscheidung getroffen wird, werden verschieden sein, und selbst­verständlich wird die jeweilige Entscheidung von der Natur des institutionellen Mechanismus beeinflusst oder sogar bestimmt sein. Ausschlaggebend aber ist, dass das Problem selbst nicht von den Institutionen abhängt und die Institutionen daran gemessen werden können, wie gut sie das Problem lösen. Ein Flugzeug, das sonst für eine bestimmte Zeit nutzlos am Boden bleibt, hat im ökonomischen Sinne – Kosten verstanden als entgangene Alternative – sehr niedrige Kosten. Wenn ein Flugzeug, das andernfalls über Nacht im Hangar bliebe, um Mitternacht hinausgefahren wird, um eine Gruppe von Urlaubern zu einem nahegelegenen Urlaubsziel zu fliegen, dann liegen die Kosten dieses Fluges, sofern er die sonstigen Flugzeiten der Maschine nicht durcheinanderbringt, weit unter den „durchschnittlichen“ Kosten eines gewöhnlichen Fluges. In diesem Fall betragen die Zusatzkosten des Fluges kaum mehr als die Kosten für den Treibstoff und die Besatzung, weil das Flugzeug ohnehin für einen anderen Zweck da ist. In einer durch Preise koordinierten Wirtschaft ist der Betrag, den die Passagiere zu zahlen haben, damit das Flugzeug unter den gegebenen Bedingungen fliegt, viel niedriger als der Betrag, der nötig wäre, um die Fluglinie dazu zu bewegen, Zusatzflugzeuge für reguläre Flüge derselben Distanz einzusetzen. Für letztere Entscheidung müssten die Passagiere eine Summe zahlen, die ausreichte, um neben den Kosten für Treibstoff und Besatzung auch noch die Kosten für das Flugzeug selbst und die diversen „Mehrkosten“ der Fluglinie zu decken. In einer Wirtschaft, die durch Entscheidungen seitens der Regierung koordiniert wird, würde dieselbe wirtschaftliche Lösung greifen, auch wenn sie institutionell gesehen durch einen politischen oder administrativen Prozess zu erzielen wäre. Ob dieselbe Lösung tatsächlich erreicht würde, hinge davon ab, inwieweit die entsprechenden institutionellen Vorkehrungen dieselben Kenntnisse der Konsumentenpräferenzen (inkrementelle Abwägungen) und Produktionskosten (inkrementelle Abwägungen) weitergäben und das Wissen in einer Form übermittelt würde, die in dem Sinne

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„effektiv“ wäre, dass sie einen persönlichen Anreiz für den Entscheidungsträger konstituierte. Es ist oft teurer, sich im Voraus zur Produktion eines bestimmten Gutes oder Erbringung einer bestimmten Leistung zu verpflichten, als dieselbe mit einer Ausrüstung auf den Weg zu bringen, die bereits für andere Zwecke vorgehalten wird. In einigen Substitutionsfällen liegen die inkrementellen Kosten unter den Durchschnittskosten  – manchmal betragen sie nur einen winzigen Anteil derselben. Wenn die vorhandene Ausrüstung bereits eine normale Auslastung hat, dann kann es aber auch sein, dass die zusätzliche Nutzung mehr als die normale Nutzung kosten kann. Das gilt z. B., wenn eine zusätzliche Nachfrage nach Elektrizität aufkommt und die Generatoren schon am Limit arbeiten. Der Unterschied zwischen durchschnittlichen Kosten und inkrementellen Kosten ist nicht nur für die wirtschaftlichen Einrichtungen in den jeweiligen Wirtschaftssystemen ausschlaggebend, sondern auch für politische, justizielle und sonstige Systeme. Die inkrementellen Kosten eines klingelnden Telefons mögen für eine sich ausruhende und etwas langweilende Hausfrau recht niedrig sein, für eine Hausfrau, die gleichzeitig mit einem schreienden Baby, einem heißen Topf auf dem Ofen und einer Rangelei ihrer anderen Kinder fertig werden muss, können sie unerträglich hoch sein. Die inkrementellen Kosten für das Fällen bestimmter Präzedenzurteile sind nicht einfach die Kosten, die mit diesem individuellen Fall verbunden sind, sondern liegen in der Verpflichtung richterlicher Institutionen, künftig ähnliche Fälle in ähnlicher Weise zu bescheiden. Diese Kosten mögen hundert- oder tausendfach über denen liegen, die mit der individuellen Entscheidung selbst einhergehen. Anders formuliert: Dort, wo bestimmte Entscheidungen in irgendeiner beliebigen der vielen verschiedenen Institutionen des gegebenen Gesellschaftssystems getroffen werden, kann der institutionelle Ort des besagten Entscheidungsprozesses die anhängigen Kosten um ein Vielfaches dessen, was die Kosten der Einzelentscheidung selbst betrifft, senken oder erhöhen. Nachlassende Erträge Anstatt die Effizienz einer Ökonomie danach zu bemessen, wieviel Einsatz pro Ausstoßeinheit erforderlich ist – gemeint sind die Kosten der Produktion – können wir auch danach fragen, wieviel Ertrag eine vorgegebene Einsatzmenge erwirkt. Beide Sichtweisen lassen erkennen, dass es keine fixe Beziehung zwischen Einsatz und Ertrag gibt, wohl aber einige allgemeine Muster, die man in den Erörterungen ökonomischer Systeme bedenken sollte – auch in den Erörterungen legaler, politischer und sozialer Systeme. Im Grunde ist das Muster so, dass mit der Zunahme einer Inputgröße, bei gleichzeitiger Konstanz der übrigen Größen, der Ertrag normalerweise zunimmt – zunächst schneller als das Wachstum des Inputs, dann proportional, danach langsamer, bis es schließlich zu einer Reduktion des Ertrags kommt, sobald der eine Input in unbegrenzter Menge zugeführt wird. Die Frage ist, warum dieses Muster existiert.

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Wenn ein Mensch ein riesiges Stück Land allein bewirtschaften muss, dann hat er nur eine begrenzte Anzahl an Optionen, das Land zu kultivieren. Er kann seine Arbeitskraft auf das ganze Land fein verteilen und dabei einen großen Teil des Arbeitstages darauf verwenden, sein Land zu durchqueren, anstatt das Feld zu bestellen. Oder er kann zu dem Entschluss kommen, dass er mehr ernten wird, wenn er nur eine Hälfte kultiviert, indem er diese intensiver bearbeitet und die Zeit des hin und her Gehens verkürzt, was ihm mehr Energie zur eigentlichen Kultivierung lässt. Welche der beiden Ansätze er verfolgen wird, hängt davon ab, wie die Abwägung der verschiedenen Überlegungen in seinem Fall endet. Uns geht es hier allein um die Veranschaulichung der Optionsarten, die er als einsamer Landwirt hat (Input), um sie mit den Optionen zu vergleichen, die vorhanden sind, wenn es zwei Einheiten desselben Inputs gibt – soll heißen, zwei Bauern auf demselben Stück Land. Während ein einzelner Bauer entweder das ganze Land als eine Einheit bewirt­ schaften kann oder eine Hälfte kultivieren und die andere unkultiviert lassen kann, haben zwei Landwirte die Option, das ganze Feld als Einheit zu kultivieren oder beide Hälften als separate Einheiten zu bestellen. Das heißt, zwei Landwirte können entweder das tun, was ein Bauer allein tun würde oder könnte, und zusätzlich Dinge tun, die ein Bauer allein nicht tun könnte. Das gilt auch für einzelne Teile der Arbeit. Wenn es z. B. um den Transport kleiner Dinge in einen Teil des Feldes geht, können zwei Landwirte wählen, ob sie diese lieber tragen oder einander zuwerfen wollen. Ein einzelner Bauer hat lediglich die erste Option. Beim Tragen schwerer und / oder sperriger Ladungen, kann ein Bauer die Tragegriffe nur so weit voneinander anbringen, wie er die Arme spreizen kann. Wenn zwei Landwirte zusammenarbeiten, dann können sie zwei Paar Tragegriffe nutzen, die viel weiter voneinander weg sind, als die Spannweite zweier Arme reicht. Kurz gesagt, für viele Arbeitsfelder gilt, dass zwei Landwirte all jene Optionen haben, die auch ein einzelner Bauer hat, und einige andere obendrein. Wie oft sie lieber separat arbeiten und wie oft lieber im Team, hängt von den Vorteilen der jeweiligen Praktik ab. Wie auch immer, der entscheidende Punkt ist, dass mehr Optionen im Allgemeinen bessere Ergebnisse bedeuten, sofern die zahlreicheren Optionen die minder zahl­ reichen Optionen umfassen. Dieser Grundsatz hat diesseits und jenseits der Ökonomie vielfältige Anwendungsbereiche, wie wir an späterer Stelle noch sehen werden. Im Fall der beiden Landwirte auf dem großen Stück Land ist es so, dass jeder das tun kann, was er auch allein tun könnte, und zusammen beide Dinge tun können, die keiner für sich allein verrichten könnte. In Abwesenheit sonstiger zu berücksichtigender Probleme würden wir also erwarten, dass zwei Landwirte auf dem besagten großen Feld mehr als doppelt so viel erwirtschaften würden wie ein Bauer allein. Kurzum, wir würden einen zunehmenden Ertrag pro Einsatzeinheit erwarten. Aus ähnlichen Gründen würden wir von drei Landwirten ebenfalls erwarten, dass sie den Ertrag überproportional zum wachsenden Einsatz steigern würden, weil nun unter den Inputs auch mehr Organisation möglich ist. Wie lange der Ertrag überproportional zum Einsatz wachsen würde, hinge von vielen speziellen Sachverhalten ab. Wichtig ist aber bei alledem, warum der Ertrag nicht für

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immer so weiterwachsen könnte. Ab einem bestimmten Punkt wäre das Land voller Menschen, die sich gegenseitig im Weg stünden und einander ablenkten, was eine Kompensation der Organisationsvorteile zur Folge hätte. Falls die beiden Landwirte den Output partnerschaftlich geteilt hätten, dann hätten sie sich – automatisch und vielleicht, ohne darüber nachzudenken – gegenseitig bei der Arbeit beobachtet und damit die Aussichten reduziert, dass einer sich auf Kosten des anderen einen schlauen Lenz macht. Die Leichtigkeit, mit der man beobachten kann, und die Gewissheit, beobachtet zu werden, würde die zwei Landwirte davor bewahren, auf ein Anstrengungsniveau zu fallen, das unter dem läge, das sie für die richtige Balance zwischen schlauem Lenz und Output halten. Wenn aber die Zahl der Landwirte die Hundert erreichte, dann könnte kein Bauer allein mit gleicher Leichtigkeit die anderen 99 beobachten oder gewiss sein, dass ihnen auffiele, wenn er es etwas ruhiger angehen ließe. Selbst dann, wenn alle hundert Landwirte identische Vorstellungen davon hätten, wieviel Output wieviel Anstrengung lohnt, hätte doch jeder einzelne von ihnen einen Anreiz, weniger als dieses Maß zu leisten, weil seine eigenen Defizite nur sehr wenig mit seinem individuellen Anteil am Ergebnis zu tun hätten. Wenn sie auch alle in einem abstrakten Sinne „wissen“ mögen, dass die Gesamtanstrengung mit dem Gesamtausstoß irgendwie korreliert, und daher wünschen mögen, dass jeder seinen Anforderungen gerecht wird, so besteht dennoch ein großer Unterschied zwischen diesem Wunsch – selbst, wenn er allgemein geteilt wird – und einem organisatorischen Weg, ihn zu verwirklichen. Immerhin ist das Ausdenken und Beibehalten eines organisierten Überwachungssystems nicht kostenlos zu haben. Und ob es seine Kosten wert wäre, ist eine empirische Frage. Überwachungskosten (seien es die Kosten der Überwachung selbst oder der Verlust an Output aufgrund fehlender Überwachung) sind ein zusätzlicher Faktor, der die Möglichkeiten, den Ertrag pro Einsatzeinheit zu erhöhen, bremst. Die anfängliche Annahme, dass eine größere Anzahl an Menschen auch immer zusätzliche Optionen ohne den Verlust anderer Optionen bedeuten würde, gilt nur, und nur annäherungsweise, für kleine Menschenmengen. Überfüllung, Ablenkung und Überwachungskosten schmälern die Gewinne, die dank Organisationsarbeit möglich sind. Wenn man den Einsatz stets weiter mehrt, dann überwiegen ab einem bestimmten Punkt die negativen Faktoren die erkennbaren Vorteile und fällt das Verhältnis von Ertrag zu Einsatz. Dies ist das Gesetz vom abnehmenden Ertrag – ein Grundprinzip der Ökonomie, das auch weit außerhalb der Ökonomie Auswirkungen hat. Das Gesetz abnehmender Erträge gilt auch für unbelebte Inputs. Auch wenn schon eine geringe Menge an ausgebrachtem Dünger einen gewissen inkrementellen Einfluss auf die Getreidegröße nimmt, und die doppelte Menge den Zuwachs um mehr als das Doppelte ansteigen lässt, kann der Dünger ab einem bestimmten Punkt nicht mehr das Getreidewachstum im gleichbleibenden Verhältnis fördern und kann es durchaus sein, dass eine Überdüngung zu weniger Getreide führt.

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Wenn ökonomische Entscheidungsfindung unter den Auflagen eines Preis­ systems, das Profite und Verluste kennt, stattfindet, dann führt das selten dazu, dass die Produktion sich dort bewegt, wo mehr Einsatz zwingend zu abnehmendem Ertrag führt. Es liegt offenkundig kein Sinn darin, schwer verdientes Geld für Inputs auszugeben, deren inkrementeller Effekt negativ sein wird. Das heißt nicht, dass derlei Ergebnisse nicht vorkämen, wenn die Anreize in einem bestimmten Prozess der Entscheidungsfindung dergleichen für den betroffenen Entscheidungsträger rational machen, auch wenn dies der „Gesellschaft“, die nun mal keine maßgebende Entscheidungsgröße ist, schaden sollte. Interne Kommunikationssysteme großer Organisationen stehen oft vielen Personen offen, die Memoranden, Ankündigungen, offizielle Dokumente, Lohnschecks, Umfragen oder auch nur reinen Tratsch verschicken wollen. Die Zahl und Häufigkeit derlei interner Kommunikationen nimmt Einfluss auf das Maß der Aufmerksamkeit, die der durchschnittliche Empfänger jeder einzelnen Nachricht schenkt. Unregelmäßig eintreffende interne Nachrichten erfahren wahrscheinlich eine höhere Aufmerksamkeit pro Einheit als eine Flut von Material, das alle paar Stunden eintrifft. Anders formuliert: Das Gesetz abnehmender Erträge funktioniert. Ab einem gewissen Punkt nimmt der Zugewinn an Aufmerksamkeit mit zunehmender Menge an Nachrichten ab. Ist die Überschwemmung groß genug, dann wird immer weniger Aufmerksamkeit gezollt – und weniger Information effektiv empfangen –, als es im Falle weniger Nachrichten geschähe. Zu dieser Situation, in der das Niveau der Erträge absolut abnimmt, kann es nur deshalb kommen, weil für die vielen individuellen Entscheidungsträger, die über die Zuführung von mehr Material in das interne Kommunikationssystem befinden, praktisch keine Kosten gibt. Sie mögen vielleicht alle wissen, dass die Aufmerksamkeit und Geduld der Empfänger bereits am Ende sind, aber jeder einzelne Sender weiß auch, dass seine Handlung allein nur wenig dazu beiträgt. Solange es die Mühe lohnt, zu tippen oder zu vervielfältigen, hat der Sender genug Anreiz zu senden, weil ein Teil der durch seine Entscheidung entstehenden Kosten an andere externalisiert wird, und zwar in Form allgemein abnehmender Aufmerksamkeit. Wenn alle es machen, dann verlieren alle – aber das geschieht nur, weil „alle“ nicht die Entscheidungsinstanz sind.19 Ein wirklich ernsthaftes Gesellschaftsproblem entsteht dann, wenn komplette Institutionen dem Anreiz ausgesetzt sind, ihre Aktivitäten 19

Mit anderen Worten: Nur kostenbeschränkte Entscheidungsinstanzen können sicher sein, nicht in den Bereich absolut abnehmender Erträge abzugleiten – und dies auch nur dann, wenn die Kostenbeschränkungen in Relation zum fraglichen Input stehen. Die meisten Unternehmen, die Profit und Verlust unterworfen sind, werden bei dem Großteil ihrer Aktivitäten automatisch aus diesem Bereich ferngehalten. Unternehmen, die institutionell weder zu Gewinnen gedrängt noch von Verlusten gezügelt werden, können oft recht weit in die Region absolut abnehmender Erträge eintauchen – bekannte Beispiele sind die Regierungsbehörden und die „nicht-gewinnorientierten“ Organisationen wie Universitäten, Krankenhäuser und Stiftungen. Zu allen Zeiten hatten nahezu alle Aktivitäten und Institutionen ein begrenztes Budget, aber die zeitweise Ausweitung dieses Budgets kostet nicht-gewinnorientierte Institutionen nur die Mühe, einen plausiblen Grund für das zunehmende „Bedürfnis“ zu finden.

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über die Linie inkrementell abnehmender Erträge hinauszuschieben, und zwar in den Bereich der absolut abnehmenden Erträge.

Zeit Zu den Beschränkungen, denen ökonomische Abwägungen unterliegen, gehört auch die Zeit. Die Wahl, entweder heute Geld für Unterhaltung auszugeben oder mit dem Geld Samen zum Pflanzen von Apfelbäumen zu kaufen, ist nicht nur eine Wahl zwischen zwei verschiedenen Nutzenbündeln. Sie ist auch die Wahl zwischen zwei Vorteilsmengen, die zu verschiedenen Zeiten auftreten. Unter sonst gleichen Bedingungen werden die gegenwärtigen Vorteile den zukünftigen stets vorgezogen, wenn auch nur deshalb, weil das Leben selbst ungewiss ist und es für den betreffenden Entscheidungsträger vielleicht keine Zukunft gibt. Anders ausgedrückt: Die künftigen Vorteile müssen größer als die gegenwärtigen sein, damit sich das Warten lohnt.20 Der Unterschied kann aber auch so ausfallen, dass die gegenwärti­ gen und künftigen Vorteile einem bestimmten Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt gleich wertvoll erscheinen. Wie groß der Unterschied und wie lang die Zeit sein müssen, hängt dabei von der jeweiligen Person ab und kann bei dieser inkrementell variieren. Wer am Verdursten ist, dem mag ein sofort gereichter Krug Wasser viel wertvoller sein als ein Swimmingpool, den er in zwei Jahren haben kann, selbst wenn dieselbe Person unter normalen Umständen lieber auf den Pool warten würde. Kurz gesagt, so etwas wie „die“ Substitutionsrate gibt es weder in der Produktion noch in der Konsumption, da es zwischenzeitliche Substitutionen und zeitlich festgesetzte Substitutionen gibt. Genau so wenig gibt es so etwas wie „den“ Wert eines Objekts, weil die Zeit, zu der man das Objekt empfangen soll, dessen Wert ändert. Ein Swimmingpool gleich jetzt wäre wertvoller als ein Krug Wasser, auch für den Menschen, der am Verdursten ist. Natürlich wäre er auch wertvoller als ein Swimmingpool, der erst in zwei Jahren käme. Allgemeiner gesagt gilt: Jeder Vermögenswert ist umso wertvoller, je schneller man ihn erhält. Je früher der Vermögenswert verfügbar ist, desto teurer kann man den Rechtsanspruch an ihm verkaufen. Apfelbäume, die halb hoch sind, kann man für mehr Geld verkaufen als frisch gepflanzte Apfelbäume, und ausgewachsene Apfelbäume gehen für den höchsten Preis weg, obwohl der einzige Unterschied zwischen all diesen Bäumen nur die Tage sind, an denen sie gepflanzt wurden – womit die Zeit gemeint ist, bis sie Äpfel tragen. Dem Grundsatz, die Zeit zu diskontieren, geht es wie so vielen Grundprinzipien der Ökonomie. Er ist so einfach, dass man ihn im Eifer des Gefechts bei praktischen Entscheidungen und im Getöse impulsiver Parolen leicht vergisst. So mögen z. B. 20

Man kann dies auch ins Lächerliche ziehen, wie es einige Ökonomen getan haben, indem sie sagten, dass die Produktion am Ende der Produktionsumwege wertvoller sei. Die Zusatzkosten einer zeitaufwändigen Produktion machten sich nur bezahlt, weil das so hergestellte Produkt ohnehin wertvoller sei.

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der Staat oder die Städte in Zeiten finanzieller Engpässe die Auszahlungen auf ihre Anleihen einseitig aufschieben, wenn auch mit der Zusicherung, die Anleihen würden später „in voller Höhe“ ausbezahlt. Doch selbst dann, wenn dieses Versprechen auf Heller und Pfennig genau erfüllt wird, bedeutet allein der Umstand, dass sie später ausbezahlt werden, dass sie nicht „in voller Höhe“ ausbezahlt werden. Bei einer Zinsrate von 8 % sind 100 USD in drei Jahren fast 26 USD weniger wert als heute – die Inflation noch gar nicht eingerechnet. Mit anderen Worten: Eine Verschiebung um drei Jahre bedeutet ökonomisch dasselbe wie die Konfiszierung eines Viertels des Vermögenswerts, auch wenn es keine Inflation gibt. Schon eine geringe Inflation reicht, um die Konfiszierung bzw. ausbleibende Zahlung auf ein Drittel der Gesamtsumme ansteigen zu lassen, welche die Anleihenkäufer dem Staat anvertraut haben. Allein das zeitliche Hin- und herbewegen eines Vermögenswertes ändert dessen Wert beträchtlich. Man kann dies anhand von wirtschaftlichen Vermögenswerten, die in Geld ausgedrückt werden, zeigen, aber das Prinzip gilt darüber hinaus auch für gesellschaftliche Institutionen im Allgemeinen. „Verzögertes Recht ist verweigertes Recht.“ So lautet ein altes Rechtsaxiom – und „des Rechtes Aufschub“ ist eine Redeweise, die mindestens bis Shakespeare zurückreicht.21 Die Abfertigung oder Verzögerung, die den verschiedenen institutionellen Prozessen innewohnen, können genauso wichtig sein wie (oder sogar mehr als) das Endergebnis, das man üblicherweise so darstellt, als wäre es ein konstanter Wert. Der beliebte Brauch, auf eine fixe Dollarsumme zu verweisen, auf ein physikalisches Objekt oder ein bestimmtes soziales Ergebnis, so als ob diese fixe Werte wären und man nicht auf die beanspruchte Zeit zu achten hätte, ist mehr als nur Ausdruck geistiger Verwirrung. Er bietet auch Gelegenheiten, Regeln zu ändern, die sich „nur“ auf die Zeit auswirken. So kann man das Schicksal von Menschen willkürlich und gravierend ändern. Allein durch solche scheinbar harmlosen Entscheidungen, wie der Inkraftsetzung eines Gesetzes ein anderes Datum zu geben, das Renteneintrittsalter zu modifizieren oder die Wartezeit zu verlängern, kann die Regierung Milliarden von Dollars innerhalb der Ökonomie transferieren; einige davon an sich selbst. Es reicht ihr, Geld an Unternehmen (einschließlich staatseigener Unternehmen) zu einem künstlich niedrigen Zinssatz zu verleihen, und schon können die Kosten der ganzen Operation grob falsch ausgewiesen sein und kann das Unternehmen den Anschein erwecken, „auf seine Weise zu zahlen“ – auf dem Papier. Die Bewegung von Vermögenswerten durch die Zeit ist eine Bewegung in zwei Richtungen. Gegenwärtige Leistungen können nicht nur aufgeschoben, sondern spätere Leistungen auch vorgezogen werden – zu einem Diskont, der dem Zinsaufschlag (in Markttransaktionen) entspricht, der für die Aufschiebung bezahlt wird. Eine Agrargesellschaft kann die Saat für die nächste Ernte aufessen und damit den gegenwärtigen Konsum von Lebensmitteln auf Kosten der künftigen Konsumption erhöhen. Eine Nation kann ihre militärische Verteidigungsbereitschaft reduzieren 21

Hamlets Monolog.

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und so die gegenwärtige Kaufkraft der Konsumenten oder des Staates auf Kosten künftig höherer Militärausgaben oder erzwungener Kapitulationen erhöhen. Und der Einzelne mag auf verschiedenen Wegen Gewinne daraus ziehen, dass er seine Schwüre und Verpflichtungen bricht. Die Kosten dafür sind künftig geringere Gewinne aus Aktivitäten, die Vertrauenswürdigkeit voraussetzen.

Investition und Desinvestition Die Verschiebung künftiger Vermögenswerte in die Gegenwart ist genau so wenig kostenlos für den Empfänger wie die Aufschiebung gegenwärtiger Vermögenswerte für den Spender. Der Prozess der Umwandlung gegenwärtiger Aktiva in künftige Aktiva ist in der Ökonomie als „Investition“ bekannt. Gleichwohl reicht der Prozess weit über finanzielle Aktivitäten hinaus. Wenn jemand seine Sachen sorgfältig verstaut, sei es zuhause oder im Büro, dann opfert er willentlich gegenwärtige Zeit, die für andere Aktivitäten genutzt werden könnte, damit es ihn in der Zukunft weniger Zeit kostet, sie wiederzufinden. Und wenn jemand Ärger (und manchmal auch Schmerzen und Verlegenheit) auf sich nimmt, um jemandem seine Gefühle klar zu machen, steckt dahinter eine absichtliche Einbuße an akutem Wohlbefinden, um für die Zukunft einem größeren Verlust des Seelenfriedens, ausgelöst von Missverständnissen, vorzubeugen. Der Zweck ist, für die maßgebliche Zeitspanne netto einen größeren Seelenfrieden zu haben, so wie es der Sinn finanzieller Investitionen ist, für die relevante Zeitspanne einen größeren Nettowert zu haben. Worin sich finanzielle und nicht-finanzielle „Investitionen“ wesentlich ähneln, bemerkten bereits die Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie Adam Smith und John Stuart Mill. Aber erst die Ökonomen der letzten Generation ersannen ausgefeilte Theorien zum „Humankapital“ und all seinen Formen in der Bildung, medizinischen Versorgung, Migration und in anderen Aktivitäten, die dazu angelegt sind, das künftige Wohlergehen finanzieller und seelischer Natur zu verbessern. Insofern kann man den Begriff „Desinvestition“ auch anwenden, wenn es um die Vorverlegung künftiger Vorteile auf die Gegenwart geht, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob die Vermögenswerte nun finanzieller oder seelischer Natur sind. Solche Phrasen wie „Die Kerze an beiden Enden anzünden“, „ein kurzes, aber vergnügtes Leben“, „sein Kapital aufzehren“ oder „auf Kosten künftiger Generationen leben“ beziehen sich alle auf ähnliche Prozesse, auch wenn sie unterschiedliche Maßeinheiten verwenden. Die meisten Ausdrücke, die Desinvestitionen beschreiben, haben pejorative Konnotationen, aber es ist an sich nichts Schlechtes daran, wenn ein 90-Jähriger einige seiner halbwüchsigen Apfelbäume verkauft, um gegenwärtig Ausgaben für Dinge zu tätigen, die seiner momentanen Gesundheit, Bequemlichkeit und Glückseligkeit zuträglich sind. Der Versuch, die Bäume bis zur Tragreife zu halten, mag für ihn durchaus weniger sinnvoll sein. Die Desinvestitionen, die ein Entscheidungsträger für sich tätigt, müssen von denen unterschieden werden, die er für andere abschließt. Das Rechtssystem sieht

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Schutzmaßnahmen gegen Privatleute vor, die anderer Leute Vermögen desinvestieren. Rechtlichen Schutz gegen eine Regierung, die dasselbe tut, gibt es allerdings nicht. Staatliche Inflationspolitik kann z. B. die Vermögenswerte, die man für das Alter zurückgelegt hat, teilweise desinvestieren, da sie dem Einzelnen, der sie angespart hat, weniger Realvermögen für die Zukunft lässt und dem Staat (dem Emittenten der inflationären Währung) gegenwärtig mehr an realen Vermögenswerten in die Hände legt. Der Transfer ist nicht weniger real, wenn er versteckt abläuft und mithin nicht Gegenstand konstitutioneller Grenzen ist, die Konfiszierungen von Eigentum „ohne Gerichtsurteil“ ausschließen. Wahrscheinlich wurden auf diesem Wege mehr Vermögenswerte konfisziert als durch die Ausübung des staatlichen und von der Verfassung garantierten „Enteignungsrechts“. Diejenigen, die ihre Ersparnisse verloren haben, sind auch nicht überwiegend wohlhabende Menschen mit dicken Konten, Aktienbündeln oder Anleihen. Viele Ersparnisse nehmen Formen an, die man normalerweise nicht für Ansparungen hält  – z. B. Lebensversicherungen und Betriebsrenten. Durch die Pensionsfonds haben die amerikanischen Arbeiter einen höheren Anteil am gesamten heimischen Industrievermögen, als es die Arbeiter in einem erklärtermaßen kommunistischen Land wie Jugoslawien haben.22 Die Konfiszierung von Betriebsrentenvermögen mittels Inflation ist nicht so sehr eine Umverteilung von einer Einkommensgruppe zu einer anderen, sondern eine Umwidmung künftigen Rentnervermögens in gegenwärtiges Staatsvermögen. Risiko Mit dem Thema Zeit kommt auch das Thema Risiko ins Spiel. Das wohl an erster Stelle zu nennende Risiko ist, dass wir vielleicht nicht lange genug leben, um das Ende und den Lohn der ökonomischen Aktivität zu erfahren. Daneben existieren viele andere Risiken, die einen partiellen oder vollständigen Verlust des Investierten oder auch Verluste bedeuten können, die über die ursprüngliche Investition hinaus auch andere persönliche Vermögenswerte betreffen können, mit denen Schäden oder sonstige Verbindlichkeiten abgesichert werden, die der Prozess erfolglosen Gewinnstrebens nach sich zieht. Obwohl man Risiken mathematisch kalkulieren kann, wie z. B. in den versicherungsmathematischen Tabellen der Lebensversicherungen, sind die Kosten eines gegebenen Risikos genau so wenig objektiv wie alle anderen Kosten. Manche Menschen können auch dann ruhig schlafen, wenn sie die Miete nicht bezahlt haben oder Gläubiger damit drohen, ihnen das Auto wegzunehmen oder ihr Gehalt pfänden zu lassen. Andere Menschen sorgen sich um ihr Geld, das auf einer staatlich abgesicherten Bank liegt. Dazwischen liegen zahllose Abstufungen individueller Sorge wegen eines vorhandenen Risikos, somit auch unterschiedliche psychische Kosten des eingegangenen Risikos bzw. unterschiedliche finanzielle Kosten zur Reduzierung des Risikos. Anleihegläubiger mögen z. B. mit einer Gewinnrate zu 22

Drucker (1976).

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frieden sein, die geringer ausfällt als die von Aktieninhabern, weil sie diese als Preis für ein niedriges Verlustrisiko ihrer Investition ansehen. Der gottgleiche Ansatz, mit der die „Gesellschaft“ analysiert wird, und sein metaphernreicher Auftritt ignorieren das Risiko, dessen subjektive Natur und / oder mannigfaltigen Kosten unter den Individuen. Im Bereich des Risikos, wie auch in einigen anderen Bereichen, entzieht die Vielfalt der Individuen jenen Überlegungen die Berechtigung, welche die Gesellschaft sprachlich so kleiden, als wäre sie ein einheitlicher Entscheidungsträger. Angesichts zahlreicher unerwünschter Ereignisse, für die eine gewisse objektive Wahrscheinlichkeit gegeben ist, können die Kosten dieser Risiken für die Gesellschaft enorm variieren, und zwar je nachdem, welche Mitglieder der Gesellschaft wie viele dieser Risiken tragen. Wenn riskante Aktivitäten, wie das Bohren nach Ölquellen (die meisten Quellen haben kein Öl) von nervösen Anlegern finanziert werden, dann sind die Kosten viel höher, als sie es sind, wenn derlei Aktivitäten von sorglosen Draufgängern finanziell getragen werden, die schon allein der Traum, eines Tages schlagartig reich zu sein, glücklich macht. Für eine optimale Risikoverteilung muss irgendwie durch das System das Wissen darüber kommuniziert werden, wer eher willig und wer eher widerwillig die verschiedenen Risikoniveaus zu tragen bereit ist, die mit der Durchführung der verschiedenen Wirtschaftsaktivitäten (und sonstigen Aktivitäten) verbunden sind. Diese Art des Wissens ist viel zu spezifisch und unbeständig, um sich auf eine Wissenschaft reduzieren zu lassen oder von „Experten“ gemeistert zu werden. Was den individuellen Grad der Risikoaversion angeht, so ist jeder Experte in eigener Sache und weiß jeder grob, wieviel er für die Saure-Gurken-Zeit beiseitelegen und sein Erspartes auf Taschengeld, Sparkonten, Rentenpläne, risikoarme Anleihen, Ölspekulationen oder künftige Anschaffungen verteilen will. (Für die meisten Menschen ist der Betrag Null genau das, was sie für die letzten beiden Posten riskieren wollen.) Andererseits gibt es auf dem Markt zahllose Personen, die über die besonderen Techniken zur Herstellung spezifischer Dinge gut informiert sind – Menschen, die sehr genau wissen, wie riskant bestimmte Unternehmungen sind und welche Gewinne man normalerweise erwarten kann. Anders gesagt, sie wissen, wieviel sie für die Nutzung der Ressourcen, die zur Durchführung ihrer ökonomischen Aktivitäten nötig sind, anlegen können. Sie versuchen, so wenig wie möglich zu zahlen, so wie jeder Kreditgeber oder Investor versucht, so viel wie möglich zu kriegen. Aber jeder von ihnen weiß, wie weit er in eine bestimmte Richtung zu gehen bereit ist. Jeder ist Experte in eigener Sache, egal, wie wenig er die Lage des anderen kennt, und das Feilschen um einen Handel – entweder direkt oder durch intermediäre Institutionen wie Banken, Versicherungsgesellschaften oder Investmentfonds – ist hauptsächlich eine Kommunikation gesellschaftlichen Wissens, dessen einzelnen Fragmente jeweils vom Individuum ausgehen, das am besten über den winzigen Teil des Ganzen Bescheid weiß, der ihn betrifft. Perfekt ist dieses Wissen nie und kann es auch nie sein, egal, welche Art politischer und ökonomischer Institutionen im Lande vorherrscht. Dieser Prozess führt

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zu einer Auslese jener Aktivitäten, die das geringste Risiko bergen. Sie werden (zu den geringsten Kosten) von jenen finanziert, deren Risikobereitschaft am kleinsten und deren Bereitschaft, die großen Geschäfte denen zu überlassen, die das Glücksspiel lieben, am größten ist. Dazu braucht es keine direkten individuellen Investitionen in besondere Wirtschaftsprojekte, und normalerweise ist das auch nicht der Fall. Ankommende Gelder (Spareinlagen, Versicherungsprämien usw.) werden von intermediären Instituten gesammelt und das Gesamtrisiko weiter reduziert, indem sie auf Investitionen in viele, relativ sichere Unternehmungen verteilt werden, die für den Gebrauch des Geldes, mit dem sie die notwendigen Ressourcen erwerben, nicht sehr viel zahlen. Obwohl die Transaktionen normalerwiese zwischen unpersönlichen Organisationen ablaufen, ist es doch die sehr persönliche Aversion gegen Risiken, die den Kontrollfaktor bildet. Eine Bank kann nicht den Rentenscheck eines Kunden abweisen, weil sie aufgrund riskanter Investitionen, die sich nicht auszahlten, nur noch „unzureichende Rücklagen“ hat. Eine Versicherungsgesellschaft kann nicht die Kostenübernahme für die Operation oder Beerdigung des Policeinhabers verweigern, weil die Ölbohrungen, die sie finanziert hat, kein Öl sprudeln ließen. Käme es bei solchen Instituten zu derlei Ergebnissen – unter der Schirmherrschaft risikoaverser Menschen –, würde dies deren unmittelbaren Untergang bedeuten, und wahrscheinlich auch eine Ermittlung gegen die Geschäftsleitung wegen krimineller Machenschaften. Andererseits würde nichts annähernd so Fatales eintreten, wenn eine Kapitalgesellschaft die Dividendenauszahlung an ihre Anteilseigner reduzieren oder aussetzen sollte. Das Risiko, das letztere tragen, sehen diese allesamt als Teil des Grundes an, warum sie überhaupt Dividenden bekommen. Und für Menschen, die in fragwürdige Ölbohrgeschäfte investieren, ist die Wahrscheinlichkeit, überhaupt etwas zu einem bestimmten Datum zu bekommen, eher gering. Bestenfalls besteht die Hoffnung, dass ab und zu ein Riesengewinn zu machen ist. Kurz gesagt, obgleich all diese Finanzorganisationen keinerlei Gefühle haben, ist ihr Verhalten durch die unterschiedlichen Gefühle jener beschränkt, die für ihre Investitionsfonds sorgen. Kein Individuum, weder allein noch mit anderen Individuen zusammen, kann all die komplexen technischen Informationen der Produktionsprozesse und Nuancen der persönlichen Gefühlslagen im Kopf haben, wenn es darum geht, Millionen von Investitionsressourcen und Investitionsnutzern zusammenzubringen. Selbst die effizientesten und eindrucksvollsten unter den Banken, Aktiengesellschaften und Behörden haben hier nur an der Oberfläche gekratzt. Das astronomisch große Wissen innerhalb des Systems wird in Form von Fragmenten sortiert und ko­ordiniert, und zwar durch einen einfachen Prozess, in dem jeder Unterhändler den aus seiner subjektiven Sicht besten Handel sucht, ohne notwendigerweise (oder gar normalerweise) zu wissen, warum unter all den Millionen der sonstigen im Markt denkbaren Möglichkeiten der Handel, der ihm am meisten zupass kommt, derjenige ist, der zustande kommt. Obgleich man Risiken leicht verstehen kann, wenn man sie im Zusammenhang mit den formalen Organisationen und Transaktionen sieht, die mit Risiken handeln,

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reicht ihre Wirksamkeit doch weit über derlei Situationen hinaus. Jeder, der ein Automobil kauft, weiß (oder bemerkt), dass er nicht wirklich ein Transportmittel kauft, sondern nur eine für bestimmte Gelegenheiten geltende Wahrscheinlich­ keit eines Transports. Wenn er sein Fahrzeug lange genug behält, wird es Situationen geben, in denen er laufen, den Bus nehmen oder die Mitfahrgelegenheit eines Freundes wahrnehmen muss. Er mag dies absichtlich als Investition tun und sein Auto dem Händler zur regelmäßigen Inspektion überlassen. Er kann diese Investition aber auch zugunsten gegenwärtiger Vorteile sein lassen, seinen Wagen ohne Wartungspausen nutzen und später, wenn dieser wegen mangelnder Wartung plötzlich stehen bleibt, unfreiwillig zu Fuß gehen, den Bus nehmen usw. Autos, die hinsichtlich Fahrkomfort, Fahrverhalten oder ästhetischer Überlegungen gleichauf liegen, haben recht unterschiedliche Wiederverkaufswerte, wenn sie mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit regelmäßig gewartet wurden – soll heißen, wenn sie unterschiedlich oft Pannen hatten bzw. Wartung erfuhren. Die Unterschiede können zwischen den Marken auftreten oder zwischen den Baujahren des Modells. In beiden Fällen müssen die Preisdifferenzen nicht Transportdifferenzen widerspiegeln, sondern können auch einfach nur ein Spiegel der Risikounterschiede sein. Ähnlich wie bei anderen Risiken auch, können ungeachtet der objektiven Wahrscheinlichkeiten die Kosten der Risiken je nach individueller Situation und subjektiver Präferenzen sehr unterschiedlich ausfallen. Für einen Automechaniker oder jemanden, der mit Werkzeug gut umgehen kann, mag der günstige Preis des Wagens die besonderen Probleme mehr als kompensieren, während ein Herz­chirurg, der nichts von Motoren versteht, in einem Auto, das nicht startet, ein Problem sehen mag, das er nicht hinnehmen kann, wenn er sich beeilen muss, um jemanden auf der Intensivstation zu behandeln. Der Umstand, dass Kosten mit Blick auf individuelles Wissen und Präferenzen stark variieren können, bietet eine Gelegenheit für Menschen, die sich auf das Tragen bestimmter Risikoarten spezialisieren. Ein Bauer mag ein beträchtliches Wissen über den Anbau einer bestimmten Getreidesorte haben, aber wenig Kenntnis von den ökonomischen Daten und komplexen Prinzipien, die dafür ursächlich sind, dass der voraussichtliche Preis, den er für seine Ernte erwarten kann, von der Ertragsmenge und Anbauzeit abhängt. Ein anderer, der sich dem Studium der ökonomischen Fakten und Grundsätze gewidmet hat, mag viel enger gesetzte Erwartungen des künftigen Getreidepreises haben, selbst wenn er nicht einmal dann eigenes Getreide anbauen könnte, wenn sein Leben davon abhinge. Jeder der beiden könnte das Wissen, das der andere besitzt, direkt erwerben, indem er die Zeit investierte, die er zum einen für das Verständnis für die Theorie und zum anderen für die praktische Erfahrung ihrer Anwendung bräuchte. Alternativ dazu mag es für sie weniger kostspielig sein, wenn sie auf Grundlage ihres jeweiligen Wissens miteinander Geschäfte machen. Der Bauer kann sein Risiko reduzieren, riskiert dabei aber, sein Getreide während der Saatzeit zu einem Preis zu verkaufen, der unter dem Durchschnittspreis liegt, den er für die Ernte erwarten kann. Wenn er glaubt, der Stückpreis für seinen Ertrag würde zwischen 60 Cents und einem

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Dollar liegen, dann dürfte er 80 Cents pro Stück für den besten Schätzwert halten und 78 Cents als garantierten Vorabpreis akzeptieren – im Endeffekt würde er jemandem zwei Cents pro Stück für die Abnahme des Risikos zahlen. Der Käufer mag dies entweder akzeptieren, weil er eine optimistischere Einschätzung als der Bauer oder Gründe bzw. stärkere Nerven hat, die ihn mehr Vertrauen in dieselbe Einschätzung setzen lassen. Der Kauf zum garantierten Preis und der Verkauf zu jedwedem Preis, den man später am Markt erzielen mag, ist eine Form, den Differenzbetrag als Gewinn einzustreichen. Dieser Anspruch auf den Rest kann eine positive oder negative Summe betreffen, wie viele Spekulanten aus Erfahrung wissen. Auch Menschen, die keine reinen Spekulanten sind, können sich nichtsdestotrotz im Rahmen ihrer normalen Aktivitäten an wirtschaftlichen Spekulationen beteiligen. Der Bauer, der im Frühling ohne garantierten Preis für seine Ernte sät, arbeitet als Spekulant und Bauer, auch wenn er nicht in diesem Sinne darüber nachdenkt. Ein Student, der sich für das Studium eines bestimmten Fachs entscheidet, spekuliert auch auf den Status, den sein späterer Beruf haben wird, sowie darauf, welche Werte er in der Zukunft haben wird, weil eine Änderung seiner Werte ihn auch dann unzufrieden stimmen kann, wenn der Beruf genau so sein wird, wie er vorhersah. Die vielleicht größte Spekulation von allen ist die, wenn man ein Kind zur Welt bringt. Wird es der Stolz und die Freude meines Lebens sein oder Unheil und Zerstörung über alles Glück bringen, das mir andere Quellen verheißen.

Residualansprüche Das typische Wirtschaftsunternehmen kauft oder mietet seine Inputgrößen zu einem fixen Preis und verkauft den resultierenden Ertrag zu jedwedem Marktpreis, wobei es den Residualanspruch, den man etwas ungenau „Profit“ nennt und der sich oft als Verlust herausstellt, einbehält. Strenge Ökonomen verweisen darauf, dass vor allem in kleinen inhabergeführten Unternehmen viel von dem, was der Konvention entsprechend „Profit“ heißt, nicht mehr ist als ein Lohn, der unterschiedlich ausfallen kann. Selbst inhabergeführte Betriebe – und die Zahl der Bankrotte ist hoch – zahlen unter dem Namen „Profit“ selten mehr, als der Eigentümer erhielte, wenn er für einen anderen arbeitete, der ihn unter dem Namen „Lohn“ bezahlte. Um zu ermitteln, was der Unternehmer selbst einnimmt, müsste man den Lohn für die Arbeit des Unternehmers und den Zins, den er anderweitig für das in sein Unternehmen gestecktes Geld erzielte, abziehen. Gemäß dem Standard der Ökonomen machen viele erfolgreiche kleine Betriebe überhaupt keinen Profit. In vielen Fällen ist der Residualanspruch nach allen Abzügen negativ und zahlt der Eigentümerunternehmer letztlich für das Privileg, sein eigener Chef zu sein. In großen Aktiengesellschaften erhalten die leitenden Angestellten tatsächlich Gehälter, die auch so genannt werden, während die Aktionäre Anspruch auf den verbleibenden Rest erheben. Wenn der verbleibende Rest positiv ausfällt, kriegen

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auch die Steuereintreiber ihren Teil; tut er es nicht, dann nicht. („Gewinne, und der Staat gewinnt mit Dir; verliere, und Du verlierst allein.“) Freunde und Kritiker des privaten Unternehmertums sprechen gern von „profitmachenden“ Unternehmen. Aber dies ist ein Fehlschluss. Man definiert einen Prozess anhand der erhofften Ergebnisse und nicht mittels der tatsächlichen Merkmale. Derselbe Fehlschluss liegt vor, wenn von der „Abkühlungsphase“ arbeitsrechtlicher Verfügungen, „öffentliches Interesse“ wahrenden Rechtskanzleien, „Sensitivitätstraining“ und „integrativer Qualitätsausbildung“ die Rede ist. Was den wirtschaftlichen Prozess ausmacht, ist die Entlohnung einiger Personen zu bestimmten Sätzen (Angestellte, leitende Angestellte und Inhaber) und die Auszahlung der Residualansprüche an andere Personen (Anteilseigner und gelegentlich auch Steuereintreiber). Im Nachhinein betrachtet bedeutet die jeweilige Bezahlmethode wenig. Ein bestimmter Fixbetrag kann auch immer die Gestalt eines variablen Betrags annehmen, der mit einem angemessenen Diskont oder einer passenden Prämie für Zeit und / oder Risiko versehen ist. Man kann sogar die Bezahlmethoden mischen, indem man die Angestellten am Gewinn beteiligt, die leitenden Kräfte teilweise in Aktien bezahlt oder die Investoren eine Mischung aus Aktien und Anleihen halten lässt. Nur wenn man die Sache prospektiv betrachtet, hat die Zahlungsart gesellschaftlich bedeutsame Effekte. Residualansprüche setzen andere Verhaltensmuster in Gang als fixe Ansprüche. Wem immer ein Rechtsanspruch am verbleibenden Rest zusteht, hat einen Anreiz, den Rest  – die Differenz zwischen Produktionskosten und Konsumentenwert  – so groß wie möglich zu gestalten. Aus Sicht der Gesellschaft ist es wichtig, dass der Anspruchsteller einen Anreiz hat, das von den Konsumenten Gewünschte so bereitzustellen, dass es geringstmöglich zu Lasten der Inputs geht, die für Dinge gebraucht werden, die andere Konsumenten wünschen. Für den, der Anspruch auf den Rest stellt, ist diese soziale Konsequenz seines Verhaltens bestenfalls von zweitrangiger Bedeutung. Aber aus Sicht der Ökonomie als Ganzer ist dieses Verhaltensmuster, das dem Versuch erwächst, den Rest zu maximieren, entscheidend und die Frage, ob der reklamierte Rest nun wirklich groß oder klein bzw. positiv oder gar negativ ist, nur zweitrangig. Die Rolle der Methode, nach der Residualansprüche ausbezahlt werden, ist vor allem dort sehr wichtig, wo vielerlei Inputs und zahlreiche Personen im Spiel und die Überwachungskosten der Einzelleistungen entsprechend hoch sind. Es ist immer möglich, Menschen einzustellen, die auf andere aufpassen. Aber wie gewissenhaft sie achtgeben und berichten werden, ist genauso ein Problem wie das Verhalten, das eigentlich beaufsichtigt werden soll. Mehr Aufsichtspersonal einzustellen, um die Aufseher der ersten Gruppe zu kontrollieren, hebt das eigentliche Problem nur auf eine höhere Ebene, ist aber keine Lösung. Die Anspruchsberechtigten können zwar nicht den Prozess beaufsichtigen, wohl aber die Ergebnisse. Sie wissen, ob die Restforderungen einer Organisation größer oder kleiner als die einer anderen sind – und dies bietet jeder Organisation einen Anreiz, die Leistungen im eigenen Hause so zu beaufsichtigen, dass die Kosten niedrig und folglich

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die verbleibenden Gewinne groß sind. Wie sie dieses Ergebnis erzielen, schert den Anspruchsberechtigten wenig. Im Sinne einer etwas weiter gefassten gesellschaftlichen Perspektive heißt das, dass der Bedarf an Wissen im System minimiert ist, weil die letztendlichen Beobachter die Ergebnisse wirksam kontrollieren können, ohne die spezifischen Techniken oder Gewissenhaftigkeit derer kennen zu müssen, die für die Ergebnisse zuständig sind. Die Methode zur Auszahlung der Residualansprüche schafft eine Reihe von Beobachtern, die selbst nicht beobachtet werden müssen, weil es in ihrem eigenen Interesse liegt, dass die Residualansprüche ihr Maximum erreichen. Wenn die Unternehmensleitung gute Arbeit leistet, aber besser sein könnte, dann müssen die Anspruchsberechtigten dies noch nicht einmal wissen, damit etwas passiert. Wenn eine alternative Geschäftsführung es weiß, dann sind die künftigen Residualansprüche unter ihr größer als die bestehenden unter der jetzigen Geschäftsleitung. Die alternative Geschäftsführung kann es sich leisten, den jetzigen Residualbeanspruchern mehr zu zahlen, als ihre Ansprüche unter den gegenwärtigen Konditionen wert sind. So erkaufen sie die Kontrolle über die Firma, verbessern deren Effizienz und vergrößern die künftigen Residualansprüche. Mit anderen Worten, eine Gesellschaft „übernimmt“ eine andere, indem sie die Anteile der weniger effizienten Firma zu Preisen aufkauft, die für die Anteilseigner deshalb über dem aktuellen Wert liegen, weil die effizientere Geschäftsführung mit derselben Fabrik, Ausstattung und Belegschaft mehr verdienen kann. Durch den Bieterwettbewerb zur Sicherung der Aktienmehrheit wird das Wissen derer, die es haben – alternative Geschäftsleitungen –, effizient angewendet. Die eigentlichen Eigentümer müssen noch nicht einmal die Sachkunde haben, die sie erkennen ließe, dass die ursprünglich zuständige Geschäftsleitung nicht das meiste aus den Ressourcen der Firma herausgeholt hat. Betrachtet man dies vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Effizienz, dann kann man sagen, dass die Firmen nicht nur von den existierenden Residualbeanspruchern, sondern auch von den künftigen Anspruchstellern kontrolliert werden – wobei jeder aus Eigeninteresse handelt, was den Bedarf an zusätzlichen (und unendlichen) Aufsichtsebenen aus der Welt schafft. Im Nachhinein betrachtet ist der Anteil der Residualansprüche am Volkseinkommen nicht sehr hoch (ungefähr 10 %). Auch als Kapitalrendite sind die Residualansprüche nicht sehr bedeutend (ungefähr 10 % per annum). Ihr prozentualer Anteil am Ladenpreis kann sehr geringfügig ausfallen. Supermärkte machen im Schnitt einen Cent Profit an jedem Dollar, den ihre Waren wert sind. Es ist allein der enorme Umsatz, den sie jeden Tag machen, der aus den Kleckerbeträgen am Ende ein profitables Geschäft macht. Dass die Residualansprüche einen enormen Einfluss auf die Wirtschaft nehmen, liegt nicht an der Summe, die sie retrospektiv gesehen bilden, sondern am prospektiven Anreiz, den sie bilden und der das Verhalten und die Effizienz der Produktion so ungemein beeinflusst. Wenn man den Berechtigten der Residualansprüche im Voraus dieselben Summen zahlte, die sie später bekommen, dann würde das ganze Wirtschaftssystem anders funktionie-

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ren. Wenn im Endeffekt jeder im Wirtschaftssystem ein garantiertes Einkommen hätte, dann wären die Kontrollprobleme massiv.

Der physikalische Fehlschluss Nach unseren bisherigen Überlegungen dürfte es offensichtlich sein, dass ein bestimmtes physikalisches Objekt einen Wert hat, der nach Zeit und Ort seines Aufenthalts und den damit einhergehenden Risiken sehr stark variieren kann. Andernfalls würden Menschen wohl kaum Kosten und Mühen darauf verwenden, Dinge zu transportieren, versichern oder auf zinsbelastetem Kredit zu kaufen. Es würde auch nie einen Austausch von Gütern (gegen andere Güter oder Geld) geben, wenn nicht dieselben Dinge für unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Wert hätten. Dennoch hat die gegenteilige Auffassung – dass jedes physikalische Objekt einen bestimmten Wert an sich habe – tiefe Spuren in der Geschichte der Menschheit hinterlassen. In den letzten Jahrhunderten hat der Glaube an den unveränderlichen Wert physikalischer Objekte höchst unterschiedliche Konsequenzen ausgelöst – man kann diesen Glauben auch als „physikalischen Fehlschluss“ charakterisieren. Im Mittelalter führte der physikalische Fehlschluss zu der Doktrin, dass ein Objekt einen „gerechten Preis“ habe, der auf den objektiven Kosten beruhe, die vom Produzenten und nicht von der subjektiven Wertschätzung des Konsumenten herrührten. Jeder andere Preis wurde moralisch als Sünde abgetan, die vom Gesetz untersagt sein sollte.23 Ein Sonderfall des „gerechten Preises“ war das mittelalterliche Verbot der Wucherzinsen, das auch aus der modernen Welt nicht vollständig verschwunden ist. Weil die geborgte und erstattete Geldsumme „dieselbe“ war, sah man in Forderung nach Zahlung einer zusätzlichen Summe (Zinsen) Betrug. Die ganze Transaktion geschah aber genau deshalb, weil dieselbe Geldsumme eben nicht denselben Wert zu allen Zeiten hatte. Ein Kreditnehmer, der genug sparen kann, um ein Darlehen zu einer bestimmten Zeit zurückzuzahlen, kann auch stattdessen bis zu diesem Zeitpunkt warten und seine Ersparnisse dann für den Zweck einsetzen, für den er das Darlehen verwendet hat. Dass er es vorzog, das Darlehen direkt zu haben – soll heißen, das Geld lieber jetzt haben, statt die gleiche Summe später – war die Pointe der Kreditaufnahme. Sowohl die Doktrin vom „gerechten Preis“ als auch das Verbot von Wucherzinsen verweigern die Anerkennung von Wertdifferenzen, die allein Raum und Zeit geschuldet sind. Beide zählen zu den frühesten und beständigsten Ausprägungen des physikalischen Fehlschlusses. Ein Ökonom, der im 2. Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft geriet, entdeckte, dass im Gefangenenlager viele Merkmale einer Marktwirtschaft spontan aufkamen, auch in Abwesenheit etablierter Institutionen, von denen eine Marktwirt-

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Aquinas (1951), S. 53–64.

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schaft angeblich abhängt.24 Unter den Gefangenen, die identische Rationen und Rot-Kreuz-Päckchen bekamen, entstand ein blühender Handel. Er zeigte, dass (1) zu einem gegebenen Zeitpunkt dieselben Dinge für verschiedene Menschen unterschiedliche Werte haben und dass (2) dieselben Dinge dann, wenn sie in der Zeit vor und zurück bewegt wurden, unterschiedliche Werte besaßen. Das war so, weil jene Gefangenen, die einige Sachen bis zum Ende der Rationsperiode aufsparten, anderen mit dem aushelfen konnten, von dem sie nichts mehr hatten. Zurück bekamen sie dann größere Mengen von diesen Dingen, sobald die neuen Rationen und Rot-Kreuz-Päckchen ankamen. Von gesellschaftlicher Bedeutung ist hierbei vor allem, dass man jene Gefangenen, die diese Dienste leisteten, weithin in Anspruch nahm, aber auch tief verachtete. Der physikalische Fehlschluss trat genauso spontan ein wie die Transaktionen, die seine Falschheit belegten. Ob nun in der mittelalterlichen Gesellschaft, im Kriegsgefangenenlager oder in einer modernen Marktwirtschaft: der „Zwischenhändler“ verändert hauptsächlich den Ort, den Dinge in Zeit und Raum einnehmen können. Wenn man von einem physikalischen Objekt behauptet, es behalte unabhängig von Raum und Zeit seinen Wert, dann muss man den Zwischenhändler eigentlich für einen Betrüger halten. Ungeklärt bleibt dann aber, wie eine solche Situation auf Zeit und trotz wiederholter Transaktionen bestehen kann. Wenn A an B verkauft, der an C weiterverkauft und ihn dabei betrügt, dann wäre es sowohl für A als auch für C profitabler, direkt zu tauschen – wobei A etwas mehr verlangen könnte, als er B abverlangt, und C etwas weniger bezahlte, als er normalerweise an B entrichtet. Warum sollten beide weiterhin über einen Zwischenhändler miteinander verhandeln? Offensichtlich würden sie das nicht tun. In Wirklichkeit verhandeln sie über den Zwischenhändler, weil er den Wert der Dinge durch Relokation verändert, für passendere Zeiten aufbewahrt, Risiken durch Vorratsanlegung begegnet – und all das zu geringeren Kosten, als es Produzent oder Konsument könnte. Anderenfalls würde entweder der Produzent wie der Einzelhandel verkaufen oder der Konsument im Großen einkaufen und somit jeder den Dienst des Zwischenhändlers selbst leisten. Aber angesichts der hochfragmentierten Natur des Wissens beherrschen jene, die mit den Komplexitäten des Produktionsprozesses gut klarkommen, selten die verschiedenen Komplexitäten der Bestandsverwaltung und zahlreicher anderer Dienstleistungen, die von Zwischenhändlern erbracht werden, und zwar im Relokationsprozess der Dinge in Zeit und Raum. Normalerweise fehlen dem Konsumenten sowohl das Wissen wie die Skaleneffekte, die man für niedrige Kosten der Vorratshaltung braucht. Wenn man all seine Konsumgüter in Großpackungen zuhause vorhalten will, dann braucht man ein größeres Haus, aber die höheren Kosten für ein größeres Haus werden in den wenigsten Fällen durch die „Ersparnisse“ gedeckt, die der Großeinkauf bringt. Anders gesagt, Vorratsräume in der Nachbarschaft zu erstehen, ist fast immer teurer als der Kauf von Vorratsraum in der Speicherstadt. Kurz und 24

Radford (1945).

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gut, Zwischenhändler können nur insofern weiter existieren, als sie bestimmte Leistungen billiger als der Produzent oder Konsument erbringen können. So vari­ antenreich und komplex diese Aufgaben auch sein mögen, sie gipfeln letztlich in der Relokation der Dinge in Zeit und Raum. Und der physikalische Fehlschluss, der den Wert dieses Vorgangs bestreitet, bezichtigt die Zwischenhändler erzwungenermaßen der Betrügerei. Der historische Antisemitismus in Europa ist nicht zu einem kleinen Teil auf die Rolle der Juden als Zwischenhändler zurückzuführen (und Entsprechendes gilt für die antichinesischen Ressentiments in vielen asiatischen Ländern). Juden war der Zugang zu vielen Berufen der Warenproduktion per Gesetz – also gewaltsam – versperrt. Sie konnten in Europa nur überleben, indem sie Vermittlungsdienste übernahmen, die nicht unter den weitreichenden Bann gegen sie fielen. Sie wurden Mittelsmänner zur Verschiebung von Gütern und Geld in Raum und Zeit – Zeit deshalb, weil das moralische Verbot der katholischen Kirche gegen die Zinserhebung nicht für sie galt. Das buchstäblich universelle Missfallen und das Misstrauen, das den Zwischenhändlern galt, richteten sich nun gegen eine ethnisch identifizierbare Gruppe von Menschen, die durch Religion und Gebräuche vom Rest der Bevölkerung separiert war und daher eine perfekte Zielscheibe bot. Parallel zum wirtschaftlichen Erfolg und zur politischen Angreifbarkeit der Juden, die es jahrhundertelang gab, machte die Minderheit der chinesischen Zwischenhändler in ganz Asien Ähnliches durch. In beiden Fällen kam es über die allgemeine Diskriminierung hinaus stellenweise immer wieder zu Konfiszierungen, Massenvertreibungen und Massenausschreitungen. Die Geschichte beider Gruppen (sowie die anderer Mittelsmännerminderheiten in anderen Teilen der Welt) hat auch Auswirkungen auf die politische Anfälligkeit von Marktwirtschaften im Allgemeinen. Die vielleicht größte Errungenschaft der Marktwirtschaft liegt im haushälterischen Umgang mit der Menge an Wissen, die zur Produktion eines bestimmten wirtschaftlichen Ergebnisses gebraucht wird. Sie ist aber auch deren größte politische Angriffsfläche. Die Öffentlichkeit kommt in den Genuss der wirtschaftlichen Leistungen eines solchen Systems, indem sie deren Ergebnisse auch ohne Kenntnis des Prozesses bewertet. Aber beim politischen Handeln muss die Öffentlichkeit nun mal Prozesse beurteilen – auch Wirtschaftsprozesse, die sie womöglich nicht versteht oder falsch informiert beurteilt. Missverständnisse in der Öffentlichkeit können aber nicht nur zur Verwechslung von wirtschaftlichem Nutzen mit wirtschaftlichem Schaden führen, sondern auch direkt zu Schäden, die einer Politik entspringen, die der „Korrektur“ gemutmaßter Probleme dient. Hat der Prozess erst einmal begonnen, dann ruft jedes empfundene Problem – egal, ob es echt ist und woher es kommt – nach einer politischen Lösung. Und diese „Lösungen“ schaffen leicht ein nie enden wollendes Angebot an neuen Problemen, die der „Lösung“ harren. Lenin sagte einmal, dass „Antisemitismus der Sozialismus für die Blöden“ sei. Mit anderen Worten: Man greift sich die Juden für eine Kritik heraus, die auf

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Argu­menten gründet, die man logischerweise eher zur allgemeinen Anschuldigung gegen die gesamte kapitalistische Wirtschaftsweise nutzen sollte. Um dieses Argument geht es auch hier – gemeint ist, dass beide auf der Grundlage des physikalischen Fehlschlusses kritisiert wurden. Neben dem Marxismus oder Sozialismus im Allgemeinen gibt es noch eine Fülle von anderen revolutionären oder reformerischen Bewegungen, denen der Glaube innewohnt, dass jene, welche die physikalischen Objekte direkt mit der Hand bearbeiten, die „wirklichen“ Produzenten des wirtschaftlichen Nutzens seien. Sogar Adam Smith sagte gelegentlich derlei Dinge,25 auch wenn es sich mit dem Rest seiner Botschaft nicht vertrug. Der naturalistische Fehlschluss hat einen alten und weitverzweigten Stammbaum. Da der Mensch physische Materie nun mal nicht schafft, sind logischerweise jene, die materielle Objekte behandeln, keine Produzenten. Ökonomischer Nutzen ergibt sich, wenn Gestalt, Ort und Verfügbarkeit von Materie (geistig, temporär) verändert werden. Es sind diese Transformationen, die den ökonomischen Vorteil schaffen, der von den Konsumenten geschätzt wird. Wer immer solche Transformationen arrangiert, trägt zum Wert der Dinge bei, ob er diese nun direkt in die Hand nimmt oder nicht. Der physikalische Fehlschluss hat auch im Hinblick auf die Zeit einige blinde Flecken. Dem Produktionsprozess wird willkürlich unterstellt, erst ab einem gewissen Punkt, nachdem bereits einige Vorbedingungen gegeben sind, begonnen zu haben, und man meint nur von solchen Personen, die ab diesem Punkt aktiv einbezogen waren, dass sie überhaupt (oder „tatsächlich“) an der Verursachung des vom Konsumenten gewünschten Ergebnisses beteiligt gewesen seien. Wer früher beteiligt war, vor dem willkürlich gesetzten Anfang, mit dem man die Geschichte beginnen lässt, steht am Ende als Empfänger unverdienter Erträge dar – so, als wäre er zum ersten Mal dabei. Einmal abgesehen von den ethischen Fragen, die eine derartige Darstellung aufwirft, zeichnet sie gedanklich ein lineares Bild von einem Vorgang, der kreisförmig ist. Der Kreis schließt sich erst, wenn jemand die Konsumentenwünsche bezüglich physikalischer Eigenschaften und zeitlicher wie örtlicher Verfügbarkeit sicherstellen kann; jemand mit der Fähigkeit, die personellen und sonstigen Ressourcen, die man zur Herstellung der gewünschten Kombinationen materieller und zeitlicher Ergebnisse braucht, zusammenzustellen. Zunächst muss der Hersteller seine Konsumenten und seine Kosten bezüglich Risiken und Zeitpräferenzen für die Zukunft einschätzen, und zwar subjektiv und nicht greifbar. Erst dann kann der mechanische Teil des physikalischen Prozesses beginnen. Hat sich der Kreis einmal ganz geschlossen, dann kann er fortgesetzt und wiederholt werden, allerdings nur, wenn die Konsumenten die Endergebnisse jeweils als hinreichend gut bewerten und sich somit im Nachhinein zeigt, dass die Kosten gedeckt sind, die auf Grundlage der Zukunftseinschätzungen getroffen wurden. Es ist ein Wissensprozess, der auf Ein 25

Smith (1939), S. lvii, 79.

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schätzungen und Rückmeldungen beruht. Der physikalische Prozess ist nur eine zwischenzeitliche Folge dieser nicht greifbaren Einschätzungen und kann nur insofern weiterlaufen, als die Einschätzungen der einen anschließend von den subjektiven Beurteilungen der anderen bestätigt werden. Die riskante Natur dieses Vorgangs belegen nicht nur die vielen alljährlichen Geschäftsbankrotte, sondern auch die Tatsache, dass sogar riesige Erfolgsunternehmen wie Chrysler oder U. S. Steel in manchen Jahren Millionen USD Verlust gemacht haben. Aber diese Risiken gibt es nun mal dort, wo einige für andere produzieren, und nicht das Werkzeug einer Gruppe von Institutionen sind. Man mag in anderen Wirtschaftssystemen derlei Kosten auf die eine oder andere Art beilegen oder verschweigen, aber die Kosten und Risiken, die sie bergen, verschwinden davon nicht. Vieles aus dem marxistischen Malkasten (und dem verwandter Ideologien) orientiert sich bezeichnenderweise an der nachträglichen Analyse überlebender und erfolgreicher Unternehmen. Im Rahmen dieses Ansatzes löst sich der ganze Marktprozess – Risiken, Einschätzungen, Konsumentenbestätigung usw. – in Luft auf. Die Analyse konzentriert sich auf ausgewählte Resultate, in denen die Überlebenden zur Veranschaulichung der Theorie dienen. Firmen können aber nur überleben, wenn die Preise kostendeckend sind. Das Bild, das nur Überlebende kennt, tut deshalb so, als ob das Schweben der Preise über den Kosten irgendwie axiomatisch wäre und der Abstand zwischen ihnen einen Profit enthielte, der von denen abgeschöpft würde, die einen Rechtsanspruch auf ihn hätten – und dieser eigenmächtige Anspruch der wirtschaftliche Grund und institutionelle Mechanismus ihrer Einnahmen wäre. Wenn man allein von der Erfahrung der erfolgreichen Überlebenden auf die ganze Gruppe schließt, dann lässt man den wichtigen Punkt des Prozesses, in den die Gruppe als Ganzes eingebunden ist, außer Acht. Mit einem solchen Ansatz könnte man z. B. auch zeigen, dass niemand im 2. Weltkrieg umgekommen ist. Plausibel scheint diese Vorstellung von Marktwirtschaft, sofern man sie empi­ risch und weniger theoretisch einsetzt, nur für vereinzelte kurze Momente der Geschichte zu sein. Die großen Erfolge einer Generation geraten in der Folge­ generationen schnell in Vergessenheit – wie das Life Magazin belegt, waren sowohl Graflex als auch W. T. Grant einst führende Branchenriesen. Das Verschwinden dieser einst führenden Unternehmen während der letzten Generation ist Teil einer langen Geschichte solchen Dahingehens. Es gibt kaum ein industrielles Spitzenunternehmen aus der Zeit vor 100 Jahren, das heute noch unter uns weilte. Ihr Verschwinden lässt sich leicht erklären, wenn man das Bild vom riskanten Prozess aus Einschätzung und anschließender Bestätigung wählt. Mithilfe des Bildes, in dem die Preise, die auf mysteriöse Weise und zum Wohle der „Kapitalisten“ über den Kosten schweben, lässt es sich nur schwer erklären. Zu Beginn der Karriere von Walt Disney gab es eine Phase, die den physikalischen Fehlschluss recht aufschlussreich veranschaulicht, und zwar im Kleinen und auf einer eher menschlichen Ebene. In den 20er Jahren trat Disney erstmals als

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Karikaturist in Erscheinung. Angespornt von ersten Erfolgen, fand er ein Studio und stellte andere Künstler ein, um all die Tausenden Bilder zu zeichnen, die für einen animierten Film nötig waren. Die Disney Studios waren vor allem mit einer frühen Cartoonfigur erfolgreich, die sich Oswald Rabbit nannte, deren Urheberrechte bei einem Filmverleih lagen, und nicht bei Disney. Der Verleih entschied sich, die Notwendigkeit, Disney zu bezahlen, abzuschaffen, warb dessen Karikaturisten ab und übernahm Herstellung und Vertrieb des Produkts selbst. Von der Warte des physikalischen Fehlschlusses aus gesehen war Disney überflüssig. Er zeichnete weder Karikaturen, noch fuhr er die Filme zu den Kinos oder zeigte sie der Öffentlichkeit. Das Personal von Disney und die Urheberrechte an der Disneyfigur an seiner Seite, hoffte der Verleih, von seinem Coup zu profitieren – aber ohne Disneys Ideen war die vorher wertvolle Figur plötzlich wertlos und an den Kinokassen kein Kassenmagnet mehr. Was sich bis dahin immer gut verkauft hatte, waren Disneys Ideen und Fantasien. Die physischen Dinge – die Zeichnungen, Filme, Kinos – waren nur Vehikel. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor sich ein anderes Sortiment an Vehikeln auf die Beine stellen ließ und die Ideen einer neuen Figur zugutekamen  – Mickey Maus  –, deren Urheberrechte diesmal auf Disneys Namen liefen.26 Viele Produkte, die zum modernen Lebensstandard beitragen, sind lediglich die physikalischen Umsetzungen von Ideen – nicht nur der Ideen eines Edison oder Ford, sondern auch der Ideen zahlloser Unbekannter, die Supermärkten ihre Gestalt geben, geeignete Plätze für Tankstellen auswählen und all die Millionen von Alltagsgegenständen ersinnen, von denen unser Wohlergehen abhängt. Was zählt, sind solche Ideen, und nicht der körperliche Akt, sie auszuführen. Eine Gesellschaft, die viele Menschen hat, die körperliche Akte verrichten können, aber nur wenige, die Ideen liefern, haben keinen hohen Lebensstandard. Ganz im Gegenteil! Aber der physikalische Fehlschluss besteht weiterhin, von dieser oder anderen Evidenzen ganz unbeeindruckt.

Optimalität Weil jedes Individuum seine eigene Präferenzkombination hat, gibt es nicht einen einheitlichen Wertestandard, nach dem man sagen könnte, dass ein Wirtschaftssystem einem anderen ganz und gar überlegen wäre oder früher besser bzw. schlechter dagestanden hätte als heute. Wie sollte ein Beobachter sagen können, ob mehr Ananas und weniger Bier besser ist als das Gegenteil, oder ob Wirtschaftswachstum nachlassende Beschäftigung ausgleicht? Dass es keinen absoluten Standard gibt, heißt aber nicht, dass es gar keinen Standard gäbe. Obwohl wir nicht alle individuellen Präferenzkombinationen auf eine Kombination reduzieren können, können wir uns doch eine Wirtschaftsordnung vorstellen, die optimal funktioniert, wenn die Befriedigung der verschiedenen Präferenzkombinationen ein Maß 26

Vgl. Finch (1974), S. 21–24.

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erreicht, ab dem man niemanden mehr (nach dessen Vorstellungen) besserstellen kann, ohne einen anderen (nach dessen Vorstellungen) schlechter zu stellen. Die Ökonomen nennen das „Paretooptimalität“, nach dem italienischen Ökonomen, der sie erdachte und ihre Implikationen untersuchte. Eine theoretisch perfekte Wirtschaftsordnung, in der unbegrenztes Wissen am Werk ist, keine externen Kosten oder Leistungen jenseits der Einheiten anfallen, die sie schufen, und es kein Monopol oder staatliche Interventionen gibt, würde im Rahmen der bestehenden technologischen Einschränkungen eine optimale Ressourcenallokation erzielen. Würden höhere technologische Ebenen erklommen, dann würden der Ertrag zunehmen und die Bedürfnisse stärker befriedigt, wobei jede Stufe technologischer Möglichkeiten ihre optimale Größe und Mischung für das Produktionsergebnis hätte. Die Existenz eines Marktes – d. h. die Möglichkeit unkontrollierten Austauschs nach Belieben der Transakteure – bedeutet, dass dann, wenn A sich besserstellen kann, indem er seine Kombination aus Gütern, Dienstleistungen, Freizeitbeschäftigungen, Vermögenswerten usw. ändert, ohne B, C oder D usw. schlechter zu stellen, er und die übrigen Parteien, die haben, was er will, zum gegenseitigen Vorteil untereinander tauschen können. Wenn A sich 2 Dollars besserstellen kann, ohne B schlechter zu stellen, dann kann er B für den Tausch belohnen, indem er ihm einen Extradollar anbietet und einen Dollar behält. Natürlich hat es eine derart ideale Wirtschaftsordnung nie gegeben, weder im Kapitalismus noch im Sozialismus, Feudalismus oder in irgendeinem anderen System. Die Vorstellung kann aber als Maßstab dienen, mit dessen Hilfe man (1) das Leistungsvermögen von Wirtschaftsordnungen untereinander vergleichen kann, sowie das jeder Ordnung zu verschiedenen Zeiten, und (2) die Gründe genau angeben kann, warum bestimmte Aktivitäten, Institutionen oder politische Maßnahmen zum theoretischen Optimum führen bzw. nicht führen. Wenn der Staat den einzelnen Akteuren bei der Auswahl ihrer präferierten Transaktionsklauseln Vorschriften macht, dann reduziert dies die Anzahl der gewünschten und ausgeführten Transaktionen. Wenn es für die Transaktionsklauseln verschiedene Sets gibt, die für A und B gleichermaßen akzeptabel sind, dann ist das Sortiment an Klauseln, das von A, B und C gleichermaßen hingenommen werden kann – wobei C der Staat ist – wahrscheinlich kleiner. Da der Staat sein eigenes Sortiment an Klauseln zu denen der Vertragsparteien gesellt, nimmt die Zahl der Verhandlungen, die in allseitiges Einverständnis münden, mit Sicherheit ab. Allerlei staatliche Preiskontrollen, Mindestlöhne, Zinsobergrenzen usw. reduzieren die Zahl der allseits gewünschten Transaktionen – und eben nur solche Transaktionen werden in einer freien Marktwirtschaft tatsächlich durchgeführt. Der Staat mag zwar in einem Mindestlohngesetz ein „Existenzminimum“ festlegen. Aber wenn der Arbeiter keinen Arbeitgeber findet, der ihm so viel zahlen will, dann wird er, trotz hypothetischen Rechts, ohne Arbeit bleiben. In ähnlicher Weise kann ein einzelnes Monopol oder eine geheime Absprache unter Käufern und Verkäufern, die gemeinsame Sache machen, Preise festsetzen,

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die vielen potentiellen Transakteuren nicht so genehm sind wie die Preise im freien Wettbewerb. Der eigentliche Schaden, den derlei monopolistische Konstruktionen anrichten, liegt nicht so sehr in der Festlegung eigener Transaktionsklauseln, sondern in der Möglichkeit, andere potenzielle Transakteure gewaltsam vom Wettbewerb und Anbieten vorteilhafterer Bedingungen auszuschließen. Ohne die Macht, andere auszugrenzen, hätten monopolistische Verhandlungsführer sehr schnell Konkurrenten, aber nicht mehr länger die Transaktionen, die sie zu ihrem Wohlergehen brauchen. Wirtschaftsunternehmen müssen in der Lage sein, Importe fernzuhalten, Konkurrenten den Marktzugang zu erschweren und Preissenkungen verbieten zu lassen. Gewerkschaften müssen in der Lage sein, „Streikbrecher“ zu blockieren, den Ausstoß von Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern zu boykottieren und potenzielle Rivalen im Teenageralter mit Kinderarbeitsregulierungen und Schulpflicht vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Es ist nicht die Festlegung der eigenen Transaktionsbedingungen – auf denen monopolistische Organisationen in einem uneingeschränkten Wettbewerb nicht beharren könnten  –, sondern die erzwungene Ausgrenzung der anderen, mit der monopolistische Verbände (Arbeitgeberwie Arbeitnehmerseite)  die Wirtschaft von ihrer optimalen Leistungsfähigkeit fernhalten. Konkurrenten gewaltsam ausgrenzen heißt, entweder von sich aus Gewalt an­ zudrohen (wie in manchen Arbeitskämpfen) oder den Staat mit Gewalt drohen lassen, indem dieser ein Gesetz verabschiedet oder eine Verfügung erlässt. Staatliche Verordnungen ohne Zwangsandrohung sind nichts als Vorschläge, und Vorschläge an sich, die nur „appellieren“, sind dafür berüchtigt, in der Wirtschaft nichts bewirken zu können. Obwohl es normalerwiese nicht wirklich zu Gewaltanwendung kommt, nimmt dieser Umstand doch nichts von der entscheidenden Bedeutung weg, die der Zwang für das Ergebnis hat. Bei den meisten bewaffneten Überfällen kommt es nicht zur Gewaltanwendung. Der gesunde Menschenverstand bringt das Opfer dazu, sein Geld kampflos auszuhändigen, woraufhin der Räuber das Geld nimmt und verschwindet. Dennoch würde niemand abstreiten, dass die bloße Aussicht auf Gewalt für einen bewaffneten Überfall von zentraler Bedeutung ist, auch wenn es im Nachhinein gesehen bei der Verübung solcher Verbrechen nur selten zu Gewalt kommt. Die angedrohte staatliche Gewalt ist keine körperliche Gewalt für Rechts- und Regelbrüche. Vielmehr besteht sie in der Androhung, eigenmächtig Vermögenswerte einzuziehen – ob in Form von Geld („Bußgelder“ oder „Schadensersatz“) oder in natura (verhaltenseinschränkende Rechtsregeln, einschließlich solcher, die den Fortbestand der Firma betreffen). Sie ist in demselben Sinne Gewalt, wie es ein bewaffneter Überfall ist. Die Staatsmacht ist dem privaten Individuum oder Organ so überlegen, dass man nur für wenige Fälle hinzufügen muss, die Missachtung behördlicher Entscheidungen rufe die Polizei oder die Streitkräfte auf den Plan, um den Übeltäter ins Gefängnis zu stecken. Die Rolle der Preise als Vermittler von Wissen kann man in einer lebendigen Wirtschaftsordnung besser erkennen als in einer statischen Wirtschaftsform. Wenn die technologischen Möglichkeiten in einer Wirtschaftsordnung immer die glei-

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chen wären, die Geschmäcker sich nicht ändern würden und die Bevölkerungsgröße gleichbliebe, dann würde das wesentliche Wissen über die Produktions­ abläufe so oder so irgendwann im System durchsickern. Wenn all diese (und sonstige) Variablen aber unentwegt wechseln, dann bekommen die Wissensprobleme eine enorme Wucht – zumindest aus Sicht eines einzelnen Individuums, das versucht, alles zu verstehen. Wenn aber z. B. neue Erzreserven just dann entdeckt werden, wenn die Nachfrage nach Büromöbeln steigt und das Angebot an Bäumen nachlässt, dann müssen die Büromöbelgeschäfte nur wissen, dass im Großhandel eherne Schreibtische, Tische und Schränke im Vergleich zu ihren Gegenstücken aus Holz billiger werden. An sich müssen sie nicht mehr tun, als die Preisrelationen in den Verkaufspreisen, die sie für Büromöbel aus Stahl und Holz berechnen, abzubilden. Konsumenten, die entweder auf Stahlausführungen oder Holzausführungen schwören, werden ihre Präferenzen wohl beibehalten, aber andere, die entweder flexibler oder knapper bei Kasse sind, werden eher das sich verteuernde Material gegen das billiger werdende Material eintauschen. Im Endergebnis ersetzt die Wirtschaft als Ganzes nach und nach das knapper werdende Material durch das reichlich vorhandene Material, ohne dass Konsumenten, Einzel- oder gar Großhandel verstehen müssten, warum die Preise sich so ändern, wie sie es tun. Kurz gesagt, niemand muss die ganze Geschichte kennen, damit die Wirtschaft die relevanten Informationen durch Preise weitergibt und die Anpassungen sicherstellt, die auch bei allseitiger Kenntnis erfolgt wären. Irgendjemand ganz am Anfang des Produktionsprozesses weiß bestimmt, warum das Eisenerzvorkommen zunimmt, aber ob er von der relativen Holzknappheit weiß oder nicht, kann man nicht sagen; auch nicht, ob er sich mit so etwas Seltenem oder Speziellem wie dem Büromöbelmarkt befasst hat. Dennoch wird das Wissen über Preise an Menschen weitergegeben, mit denen er nicht in direktem Kontakt steht. Wirtschaftliche Optimalität ist keine moralische Begründung. Das gilt vor allem in einer sich wandelnden Ökonomie, in der die Belohnung für „Verdienste“ vielleicht nicht mit der Reallokation von Ressourcen einhergeht, die mit den Änderungen in Technologie und Geschmack in Einklang steht. Man kann sich vorstellen, dass in einer sich ganz und gar nicht ändernden Wirtschaft jene, die am härtesten arbeiten, am weitesten vorausschauen, die größte Vorstellungskraft haben und am besten ausgebildet sind, auch diejenigen sind, die am meisten verdienen. Somit schauen am Ende der Geschichte sowohl wirtschaftliche Effizienz als auch moralisch gerechtfertigte Entlohnung heraus. Aber in einer Wirtschaft, in der Technologie und Geschmack sich andauernd ändern, sind das Belohnen von „Verdiensten“ und die effiziente Reallokation von Ressourcen oftmals zwei entgegengesetzte Ziele. Als das Automobil begann, das Pferd und die Kutsche zu ersetzen, konnte ein gewissenhafter, hart arbeitender und intelligenter Kutschenbauer nicht mehr das verdienen, was jemand mit denselben Eigenschaften in der Automobilindustrie verdiente. Genau aus diesem Grund sind Menschen und Kapital aus der Kutschen-

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industrie abgewandert, und zwar (zusammen mit anderen) in die Autoindustrie. Unterschiedliche Belohnungen für gleiche Anstrengungen, Risiken, Fähigkeiten usw. sind in einer sich wandelnden Wirtschaft genau das systemische Instrument, das die Einsätze humaner und nicht-humaner Ressourcen von einem Ort zum anderen freiwillig verlagern lässt. Wenn man alle gleich für ihre „Verdienste“ bzw. für ihren Einsatz belohnt, egal, wie dieser sich auf das Ergebnis oder auf das, was die Konsumenten als Ergebnis wünschen, auswirkt, dann müssen die Verlagerungen entweder unfreiwillig stattfinden (gemäß der Befehle von oben) oder kommen erst gar nicht zustande, was die Wirtschaft stagnieren lässt. Einige der Gewinne und Verluste infolge wechselnder wirtschaftlicher Bedingungen mögen auf Unterschiede bei der Voraussicht zurückzuführen sein, andere indes auf reines Glück bzw. Unglück, die beide auf Umständen gründen, die weder der Gewinner noch der Verlierer aufgrund von Vorwissen oder Vorverständnis hätten vorhersagen können. Damals, als man die Nutzungsmöglichkeiten von Petro­ leum noch nicht entdeckt hatte, minderte Ölvorkommen auf einem Grundstück dessen Wert, weil der unschöne Schlamm in die Wasserversorgung durchsickern oder sonst wo lästig werden konnte. Es war die Sorte Land, die skrupellose Gauner Arglosen andrehten. Einige Menschen kamen so dank ihrer Leichtgläubigkeit in den Besitz von ölträchtigem Land. Und als das Land später wertvoll wurde, machte es seine Besitzer reich – so, als ob diese alles in ihrer Weisheit vorausgesehen hätten. Weil die Residualansprüche nur 10 % des Volkseinkommens ausmachen, kann der Anteil an jenen 10 %, der nur auf reinem Glück basiert, nicht den Kern des Volkseinkommens darstellen. Angesichts der großen Zufallsgewinne und -verluste (ökonomischer und sonstiger Art), die das Leben überhaupt bereithält, kann man kaum mit rationalen Gründen allein erklären, warum man so viel Lärm um diese Abweichung von der „Verdienstbelohnung“ macht. Land und Zeit der Geburt können die Lebenserwartung eines Menschen mit Leichtigkeit halbieren oder verdoppeln und sein Einkommen um den Faktor zehn oder hundert verändern. Manche werden mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen geboren oder von den Eltern missbraucht, statt „normal“ aufzuwachsen. Die aus derlei Unterschieden resultierenden Folgen lassen die sonstigen unverdienten und quantifizierbaren Ungleichheiten klein erscheinen. Die Rolle der inhärenten Risiken, die aus den hohen Wissenskosten erwachsen, wird in den Analysen, bei denen man so tut, als ob ein allwissender Beobachter die vorherbestimmten Ereignisse eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems beschriebe, ausgeblendet. Dabei verantwortet gerade das Fehlen der Allwissenheit viele institutionelle Eigenschaften sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Resultate. Zufallsgewinne und -verluste – sei es beim Grundstücksverkauf oder bei den Unterschieden zwischen den Löhnen in wachsenden und niedergehenden Branchen – sind ein Teil dieser Phänomene. Alternative Institutionen dürfen nicht daran gemessen werden, wie sie mit implizit vorhandenem Wissen agieren würden, sondern sind danach zu beurteilen, wie sie angesichts von Unsicherheit und

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Risiko funktionieren. Es ist immer möglich, „unverdiente“ Gewinne und Verluste institutionell zu konfiszieren bzw. zu vermeiden, und zwar zu den entsprechenden Kosten, die mit den Durchsetzungskosten, der Beschneidung der Wahlfreiheit und den Verlusten an Allokationseffizienz einhergehen. Die sozialen Phänomene, die sich aus Unsicherheit und Risiko ergeben, mag man zwar ausblenden, aber die Unsicherheit und das Risiko selbst werden dadurch nicht kleiner. Man ändert nur die Art, auf die das System als Ganzes sich an sie anpassen kann. Ein „Verdienst“ zu belohnen bedeutet, eine subjektive Einschätzung von Input zu belohnen, zu der ein (oder mehr) Beobachter nach Maßgabe einer einheitlichen Werteskala kommt bzw. kommen. Output zu belohnen heißt indes, spürbare Ergebnisse nach den Wertmaßstäben jener, die sie nutzen, zu belohnen, wobei letztere nach ihren eigenen, teils diversen Präferenzen urteilen. Nur in äußerst seltenen Fällen führen diese beiden Verfahren zu einem und demselben Ergebnis. Die Frage ist daher: Was gewinnt man, wenn man ein Konvolut an Ersatzpräferenzen anstelle diverser individueller Präferenzen nimmt und die Kosten für einen Wertekonsensus oben draufschlägt? Das Thema „Verdienst“ und Belohnung ist Teil einer allgemeineren Thematik zur sogenannten „Einkommensverteilung“. Das allseits bekannte Bild von der „Einkommensverteilung“ kaschiert einen entscheidenden Aspekt: Der größte Teil des Einkommens ist gar nicht verteilt, weder im kapitalistischen, sozialistischen, feudalen oder in irgendeinem anderen Wirtschaftssystem. Die Menschen werden für Dienstleistungen bezahlt, die sie entweder selbst oder mittels ihres Eigentums erbringen. Bestimmte Einkommensanteile in variabler Höhe werden auch von staatlicher Seite verteilt, und zwar unabhängig von der erbrachten Leistung. Es ist verwirrend, wenn nicht gar unredlich, zu sagen, dass wir momentan Verteilung A haben und man sich genauso gut fragen kann, ob wir nicht stattdessen Verteilung B haben sollten. Derzeit verteilen wir in keiner modernen Wirtschaftsform den Großteil des Einkommens – und wenn man für eine bestimmte Verteilung plädiert, dann plädiert man nicht nur für ein anderes Ergebnis, sondern für eine umwälzende Veränderung in den institutionellen Prozessen, die es derzeit gibt, also entweder in den sozialistischen Ökonomien oder den kapitalistischen Ökonomien. Die moralische Frage nach der „Rechtfertigung“ der bestehenden „Verteilung“ gibt das Thema ebenfalls nicht richtig wieder. Das, was man die bestehende Einkommensverteilung nennt, ist nichts weiter als eine Sammlung von retrospektiven Daten zu einem gegebenen Zeitpunkt. Diese Daten ergeben sich aus einem fortlaufenden Prozess, in dem die Käufer aus alternativen Produkten mit unterschiedlichen Preisen auswählen. Die Gesamtsumme aller in einer bestimmten Zeitspanne gezahlten Preise wird dann zum Einkommen verschiedener Leute. Es geht nicht darum, zu entscheiden, ob die spezifischen retrospektiven Daten gerechtfertigt sind, sondern vielmehr um die Frage, wer darüber entscheiden soll, unter welchen Klauseln welche der künftigen und in einem dauerhaften Prozess ablaufenden Transaktionen gerechtfertigt sind. Um es auf den Punkt zu bringen, sollen Beob-

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achter, die weder die Leistungen noch die Kosten am eigenen Leib spüren, (staatliche) Gewalt nutzen dürfen, um das Urteil derer aufzuheben, die dergleichen erfahren? Hier steht nicht ein bestimmtes statistisches Ergebnis gegen ein anderes. Hier stehen zwei verschiedene Arten gesellschaftlicher Prozesse einander gegenüber, und zwei verschiedene Gruppierungen von Entscheidungsträgern. Wenn es um große Einkommen aus Residualansprüchen geht, dann hat niemand darüber entschieden, ob das Gesamtergebnis gerechtfertigt war oder nicht. Es ist auch unklar, wer das Wissen dazu überhaupt haben könnte. Was jeder Käufer indes entschieden hat, ist, ob das Erstandene ihm die Sache wert war – in dieser Frage weiß er viel besser Bescheid. Wer nach einer Rechtfertigung des Gesamtergebnisses fragt, der will eigentlich eine Re-Rechtfertigung seitens des nicht-transagierenden Beobachters, welche die individuellen Entscheidungen der Transakteure überstimmt. Gelegentlich wählt man für die Moralfrage offenkundig neutralere Begriffe und behauptet dann, dass Optimalität nur dann eine Bedeutung habe, wenn man die ursprüngliche Einkommensverteilung „akzeptiere“. Die Pareto­­ optimalität hat nur dann eine Bedeutung, wenn man das Kriterium der individuellen Befriedigung angesichts individueller Präferenzstandards akzeptiert. Wenn man auf ein derartiges Optimalitätsverständnis zurückgreift, dann ist kaum zu erkennen, wie ein anderes Sortiment an Präferenzstandards dasselbe im Interesse einer „Einkommensverteilungskorrektur“ überstimmen könnte. Aufgrund ihrer zeitlosen Natur verdrehen die Daten zur „Einkommensverteilung“ die Dinge auch in anderer Hinsicht. In der Regel variiert das Einkommen im Leben eines Individuums. Für gewöhnlich verdient der Mensch anfangs weniger und häuft mit zunehmender Erfahrung, Fertigkeit etc. größere Einkommen an. Die Datensätze, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt erhebt, sind nur Momentaufnahmen von Menschen, die in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens stecken. Zu jenen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im unteren Viertel liegen, zählen viele junge Leute, die zu einem späteren Zeitpunkt zum oberen Viertel gehören. Es ist irreführend, zu sagen, ein Praktikant sei „arm“ und ein Arzt reich, wenn es doch so ist, dass das Praktikum schlicht eine Vorstufe für denjenigen ist, der einmal Arzt wird. Bei „arm“ und „reich“ denken wir an Personen, die auf lange Sicht gesehen zu den unteren bzw. oberen Einkommensgruppen zählen. Aber eine statistische Momentaufnahme zählt die echten Armen genauso wie jene, die vorübergehend ein geringes Einkommen haben. Die Sorge um die wirklichen Armen ist eine berechtigte Sorge. Aber es ist etwas anderes, wenn man sich darüber aufregt, dass junge Erwachsene weniger Einkommen haben als ihre Eltern oder Großeltern. Das durchschnittliche Einkommen von Familien, deren Oberhaupt zur Alters­kohorte der 45- bis 54-Jährigen zählt, ist fast doppelt so hoch wie das jener Familien, deren Oberhaupt 24 Jahre oder jünger ist.27 Dieses Verhältnis ist größer als das zwischen den Einkommen von Weißen und Schwarzen. In der Spitzengruppe der wohl­habenden Inländer (Vermögenswerte über 60.000$, 1974) gibt es doppelt so 27

U. S. Bureau of the Census (1977), S. 455.

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viele Personen über 50 als unter 50 Jahren.28 Diese Altersphänomene ziehen sich durch die ganze Einkommensstatistik und werden in der Regel so gedeutet, als ob sie Phänomene der gesellschaftlichen Klassen wären.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Bei ökonomischen Güterabwägungen versucht man, den größten Wert zu den geringstmöglichen Kosten zu erzielen. Wenn Individuen oder Organisationen an Kosten denken, dann wohl im Sinne von Geld. Aber aus Sicht der Ökonomie als ein Ganzes, bedeuten Kosten entgangene Gelegenheiten, dieselbe Ressource als Input für die Herstellung von etwas anderem zu nutzen. Kurz gesagt, Preise gegen Kosten abwägen heißt letztlich, eine Ressourcenverwendung gegen eine andere abzuwägen. Die Kriterien, nach denen eine Nutzung gegen eine andere abgewogen werden kann, verändern sich inkrementell. Da sind die subjektiven Wertunterschiede, die Güter für einen Konsumenten haben können, und die u. a. davon abhängen, wie viele Einheiten er von ihnen hat. Es gibt auch objektive Unterschiede in den Produktionskosten, z. B. je nachdem, wie hoch die Stückzahlen der Güter sind oder wie die Herstellung stattfindet; dann, wenn die Produktionsausrüstung unausgelastet ist, oder dann, wenn sie am Rande ihrer Möglichkeiten angekommen ist. Das Gesetz vom abnehmenden Ertrag gilt sowohl für die Produktion wie die Konsumption. Es stellt sicher, dass die Güterabwägungen inkrementell stattfinden und nicht kategoriell nach einer rigiden „Rangfolge“. Preisfluktuationen sind ein Beleg für diese inkrementelle Variabilität und ein Mittel, Wissen zu den gegenwärtigen Güterabwägungen innerhalb einer Wirtschaft zu übertragen. Güterabwägungen finden nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt statt, sondern zwischen den Zeiten. Der Wert einer physischen Sache (oder einer Geldsumme)  ändert sich in dem Moment, da sie verfügbar ist. „Investition“ ist der Aufschiebungsprozess hinsichtlich der Verfügbarkeit von Leistungen, und die Bedingungen der Güterabwägung zwischen gegenwärtigem und künftigem Nutzen zeigen sich in den inkrementellen Wertunterschieden der beiden Zeitpunkte – in der sogenannten „Rendite“. In einer Geldwirtschaft ist das sehr leicht zu erkennen, aber das Prinzip ist in einer Wirtschaftsform, die auf Befehlen statt Preisen basiert, dasselbe. Dasselbe Prinzip kann man auch bei nicht-ökonomischen Aktivi­ täten beobachten; wenn man z. B. Dinge fein säuberlich wegräumt, um sie später leichter wiederzufinden, oder wenn man sich anderen erklärt, um künftig Missverständnisse zu vermeiden. Preisänderungen teilen Änderungen bei den relativen Knappheiten verschiedener Ressourcen mit; auch jenen Personen, die keine direkte Kenntnis von irgendeiner dieser Ressourcen besitzen. Die Resultate dieser Änderungen müssen und 28

U. S. Bureau of the Census (1977), S. 462.

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können Personen vergleichen, denen die jeweiligen Prozesse, die zu diesen Resultaten führen, völlig fremd sind. Preisbewegungen senken die Kenntniskosten, die man für anstehende Entscheidungen braucht. Dort, wo die Preise gewaltsam auf einem künstlichen Niveau gehalten werden, statt von freiwilligen Transaktionen gebildet zu werden, übermitteln sie Fehlinformationen hinsichtlich der jeweiligen Knappheiten und bringen die Wirtschaft vom Weg der optimalen Ressourcennutzung ab. Akkurate Preise im Zuge freiwilligen Austauschs lassen die Wirtschaft optimal funktionieren, und zwar in dem Sinne, dass jedes Individuum soweit befriedigt wird, wie es gemäß seiner Standards möglich ist, ohne dabei andere gemäß ihrer Standards zu opfern. Die Ergebnisse müssen aber jedem Beobachter „chaotisch“ erscheinen, wenn er irgendwelche geltenden Standards als Richtschnur für alle anlegt. Die Urteile dritter Parteien hinsichtlich der individuellen Transaktionsbedingungen und der gesamten „Einkommensverteilung“, die sich aus den betroffenen Transaktionen ergibt, fallen gleichermaßen nur höchst unwahrscheinlich mit den jeweiligen individuellen Urteilen der getroffenen Güterabwägungen zusammen. Weder ökonomisch noch moralisch betrachtet ist die Frage die, ob die statistisch gegebenen Einkommensergebnisse einer bestimmten Periode gerechtfertigt sind. Die grundlegende Frage ist nicht, welches Ergebnis das beste ist, sondern wer entscheiden soll, was am besten ist. Der generelle Fall, in dem dritte Parteien die individuellen Präferenzen der Transakteure überstimmen, wird selten explizit dargestellt. Insofern kann er nicht selbst beurteilt werden. Die vielen undurchsichtigen Versionen, die es von ihm gibt, beruhen in starkem Maße auf Insinuation, Metaphern und auf dem physikalischen Fehlschluss. Bildliche Ausdrücke wie „die Gesellschaft“ als Entscheidungsträger lassen die Vielfalt der individuellen Präferenzen außer Acht und zeichnen für viele der fraglichen Phänomene verantwortlich – seien sie ökonomisch, sozial oder politisch. Das vielleicht weitestverbreitete Missverständnis ist, dass die Ökonomie nur finanzielle Transaktionen beträfe. Dieses Missverständnis führt immer wieder zu Aussagen wie der, dass man „auch nichtökonomische Werte“ zu bedenken habe. Natürlich gibt es auch nichtökonomische Werte. Eigentlich gibt es nur nichtökonomische Werte. Die Ökonomie ist kein Wert an sich, sondern nur eine Methode, Werte gegeneinander abzuwägen. Wenn Aussagen über „nichtökonomische Werte“ (oder, genauer noch, „soziale Werte“ oder „menschliche Werte“) darauf abzielen, die tatsächliche Natur von Güterabwägungen zu leugnen oder einen bestimmten Wert aus dem Abwägungsprozess herauszuhalten, dann müssen derlei Aussagen explizit gemacht und mit den Fakten konfrontiert werden. Die Hingabe an hohe und selbstlose Ideale kann gar nicht wirksamer demonstriert werden als durch ein Abwägen finanzieller Gewinne zugunsten solcher Ideale. Dies ist eine wirtschaftliche Güterabwägung. Preise sind nicht deshalb wichtig, weil man Geld für das Wichtigste hielte, sondern weil Preise ein schneller und effektiver Übermittler von Informationen in einer schnelllebigen Gesellschaft sind, in der fragmentiertes Wissen koordiniert werden muss. Zu sagen, man könne für dieses oder jenes „keinen Preis angeben“,

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heißt, den ökonomischen Prozess misszuverstehen. Dinge kosten etwas, weil man andere Dinge in derselben Zeit bzw. mit derselben Anstrengung oder demselben Material hätte herstellen können. In diesem Sinne hat alles notwendigerweise einen Preis, ganz egal, ob die gesellschaftlichen Institutionen verlangen, dass man von den individuellen Konsumenten Geld eintreibt, oder nicht. Im Kapitalismus sind Preise nicht nur ein Mechanismus zur Verteilung von Wohlstand unter den Menschen, sondern ein allen Wirtschaftssystemen innewohnender Weg, die Rationierungsfunktion wahrzunehmen. Irgendwer muss um den Preis einer Sache wissen, und die einzig wahre Frage ist, wer und unter welchen institutionellen Anreizen und Zwängen dieser jemand ist. Kapitel 4

Gesellschaftliche Güterabwägungen Mag sein, dass man Güterabwägungen mit ökonomischen Begriffen leichter darstellen kann, aber sie kommen genau so oft in sozialen Prozessen vor und sind dort nicht weniger wichtig. Ob politische und juridische Institutionen, die Familie oder all die vielen freiwilligen Vereinigungen: sie alle müssen die gegenläufigen Effekte unter den gegebenen Bedingungen abwägen – eher ein Optimum als ein Maximum suchen. Die grundlegende Bedingung für alle Fälle ist die, dass weder Zeit noch Weisheit freie Güter sind, die unbegrenzt zur Verfügung stünden. Das heißt, dass es sowohl in sozialen wie auch in ökonomischen Prozessen nicht nur unmöglich ist, Perfektion zu erzielen, sondern auch irrational ist, nach ihr zu streben oder auch nur das „bestmögliche“ Ergebnis für jeden Fall anzustreben. Gerichte, die Zeit und Mühe darauf verwenden, selbst in unbedeutenden Fällen den höchstmöglichen Standard für richterliche Entscheidungen zu erreichen, generieren womöglich einen Entscheidungsrückstau. Das bedeutet wiederum, dass gefährliche Kriminelle, die auf ihre Verhandlung warten, weiter frei herumlaufen. Hochtrabende intellektuelle Standards, denen man blindlings folgt, bedeuten womöglich, dass Beweise und Untersuchungsmethoden abgeblockt werden, die uns wertvolle Hinweise auf komplexe soziale Phänomene liefern, und lassen uns stattdessen politische Entscheidungen treffen, die von Unwissenheit sowie bloßen Annahmen und Gefühlen geleitet werden. Starre Moralstandards können zu einer Form von Zweiteilung der menschlichen Spezies führen, die nahezu jeden zu einem Sünder macht und jegliche moralische Distinktion zwischen ehrenwerten und fehlerhaften Menschen einerseits und haltlosen Urhebern moralisch abscheulicher Taten andererseits vermissen lässt. So haben zu Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs einige führende Abolitionisten Abraham Lincoln an den Pranger gestellt. Er sei keinen Deut besser als ein Sklavenhalter und verteidige die Union genau so wenig wie Jefferson Davis.29 29

McPerson (1964), S. 103, 109. Siehe auch S. 27, 95.

Kap. 4: Gesellschaftliche Güterabwägungen

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Und im 20. Jahrhundert haben ihre Pendants die Missetaten demokratischer Staaten mit den Massenmorden und der Schreckensherrschaft des Totalitarismus in einen moralischen Topf geworfen. Die Zurückweisung eines gesellschaftlichen Optimums kann nicht bedeuten, dass etwas Besseres als dieses Optimum erreicht wird. Sie dürfte eher bedeuten, dass etwas weitaus Schlechteres resultieren wird, weil man die inhärenten Begrenzungen der Situation nicht zur Kenntnis nimmt – Einschränkungen bezüglich Wissen, Ressourcen und Menschen. Hätte die ganze Gesellschaft die Haltung einiger weniger perfektionistischer Abolitionisten eingenommen und Lincoln zu unterstützen abgelehnt, dann wäre die Sklaverei nicht früher, sondern viel später abgeschafft worden, wenn überhaupt. Ein ähnlicher Perfektionismus brachte die Menschen unterschiedlicher politischer Couleur dazu, mit vereinten Kräften die schwierige Weimarer Republik zu Fall zu bringen. So moralisch befriedigend der Glaube auch gewesen sein mochte, dass „nichts schlimmer sein könne“ als die Weimarer Republik: viele von jenen, die zu ihrem Niedergang beigetragen haben, haben zu spät – nämlich erst in den Konzentrationslagern der Nazis – erkannt, um wie vieles schlimmer die Dinge sein konnten. Gesellschaftliche Güterabwägungen bedeuten nicht einfach, dass in spezifischen Entscheidungsfragen eine Überlegung inkrementell durch eine andere ersetzt würde. Derlei Güterabwägungen betreffen den Mechanismus der Entscheidungsfindung selbst. Man kann Gerichtsverfahren, die nicht den höchstmöglichen Standards genügen, bewusst einrichten, wenn es nur um die Ahndung von Verkehrswidrigkeiten geht. Auf diese Weise könnte das Rechtssystem mehr Zeit und Personal darauf verwenden, die Wahrscheinlichkeit falscher Entscheidungen in Mordfällen zu reduzieren. Ein gewisses Maß an unkluger Entscheidungsfindung und gedankenloser Ineffizienz mag man in jeder großen Organisation tolerieren – muss man sogar, weil kluge, erfahrene und sorgfältige Personen nur in begrenzter Zahl vorhanden sind und diese die wenigen Schlüsselpositionen einnehmen und ihre Aufmerksamkeit auf ausgewählte und wichtige Entscheidungen fokussieren müssen. Jeder am Fuße einer Organisation kann erkennen, wenn jemandem an der Spitze ein Fehler unterläuft, auch Außenstehende können das. Eine Wahl aber hat jede Organisation als Ganzes zu fällen: Sie muss sich unter den Entscheidungsträgern und deren potenziellen Ersatzkandidaten entscheiden, und zwar für die ganze Bandbreite an Entscheidungen, die von den Ausgewählten zu treffen sind. In besonderen Fällen mögen bestimmte Verbesserungen möglich sein, indem man Untergebene die Fehler der Vorgesetzten korrigieren lässt. Aber dergleichen ist mit Blick auf die Organisationsdisziplin nicht kostenlos zu haben. Es kostet auch, wenn man Untergebene und Vorgesetzte darüber diskutieren lässt, was ein Fehler war und was nicht. In manchen Fällen – ein Extremfall wäre eine Kampfeinheit unter feindlichem Beschuss – kann die Zeit zur Erörterung der Alternativen teurer sein, als es die jeweiligen Alternativen sind. Je näher die zu treffende Entscheidung sich an diesem

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Ende des Spektrums befindet, desto rationaler ist es, unbedingten Gehorsam an den Tag zu legen, selbst dann, wenn der Vorgesetzte keine besseren Entscheidungen als der Untergebene treffen sollte. Am anderen Ende des Spektrums – ein Berufungsgericht, das ein Urteil in einem Mordfall überprüft – mag eine uneingeschränkte und umfassende Diskussion, die keinerlei Rücksicht auf die hierarchische Stellung unter den Mitgliedern der Berufungskammer nimmt, angemessen sein. Welche Ehrentitel oder verwaltungsrechtlichen Vorrechte auch immer dem höchsten Richter des Obersten Gerichtshofs zufallen mögen, sein Votum ist nur eines von neun Voten, die den Kern des Rechts festlegen. Es ist nicht so, dass ein Prozess notwendigerweise wichtiger wäre als der andere. In beiden Fällen geht es um Menschenleben. Der Unterschied ist der, dass in der einen Entscheidungssituation nur ein kurzer Augenblick das Lebensrisiko radikal zuspitzen kann, während in der anderen die Exekution automatisch für die Dauer aufgeschoben wird, die der Appellationshof braucht, um zur Entscheidung zu kommen – egal, wieviel Zeit er sich lässt. Die Güterabwägungen in sozialen Prozessen der Entscheidungsfindung entsprechen jenen in ökonomischen Prozessen der Entscheidungsfindung. Gegenwärtige Kosten und Nutzen müssen gegen künftige Kosten und Nutzen abgewogen werden, auch in zwischenmenschlichen Beziehungen, von der Aufzucht der Kinder bis hin zur Liebesaffäre. Externe Kosten gibt es überall, wo Menschen, die nebeneinander wohnen, unterschiedliche Vorstellungen von Lärm und Nachbarschaftspflege haben. Kurzum, das Prinzip der nachlassenden Erträge gilt für Gefühle nicht weniger als für ökonomische Vorgänge. Eine Mutter, die beim Verlust ihres Kindes am Boden zerstört wäre, schätzt nichtsdestotrotz ab und an ein paar kinderfreie Stunden, um neue Kraft schöpfen zu können. Eigentlich gibt es in sprichwörtlich allen persönlichen Beziehungen – sogar bei unsterblich Verliebten – Momente (so kurz sie auch sein mögen), in denen jeder spürt, dass er mal allein sein muss, oder zumindest mal mit anderen zusammen. Es ist kein reiner Zufall, dass die Güterabwägungen ökonomischer Prozesse jenen anderer sozialer Prozesse entsprechen. Der ökonomische Prozess ist nur ein Sonderfall menschlicher Entscheidungsfindung im Allgemeinen. Insofern verwundert es kaum, dass ähnliche Prinzipien am Werk sind, selbst dann, wenn die Themen recht verschieden sind. Wie auch immer, die großen Unterschiede in den Themen verklären die Prinzipien nicht nur, sondern modifizieren auch deren Anwendung. Zu den gesellschaftlichen Güterabwägungen, die unser besonderes Augenmerk verdienen, gehören (1) die Auswahl und Auszeichnung von Personen, Aktivitäten und Dingen, (2) die Rolle der Zeit und (3) Güterabwägungen hinsichtlich der einen oder anderen Form von Sicherheit.

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Auswahl und Auszeichnung Eine der grundlegenden und tiefstreichenden sozialen Prozesse betrifft die Auswahl und Auszeichnung von Dingen, Aktivitäten und Personen. Darunter fällt alles, von den nach Geschlecht getrennten Toiletten bis hin zu Gemeindeverordnungen, Flugsicherung und Rassentrennung. Sogar die wechselnden Launen und Befindlichkeiten einer bestimmten Person werden von denen, die mit ihr umgehen, separiert und eingeordnet, damit sie diese Person im gemeinsamen Gespräch und bei gemeinsamen Aktionen ja nicht „auf dem falschen Fuß“ erwischen. Auswahlund Auszeichnungsprozesse beinhalten ein Abwägen von Kosten und Nutzen. Allgemein gilt: je feiner die Auswahl, desto größer der Nutzen – und die Kosten. Ab einem bestimmten Punkt würde die weitere Verfeinerung der Sortierungskategorien die Zusatzkosten nicht mehr wert sein – jedenfalls nicht für den fraglichen Prozess der Entscheidungsfindung. Wenn wir beispielsweise dort, wo wir ein Picknick planen, Kisten mit explosivem Material finden, dann haben wir Grund genug, das Picknick an einer anderen Stelle abzuhalten. Wir müssen nicht weiter danach fragen, ob es sich bei den explosiven Stoffen um Dynamit oder Nitroglycerin handelt, obwohl derlei Fragen zu einem anderen Zeitpunkt und in anderer Hinsicht wichtig sein können. Die allgemeinen Vorteile des Aussortierens und Kennzeichnens und die speziellen Vorteile qualitativer Selektivität muss man auseinanderhalten. Ein Basketballtrainer kann aus der vorhandenen Bevölkerung eine Riege längerer Jungs auswählen. Aber die Durchschnittsgröße der Gesamtbevölkerung wird vom Sein oder Nichtsein dieser Auswahl und Auszeichnung nicht betroffen sein. Aus gesellschaftlicher Sicht sind vor allem die Vorteile von Belang, die aus der Auswahl und Auszeichnung der gegebenen Dinge, Aktivitäten und Personen der Gesamtgesellschaft resultieren. Zwischen einer sortierten und unsortierten Sammlung von Dingen in gleicher Qualität und Anzahl kann es erhebliche Wertunterschiede geben. Wenn eine Flut einen Supermarkt überschwemmt und alle Etiketten von den Lebensmittelkonserven ablöst, dann muss man die Dosen zu einem Bruchteil ihrer ursprünglichen Preise verkaufen, wenn nicht gar ganz wegwerfen. Kein Konsument würde auch nur annähernd den vollen Preis einer nichtetikettierten Konserve zahlen, denn diese könnte Gemüse enthalten, aber genauso gut auch Fisch oder Kaffee. Der Supermarkt müsste sodann neue Lebensmittelkonserven im Großhandel kaufen, um seine Regale wieder aufzufüllen, und riesige Geldsummen auslegen, um die unetikettierten Konservendosen gegen neue, etikettierte Konserven auszutauschen. Diese hätten denselben Inhalt wie die alten, wären aber allein deshalb wertvoller, weil man sie sortiert und ausgezeichnet hat. In ähnlicher Weise kann ein gesellschaftlicher Nettogewinn entstehen, wenn Menschen, die ein ruhiges und beschauliches Leben mögen, sich von denen absondern, die laute Feste und / oder Motorräder lieben  – ungeachtet der Tatsache, dass die Anzahl der Menschen

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und Menschentypen vor und nach der Sortierung gleich ist. Die Nachfrage nach Rentner­gemeinden, Appartementbauten, die auf Singles zugeschnitten sind, und nach sonstigen Gemeinschaftsformen ist ein Indiz für die Gewinne, die allein aus der Sortierung und Etikettierung einer vorhandenen Gesellschaft entstehen. Zu den Kosten von Auswahl und Auszeichnung zählt der Verlust an Diversität. Dieser Kostenpunkt liegt für jede Person woanders, je nach Geschmack und Präferenzen. Er variiert auch inkrementell mit dem Ausmaß an Diversität, das ein Individuum bereits pflegt. Ein älterer Mensch, der oft mit jungen Menschen zusammenarbeitet und regelmäßig von seiner Verwandtschaft und Enkeln besucht wird, schätzt womöglich die tägliche Ruhe des Zusammenlebens mit Gleichaltrigen, ohne zu befürchten, dass er in einer unnatürlichen, homogenen Umgebung vollkommen isoliert wäre. Allgemeiner gefasst, der Bedarf nach Diversität ist selbst nicht homogen, sondern variiert von Person zu Person und variiert inkrementell mit den Lebensumständen einer Person. Es gibt ein Sortieren und Etikettieren unter den Menschen, das von dem Ausmaß bestimmt wird, bis zu dem sie sortiert und etikettiert zu werden wünschen. Die Koexistenz sowohl spezialisierter als auch allgemeiner Gemeinschaften ist ein Indiz dafür. Auswahl und Auszeichnung von Menschen und Dingen ist ein Sortieren und Etikettieren von Wahrscheinlichkeiten, und nicht von Gewissheiten. Wir glauben, mit unterschiedlichen Graden der Zuversicht, dass eine bestimmte Person ein bestimmtes Weihnachtsgeschenk möchte, eine bestimmte Bemerkung amüsant fände oder von einer bestimmten Handlung angetan wäre. Wir wissen es aber nicht wirklich, und allein die Tatsache, dass es in unserer Sprache Wörter wie Enttäuschung, Bedauern usw. gibt, beweist, wie verbreitet und dauerhaft dieses Merkmal unseres Menschseins ist. Organisationen Trotz der Unerreichbarkeit von Gewissheit spricht doch der erstaunliche Erfolg wie der von durchgeführten Wahlen für den Wert, der im bloßen Reduzieren der Bandbreite an Unsicherheiten steckt. Ein „Holiday Inn“ ist nicht notwendigerweise ein besseres Hotel als andere. Zweifellos gibt es andere Hotels, die entweder besser oder schlechter (je nach Maßstab) als ein durchschnittliches Holiday Inn sind, oder sogar besser oder schlechter als jedes Holiday Inn. Außerdem variieren die Holiday Inn Hotels untereinander. Aber die Tatsache, dass Tausende von Hoteleigentümern willens sind, auf unterschiedliche Weisen für das Privileg der Franchisenutzung zu zahlen, bedeutet, dass der wirtschaftliche Wert eines gegebenen Baukörpers mit einem Holiday-Inn-Zeichen am Eingang höher ist als ohne dieses Signet – und dies wiederum bedeutet, dass wahrscheinlich Millionen Reisende aus irgendeinem Grund dort absteigen. Diese Reisenden sind sich auch darüber im Klaren, dass es bessere und schlechtere Hotels gibt. Alles, was das Zeichen tut, ist, dass es die Bandbreite hinsichtlich Qualität und Preis reduziert. Der Wert

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der Lizenz und deren internationale Verbreitung, ist ein Indiz dafür, dass die Berücksichtigung dieser Reduzierung nicht unbeträchtlich ist. Wachstum und Wohlergehen vieler sonstiger Franchiseunternehmen in anderen Branchen legen nahe, dass diese Form der Auswahl und Auszeichnung für Konsumenten sehr wertvoll ist, vor allem in sehr mobilen Gesellschaften, in denen individuelle Kenntnisse über individuelle Gründungen selten und sehr kostspielig sind. Vielen Menschen ist bei dem Gedanken an Entscheidungsfindungen, die – wie im Falle von Franchisenamen – auf Grundlage von Wahrscheinlichkeitsannahmen stattfinden, unwohl. Das gilt vor allem im Hinblick auf die Auswahl und Auszeichnung von Menschen anhand weniger Merkmale. Der einzige Grund, warum man in jedem Fall so verfährt, sind die Kosten alternativer Verfahrensweisen, die mit feineren Kategorien arbeiten und mit jedem Schritt genauere Vorhersagen erlauben dürften. Aber allein schon die große Zahl der Menschen, die Jahr für Jahr von ihren Ehepartnern ermordet werden, legt nahe, dass selbst die intimste Kenntnis anderer Personen nichts Sicheres über deren künftiges Verhalten sagen lässt. Die einzige Frage ist: Wieviel Wissenszuwachs (Risikominderung) ist einem wieviel Kostenzuwachs wert? Gewiss hängt dies von der anstehenden Entscheidung ab. Niemand will seinen Ehepartner auf Grundlage von ungefähren Daumenregeln wählen. Andererseits will niemand auf die Wahl des Fernsehkanals so viele Gedanken verschwenden wie auf die Wahl des Lebensgefährten. Das Argument dabei ist nicht, dass man grobe Prozesse der Entscheidungsfindung bevorzugt, sondern einfach nur, dass die Feinheit des Auswahl- und Auszeichnungsprozesses mit Blick auf die Kosten und Vorteile inkrementell variiert. Sie muss kurz vor dem Punkt enden, an dem die Qualität der Entscheidungsfindung noch gewahrt ist. Insofern muss – und sollte – sie „vermeidbare“ Fehler machen. Andersherum betrachtet sprechen „vermeidbare“ Fehler nicht unbedingt gegen einen Entscheidungsprozess – sofern die alternativen Prozesse genau diese Fehler zwar vermieden hätten, aber in den sonstigen Fällen mindestens genauso kostspielig (im Sinne von Geld oder anderen Fehlern) gewesen wären und somit die Kosten der „vermeidbaren“ Fehler aufgewogen hätten. Oft werden Prozesse der Entscheidungsfindung nach Standards beurteilt, die diesen einfachen Umstand übersehen. Dergleichen unterläuft naiven Menschen und Experten gleichermaßen. So mag z. B. ein reiseerfahrener Mensch, der eine Gegend schon oft bereist hat, bei der Wahl der Hotels, Restaurants und Mietwagenfirmen vor Ort weitaus vorteilhaftere Entscheidungen treffen, wenn er nicht auf Franchisenamen vertraut, und dabei die Überlegenheit seiner Entscheidungen gegenüber den verschmähten Wahlentscheidungen faktisch zum Ausdruck bringen. Wenn er aber seine Schmähpolitik auf die Wahlmethode überträgt (in diesem Fall Franchisenamen), dann liegt er falsch. Viele Experten, die leichtfertig die Entscheidungsmethoden, die von der Bevölkerung in vielen Fragen an den Tag gelegt werden, abtun, bedenken nicht die Kosten des Wissens. Der Experte hat diese Kosten definitionsgemäß bereits in der Vergangenheit bezahlt. Seine inkrementellen Kosten für eine individuelle Entscheidung liegen daher praktisch bei null. Nichts fällt dem Experten leichter,

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als Fälle aufzuzeigen, in denen Dinge, Aktivitäten und Personen falsch beurteilt wurden. Irreführend ist jedoch, daraus zu schließen, dass falsche Methoden der Auswahl und Auszeichnung verwendet worden wären. Menschen In der charmanten Idee, „jede Person als Individuum zu beurteilen“, liegt etwas Fatales. Eine Person, der man „zu Unrecht“ einen Arbeitsplatz, Kredit, Studienplatz oder eine Teilnahmemöglichkeit verwehrt hat, weil sie bestimmten „willkürlichen“ Anforderungen nicht entsprach, aber nachweislich aufgrund anderer Kriterien hätte angenommen werden sollen, genießt sofort unsere Sympathie. Ein Außenstehender mag es blöde finden, wenn ein Verkäufer im Kaufhaus den persönlichen Scheck von Rockefeller ablehnt, aber die Kreditkarte eines Arbeitslosen akzeptiert. Die eigentliche Frage ist aber eine andere: Soll die Kreditpolitik von den Spezialisten der Führungsebene beschlossen und für das Gros der Organisation als Regel festgelegt werden, die den Entscheidungsspielraum der einfachen Angestellten einengt, oder soll die finanzielle Zukunft des Unternehmens in die Hände der Kaufhausverkäufer und deren persönlichen Einschätzung der Kundenbonität gelegt werden? Gelegentlich wird die unterschiedliche Feinheit, mit der die Unternehmen einer Branche ihre Kategorien sortieren, als Beleg dafür herangezogen, dass die Unternehmen mit den gröberen Auswahlregeln irrational oder willkürlich vorgingen. Aber der Umstand, dass ein eigentümergeführtes Ladengeschäft Rockefellers persönlichen Scheck akzeptiert, ist kein Grund für ein Unternehmen, seinen Verkäufern die Annahme solcher Schecks vorzuschreiben. Die Wissenskosten sind sehr unterschiedlich. Im einen Fall sind der unmittelbare Verkäufer und der finanziell zuständige Kopf ein und dieselbe Person, im anderen Fall werden die beiden Funktionen von unterschiedlichen Personen, die in der Organisation nichts miteinander zu tun haben, wahrgenommen. In ähnlicher Weise mag eine mittelprächtige staatliche Universität einen Bewerber mit mäßigen Abiturnoten ablehnen, den eine kleine und erstklassige Hochschule, die auch andere Hinweise auf die intellektuellen Fähigkeiten des Kandidaten in Betracht zieht, indes annimmt. Keines der beiden Zulassungsverfahren muss deshalb fehlerhaft sein. Der Zulassungsausschuss einer staatlichen Universität, der binnen weniger Wochen 100.000 Bewerbungen durchzusehen hat, muss vielleicht sofort alle unter einem gewissen Notendurchschnitt ablehnen, damit er den verbleibenden Kandidaten genug persönliche Aufmerksamkeit bei der Auswahl schenken kann. Eine Hochschule, an der nur 500 Studenten eingeschrieben sind, kann es sich vielleicht eher leisten, zu vergleichbar niedrigen Kosten alle Bewerber vom Anfang bis zum Ende individuell zu würdigen. Keines der beiden Verfahren ist an sich effizienter. Effizienter wäre nur, wenn Rockefellers ohne Kreditkarte dort einkauften, wo die zuständigen Bonitätsprüfer nahe bei der Hand sind, und

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begabte Jugendliche mit schlechten Noten sich an Hochschulen bewürben, die ihre Bewerbungen günstiger und genauer beurteilen können. Die meisten Einwände gegen das Sortieren und Etikettieren im Allgemeinen – und vor allem gegen das Einordnen und Etikettieren von Menschen  – gründen auf der Ausblendung der Kenntniskosten bzw. der Unterschiede, welche die jeweiligen Entscheidungsprozesse hinsichtlich der Wissenskosten haben. Sogar bei Einwänden, die man aus rein moralischen Gründen gegen die „Diskriminierung“ verschiedener Gruppen vorbringt, zeigt sich oft, dass sie Wissenskosten außer Acht lassen. Wenn ein Individuum, das einer Gruppe mit einem bestimmten Verhaltensmuster angehört, selbst ein ganz anderes Verhaltensmuster an den Tag legt, dann können ihm beträchtliche Kosten entstehen, wenn man es nach dem Verhaltensmuster der Gruppe beurteilt und die das Individuum betreffenden Entscheidungen dementsprechend fällt. Hinzu kommen die Kosten, die der fehlurteilenden Person entstehen (entgangene Gelegenheiten). Daraus erwächst wiederum der Anreiz, nach alternativen Beurteilungsmethoden Ausschau zu halten, sofern dergleichen zu Kosten zu haben sind, die durch ihre Vorteile aufgewogen werden. Wenn aber die Gruppenbeurteilung auf einer akkuraten Faktenlage beruht, dann sind die einzigen Kosten, welche die Gruppe als Ganzes zu zahlen hat, jene, die ihr eigenes Verhalten verursacht. Jene Gruppenmitglieder, die diese Kosten gar nicht verursachen, zahlen mitun­ ter einen hohen Preis dafür, dass sie mit den anderen, welche zu den Verursachern zählen, in einem Boot sitzen. Die Kostenverursacher zahlen entsprechend weniger an Kosten, als sie mit ihrem Verhalten bewirkt haben. Aus moralischer oder politischer Sicht mag es wünschenswert erscheinen, dass die Staatsräson diese Kosten in verschleierter Form auf die Gesamtbevölkerung verteilt, statt sie in geballter Form den untadeligen Individuen in der Gruppe zu überlassen. Doch dies ist eine politische Frage, die von weitaus mehr Variablen abhängt als jene, die hier zur Debatte stehen. Für unsere Zwecke ist entscheidend, dass man Gruppendiskriminierung – Kosten, die Gruppe A als Ganzes Gruppe B als Ganzes auferlegt – nicht belegt, indem man (rückblickend) zeigt, dass Individuen, die hinsichtlich der relevanten Eigenschaften identisch sind, (im Blick auf morgen) anders behandelt werden, wenn sie Gruppe A entstammen statt Gruppe B. Zwei Individuen mögen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit einen Kredit zurückzahlen, Gewalt abschwören, ein rücksichtsvoller Nachbar sein und intelligente Ideen beisteuern. Aber nur Gott kann das im Voraus und ohne etwas dafür zu bezahlen wissen. Die Kosten für das Wissen, welche Eigenschaften die Individuen haben, können mal so und mal so ausfallen, sofern die Individuen aus verschiedenen Gruppen kommen, die für sich genommen Unterschiede in der einen oder anderen Eigenschaft aufweisen. Die psychologische und politische „Realität“ führt oftmals zu Redeweisen, welche die wahren Ursachen der zu tragenden Kosten verschleiern oder schlichtweg verzerren – und nicht nur diese, sondern auch die Natur der vorgeschlagenen Maßnahmen zur Abhilfe. Seit nunmehr einem Jahrhundert beschweren sich die

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Menschen, die aus ihren ethnischen Ghettos fliehen, verbittert über den Widerstand gegen ihren Einzug in andere Viertel. Die Gruppen, in deren Nachbarschaft sie ziehen wollten, würden der gesamten Gruppe, der sie entfliehen, Kosten auferlegen, sagt man. Seit der Zeit der irischen Einwanderer in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu jener der schwarzen und hispanischen sowie der übrigen Immigranten hat sich dieses Muster beständig wiederholt. Aber kein noch so sachliches Gerede vom Wunsch, den „Slums“ oder der „Lage“ zu entfliehen, kann die einfache Tatsache verdecken, dass man versucht, von den Leuten wegzuziehen, deren Verhalten als anstößig gilt. Aus genau demselben Grund nehmen die Menschen aus der angrenzenden Nachbarschaft Anstoß oder Reißaus. Die Situation mag für alle sehr schmerzhaft sein. Aber sie zu entspannen, wird nicht leichter, wenn man sie sprachlich falsch darstellt und auf dieser Grundlage dann auch noch fordert, sowohl die kostentragenden Opfer der ausgeschlossenen Gruppe als auch die kostenverursachenden Mitglieder derselben Gruppe umzusiedeln. Das geht manchmal über den Ansatz „faires Wohnen“, mit dem man ein legales Anrecht schafft, auf eigene Initiative hin sonst wo hinzuziehen, hinaus und führt zu einer staatlichen Politik, die Anreize schafft, um eine Sortierung und Etikettierung rückgängig zu machen, indem man absichtlich in Vierteln Wohnungen subventioniert, die sich von denen herkömmlicher Mieter unterscheiden. Manchmal macht man es auch direkter und zwingt ausgegrenzte Gruppen zur Umsiedlung, indem man ihre Behausungen im Zuge „urbaner Erneuerung“ niederreißt. Ab einem bestimmten Punkt solcher politischen Entwicklungen sind dann jene, die der Rhetorik Glauben schenken, buchstäblich überrascht, dass sich die ausgegrenzten Menschen, die ursprünglich ihre Verbündeten waren, gegen sie stellen. Kostentragende Mitglieder ausgegrenzter Gruppen sind sich oft sehr im Klaren darüber, was sie tun, wenn sie versuchen, sich von den kostenverursachenden Mitgliedern ihrer Gruppe zu separieren. Das Letzte, was sie wollen, ist, dieselben kostenverursachenden Personen, vor denen sie Reißaus nahmen, in ihre neue Umgebung zu importieren. Als der Bau von Wohnprojekten für Einkommensschwache in den Vierteln der Mittelschicht auf den erbitterten Widerstand von Schwarzen stieß, die dort bereits wohnten, waren viele der weißen Linksliberalen geschockt, weil dieses Verhalten offenkundig im Widerspruch zu der Rhetorik stand, mit der sie, gemeinsam mit den Schwarzen der Mittelschicht, vormals um die Gesetze für „faires Wohnen“ gerungen hatten. Die Schwarzen aus der Mittelschicht verhalten sich aber in sich schlüssig, wenn sie weiterhin nach (nicht-rassenbezogenen) sozialen Charakteristika sortieren und etikettieren, selbst wenn das bedeutet, dass sie sich gegen frühere Verbündete unter den Weißen stellen, denen die Wahrung der rhetorischen Konsistenz wichtiger ist. Kurzum, sogar die eigentlichen Opfer jener Form sozialer Gruppierung und Etikettierung die als Rassentrennung bekannt ist, haben nichts gegen Auswahl und Auszeichnung als solche, wohl aber gegen die Rassentrennung, weil diese sie daran hindert, nach anderen (nicht-rassistischen) Kriterien zu sortieren und etikettieren.

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Studenten mit einem schwarzen gesellschaftlichen Hintergrund wissen seit langem um die Schwierigkeiten der kleinen schwarzen Mittelschicht beim Versuch, ihre Werte und Verhaltensmuster zu wahren und weiterzugeben, während sie von Menschen mit gänzlich anderen Werten und Verhaltensmustern umgeben sind, mit denen sie zwangsweise zusammenleben müssen, weil die Kategorien, nach denen die Gesellschaft insgesamt sortiert und etikettiert, so grob sind, dass sie nicht über Rassenkategorien hinausgehen. Einwände gegen Auswahl und Auszeichnung als solche sind ein ganz anderes Phänomen, das von einer ganz anderen Gruppe von Menschen unterstützt wird und viele Formen annehmen kann: Einwände gegen Schulnoten, Berufshierarchien, institutionelle Autorität, Intelligenztests und alle sonstigen Formen von Anrede, Auftreten oder status- bzw. funktionsbezogenen Differenzierungen bei der Gestaltung von Wohnhäusern und Arbeitsplätzen. Selbst unter Individuen, Organisationen und ganzen Gesellschaften, die bestimmte Formen der Sortierung und Etikettierung über Bord geworfen haben, tauchen ersatzweise neue Formen auf, sogar dort, wo man den Egalitarismus demonstrativ zur Schau stellt. Man kann dort jeden „Genosse“ nennen, aber einige Genossen haben die Macht über Leben und Tod der anderen Genossen. Die Vorteile von Auswahl und Auszeichnung können auch schon mal fälschlicherweise anderen Faktoren zugeschrieben werden. So gehört es beispielsweise zu den wichtigen Dingen eines Bildungssystems, Menschen einzuordnen und auszuzeichnen. Diese können nun aufgrund ihrer Einordnung und Auszeichnung für einen Arbeitgeber viel wertvoller sein, als sie es nur aufgrund der Tatsache wären, die Schule durchlaufen zu haben. Der Unterschied zwischen einem Studien­ abbrecher und einem Graduierten liegt nicht nur darin, dass letzterer ein paar Informationen mehr als ersterer hat, und das nur aufgrund der Tatsache, dass er die Bildungseinrichtung etwas länger besucht hat. Studienabbrecher als Gruppe unterscheiden sich tendenziell von Graduierten als Gruppe hinsichtlich Ausdauer, Verlässlichkeit und Disziplin. Derlei Qualitäten sind in Berufen, in denen die Informationsunterschiede zwischen den Gruppen kaum oder nichts zählen, von Wert. Bei Statistiken zu Einkommensunterschieden zwischen Studienabbrechern und Graduierten erklärt man die höheren Einkommen der Graduierten oft recht willkürlich mit dem Wert, den das Studium habe. Vor allem Hochschulen tun dies gern, wenn sie derlei Statistiken heranziehen, um größere Mittelzuweisungen, Zuschüsse und öffentliche Fördergelder zu erhalten. Die „Schreib oder stirb“-Haltung mancher Universitäten (publish or perish) hat einige Funktionen. Eine von ihnen ist, dass die Fakultätsangehörigen gezwungen werden, für die eigene Einordnung und Etikettierung zu sorgen, indem sie ihre beruflichen Fähigkeiten vor den Kollegen offenlegen. Nicht die Publikation als solche wird honoriert, sondern das Sortieren und Etikettieren des Forschungsvermögens wird durch das Publizieren erleichtert. Eine Reihe von mittelprächtigen Veröffentlichungen können dem Einzelnen in der Tat schaden, aber dem Berufsstand beim Einordnen und Bewerten der Kollegen recht nützlich sein. Klar, jene, die beim Publizieren in Fachorganen noch nicht einmal den Mindeststandard ein-

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halten können, fallen gemäß der Sortierungskategorien tief nach unten. Obendrein gibt es eine Hierarchie der Standards unter den vielen Publikationsorganen eines jeden Fachs. Außerdem werden einige Aufsätze und Bücher von der fachkundigen Leserschaft stärker goutiert als andere. Forscher von Format, aber mit geringem Verlangen nach Veröffentlichung, werden von diesem System meist „unterbewertet“. Hier zeigen sich zum Teil die hohen Kosten, die ihre Zurückhaltung der Institution aufbürdet, die, wenn es um Einstellung und Entlohnung geht, ihre Fakultätsangehörigen irgendwie systematisch einordnen und auszeichnen muss. Sofern jene mit einem Widerwillen zur Veröffent­ lichung bereit sind, Vergütungsverzichte im Gegenzug für ihre Ruhe hinzunehmen, dann mag derlei Arrangement für Hochschule und Hochschullehrer vollkommen rational sein. Wie man Veröffentlichungen und andere Kriterien – Lehre, Verwaltungsaufgaben etc. – relativ gewichtet, ist eine ganz andere Frage. Die „Schreib oder stirb“-Haltung impliziert nur, dass die Fähigkeit des Forschers ein wesent­ liches Merkmal ist, nach dem sortiert und etikettiert werden muss. Die allgemeinen gesellschaftlichen Vorteile des Sortierens und Etikettierens müssen scharf von Differenzgewinnen getrennt werden, die jenen zufallen, die vorteilhaft bewertet wurden oder mit vorteilhaft bewerteten Personen zusammenarbeiten. Auswahl und Auszeichnung ändern die Eigenschaften eingruppierter und ausgewiesener Menschen, Aktivitäten und Dinge selbst nicht. Die Differenzgewinne der „Gewinner“ werden durch die entsprechenden Verluste der „Verlierer“ aufgewogen. Die allgemeinen gesellschaftlichen Vorteile ergeben sich, weil es leichter ist, Individuen und Umstände einander anzupassen und somit die Vorteile zu maximieren und die Kosten zu minimieren. So wie die Nachfrage nach Lebensmittelkonserven insgesamt höher ist, wenn die Konserven einzeln etikettiert und nicht abgewaschen sind, so ist die Nachfrage nach Arbeitskräften höher, wenn man einige Eigenschaften der individuellen Bewerber kennt und man die Einstellungsentscheidung nicht unter Halbwissen und großer Ungewissheit treffen muss. Sogar die „Verlierer“ eines Auswahlprozesses können am Ende besser dastehen, als sie es ohne Sortierung täten. Es ist kein Nullsummenspiel. Jene gesellschaftlichen Klassen oder ethnische Gruppen, deren Verhaltensmuster mehr Offensivgeist versprühen, dürften in einem Umfeld, das ihre Werte und Vorlieben teilt, auf mehr Gegenliebe stoßen. Um den Wert von Auswahl und Auszeichnung verstehen zu können, muss man keine Übereinstimmung hinsichtlich eines bestimmten Wertekanons (welcher Standard ist „höher“ oder „besser“) erzielen. Es reicht, dass es unterschiedliche Werte gibt. Auf diese Weise kann das Auswählen von Menschen jedem dabei helfen, seine Position gemäß seiner eigenen Werte zu verbessern.

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Die Feinheit der Sortierung Nicht immer werden feinere Sortierungskategorien vorgezogen, noch nicht einmal dann, wenn sie ohne Zusatzkosten zu haben wären. Man vergleiche nur die „Sippenhaft“ im Falle individuellen Fehlverhaltens, die in kleinen Militäreinheiten praktiziert wird, mit jener, die in Ländern üblich ist, in denen die Familienehre im Vordergrund steht. Wenn eine Missetat von einem unbekannten Mitglied eines Zugs oder einer Truppe begangen wird, dann entschließt sich der Führungsoffizier schon mal dazu, den ganzen Zug oder die Truppe zu bestrafen. Das geschieht allein wegen der hohen Kosten, die mit der Ermittlung des wahren Schuldigen verbunden sind – vor allem dann, wenn die anderen Mitglieder der Einheit wissen, wer der Schuldige ist, ihn auf ihre Weise sozial kontrollieren und bestrafen, oder einfach nicht willens sind, ihn bei der Führung zu verpfeifen. In Ländern, in denen die Familienehre heilig ist, wird indes die ganze Familie durch Scham bestraft, auch wenn jeder in der Familie die Identität des Missetäters kennt. In diesem Fall wird die größere Sortierungskategorie (Familie) eingesetzt, obwohl die feinere Kategorie (Individuum) ohne zusätzliche Kosten zur Verfügung stünde. Der gesellschaftliche Zweck gilt weniger der rückblickenden Gerechtigkeit als der vorausschauenden Kontrolle. Individuen können in ihrem Verhalten von intimen Familienmitgliedern effektiver kontrolliert werden als von öffentlichen Institutionen. Die Wissenskosten fallen für Familienmitglieder viel geringer aus als für Polizisten oder Richter, die dokumentierte Anschuldigungen nach den Regeln der Beweislage filtern müssen. Bei diesem Prozess geht viel Wissen verloren. Überdies kann die Bandbreite der Sanktionen innerhalb der Familie viel feiner angewendet werden. Man kann auch schon im Voraus auf Fehltritte einwirken, indem man Kinder mit den Gefühlen von Schuld und Stolz großzieht, die sich in Scham und Ehre einer Familie widerspiegeln. Die retrospektive Gerechtigkeit büßt natürlich einiges ein, wenn Individuum B für ein Verhalten von Individuum A beschämt oder bestraft wird, vor allem, wenn B zur gleichen Generation gehört und kein Elternteil ist, aber mehr noch, wenn B zur Folgegeneration gehört und mithin keinerlei Kontrolle über die Handlungen hat, für die es mitbestraft wird. Der offenkundige Gewinn an sozialer Kontrolle, der sich aus der Verrechnung dieses Umstands ergibt, ist nicht ganz unbeträchtlich. Ein Beleg für die Wirksamkeit der auf Familienebene statt auf individueller Ebene stattfindenden Auswahl und Auszeichnung sind die großen Unterschiede bei der Straffälligkeit unter amerikanischen Jugendlichen im Allgemeinen und amerikanischen Jugendlichen, die fernöstliche Wurzeln haben, aber in der selben Gesellschaft leben und somit denselben Versuchungen und öffentlichen Zwängen ausgesetzt sind. Seit langem weiß man unter Fachleuten, dass Straffälligkeit unter Jugendlichen japanisch-amerikanischer und chinesisch-amerikanischer Herkunft so gut wie nicht existiert, ungeachtet recht hoher und steigender Straffälligkeit unter den übrigen amerikanischen Teenagern. Die jüngsten Zunahmen an Gewalttaten und Gesetzesverstößen unter Jugendbanden in Chinatown sind nur ein weiterer leuchtender Beweis dafür, dass Fami­

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lienehre eine Kontrollfunktion hat. Die besagten Jugendbanden kamen auf, als scharenweise Chinesen aus Hong Kong flüchteten, wo sie den „westlichen“ Lebensstil schon kennengelernt hatten. Sie waren also bereits atomisiert, bevor sie in den USA ankamen. Weder chinesische Gene noch chinesische Kulturmerkmale im Allgemeinen scheinen mit der Kontrolle von Straffälligkeit etwas zu tun zu haben. Dieselbe schein allein von der sozialen Struktur, die auf Familienehre gründet, abzuhängen. Diese Struktur löste sich auf, als die Flüchtlinge ihre Umgebung in China aufgegeben haben und sich nach Hong Kong aufmachten, wo sie als Individuen bzw. isolierte Familienmitglieder ankamen und in einer westlichen Kultur lebten, die ihre restlichen gesellschaftlichen Werte untergrub. Chinesisch-amerikanische Straffällige und jugendliche Kriminelle haben ihren Ursprung überwiegend in Hong Kong. Gleiches gilt führt japanische Amerikaner. Studien belegen, dass von den wenigen Straftätern unter ihnen die meisten ihre Wurzeln außerhalb der japanisch-amerikanischen Kommunen haben. Die praktisch nicht-vorhandene Kriminalität unter US-amerikanischen Jugendlichen aus traditionsbewussten fernöstlichen Familien ist ein schlagender Beweis für die soziale Wirkkraft, die von größe­ ren Einheiten ausgeht, die auswählen und auszeichnen und besser als öffentliche Einrichtungen in der Lage sind, Individuen einer internen Kontrolle zu unterziehen. Ähnliche Prinzipien waren bei der Amerikanisierung der jüdischen Immigranten des 19. Jahrhunderts am Werk. Als in den 1880er Jahren die massenhafte Einwanderung osteuropäischer Juden nach Amerika einsetzte, gab es bereits eine kleine deutsch-jüdische Gemeinschaft in den USA, die sehr darüber aufgebracht war, dass sie mit ihren Glaubensbrüdern, die einen völlig anderen sozioökonomischen Hintergrund hatten, über einen Kamm geschoren wurden. Trotz ihrer anfänglichen Bemühungen, sich von den osteuropäischen Juden abzuschotten, tendierte die Öffentlichkeit dazu, alle Juden in einen Topf zu werfen und infolge der neuen nicht-assimilierten Neuankömmlinge stärker antisemitisch zu werden. Alsbald und trotz der retrospektiven Ungerechtigkeit, die den groben Sortierungsund Etikettierungskategorien entsprang, entstand nun ein Anreiz für die bereits amerikanisierten, gebildeten und wirtschaftlich erfolgreichen Deutsch-Juden, Verantwortung zu übernehmen und den osteuropäischen Juden zu helfen, ähnlich erfolgreich und akzeptiert im neuen Kulturkreis Fuß zu fassen. In anderen ethnischen Gruppen spielte sich Ähnliches ab. So spielte beispielsweise die Urban League bei der Akkulturierung der Schwarzen eine Rolle, und die katholische Kirche bei der Eingliederung der Iren. Dies geschah zum Teil aus philanthropischen Gründen, aber auch aus Eigeninteresse der Gruppenmitglieder, denen das Glück hold war und die erkannten, dass sie unweigerlich mit dem Rest einer Gruppe gleichgesetzt wurden, die von der Gesamtgesellschaft nicht akzeptiert wurde. Hätte man jede Person „als Individuum“ behandelt, wäre dieser Anreiz dahin gewesen. Es geht uns hier nicht um die Behauptung, dass die Sortierungs- und Etikettierungskategorien größer als das Individuum sein sollten. Der Punkt ist einfach der, die gesellschaftliche Güterabwägung offenzulegen, die mit der Wahl zwischen retrospektiver Individualgerechtigkeit und prospektiver Gesellschaftskontrolle einhergeht.

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In der Welt des organisierten Verbrechens herrschen ähnliche Prinzipien. Für die Karriere eines Kriminellen gibt es eine optimale Menge an Gewalt, die mit Wirtschaftsdelikten wie z. B. Raub einhergeht. Ohne Gewalt bzw. Gewaltandrohung würde niemand einem Kriminellen seine Vermögenswerte aushändigen. Aber ab einem bestimmten Punkt führt Gewalt zu einem Aufschrei in der Bevölkerung, was alsbald die Polizei verstärkt auf den Plan ruft. Dies wiederum schmälert nicht nur die Aussichten der übrigen Kriminellen, sondern auch die desjenigen, der beim Raub mit „sinnloser“ Gewalt gegen sein Opfer vorgegangen ist. Dort, wo jeder Kriminelle eine separate Entscheidungseinheit bildet, wirken derlei externe Kosten seines kriminellen Handelns sich nicht abschreckend auf sein Verhalten aus. Findet Kriminalität aber in größeren Einheiten statt, dann haben diese Einheiten einen Anreiz, den öffentlichen Aufschrei pro Wirtschaftsdelikt niedrig zu halten. Das bedeutet in aller Regel, das Maß an „sinnloser“ Gewalt gegen die Opfer zu reduzieren. Kurzum, mit dem organisierten Verbrechen ist es wie mit den Familien mit fernöstlichem Hintergrund: Wenn man die externen Kosten, die ein Individuum heraufbeschwört, internalisiert, dann hat man größere soziale Kontrolle und kann besser auf die Reaktionen der Bevölkerung eingehen, die ein individueller Übeltäter, dessen Identität den Behörden unbekannt ist oder dessen Schuld in einem ordentlichen Gerichtsverfahren schwer zu erweisen ist, ganz gewiss ausblendet. In beiden Fällen geht die größere Kontrolle aus den niedrigeren Wissenskosten jener hervor, die mit der Person eng verbunden sind. Die relative Hemmungslosigkeit, mit der die Figuren des organisierten Verbrechens sich gegenseitig töten, bestätigt diesen Punkt zusätzlich. Wenn ein Mafioso stirbt, ist der Aufschrei in der Bevölkerung recht klein oder gar nicht vorhanden.

Zeit Zeit ist wohl die Beschränkung mit dem höchsten Gewicht. Nur weniges lässt sich augenblicklich erledigen und für den, der Milliarden Jahre Zeit hätte, wäre wohl alles möglich. Selbst ein so komplexes Lebewesen wie der Mensch kann so auf einem Planeten, auf dem es ursprünglich kein Leben gab, entstehen. Ein etwas profaneres Beispiel sind die Kosten für die Errichtung eines Hauses, das buch­ stäblich über Nacht entstehen soll. Sie lägen ein Mehrfaches über denen, die man für ein normales Herstellungsverfahren zu veranschlagen hat oder die anfallen, wenn man mal hier, mal da in seiner „Freizeit“ am Haus baut und sich 10 Jahre Zeit lässt. Natürlich ist die Zeit nie kostenlos. Ihren Wert bestimmen die alternativen Gelegenheiten, die man verstreichen lässt, damit man die Zeit für einen bestimmten Zweck nutzen kann. Der Wert oder die Kosten der Zeit werden von vielen übersehen, z. B. von Schnäppchenjägern, die all die Zeit außer Acht lassen, die sie auf das Suchen von „Schnäppchen“ verwenden (wozu nicht nur die Zeit für das Finden der dann tatsächlich gekauften Dinge gehört, sondern auch die Zeit, die man für das

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Sichten der vielen Alternativen braucht, bevor man aus ihnen auswählt), oder von denen, die in Billigläden auf Bedienung warten oder ihre Sachen dauernd reparieren lassen müssen, weil sie Billigwaren gekauft haben, die nicht so lange halten. „Dieselbe“ Ware gibt es in der Regel teurer, wenn man sie in Geschäften kauft, die mehr Artikel (Marken, Größen etc.) führen, mehr (oder besseres) Verkaufspersonal haben, mehr Kassen, kürzere Schlangen – all das spart Zeit. Eigentlich ist es nicht dasselbe, was man einkauft, weil man nicht nur den Artikel erwirbt, sondern auch die Dienstleistungen, die für seine Entdeckung und Nutzung notwendig sind. Man kann die Sache auch so sehen, dass jedes Ding einen Geldpreis und einen Zeitpreis hat und erst die Kombination von beiden die Gesamtkosten ergibt. Weil der Wert der Zeit von Person zu Person variiert (im Sinne entgangener Gelegenheiten, seien es Verdienstmöglichkeiten oder sonstige Aktivitäten), kann der unsichtbare Kombinationspreis durch Wettbewerb angeglichen werden, während die sichtbaren Geldpreisanteile ungleich bleiben. Auf Flohmärkten sind beispielsweise gar keine Kosten für die Vorhaltung eines standardisierten bzw. reichhaltigen Warenangebots oder Kundendienstes vorgesehen. Der Konsument hat niedrige Geldkosten und hohe Suchkosten, um das zu bekommen, was er möchte, oder er hat andere immaterielle Kosten, weil er zwar die Sache, aber nicht in der ersehnten Art oder dem gewünschten Zustand bekommt. Am anderen Ende des Spek­ trums ist der gut sortierte Fachhandel mit geschultem Personal, das einem in den Filialen die Feinheiten und Nuancen der Ware erklären und demonstrieren kann, eine breite Palette an Marken, Qualitäten und Größen vorhält und defekte Ware aussortiert und an den Hersteller zurückschickt; sowohl die Mangelware, die das Personal beim Auspacken entdeckt, wie auch die schadhaften Stücke, für die sich der Kunde sein Geld zurückerstatten lässt. Zwischen Flohmarkt und Fachhandel liegt ein breites Spektrum an Händlern. Bei welchem von diesen ein Käufer landet, hängt letztlich von dessen inkrementeller Abwägung von Zeit und Geld ab – und diese ist weitgehend von seinem Einkommen und seiner Geduld geprägt. Vor diesem Hintergrund sind dauerhafte Preisdifferenzen für dieselbe „Ware“, die in verschiedenen Geschäften zu haben ist, weder ein Beleg für die „Irrationalität“ der Kunden noch für die Unredlichkeit des Händlers oder das Fehlen von Wettbewerb. In sozialen wie auch in ökonomischen Prozessen variiert der Wert einer Sache mit dem Zeitpunkt, zu der man sie haben kann. Das gilt sowohl für die Vorteile als auch für die Kosten der Sache. Schon seit langem weiß man, dass eine umgehende Bestrafung Kriminelle effektiver abschreckt als eine Bestrafung, die erst viel später erfolgt. Daraus ergibt sich, dass eine geringere Strafe, die direkt vollstreckt wird – die aus der Mode gekommene Gerechtigkeit, die Polizisten früher „auf dem Fuße“ folgen ließen –, genau so wirksam sein kann wie eine härtere Strafe, die erst Jahre später, nach einem „ordentlichen Prozess“ angetreten wird. Ein ordentlicher Prozess mag wegen seiner größeren Genauigkeit, Objektivität oder Würde vorzuziehen sein, aber hier geht es um die Tatsache, dass es eine Güterabwägung gibt, und zwar aufgrund der unterschiedlichen Kosten für den Rezipienten, die vom jeweiligen Zeitpunkt der Bestrafung bestimmt werden.

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In der Ökonomie geht eine finanzielle Zunahme oder Abnahme immer mit physikalischen oder monetären Transfers auf dem Zeitstrahl einher. Wenn Zins­ zahlungen in einer gesellschaftlichen Güterabwägung nicht explizit vorhanden sind, dann bedeutet das nicht, dass in diesem Fall das vorgenannte Prinzip nicht greifen würde. Da ein Gefängnisaufenthalt sowohl für den Steuerzahler als auch für den Kriminellen teuer ist, bedeutet eine kürzere Strafe, die sofort angetreten wird und genau so effektiv ist wie ihr längeres, später vollzogenes Gegenstück, eine Geldersparnis bei der Abschreckung. Alternativ könnte – sofern dies erwünscht wäre – das Gesetz an der längeren Strafe festhalten und so für eine gegebene Geldmenge mehr Abschreckung erreichen. Anders formuliert, die impliziten „Zinsen“ zugunsten der Öffentlichkeit im Zuge der zeitlichen Verlängerung von Gefängnisstrafen können sowohl monetär als auch in Naturalien fällig werden. Umgekehrt können Verluste, die von der zeitlichen Hinauszögerung des Haftantritts im Zuge eines „fairen Verfahrens“ verursacht werden, auch sehr kostspielig sein (in Geld wie in Naturalien); man denke nur an Straftaten, die Kriminelle begingen, die auf Kaution frei sind und auf ihren Prozess bzw. ihre Berufung warten.

Zeithorizonte Der nachlassende Wert von Abschreckungsvorteilen bzw. -kosten wird bei gesellschaftlichen Güterabwägungen generell im Hinblick auf die Zeit gesehen, die solche Vorteile oder Kosten brauchen, bis sie jenen Punkt erreichen, ab dem sie auf die gegenwärtige Entscheidungsfindung keinen Einfluss mehr nehmen. Zeithorizonte sind subjektiv. Sie variieren nicht nur von einem Individuum zum anderen, sondern auch von einer sozioökonomischen Klasse zur anderen oder unter ethnischen Gruppen und Altersklassen. Ironischerweise haben ältere Individuen längere Zeithorizonte als jüngere und stürmischere Personen, obwohl jüngere Menschen im Allgemeinen mehr Lebensjahre vor sich haben. Aber die Pläne älterer Menschen gehen oft über die eigene Lebenszeit hinaus, wenn sie beispielsweise Entscheidungen für das Wohlergehen ihrer Kinder fällen, ein Anwesen erhalten wollen oder, was eher einen Extremfall darstellt, sich selbst töten, weil sie glauben, Ihren Kindern „zur Last“ zu fallen (früher eine gängige Praxis unter Eskimos). Der Zeithorizont älterer Personen gilt aber auch oft der Sorge, über den Tod hinaus einen guten Namen zu haben. Sie kann dazu motivieren, sich philanthropisch zu engagieren, die Religion zu wechseln oder sich einen Platz in der Geschichte zu sichern. Für jüngere Menschen liegt der eigene Tod oft jenseits ihres Zeithorizonts, und die Sorge um die Zeit danach erst recht. Es kann gut sein, dass der Zeithorizont mit der Geburt der Kinder und der Einnahme einer elterlichen Haltung sich streckt, nicht nur, was die eigenen Kinder angeht, sondern die Nachwelt im Allgemeinen. Was auch immer der Grund sein mag, ein Zeithorizont, der über die Lebensspanne des Individuums hinausragt, wird spontan zu einer moralischen Kontrolle der Handlungen des Individuums, ähnlich wie die moralischen Beschränkungen, die zu einer bestimmten Zeit im Raum stehen.

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Unterschiedliche Zeithorizonte unter den sozialen Gruppen ändern die Wirksamkeit gesellschaftspolitischer Maßnahmen, die mit Vorteilen und Strafen einhergehen. Das gilt vor allem dann, wenn unter den politischen Entscheidungsträgern eine soziale Gruppe mit ihrem Zeithorizont alle anderen sozialen Gruppen dominiert, während unter denen, die von den Maßnahmen betroffen sind, eine andere soziale Gruppe mit ihrem Zeithorizont vorherrscht. Man denke an Programme zur „Weiterbildung am Arbeitsplatz“, die hier und heute Anstrengungen erfordern, um Beschäftigung und Einkommen in der fernen Zukunft zu steigern. Je nach Alter, Ethnie oder sozioökonomische Gruppe mit entsprechend kurzen Zeithorizonten können solche Programme relativ wirkungslos sein. Die Teilnahme an diesen Programmen dürfte sich an den gegenwärtigen Möglichkeiten, welche diese Programme bereithalten, orientieren. Das Maximieren von Vorteilen zu geringstmöglichen Kosten kann bedeuten, dass man kurzfristig maximiert und so wenig wie nötig tut, um den finanziellen bzw. unmittelbaren Vorteil des Programms einzustreichen – was so viel heißt wie, sich so wenig wie möglich auf die künftige Anstellung vorzubereiten. Der Versuch, solche zukunftsorientierten Programme einzusetzen, um gegenwartsfixierte Jugendliche von kriminellen Versuchungen abzulenken, widerspricht der Tatsache, dass „die meisten Straftaten Gelegenheitstaten von Jugendlichen sind, die sofort das schnelle Geld machen wollen.“30 Eine berufliche Weiterbildungsmaßnahme kann einem Jugendlichen Erwerbsmöglichkeiten bieten, die um ein Mehrfaches über dem liegen, was er erfolgreich stehlen kann, vorausgesetzt, der Zeitrahmen, für den die beiden Kalkulationen angestellt werden, ist groß genug. Wenn aber sein Zeithorizont kürzer als das Programm ist, dann dürfte keiner der künftigen Vorteile in seine Kalkulation einfließen. Für den vorhandenen Zeithorizont mag derlei durchaus rational sein, so wie das Gegenteil im Falle eines längeren Zeithorizontes rational wäre. Niemand hat einen unbegrenzten Zeithorizont, und es gibt keinen logisch zwingenden Grund, einen Zeithorizont einem anderen vorzuziehen. Jobs sind eine sinnvolle Alternative zu Verbrechen, wenn sie ähnlich kurze Zeitdimensionen haben. Der Zugang zu Gelegenheits- bzw. Tagelöhnerjobs korreliert offenbar invers zu niedrigen Raten unter Bagatelldelikten. Nehmen die Möglichkeiten solcher Tagelöhnerjobs ab – z. B. bei schlechtem Wetter –, dann steigt die Zahl der Bagatelldelikte tendenziell an, weil Menschen, die von einem Tag zum anderen leben, selten viel gespart haben und auch „essen müssen“, wenn sie keine Arbeit haben.31 Einer der Gründe dafür, warum vergleichsweise einfache Vorsichtsmaßnahmen die Häufigkeit von Straftaten reduzieren, liegt im Kurzzeithorizont vieler Kriminel­ler. Fast keine praktische Vorkehrung kann Diebstahl, Einbruch oder gewalttätige Überfälle völlig vermeiden. Aber wenn man die unmittelbaren Kosten – an Zeit, Mühen oder Risiken – anhebt, dann entmutigt man viele, deren Ab 30 31

Banfield (1974), S. 204. Banfield (1974), S. 198.

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neigung gegen langes Warten und aufgeschobene Vorteile Teil der Ursache für ihr Dasein als Kriminelle ist. Nur wenige Häuser sind einbruchsicher, und nur wenige Menschen resistent gegen Überfälle, aber die Einbruchshäufigkeit in New York ist weitaus niedriger als in Los Angeles, während es bei der Häufigkeit von Überfällen genau umgekehrt ist. Das ist deshalb so, weil der Zugang zu New Yorker Appartements meistens schwieriger ist als der in Los Angeles (aufgrund der architektonischen Stilunterschiede). In New York trifft man aber häufiger auf Menschen, die man überfallen kann, als in Los Angeles (wegen der geringeren Zahl an Fußgängern in den Wohnvierteln). Innerhalb ihres Rahmens agieren Kriminelle offenbar rational. Einer der Gründe für das Fehlen einfacher Vorsichtsmaßnahmen sind die Ersatzleistungen im Verlustfall: Überall sind Versicherungspolicen zu bekommen, welche die Auswirkungen der Diebstahlseinbußen mindern. Die Kosten, die der Steuerzahler aufbringt, damit die Polizei das Gestohlene wieder auffindet, lockern die Verbindung zwischen der Sorglosigkeit und dem Tragen von Konsequenzen in ähnlicher Weise. Obendrein trägt auch die staatliche Politik der „Opferentschädigung“ zu einer Externalisierung der Kosten bei. Und wenn die individuellen Vorkehrungen nur dazu führen, dass der Kriminelle sich ein anderes, einfacheres Opfer aussucht, dann übersteigen die privaten Vorteile den gesellschaftlichen Nutzen. Man könnte argumentieren, dies spräche für einen gesetzlichen Zwang zur Reduzierung der Angreifbarkeit im Allgemeinen – Diebstahlsicherungen in Autos, Bauordnungen, die bessere Türschlösser, besser beleuchtete Straßen usw. vorschreiben –, aber da solche Forderungen kategorisch wären und nicht zusätzlich, könnten sie leicht über den Punkt hinausgehen, an dem die Vorteile und Kosten sich noch die Waage halten.

Der animistische Fehlschluss Sieht man es von der Warte des sozialen Nutzens, den das Wissen hat, dann erlaubt die Zeit völlig andere Methoden der Herstellung und Verteilung von Wissen als jene, an die man für gewöhnlich denkt, und hängt nicht von der Artikulation, Rationalität, Erkenntnis oder sonstigen formalen Prozessen ab, die an wissenschaftlichen Einrichtungen gelehrt werden. Wenn Zeit keine Rolle spielt, dann kann entweder der natürliche Prozess oder der Wettbewerb unter den Menschen eine kompliziertes Ergebnismuster verursachen, das niemand geplant hat. Die Passfähigkeit oder Genauigkeit dieser systemischen Anpassungen dürften sich vor allem – wenn nicht gar ausschließlich – in den Ergebnissen und nicht in der artikulierten Vernunft zeigen. Weil aber der Mensch im Anschluss an ein Geschehen auf ein Mindestmaß an artikulierter Erklärung pocht, kann es zu einer Erklärung kommen, welche die tragende Rolle der Zeit verkennt und eine völlig andere – ganz und gar falsche – Abbildung dessen liefert, was passiert ist. Die vielleicht einfachste und psychologisch am meisten befriedigende Erklärung eines beobachteten Phänomens ist, dass das Ereignis deshalb stattfand, weil jemand

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es so haben wollte. Das gilt nicht nur für gesellschaftliche Phänomene, sondern auch für natürliche Ereignisse. Primitive Völker erklärten die Bewegungen der Blätter im Baum mit dem Geist oder Gott, der wollte, dass die Blätter sich bewegten. Und sie meinten, weil er die Macht dazu habe, würden sich die Blätter bewegen. Die Analogie zu zweckgerichteten und überlegten Handlungen ist offenkundig. Es ist nur eine weiterentwickelte Form der Argumentation, wenn man die Bewegung der Blätter mit Windströmen und deren nicht-zweckgerichteten (gleichwohl nicht beliebigen) Natur erklärt, die auf Unterschieden im Luftdruck aufbaut. Die primitivere Form der Erklärung bleibt eine spontanere bzw. „natürliche“ Form der Erklärung – eine, die zunächst in vielen Bereichen auftaucht, später aber weicht, nachdem sie gewaltsam durch eine auf Nachweisbarkeit bauende Alternative ersetzt worden ist. Einige Ereignisse sind in der Tat das Ergebnis zweckgerichteter Aktivitäten, die erfolgreich waren, aber die allgemeine Annahme, dass dies der Fall sein müsse, kann als „animistischer Fehlschluss“ betrachtet werden. Der animistische Fehlschluss kennt viele große, historische Beispiele – z. B. in Religion, Biologie und Ökonomie. Zeit ist eine entscheidende Zutat zu den systemischen und evolutionären Erklärungen, die dieselben Phänomene ganz anders darstellen. Das religiös motivierte „Entwurfsargument“, das für die Existenz Gottes herhält, behauptet, dass die beobachteten nicht-beliebigen Entsprechungen von Umwelt und Kreatur, wie männliches und weibliches Geschlecht, die kooperierenden Körperorgane usw., allesamt belegten, dass eine zweckorientierte Intelligenz das Universum so entworfen habe, dass alles zusammenpasst. Sogar für philosophische Skeptiker wie David Hume und John Stuart Mill wogen diese Argumente schwer. Als dann Darwins Evolutionstheorie eine alternative Erklärung derselben Phänomene anbot, gründeten selbst die religiös Gefestigten ihren Glauben an die Existenz Gottes nicht länger auf den animistischen „Beweis“. Darwin bedeutete eine Zäsur, nicht nur für die Geschichte der Biologie, sondern auch für die Geschichte der intellektuellen Entwicklung im Allgemeinen. Er zeigte, wie nicht-zweckgerichtete Aktivitäten – mit ausreichender Zeit – zu nicht-beliebigen Resultaten führen konnten: Er trennte Ordnung und „Entwurf“. Der animistische Fehlschluss würde entgegnen, dass die Abwesenheit von „Planung“ zu Chaos führen müsse – und die wirtschaftlichen und politischen Folgen dieses Glaubens sind auch heute noch wirkmächtig. Animistische Erklärungen erfordern für die Ereignisse, die ihrer Meinung nach stattfinden, wenig bis gar keine Zeit – nur sechs Tage für die Erschaffung der Welt, folgt man der Version einer bestimmten Religion. Im Prinzip könnte Allmacht die Welt auch von jetzt auf gleich erschaffen haben. Evolutionäre Erklärungen hingegen gestehen den ursprünglich beliebig entstehenden Ereignissen, Verhaltensweisen oder Individuen genug Zeit zu, um von den Umweltfaktoren in einer Weise ausgewählt zu werden, dass eine überlebensfähige Population übrigbleibt, die nichtbeliebige Merkmale trägt, welche an die Umwelt angepasst sind. Mutationen mögen anfänglich variantenreich sein und von vorteilhaft bis fatal reichen, aber jene von ihnen, die überleben, repräsentieren in der Regel verbesserte Anpassungen an die

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Umwelt. Nach Millionen von Jahren der natürlichen Selektion beobachtet man vor allem überlebende Mutationen. Man kann den gesamten Prozess als schicksalhafte Fügung betrachten und muss nicht den animistischen Fehlschluss ziehen, dass die beobachtete Ordnung nur das Resultat eines absichtsvollen Entwurfs sein könnte. Systemische Analyse Auch soziale Phänomene kann man animistisch erklären, also mit den Absichten der beteiligten Individuen. Oder man erklärt sie im Sinne eines Gefüges von sich gegenseitig beschränkenden Beziehungen, deren Ergebnisse ein Muster formen, das nicht notwendigerweise den Absichten der beteiligten Individuen entspricht. Der animistische Fehlschluss ist keine exklusive Angelegenheit der politischen Linken oder politischen Rechten. Konservative Ökonomen mit einer animistischen Neigung, rationales Verhalten in einem zeitlosen Kontext zu erklären, kommen gelegentlich zu dem moralischen Schluss, die Weisen würden für ihre Voraussicht belohnt und die Unweisen für ihre fehlende Voraussicht bestraft, und sie meinen, große Profite seien ein Zeichen für „Supergehirne“. Bei den Linken sind es die Sozialplaner, welche die Welt vor dem „Chaos“ bewahren wollen und sich einer anderen Form des animistischen Fehlschlusses verschreiben. Beide Ansätze ignorieren die Zeit und lassen keinen Raum für einen adaptiven Prozess. Wie auch immer, Denker wie Adam Smith und Karl Marx, die ideologisch Welten trennten, haben den animistischen Fehlschluss entschieden abgelehnt und in systemischer Hinsicht analysiert. Smith hatte keinerlei Vertrauen in Geschäftsleute und deren Absichten. Er charakterisierte sie als gemein und habsüchtig,32 argumentierte aber, dass das Wesen der Marktwirtschaft zu vorteilhaften Ergebnissen führen würde, die in den Absichten der Marktakteure keine Rolle spielten.33 Karl Marx hatte indes eine weitaus weniger wohlmeinende Auffassung von den Ergebnissen des kapitalistischen Systems, aber er – wie auch Smith – analysierte die Resultate im Sinne der unterstellten Eigenschaften des Systems, nicht aber im Sinne der offen erkennbaren Intentionen der einzelnen Kapitalisten. Im Vorwort zum ersten Band des Kapitals erteilte Marx der Idee, das kapitalistische System mit den Absichten der Kapitalisten zu erklären, eine Absage.34 Engels wischte diesen Ansatz im Hinblick auf soziale Phänomene im Allgemeinen vom Tisch. „Denn was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat.“35

32

Smith (1937), S. 460. Smith (1937), S. 423. 34 Marx (1962), Band 1. 35 Engels (1967), S. 464. 33

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Auch wenn man auffällige Unterschiede, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zwischen sozialen Gruppen (Klassen, Ethnien, Regionen) bestehen, erklären will, führt dies oft zu einem animistischen Fehlschluss. Der relative Erfolg oder Misserfolg dieser Gruppen – egal, ob in monetären Größen oder in sozialen Variablen wie Familienstabilität und Verbrechensraten gemessen – wird oft ihren Verdiensten oder Verfehlungen bzw. denen anderer Gruppen, die mit ihnen Umgang haben (oder auch der „Gesellschaft“), zugeschrieben. „Fähigkeiten“ oder „Diskri­ minierungen“ gehören mithin zu den ersten Erklärungen, auf die man zurückgreift, so wie die Urzeitmenschen das Rascheln der Blätter damit erklärten, dass jemand ihre Bewegungen gewollt habe. Wenn man aber begriffen hat, dass die Ergebnisse, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachten kann, durchaus Teil eines Prozesses sein können, der weit in die Vergangenheit reicht, dann ist es nicht mehr länger automatisch notwendig, dass die momentane Situation das Resultat einer verdienstvollen oder unwürdigen Handlung eines Zeitgenossen sein muss – sei er nun ein Gruppenmitglied oder nicht. So können z. B. die Unterschiede, die es zwischen kulturellen Werten gibt, tief in früheren Jahrhunderten wurzeln und das Verhalten von heute tiefgreifend beeinflussen. Gruppen vom Lande zeigen typische Probleme, wenn sie in eine städtische Um­ gebung oder ein industrielles bzw. kommerzielles Umfeld ziehen. Wenn man die Sozialgeschichte der irischen Bauern liest, die im 19. Jahrhundert in die amerikanischen Städte einwanderten, dann kommt einem dies wie ein Kapitel aus der Geschichte der Schwarzen vor, die im 20. Jahrhundert die ländlichen Südstaaten verließen und zum Teil in dieselben Städte zogen wie vor ihnen die Iren.36 Die vielen historischen, genetischen und sonstigen Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen lassen die Parallelen in ihren Mustern umso bemerkenswerter erscheinen. Umgekehrt dazu ist es buchstäblich unmöglich, die tiefreichenden Unterschiede zwischen den italienischen und jüdischen Immigranten unserer Tage zu erklären. Ihre unterschiedlichen Einstellungen zu Schulen, Bibliotheken und Wohnsiedlungen37 kann man aber kaum mit den sozioökonomischen Unterschieden erklären, die es im 19. Jahrhundert unter den, Seite an Seite lebenden, Einwanderern gab. Allein die beiläufige Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte und jener der süditalienischen Bauern in den zurückliegenden Jahrhunderten zeigt, wie weit diese kulturellen Verhaltensmuster zurückreichen.38 Viele der Haltungen, Überzeugungen und Schwerpunkte landwirtschaftlich geprägter Gruppen sind als Adaptionen an eine landwirtschaftliche Umgebung recht vernünftig, so kontraproduktiv sie in einem städtisch-kommerziellen Milieu auch sein mögen. Dass eine fatalistische Haltung gegenüber der Zukunft in einer Kultur 36 Siehe z. B. Handlin (1970), Kapitel IV, Wittke (1956), Kapitel III, und Ravitch (1974), S. 27 ff. 37 Ravitch (1974), S. 178, 311, Banfield (1974), S. 65 f., Gans (1962), S. 241. 38 Vgl. Gambino (1974), S. 245–373, Wirth (1956), S. 76 f., sowie Glazer / Moynihan (1963), S. 155–159, 199.

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üblich ist, die von zufälligen Wetterveränderungen abhängt, kann man beispielsweise gut verstehen. Es ist schwer, eine Gruppe zu finden, die jahrhundertelang als Agrargesellschaft lebte und dann innerhalb von ein, zwei Generationen erfolgreich in einer städtischen Umgebung reüssierte. Umgekehrt haben die traditionell städtisch lebenden Juden, die in den Städten, wo sie in großer Zahl ansässig wurden, zu den erfolgreichsten unter den ethnischen Gruppen Amerikas gehörten, in verschiedenen Regionen Amerikas einen mehr oder weniger unangefochtenen Rekord an Misserfolgen in der Landwirtschaftsbranche vorzuweisen.39 Verallgemeinerungen wie „Fähigkeiten“ und „Diskriminierung“ scheinen wenig für die Erklärung solcher Phänomene bereitzuhalten, vergleicht man sie mit den Erklärungen der evolutionären Anpassung. Was sonstige gesellschaftliche Phänomene angeht, so mögen die Ergebnisse anders ausfallen. Es geht hier nicht darum, jegliche Effekte intentionaler Handlungen zu leugnen oder auch nur zu behaupten, derlei Effekte fielen notwendigerweise kleiner aus als jene der evolutionären gesellschaftlichen Prozesse. Es geht vielmehr um die Infragestellung des gemutmaßten Vorrangs zeitloser und intentionaler Erklärungen – d. h. um den animistischen Fehlschluss. Es ist plausibel, aber falsch, wenn man sagt, dass „beliebig getroffene Entscheidungen oder solche, die nicht in Beziehung zueinanderstehen, kein Muster abgeben können.“40 Darwin hat für die Biologie gezeigt, dass dies falsch ist, und so unterschiedliche Denker wie Adam Smith und Karl Marx haben denselben Fehlschluss aus der Analyse sozialer Prozesse verbannt.

Kultur und Individualismus Extrem rationale und intellektuelle „Modelle“ des menschlichen Verhaltens umweht stets der Hauch mangelnder Realität, wenn man die hypothetischen und computerartigen inkrementellen Anpassungen von kühl kalkulierenden Entscheidungsträgern mit den Entscheidungen aus dem vollen Leben vergleicht, wo Trägheit, Capricen, Panik und Daumenregeln regieren. In Wahrheit legen die rationalen Prinzipien selbst eine Grenze nahe, bis zu der man die rationalen Kalkulationen treiben soll. Überlegte Entscheidungsfindung ist kein freies Gut. Entscheidungsfindung birgt Kosten. Sie bedeutet Zeit, Stress, Übermüdung, Schlaflosigkeit und Herzanfälle. Sie ist ganz bestimmt etwas, das man wirtschaftlich betreiben muss. Die Kultur ist ein Weg, überlegte Entscheidungen wirtschaftlich zu fällen und die explizite Anordnung der in ihr enthaltenen Informationen und Grundsätze ebenfalls wirtschaftlich vorzunehmen. Sie hält eine Reihe von Überzeugungen, Haltungen, Vorlieben und Gebräuchen bereit, deren Echtheit historisch (darwi­ nistisch) und konsensual statt wissenschaftlich geprüft wird. Kultur bedeutet, dass 39 40

Jones (1960), S. 212 f. Downs (1957), S. 4.

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man nur niedrige Kosten für den Entscheidungsprozess zu tragen hat. Und dort, wo es Freiheit gibt, überlässt sie dem Einzelnen die Entscheidung darüber, ob künftige inkrementelle Verbesserungen der Entscheidungsqualität die zusätzlichen Kosten einer rationaleren Kalkulation wert sind. Es gibt eine breite Palette an Entscheidungen, bei denen viele Menschen es für optimal halten, auf kulturelle Werte zu vertrauen. Deshalb kleiden sie sich und reden, essen und wohnen nach den gängigen Regeln, die man für ihre Kultur als charakteristisch ansieht. Thorstein Veblen meinte, dass „das institutionelle Gewebe keine Nacht überstehen würde,“41 wenn die Entscheidungsfindung tatsächlich so rational ablaufen würde, wie oft dargestellt, weil es keinen Kanon an gemeinsamen Werten gäbe, den wir Kultur nennen. Und Edmund Burke stellte fest: „Wir wagen es nicht, den Menschen mit seinem Privatvermögen, mit seinem eigenen selbstgesammelten Vorrath von Erfahrung und Weisheit in die geschäftige Scene des Lebens zu werfen, weil dieser Vorrath bey jedem gar unbeträchtlich seyn möchte, weil der Einzelne unendlich gewinnen muß, wenn er das allgemeine Kapital aller Zeiten und Völker benutzen kann.“42 Die Kostenvorteile kultureller Normen sind vor allem dann groß, wenn wenig Zeit bleibt. Die kulturelle Norm „ist eine Triebfeder von schneller Anwendbarkeit in der Stunde der Noth,“43 wenn die Kosten einer „besseren“ Entscheidung aller Wahrscheinlichkeit nach weit über dem Nutzen liegen, den eine individuelle Neubewertung jahrhundertealter Erfahrung mit dem, was das Leben von uns fordert, brächte. Eine Mutter, die ihr Kind fallen sieht, greift unmittelbar in das Geschehen ein, ohne in Hamletmanier zu überlegen. Genauso befolgen Soldaten im Krieg die Befehle der zuvor ausgewählten Vorgesetzten, statt die Kosten zu tragen, die entstünden, wenn sie innehielten und überlegten, ob sie entweder einen verdienten Anführer wählen oder einen Weg rationalen Handelns einschlagen sollten. Umgekehrt erkennen die kulturellen Normen die relativen Vorteile an, die mit sorgfältigem Überlegen einhergehen, sofern die Zeit dazu bleibt. Man erkennt dies an Redewendungen wie „Eile mit Weile“ oder „Drum prüfe, wer sich ewig bindet.“ Die relativen Vorteile kultureller und rationalistischer Herangehensweisen bei der Entscheidungsfindung variieren nicht nur mit der jeweiligen Entscheidungsart und der zur Verfügung stehenden Zeit, sondern auch mit dem subjektiven Vertrauen des Einzelnen in seine Fähigkeit, mehr aus seiner eigenen Erfahrung herauszuholen, als die Kultur aus der allgemeinen bzw. „durchschnittlichen“ Erfahrung vieler Generationen destillieren kann. Zum Teil ist dies auch eine Frage, wie sehr die allgemeine Situation der individuellen Situation entspricht. Es gibt eben nur sehr wenige „Durchschnittstypen“. Sie sind statistische Konstruktive. Die Zahl ihrer Kinder hat Stellen hinter dem Komma. Und auch sonst haben sie fragwürdige Eigenschaften. Aber auch dann, wenn man die Frage ihrer Entsprechung oder Relevanz für den individuellen Fall beiseitelässt, kann man kulturelle Normen

41

Veblen (1961), S. 251. Burke (1793), S. 137. 43 Burke (1793), S. 137. 42

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aufgrund des Vertrauens abtun, das manch einer in die Überlegenheit seines eigenen Denkens hat, auch dank der allgemeinen Zustimmung durch Gleichgesinnte: „Eine persönliche Verpflichtung, den allgemeinen Regeln zu gehorchen, lehnten wir vollkommen ab. Wir beanspruchten das Recht, jeden Fall für sich zu bewerten, und die Weisheit, Erfahrung und Selbstkontrolle, dies auch erfolgreich zu tun. … wir erkannten keine moralische Verpflichtung an, keine innere Sanktion, uns zu fügen oder zu gehorchen. Wir beanspruchten vor dem Himmel, unser eigener Richter in eigener Sache zu sein.“44

Mit diesen Worten beschrieb John Maynard Keynes sich selbst und die Clique, der er angehörte. Diese Auffassung ist allerdings schon älter und auch recht weit verbreitet. Von den französischen Rationalisten des 18. Jahrhunderts sagte man: „Sie haben keine Achtung vor der Weisheit andrer, … vertrauen aber voll und ganz auf ihre eigne.“45 In einer etwas bescheideneren Version gründen sie ihr Vertrauen auf die Meinung der „aufgeklärten“ (d. h. gleichgesinnten) Zeitgenossen. Die Güterabwägung zwischen kulturell und individuell geprägten Entscheidungen setzt voraus, dass man zuvor die Entscheidungen nach Bedeutung und Einzigartigkeit sortiert und etikettiert hat. Innerhalb bestimmter Grenzen kommen weder kulturelle Normen noch rationales Kalkül zum Einsatz. Stattdessen erlaubt man sich, nach Lust und Laune zu wählen – z. B. zwischen blauer und grüner Bett­decke oder unter verschiedenen Farben fürs Auto; ganz egal, wie viele vernünftige Gedanken man an die Auswahl von Möbel und Auto verschwendet haben mag. Gelegentlich ist die Wahl zwischen kultureller und individueller Entscheidungsfindung eine Wahl zwischen „Gefühlsentscheidung“ und artikulierter Vernunft. Angesichts der sprachlichen Unzulänglichkeiten und der Grenzen präziser Evidenz ist es keineswegs eine ausgemachte Sache, dass die rein formale Art logischer Artikulation rationaler oder empirisch korrekter wäre. Wenn die Wahl zwischen den beiden Prozessen nicht von einer, sondern von zwei Personen (oder Gruppen) getroffen wird, dann ist es sogar unwahrscheinlicher, dass die deutlicher formulierte Position am ehesten zutrifft. Wir argumentieren hier nicht pro Mystizismus, sondern rein logisch. Es ist einfach nur eine Feststellung, dass die verallgemeinerte und undokumentierte Erfahrung – des Individuums und der Kultur – wohl schwerer wiegt als die Erfahrung, die niedergeschrieben oder ausgesprochen wurde. Spezifizierung und Ausdruck sind wichtig, aber sie greifen den Dingen nicht kategorisch voraus. Keine Studie kann mithilfe ihrer dünnen Datenlage den gesunden Menschenverstand oder die Erfahrungen vieler Generationen über Bord werfen. So offenkundig derlei auch sein mag, es widerspricht der Philosophie des Ratio­ nalismus. Jener erkennt nur an, was der „Überprüfung“ durch die „Vernunft“ standhält – wobei Vernunft im engeren Sinne verstanden wird: als artikulierte Besonderheiten. Wenn der Rationalismus in den engen Grenzen der Philosophie, denen er entsprungen ist, geblieben wäre, dann wäre er wohl nur eine intellektuelle Ku 44 45

Hayek (1980), S. 43. Burke (1793), S. 137.

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riosität. So aber ist er eine wirkmächtige Komponente in kontemporären Attitüden und wirkt sich stark auf politische und gesellschaftliche Maßnahmen aus – oder bestimmt dieselben. Im Extremfall bahnt er äußerst trivialen und tendenziösen „Studien“ von „Experten“46 den Weg in die Politik und setzt sich gewaltsam über die Vorlieben und Überzeugungen von Millionen Menschen hinweg. Während der Rationalismus auf der individuellen Ebene für größere persönliche Autonomie von kulturellen Normen plädiert, ist er auf der gesellschaftlichen Ebene mit dem Anspruch auf – ja Anmaßung von – Macht verbunden, um die Autonomie Dritter auf der Grundlage eines geschickteren Umgangs mit Wörtern zu beschneiden. Der Rationalismus befindet sich an dem eine Ende des Spektrums, an dessen anderem Ende der Evolutionismus steht. Aus Sicht des evolutionären Prozesses zeigt sich die entscheidende Rationalität in einem Prozess – und zwar unausgesprochen in allen (Tieren) oder in einigen (Menschen) – aber nicht in den Individuen, die in diesen Prozess eingebunden sind. Von dieser Warte aus betrachtet ist der evolutionäre Prozess nicht deshalb weniger wirkungsvoll, weil er unentdeckt oder ungeplant ist. Die Menschen haben klare Absichten, aber die Geschichte ist weniger eine Aufzeichnung dieser in die Tat umgesetzten Absichten, sondern vielmehr eine Bilanz von vollkommen anderen Dingen, die als Nettoergebnis unzähliger Ambitionen stattfinden, die auf sich gegenseitig ausschließende Ziele gerichtet sind. Hegel und Marx haben dies „die Ironie der Geschichte“ genannt, und Adam Smith sprach von einer „unsichtbaren Hand“, welche die individuellen Handlungen des Einzelnen zu einem gesellschaftlichen Ergebnis führe, das „keineswegs in seiner Absicht lag.“47 Darwin machte diesen Aspekt in seiner biologischen Verallgemeinerung desselben Prinzips noch anschaulicher, denn er applizierte seine evolutionäre Theorie sowohl auf das Reich der Tiere, deren Intentionen (bzw. „Instinkte“) wohl kaum für die Entstehung ihrer Arten herhalten können, als auch auf das unbeseelte Leben (Pflanzen und Gräser), das überhaupt keine erkennbaren Intentionen hat, aber dennoch komplexe ökologische Muster entwickelt. Kurzum, Intentionen können bestenfalls mit mächtigen nicht-intentionalen Kräften in Konkurrenz treten. Wenn man die Kultur als Produkt der Evolution denkt – ein Habitat menschlicher Beziehungen –, dann ist es alles andere als klar, ob es überhaupt gut durchdachte und zudem gültige Gründe gibt, die für Änderungen an bestimmten Teilen dieses sozialen Habitats sprächen. Selbst wenn dies im Einzelfall so sein sollte, werfen die unbeabsichtigten Folgen innerhalb des komplexen Gesamtsystems erhebliche Bedenken auf. Auch eine wohlformulierte Vernunft kann nur selten Fernoder Detailprognosen erstellen. Außerdem hängt viel von der Geschwindigkeit und Genauigkeit der sozialen Rückmeldungsmechanismen ab – und davon, ob die 46

Der Klassiker unter den Untersuchungen ist wohl die „Studie“ zur Rassentrennung von Kenneth Clark, die im Fall Brown v. Board of Education von 1954 herangezogen wurde. Anschließende Kritiken haben Clarks „Untersuchungsergebnisse“ zerpflückt. Vgl. Haag (1960). 47 Smith (1937), S. 423.

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Rückmeldung Anreize mit sich führt, kontraproduktive Maßnahmen anzupassen oder abzuschaffen. Angesichts der buchstäblich grenzenlosen Komplexität evolutionärer und ökologischer Prozesse – sozialer oder biologischer Art – und des beschränkten Horizonts selbst der vernünftigsten und bestinformierten Geister ist es keineswegs zwangsläufig so, dass die klügste, fleißigste und auch sonst „beste“ Person auch irgendwann mal am besten entlohnt wird. Evolutionäre Prozesse können die besten Ergebnisse auswählen, ohne die verdienstvollsten Individuen aussuchen zu müssen. Für die Natur gilt ähnliches: Selbst der (nach welchen Kriterien auch immer) „beste“ Fisch stirbt in einem See, der bei Dürre austrocknet, während schwächere, dümmere und schlechter schwimmende Fische in einem Gewässer mit genug Nährstoffen und weniger Gefahren gedeihen. In einer preiskoordinierten Wirtschaftsform werden Personen, die zufälligerweise über Ressourcen verfügen, die plötzlich einen großen Wert für andere darstellen (Land mit Ölquellen, als man den Nutzen von Petroleum entdeckte), ganz von allein reich. Die entscheidende Frage ist nicht, ob in diesem Prozess die „besten“ Individuen ausgewählt werden, sondern ob solche Prozesse die besten gesellschaftlichen Ergebnisse für die Bewegung von Ressourcen zu Tage fördern oder ob es alternative Wege gibt, die das Gewollte schneller oder in einem anderen Sinne besser herbeiführen. Die Knappheiten, Warteschlangen und Produktionsengpässe, die mit offenkundig „rationalen“ Methoden der Ressourcenallokation einhergehen, legen nahe, dass man das Handicap der Wissenskosten leichter überwinden kann, wenn jeder Halter wertvoller Ressourcen einen Anreiz hat, das ihm zur Verfügung stehende Wissen so schnell und weit wie möglich mit anderen zu teilen, um die größtmögliche Entlohnung zu erhalten, mag sie auch noch so unverdient sein. Ein ähnliches Prinzip ist am Werk, wenn ein Informant, der einen gesuchten Verbrecher auffliegen lässt, für seinen Verrat belohnt wird. Die Frage ist nicht, ob die Person die Belohnung verdient, sondern, ob dem Rest der Bevölkerung die Ergreifung des Täters die Belohnung wert ist. Kurz gesagt, Darwins Prinzip der „natürlichen Auslese“ meint eher die natürliche Auslese der „bestangepassten“ Vorgänge bzw. Prozesse als die der „bestangepassten“ Individuen. Der Grad der Vernunft in diesem Prozess ist keineswegs durch den Grad der Vernunft der Individuen beschränkt, wie oft irrtümlich angenommen wird.48 Es ist eher so, dass die „Menschheit Dinge erreicht hat, die von niemanden entworfen oder verstanden worden sind,“49 obwohl ihr Wert im Nachhinein von Millionen Menschen erkannt wurde, die das Ergebnis bewerten konnten, ohne den Prozess bewerten, geschweige denn entwerfen zu können. Kulturen belohnen sowohl mit Ehre als auch mit Geld. Ehrenbezeugungen unterstellen dem Empfänger oft Weisheit und / oder eine hohe Moral, aber Ehrentitel und Anredeformen werden auch unmittelbar vor dem Amtsantritt vergeben (Richter, Gesetzgeber etc.) – also zu einem Zeitpunkt, da der Amtsinhaber derlei Qualitäten 48 49

Wie z. B. von Dahl / Lindblom (1976), S. 392, und Lester (1946). Hayek (1948), S. 32.

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

noch gar nicht unter Beweis stellen konnte. Aber dies entspricht dem allgemeinen Umgang mit Honorierungen, die als vorausblickender Anreiz für ein gewünschtes Verhalten vergeben werden, egal, ob sie mit der rückblickenden Gerechtigkeit im Einklang stehen oder nicht. Kulturen geben Verhaltensmuster an die Hand; und zwar nicht nur durch die Bereithaltung optionaler Vorgaben für die Entscheidungsfindung und die Vergabe von Belohnungen für sozial wünschenswertes Verhalten, sondern auch durch Strafen für unerwünschtes Verhalten. Obwohl soziale Strafen weniger gut quantifizierbar sind als wirtschaftliche oder rechtliche Strafen, sind sie nicht unbedingt weniger ernst zu nehmen oder weniger effektiv. Einer ihrer großen Vorteile gegenüber formalen Strafen ist, das sie das Maß an notwendigem Wissen wirtschaftlicher nutzen. Im Extremfall weiß der Missetäter ganz genau um seine sorgfältig vertuschte Tat und bestraft sich mit seinen Gewissensbissen, welche die eingepflanzten kulturellen Werte widerspiegeln, selbst. Derlei Selbstbestrafung hat sogar schon zum Suizid geführt – lieber eine selbstverhängte Todesstrafe als weiterhin unter der Selbstbestrafung für Verbrechen zu leiden, die man allen erfolgreich verhehlen konnte. Anders vor dem Gesetz! Dort muss ein Verbrechen nicht nur aufgedeckt, sondern auch „über jeden Zweifel erhaben“ und unter Wahrung strikter rechtlicher Richtlinien nachgewiesen werden. Die Kosten für ein wirksames Wissen (das für eine rechtliche Bestrafung reicht) sind viel höher als die für soziale Strafen. Obendrein können informelle Kontrollen im Vorfeld Einschränkungen auferlegen, die das Strafrecht nicht verordnen kann. Viele, die zu Verbrechen und Strafen forschen, halten die formalen, rechtlichen Strafen nur für eine gelegentliche Absicherung der informellen Kontrollen, die genügen würden, um die meisten Menschen zur Einhaltung des Rechts zu bewegen. Reine Sozial- oder Moralsanktionen kann man daran erkennen, dass sie auch in Situationen, in denen keinerlei formale Macht am Werk ist, eine Wirkung erzielen. So haben z. B. die Sitten, die unter Sklaven herrschten, das Verhalten des Einzelnen beeinflusst. Vor dem amerikanischen Bürgerkrieg gehörte es zum Kodex der Sklavengemeinschaften des Südens, dass dann, wenn man nach der Sperrstunde einen Mann mit einer Frau erwischte, vom Mann erwartete, dass er zusätzlich zu seinen Peitschenhieben freiwillig die auf sich nahm, die der Sklavin zugedacht waren.50 Generell bestand eine Gruppensolidarität, die den Sklavenbesitzern Untreue untersagte51 und zu gegenseitigem Schutz und Beistand animierte.52 Die Gruppensolidarität hielt auch die Familienbande53 intakt, obwohl es keinerlei legale Sanktionen für Sklavenfamilien gab und die Gemeinschaft der Weißen dem Zusammenhalt der Sklavenfamilien feindlich gesonnen war.

50

Genovese (1974), S. 471. Genovese (1974), S. 622. 52 Genovese (1974), S. 379, 380 ff., 619. 53 Genovese (1974), S. 450–458; siehe auch Gutman (1976). 51

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Reine Sozialkontrollen wirken nur so weit, wie das Band der persönlichen Emotionen reicht. Das Band muss ausreichen, um den guten Willen der anderen wertzuschätzen und ihre Normen für glaubwürdig zu halten. Wenn die sozialen Möglichkeiten, ähnlich wie die wirtschaftlichen Möglichkeiten, von sich aus beschränkt sind, dann stellt sich nur die Frage, welcher institutionelle Mechanismus oder Prozess diese Beschränkungen dem Individuum am besten vermittelt. Obwohl in der Anarchie Institutionen denkbar wären, die eine vollkommene individuelle Freiheit in Aussicht stellen könnten, könnte dieselbe dennoch nicht mit Inhalt gefüllt werden, weil die freien Handlungen des einen die freien Handlungen des anderen einschränken und somit allgemein zu weniger Freiheit führen würden. Es ist wie bei einer unkontrollierten Menschenmenge, die im Brandfall zum Notausgang drängt und dabei geringere Aussichten hat, ihr Ziel zu erreichen, als sie es hätte, wenn ihre Evakuierung irgendwie geordnet abliefe. Weil ein sozialer Prozess nun mal die ihm innewohnenden Beschränkungen übermitteln muss, besteht die Wahl nur zwischen verschiedenen Mischungen aus Überredung, Gewalt und kulturellen Anreizen. Von dem einen weniger heißt von dem anderen mehr. Der mögliche Freiheitsgrad ist daher an das Ausmaß gebunden, in dem die Menschen auf Überredung und Verlockung reagieren. Die von den Briten und Amerikanern beschworene „Konformität“ dürfte sich auf die Freiheit beziehen, die in den beiden Gesellschaften seit Jahrhunderten hält, während ein großer Teil der übrigen Welt von einer Form der Despotie in die nächste gestolpert ist. Wie auch immer, je schwerer das Überreden und Verlocken fällt, desto mehr muss man zwingen; zumindest, wenn man davon ausgeht, dass die Menschen irgendwie miteinander auskommen müssen, soll das Leben in einer interdependenten Gesellschaft andauern. Die Zelebrierung von ungebundenem Individualismus bedeutet, dass ab einem bestimmten Punkt Gewalt akzeptiert werden muss – entweder private (Kriminalität, Randale und Selbstjustiz) oder öffentliche (Autorita­ rismus). Terroristen und Randalierer, die sagen, sie wollten eine demokratische Regierung nur zwingen, ihre „wahre“ autoritäre oder „faschistische“ Natur zu „offenbaren“, offenbaren eigentlich nur eine der fundamentalsten Güterabwägungen, die es in allen Gesellschaftsformen gibt, egal, wie demokratisch und human diese auch sein mögen. Womöglich war es gar die Duldung oder Romantisierung eines unkontrollierbaren Individualismus, die eine terroristische Mentalität und ein Umfeld, in dem diese sich entwickeln konnte, erschaffen hat – bis zu einer von der Natur vorgegebenen Toleranzgrenze. Der italienische Faschismus jedenfalls begann als Reaktion auf ein unkontrolliertes öffentliches Chaos. Die Kultur bietet viele Anhaltspunkte und Anlässe, dem Einzelnen die Annäherung an ultimative Grenzen auszureden; in etwa so, wie ein spezieller Warnstreifen am Ende eines Baseballfeldes den Spieler wissen lässt, dass er drauf und dran ist, in eine echte Mauer zu laufen, wenn er wie wild darauf aus ist, den Ball zu fangen. Je breiter der Streifen und je feinfühliger der Spieler bei der Verfolgung des Balls auf die Zusammensetzung der Erde unter seinen Füßen reagiert, desto effektiver ist die Warnung. Wenn man jene, die soziale Anhaltspunkte und Anreize

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missachten, als „Individualisten“ romantisiert oder heroisiert, dann wächst die Gefahr, dass im Rahmen der gesellschaftlichen Grenzen die Menschen mit ihren Köpfen zusammenstoßen. Sich über die verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Missbilligung verächtlich zu machen, bedeutet im Endeffekt, den Warnstreifen zu schmälern. Wenn die betroffenen Individuen Teil derselben Kultur sind, dann wirken die kulturellen Anhaltspunkte als Warnhinweise oder Wegweiser zu positiven Beziehungen besser. Während der Rationalismus kulturelle Merkmale eher im Hinblick auf ihre besonderen Feinheiten – die bizarr oder „irrational“ sein können – untersucht, besteht die wahre Funktion kultureller Anhaltspunkte darin, Informationen in einem Code zu übermitteln, der von den Nutznießern der Information bereits verstanden wird. Das heißt, dass Stimmigkeit und Zuverlässigkeit der Anhaltspunkte wichtiger sind als die einzelnen Anhaltspunkte selbst. Wenn jemand einer Frau respektvoll begegnet oder einen Mann mit „Entschuldigung mein Herr …“ anspricht, dann schafft er damit einen bestimmten Rahmen an Absichten, eine Art impliziter Vertrag für die angestrebte Beziehung, der von der anderen Partei überprüft werden kann, um festzulegen, wieviel von dem, was folgt, zum Rahmen der implizierten Absichtserklärung passt. Ein kesses „Na Puppe“ oder „Na Kumpel“ impliziert ein anderes Sortiment an Absichten und ist Gegenstand einer anschließenden Überprüfung innerhalb eines anderen Rahmens oder gar einer Ablehnung von Anfang an. Es geht hier nicht um die Bedeutung und Vorzüge der ausgesprochenen Worte selbst. Es ist der gegebene kulturelle Kontext, der eine bestimmte Konstellation an Absichten vermittelt, ungeachtet der expliziten grammatikalischen Bedeutung der Worte. Dort, wo verschiedene Kulturen oder Subkulturen Seite an Seite leben oder sich überschneiden, haben dieselben Worte oder kulturellen Anhaltspunkte für unterschiedliche Menschen eine unterschiedliche Bedeutung. Das bedeutet mehr Missverständnisse und größere Anstrengungen beim „absichernden“ Verhalten zwecks Minimierung drohender Missverständnisse. Überdies erwerben die sorglosesten oder bigottesten Mitglieder der jeweiligen Kulturen eine überproportional große Fähigkeit, Zwischengruppenkonflikte zu schaffen, weil ein Problem der kulturellen Auslegung die Festlegung des Ausmaßes ist, in dem ein vorhandenes Individuum oder eine gegebene Gruppe von Individuen die allgemeinen Empfindungen gegenüber einer anderen Gruppe (vor allem Feindseligkeit) repräsentiert. Die Werte des Individualismus werden nicht nur in den Gesetzen und Verfassungsrechten bezüglich Privatheit, Gewissensfreiheit etc. gewürdigt, sondern auch in den sozialen Grundsätzen von Toleranz und Pluralismus sowie allgemein in einer Leben-und-leben-lassen-Haltung. Für die Natur und Implikationen der Güterabwägung ist eine solche Anerkennung aber nicht notwendig. Vor allem die Forderung nach einem unbegrenzten Individualismus muss im Lichte der Beschränkungen, die dem Gesellschaftlichen innewohnen, abgewogen werden. Diese Beschränkungen können zwar ihre Form ändern, aber nicht eliminiert werden, ohne die Gesellschaft gleich mit zu eliminieren. Außerdem kann der Anspruch, den Einzelnen zu

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tolerieren, nicht so weit gehen, dass man anderen Leuten das Recht abspricht, das, was ein Individuum tut, so zu beurteilen, wie sie es für richtig halten. Die moderne Forderung nach Individualismus – einschließlich der in John Stuart Mills On ­Liberty – ist zu einem großen Teil ein Plädoyer, jene von sozialen Rückmeldungen auszuschließen, die individuelles Verhalten negativ bewerten. Derlei Ausschluss ist insbesondere dann widersprüchlich, wenn er von denen ausgeht, die den Rest der Gesellschaft aktiv kritisieren. Egal, wie demokratisch die Sprache auch ist, in welcher der Anspruch erhoben wird, er fordert nicht eine allgemeine Freiheit, sondern ein besonderes und nicht-reziprokes Privileg. Sittlichkeit als das, was in den sozialen Prozess eingespeist wird, ist Gegenstand nachlassender Erträge, und letztlich auch Gegenstand negativer Erträge. Ohne jegliche Moralität gäbe es viel mehr Gewalt. Das wäre ein Verlust für jene, die Opfer von Gewalt sind, aber auch ein Verlust für die Wirksamkeit des sozialen Prozesses. Ein Mindestmaß an Ehrlichkeit und Anstand reduziert die andauernden und verzweifelten Bemühungen, die ansonsten zum Schutz von Leib und Leben bzw. von Hab und Gut der Menschen nötig wären. Ab einem gewissen Punkt wird die soziale Moralität für die Individualautonomie lästig. Andererseits wäre eine Gesellschaft aus unterschiedlichen Individuen und Gruppen nicht möglich, wenn jeder sich nur der Moral verschriebe, die ihm beliebt. Sowohl Karl Marx als auch Adam Smith erkannten, dass es Sittlichkeitsniveaus gibt, deren Unvereinbarkeit eine Gesellschaft zerstören können. Marx suchte sogar nach derlei moralischen Unverträglichkeiten – Ideologien –, um den Kapitalismus zu zerstören. Für Marx gründeten solche Ideologien letztlich auf Klasseninteressen. Direktes Eigeninteresse könne man abschwächen und handhaben, um gegenseitige Zerstörung zu vermeiden, während das ideologisch vergegenständlichte Eigeninteresse zu einem moralischen Imperativ werde, dem beide Seiten bis zur Schicksalsschlacht folgen würden. Diese Schicksalsschlacht war es natürlich, die Marx für den Kapitalismus wollte, weil er davon ausging, dass sie zum Sieg des Sozialismus führen würde und die Bedingungen, die der Ursprung der klassenbedingt rivalisierenden Ideologien waren, beenden würde. Wenn er gedacht hätte, dass auch der Sozialismus derlei ideologische Konfrontationen zeitigen und – ebenso wie seine Nachfolgersysteme – in die Selbstzerstörung münden würde, dann müsste das Leben offenbar in ein unendliches Chaos stürzen und hätten die jeweiligen Sondervorzüge, die jedes System für sich in Anspruch nehmen kann, nur eine geringe Bedeutung. Für Marx hatte die destruktive Moralität ihre Berechtigung nur wegen der Aussicht auf eine rationale und dauerhafte Ordnung, die am Ende herausschauen würde. In seiner Kritik an jenen, die nur auf moralische Prinzipien drängten, ohne deren Kosten gesellschaftlicher Zersetzung zu bedenken, war er gnadenlos.54 Auch Smith wusste um dieses Prinzip destruktiver Niveaus von Moralität, wider­sprach aber denen, die auf deren „Etablierung bestehen, und zwar auf der

54

Siehe z. B. Mühlestein (1948), S. 128 f.

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umgehenden Etablierung und gegen allen Widerstand“55 – egal, was die moralische Position fordere. Er kontrastierte abstrakte moralische und ideologische Prinzipien – er sprach vom „Geist eines Systems“ – mit der „Liebe zur Humanität“ und „wirklichem Mitgefühl“, welche den „Fanatismus“, mit dem sich die Menschen zum „Narren ihrer eigenen Spitzfindigkeit“56 machten, lindern sollten. Anders als der „Mann des Systems“ wird der Mann „mit Gemeinsinn“ den Aversionen und Vorurteilen der anderen „gerecht werden“. „Wenn er das Recht nicht durchsetzen kann, wird er es nicht verschmähen, das Unrecht zu verbessern, sondern er wird wie Solon, wenn er nicht das beste System von Gesetzen einführen kann, sich bestreben, doch das beste unter jenen Systemen einzuführen, die das Volk noch zu ertragen vermag.“57

Smith und Marx haben also auf sehr unterschiedliche Weise zur Kenntnis genommen, dass die Moralität – so wie andere Zutaten zum sozialen Prozess auch – dem Gesetz der nachlassenden Erträge folgt, was letztlich negative Erträge bedeutet. Die Menschen können auch zu sehr moralisch sein. Moralität kann auch schon dann inkrementell kontraproduktiv sein, wenn sie das Niveau noch nicht erreicht hat, ab dem sie auf die ganze Gesellschaft eindeutig zersetzend wirkt. Die Politik „sozialer Gerechtigkeit“ ist oft rückwärtsgewandt. Ihre Effekte schaffen indes jetzt und künftig Kosten. Ab einem bestimmten Punkt können solche Kosten die Kosten für die Korrektur der ursprünglichen Ungleichheit übersteigen. Wenn eine Gruppe infolge gesellschaftlicher Ereignisse, die jenseits ihrer Kontrolle oder Voraussicht lagen, einen Verlust X erleidet – er mag in Geldeinheiten oder anderweitig erfasst sein –, dann kann es sein, dass man in ihnen Opfer einer zu korrigierenden sozialen Ungerechtigkeit sieht. Wenn aber die Korrekturkosten (finanzieller oder anderer Natur) in einem Prozess bestehen, der den Steuerzahler oder eine dritte Partei zweimal X kostet, dann sind jene, denen die Kosten auferlegt werden, ebenfalls Opfer von Ereignissen, die sich ihrer Kontrolle und Voraussicht entziehen – und das in höherem Maße. Die Ungerechtigkeit wurde in Raum und Zeit verschoben – und größer. Wenn die Regierung beispielsweise zur Vermeidung retrospektiver Ungerechtigkeit gegen Menschen aus der Pferde- und Kutschenbranche (die in bester Absicht einen jahrhundertealten Beruf ergriffen haben, nicht ahnend, dass mal ein Henry Ford daherkommen würde) die Einführung von Automobilen irgendwie hätte unterbinden können, dann hätten Millionen von Menschen, die in abgelegenen Ortschaften lebten, in vielfacher Weise die Möglichkeit verloren, ihren Horizont zu erweitern. Das hätte einen größeren Verlust bedeuten können als die Kosten, die mit dem Berufswechsel einhergehen, wenn man die Kutschenindustrie zugunsten eines anderen Wirtschaftszweigs aufgibt.

55

Smith (1976), S. 381. Smith (1976), S. 379. 57 Smith (1976), S. 380, hier zitiert nach Walther Ecksteins Übersetzung, Smith (2004), S. 395. 56

Kap. 4: Gesellschaftliche Güterabwägungen

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Ein Volk, das dafür sensibilisiert ist, gegen buchstäblich jede Ungerechtigkeit vorzugehen, ist ein Volk, das sich einer nie endenden Kostenproduktion verschrieben hat, einschließlich jener der künstlich eskalierenden neuen Ungerechtigkeiten. Wenn man einen Familienbesitz konfisziert, der vor langer Zeit ungerecht zustande kam, dann schafft das unter Millionen von heutigen Hausbesitzern, die sich jahrelang abgerackert haben, um ihren Familien ein Dach über dem Kopf zu bieten, Unsicherheit. Vielleicht hat der Staat überhaupt nicht die Absicht, letzteren Privateigentum wegzunehmen. Aber wenn erst einmal die allgemein garantierten Eigentumsrechte verletzt worden sind, dann wächst die Unsicherheit hinsichtlich der Eigentumsrechte – ein unmittelbarer Kostenpunkt, der sich geldlich in sinkenden Marktwerten ausdrückt. Dabei ist es egal, ob die befürchtete Eventualität eintritt oder nicht. Kurz gesagt, eine sofortige Teilkonfiszierung – oder gar Vernichtung – fremden Eigentums würde infolge einer retrospektiv gerechten Konfiszierung eines illegal erworbenen Besitzes – der durchaus nur einen Bruchteil des Wertes aller Verluste, die Millionen von Menschen (Hauseigentümer eingeschlossen) erlitten haben, ausmachen könnte – automatisch einsetzen. Neben den unmittelbaren Kosten, die dritten Parteien auf derlei Weise künstlich auferlegt werden, bewirkt die retrospektive Gerechtigkeit außerdem prospektive Verhaltenswechsel. Das zeigt sich in diesem Fall beispielsweise durch eine allgemeine Verschiebung bei den Vermögenswerten. Statt sichtbare, immobile Formen wie Häuser und Fabriken wählt man künftig verdeckte und mobile Vermögenswerte, wie z. B. Gold. Auch die Arbeits- und Vorausplanungsanreize würden berührt, weil die Zeithorizonte mit wachsender Unsicherheit schrumpften, was die Investitionen in neue inländische Arbeitsplätze minderte. Arbeitslose ohne Haus und Grund könnten die Hauptverlierer dieses Akts retrospektiver Gerechtigkeit von heute und morgen sein. Es geht hier nicht um die These, dass jeder Akt der Gerechtigkeit und jede Rücksicht auf die Moralität quasi als kategorisches Prinzip kontraproduktiv sein müssten. Der Punkt ist eher die Einsicht, dass uneingeschränkte Moralität letztlich, quasi als inkrementelles Prinzip, kontraproduktiv wird, auch im Hinblick auf die angestrebten Moralprinzipien. Das Gesetz der nachlassenden Erträge gilt für die Moralität genauso wie für alle anderen wertvollen Beiträge zum Gemeinwesen. Abgesehen davon, dass die Moralität mit Blick auf den eigenen Wertekanon kontraproduktiv werden kann, kann sie wegen ihrer Auswirkungen auch im Hinblick auf andere Werte kontraproduktiv werden. So kann beispielsweise Voreingenommenheit hinsichtlich der Moralität individueller Privilegien dazu führen, dass man wichtige soziale Bedenken, die ebenfalls eine Rolle spielen, ausblendet. Man kann etwa die Frage stellen, was das betreffende Individuum getan habe, um den Wohlstand, das Privileg und die Macht, König zu sein, zu verdienen. Die übliche Antwort in solchen Fällen lautet „nichts“, während die gewichtigere soziale Frage jene nach den Vor- und Nachteilen sein dürfte, die mit einer Monarchie einher­gehen, und zwar im Vergleich zu den realistischen politischen Alternativen, die zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort vorherrschten. In weniger extremen Fällen, in denen das Individuum selbst einen Beitrag zum eigenen Glück erbracht hat, kann man

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

immer noch fragen, ob es damit seine glückliche Lage hinreichend rechtfertige. Die bedeutendere Frage ist aber auch hier, ob es institutionelle Alternativen gebe, die für die anderen mindestens genau so gute gesellschaftliche Resultate erzielen. Der Einzelne, dem das Glück hold war, antwortet vielleicht im selben Rahmen wie sein Kritiker und sieht sich als jemanden, der es verdient hat – womöglich auch als einen „Self-Made-Mann“, um einen unglaublich naiven wie arroganten Ausdruck zu verwenden. Die soziale Thematik dürfte indes eher eine systemische als eine individuelle sein, und moralische Voreingenommenheit kann uns davon abhalten, die Sache im Ganzen zu sehen.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Prozesse gesellschaftlicher Entscheidungsfindung, formale wie informale, stehen vor einem und demselben Grundproblem: Sie sollen Wohlergehen maximieren, das bestimmten inhärenten Beschränkungen ausgesetzt ist – an Zeit, Weisheit oder wirtschaftlichen Ressourcen. Sowohl die Beschränkungen als auch der Maximierungsprozess sind in ökonomischen Prozessen leichter zu quantifizieren oder vor Augen zu führen, aber die dabei zugrunde liegenden Prinzipien sind allgemeine gesellschaftliche Prinzipien. Gesellschaftliche Werte sind generell inkrementell variabel. Weder Sicherheit noch Diversität, rationale Darstellung oder Moralität sind kategorisch eine „gute Sache“, von der man unbegrenzt mehr haben sollte. Sie alle sind Gegenstand nachlassender Erträge, und können schließlich auch negative Erträge einbringen. Obwohl bei Prozessen gesellschaftlicher Entscheidungsfindung die entscheidende Frage der Bedeutung solcher Prozesse für die Gesellschaft an sich gilt, kann man bei deren Beantwortung nicht automatisch so tun, als ob die Gesellschaft als Ganzes die Entscheidungseinheit wäre. Vielmehr muss man die Anreize und Zwänge bedenken, denen die tatsächlichen Entscheidungsträger gegenüberstehen. Nur so kann man festlegen, ob es wahrscheinlich ist, dass ihre Entscheidungen gesellschaftlich optimale Ergebnisse herbeibringen. Es geht großenteils um die Frage, wie effektiv Wissen übermittelt werden kann, und nicht einfach nur darum, wie gut die Informationslage der ursprünglichen Entscheidung war. Nein, wichtig ist, wie wirkungsvoll Rückmeldungen Einfluss auf die nachfolgenden Änderungen nehmen, und zwar ungeachtet der Frage, ob der Entscheidungsträger eine Änderung will. Effektives gesellschaftliches Wissen ist Wissen um den gesellschaftlichen Einfluss, der Entscheidungsträger zwingt, ihre Entscheidungen angemessen auszurichten, sowohl anfänglich als auch nachträglich – genauso wie effektives ökonomisches Wissen ein Unternehmen dazu zwingt, sich angesichts sonst drohenden Bankrotts an den Wünschen der Konsumenten auszurichten. Sind Institutionen von derlei erzwingendem Wissen entkoppelt, dann steht es den Entscheidungsträgern vollkommen frei, Informationen über die gesellschaftlichen Folgen ihres Tuns einzuholen oder gar danach zu handeln. Da derlei Informationen kostenträchtig

Kap. 4: Gesellschaftliche Güterabwägungen

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sind und die Beschneidung eigener Vorlieben und Eigeninteressen bzw. das Eingestehen von Fehlern sogar noch kostspieliger sein kann, hat eine Institution jeden nur erdenklichen Anreiz, der Übermittlung gesellschaftlich wirkungsvollen Wissens zu widerstehen. Die Frage, wie effektiv Institutionen ihren gesellschaftlichen Zweck (der vom Zweck der Institutionsbetreiber zu unterscheiden ist) erfüllen, hängt weitgehend davon ab, wie es um die Leitfähigkeit der Anreizstruktur steht, die externes Wissen weiterleitet. Dort, wo die individuelle oder institutionelle Zahlungsfähigkeit auf dem Spiel steht, ist Geld verständlicherweise ein empfindsamer Wissensleiter. Die Übertragbarkeit von Geld erleichtert eher inkrementelle als kategorische Entscheidungen und erlaubt ein stufenweises Abwägen höchst ungleicher Effekte innerhalb einer Buchführungsart. Auf diese Weise wird keine künstliche Gleichsetzung vollzogen, sondern eine inhärente Güterabwägung zur Kenntnis genommen. Die dabei abgewogenen Optionen sind nicht auf simultan vorhandene Alternativen begrenzt, sondern können auch zeitlich und räumlich verstreute Alternativen einschließen, weil auch Ersparnisse und Investitionen mit unterschiedlichem Reifegrad sowie gegenwärtige Konsumptions- und Produktionsentscheidungen mit einzurechnen sind. Trotz ihres sonstigen Gegensatzes teilen sowohl finanzielle Überlegungen als auch persönliche Empfindungen die Eigenschaft, gesellschaftliches Wissen durch Raum und Zeit und von einem zum anderen individuellen Entscheidungsträger zu leiten. Wenn eine Familie sich zu einem Umzug in ein neues Zuhause entscheidet, dann sind verschiedene emotionale Aspekte abzuwägen: eines der Kinder wird bald sein eigenes Zimmer brauchen, die älteren Kinder werden von ihren Freunden in der Nachbarschaft getrennt, die neue Schule wird sich auf ihre berufliche Zukunft auswirken, der emotionale Stress für den Ernährer der Familie wächst wegen der hohen Raten für das neue Zuhause. Dies und vieles mehr muss im Gefühlshaushalt familiären Wohlergehens bedacht werden. Auch wenn nur einer allein in der Familie die Entscheidung trifft, so leiten doch die emotionalen Bindungen zwischen ihm und den übrigen Familienmitgliedern deren Bedürfnisse in Form von Anreizen und Zwängen an ihn weiter. In der Regel bringt ihn das dazu, eine ganz andere Entscheidung zu treffen als jene, die von seiner individuellen Warte aus als die optimale anzusehen wäre. Ein Vater mag z. B. zum Wohl seiner Kinder mit der Familie in die Vorstadt ziehen und täglich ermüdende Fahrten zur Arbeit hinnehmen, obwohl es Wohnungen zu mieten gibt, von denen aus er täglich zu Fuß ins Büro gehen könnte und die viel näher zu den Einkaufsstraßen und den Ausgehmöglichkeiten für ihn und seine Frau lägen. Alle diese Überlegungen sind übertragbar und variieren inkrementell, wenn dank einer hohen emotionalen Leitfähigkeit die aktuellen und künftigen Bedürfnisse der anderen in Form von Anreizen und Zwängen an den Entscheidungsträger übermittelt werden. Auf diese Weise entsteht ein soziales Pendant zum Wirtschaftsakteur, der den verbleibenden Rest für sich beansprucht und daher mit sozialer Wirkkraft als ein „unbeaufsichtigter Aufseher“ fungieren kann. Im Gegensatz dazu sind die Regeln einer Organisation oft kategorial. Das ist z. B. der Fall, wenn die Städteordnung vorschreibt,

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

dass alle städtischen Angestellten innerhalb der Stadtgrenzen leben müssen, oder eine Paketverordnung vorgibt, wie Päckchen einzupacken sind. Die Vorstellung eines „unbeaufsichtigten Aufsehers“ mit einem umfangreichen Mandat mag als Möglichkeit, etwas zu erledigen, dubios erscheinen. Klare Spezifizierungen (Arbeitsplatzbeschreibungen, Organisationsregeln), für deren Umsetzung Kontrolleure auf mehreren Ebenen sorgen, sind viel rationalistischer. Aber worum es schlussendlich geht, ist nicht Plausibilität, sondern Erfolg. Unbeaufsichtigte Aufseher zählen zu den Menschen, die am härtesten und hingebungsvollsten arbeiten. Mütter und Geschäftsleute sind klassische Beispiele. Die beiden unbeaufsichtigten Aufseher sind, jeder auf seine Weise, für die Intensität und Ausdauer, mit der sie sich bemühen, geradezu berüchtigt. Dass sie die Dinge „ruhig angehen“ sollten, hören sie oft von denen, die ihnen am nächsten stehen und am meisten von ihrem Einsatz profitieren. Ähnliche Niveaus an Hingabe sind unter gewöhnlichen Angestellten beim Staat und in der Wirtschaft seltener zu finden – und das, obwohl letztere viel mehr Vorgesetzten unterstellt und unzähligen Einzelvorschriften unterworfen sind. Ratschläge an niedere Beamte, die Dinge „ruhig anzugehen“, würden Verdacht schöpfen lassen oder Sarkasmus auslösen. Es liegt auch nicht daran, dass unterschiedliche Gruppen von Personen unterschiedliche Leistungen ablieferten, weil sie unterschiedliche Werte oder Seelenleben hätten. Dieselben Leute, die als Angestellte beim Staat und in der Wirtschaft ihre Arbeit kraft- und saftlos erledigen, bringen sich als Eltern dazu, alles zu geben, wenn es um ihre Kinder geht. Niemand ist ein vollkommen unbeaufsichtigter Aufseher. Es gibt rechtliche Auflagen für das Führen eines Betriebs und Gesetze, die Verwahrlosung und Missbrauch von Kindern ahnden. Doch diese Gesetze erreichen nur selten das Niveau bzw. die Intensität jener Anstrengungen, die Eltern oder Geschäftsleute an den Tag legen. Der Geschäftsmann, der Tag und Nacht arbeitet, macht meist viel mehr als das, was nötig ist, um nicht entlassen zu werden oder den Betrieb vor einer Anklage oder dem Bankrott zu retten. Ähnliches gilt für die meisten Eltern. Sie könnten ihre Anstrengungen und Ausgaben für ihre Kinder wahrscheinlich halbieren und würden trotzdem nicht wegen Verwahrlosung oder Missbrauch rechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Eine der größten Ausgabenposten für die eigenen Kinder ist übrigens das Studium, das sie in einem Alter beginnen, in dem man rein rechtlich gesehen gar nichts mehr für sie tun müsste. Kurz und gut, selbst dort, wo es formalisierte Regeln gibt, kann die artikulierte Rationa­lität dieser Regeln auch nicht ansatzweise die Mühen und Opfer erklären, die unbeaufsichtigte Aufseher auf sich nehmen. Es ist die hohe Leitfähigkeit von Geld und emotionalen Bindungen, die das Wissen um die Bedürfnisse der anderen mit derlei dramatischen Auswirkungen übertragt. Eine hohe Leitfähigkeit ist eine wirtschaftliche Lösung für teures Wissen, fast so wie die Übertragung von Elektrizität mittels Kupferdraht eine wirtschaftliche Lösung zur Generierung von Strom ist. Rein physikalisch wäre es auch möglich,

Kap. 5: Politische Güterabwägungen

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Strom durch einen anderen, weniger leitfähigen Draht zu schicken. Auch die Leitfähigkeit des menschlichen Nervensystems spart Wissen. Ein Kleinkind zieht die Hand von heißen Gegenständen zurück, ohne wissen zu müssen, wie die Hitze sein Gewebe zerstört. Das selten auftretende medizinische Phänomen, dass das menschliche Nervensystem keine Schmerzen überträgt, zeigt ebenfalls, wie die Leit­ fähigkeit Wissen einspart. Menschen mit diesem Handicap müssen sich regelmäßig medizinischen Untersuchungen unterziehen, weil sie keines der schmerzhaften Symptome verspüren, die andere Menschen veranlassen, sich geistig anzustrengen, oder sie sonst wie davon abhalten, die schmerzhafte Handlung fortzusetzen. Sie müssen ersatzweise nach viel größeren Mengen an kostspieligem, explizitem und schriftlich verfasstem Medizinwissen Ausschau halten. Manche dieser Menschen kamen gerade noch rechtzeitig von einer Routineuntersuchung in den OP, um sich in einer Notoperation den akut entzündeten Blinddarm, der ihnen keine Schmerzen verursacht hatte, entfernen zu lassen. In dem Maße, in dem soziale Institutionen vom Schmerz der Rückmeldung abgekoppelt sind, übersehen sie gefahrvolle Situationen oder haben unverhältnismäßig hohe Kosten für das Wissen zu tragen, das ihren Erhalt oder den der Gesellschaft ermöglicht. Gelegentlich versuchen Institutionen bewusst, sich gegen schmerzhafte Rückmeldungen abzugrenzen oder zu immunisieren. Manchmal geschieht das auch als unbeabsichtigte Folge der Art und Weise, in der Entscheidungsgremien formiert werden. Man denke z. B. an eine für die U-Bahn zuständige Stelle, die keine Ahnung hat, welche Verletzungen und Tode ihre Sicherheitspolitik unter Busreisenden und Autoinsassen verursacht. Wirksame gesellschaftliche Entscheidungsfindung muss nicht von der Übermittlung expliziter Rückmeldungen an die Entscheidungsträger abhängen, auch nicht davon, wie sehr diese in ihren Reaktionen darauf Vernunft und Einsicht zeigen. Dort, wo Individuen, Institutionen oder Prozesse ums Überleben kämpfen, werden sich die Bestangepassten durchsetzen. Es ist unerheblich, ob dies der Kraft des Verstandes oder dem Glück allein geschuldet ist. Die gesellschaftlichen Vorteile werden auf beide Arten maximiert. Das Verdienst des Einzelnen ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für das optimale Fällen gesellschaftlicher Entscheidungen.

Kapitel 5

Politische Güterabwägungen Der Staat als Entscheidungsträger wird oft als die institutionelle Personifizierung der „Gesellschaft“ schlechthin angesehen. Aber die Vielfalt, Konflikte und unterschiedlichen Anreize und Zwänge, die aus der „Gesellschaft“ als Entscheidungseinheit eine bedeutungslose Abstraktion machen, machen auch den Staat zu einer fragmentarischen Aggregation von Entscheidungsträgern. Jemand, der die Verhältnisse in Washington gut kennt, spricht gern von „den verfeindeten Fürsten­

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

tümern, auch bekannt unter dem Namen Bundesregierung.“58 Damit meint er nicht die klassische „Gewaltenteilung“ in Legislative, Judikative und Exekutive. Jene „verfeindeten Fürstentümer“ sind alle Teil derselben Exekutivorgane. Die exeku­ tiven Organe der US-Regierung haben nicht nur jeweils ihre eigene Politik verfolgt, die an jener der anderen vorbeiging, sondern sich auch gegenseitig vor Gericht gezerrt. Theoretisch unterstehen sie alle der Kontrolle und Weisung des US-Präsidenten, aber die Tatsache, dass man untereinander so zerstritten ist und sich in der Öffentlichkeit zerfleischt – nicht nur in der Presse, sondern auch vor Gericht – legt nahe, dass der Präsident es für politisch klug zu halten scheint, sich aus den Machtkämpfen herauszuhalten. Die Bereiche der autonomen Entscheidungsfindung innerhalb der Regierung können zudem noch kleiner sein als die dafür vorgesehenen Behörden und Ämter. So mancher Behördenleiter dürfte wohl kaum eine Kontrolle über „seine nominell Unterstellten [haben], die de facto eine Festanstellung genießen.“59 Sie sind zwar keine Beamten, pflegen aber enge Kontakte zu bestimmten Kongressabgeordneten, deren Mitarbeitern oder zur Presse und zu Wahlkreisen von außerhalb.60 Staatliche Entscheidungseinheiten muss man wie alle anderen sozialen und ökonomischen Entscheidungseinheiten analysieren, die ihre Handlungsabläufe so wählen, dass sie – unter Berücksichtigung der situativen Anreize und Zwänge – der Maximierung des eigenen Wohlergehens dienen. Diesen Aspekt muss man hervorheben, weil man in weiten Teilen der Literatur davon ausgeht, dass nicht-staatliche Handlungen dem Eigeninteresse dienten, aber aus unerfindlichen Gründen bei staatlichem Handeln so tut, als ob es der axiomatische Beleg für ein objektives gesellschaftliches Bedürfnis nach derlei Handlungen sei.61 Obwohl es vereinzelt aufopferungsvolle Staatsdiener gibt, ist die Behauptung, die Beamten kontrollierten im Allgemeinen die Entscheidungsfindung staatlicher Stellen, weniger realistisch als die entgegengesetzte Auffassung, die „Parteien gestalten ihre Politik so, dass sie damit Wahlen gewinnen, und sie gewinnen nicht Wahlen, damit sie Politik

58

Moynihan (1970), S. lvii. Posner (1976), S. 230. 60 Posner (1976), S. 230, Glazer (1975), S. 212 ff. 61 So schreiben z. B. Dahl / Lindblom (1976), dass der Staat sich bei Lohnverhandlungen „nicht raushalten kann“, weil „so viel auf dem Spiel steht“ (S. 185); staatliche Regulierung eingesetzt würde, um „Unzulänglichkeiten des Preissystems“ (S. 213) zu beheben; der Krieg „die Abschaffung des Preissystems erzwingt“ (S. 374), weil „das Preissystem natürlich nicht gut funktioniert“ (S. 381); medizinische Versorgung, Wohnungsbau und andere Aktivitäten „wegen besonderer Mängel des Preissystems kollektiviert werden.“ (S. 419) In keinem dieser Beispiele wird die Möglichkeit politischer Anreize zur Ergreifung solcher Maßnahmen auch nur erwähnt oder gar ernsthaft erwogen. Ähnliche Behauptungen und Aussparungen findet man bei Berle (1969). Dort heißt es, im Bildungswesen müsse man „den Staat hinzuziehen“ (S. 195), die Ausdehnung wirtschaftlicher Kontrollen „kann man nicht verhindern“ (S. 261); Frankreich „hält es für notwendig,“ dass der Staat die Kapitalmärkte kontrolliert (S.  214); staatliche Konsumkontrolle sei „die einzig praktikable Möglichkeit, dem unerträglichen Verkehrsstau und Durcheinander bzw. dem Chaos zu entgehen“ (S. 252). 59

Kap. 5: Politische Güterabwägungen

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gestalten können.“62 Und dort, wo die Regierung erst gar nicht gewählt wird, ist die Behauptung, die Regierung handle allein, um auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu reagieren, als Grundlage der Analyse noch unsinniger. Wie in Kapitel 2 vorweggenommen, sind politische Stellvertreter eine Möglichkeit, bei der staatlichen Entscheidungsfindung Wissen einzusparen. Schließlich kann nicht jeder Bürger in jeder Angelegenheit voll informiert sein. Gleichwohl bedeutet dieses Arrangement auch, dass die politischen Stellvertreter bei der Nutzung des Wissens gegenüber ihrer Wählerschaft in einem systemimmanenten Vorteil sind. Die Kunst der Politik besteht nicht gerade zu einem kleinen Teil in der Ausnutzung dieses Vorteils – sei es, dass man die Kosten und Vorteile eines bestimmten Regierungsprogramms falsch ausweist, indem man auf ominöse Rücksichtsnahmen in der Außenpolitik verweist, „die nur der Präsident kennt“, oder auf die komplizierten Regeln im „Paragrafendschungel der Bürokratie“, die nur Eingeweihten bekannt seien und daher das Regierungshandeln der Überprüfung durch Außenstehende entzögen. Jedes der politischen Systeme (Demokratie, Monarchie, Feudalismus etc.) betont, wie wichtig die „Loyalität“ der Untergebenen sei – nicht die Loyalität gegenüber der Öffentlichkeit, auch nicht gegenüber der Regierung, sondern gegenüber ihren unmittelbaren Vorgesetzten. Auf diese Weise schließen sie undichte Stellen, durch die sonst Wissen an Außenstehende dringen könnte. „Die Gesellschaft“ mag zwar – auch wenn es um Regierungsentscheidungen geht  – weit davon entfernt sein, eine Entscheidungseinheit zu sein, aber sie ist dennoch die wichtigste Größe, hinsichtlich der die Auswirkungen politischer Entscheidungen zu bedenken sind. Deshalb sind die hier zu betrachtenden Güter­ abwägungen jene politischen Güterabwägungen, denen eine langlebige gesellschaftliche Bedeutung zukommt, und nicht jener „Kuhhandel“, den die Politiker untereinander treiben. Zu den wichtigsten politischen Güterabwägungen, die wir hier im Hinblick auf alle politischen Systeme betrachten werden, zählen jene, in denen (1) Freiheit, (2) Rechte und (3) Zeit eine Rolle spielen.

Freiheit und Gewalt Eine der wichtigsten politischen Güterabwägungen betrifft das Maß der Freiheit und jenes der sonstigen Merkmale, die eine Gesellschaft zu haben wünscht. Intellektuelle Mehrdeutigkeiten und philosophische Differenzen hinsichtlich der eigentlichen Bedeutung von Freiheit haben dieser Abwägungsfrage zusätzliche Schwierigkeiten beschert: „Wir bekennen uns alle zur Freiheit, aber während wir dasselbe Wort gebrauchen, meinen wir doch nicht dasselbe.“63 Das ist heute noch genau so wahr wie damals, als es Abraham Lincoln gesagt hat.

62 63

Downs (1957), S. 28. Zitiert nach Hayek (2005), S. 13.

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

Freiheit bezieht sich hier auf eine soziale Beziehung zwischen Menschen – vor allem darauf, dass Gewalt als möglicher Behelf der Entscheidungsfindung fehlt. Die Freiheit ist überall dort eingeschränkt, wo eine Entscheidung unter Androhung von Gewalt gefällt wird, egal, ob die Gewalt tatsächlich angewendet oder erst im Nachhinein erkennbar wird. Diese prospektive Definition von Gewalt ist wesentlich, um absurde Schlussfolgerungen auszuschließen wie jene, dass bei einem bewaffneten Überfall gar keine Gewalt im Spiel sei. Allerdings wollen wir von Gewalt auch nicht im übertragenen Sinne reden, wenn mit ihr z. B. Vorteile einhergehen, die so verlockend sind, dass die Entscheidung eine ausgemachte Sache ist. Wenn man über Freiheit spricht, ist eine gewisse Skepsis angebracht; nicht nur wegen der mit dem Begriff einhergehenden Probleme, sondern auch deswegen, weil es mit dem Neusprech à la Orwell Mode geworden ist, die Abwägung zwischen Freiheit und sonstigen Gütern als Ausdruck „neuer Freiheiten“ oder einer Freiheit im „weiteren“ Sinne zu beschreiben. Die inkrementelle Abwägung zwischen Freiheit und anderen Gütern wird, sieht man von waschechten Anarchisten einmal ab, von jedermann anerkannt. Aber die Ausweitung dieser historischen Güterabwägung ist eine derart folgenreiche Angelegenheit, dass man sie nicht hinter hübschen Begriffen verstecken oder verdrehen kann. Gewalt ist das Gegenteil von Freiheit, aber Gewalt muss angewendet werden, und wenn auch nur, um die Gewalt anderer abzuwehren. So schließt z. B. die Gewalt, die im Fall von Mord zum Tragen kommt, nicht nur die Gewalt der Polizei zur Verhinderung eines Mordes oder Ergreifung eines Mörders ein, sondern auch die Gewalt gegen Dritte, die als Zeuge festgehalten bzw. vorgeladen werden oder vom Gesetz als Schöffe bestimmt werden. Weder wird die Freiheit gänzlich geopfert, noch wird dem Mord komplett vorgebeugt. Wir haben es einfach mit einer inkrementellen Güterabwägung mit wechselnden Anteilen zu tun, und die Frage ist alle Zeit die: Wieviel Freiheit sind wir zur Reduzierung der künftigen Mordrate zu opfern bereit? Oder wieviel mehr Freiheit verlangen wir im Gegenzug für welche Zunahme an Menschenleben, die Mördern zum Opfer fallen? Güterabwägungen, bei denen Freiheit im Spiel ist, sind oft schmerzhaft; wenn auch nur deshalb, weil man bloß die übrigen dringend benötigten Güter für so wertvoll hält, dass man sie gegen die Freiheit aufrechnet. Der Staat ist der allgemeine Treuhänder der Gewalt – egal, ob er demokratisch, totalitär, feudal oder anders regiert wird. In totalitären Staaten bleibt definitionsgemäß keine bedeutsame Güterabwägung in Bezug auf die Freiheit offen. In ihnen wurde die Freiheit schon längst alternativen Interessen rhetorischer oder mate­ rieller Art geopfert. In demokratischen Staaten finden unentwegt inkrementelle Güterabwägungen für mehr oder weniger Freiheit statt. Sogar die Demokratie selbst ist ein Interesse, das gegen die Freiheit abgewogen wird. Und es gab eine Zeit, da hat man diese Güterabwägung sowohl erkannt als auch gefürchtet.64 Heutzutage 64

Burke (1793); Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 310 ff.; Tocqueville (1966), Band 2, 4. Buch, Kapitel 3.

Kap. 5: Politische Güterabwägungen

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ist Freiheit oft nur noch ein Teil der Definition von Demokratie. Man glaubt, dass ein Staat, der die Freiheit eliminiert, nicht „wirklich“ demokratisch ist. Auch diese Güterabwägung ist zu wichtig, um sie einfach nur beiseite zu wischen. Wenn man Freiheit in die Definition von Demokratie einschließt, dann definiert man einen Prozess nicht anhand seiner Prozesseigenschaften, sondern mithilfe der erwarteten Resultate. Das ist nicht nur logisch ungültig, sondern hat auch praktisch zur Folge, dass man im Voraus für einige ungewollte Folgen des Prozesses blind ist. Ein Lynchmob beschreibt den Willen der Mehrheit wohl genauer, als es ein Gerichtssaal tut – vor allem ein Berufungsgericht mit bestellten Richtern. Lynchmobs sind jedoch verboten und es gilt „Recht und Ordnung“, weil man einige Freiheiten für wichtiger hält als die Demokratie. Unter demokratischen Institutionen verstehen wir hier Institutionen, die mit ihren Entscheidungen den Willen der Bevölkerung umsetzen – egal, ob diese Entscheidungen weise oder dumm, freizügig oder einschränkend sind. Als man in den Südstaaten zur Zeit des Wiederaufbaus nach dem Bürgerkrieg die undemokratischen Regierungen durch neue ersetzte, die den Mehrheitswillen besser widerspiegelten, da erlitt die Minderheit Unterdrückung und Terror in einem Ausmaß, das in der modernen Zivilisation seinesgleichen sucht. Den Schutz, den die schwarze Minorität noch erfuhr, kam weitgehend aus Quellen, die mit der politischen Demokratie wenig zu tun hatten – vor allem aus Märkten65, Moralität66 und Berufungsgerichten.67 Wenn man sich die Freiheit als eine Beziehung unter Menschen vorstellt, dann nehmen Güterabwägungen zwischen Freiheit und materiellen Gütern, wissenschaftlichem Fortschritt oder militärischer Macht recht deutlich Gestalt an und werden nicht pauschal unter einem allgemeinen Begriff von „Freiheit“ abgehandelt. Eine zunehmende Entscheidungsgewalt auf Seiten des Staates mag bestimmte Formen materiellen Fortschritts erleichtern  – wenn auch auf Kosten des materiellen Fortschritts im Allgemeinen – und die Freiheit schmälern. Diese Güterabwägung sollte klar dargelegt werden. Stattdessen wird sie von denen verkleistert, die Freiheit als Optionen (Freiheit zu etwas)68 definieren – und viele Optionen im Austausch gegen Freiheit anzubieten haben. Der Optionenansatz fragt: „Welche Freiheit hat ein Mensch, der Hunger leidet?“ Die Antwort ist, dass Menschen, die Hunger leiden, unter tragischen Bedingungen leben, die mitunter noch tragischer sind als der Verlust der Freiheit. Aber das hält die beiden Dinge nicht davon ab, Unterschiedliches zu sein. Egal, wie man derart unangenehme Dinge wie Verschuldung oder Verstopfung werten mag, ein Abführmittel führt genau so wenig aus der Verschuldung wie eine Gehaltserhöhung zu einem „geregelten Stuhlgang“. Andererseits mag Gold auf einer Wunschliste höher stehen als Erdnussbutter, aber 65

Higgs (1977). Myrdal (1944). 67 Kluger (1976). 68 Dahl / Lindblohm (1976), S. 29; Downs (1966), S. 259; Marx / Engels (1950), S. 176; Marx  / ​ Engels (1959), S. 222. 66

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man kann kein Gold aufs Brot schmieren und sich damit ernähren. Der trügerische Umstand, dass man Dingen eine Rangfolge geben kann, hat nichts mit Fragen zu tun, die das Unterscheiden von Dingen betreffen. Der Umstand selbst, dass eine Sache die Freiheit vom Platz verdrängen kann, lässt diese Sache nicht zu Freiheit werden. Außerdem sind bei gesellschaftlichen Güterabwägungen die Präferenzordnungen  – genauso wie bei ökonomischen Güter­abwägungen auch – zu jedem Zeitpunkt inkrementell und können zu anderen Zeitpunktion anders ausfallen. Es gibt nichts Wünschenswertes, das kategorisch weniger wünschenswert wäre als etwas anderes. Für einen hungernden Menschen kann Essen von Mal zu Mal wichtiger werden als Freiheit. Aber das heißt nicht, dass man den Nachtisch, der das Bankett zum Abschluss krönt, inkrementell der Freiheit vorzöge, am Ende des Abends nach Hause gehen zu können. Die großen gesellschaftlichen Desiderata werden so oft in einer kategorischen Sprache diskutiert, dass man ihre inkrementelle Natur allzu leicht vergisst – und am Ende, scheinbar tiefgründig, nur Unsinn redet. Beide, sowohl Adam Smith als auch John Rawls, haben die Freiheit zur primären Tugend der Gesellschaft erklärt,69 ihr aber unterschiedliche, fast konträre Bedeutungen unterlegt, weil der eine im inkrementellen Sinne und der andere im kategorischen Sinne von Freiheit sprach. Für Smith war ein Mindestmaß an Gerechtigkeit eine Voraussetzung dafür, dass die sonstigen Merkmale einer Gesellschaft erfüllt sein konnten,70 aber er dachte nicht im Entferntesten daran, dass jedes Mehr an Gerechtigkeit stets über einem Mehr von etwas anderem stehen sollte. Im Gegenteil, er hielt derlei Ansinnen für kontraproduktiv und doktrinär.71 Für Rawls steht die Gerechtigkeit kategorisch immer an erster Stelle, und zwar in dem Sinne, dass sie inkrementell nie hinter einem anderen Interesse rangiert. Ein Gerechtigkeitsaspekt könne zwar einem anderen Gerechtigkeitsaspekt geopfert werden, aber nicht einem anderen Ziel.72 Folgt man Rawls, dann sollte man eine politische Maßnahme, die alle außer einen besserstellt – ungeachtet dessen, wieviel die anderen davon profitierten und auch dann, wenn dieser einen Person kein Leid geschähe – ablehnen, weil die Maßnahme eine „ungerechte“ Verteilung der Vorteile darstelle. Wahrscheinlich teilen nicht viele Menschen Rawls’ Schlussfolgerung, aber viele verwenden denselben willkürlichen und kategorischen Ansatz im Rahmen ihrer Gesellschaftsanalyse und gelangen folglich zu ähnlichen Schlüssen. Wenn man zwei Dinge gegeneinander abwägen muss, dann muss man (1) sich darüber im Klaren sein, dass es zwei Dinge sind, und (2) sich sorgfältig überlegen, unter welchen Bedingungen man bereit ist, die beiden inkrementell gegeneinander abzuwägen. Mit der Behauptung oder Unterstellung, dass beide dasselbe seien oder das eine mehr von derselben Sache sei als das andere, ist nichts gewonnen – 69

Smith (1976), S. 169; Rawls (1971), S. 3. Smith (1976). 71 Smith (1976), S. 380 ff. 72 Rawls (1971), S. 3 f. 70

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zumindest nicht aus Sicht einer rationalen Entscheidungsfindung. In der politischen Realität ist damit allerdings viel für jene gewonnen, die gern anderen die Entscheidungsgewalt abnehmen und an sich reißen wollen. Mit Aussagen wie „Sicherheit ist nichts weiter als ein Ausdruck von Freiheit“73 betreibt man nur verbale Augenwischerei. Zu viel Blut wurde für die Freiheit vergossen und zu viele Qualen für sie ertragen, um sie der Rhetorik so billig zu überlassen. Nicht-staatliche „Macht“ Nicht nur die Freiheit wird mit anderen Dingen verwechselt, sondern auch ihr Gegenteil, die Gewalt. Die weitverbreitete Erkenntnis, dass man Gewalt braucht, um fremder Gewalt etwas entgegensetzen zu können, wird gern zur Ausweitung staatlicher Gewalt benutzt, damit dieselbe Dingen entgegenwirken kann, die überhaupt keine Gewalt sind, aber metaphorisch so genannt werden, um die ihnen entgegengesetzte Gewalt zu rechtfertigen. Eine übliche Form, mit der man die Ausweitung staatlicher Gewalt rechtfertigt, sind Vorstöße gegen die wirtschaftliche „Macht“. Derlei Rhetorik findet man oft in Hinweisen auf den Marktanteil einer Firma, der sowohl rückblickend wie auch mit Blick auf die Zukunft sage, wie stark die Firma den Markt „kontrolliere“. Mit derlei Metaphern und vagen Definitionen rechtfertigt man eine Ausweitung staatlicher Gewalt, die weder metaphorisch noch vage, sondern sehr konkret ist. Eine hinreichend ausschweifende oder vage Definition sorgt – wie schon bei der Freiheit – auch bei der Gewalt für viele Beispiele. Bei der Beurteilung eines solchen Beispiels kommt es darauf an, zwischen zwei Dingen zu unterscheiden, und zwar zwischen (1) Situationen, in denen die Optionen eines Individuums, mit alternativen Unterhändlern ins Geschäft zu kommen, gewaltsam reduziert oder eliminiert werden, und (2) Situationen, in denen ein Unterhändler zu den Optionen des Individuums sehr viel mehr als jeder andere oben drauflegt, so dass die Annahme seines Angebots eine ausgemachte Sache ist. Ein Monopol oder Kartell reduziert die Optionen der Konsumenten, aber ein erfolgreicher Konkurrent erweitert sie. Wenn man die Optionen der Konsumenten reduzieren will, dann reicht es nicht, einfach nur den eigenen Preis anzuheben – das kann jeder. Man muss vielmehr andere davon abhalten, mitzubieten und den Preis zu unterbieten. Dazu braucht es in der Regel eine staatliche Konzession oder irgendein Gesetz bzw. Regelwerk, das den Wettbewerb einschränkt. Solche staatlich geschaffenen Monopole oder Kartelle sind die Nutznießer staatlicher Gewalt, nicht deren Ziel. Ein Unterhändler, der bessere Konditionen als andere bietet, mag als Kandidat für eine „Machtbedrohung“, die vom Staat bekämpft werden muss, eher merkwürdig erscheinen. Aber, wie wir in Kapitel 8 noch sehen werden, gibt es in Wirklichkeit viele regulatorische und kartellrechtliche Maßnahmen, die genau 73

Dahl / Lindblohm (1976), S. 49.

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dagegen vorgehen. Hier wollen wir lediglich zeigen, dass man Güterabwägungen, die der ökonomischen Entscheidungsfindung mehr Macht einräumen, untersagt, wenn man die staatliche Gewalt nur als einen Ausgleich zur vorhandenen privaten Macht, der ohne Nettogewinn einhergeht, darstellt.

Demokratie Die Demokratie wurde hier als ein Prozess definiert, und zwar anhand ihrer Merkmale, nicht anhand der durch sie erhofften Ergebnisse, wie z. B. Freiheit, Würde des Einzelnen oder ähnliche erwartete bzw. unterstellte Vorteile. Welche Meriten die Demokratie auch immer haben mag, sie hat ihre institutionellen Beschränkungen und findet in einem Rahmen von Einschränkungen statt, die durch die vorhandenen Umstände vorgegeben sind  – so wie alle anderen politischen, ökonomischen und sonstigen Systeme auch. Da Hoffnungen kein Ende kennen, machte sich hier und da die Auffassung breit, eine Mehrheit könne und solle alles haben, was auch immer sie will – eine Auffassung, die wir „demokratischen Fehlschluss“ nennen. Der demokratische Fehlschluss geht implizit davon aus, dass die situationsbedingten Optionen unbegrenzt sind und eine Mehrheit folglich nur dann nicht alles bekommt, was sie will, wenn man ihr ihre demokratischen Rechte absichtlich verwehrt. Die Wahl in der Wahlkabine hat man oft mit der Wahl in Märkten gleichgesetzt. Dass die Beschränkungen aber inhärent sind, bedeutet, dass demokratische Regierungen kein größeres Optionsspektrum besitzen als andere – gang egal, welche Optionen in den Augen anderer existieren mögen. Es bedeutet auch, dass ein entscheidender Unterschied zwischen Wahlurnen und Preisen darin liegt, dass Preise ein effektives Wissen über innewohnende Beschränkungen vermitteln, während Wahlurnen das nicht tun. Wenn ich mir einen Rolls Royce und gleichzeitig einen normalen Lebensstandard wünsche, dann informiert, überzeugt, ja zwingt mich das Preisschild am Automobil geradewegs zu der Schlussfolgerung, dass diese beiden Dinge unvereinbar sind. Wenn ich aber gleichzeitig an ein hochgerüstetes Militär, niedrige Steuern, einen ausgeglichenen Haushalt und umfangreiche Sozialausgaben glaube, dann gibt es keine Beschränkungen, die mich davon abhielten, an der Wahlurne für all das zu stimmen. Irgendwann nach der Wahl wird vielleicht offenkundig werden, dass das Geforderte oder Versprochene nicht wirklich umsetzbar war, aber dies kann man leicht der Unaufrichtigkeit der politischen Kandidaten in die Schuhe schieben, ohne dass der Öffentlichkeit klar würde, dass die Zusammenstellung der gewünschten Optionen von vornherein unrealistisch war. Statt den Wählern zu verstehen zu geben, dass das gewünschte Sortiment an gleichzeitig zu verwirklichenden Optionen reduziert werden muss, dürfte die Botschaft eher die sein, anderes Politpersonal bzw. andere Ideologien oder Bewegungen etc. zu wählen, um auch weiterhin dasselbe Optionssortiment anstreben zu können. In der Tat stellt sich der gesellschaftliche Fortschritt für viele so dar, als ob er zweifellos der Forderung nach besseren Dingen zuzuschreiben wäre, und nicht den mit der Zeit auftretenden technologischen und organisatori-

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schen Verbesserungen, die größere Bandbreiten an Wahlmöglichkeiten geschaffen haben. Es ist so, als ob man das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts dem steigenden Lebensstandard – verursacht von politischen Aktivitäten – zuschreiben würde. Es geht hier nicht um die Frage, ob die Wähler ein Recht dazu haben sollten, zu wählen, was immer sie wollen. Wähler können nur Prozesseigenschaften wählen und auf Ergebnisse hoffen. Konsumenten kaufen Ergebnisse und überlassen den Prozess jenen, die Spezialkenntnisse von diesen Dingen haben. So gesehen gibt es keinen Grund, den Wählern ihre demokratischen Entscheidungen streitig zu machen. Wir behaupten hier nur, dass die Bedingungen der Wahl politisch falsch wiedergegeben werden. Die Häufigkeit, mit der die Inflation quer durch alle Regierungsformen und die gesamte Geschichte der Menschheit auftritt, legt nahe, dass die hohe Kunst der Politik nicht nur zu einem kleinen Teil darin besteht, die Optionen falsch darzustellen und den Anschein zu erwecken, als könnte man konkurrierende Ziele in einem Aufwasch umsetzen, obwohl das in Wirklichkeit gar nicht möglich ist. In einer extremeren Version überbietet der demokratische Fehlschluss sogar die Idee, eine Mehrheit könne oder solle alles haben, wofür sie stimmt, und fordert dasselbe Recht auch für Minderheiten innerhalb der Bevölkerung. Man betrachtet es als „Versagen“ eines demokratischen Systems – oder als Beleg dafür, dass das System nicht wirklich „demokratisch“ ist –, wenn bestimmte, pflichtbewusste Menschen auf legitimen Wegen nicht das erhalten können, was sie wollen. Die Rechtfertigungen, mit denen frustrierte Widerständler den Rechtsbruch (bis hin zum Terrorismus) gutheißen, gründen auf dieser Prämisse. In dieser Version des demokratischen Fehlschlusses wird die Ausblendung der inhärenten Beschränkungen, in deren Rahmen jeglicher Entscheidungsprozess abläuft, schlicht um eine weitere Ausblendung bereichert. Man ignoriert nämlich nun auch noch, dass ein offenkundiger (und gültiger) Grund dafür, warum eine bestimmte Untergruppe ihre Wünsche nicht erreicht hat, der ist, dass andere Menschen auch Wünsche haben. Manchmal glaubt die Untergruppe die „wahren“ Interessen der Mehrheit besser zu kennen als diese selbst. Für demokratisches Handeln gilt in einem „weiteren“ Sinne ähnliches. Da kann man schon mal die Merkmale eines erhofften Ergebnisses mit den Merkmalen eines Entscheidungsprozesses verwechseln. Aus Sicht der Untergruppen sind zahlreiche der von ihnen erwarteten Ergebnisse dem vorzuziehen, was der Sichtweise der Mehrheit entspricht. Demokratie ist einfach ein Prozess der Entscheidungsfindung zur Lösung von Konflikten, die aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen auftreten. Wenn man diese Konflikte mittels anderer Prozesse – einschließlich Gewalt – löst, dann hat man die Demokratie gegen etwas anderes eingetauscht. Wenn man diese Güterabwägung verklausuliert, indem man dieses etwas auch „Demokratie“ nennt, dann übersieht man die Tatsache, dass eigentlich alle politischen Systeme oder Bewegungen vorgeben, dem Wohle des Volkes zu dienen. Folglich müssten auch die Ergebnisse, die sich Könige, Herr-

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scher, Militärjuntas und diverse Diktatoren ersehnen, letztlich in einem „weiteren“ Sinne „demokratisch“ genannt werden. Wie andere Güterabwägungen auch, so werden jene, in denen die Demokratie ein Pfund ist, oft verleugnet oder verzerrt, indem andere Dinge in eine weiter ausgreifende bzw. vagere Definition eingebunden werden. So ist die „partizipatorische“ Demokratie entstanden, und zwar als eine Idee, die von ersehnten Ergebnissen bestimmt wird, und nicht von den Eigenschaften des Prozesses selbst. Im Prinzip ist die partizipatorische Demokratie von der repräsentativen Demokratie zu unterscheiden und zu dieser komplementär. In einer repräsentativen Demokratie, in der die Wähler ihre Stellvertreter wählen, die dann die eigentlichen Entscheidungen treffen, sind oder werden die Stellvertreter oft Teil einer Untergruppe von Menschen, deren Interessen und Sichtweisen von denen der Bevölkerung im Allgemeinen abweichen. Die Theorie der „partizipatorischen“ Demokratie besagt, dass die Öffentlichkeit mehr Entscheidungen direkt statt durch ihre Repräsentanten treffen sollte. Zu diesem Zweck sollten alle möglichen kommunalen Behörden, Kommissionen, Gremien oder Berater „Anteil“ am Prozess der Entscheidungsfindung haben. Die Theorie setzt stillschweigend voraus, dass es nicht nur mehr Entscheidungsträger geben wird, sondern auch mehr repräsentative Entscheidungsträger. Wenn man sich aber von den Hoffnungen ab- und den institutionellen Mechanismen zuwendet, dann erkennt man, dass institutionell normalerweise nichts zu diesem Ergebnis führt, sehr viel indes in die entgegengesetzte Richtung. Wer die Zeit, Bildung und Neigung zur „Teilhabe“ hat, kann ein sehr untypischer Repräsentant der Bevölkerung sein. In der Praxis bedeutet partizipatorische Demokratie, dass mit vielen Stimmen gewählte Repräsentanten die Macht mit selbsterwählten Repräsentanten, deren Wählerschaft klein, aber lautstark ist, teilen müssen. Von der Warte institutioneller Wissensvermittlung und -legitimierung aus gesehen bedeutet das, dass nicht Eingeweihte die Prozesse und Außenstehende die Ergebnisse beurteilen, sondern ein paar Außenstehende auf Grundlage ihre Teilzeiterfahrung mit der Innenansicht und ihrer nicht-repräsentativen Interessen als Außenstehende die Prozesse beurteilen und ändern. Im Grunde ist dies eine inkrementelle Güter­ abwägung zwischen dem Recht der Bevölkerung, Entscheidungen mittels Repräsentanten zu treffen, und der Möglichkeit für selbsterwählte Wählerschaften, Eingeweihte zu sein. Welche substanziellen Stärken und Schwächen auch immer mit Güterabwägungen, bei denen es um Freiheit, Gewalt und Teilhabe geht, verbunden sein mögen, entscheidend ist die Einsicht, dass sie Güterabwägungen sind, und nicht das, wofür man sie gelegentlich ausgibt, nämlich „mehr“ Freiheit oder Demokratie im herkömmlichen Sinn.

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Rechte Rechte sind uns bereits in Kapitel 2 als Rigiditäten begegnet. Sie sind aber auch Grenzen, welche die Ausübung staatlicher Gewalt einschränken und Bereiche umreißen, in denen Individuen ihre Entscheidungen nach freiem Ermessen treffen können. Neben diesen allgemeinen verfassungsgemäßen Rechten des Bürgers gibt es auch noch spezielle Rechte, wie z. B. das exklusive Nutzungsrecht von Dingen (Eigentumsrechte)  oder Rechte, die besonderen beiderseitigen Verpflichtungen (Verträge) entspringen, und Rechte, die durch eine besondere Gesetzgebung entstehen (Arbeitsrecht, Mietrecht etc.). Mit „Rechten“ sind hier legale Anrechte gemeint, die ungeachtet dessen bestehen, ob sie moralisch verdient sind. So gesehen sind Rechte lediglich Tatsachenaussagen hinsichtlich der Verfügbarkeit staat­licher Macht zur Durchsetzung individueller Ansprüche. Sie sind nichts weiter als Optio­ nen, die Macht des Staates zu geringeren Kosten in Anspruch zu nehmen, als deren Herstellung erfordert  – idealerweise ganz kostenlos. In Wirklichkeit kostet natürlich auch ein Anruf bei der Polizei etwas Zeit und Mühe, und oft muss man seine Rechte in einem kostspieligen Rechtsstreit, der auch schon mal durch mehrere Instanzen gehen kann, verteidigen. Ein Recht, das X wert ist, dessen Durchsetzung aber zweimal X kostet, existiert für den Einzelnen nicht, jedenfalls nicht in praktisch relevanter Weise. Wenn der Staat den Großteil der Kosten trägt, dann besteht die Güterabwägung im Vergleich der gesellschaftlichen Kosten, die von der Verletzung der individuellen Rechte in diesem Fall herrühren – gemeint sind die Auswirkungen, welche die ungesühnte Verletzung auf andere Personen hat –, mit den Kosten der Rechtsdurchsetzung. Gesellschaftliche Güterabwägungen gibt es andauernd: bei der Schaffung von Rechten, Bestimmung von Rechten und bei der Abtretung von Rechten an Individuen. Wenn man einer bestimmten Form von Aktivität durch die Schaffung von Rechten statt durch einen alternativen Prozess der Entscheidungsfindung entspricht, dann ergibt sich ein Verlust an Flexibilität (inkrementelle Anpassung) und Reversibilität. Etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt inkrementell vorgezogen werden könnte, wird so kategorisch für alle Zeit verbindlich und der Macht des Staates anheimgestellt. Und da das Gesetz der nachlassenden Erträge sowohl für gesellschaftliche wie auch für ökonomische Prozesse gilt, heißt das, dass viele Vorteile jenseits der Marke landen, wo sie noch Vorteile sind, und manchmal sogar kontraproduktiv werden.

Eigentumsrechte Die Schaffung von Rechten wirft Fragen auf. Man will nicht nur wissen, ob man sie als ein Verfahren schaffen soll, mit dem man bestimmte Güterabwägungen vornehmen kann, sondern auch, an wen man die so geschaffenen Rechte abtreten soll. Bei Eigentumsrechten ist beides zu entscheiden. Viele Dinge sind herrenlos –

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wilde Tiere oder Vögel, Fische im Meer, menschliche Lebewesen, Luft und Sonnenschein –, weil die Durchsetzung der Eigentumsrechte an ihnen entweder unpraktisch oder unerwünscht ist. Urheberrecht an Ideen kann man aus beiden Gründen nicht durchsetzen. Aber auf eine bestimmte Reihenfolge von Worten kann man ein Urheberrecht gründen, weil man die Autorenschaft festlegen kann und man die Aussicht auf Belohnung als Anreiz für künftiges Schreiben für wichtiger hält als die Abschaffung von Lizenzgebühren, mit der man die Zirkulierung bereits bestehender Werke inkrementell steigern würde. Die allgemeinen Eigentumsrechte muss man von einer besonderen Form der Eigentumsrechte in den sogenannten „kapitalistischen“ Ländern unterscheiden. Auch ein sozialistischer Staat besitzt Eigentum. Falls Sozialismus buchstäblich die Abschaffung von Eigentumsrechten bedeutete, und nicht deren Umwidmung, dann stünde es jedem Einzelnen frei, ein Haus zu bauen, ein Pferd zu reiten oder Baseball auf einem Feld zu spielen, das der Staat für den Anbau von Lebensmitteln vorgesehen hat. In einer solchen Gesellschaft wäre Leben unmöglich. In Wirklichkeit aber sind Eigentumsrechte – im Kapitalismus wie im Sozialismus – Ausschlussrechte. In der Durchführung heißt das, dass die Staatsgewalt bereitsteht, um andere, die dasselbe Eigentum ohne Erlaubnis nutzen wollen, zu verjagen oder zu bestrafen. Das Recht auf Ausschluss heißt aber nicht, dass Ausschluss erfolgen wird. In Marktwirtschaften sind Ausschlussrechte verhandelbar. Sie können veräußert oder vermietet werden, teilweise oder ganz. Man kann Eigentumsrechte auch unter Entscheidungseinheiten aufteilen. Eine Person oder Organisation kann das Recht zur Bewirtschaftung eines bestimmten Ackers besitzen, während eine andere Entscheidungseinheit das Recht auf die Mineralien tief im Erdreich haben kann, und wieder eine andere das Recht, Überlandkabel auf dem Acker zu errichten. Fast nie besitzt ein Eigentümer sämtliche Eigentumsrechte an einer Sache. Wer einen Berg besitzt, besitzt nicht das Recht, ihn zu überfliegen, auch nicht das Recht an sämtlichen Quellflüssen, die in ihm entspringen. Er kann also nicht einfach alles, was er will, in die Bergbäche werfen. Sei es im sozialistischen oder kapitalistischen Kontext, ein Eigentumsrecht ist immer ein differenzierendes Privileg,74 das einigen gestattet, andere von Entscheidungen oder Handlungen auszuschließen, die einen Rückgriff auf einen physika­ lischen oder greifbaren Gegenstand von Wert implizieren. Dieses differenzierende 74 Hayek (2007), S. 156, bestreitet dies mit dem Hinweis darauf, dass etwas, das jeder haben könne, kein Privileg sei. Im prospektiven Sinne heißt das, dass der Zugang zu etwas kein Privileg ist. Das schließt aber nicht aus, dass der Besitz retrospektiv gesehen ein Privileg war. Das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ist ein privilegiertes Amt, auch wenn die Verfassung es praktisch jedem möglich macht, es später einmal einzunehmen (und einige der Amtsinhaber bestätigen, dass dem so ist). Eine Funktion wie die der Präsidentschaft oder die der Eigentumsrechte kann ein Privileg sein, ohne dass jener, der die Funktion letztlich einnimmt, infolge persönlicher Vorzüge oder Privilegien an diesem Punkt angekommen sein müsste. Kaiser des Römischen Reiches war ein höchst privilegiertes Amt, gleichwohl viele, die es innehatten, aus sehr bescheidenen oder gar benachteiligten Verhältnissen kamen.

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Privileg ist nicht persönlich. Der Eigentümer von heute kann den Eigentümer von gestern wegen unbefugten Betretens ins Gefängnis bringen. In einer sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft würde ein seines Amtes enthobener Staatsdiener sich nicht anzumaßen wagen, Unternehmen, die ihm einst unterstellt waren, weiter zu führen. Die Grundlage eines Eigentumsrechts ist also nicht ein individuelles Qualitätsmerkmal oder ein Verdienst, sondern die gesellschaftliche Zweckmäßigkeit. Die gesellschaftlichen Fragen lauten daher: Was ist durch die Festlegung eines Eigentumsrechts gewonnen oder verloren? Auf welcher Grundlage sollte das Recht zuerkannt werden? Und sollte es transferierbar sein? Festlegung und Zuschreibung von Eigentumsrechten finden in allen Gesellschaften statt. In sozialistischen Gesellschaften erfolgt die Zuweisung aufgrund einer politischen Wahl oder Ernennung und bis auf weiteres. Die Übertragbarkeit, welche im Ermessen des Übertragenden liegt, ist jedoch ein Definitionsmerkmal kapitalistischer Vorgehensweisen.75 Ein Eigentumsrecht festlegen bedeutet, dass man verschiedene Aktivitäten, die mit einem bestimmten Wertgegenstand verbunden sind, zusammenstellt und zu einem Päckchen schnürt. Im Wesentlichen beurteilt man, wie bestimmte Entscheidungen zusammengehören, und zwar in der Annahme, dass es gesellschaftlich vorteilhafter ist, wenn nicht über jede Aktivität separat entschieden wird, sondern jemand über alle diese Aktivitäten zusammen entscheidet. Wenn man die Eigentumsrechte am Kopf eines lebenden Ferkels unabhängig von den Eigentumsrechten an dessen Herzen, Magen oder Hinterläufen festlegt – so dass letztere von verschiedenen Entscheidungseinheiten wahrgenommen werden können –, dann ist es unwahrscheinlich, dass das Ferkel die für die Herstellung von Koteletts, Schinken und Innereien optimale Lebenslänge erreicht. Wenn der Eigentümer am Herzen des Ferkels sein Eigentum entnähme, dann würde der Wert der restlichen Eigentumsanteile reduziert. Wären diese separaten Eigentumsrechte transferierbar, dann läge es offensichtlich im Interesse eines Einzelnen, diese separaten risikobehafteten Rechte über dem Wert, den die separaten Eigentümer mit ihnen verbinden, zu erwerben und sie zu einem einzigen und weitaus weniger risikoträchtigen Recht über das ganze Ferkel zusammenzufassen. Die Festlegung eines Eigentumsrechts ist daher ein wichtiger Schritt, vor allem in Systemen, die einen nachträglichen Transfer solcher Rechte untersagen. In feudalistischen Systemen, in denen Ländereien als unteilbares Eigentum vermacht werden, das in der Familie bleiben muss (Fideikommiss), verliert die ganze Gesellschaft, wenn diese Anwesen in so kleine bzw. abgelegene Parzellen 75 In diesem Zusammenhang büßt der Ausdruck „Eigentumsrechte versus Menschenrechte“ viel von seiner Bedeutung ein. Eigentum selbst hat keine Rechte. Nur Menschen haben Rechte. Eine sinnvolle Wahl kann man nur hinsichtlich der alternativen Entscheidungsverfahren treffen, mit denen man Konflikte zwischen Personen und deren Güterabwägungen löst. Hier und da mag eine momentane Notlage der Bedeutsamkeit eines einzelnen Eigentumsrechts den Rang ablaufen. Aber in diesem Fall, wie auch dem der Freiheit, dürfen Einzelfragen zur Einstufung die zentrale Frage, wie man zu unterscheiden hat, nicht überlagern oder im Sinn verdrehen.

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aufgeteilt werden, dass sie eine weitaus geringere Produktivität erzielen, als sie es täten, wenn sie gemeinsam oder im Austausch mit angrenzenden Parzellen bewirtschaftet würden oder wenn das Land, das von einem vorhandenen Fluss bewässert wird, einem Entscheidungsträger unterstünde. Andererseits kann ein Anwesen für eine effektive Bewirtschaftung durch eine einzige Entscheidungseinheit zu groß sein. In dem Fall könnte für die Gesellschaft mehr angebaut werden, wenn das Land auf mehrere Entscheidungseinheiten aufgeteilt wäre. Diese Probleme ergeben sich nicht nur in Feudalgesellschaften. Wo immer die ursprüngliche Festlegung der Eigentumsrechte unzureichend ist – womit ich sagen will, wo immer sie von Menschen vorgenommen wird – und anschließende Transfers untersagt oder eingeschränkt sind, treten ähnliche Probleme auf. Eine sozialistische Regierung kann z. B. eine ganze Industrie einer einzigen Planungsbehörde „überantworten“ und dadurch „Fehler“ in dieser Branche hervorrufen, die nicht der Dummheit oder Verderbtheit zuzuschreiben wären, sondern einfach nur den zu hohen Kosten für die Überwachung des besagten Eigentums. Wäre das Eigentum übertragbar, dann wäre es in kleineren Einheiten wertvoller – sowohl für die Käufer als auch für die Gesellschaft insgesamt. Wenn man Eigentumsrechte aber gar nicht festlegt, dann ist dies noch verheerender, als sie unzureichend festzulegen. Wilde Tiere werden oft genau deshalb gejagt und ausgerottet, weil sie niemandem gehören. Man kann zwar anordnen oder metaphorisch sagen, dass sie „dem Volk“ gehörten, aber solange man Wilderer nicht gewaltsam vertreiben kann, gibt es dieses Eigentumsrecht nicht wirklich. Gerade die Dinge, die dem „Volk“ gehören, wurden in der Geschichte stets geplündert – wilde Tiere, Luft und Wasserwege sind berühmte Beispiele dafür. Damit wären wir bei des Pudels Kern. Warum sind Eigentumsrechte überhaupt für die Gesellschaft wichtig? Eigentum bedeutet eigeninteressierte Aufsicht. Lebewesen, die sich in Eigentum befinden, schweben nicht in Aussterbungsgefahr. Ein Wald mit Eigentümer läuft nicht Gefahr, planiert zu werden. Niemand tötet die goldene Gans, die Eier legt, wenn sie seine Gans ist. Auch Hühnern, die nur gewöhnliche Eier legen, droht nicht der Tod, bevor man einen Ersatz für sie gefunden hat. Keine Holzfabrik lässt in ihrem Wald nur noch Stümpfe zurück. Aber im „öffentlichen“ Wald könnte dies schon passieren.76 Eigentumsrechte senken die Kosten der Kontrolleffizienz für die Gesellschaft, weil sie Kontrolleure hervorbringen, die ein berechtigte Interesse an der Maximie 76

Selbst der neunzigjährige Eigentümer muss seinen Wald nicht abforsten, um einen unmittelbaren Nutzen zu erwirtschaften. Der künftige Wert seiner Bäume, die erst lange nach seinem Tod hiebsreif sein werden, spiegelt sich im gegenwärtigen Marktwert seines Waldes. Der Wert des Waldes wird nicht durch seine Nutzung beschränkt, sondern von der möglichen Nutzung anderer. So sehr der Zeithorizont des Neunzigjährigen auch begrenzt sein mag, es gibt andere mit größerem Zeithorizont. Für sie ist der Wert der Bäume auch entsprechend größer. Eine Lebensversicherungsgesellschaft kann an Bäumen oder an anderen Werten, die erst in 50 Jahren reif sein werden, durchaus interessiert sein – und dennoch jetzt schon die Halter ausbezahlen, die ihre Policen einlösen wollen.

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rung eines vorhandenen Wertesortiments haben. In Systemen, die kein transferierbares Eigentum kennen, liegen die Anreize für den Aufseher in der Maximierung jener Werte, die während seiner Amtszeit realisierbar sind, sei es als Erbe eines Fideikommisses oder als Mitglied einer Planungskommission mit einer festgesetzten Amtszeit. Dort, wo Eigentum nach Belieben transferiert werden kann, schließt der aktuelle Wert, den ein Eigentumsobjekt allzeit besitzt, auch den künftigen Wert ein, der erst weit hinter dem Zeithorizont (oder gar nach dem Leben) des jetzigen Eigentümers realisierbar ist. Insofern hat der gegenwärtige Eigentümer keinen Anreiz, seine Maximierung kurzfristig erzielen zu müssen. In sozialistischen Systemen finden Eigentumstransfers auf dem Wege politischer Entscheidungen statt, die im Ergebnis zum Austausch von Mitgliedern der Planungsbehörde oder zum Umbau der Planstruktur selbst führen. Auch wenn das Eigentum diesen Personen niemals gehört, profitieren sie doch finanziell und psychisch von dessen Verwaltung. Verwalten sie es erkennbar erfolgreich, dann kann ihnen das auch Kapitalzuwachs einbringen, und zwar in Form größerer Wahrscheinlichkeit, in eine höhere Gehaltsgruppe aufzusteigen oder mehr Macht zu bekommen. All dies sorgt für kurzfristige Anreize, politisch erkennbare Gewinne kurzfristig zu maximieren. Moralität, Ideologie oder ein Sinn für Geschichte bleiben dann als Anreize für längerfristige Maximierungsstrategien übrig. Dass derlei Anreize nur für einige wenige Individuen oder nur für Individuen, die in einer begrenzten Zahl von erkennbar historischen Situationen leben, gelten, mag der Umstand belegen, dass langfristige Investitionen in der Sowjetwirtschaft jeweils nur von ein paar wenigen Personen befehligt werden. Wenn die Strukturen nur kurzfristige Anreize bieten, dann scheuen individuelle Entscheidungseinheiten lieber die Innovationen, die kurzfristig Kosten und nur langfristig Nutzen aufwerfen, wie „der Teufel das Weihwasser“, um den sowjetischen Premier Breschnew zu zitieren, als er sich einmal über sowjetische Betriebsleiter beschwert hat.77 Weil Eigentumsrechte im Wesentlichen Exklusionsrechte sind, unterstützt von der Gewalt, die der Staat bereitstellt, sind die zu veranschlagenden Kosten dieser gesellschaftlichen Güterabwägung nicht nur die Kosten der Ausgeschlossenen, sondern auch die Kosten der Gesellschaft als Ganzes. Wenn man ein Wirtschaftssystem als ein Rationierungsverfahren versteht, das den meisten Menschen die meisten Dinge verweigern muss (nur wenige Individuen können von jedem Produkt, das eine Wirtschaft herstellt, ein Exemplar kaufen), bezieht sich diese Kostenfrage vor allem auf die Verluste, für welche die Gesellschaft als Ganzes herhalten muss. Patentrechte schließen alternative Hersteller als Anbieter der patentierten Produkte aus. So schränken sie den Wettbewerb und die von ihm abhängende Effizienz ein. Urheberrechte reduzieren die Weitergabe von Wissen und Unterhaltung, indem sie bestimmte potenzielle Nutzer durch Lizenzbestimmungen über den Preis vom Markt fernhalten. Sowohl bei den Patenten wie bei den Urheberrechten sind es nicht die zu zahlenden Lizenzgebühren, die den gesellschaftlichen Verlust 77

Zitiert nach Berliner (1976), S. 437.

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verkörpern. Sie stellen lediglich interne Transfers dar. Vielmehr konstituieren die Transaktionen, die wegen der prospektiven Lizenzgebühren nicht stattfinden, den gesellschaftlichen Nettoverlust. Die Kontrollkosten der Einhaltung von Eigentumsrechten sind auch ein Posten für die Gesellschaft, der gegen die Vorteile abgewogen werden muss. Der gesamte Kostenapparat für das Listen und Suchen von Eigentumsansprüchen, Zivilgerichten, das Durchführen von Zwangsräumungen usw. gehört zu den allgemeinen Kosten des Eigentumsrechts und des hochfragmentierten Grundbesitzes im Besonderen. Zu den Kosten kann man auch die Verluste jener Individuen zählen, die eigentlich zu den Begünstigten zählen sollten. Im Allgemeinen kann man Rechte sowohl zum Vorteil Einzelner als auch der Gesellschaft übertragen. Eigentumsrechte sollen zum Vorteil der gesamten Gesellschaft sein, einschließlich der ungezählten Personen, die selbst kein nennenswertes Eigentum haben. Auf diesen Sachverhalt pocht man in der sozialistischen Ideologie, in welcher der Staat die Eigentumsrechte „zugunsten des Volkes“ innehat. Aber er gilt auch im kapitalistischen Recht, das Privateigentum schützt. Dort ist allerdings eher die gesellschaftliche Zweckmäßigkeit das kontrollierende Grundprinzip, und nicht der Individualnutzen.78 Gleichwohl gibt es viele Eigentumsrechte, die primär oder ausschließlich denen nutzen sollen, denen sie gelten. Bürgerrechtsgesetze sollen z. B. im Allgemeinen rassischen oder ethnischen Minderheiten nutzen, und Mindesteinkommensgesetze Niedriglohnbeziehern. Sie werfen die Frage nach der Abwägung von Kosten und Nutzen auf, und zwar sowohl für die betroffenen Teilgruppen der Gesellschaft als auch für die Gesellschaft insgesamt. Gleiche Rechte versus spezielle Rechte In jeder Gesellschaftsform braucht es verlässliche Erwartungen, die mittels Gruppendruck oder Gewalt durchsetzbar sind. Dennoch gibt es viele Länder, in denen es nicht reicht, dass Rechte existieren. Sie müssen, zumindest grundsätzlich, auch gleiche Rechte sein. Die Gleichheit als legales oder politisches Prinzip gründet nicht auf dem Glauben an irgendeine Form von empirischer Gleichheit. Ganz im Gegenteil! Wenn es wirklich wahr wäre, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind“, dann bedürfte es keines rechtlichen Schutzes der Gleichheit. Wahrscheinlich müsste man dann gar keine Gesetze schützen. Wenn jede Person genau dieselbe Intelligenz, Kraft, Aggressivität, Organisationsgabe usw. hätte, dann müsste das Gesetz niemanden vor dem anderen schützen, weil niemand je in der Lage wäre, sich erfolgreich einer anderen Person zu bemächtigen. Und obwohl eine Koalition derart gleicher Individuen ein einzelnes isoliertes Individuum überwältigen könnte, könnten alle diese Möglichkeit vorhersehen und Gegenkoalitionen schmieden, um der Gefahr zu begegnen. Genaugenommen sind es die Unterschiede der Menschen, die den gleichen rechtlichen Schutz so wichtigmachen. Ihretwegen muss man eine 78

Siehe z. B. Posner (1972), Kapitel 2; Manne (1975), Teil 1, Abschnitt 2.

Kap. 5: Politische Güterabwägungen

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Macht organisieren, die überwältigen und sich in die Waagschale werfen kann, damit die schwache alte Dame genau dasselbe Recht zu leben hat wie der robuste junge Mann und damit Betrügereien, die den Leichtgläubigen hinters Licht führen, nicht vor der Vergeltung entsprechend geschulter Staatsdiener gefeit sind. Natürlich gibt es einige Menschen, die, empirisch gesehen, gleich sind. Aber die meisten Menschen, die für gleich gehalten werden, werden in der Regel so gesehen, weil sie ausgleichende Ungleichheiten aufweisen – soll heißen, niemand von ihnen ist in jeder Hinsicht überlegen, und sie sind auch nicht alle gleich. In diesem Zusammenhang hängt die allseitige „Gleichheit“ von den Gewichten ab, die man nach Gutdünken den jeweiligen Wesenszügen, in denen der eine hier und der andere da überlegen ist, zugedacht hat. Gleiches gilt für in ähnlicher Weise all­gemein verwendete Begriffe wie „Superiorität“ oder „Inferiorität“. All die Versuche, unterschiedliche Charakteristika aufzuaddieren, verkennen die Vielfalt persönlicher Werte, die es unmöglich macht, objektiv anerkannte und greifbare Einheiten zu haben, die man zu einer Totalen aufsummieren könnte. Die meisten von uns würden großen Wert darauf legen, dass Individuum A, anders als B, kein manischer Mörder ist, und würden daher A B vorziehen, auch wenn allgemein bekannt wäre, dass B weitaus mehr Charme oder Schönheit besitzt. Aber es gibt nur wenige Charakterzüge, für die es ähnliche Übereinstimmungen gäbe, schon gar nicht hinsichtlich ihrer Rangordnung und noch weniger im Hinblick auf ihre relative Gewichtung. Dort, wo ein bestimmtes Teilsegment der Gesellschaft andere Rechte als die Allgemeinheit hat – sei es ausdrücklich oder nur aus Gewohnheit –, sind die Transaktionskosten mit diesem Teil der Gesellschaft tendenziell andere. Jemand, der die Wahl hat, entweder mit illegalen Ausländern, gewöhnlichen Bürgern oder Personen mit Diplomatenstatus einen Handel abzuschließen, nähme im Hinblick auf das Haftungsrecht unterschiedliche Risiken (Kosten) auf sich. Auch seine Aussichten auf Entschädigung, sollte ihm ein Schaden widerfahren, wären je nachdem, zu welcher der drei Gruppen sein Gegenüber zählt, unterschiedlich. Und wenn die Personen aus den drei Gruppen ansonsten identisch wären, würde jeder angehender Transakteur – sei es Vermieter, Arbeitgeber oder Ehepartner – die geringsten Rechtsschwierigkeiten bei einem illegalen Ausländer riskieren, und die höchsten bei jemandem, der diplomatische Immunität genießt. Die Übergriffe, die Personen der ersten Kategorie erfahren und jene der zweiten Kategorie anderen zufügen, sind gleichermaßen berüchtigt. Wichtig ist für uns nicht die zurückliegende Erfahrung dieser beiden Sondergruppen, sondern was diese für das künftige Verhalten innerhalb der Gesamtgesellschaft bedeutet. Je mehr Spezialrechte für eine Gruppe geschaffen werden, desto höher sind die Transaktionskosten im Umgang mit dieser Gruppe und desto geringer die Anzahl der Transaktionen, die jene Gruppe vollenden kann. Sondergesetze für die Gesundheit und Sicherheit von Jugendlichen und Frauen führen dazu, dass diese beiden Gruppen weniger gern eingestellt werden. Dies wiederum mindert ihre Vermittelbarkeit. Dieses Phänomen tritt nicht nur unter den Arbeitgebern der kapitalistischen Privatwirtschaft auf. Aus denselben

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Gründen haben auch sowjetische Betriebsleiter, wo immer es ging, vermieden, jugendliche Arbeitnehmer einzustellen.79 Da die Rechte auf legale Entschädigung für entlassene Arbeitnehmer zugenommen haben, stiegen auch die Bedingungen, unter denen entlassen werden darf. Auf diese Weise wurden viele aussortiert, die ansonsten einen Arbeitsplatz bekommen hätten, wenn der Arbeitgeber sich nicht so sehr gegen das Risiko der Haftbarkeit im Kündigungsfalle hätte absichern müssen.80 Verwandte haben oft Sonderrechte am Arbeitsplatz, auch ohne explizite Absprachen. Und weil man die Kosten, die mit den Regeln gegen Nepotismus einhergehen, vermeiden will, sind sie schwerer vermittelbar. Konsumentenrechte erhöhen die Preise für Produkte und Dienstleistungen, weil sowohl eine höhere Qualität als auch eine Ausweitung der Produkthaftung Kosten verursacht. Das wirft die Frage auf, ob der Mehrpreis über oder unter dem Mehrwert liegt, den die Rechte geschaffen haben. Falls eine bessere Qualität und größere Verantwortlichkeit des Verkäufers ihren Preis wert wären, dann gäbe es einen Profitanreiz für den Hersteller, seine Qualität, Gewährleistung und Preise zu erhöhen, ohne dass dazu Gesetze zum Schutz der Konsumenten nötig wären. Es ist schon immer üblich gewesen, dass Geschäfte mit Rücknahmezusagen, Geldzurück-Garantien und kostenlosem Reparaturservice mehr verlangen konnten als Geschäfte, die „wie gesehen“ verkauften. Manche Geschäfte verkaufen sogar separate Wartungsverträge. So kann man ein und dasselbe Produkt vom selben Händler zu verschiedenen Preisen erstehen, je nach Niveau der vereinbarten Händlerhaftung. Wem der Preisunterschied groß genug ist, um auf Konsumgeräte zu spekulieren, kann das Gerät ohne Servicevertrag erwerben. Andere können indes stufenweise Kühnheit durch Geld ersetzen. Diese subjektiven Unterschiede bei den Risiko­kosten bleiben außen vor, wenn es Gesetze gibt, die kategorisch vorschreiben, wieviel Haftpflichtversicherung man zusammen mit einem Produkt erwerben muss. Zusicherungen, dass der Kunde auf diesem Weg „besser wegkomme“, kann man empirisch kaum überprüfen. Im 19. Jahrhundert gab es einen großen Fall von verordneter „Verbesserung“ der Produktqualität, als das britische Parlament höhere Gesundheits- und Komfortstandards für die Schiffe der irischen Emigranten anordnete. Wenn man an den erbärmlichen und ekelerregenden Zustand denkt, in dem die Schiffe damals waren, sollte man meinen, dass der Nettonutzen in diesem Fall eine klare Sache gewesen wäre. Aber die Aufzeichnungen in den Archiven zeigen, dass die Iren sich beeilt hatten, eines der Schiffe zu erwischen, bevor das Gesetz in Kraft trat. Unmittelbar darauf riss der Strom der Auswanderer ab.81 Die Kosten der höheren Qualität wurden von den Iren offenbar anders gewichtet als vom britischen Parlament. Das entscheidende Problem, das mit der Schaffung von Sonderrechten einhergeht, ist wohl, dass sie in der Regel die Auswahl der Optionen, die den Trans­ 79

Nove (1961), S. 234. Williams (1977), S. 34 f. 81 MacDonagh (1976), S. 412. 80

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akteuren offenstehen, reduzieren, ohne diese Reduzierung durch zusätzliche Optionen auszugleichen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Menschen bei einer geringeren Auswahl von Optionen bessere Entscheidungen treffen werden, zumal dann, wenn die größere Auswahl auch alle Optionen der reduzierten Auswahl enthält. Anders liegen die Dinge, wenn der Zweck der Übung der ist, den angeblichen Nutznießern die Auswahl zu verweigern und durch die Entscheidung eines anderen zu ersetzen. Weil die negativen Auswirkungen der Sonderrechte auf ihre Rezipienten selten von der Wahlbevölkerung bedacht werden, kommen deren Kosten auch nur selten als Beschränkung politischer Entscheidungsfindung zur Geltung. Die Schaffung von Rechten unterliegt geringeren Beschränkungen als die Schaffung von anderen vordergründigen Vorteilen für bestimmte Wählerkreise. Während man von den politischen Vorteilen erwarten kann, dass sie bei ihren Rezipienten zu mehr Unterstützung führen, verlieren sie bei denen, die für ihre Kosten aufkommen müssen, an Unterstützung – also bei den Steuerzahlern allgemein oder bei denen, welche die Last zu tragen haben. Rechte kosten den Steuerzahler hingegen kaum mehr als die Tinte und das Papier, das man zu ihrem Druck braucht. Aus Sicht der Politiker sind daher Rechte geradezu der ideale Vorteil, den man einer Wählerschaft zuschanzen kann. Wenn die gesellschaftlichen Kosten der Rechte weitgehend in einer von den Rechten ausgehenden Reduzierung der vorgenommenen Transaktionen bestehen, dann kommt es politisch darauf an, ob jene, die von den verbesserten Klauseln der Transaktionen (Mindestlohngesetze, Mietendeckel) spürbar profitieren, die Verluste bemerken, die ihnen aufgrund der reduzierten Anzahl vollzogener Transaktionen entstehen (Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel), und ob der Transakteur auf der Gegenseite politisch diskreditiert werden kann („ausbeuterische“ Arbeitgeber, „gierige“ Vermieter). Wenn die Klauseln mehr Aufmerksamkeit erfahren als die Anzahl der Transaktionen und der Transakteur auf der Gegenseite politisch verletzbar ist, dann steht der Ausbreitung von Sonderrechten für spezielle Gruppen so gut wie nichts im Wege. Die Güterabwägung zwischen gleichen Rechten und Sonderrechten wird oft unter Verwendung derselben verbalen Methoden bestritten wie die Güterabwägung zwischen der Freiheit und anderen Werten. Die beiden gegeneinander abgewogenen Dinge werden einfach unter einem Begriff rubriziert. Die Sonderrechte für besondere Gruppen werden dann einfach als gleiche Rechte im „weiteren“ oder „echten“ Sinne beschrieben. Anstatt einer Güterabwägung findet – zumindest rhetorisch – eine Ausweitung des einen Vorteils statt. Mit diesem verbalen Taschenspielertrick vermeidet man eine Auseinandersetzung mit den Kosten der Sonderrechte, die sowohl der Gesellschaft als auch den unterstützten Nutznießern blühen.

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Allgemeine Rechte Dort, wo man bestimmte allgemeine Rechte, die buchstäblich universelle Wünsche beinhalten – wie z. B. den Wunsch, nicht ermordet zu werden –, in spezifische Gesetze gießt, fallen die sinnlosen Transaktionskosten weg, die man in einem Gewohnheitsrechtssystem, das kein explizites Gesetz gegen Mord kennt, jedes Mal hätte, wenn man einen Einzelfall verhandeln müsste. Wenn man Preisabsprachen per se für illegal erklärt, dann erspart man sich auf die gleiche Weise, dass die Gerichte immer wieder die Marktwirtschaft dort zurück ins Spiel bringen müssen, wo sich Kartelle gebildet haben. Vielleicht wirkt es wie eine schräge und schwache Rechtfertigung, wenn man die Einbettung von Grundrechten in das Gesetz mit der Zeit begründet, welche die Gerichte sparen. Derlei Gesetze vermitteln jedoch buchstäblich einhelliges Wissen – nicht nur über die Abscheulichkeit des Verbrechens, sondern auch über die Entschlossenheit, den Tätern zu Leibe zu rücken. In Fällen, in denen es um freiwillige Transaktionen geht, sind solche Informationen entweder nicht vorhanden oder müssen nicht übermitteln werden. Wenn es irgendwie unmöglich wäre, jemanden zu töten, außer mit seinem Einverständnis, dann stünden Gesetze gegen Mord auf viel schwächeren Füßen, als es in Wirklichkeit der Fall ist, und würde einiges dafürsprechen, jeden prozessierten Einzelfall genau unter die Lupe zu nehmen, um herauszufinden, welcher Schaden überhaupt entstanden ist. Selbst Mord- und Totschlagsgesetze sind nachlassenden Erträgen ausgesetzt, im Extremfall auch negativen Erträgen. Einen unheilbar kranken Patienten, der ohne Bewusstsein ist, hält man schon allein deshalb Monate oder gar Jahre organisch „am Leben“, um sicherzustellen, dass dem Arzt oder der Krankenhausleitung keine Klage wegen Mordes oder Totschlags droht. Und das unsägliche Leiden anderer ebenfalls unheilbarer Patienten, deren Bewusstsein vornehmlich von Schmerz geprägt ist, verlängert man womöglich aus denselben Gründen auf künstliche Weise, obwohl es für sie schmerzlindernde Mittel gibt – allerdings mit dem Nebeneffekt, dass ihr „Leben“ mit der Einnahme verkürzt wird. Der wirtschaftliche Ruin der Familie des Patienten oder das Leiden des Patienten bilden die stillschweigende „Prämie“, die man für diese „Versicherungspolice“ zum Schutz gegen Tötungsklagen zahlt. Für die medizinischen Entscheidungsträger sind sie externe Kosten und somit keine Beschränkung für ihr Verhalten. So unverhältnismäßig die Kosten und Nutzen im Einzelfall auch sein mögen – die Kosten für den Patienten und seine Familie sind weitaus höher als der Nutzen für den Arzt –, die Frage auf der gesellschaftlichen Ebene ist: Wie viele Menschen würden sich der Pflege unheilbar Kranker (oder Patienten, die unheilbar krank werden können) annehmen, wenn sie tag täglich Tötungsklagen wegen humanerer Behandlungsverfahren befürchten müssten? Die Tragödie, die in der kategorischen Natur der Gesetze liegt, gilt für die Gesetze im Allgemeinen und für die, die sich gegen Mord und Totschlag richten, im Besonderen. Das Rechtssystem ringt hier immer noch mit sich und überlegt, wie man in diesem Bereich etwas Inkrementalismus einführen kann – z. B. durch Einzel-

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anordnungen des Gerichts, die lebenserhaltenden Apparaturen unheilbarer Komapatienten abschalten zu dürfen, vor allem dann, wenn so nur die Lebensdauer ihrer Organe und die Krankenhausrechnungen länger werden. Die psychischen und rechtlichen Kosten, die mit der Erwirkung solcher richterlichen Anordnungen verbunden sind, machen solche Lösungen für viele Menschen praktisch unmöglich. Es geht hier nicht darum, irgendjemandem eine „Schuld vorzuwerfen“. Im Gegenteil! Die Situation ist eine Tragödie im klassischen Sinne, eine unvermeidbare menschliche Katastrophe. Es gibt wahrscheinlich keine wirkliche „Lösung“. Man kann nichts tun, ohne bewusst kranke Menschen zu opfern, sei es für ihr Vermögen, ihre Organe oder auch nur dafür, eine Unannehmlichkeit loszuwerden. Wir haben das Gesetz gegen Mord und Totschlag zur Illustration für die nachlassenden Erträge von Gesetzen und politischen Maßnahmen im Allgemeinen genutzt, weil es eines der allgemeinsten Gesetze darstellt, die es schon zu allen Zeiten gab und immer noch quer durch die unterschiedlichsten Gesellschafts- und Rechtssysteme zu finden sind. Es gibt keine Nebenaspekte, die von der Wünschenswürdigkeit des Ziels ablenken würden. Die nachlassenden und die negativen Erträge eines so wesentlichen Gesetzes sind ein ernüchternder Hinweis auf die Grenzen, die jedem Recht und jeder Politik gezogen sind – und auch jedem Wissen, das den rechtlichen und politischen Entscheidungen zugrunde liegt. Obwohl es ab einem bestimmten Punkt für Patient, Familie und Arzt offenkundig ist, dass eine künstliche Verlängerung des Leidens keinen Sinn ergibt, bestimmt letztlich die Übertragung dieses Wissens in kategorisch formulierten und Dritten zugängigen Klauseln, ob das Gesetz wegen Mordes bzw. Totschlags greift.82 Nachlassende Erträge und die Grenzen (Kosten) des Wissens verbieten die Anwendung aller Gesetze und politischen Maßnahmen im Allgemeinen, so offenkundig und wünschenswert die Ziele auch sein mögen. Sofern es sich bei den fraglichen allgemeinen Rechten um Rechte gegen den Staat handelt – wie z. B. bei der Freiheitsurkunde (Bill of Rights) –, sind die Einsparungen bei den Transaktionskosten keine kleine Sache, wenn man die großen Unterschiede zwischen den Ressourcen bedenkt, die dem Staat und dem Privatmann zur Verfügung stehen. Wenn die Beweislast beim Staat liegt, dann spart dies Transaktionskosten. Ohne derlei Recht und Unterschiede bei der Beweislast müsste jede Person solange gegen die Pauschalvorwürfe des Staates hinsichtlich seiner Schädlichkeit prozessieren, bis ihr das Geld ausginge und sie die Aussage verweigern müsste. Transaktionskosten sparen schützt die Rechte vor der Bedeutungslosigkeit.

82 Wenn ein Patient an einem Leiden stirbt, das sich von einem anderen Leiden, von dem Menschen Tag für Tag genesen, nur inkrementell unterscheidet, dann ist die Dokumentation der Schwere seiner Erkrankung wahrscheinlich eine noch schwierigere Aufgabe.

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Zeit Zeit spielt bei der politischen Entscheidungsfindung in vielfacher Weise eine Rolle. Zu bedenken sind die Zeithorizonte der Entscheidungsträger und Wähler, die zeitliche Dimension der Interessengruppen und die Probleme im Zuge willkürlicher Einteilungen des zeitlichen Kontinuums zum Zwecke politischer Verbes­ serungen. Weil die Zeitspannen der Politiker so kurz sind, ist es von entscheidender Bedeutung, dass man die langen Zeithorizonte der Wähler zum Zwecke längerfristiger Perspektiven von Regierungsentscheidungen übermitteln kann. Die Zeit erhöht die Kosten politischer Erkenntnis. Sie erhöht aber auch die Kosten, die entstehen, wenn man individuellen und institutionellen Entscheidungsträgern effektive Rückmeldungen geben will. Folgen, die erst nach langer Zeit in Erscheinung treten, werden vom Wähler im Rückblick nicht so gut erkannt. Eingedenk der starken Fluktuation unter den gewählten und bestellten Regierungsvertretern wird der jeweilige Entscheidungsträger zum Zeitpunkt der politischen Entscheidung von der Aussicht auf langfristige Negativfolgen gar nicht oder nur unwesentlich abgeschreckt. Dort, wo man einen dauerhaften Parteiapparat – eine „Maschine“ – am Laufen halten muss, der auf seine langfristige Aussicht, im Amt zu bleiben, bedacht ist, werden die externen Kosten der individuellen Entscheidungsfindung wohl bis zu einem gewissen Grad internalisiert und erzwingen so einen Zeithorizont, der länger sein dürfte als sonst. Aber mit dem Heranwachsen „unabhängiger“ und individueller (vielleicht sogar „charismatischer“) Politiker tendiert der Zeithorizont dazu, auf die Amtsjahre zurück zu schrumpfen, die sie im Amt sind. Es spricht für sich, dass z. B. die Finanzkrise, die in den 70er Jahren in New York City herrschte, politischen Maßnahmen und Praktiken entwuchs, die man in der Stadtverwaltung unter einem der charismatischsten Bürgermeister der 60er Jahre eingeführt hatte, und dass im Gegensatz dazu die Zahlungsfähigkeit, die damals Chicago beibehalten konnte, einer der letzten Bastionen kommunaler Parteipolitik geschuldet ist. Die Mitglieder der politischen Parteimaschinerie haben große Investitionen in die zukünftigen Wahlaussichten ihrer Partei getätigt, angepasst an ihre individuellen Aussichten, weitere Sprossen auf der Karriereleiter zu höheren politischen Ämtern zu erklimmen. Je unabhängiger ein Einzelkandidat ist, umso weniger ist sein Schicksal mit den langfristigen Folgen verbunden, die seine Entscheidungen als Mitglied einer Regierung nach sich ziehen. Treten die negativen Konsequenzen auf, nachdem er aus dem Amt ausgeschieden ist, dann kann man ihm das sogar als Beweis seiner Überlegenheit gegenüber seinem Nachfolger auslegen. Für den unabhängigen politischen Entscheidungsträger zählt nur, wie die momentanen Entscheidungen in seiner jetzigen Position seine unmittelbaren Aussichten auf einen höheren Posten an anderer Stelle verbessern. Wenn ein bestimmter Maßnahmenkatalog die Aussichten eines Bürgermeisters auf das Präsidentenamt erhöht, dann ist der mögliche Schaden seiner Maßnahmen für die Stadt, nachdem er bereits im Weißen Haus sitzt, wohl kaum eine politische Abschreckung.

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Die Auswirkungen, die ein Parteiapparat im Gegensatz zu einem charismatischen Anführer hat, kann man auch in nicht-demokratischen Staaten beobachten. Der amtierende Staatschef der Sowjetunion könnte jederzeit seine Popularität erhöhen, indem er die staatlichen Restriktionen lockern und die Militärausgaben senken würde, was mit einer entsprechenden Anhebung des Lebensstandards einherginge. Die unmittelbare Gefahr für sein eigenes Regime während seiner Amtszeit wäre minimal, aber die ungleich größere Gefahr für die internen und externen Ziele der Kommunistischen Partei könnten so schwer wiegen, dass sie die Partei dazu veranlassen könnte, den politischen Führer loszuwerden, bevor er überhaupt mit der Einführung der Reformen begonnen hätte. Eine Partei mit einem großen Zeithorizont braucht tiefergreifende Kontrollen als ein Individuum, das nur an seine eigene Amtszeit denken muss. Parteilose Diktaturen in nicht-kommunistischen Ländern sind vielleicht ähnlich (oder sogar noch stärker) autoritär wie in den kommunistischen Staaten, sind aber nur selten so tiefgreifend totalitär wie dort. Das heißt, sie greifen weniger in das Privatleben und den religiösen Glauben ein und indoktrinieren die Kinder nicht so sehr. Daher unterliegen parteilose Diktaturen eher dem Wechsel, meistens dann, wenn der Diktator stirbt, wie z. B. in Spanien oder Portugal.

Temporale Verzerrungen Wenn wir an so manche Interessengruppe denken – Stahlbranche, Landwirtschaft, Baugewerbe, Doktoren, ethnische Minoritäten usw.  –, dann stellen wir sie uns meistens als Dauerphänomen vor und glauben, dass die auf ihre Sonderinteressen zugeschnittene Gesetzgebung und Politik zugunsten dieser Gruppen zu dauerhaften Einrichtungen würden. In Wirklichkeit aber führt der konstante Wechsel unter den Individuen und Organisationen bestimmter Bereiche zu erheblichen Abweichungen unter den Interessen der jeweiligen Amtsinhaber und der in die Jahre gekommenen Interessengruppen, denen die Amtsträger nur vorübergehend angehören. Man denke nur an die Gesetze, die es dem Arbeitgeber schwer machen, jemanden zu entlassen, und für die jetzige Belegschaft offensichtlich von Vorteil sind. Solche Gesetze schaffen indes Anreize für die Arbeitgeber, die Einstellungsstandards zu heben und schrittweise die Belegschaft durch Produktionsgüter zu ersetzen. Beide Handlungsweisen lassen die Arbeitslosenquote unter den Arbeitern, die demnächst zur Erwerbsbevölkerung stoßen werden, steigen. Im Endeffekt bedeutet das langfristig eine Reduktion der Möglichkeiten, im „Arbeitssektor“ eine Anstellung zu finden, wenn es auch die Beschäftigungschancen der derzeit Tätigen unmittelbar verbessert. Für die Angestellten, die jetzt am Zug sind, mag es ein völlig rationales Ziel sein, nach jenen Gesetzen, die ihre Arbeitsplätze sichern, zu trachten; und für die Politiker, die jetzt am Zug sind, ist es genau so rational, derlei Gesetzgebung zu verabschieden. Viele jener, deren künftige Aussichten auf einen Arbeitsplatz zugunsten gegenwärtiger Vorteile eingetauscht werden, sind zum Wählen noch zu jung oder noch gar nicht geboren. In ähnlicher

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Weise schützen staatliche Gesetze die aktuelle Leitung eines Unternehmens vor „Übernahmeversuchen“ einer anderen Firma, die sie nach dem Kauf womöglich feuern würde. Aus gesellschaftlicher Sicht dürfte es wenig Sinn ergeben, weniger effiziente Führungskräfte vor effizienteren Kollegen zu schützen. Allerdings entscheidet die gegenwärtige Unternehmensleitung, wo die Firmenzentrale und Produktionsanlagen stehen sollen. Daher sind diejenigen Bundesstaaten, die das momentane Management durch das Erschweren von Übernahmeversuchen schützen, im Vorteil, weil sie durch ihr Handeln steuerzahlende und Arbeitsplätze schaffende Unternehmen halten. Für den Bundesstaat selbst ist es völlig rational, so zu entscheiden, auch wenn es dem nationalen Interesse schaden dürfte. Kurz gesagt, für die gegenwärtige Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite ist es völlig rational, nach Zielen zu streben, die den langfristigen wirtschaftlichen Interessen dieser beiden Gruppen zuwiderlaufen. Und es ist genauso rational für die amtierenden Politiker, sie mit Gesetzen auszustatten, die in niemandes langfristigem Interesse liegen. So gesehen könnte man meinen, dass dann, wenn die zeitweiligen Vertreter einer dauerhaften Gruppe von einer neuen Generation abgelöst werden, die bestehende Gesetzgebung, die der Vorgängergeneration angepasst war, aufgehoben würde. Aber die zwischen Amtierenden und Nicht-Amtierenden bestehenden Unterschiede bei den Erkenntniskosten verhindern derlei Anpassungen an spätere Rückmeldungen. Zum einen kennen sich die aktuellen Platzhirsche und wissen, was sie gemeinsam haben und was für sie auf dem Spiel steht. Menschen, die vielleicht Ärzte geworden wären, wenn der Dachverband der amerikanischen Ärzte (American Medical Association) den Zugang zu den medizinischen Fakultäten nicht beschränkt hätte, oder ein ganz anderes Schienennetz geschaffen hätten, wenn nicht die Interstate Commerce Commission (ICC) den Eisenbahnverkehr regulieren würde, werden dergleichen nie mit einer auch nur annäherungsweise gleichen Gewissheit wissen  – das heißt, ihre Erkenntniskosten werden nie annähernd so niedrig sein. Ein Stelleninhaber muss gerade mal wissen, was er von Beruf ist. Es reicht, wenn er erkennt, was er und seine Kohorte unter anderen institutionellen Arrangements verlieren würden. Jemand, der keine bessere Arbeit als die eines Tellerwäschers findet, kann nun mal nicht wissen, dass er Vorarbeiter hätte werden können, wenn die Baugewerkschaft keine Zugangsbeschränkungen erwirkt hätte. Selbst wenn er es wüsste, könnte er nicht all die anderen Individuen ausfindig machen, die seine Kollegen oder Arbeitgeber in jener hypothetischen Baubranche ohne gewerkschaftliche Einschränkungen geworden wären, um so mit ihnen als Gegengewicht eine andere Interessengruppe zu bilden. In ähnlicher Weise stünden all die potentiellen Führungskräfte, Investoren, Angestellten und Subunternehmer in Form von Eisenbahngesellschaften, die ohne Regulierungen der ICC ins Geschäft gekommen wären, vor unglaublich hohen Erkenntniskosten, wenn sie einander ausfindig machen wollten; selbst dann, wenn jeder von ihnen wissen würde, dass er persönlich zu den Verlierern der ICC-Politik gehört. Diese temporale Verzerrung zwischen den bestehenden und den künftigen Mitgliedern einer Interessengruppe bekommt gelegentlich zusätzliche Akzente, wenn

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infolge der Gesetzgebung, die neue Institutionen zum Zwecke der Regulierung, Förderung oder einer sonstigen Form von Interaktion mit der fraglichen Interessengruppe ins Leben ruft, eine neue Gruppe interessierter Dritter zusammenfindet – z. B. die Zivile Luftfahrtbehörde (Civil Aeronautics Board), das Landwirtschaftsministerium und ähnliche staatliche Einrichtungen, die mit bestimmten Industriezweigen verbunden sind. Sie sind nicht mit der Branche selbst oder der sich dort womöglich bildenden Interessengruppe mit ihren ständig wechselnden Zusammensetzungen aus Organisationen, Menschen und Machtkonstellationen verbunden. Sie sind vor allem mit den amtierenden Organisationen und Individuen der Branche oder Interessengruppe verbunden. Der sonst mit der Zeit auftretenden Verdrängung solcher Organisationen und Individuen durch neue Rivalen können sie meist durch politische bzw. staatliche Aktionen vorbeugen. Unternehmen, die am Markt sind, kann man vor dem Bankrott schützen, indem man Rivalen den Marktzugang erschwert, Preissenkungen anderer etablierter Konkurrenten, die weniger Kosten haben, verbietet bzw. verhindert, oder technologische Entwicklungen bremst, die den weiteren Gewinn oder Fortbestand der vorhandenen Konkurrenten mit alten Technologien bedrohen. Ein großer Teil der politischen Diskussion um konkurrierende Interessengruppen lässt den Wettbewerb unter den zeitlich separierten Segmenten ein und „derselben“ Interessengruppe außer Acht. Die temporale Verzerrung betrifft nicht nur die Aufteilung der Kosten und Nutzen innerhalb einer solchen Interessengruppe, sondern auch den Effekt auf die Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt, der von der Richtung ausgeht, die von der Gruppe zuletzt eingeschlagen wurde; eine Richtung, die unter Beschränkungen gewählt wurde, welche die erste Amtsinhabergeneration, die zur Durchsetzung ihres Ziels hinreichend gut organisiert war, zu ihrem eigenen Vorteil eingerichtet hat. Die Verzerrung politischer Entscheidungsfindung zugunsten der amtierenden Entscheidungsträger in nicht-politischen Organisationen ist Teil einer allgemeineren zeitlichen Verzerrung politischer Entscheidungsfindung, deren Zeithorizont in der Regel durch die nächsten Wahlen festgelegt ist. Da die Zeithorizonte der Wähler in der einen oder anderen Frage weiter hinausragen, können politische Entscheidungen auch schon mal die langfristigen Interessen in diesen Fragen widerspiegeln. Damit die Zeithorizonte der Wähler die politische Entscheidungsfindung aber wirksam kontrollieren können, müssen die Wähler auch in der Lage sein, die langfristigen Konsequenzen der aktuellen Politik vorherzusehen. Das ist für einige politische Maßnahmen leichter möglich als für andere. Die langfristigen Folgen vieler politischer Maßnahmen, wirtschaftspolitische Maßnahmen eingeschlossen, setzen Sonderkenntnisse voraus, die jenseits der Expertengremien kaum verstanden werden. Überdies können empirische Rückmeldungen das ursprüngliche Verständnis nur im begrenzten Maße korrigieren, weil die einzelnen Entscheidungsträger meistens aufgrund von Stärken, die man ihren früheren Entscheidungen zugeschrieben hat, zwischenzeitlich andere (meist höhere) Positionen bekleiden. Und wenn die Wähler schon damals kaum verstanden haben, was getan

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wurde, dann fällt ihnen dies erst recht schwer, wenn man zwecks Neubeurteilung der einst getroffenen Entscheidung Jahre später versucht, die ursprüngliche Lage in der Erinnerung des Wählers zu rekonstruieren. Unmöglich ist das zwar nicht, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die ursprüngliche Entscheidung auf Korruption gründete (wie im Falle des Teapot-Dome-Skandals), oder wenn aus Beschwichtigungspolitik ein Krieg wird (Chamberlains Appeasement Politik). Die Sache ist einfach die, dass die Erkenntniskosten langfristige Entscheidungen bis zu einem gewissen Grad vor den Rückmeldungen der Wähler abschirmen und es für gewählte Staatsdiener in Abwesenheit von Wählerrückmeldungen keinen institutionellen Anreiz gibt, einen Blick über den Tellerrand der nächsten Wahl hinaus zu wagen. Wie kurz dieser Zeithorizont sein kann, veranschaulicht die Tatsache, dass die Zeit, die einem Kongressabgeordneten vor der nächsten Wahl bleibt, ein Jahr beträgt, und die eines US-Senators drei Jahre. Natürlich haben sie zu Beginn ihrer Amtszeit mehr Restzeit vor den nächsten Wahlen, später aber entsprechend weniger. Die Amtsperiode – vom Tag ihres Amtsantritts an, also zwei bzw. sechs Jahre – gibt den maximalen Zeithorizont an, aber der durchschnittliche Zeithorizont beträgt nur die Hälfte dieses Zeitraums. Die Zeit spielt vor allem bei ökonomischen Entscheidungen eine Rolle, die auch „fixe Kosten“ beinhalten – d. h. Kosten, die kurzfristig nicht variieren. ­Brücken, Buslinien und Krankenhäuser haben z. B. große Fixkosten zur Deckung ihrer Grundstruktur und Ausstattung – groß im Vergleich zu ihren übrigen Kosten (wie z. B. Arbeitskosten), die in Abhängigkeit zur Nutzung der Anlagen und Dienstleistungen variieren. Solange die Fahrtarife die kurzfristigen Betriebskosten decken (Benzinkosten, Busfahrerlöhne), können städtische Verkehrsbetriebe ihren Betrieb aufrechterhalten, ohne dem Steuerzahler zusätzlich auf der Tasche zu liegen. Längerfristig müssen die Fahrtarife aber auch die Fixkosten decken, die anfallen, wenn Busse ausrangiert und ersetzt werden. Die Notwendigkeit, die Fahrpreise zu erhöhen, um beide Kostenarten zu decken, kann jederzeit von der Politik verneint werden, ohne eine Rückmeldung innerhalb des Zeithorizonts der gewählten Stadtoberen befürchten zu müssen. Solange die aktuellen Tarife die Aufwendungen für Benzin, Fahrerlöhne und sonstige laufende Kosten decken, kann man Fahrpreiserhöhungen aufschieben, ohne dass diese eine unmittelbare quantitative oder qualitative Reduzierung des Fahrangebots oder eine Steuererhöhung zur Folge hätte. Es spielt gar keine Rolle, ob die Fahrpreise den Ersatz für ausrangierte Busse angemessen finanzieren könnten. Dieses Problem stellt sich erst kommenden Generationen von Busfahrern, Steuerzahlern und Stadtverwaltungen. Fürs Erste kann man aus einem humanen Akt, der darin besteht, die Öffentlichkeit (oder die Armen) vor höheren Tarifen zu schützen, eindeutig politischen Nutzen schlagen. Wenn die Busse älter werden und so langsam auseinanderbrechen – was zur Überbelegung der verbleibenden Busse, längeren Wartezeiten zwischen den Fahrten und weniger Komfort führt –, dann wirkt sich dies nicht nur auf das Transportwesen, sondern auch auf die gesamte Sozialökologie der Stadt aus. Wer das städtische Verkehrssystem jetzt nicht länger erträgt, der greift nun vermehrt auf das eigene Automobil

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zurück und / oder zieht in die Vorstadt. Die Wähler, die einst für den Held stimmten, der sich für die Busfahrer stark gemacht hat, werden 10 Jahre später dessen Heldentat wohl kaum mit der dann einsetzenden Massenabwanderung in die Vorstädte und den steigenden Ausfällen bei der Kommunalsteuer in Verbindung bringen. Inhärente Kontinuität und willkürliches Ermessen Die Zeit mehrt die Kosten politischen Wissens auch noch auf viele andere Weisen. Die inhärente Kontinuität der Zeit muss zum Zwecke politischer Entscheidungsfindung und anschließender Beurteilung seitens der Wähler in einzelne Einheiten unterteilt werden. In der Folge fällt derlei willkürlich separierten Zeit­ einheiten innerhalb eines gegebenen Systems aus Anreizen und Zwängen eine Bedeutung zu, die in keinem Verhältnis zu ihrer Bedeutung steht, die sie im langen und kontinuierlichen Strom der Zeit haben. Auch nicht-politische Institutionen leiden unter ähnlichen Problemen, verfügen aber oft über Mechanismen, mit deren Hilfe die ausgeklammerte Zukunft während der willkürlich gewählten Zeitperiode zum Tragen kommt. Aktionäre blicken z. B. nicht nur auf die Dividende am Jahresende, sondern auch auf den aktuellen Preis der Aktie, der die Beurteilung des Marktes hinsichtlich der künftigen Aussichten des Unternehmens widerspiegelt. Eine Mutter bedenkt nicht nur, dass eine Süßigkeit ihr schreiendes Kind augenblicklich vom Plärren ablenken könnte. Weil sie auf immer die Mutter ihres Kindes bleiben wird (und damit auch für immer sozial und emotional verantwortlich ist), muss sie auch an den Langzeiteffekt denken, den die Süßigkeiten für die Ernährung, den Zahnschmelz und das seelische Gleichgewicht des Kindes haben. Zu den gesellschaftlichen Kosten einer willkürlichen Zeiteinteilung innerhalb eines gegebenen Systems zählt, dass es ein Leichtes ist, mithilfe geschickt gewählter Zeiteinheiten verzerrte Darstellungen abzugeben (hohe Erkenntnis­kosten für die Wähler). Zu den gesellschaftlichen Kosten gehören aber nicht nur die kurzfristigen Maximierungen zulasten der langfristigen Kosten, sondern auch die höchst variabel auslegbaren Langfristtendenzen. Nehmen wir z. B. das Jahr 1960 und die Wachstumsrate der amerikanischen Wirtschaft. Dieselbe könnte irgendwo zwischen 2 % und 4,7 % liegen, und zwar abhängig von dem jeweils willkürlich festgelegten Jahr, ab dem man zählt.83 Die Wachstumsrate der amerikanischen Wirtschaft war während des Wahlkampfs um das Präsidentenamt ein Hauptthema und die hohen Wissenskosten der Wähler waren deshalb von großer politischer Wirkkraft. Da die normale Wachstumsrate um die 3 % betrug, lag das Wirtschaftswachstum unter dem amtierenden Präsidenten entweder unter oder über dem Normalwert, je nachdem, ab welchem Jahr man zu rechnen begann. Das war übrigens keine Besonderheit für das Jahr 1960. Bei der vorangegangenen Präsidentschaftswahl (1956) reichten die entsprechenden Wachstumsraten von 2,1 % bis 5,1 %, je 83

Denison (1962), S. 17.

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nach gewähltem Ausgangsjahr; und bei der davor liegenden Präsidentschaftswahl (1952) lag die Bandbreite zwischen 1,3 % und 5,3 %.84 Jede der jeweiligen Regierungen könnte gemäß des Kriteriums entweder als großer Erfolg oder großer Misserfolg durchgehen, und zwar abhängig von der willkürlich wählbaren Zeiteinheit. Die Sowjetregierung hat viele Menschen auf der Welt lange Zeit mit russischen Wachstumsraten beeindrucken können, die an das Jahr 1926 als Ausgangsdatum angelehnt waren. Hätte man stattdessen das Jahr 1913 als Referenzdatum ausgewählt, wären die Wachstumsraten sehr viel geringer ausgefallen. Vor dem Hintergrund des weltweit anhaltenden Vergleichs zwischen Staaten sowjetischen Systemtyps und westlichen bzw. sonstigen Wirtschaftssystemen können die hohen Kosten des temporalen Wissens sehr weitreichende Folgen für die Menschheit haben.

Kategorische versus inkrementelle Entscheidungen Politische und vor allem legale Entscheidungsverfahren tendieren eher zu kategorischen als zu inkrementellen Entscheidungen. Das liegt teilweise an den Ängsten, welche die Übermacht des Staates auslöst. Allerdings kann der Staat seine Macht nur unter einer Reihe von Vorkehrungen wahrnehmen – gemeint sind die zahllosen Beschränkungen, die im Ermessen individueller Entscheidungsträger liegen. Die besagten Ängste kommen nicht nur aus der Öffentlichkeit, die in einer Demokratie der staatlichen Macht unterworfen ist, sondern auch von politischen Führungskräften – demokratische und undemokratische –, die politische Rückschläge befürchten, und zwar aufgrund von Entscheidungen, die namenlose Staatsbedienstete auf der unteren Ebene treffen – Staatsbedienstete, die so zahlreich sind, dass der von ihnen ausgenutzte Ermessensspielraum nicht mehr zu kontrollieren ist. Mithilfe zahlloser und relativ inflexibler Regeln senkt man die Aufsichtskosten, indem man sich auf die Grundfrage beschränkt, ob bestehende Verfahren angewendet werden sollten oder nicht. Der individuelle Ermessensspielraum mag zwar nicht ganz außen vor bleiben, aber „eine Herrschaft des Rechts und nicht der Menschen“ erweist sich hier als kostensparende Maßnahme. Man kann es auch anders sehen: In einer Welt mit null Erkenntniskosten (Allwissenheit) bräuchte man keine Verhaltensregeln, weder für den ursprünglichen Entscheidungsträger noch für dessen Vorgesetzten, der dessen Entscheidung womöglich später revidiert. Sowohl die ursprüngliche Entscheidung als auch deren anschließende Überprüfung kann man unter der allgemeinen Maßgabe betrachten, wie intelligent eine Angelegenheit erledigt wurde. Aber sowohl die eigentlich zuständigen als auch die prüfenden Beamten und die allgemeine Öffentlichkeit akzeptieren eine Güterabwägung zwischen der Flexibilität in Ermessensfragen einerseits und der institutionellen Verlässlichkeit sowie der Absicherung gegen einen diskriminierenden Gebrauch der gewaltigen Staatsmacht andererseits. Der „Amtsschimmel“ ist eine Art versteckter Prämie, mit der diese „Versicherung“ bezahlt wird. 84

Denison (1962), S. 17.

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Regierungen können diskretionäre Entscheidungsfindung und verlässliche Regeln miteinander kombinieren, und tun dies auch. Treibt man eines von beiden auf die Spitze, dann zerstört man das andere; Güterabwägungen können überall zwischen den Extremen liegen. Der Verkehr wird in der Regel von vollkommen willkürlich gesetzten Prioritäten geregelt, die mechanisch von Verkehrsampeln an Straßenkreuzungen angegeben werden. Ob der Verkehr in eine der Richtungen aus persönlichen oder sozialen Gründen Vorrang genießen sollte oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Gewiss gibt es Momente, in denen jemand, der dringend zu einem (für ihn oder für die Gesellschaft) wichtigen Treffen muss, ungeduldig darauf wartet, dass die Ampel für ihn auf grün springt, während ein anderer gemütlich auf einer Spritztour die Kreuzung überquert. Verkehrsregeln beinhalten, wie alle anderen willkürlichen Regeln auch, derlei soziale „Ineffizienzen“ – und implizieren auch die Entscheidung, dass die Kosten einer zu weit reichenden Ausmerzung dieser „Ineffizienzen“ den Nutzen, derlei zu probieren, übersteigt. Als Sicherheitsventil für Extremfälle sehen die Verkehrsregeln Ausnahmen für Notfahrzeuge vor, deren Sirenen das Wissen vermitteln, dass ein solcher Ausnahmefall im Anmarsch ist. Im Allgemeinen kann man willkürlich aufgestellte kategorische oder „bürokratische“ Regeln nicht als falsch kritisieren, nur weil bestimmte individuelle Folgen gelegentlich unsinnig sind, wenn man sie mit dem vergleicht, was eine intelligente und unparteiische Person in Anbetracht aller Fakten in jenem besonderen Falle entschieden hätte. Weder Fakten noch Intelligenz noch Unparteilichkeit sind freie Güter. Kategorische Regeln gestehen dies ein und sind ein Versuch, mit den verfügbaren Ressourcen unter Berücksichtigung ihrer Kosten haushälterisch umzugehen. Im Falle inkrementeller und diskretionärer Entscheidungsfindung geht es darum, den Risiken diskriminierender, unkluger oder korrupter Entscheidungsfindung ins Auge zu sehen. In speziellen Situationen kann ein solcher Fall gegeben sein. Wichtig ist, dass man die vorliegende Güterabwägung erkennt.

Politische Maschinerie (Klientelpolitik) Die Geschichte der Gemeindereformpolitik in den Vereinigten Staaten besteht zu einem großen Teil aus einer sich wandelnden Güterabwägung zwischen einer unsensiblen und bürokratischen „guten Staatsführung“ einerseits und einer korrupten Klientelpolitik, die sich flexibel auf die allgemeinen Prioritäten und persönlichen Notfälle der Bürger einstellt, andererseits. Die Reformbefürworter kamen in der Regel aus der Oberschicht, gebildet, erfahren und einflussreich genug, um das bürokratische Dickicht zu lichten. Gleichzeitig blieb die korrupte Maschinerie in Kraft und passte die kategorischen Regeln an die Bedürfnisse der Verzweifelten und Verletzlichen an, die der Sprache der „guten Staatsführung“ kaum folgen konnten, geschweige denn ihre Verwobenheit durchschaut hätten. Eine korrupte Klientelpolitik spielt im politischen Leben die Rolle, die der Unterhändler im Wirtschaftsleben einnimmt. Sie ist korrupt, weil das Gesetz ihre Rolle nicht gutheißt, und noch weniger die persönliche Bereicherung, die mit ihr einhergeht.

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In Demokratien ist der Klientelismus, neben anderen Dingen, ein Mechanismus für den haushälterischen Umgang mit den Kosten, die für das Wissen, und vor allem für dessen Übermittlung anfallen. So wie der technisch wenig bewanderte Kunde einfach nach Markennamen (und Lizenznehmer) sortiert, statt eine spezifi­ schere Sortierung nach einzelnen Produktmerkmalen vorzunehmen, zu deren Beurteilung er vor dem Kauf außerstande ist, so wählen auch die politisch Unkundigen für oder gegen eine bestimmte Klientelpolitik, je nachdem, wie sie diese wahrnehmen, und nicht etwa aufgrund ihrer Kenntnisse, die sie von den Kandidaten und Themen hätten. Dies setzt Anreize für die politischen „Anführer“, die sich mit den individuellen politischen Ämtern und spezifischen Themen besser auskennen, beides so im Blick zu behalten, dass die langfristige Duldung der politischen Maschinerie durch die Öffentlichkeit ihren Maximalwert erreicht. In ähnlicher Weise haben die Hersteller oder Lizenznehmer von Markenprodukten ein Interesse daran, sich für Qualitätskontrollen einzusetzen, die dem Konsumenten, dem das Spezialwissen fehlt, als Ersatz dienen. In keinem der Fälle bedeutet Qualitätskontrolle eine perfekte Qualität. Es ist auch nicht klar, ob aus Sicht des gesellschaftlichen Optimums das Streben nach maximaler Produktqualität (oder minimaler Qualitätsabweichungen) über einer an den Kosten ausgerichteten optimalen Qualitätsvariabilität stehen sollte. Klientelpolitik ist für finanzielle Korruption mal mehr, mal weniger anfällig – vor allem dann, wenn man Wählerkreise repräsentiert, die derlei Korruption weniger schockiert als die Gesellschaftskritiker oder jene Klassen, für die derlei Klientelismus nicht attraktiv ist. Qualitätskontrolle heißt nicht, dass sie auf ein abstraktes Ideal bezogen wäre, sondern auf eben jene Merkmale, die von der relevanten Wählerschaft geschätzt werden. Die Ära, in der eine bestimmte Klientelpolitik vorherrscht, und die sozialen Klassen bzw. ethnischen Gruppen, denen sie gilt: sie alle sind untrügliche Zeichen der hohen Kosten, die mit der Alternative verbunden sind – und die heißt „rationale“ oder bürokratische „gute Staatsführung“. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts befand sich der Klientelismus auf seinem Höhepunkt. In jener Zeit machte die ethnische (und auch die religiöse) Spaltung unter den Wählern öffentliches Vertrauen schwierig. Nur wenige ethnische Minderheiten hatten die Zeit, Bildung oder auch nur die Kenntnis der englischen Sprache, um den staatlichen Organen, die ihr tägliches Leben bestimmten, gewachsen zu sein. Polizeilicher Schutz, Müllabfuhr, Schulbesuch und viele andere staatlichen Aufgaben oblagen Personen und Institutionen, die der ungewaschenen und in vielen Sprachen kommunizierenden Bevölkerung in den großen Städten in unverständlicher, unüberprüfbarer und oftmals erkennbar herablassender Art begegneten. Es war viel teurer, das Wissen um die Folgen, das jene Bevölkerungsgruppen hatten, durch das politische und bürokratische Labyrinth hindurch formgerecht an die entscheidenden Stellen weiterzuleiten, als die Aufmerksamkeit und Loyalität eines politischen „Bosses“ zu erkaufen, der die formalen Prozesse übergehen bzw. umgehen oder sonst wie „korrumpieren“ konnte, um das zu tun, was getan werden musste.

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Diese politischen Bosse sprachen oft buchstäblich ihre eigene Sprache und machten die intimen Lebensverhältnisse ihrer Wähler und das, was diesen wichtig und unwichtig war, zu ihrer Sache. Im Gegensatz dazu waren die Spitzenpolitiker der Reformen oder „guten Staatsführung“ meist distanzierte, abgehobene und wohlhabende Angelsachsen, die wenig von dem kulturellen Mosaik in den Slums großer Städte kannten; nur dass es fremd und daher „falsch“ war. Kurzum, die Politiker der Reformen und „guten Staatsführung“ waren als Vermittler des Wissens darüber, welchen Einfluss die Staatsführung auf das Leben jener Menschen hatte, die sich dem Klientelismus zuwandten, denkbar ungeeignet. Es war einfach nicht so, dass die Massen „ignorant“ oder „verführt“ gewesen wären, wie es die Reformer gern gesehen haben. Unwissend und also verführbar zu sein, mag manch zufälliges politisches Verhalten erklären, aber nicht die überwiegende Loyalität mit einer politischen Klientelpolitik, die für die Ghettos der Einwanderer typisch ist. Der Wert solcher Klientelismen für kulturell entwurzelte und wirtschaftlich verzweifelte Menschen dokumentiert sich zudem in der finanziellen Korrumpierbarkeit der Klientelpolitiker, die oft wiedergewählt werden, obwohl ihre illegalen Machenschaften den Wählern im Allgemeinen bekannt sind. Die gesellschaftliche Zusammensetzung aus Unterstützern und Gegnern der Klientelpolitik legt eine andere wichtige Güterabwägung nahe: die zwischen dem Umfang des Rechts und dessen Nachvollziehbarkeit durch die Öffentlichkeit. Je ausgeklügelter und spezifischer man mit dem Recht alle Unwägbarkeiten begegnen will, desto komplexer und unverständlicher wird es. Weil das Recht nicht nur dazu gedacht ist, Verhalten rückblickend zu beurteilen, sondern auch vorausschauend anzuleiten, scheitert es an der letzteren – und umfangreicheren – Aufgabe in dem Maße, in dem die Öffentlichkeit nicht herausfinden kann, was das Recht von ihr erwartet oder fordert. Die optimale Mischung aus Umfänglichkeit und Verständlichkeit für die wohlhabenderen und gebildeteren Klassen ist reichhaltiger als jene, die man aus Sicht derer haben sollte, die finanziell schlechter ausgestattet und mit den sprachlichen Vertracktheiten, die man in Gesetzestexten und Rechtsdokumenten vorfindet, weniger vertraut sind. Die Güterabwägung fällt meistens zugunsten der Komplexität aus, nicht nur wegen des größeren Einflusses der Wohlhabenden, sondern auch wegen der vernünftigen Annahme, dass eine umfangreichere (oder präzisere) Artikulierung eine „gute Sache“ sei – ohne Rücksicht auf nachlassende oder negative Erträge. Wenn das Recht bei der ausdrücklichen Berücksichtigung der Unwägbarkeiten scheitert, dann bedeutet das aber nicht unbedingt größere Unsicherheit, Chaos oder Rechtsstreitigkeiten. Wer komplexere Angelegenheiten zu erledigen hat, kann seine eigenen vertraglichen Vereinbarungen im Rahmen eines einfachen allgemeinen Rechts treffen. Es gibt eine gesellschaftliche Güterabwägung zwischen den rechtlichen Arrangements, die auf Kosten der Öffentlichkeit zustande kommen, und solchen, deren Zustandekommen auf private Rechnung erfolgt.

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Bürokratien Die politische Entscheidungsfindung ist aber auch in einem anderen Sinne eher kategoriell. Die jeweiligen staatlichen Einrichtungen tragen nicht einfach zu irgendeinem allgemeinen Wohlergehen der Öffentlichkeit bei, so wie es diverse gesellschaftliche und wirtschaftliche Einrichtungen tun können. Das heißt, nichtstaatlichen Einrichtungen steht es frei, ihren jeweiligen Grad der Spezialisierung festzulegen und ab und an zu ändern, je nachdem, wie sie es für richtig halten. Wells Fargo betrieb lange Zeit den „Pony Express“. Inzwischen haben sie ihn aufgegeben und wickeln stattdessen mehr oder weniger normale Bankgeschäfte ab. Ein Hersteller von Babynahrung kann seine Aktivitäten erweitern und Lebensversicherungen verkaufen, und ein Bowlingsportausrüster kann auch Automobile bauen. Eine Mutter wechselt ihre Routinen und Rollen im Leben ihres Kindes mehrere Male. Staatliche Behörden haben hingegen ein spezifisches Sortiment an zugewiesenen Aktivitäten wahrzunehmen und nicht ein allgemeines Ziel zu verfolgen, wie z. B. die Mehrung von Profit oder familiärem Wohlergehen. Sie sind im Allgemeinen dazu autorisiert, Prozesse durchzuführen, nicht aber, Ergeb­nisse zu erzielen. Wenn Postbeamte zu der Überzeugung gelangten, dass die Kommunikation deutlich davon profitierte, wenn man im großen Stil vom Briefe schreiben auf die Nutzung von Telefonen, Telegraphen und diversen individuellen Funkverbindungen umstiege, dann wären sie immer noch nicht befugt, das ihnen anvertraute Geld statt zur Briefbeförderung zur Subventionierung der genannten Aktivitäten zu nutzen. Gäbe es eine staatliche Behörde zur Herstellung von Babynahrung, dann könnte sie nicht selbst irgendwann einmal entscheiden, einen Teil des Geldes fortan in Lebensversicherungen zu stecken, wie es die Firma Gerber getan hat. Und eine staatliche Fotoagentur könnte nicht beschließen, ab morgen Regenmäntel herzustellen, wie man es bei Eastman Kodak getan hat. Angesichts der einem Amt verliehenen kategorischen Vollmachten und des Gesetzes nachlassender Erträge ist es eigentlich unumgänglich, dass staatliche Behörden eines Tages Dinge tun, die, als isolierte Entscheidungen betrachtet, irrational erscheinen. Der Hang zur Übertreibung, der keiner menschlichen Aktivität fremd ist – von der Babybekleidung bis hin zur Ausbreitung multinationaler Konzerne – gilt auch für staatliche Einrichtungen. Wo aber andere Expansionen nicht nur durch Budgetrestriktionen beschränkt werden, sondern auch von den inkrementellen Gewinnen der übrigen Aktivitätsbereiche, da haben staatliche Behörden, die im Auftrag handeln, jeden nur denkbaren Anreiz, ihre besonderen Aktivitäten so weit wie politisch möglich auszudehnen – auch in Bereiche, in denen sie negative Erträge für die Gesellschaft erzielen. Das wird vor allem bei präventiven Maßnahmen sehr deutlich, die dazu gemacht sind, verschiedene Übel einzudämmen. Wenn derlei Übel erfolgreich reduziert werden, entweder aufgrund der behördlichen Aktivitäten oder aufgrund technologischer oder sozialer Entwicklungen, dann muss die Behörde mehr Aktivität pro verbleibendem Übel an den Tag legen, schon allein um ihr gegenwärtiges Niveau an Beschäftigung und zugewiesener Mittel halten zu

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können. Wenn die Behörde die Diskriminierung von Minoritäten bekämpfen soll, dann muss sie ihre Vorstellung dessen, was „Diskriminierung“ und was eine „Minorität“ konstituiere, weiten. Wichtige Aufgaben wie die, die bürgerlichen Grundrechte für Schwarze zu sichern, weichen dann Aktivitäten, die darauf abzielen, dass die Anzahl der Cheerleader für die Sportmannschaften der Mädchengymnasien überall gleich ist.85 Eine nicht-staatliche Organisation könnte – wie es z. B. March of Dimes tat, nachdem die Polio besiegt war – ihre Aufmerksamkeit anderen Erkrankungen zuwenden, aber wenn sie ein staatliches, strikt auf Polio beschränktes Mandat besäße, hätte sie kaum ein andere Wahl, als ihre Aktivitäten darauf zu verlegen, die Geschichte der Polio niederzuschreiben, alte Polioposter zu sammeln usw. und zuzusehen, wie Kinder an anderen angeborenen Defekten oder Krankheiten sterben. Es geht hier nicht darum, dass die Organisationsleitung von March of Dimes dem Führungspersonal staatlicher Einrichtungen an Intelligenz oder Moral überlegen wäre. Der Punkt ist, dass eine nicht-staatliche Organisation, die auf die Rückmeldungen ihrer Donatoren bzw. Konsumenten angewiesen ist, Anreizen und Zwängen ausgesetzt ist, die zu institutionellen Entscheidungen führen, die auf rationale gesellschaftliche Güterabwägungen besser zugeschnitten sind. Diversifiziertere Behörden  – wie z. B. das Ministerium für Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt – verfügen über die Möglichkeit, das interne Sortiment ihrer Aktivitäten an die sich wandelnden gesellschaftlichen Prioritäten anzupassen, allerdings nur insoweit die Ministeriumsspitze in der Lage ist, die Interessen der Behörden gegenüber den „verfeindeten Fürstentümern“, die ihnen nominell unterstehen, durchzusetzen. Gleiches gilt für private Organisationen, die bei einer eng begrenzten Wählerklientel Unterstützung finden, wie z. B. die Bürgerrechtsorganisation NAACP Legal Defense Fund, die von wohlhabenden weißen „Liberals“86 unterstützt wird. Sie kann sich auf bestimmte Aktivitäten verlegen, die aus Sicht ihrer offenkundigen Nutznießer (Schwarze) oder der Gesellschaft insgesamt im Bereich nachlassender Erträge liegen, und das ungeachtet der Bedeutsamkeit, die ihre Mission in historischer Hinsicht gehabt haben mag. Kurz und gut, entscheidend ist nicht, ob die Kontrolle einer Organisation politisch oder privat vonstattengeht. Entscheidend ist vielmehr die Auftragsbandbreite einer Organisation und was diese für die Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass Aktivitäten unternommen werden, die jenseits der Grenze zu den negativen Erträgen für die Gesellschaft liegen. Die Sicherheitsvorkehrungen, die man trifft, bevor man von der umfangreichen staatlichen Macht und den riesigen Summen an staatlichen Geldern Gebrauch macht, schränken den Spielraum des Entscheidungsträgers oft auf einen bestimmten Katalog an Maßnahmen ein, die an zahlreiche Regeln gebunden sind. Und da der Steuerzahler die zahlreichen staatlichen Behörden nicht so beaufsichtigen kann, wie es Donatoren, Kunden und Familienmitglieder im Hinblick auf jene wenigen Aktivitäten tun können, die ihnen bedeutsam sind, bewirkt die Rück 85 86

Will (1978), S. 7. Downs (1966), S. 258.

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meldung an nicht-staatliche Organisationen in der Regel schneller und effektiver (als jene an staatliche Organisationen), dass die Einrichtung ihre Anstrengungen in neue Operationsfelder lenkt, nachdem die drängendsten Aufgaben im Stammbereich erledigt sind. Bürokratien sind definitionsgemäß der Kontrolle administrativer oder politischer Entscheidungen unterworfen, nicht aber Anreizen und Zwängen, die durch Preisfluktuationen kommuniziert werden.87 Während ein gewöhnliches Wirtschaftsunternehmen gezwungen ist, seine Produktionskosten unter dem Wert zu halten, den der Ertrag für den Konsumenten hat – und einen Anreiz hat, sie so tief wie möglich zu halten –, fehlen derlei Anreize und Begrenzungen in Bürokratien ganz und gar. Stattdessen gibt es dort Anreize und Zwänge, die in eine ganz andere Richtung weisen. Rang und Remuneration eines Bürokraten werden von dessen Grad der „Verantwortung“ bestimmt – in Kategorien, die dritten Parteien transparent sind, die jedoch einen Prozess und nicht ein Ergebnis zu beurteilen haben. Der Bürokrat wird nach der Anzahl der ihm unterstellten Personen und der Größe des ihm anvertrauten Haushalts bezahlt. Personalüberhang, „überflüssiger“ Papierkram und „unnötige“ Verzögerungen gibt es nur in Relation zum gesellschaftlichen Nutzen, nicht aber im Hinblick auf die geschaffenen Anreize. Jeder „nutzlose“ Untergebene ist für den Vorgesetzten ein Grund, ein höheres Gehalt zu bekommen. Genauso verhält es sich mit jeder „verschwendeten“ Ausgabe, und jede „unnötige“ Verzögerung rettet jemandes Arbeitsplatz. Je mehr Abteilungen, durch die der Bürger muss, desto mehr Arbeit hat die Organisation. Für einen Bürokraten, der ein Resultat abzuliefern hat, besteht der Anreiz, für die Erreichung seines Ziels so viele Mitarbeiter wie möglich anzufordern und so viel Budget wie möglich zu bekommen. Was politisch möglich ist, hängt von der Transparenz seiner Kosten ab, und nicht davon, wie groß die Kosten im Vergleich zum Ergebnis sind. Außerdem kann die Bürokratie die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen einfach ausdehnen, indem sie diese unter Kosten anbietet. So etwas wie ein objektiv quantifizierbares „Bedürfnis“ für eine Sache gibt es nicht. Fällt der Preis, dann wird eine größere Menge nachgefragt. Gewinn- und Verlustbeschränkung bedeutet, dass ein Privatunternehmen seinen Verkauf nur ausbauen kann, solange der Preis die Produktionskosten übersteigt. Eine staatliche Behörde, die ihre Güter und Dienstleistungen unter Preis ausgeben kann – manchmal tut sie es sogar kostenlos –, kann immer ein großes „Bedürfnis“ nach ihren Produkten belegen und daraus eine „Rechtfertigung“ für ihre Personal- und Haushaltsgröße ableiten. Man hat behauptet, dass die Bürokratisierung in einer Demokratie nie soweit ausufern könne, dass sie kontraproduktiv würde, sei es mit Blick auf die Organisa­ tionseffizienz oder auf die von ihr ausgehenden Begrenzungen der individuellen Freiheit. Wenn doch, würde eine Partei zum „Bürokratieabbau“ gewählt werden,88 und zwar mit der Unterstützung eines „jeden Bürgers, der glaubt, er würde für 87 88

Dahl / Lindblom (1976), S. 27. Dahl / Lindblom (1976), S. 213.

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den verschwenderischen Behördenapparat mehr zahlen, als er von den ihm direkt nützlichen Behörden erhielte.“89 Dies würde zutreffen, falls Wissen kostenlos wäre. Aber man kann die „Bürokratie“ nicht generell zerstören, sondern nur spezifische und höchst ungleiche Bürokratien. Wenn Staatslenkung kein Nullsummenspiel ist, dann bringt die Vermeidung von Anarchie substanzielle Vorteile, und diese Vorteile bewahren vor der spezifischen Ineffizienz, die sich ergäbe, wenn man mit der großen Axt der Bürokratie zu Leibe rücken würde. Genauer gesagt, auch wenn einige Behörden insgesamt keinen Nettogewinn erzielen, so bringen doch ihre Aktivitäten hier und da Nutzen. Damit ein Bürger eine verschwenderische Behörde erfolgreich attackieren kann, muss er den Punkt kennen, an dem Nutzen sich in Verschwendung bzw. kontraproduktives Handeln verwandelt. Selbst der erbittertste Kritiker der Arzneimittelzulassungsbehörde (FDA), der derselben Verzögerungen bei der Einführung lebensrettender Medikamente vorwirft, wird davor zurückschrecken, die ganze Behörde zu zerschlagen und allen Arten von Gift den Weg in unsere Wasser- und Lebensmittelversorgung frei zu machen. Solange Verschwendungen und Beschränkungen seitens der Behörden im Rahmen bleiben bzw. vor den Blicken der Öffentlichkeit abgeschirmt werden, können sie unbegrenzt weiterbestehen; ungeachtet der Tatsache, dass die inkrementellen Kosten die inkrementellen Vorteile übersteigen – so jedenfalls würden die Wähler urteilen, wenn sie es wüssten. Die gegenteilige Auffassung ist ein Sonderfall des demokratischen Fehlschlusses, der Marktentscheidungen unter expliziten Kostenbeschränkungen, die sich im Preisschild zeigen, mit den Entscheidungen des Wählers an der Wahlurne vergleicht; also mit Entscheidungen, die aufgrund von Plausibilitäten und angesichts der hohen Erkenntniskosten, die jeder Wähler hat, getroffen werden. Institutionelle Änderungen Der Unterschied zwischen inkrementeller und kategorischer Entscheidungs­ findung hat nicht nur Auswirkungen darauf, wo man bestimmte Entscheidungsarten, die diesseits und jenseits des Staates anfallen, platziert, sondern auch darauf, wie und wo staatliche Entscheidungen am wirksamsten installiert werden können. Gelegentlich kommt es zu Kampagnen, die staatliche Bürokratie zu „reformieren“ oder „anzupassen“ und nach einem „vernünftigen“ Plan aufzustellen, um „Duplikationen zu beenden.“ Innerhalb des genannten Rahmens sehen sie ganz anders aus. Mit Duplikationen ist z. B. gemeint, dass man in einem bestimmten Bereich mit unterschiedlichen Organisationen ähnliche Prozesse und Resultate erreichen kann, die normalerweise Teil größerer und stärker diversifizierter Organisationen sind, die deutlich unterscheidbaren Zwecken dienen. So betreiben z. B. sowohl das Kriegsveteranenministerium und das Gesundheitsministerium Krankenhäuser. In vielen Fällen heißt das, dass der Bürger selbst entscheiden kann, an wen er sich mit seinem Problem wendet – egal, ob es um Verbrauchertäuschung, Kartellverstöße 89

Dahl / Lindblom (1976), S. 419.

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oder Rassendiskriminierung geht. Wenn Duplikation gleichbedeutend ist mit individueller Wahl, dann hat man ein unbezahltes Paar „unbeaufsichtigter Aufseher“ geschaffen, das wirksam in der Lage ist, das Verhalten der beiden Einrichtungen einzugrenzen, weil die implizite Drohung im Raum steht, dass man zur anderen Einrichtung wechselt, sollte die eine nicht dieselbe Dienstleistung anbieten. Die Skaleneffekte, die sich durch die Zusammenlegung der Aktivitäten ergeben können (oder auch nicht), müssen gegen die höheren Kosten oder die geringere Qualität aufgewogen werden, die sich in der Regel dann zeigen, wenn aus Aufsehern eine geschlossene Zielgruppe für staatliche Aktivitäten wird. Wenn man ähnliche Aktivitäten auf eine Vielzahl zusammenhängender Organisationen des Staates verteilt, dann heißt das, dass eine Entscheidungseinheit, die ihr Personal und ihre Mittel auch für andere Aktivitäten einsetzen kann, diese Aktivität leichter auslaufen lassen kann. Ein durchdachterer Plan zur Bündelung aller ähnlichen Maßnahmen in einer Behörde, die dann nur für diese Maßnahme zuständig ist, bedeutet in Wirklichkeit, Anreize zu schaffen, diese Aktivität solange wie möglich am Leben zu erhalten und soweit wie möglich voranzutreiben, ohne bzw. kaum auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten und Vorteile zu achten. Die Kosten der zeitweisen Duplizierung müssen den langfristigen Kosten der Konsolidierung gegenübergestellt werden. Aber auch in einem anderen Sinne tendiert die politische Entscheidungsfindung dazu, kategorisch statt inkrementell zu sein. Die Programme der Regierungsvertreter bzw. politischen Kandidaten sind meist in kategorischen statt inkrementellen Begriffen verfasst. Das Lebenselixier der Politik sind nun mal die Gefühle des Volkes, und kategorische Erklärungen fangen diese Gefühle ein. Niemand geht für ein bisschen mehr von diesem und etwas weniger von jenem auf die Barrikaden. Für derlei inkrementelle Interessen geht man auch nicht in kalten Wahlnächten von Haustür zu Haustür klingeln. Aus diesem Grund liegt jeder politischen Aktivität – was auch immer ihr Inhalt oder ihre Ideologie sein mag – der Anreiz zugrunde, die alternative Sichtweise kategorisch zu präsentieren. Der Wettbewerb unter den politischen Gruppierungen bringt deshalb auch nicht, wie es im wirtschaftlichen Wettbewerb der Fall ist, ein genaueres Wissen an den Tag, sondern fördert überzogene Ängste und Hoffnungen – manchmal auch überzogene Taten. Er ist auch nicht nur ein vorübergehendes Phänomen vor Wahlen. Sind derlei kategorische Übertreibungen erst einmal in Gang gesetzt, dann werden aus ihnen Anreize und Zwänge für die nachfolgende Politik, selbst in den totalitärsten Regimes. In freien Ländern setzt die Presse der kategorischen Rhetorik staatlicher Politik bis zu einem gewissen Grad Grenzen. Aber Abonnements und Werbeanzeigen verkauft man nur, wenn man ein bestimmtes Niveau an öffentlicher Begeisterung wachhält, und die wird nun mal von kategorischen Konflikten angefacht. Es gibt kaum Anreize für Einrichtungen, einen inkrementellen Ansatz der politischen Entscheidungsfindung zu unterstützen. Zur kategorischen Entscheidungsfindung tendiert eine Regierung aber nicht nur wegen der Anreize, die sich ihr bieten, sondern auch wegen der Anreize, die sie

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damit für jene schafft, die außerhalb stehen. Indem man einer Gruppe ein wertvolles Recht zu Lasten einer oder mehrerer anderer Gruppen zugesteht, schafft man einen Anreiz für verlustreiche Kämpfe, da jede Gruppe diejenige sein will, die bekommt, statt zu geben. Offen ausgetragene Rivalitäten unter den Gruppen, die als solche erkennbar wären, würden eine Grundlage für inkrementelle Anpassungen unter den rivalisierenden Ansprüchen schaffen. Aber um die Tolerierung der Sonderinteressen in der Öffentlichkeit zu stärken, wird der verbale oder ideologische Disput zu einem Konflikt der Prinzipien erhöht – der nach einer kategorischen Auflösung verlangt. Alles-oder-nichts-Entscheidungen erhöhen den Einsatz und die Mittel, um als Gewinner hervorzugehen, und mindern die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende dieses gesellschaftszerstörenden Prozesses ein gesellschaftlich optimales Ergebnis steht. Bestimmt gibt es ein optimales Niveau der Veränderung und der Entzweiung, das mit ihr einhergeht. Wenn jeder aus Angst vor Entzweiung starr wäre, dann könnte es nie zu einer Veränderung kommen  – weder politisch, wirtschaftlich noch gesellschaftlich – und würden wir alle immer noch in Höhlen wohnen. Aber wenn jede Veränderung unmittelbar neue Kämpfe auf den Plan ruft, diese Veränderungen zu verändern, dann dürften die relativen Verdienste all dieser Folgestadien im unablässigen Durcheinander untergehen. Wo auch immer die optimale Veränderungsrate einer politischen Einheit als Ganzes liegen mag, die optimale Rate eines praktizierenden Politikers (oder seiner Partei) ragt allemal höher, weil er als sichtbarer Gewinner der von ihm erwählten oder erschaffenen Gruppe durch seine Entschlossenheit nur gewinnen kann.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Der Staat wurde als ein Rahmenwerk aus Regeln dargestellt, in dem andere Entscheidungseinheiten Entscheidungen treffen können, ohne die hohen Trans­ aktionskosten einer privaten Streitmacht tragen zu müssen, die den Zweck hätte, den Schutz von Leib und Leben sowie Eigentum herzustellen und der Durchsetzung privater Vereinbarungen Nachdruck zu verleihen. Als ein Rahmenwerk skizziert der Staat einfach nur die Grenzen, innerhalb derer andere Entscheidungseinheiten ihre eigenen Entscheidungen fällen, und stellt seine eigene Macht zur Verfügung, um die etablierten Grenzen zu verteidigen. Und während der Staat den Grundrahmen für andere vorgibt – sei er nun enger oder breiter gefasst, abhängig von dem im Lande geltenden Freiheitsgrad –, ist er Anreizen und Zwängen institutioneller wie auch individueller Art unterworfen. Der Staat ist nicht einfach die personifizierte „Gesellschaft“ oder das Fleisch gewordene „öffentliche Interesse“. In modernen Demokratien – vor allem in den USA – ist er keine konsolidierte Entscheidungseinheit, sondern ein überlappendes Gefüge aus autonomen Zonen, Behörden und Machtcliquen – von denen jede andere Koalitionen aus Interessengruppen oder Ideologen anspricht.

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Man muss die schlichte Tatsache, dass an der Spitze von Staaten Menschen mit einem normalen menschlichen Verlangen nach persönlichem Wohlergehen und institutioneller Ausdehnung stehen, nur deshalb betonen, weil es eine lange Geistes­ tradition gibt, beim Staat so zu tun, als ob er im Hinblick auf diese Anreize und Zwänge eine Ausnahme bildete. Diese Tradition reicht von Platons „Philosophen­ könig“ über den erhabenen „Staatsmann“, den wir aus der merkantilistischen Literatur früherer Jahrhunderte kennen, bis hin zum Staat als Wahrer des öffent­lichen Interesses, wie man ihn aus jenen modernen Traktaten kennt, die sich selbst bescheinigen, „keine Wertstandpunkte, sondern empirische Sozialwissenschaft“ zu liefern.90 In dieser modernen Literatur, wie auch schon in der ihr vorangegangenen, tut man so, als ob immer dann, wenn der Staat sich die Entscheidungen anderer Institutionen aneignet, genug Evidenz – geradezu Beweise – vorlägen, dass diese Handlungen notwendig wären, um andere Entscheidungsprozesse, die irgendwie „irrational“91 seien, von „Mängeln zu befreien.“92 Allein die Aufzählung staatlicher Aktivitäten ist dann die – oft die einzig angebotene – Evidenz dafür, dass nichtstaatliche Institutionen „unangemessen“93 sind und ihre „Unfähigkeit“, mit den Problemen fertig zu werden, staatliches Einschreiten „offensichtlich“94 er­forderlich macht. Der Staat wird als eine Handlungseinheit dargestellt, die nicht auf ihre eigenen Anreize und Zwänge reagiert, sondern gezwungen sei, das, was sie tut, im Interesse der Öffentlichkeit zu tun: Er„ kann sich nicht raushalten“, wenn „so viel auf dem Spiel steht“95 und die Notlage ihn „zwingt“, die anderen Entscheidungsprozesse außer Kraft zu setzen.96 Eine solche Darstellung blendet einfach die Möglichkeit aus, dass es andere politische Anreize für die Herstellung und Verteilung von „Notfällen“ gibt, um die Macht auszudehnen und episodische Notfälle als Grund für die Erschaffung dauerhafter staatlicher Einrichtungen zu nutzen. Die Ausblendung politischer Anreizstrukturen gilt sowohl den Auswirkungen als auch Ursachen staatlichen Handelns. Oft „gibt man vor, die Auswirkung eines Gesetzes oder einer Zuwendung werde genau die sein, die sie laut Präambel sein soll.“97 Ein Großteil der Beschwerden über bürokratische „Ineffizienz“ und „Blödheit“ geht davon aus, dass die Bürokraten die Ziele verfolgen, die in der Präambel zu den Gesetzen stehen und ihre Existenz begründen, und nicht auf die Anreize reagieren, die von den „Details“ dieser Gesetzgebung geschaffen werden. Doch selbst dann, wenn man nur die physikalische oder technische Effizienz von etwas kalkulieren will, muss man zuerst das Ziel festlegen. Dort, wo Bürokraten ihre eigenen individuellen oder organisatorischen Ziele verfolgen, sind sie kaum „ineffizient“ – und 90

Dahl / Lindblom (1976), S. 465. Dahl / Lindblom (1976), S. 185. 92 Dahl / Lindblom (1976), S. 467. 93 Dahl / Lindblom (1976), S. 374. 94 Dahl / Lindblom (1976), S. 467. 95 Dahl / Lindblom (1976), S. 185. 96 Dahl / Lindblom (1976), S. 374. 97 Freeman (1975), S. 10. 91

Kap. 5: Politische Güterabwägungen

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noch weniger „blöd“ – in dem Sinne, dass sie Ziele verfolgen würden, von denen andere Personen wünschen, sie würden dieselben verfolgen. Es geht hier nicht um Haarspalterei, sondern um praktische Politik: Wenn man angeblich „ineffiziente“ oder „dumme“ Personen durch intelligentere Personen oder solche, die in der Privatwirtschaft einiges vorzuweisen haben, ersetzte, aber die Struktur der Anreize und Zwänge unverändert ließe, dann könnte man nicht darauf vertrauen, die Umsetzung der in den Präambeln beschriebenen Gesellschaftspolitik verbessert zu haben. Die Bedeutung der tatsächlichen Institutionscharakteristika als Wegweiser zu dem, was man zu erwarten hat, wird von der gängigen Praxis überlagert, politische Institutionen mittels der von ihnen erhofften Ergebnisse zu beschreiben: das Amt für Umweltschutz, die Gleichstellungskommission, das Verteidigungsministerium etc. Die Verwandlung des „Kriegsministeriums“, das als Wort beschreibt, was eine Militärorganisation eigentlich tut oder worauf sie sich vorbereitet, in das „Verteidigungsministerium“ – das vermutlich außerstande ist, eine militärische Attacke zu führen – ist symptomatisch für derlei bigotte Vernebelung. Anreizstrukturen sind zur Erklärung politischen Verhaltens wichtig, und zwar nicht nur in einem statischen Sinne, sondern auch mit Blick auf die dynamischen Veränderungen politischer Muster. Anreize funktionieren nicht nur, indem sie die Handlungen der betroffenen Menschen leiten, sondern auch, indem sie die Zusammensetzung der Menschen, die zu bestimmten Handlungen verleitet werden, ändern. Je nachdem, welches Anreizsortiment vorliegt, werden ganz unterschiedliche Typen von Personen attrahiert bzw. – in einem unpersönlichen darwinschen Sinne – „selektiert“. Gebrauchtwagenhändler unterscheiden sich in der Regel von freiwilligen Helfern des Roten Kreuzes. Bewegungen, die einen politischen Wechsel anstreben – also Widerständler im Allgemeinen, ob nun moderate Reformer oder gewaltbereite Revolutionäre –, mögen sich auch noch so sehr durch ihre erhofften Ziele definieren, im Kern sind sie Versuche, die Anreizstrukturen zu ändern. Noch bevor sie irgendwelche Erfolge erzielen – als Reform oder Revolution –, werden die Fußtruppen der Widerstandsbewegung in einem darwinschen Sinne „selektiert“, und zwar nach einem Anreizmuster, das sich von der Anreizstruktur, für die sie einstehen, vollständig unterscheidet. Wenn der Aufstand zum Erfolg führt, dann selektieren die neuen Anreize tendenziell eine andere Zusammensetzung von Personen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich beispielsweise die Sozialisten im Sozialismus von den Sozialisten im Kapitalismus. Ein kapitalistisches System – vor allem dann, wenn es sich aktiv selbst verteidigt – dürfte einem Sozialisten kaum direkte persönliche Vorteile für sein Sozialistendasein bieten und eher eine Reihe von Kosten auferlegen, die von gesellschaftlicher Missbilligung bis zur Inhaftierung reichen können, je nachdem, wie man in dem betroffenen Land die bürgerlichen Freiheiten handhabt. Stark selbstinteressierte, willensschwache und ängstliche Personen werden unter derlei Bedingungen wohl kaum von sozialistischen Bewegungen angezogen. Aber sobald der Sozialis-

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mus sich durchgesetzt hat, vor allem in Gestalt einer totalitären Orthodoxie, ist es der Anhänger des Kapitalismus, der nun hohe Kosten zu tragen hat, während dem Anhänger des Sozialismus eine hohe Belohnung winkt. Man darf damit rechnen, dass die Zusammensetzung der Menschen, die den Sozialismus nun anziehend finden, sich entsprechend ändert. Es ist nicht notwendig, dass sich die ganze Gesellschaft ändert, damit sich – wie in unseren beiden Fällen Kapitalismus und Sozialismus – verschiedene Typen von Personen zu Anhängern bestimmter Institutionen wandeln und dadurch auch die Funktionsweise dieser Institutionen verändern. Entsprechendes hat man, wenn auch nur in begrenztem Umfang, bei Regulierungsbehörden beobachten können, die nach ihrer Erschaffung eine ähnliche institutionelle Metamorphose durch­laufen haben. Jene, die für die Schaffung einer bestimmten Regulierungseinrichtung eintraten, hatten in der Regel nur wenige zweckdienliche Ziele, welche die verursachten Kosten und Risiken rechtfertigten. Die meisten von ihnen waren einfach nur Eiferer, die etwas anderes bezweckt haben. Ist die Institution erst einmal geschaffen, dann bietet sie Raum für Karrieren, Macht, Wohlstand und Öffentlichkeit und attrahiert so neue Gruppen von Mitstreitern und Anhängern. Nach und nach nehmen letztere die Plätze ihrer Vorgänger ein; entweder, weil die Karrieristen rabiater sind, wenn es um die besseren Positionen geht, oder weil das Feuer der Eiferer mit der Zeit bzw. nach Erreichen der ersten größeren Ziele heruntergebrannt ist oder inzwischen für ein anderes Wagnis auflodert. Dieser mit der Zeit einsetzende Personalwechsel verändert die Aktivitäten einer Einrichtung oft komplett, um den neuen Prioritäten einer neuen Klasse von Personen, die von den neuen Anreiz- und Begrenzungsstrukturen angezogen werden, zu entsprechen. Der „Lebenszyklus von Regulierungsbehörden“ ist ein Phänomen, das Politikwissenschaftler oft beobachten.98 Auch die Aufschreie aus Wut und Schmerz, welche die Anhänger des institutionellen Wechsels von sich geben, sind an der Tagesordnung – z. B. nach einer erfolgreichen Revolution, also nach einem institutionellen Wechsel im großen Stil. Der „Verrat“ der Ideale ist auch ein oft wiederholter Refrain unter den vielen Widerstandsbewegungen blasser wie schriller Couleur. Nur selten erkennt man, dass es der institutionelle Erfolg des Aufstandes selbst war, der neue Anreize schuf und so neue Personentypen attrahierte oder auch schon mal die Mitglieder der ersten Stunde sich neu orientieren ließ. Hinzu kommt, dass ein erfolgreicher Aufstand die Anführer des Putsches mit Informationen vertraut macht, die ihnen vorher nicht zugänglich oder nicht so klar waren, als sie noch Außenstehende waren, die sie aber nun zur Aufgabe liebgewordener Glaubensinhalte zwingen, weil diese der Wirklichkeit nicht standhalten. Die alternative, nicht-systematische bzw. gewollte Erklärung – dass die Menschen sich an die Gegenseite „verkauft“ hätten – steht vor einer ernstzunehmenden Schwierigkeit: Das Verhalten, das als ein „Verrat“ dargestellt wird, findet genau in dem Moment statt, in dem ein Verrat den geringsten Sinn ergibt. Die Bolsche 98

Bernstein (1964).

Kap. 6: Ein Überblick

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wiken, die bei ihrem Widerstand gegen den Zar Gefangenschaft, Folter und Tod riskierten, wurden später diskreditiert und von den Sowjets als „Verräter“ der Revolution hingerichtet. Ähnlich erging es, wenn auch in gemäßigter Form, der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, den Zirkeln der britischen Arbeiterpartei und anderen erfolgreichen Widerstandsbewegungen. Die systemische Erklärung hat den Vorteil, dass sie nicht nur darlegt, warum die allgemeinen Änderungen bei den Individuen auftreten, sondern auch, warum es nach einem institutionellen Wechsel unterschiedliche Typen von Individuen sind, die es im Auswahlprozess an die Spitze schaffen: Sie sind die rationale Antwort auf veränderte Anreize, so bitter auch jene darüber enttäuscht sein mögen, dass es ihnen misslang, die Folgen ihrer eigenen Anstrengungen vorauszusehen. Im Allgemeinen ist es unwahrscheinlich, dass zwei unterschiedlich zusammengesetzte Anreizstrukturen zweierlei Personengruppen, die beide mit der gegebenen Richtlinie zufrieden wären, attrahieren können. Ob die Anreizstrukturen unter den alten Machthabern erhalten bleiben oder unter den Aufständischen wechseln, für eine Erklärung des politischen Verhaltens sind sie von zentraler Bedeutung. Das gilt auch für die Erklärung des Verhaltens, das in ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen stattfindet. Kapitel 6

Ein Überblick Die Nutzung von Wissen in Prozessen der Entscheidungsfindung, die das gesellschaftliche Wohlergehen betreffen, hängt nicht nur von der Versorgung mit Ideen ab  – die es normalerweise im Überfluss gibt  –, sondern auch von Überprüfungsprozessen, damit die Spreu vom Weizen getrennt wird und die Ideen im Lichte der Erfahrungen, die man mit ihnen in Anwendungsfällen gemacht hat, angepasst werden können. Ob die Ergebnisse gesellschaftlich rational sind oder nicht, hängt vom Verhältnis der Kosten und Nutzen ab, die beide inkrementell variieren. Rationalität meint in diesem Zusammenhang nicht mehr, als das Wort Ratio im Sinne von ins Verhältnis setzen sagt – eine Sache gegen eine andere wie Güter untereinander abwägen.99 Es gibt verschiedene Prüfprozesse. Sie reichen von einfachen Zustimmungen bis zum wissenschaftlichen Test, und es gibt praktisch eine unbegrenzte Vielfalt an institutionellen Prozessen zur Durchführung von Überprüfungen bzw. Auswahlverfahren. Die fragmentarische Natur gesellschaftlichen Wissens bedeutet, dass 99 Die Ausführlichkeit einer Güterabwägung mag vom Vergleich eines Konsumenten reichen, der die Preisschilder im Regal studiert, bis hin zur systeminternen Güterabwägung, die stattfindet, wenn Größe und Stärke eines Dinosauriers nicht mehr ausreichen, um als Gattung im Wettbewerb mit agileren, intelligenteren oder anderweitig besser angepassten Geschöpfen zu bestehen.

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zahllose Individuen an der Authentifizierung und an den Rückmeldungen beteiligt und durch ein System gegenseitiger Anreize und Zwänge miteinander verbunden sein müssen. Rückmeldungen, die von den Entscheidungsträgern getrost ignoriert werden können, stellen kein Wissen dar, das gesellschaftlich wirksam wäre. Effektives Rückmelden besteht aber nicht im reinen Artikulieren der Information, sondern darin, dass fremdes Wissen implizit übermittelt wird, und dies explizit in Gestalt effektiver Anreize für den Empfänger. Die Gewinn- und Verlusterklärung eines Unternehmens oder das Wimmern eines Säuglings sind solche Übermittlungen. Beide rütteln Menschen wach und lassen sie auf Gefühle anderer reagieren, wobei die eine Übermittlung explizit formuliert ist und die andere nicht. Nicht die explizite Form der Artikulierung ist hier entscheidend, sondern die Wirksamkeit, mit der die Anreize übertragen werden. Der Grad der gesellschaftlichen Rationalität – d. h, wie genau Kosten und Nutzen abgewogen werden – hängt nicht vom Grad der individuellen Rationalität ab. Was im Rahmen eines Konvoluts an institutionellen Anreizen und Zwängen individuell rational ist, mag gesellschaftlich gesehen Verschwendung sein, und zwar in dem Sinne, dass dieselben Ressourcen im Rahmen anderer institutioneller Prozesse mehr Wünsche erfüllen könnten. Umgekehrt ist individuelle Rationalität keine Vorbedingung für systemische Rationalität. In der biologischen Evolution ist dies leicht zu sehen. Die Anpassung eines Organismus an die Umwelt setzt dort keine Planung voraus, und den Organismus schon gar nicht. Wenn es Absichten unter den Individuen gibt, die Teil eines systemischen Prozesses sind, dann heißt das nicht, dass diese das Ergebnis bestimmen würden. Die der Situation innewohnenden Beschränkungen – die Grenzen der Ressourcen in wirtschaftlichen Prozessen, die Vielfalt der Auffassungen in einer Demokratie und die Erkenntniskosten in gesellschaftlichen Systemen allgemein – sowie die Natur des jeweiligen institutionellen Prozesses, der das Wissen um diese Beschränkungen weiterleitet, sind Größen, die das Ergebnis mitgestalten. So simpel, allgemein und offensichtlich dies auch alles erscheinen mag, was daraus folgt, widerspricht vielem, das uns die Gesellschaftstheorie erzählt. Stillschweigendes Leugnen von Güterabwägungen ist an der Tagesordnung, vor allem, wenn es um so wichtige Dinge wie Freiheit und Menschenleben geht. Die Dinge, für die man die Freiheit inkrementell (und manchmal kategorisch) opfert, werden in die Rhetorik einer „umfassenderen“ Freiheitsdefinition eingebunden, so wie Veränderungen an der Demokratie (man denke an Verfassungsänderungen, Neubesetzungen am Gerichtshof) Teil eines „umfassenderen“ Demokratiebegriffs werden. Die Güterabwägung in Bezug auf menschliches Leben und Leiden, die hinter Mord und Totschlag regelnden Sicherheitsbestimmungen oder Gesetzen steht, wird vergleichsweise selten offen diskutiert, obwohl mit jeder inkrementellen Veränderung in der Stringenz dieser Bestimmungen einige Menschen für das Leben anderer geopfert werden und Leben gegen andere Interessen aufgewogen wird. Der mit der Sklaverei in Amerika aufkommende Rassismus war, historisch gesehen, eine Möglichkeit, die folgenschwere Abwägung zwischen den hohen moralischen

Kap. 6: Ein Überblick

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und politischen Idealen des Landes und den materiellen Gewinnen aus der Verletzung der Rechte anderer Menschen zu leugnen – eine Leugnung, die möglich wurde, indem man jene anderen Menschen als solche ausgab, die nicht „wirklich“ Menschen im vollen Sinne wären. Kurz, rhetorische Leugnung oder Umgehung von Güter­abwägungen sind Erscheinungen, die es schon immer querbeet im gesellschaftlichen und politischen Spektrum gab – man denke nur an Ulrich Bonnell Phillips’ Beschönigung der Sklaverei und Sidney und Beatrice Webbs Schönreden der Sowjets. Gelegentlich erscheint die Leugnung von Güterabwägungen in Gestalt der These, dass eine Zunahme an Gewaltanwendung bei Entscheidungsprozessen netto gesehen nicht „wirklich“ eine Zunahme sei, weil die staatliche Gewalt einfach nur die vorhandene private Gewalt ausgleiche oder „konterkariere“. So, wie man, um eine Güterabwägung zu bestreiten, grundverschiedene Vorteile unter einem und demselben Begriff subsummieren kann, so kann man auch Dinge, die negativ gewertet werden, unter einen Begriff fassen. Die angebliche „Macht“ privater Unternehmen bedeutet dann meistens nichts anderes als die Fähigkeit, mehr Optionen oder mehr beliebte Optionen als die Konkurrenz anbieten zu können und somit mehr freiwillige Transaktionen zu erzielen. Aber die Vor- und Nachteile einer bestimmten Ausdehnung staatlicher Macht kann man rhetorisch umgehen, indem man sie nicht als ein „wirkliches“ Anwachsen erzwungener Entscheidungen darstellt, sondern nur als eine Eindämmung privater Macht; oder wie auch immer die Metapher aussehen mag, die dann auf den Prüfstand kommt. Die beschränkten Optionen, die eine Güterabwägung notwendig machen, werden ebenfalls oft stillschweigend oder verklausuliert geleugnet. Das wird in politischen Aussagen deutlich, wenn man etwa fragt: „Wenn wir uns A leisten können, warum sollten wir uns dann B nicht leisten können?“ Da die Optionen nun mal beschränkt sind, reduziert die Tatsache, dass A getan wurde, unsere Fähigkeit, B zu tun. Die implizite Leugnung beschränkter Möglichkeiten kommt gelegentlich in Gestalt eines Angriffs daher. Dann gilt es plötzlich als undemokratisch, wenn man keine Mehrheitspräferenzen erzielt, oder noch nicht einmal die Präferenzen einer Minorität, die sich ernsthaft um die Erreichung ihrer Ziele auf legitimen Wegen bemüht hat. Aber begrenzte Optionen wohnen einer Demokratie genauso inne wie jeder anderen Staatsform; vielleicht ihr noch mehr als anderen, weil die Wünsche einer jeden Untergruppe gegen die Wünsche anderer Personen aufgewogen werden müssen. Ein anderes Anzeichen für das Ignorieren beschränkter Optionen ist die Übereiltheit, mit der von offizieller Seite eine „Überreaktion“ auf einen Notfall verurteilt wird. Sie legt nahe, dass ein breites Spektrum gut kombinierbarer Optionen gegeben war, obwohl in Wahrheit zum fraglichen Zeitpunkt nur ein paar einzelne und allesamt unangenehme Wahlmöglichkeiten vorhanden waren. Die Wirksamkeit, mit der soziale Prozesse Wissen übermitteln und koordinieren, hängt von ihren gegebenen Charakteristika ab. Eine im Grunde einfache und deutliche Aussage wird aber wiederum mittels Rhetorik vernebelt  – vor allem

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

durch die Praktik, Prozesse mithilfe der von ihnen erwarteten Ergebnisse zu charakterisieren, statt anhand ihres eigentlichen Mechanismus. Man denke beispielsweise an folgende Aussage: Sobald die gesetzlichen Autoritäten die Eigentumsrechte festgelegt, zusammengefasst und zugewiesen haben, sind nachfolgende Rekombinationen oder Tauschgeschäfte mit solchen Rechten, die im Ermessen von Individuen lägen, illegal. Würden viele Männer und Frauen ihr Auskommen und ihr Leben aufs Spiel setzen und solche Arrangements treffen? Die Geschichte lehrt uns, dass sie es getan haben, denn dieses institutionelle Arrangement nennt sich Sozialismus. Für jene, die an den Sozialismus als Bewegung glauben, wird derselbe im Wesentlichen durch die erhofften Ergebnisse definiert – die mal mit „sozialer Gerechtigkeit“, dem „Ende der Ausbeutung der Menschen“ oder allgemeiner mit dem Dienst am „Volk“ angegeben werden. Gleiches gilt für die „Bürgerrechtsbewegung“, das „öffentliche Interesse“ der Anwaltskanzleien oder für die „gewinnmachenden“ Firmen. Aber sofern wir nicht an Vorbestimmung glauben, ist die entscheidende Frage in all diesen Fällen, was denn genau an den spezifischen institutionellen Prozessen dran sei, das aus ihnen die erhofften Ergebnisse notwendig folgen lasse. Die Bankrottrate unter den neu gegründeten „gewinnmachenden“ Firmen legt nahe, dass die Frage für die profanen Wirtschaftsunternehmen genau so gilt wie für die sozialistischen Abenteurer mit ihren hehren Idealen. Wenn man gesellschaftliche Prozesse mittels ihrer Eigenschaft als Wissensvermittler in Form von Anreizen versteht, dann mindert das nicht nur die Gelegenheiten zur rhetorischen Umgehung unangenehmer Fragen, sondern hilft auch dabei, die Ursache von diversen gesellschaftlichen Anomalien offenzulegen. Man kann z. B. die Enttäuschungen und gegenseitigen Beschuldigungen unter erfolgreichen Widerständlern, die es in der Geschichte gegeben hat, leichter verstehen, wenn man den Widerstand selbst als Versuch begreift, die institutionellen Anreizstrukturen zu verändern. Es versteht sich von selbst, dass Aufständische anfangs unter einem anderen Sortiment von Anreizen stehen als dem, das sie zu erschaffen trachten. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, attrahiert und selektiert die neue Anreizstruktur tendenziell Nachfolger mit anderen Charaktereigenschaften und modifiziert wahrscheinlich auch die Eigenschaften, die so manchen Widerständler der ersten Stunde auszeichneten. Das ist die Geschichte des Christentums, des Marxismus, der heutigen Bürgerrechtsbewegung, der Regulierungsbehörden und zahlreicher anderer Erhebungsbewegungen, die mit Blick auf die erhofften Ergebnisse höchst unterschiedlich sind, sich aber darin gleichen, dass sie die Anreizstrukturen der Gesellschaft erfolgreich geändert haben – und mit ihnen den gesellschaftlichen Prozess, der ihre neuen Mitglieder und Führungskräfte attrahiert und selektiert. Die Menschen, die sich zum Christentum bekannt haben, als man im Römischen Reich die Christen noch verfolgte, sind andere Menschen als die, die zum Christentum übertraten, nachdem es Staatsreligion geworden war. Wenn man den Charakteristika sozialer Prozesse gerecht werden will, dann erfordert dies eine systematische Analyse der gesellschaftlichen Kausalität. Anders ist es, wenn man Einzelfälle untersucht bzw. nach der Intention dafür sucht, warum

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die Dinge so ablaufen, wie sie es tun. Im Extremfall wird die Intentionsanalyse zum animistischen Fehlschluss. Dann erklärt man ein gesellschaftliches oder natür­ liches Phänomen als die Verwirklichung eines absichtlichen Plans, den Anführer, Götter, Verschworene oder sonstige absichtsvoll handelnde Akteure verfolgen. Im animistischen Ansatz sind Rationalität und Moralität der involvierten Akteure für das Ergebnis entscheidend. Im systemischen Ansatz hingegen hängt das Ergebnis nicht davon ab, dass individuelle Akteure das Endergebnis des Systems auf subjektive Weise verfolgen. In den Sozialwissenschaften hat man zu zeigen versucht, dass individuelle Akteure entweder nicht das Ziel oder genug Verstand besäßen, das Endergebnis, das die systemische Analyse100 einfordere, willentlich herbeizuführen. Diese Versuche haben viel unnütze Kontroversen ausgelöst. Dort, wo die Ergebnisse systemisch produziert werden, muss der Akteur das Ziel genau so wenig teilen, wie die vorgeschichtlichen Bäume oder Dinosaurier die Genetik verstehen mussten, damit die Evolution ihren Weg gehen konnte. Der systemische Ansatz ist eher eine methodologische als eine philosophische oder politische Auffassung. Sowohl Adam Smith als auch Karl Marx waren systemische Gesellschaftsanalytiker. In Smith’ Klassiker Der Wohlstand der Natio­ nen wurde der Laissez-Faire-Kapitalismus – als ein System – befürwortet, weil die (nützlichen) Systemmerkmale „nicht Teil“ der „Intentionen“ der Kapitalisten sind.101 Letztere hielt Smith für unehrlich, repressiv und rücksichtslos.102 In seinem 900 Seiten starken Buch ließ er kein gutes Haar an ihnen. Ähnlich Marx! Das Kapital verdammt den Kapitalismus wegen der (schädlichen) Systemmerkmale, die Marx dem individuellen Moralempfinden des Kapitalisten anzuhängen sich weigerte. Letzterer bleibe objektiv ein Geschöpf der Umstände, „so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“103 Marxens Kritik richtet sich an das kapitalistische System als solches. Ein Argument, das den Kapitalisten Immoralität zur Last gelegt hätte, wäre ein Argument für moralische Reformen, nicht aber für eine institutionelle Revolution gewesen. Sowohl Smith als auch Marx haben sich mit der Systemlogik des Kapitalismus befasst. Keiner von ihnen hat seine Theorie auf individuelle Absichten oder menschliche Hyperrationalität gegründet, wie man ihnen vorgeworfen hat.104 Smith war nicht Samuel Smiles und Marx nicht Charles A. Beard.105

100 Man denke beispielsweise an den berühmten Ökonomenstreit, den Lester und Machlup vor etlichen Jahren austrugen. Lester stellte damals die systemische Wirkung, die von der Grenzproduktivitätstheorie vorhergesagt wurde, in Frage. Dazu schickte er Fragebögen an Geschäftsleute, um von ihnen zu erfahren, ob sie absichtlich so gehandelt hätten, wie sie gehandelt hatten. Als sie antworteten, dass dies nicht der Fall gewesen sei, betrachtete er die systemische Theorie für widerlegt. Vgl. Lester (1946) und Machlup (1946). 101 Smith (1937), S. 423. 102 Smith (1937), S. 128, 249 f., 402 f., 429, 438, 460, 579. 103 Marx (1962), S. 16. 104 Siehe Sowell (1979), S. 7, 16; Sowell (1963), S. 121. 105 In Sowell (1963) werden Marx und Beard miteinander verglichen.

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

Die Abweichungen zwischen der individuellen Absicht und dem systemischen Ergebnis haben sowohl Einfluss auf die kausalen als auch auf die moralischen Argumente. Rechte und Linke in der Politik teilen eine Version des animistischen Fehlschlusses, der systemische Ergebnisse wie die statistische Einkommensverteilung der persönlichen Moralität zuordnet – Wohlstand bedeutet demnach entweder Verdienst (Rechte) oder Schuld (Linke). Moralität ist intentional und somit individuell, während rein systemische Ergebnisse weder gerecht noch ungerecht sind, auch wenn man einige Ergebnisse anderen vorziehen mag. Krieg, Sklaverei und Genozid kann man als absichtsvolle politische Maßnahmen moralisch verurteilen, aber die wiederholt verheerenden Pockenplagen sind, nach allem, was wir wissen, lediglich tragische Konsequenzen des soziobiologischen Systems. Systemische Ergebnisse kann man durch Ausweitung der technologischen Grenzen verbessern, doch solche gesellschaftlichen Verbesserungen sind moralisch neutral. Das Verlangen, systemische Resultate moralisch zu beurteilen, kann man in der mittelalterlichen Praktik erkennen, Plagen Sünden zuzuschreiben, die den Zorn Gottes geweckt hätten, oder auch in der modernen Praktik, unglückliche Systemergebnisse ganz allgemein den moralischen Verfehlungen einer personifizierten „Gesellschaft“ anzuhängen. Die wissenschaftliche Idee, man könne soziale „Probleme“ angemessen „lösen“, ist tückisch und passt oft nicht zur Vorstellung, Optimierung sei Sache der innewohnenden Beschränkungen. Innewohnende Beschränkungen bedeuten Grenzen; nicht nur für das, was moralisch beurteilt werden kann, sondern auch für das, was erreichbar ist. Es kann gut sein, dass – anders als bei wissenschaftlichen Übungen, bei denen der glückliche Ausgang vorgefertigt ist und keine losen Enden herumbaumeln – keine „Lösungen“ gegeben sind. Dieser Umstand hat nicht nur intellektuelle, sondern auch gesellschaftliche Implikationen. Welche systemischen Ergebnisse in einem ökonomischen oder gesellschaftlichen System auch immer möglich sind, sie müssen manche Sehnsüchte unerfüllt lassen. Ein zugleich politisches wie ökonomisches Gleichgewicht erfordert, dass das politische System derlei unerfüllte Verlangen hinnimmt, statt automatisch davon auszugehen, derlei „Probleme lösen“ zu können. Dieser Aspekt bildet keine Kurzbeschreibung für ein besonderes System. Das Prinzip ist allgemein. Wie hieß es früher doch so schön: „Weise ist der, der weiß, wieviel er von einem Übel ertragen kann.“106 Der systemische Ansatz legt nahe, dass man mit tragischen Dilemmata inkrementell umgeht, statt kategorisch mit moralischen Imperativen aufzuwarten. Das gilt gleichermaßen für kategorische Verteidigungen des Status quo und kategorische Widerstände, die dagegen revoltieren, sowie alle Positionen zwischen diesen Extremen. Es war der große konservative Denker Edmund Burke, der sich mit folgenden Worten weigerte, kategorisch am Status quo festzuhalten: „Ein Staat, dem die Mittel zur Veränderung fehlen, hat auch keine Mittel, für seinen Erhalt

106

Burke (1949), S. 36.

Kap. 6: Ein Überblick

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zu sorgen.“107 Er meinte auch, dass jener, „der jede Regierung gutheißt, die Regierung an sich zerrüttet.“108 Als die Briten mit den amerikanischen Kolonien im Streit lagen, warnte Burke seine Parlamentskollegen davor, die Souveränitätsfrage kategorisch „mit zu viel Logik und zu wenig Sinn“109 zu stellen. Anders als Hobbes und Locke vor ihm, verteidigte Burke die bestehenden Institutionen nicht mittels kategorischer Ableitungen. Er sagte: „Ich beteilige mich nicht an diesen metaphysischen Spitzfindigkeiten. Ich hasse ihren Klang.“110 Am anderen Ende des politischen Spektrums hielten die Revolutionäre Marx und Engels mit ihrer Kritik an jenen anderen Revolutionären, die sich kategorisch gegen den Kapitalismus stellten, ohne Rücksicht auf Zeit, Umstände und die begrenzten Möglichkeiten der Technologie zu nehmen, nicht hinterm Berg. Aus marxistischer Systemperspektive war der Sozialismus dem Kapitalismus erst vorzuziehen, nachdem der Kapitalismus die ökonomischen Vorbedingungen für den Sozialismus geschaffen und dabei seine eigenen Möglichkeiten als System erschöpft hatte.111 Sogar der europäische Kolonialismus wurde so abgehandelt, als in seiner Ära „historisch gerechtfertigt“112 – sehr zum Entsetzen späterer Marxisten, die dies gern als eine ethnozentrische Verirrung113 abtaten, statt es als inhärenten Teil des marxistischen Ansatzes zu betrachten. Sobald man Institutionen als implizite Überträger von Wissen betrachtet, das in Gestalt sichtbarer Anreize (finanzieller oder seelischer Art) daherkommt, stellt sich die Frage, wie akkurat und effektiv die Übermittlung jeweils ist. Inwieweit lassen die Wünsche, Launen und dringenden Erfordernisse der Institutionen die Anreize, die vom Empfänger wahrgenommen werden, anders aussehen als die Wünsche des individuellen Senders – also die der Öffentlichkeit oder des Konsumenten? Wie schnell, genau und effektiv kommen die Rückmeldungen bei den Entscheidungsträgern an – egal, ob die an diesen interessiert sind oder nicht? Wenn die individuellen Anreize es nicht schaffen, die eigene Trägheit zu überwinden, dann tun es die systemischen Beschränkungen. Wenn z. B. ein Geschäftsmann nicht an Geld interessiert ist, seine Lieferanten, Gläubiger und Angestellten aber sehr wohl, dann kann er nur solange als Geschäftsmann überleben, wie er genug Geld einnimmt, um die Genannten zu bezahlen. Und umgekehrt werden jene Geschäftsleute, die den Konsumenten (aus Voraussicht oder aus Glück) mit den gewünschten Gütern am besten versorgen, systematisch in die Lage versetzt, ihren Anteil am Gesamtausstoß der Güter auszuweiten.

107

Burke (1949), S. 290. Burke (1949), S. 38. 109 Burke (1949), S. 57. 110 Burke (1949), S. 58. 111 Engels (1959), S. 107 f. 112 Marx (1959), S. 479 ff., siehe auch S. 450 ff. 113 David (1965). 108

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

Abkapselung von Rückmeldungen kann viele Formen annehmen. Die wohl wirksamste Form der Abkapselung ist schiere Gewalt. Der gefühlte Schmerz eines hilflosen Opfers mag zwar eine Information für den Gewaltanwender sein – egal, ob Krimineller oder Staat –, aber derlei Information gibt keine effektive Rückmeldung für das Verhalten. Totalitäre Regime haben wohl mehr Informationen über ihre Bürger, als es Regierungen tun, denen die Verfassung bei der Anwendung geheimdienstlicher Überwachungsmethoden Schranken setzt. Die Nazis waren über die Leiden der Insassen in den Konzentrationslagern informiert, aber diese Information hat als Rückmeldung nichts bewirkt. Im Vergleich dazu kann das bloße Erleiden von Verlegenheitssituationen ausreichen, um deren Verursacher zur Verhaltensänderung zu bewegen, allein weil sie vom Geld, den Stimmen oder dem persönlichen Gutdünken der betroffenen Personen abhängig sind. Panikartige Zensur, Entschuldigungen und / oder das Abstreiten von Verantwortung seitens der zuständigen Entscheidungsträger belegen, wie effektiv Rückmeldungsmechanismen sein können. Beide, die Überbringung der Rückmeldung und die Abkapselung von ihr, verursachen Kosten. Die Wirksamkeit, mit der gesellschaftliche Prozesse Wissen zu den Entscheidungsträgern übermitteln, hängt teilweise von diesen Kosten ab – absolut wie relativ. Eine Bürokratie, die ihre Prozesse in komplizierte und unverständliche Regulierungen verpacken und ihre Leistung unter Bergen von sprunghaften Statistiken vergraben kann, hat den sicheren Hafen der Abkapselung von Rückmeldungen erreicht. Erkenntniskosten – egal, ob innewohnende oder ausgedachte – bedeuten institutionelle Abkapselung. Auch die Zeit schirmt ab, schon allein, weil sie die Kosten für die geistige Verknüpfung von Ursache und Wirkung anhebt, wenn man weit zurück oder weit nach vorn schauen muss. Diese Abkapselungsform ist in jenen Situationen und Prozessen effektiver, in denen das Zeitkontinuum in separate Einheiten eingeteilt und jede Einheit für sich beurteilt werden kann – wie z. B. in politische Amtszeiten. Dort, wo die Zeiteffekte kontinuierlich auftreten, und auch kontinuierlich innerhalb separater Entscheidungsperioden wahrgenommen werden – wie z. B. bei wirtschaftlichen Entscheidungen, deren gegenwärtiger Wert die Zukunftsaussichten widerspiegelt –, ist die Abkapselung von Rückmeldungen weitaus schwerer zu praktizieren. Wenn man einen Bauernhof im laufenden Jahr ungewöhnlich produktintensiv betreibt, indem man sich voll und ganz auf die Kultivierung der anstehenden Ernte konzentriert und darüber Äcker, Zäune, Scheune, Tiere etc. vernachlässigt, dann spiegeln sich die künftigen Kosten dieser Vernachlässigung im gegenwärtigen Verkaufspreis der Ernte nieder. In einer solchen Situation werden die Effekte schnell und günstig durch das Zeitkontinuum hin und her übermittelt. Anders ist es, wenn ein Aufseher für eine bestimmte Zeitperiode die Verantwortung für den Hof hat. Er ist von den Zeiteffekten, die über seine Amtszeit hinausreichen, abgekoppelt, wenn der Eigentümer fehlt – egal, ob der abwesende Eigentümer eine Privatperson oder der Staat ist. Die Erfahrungen, die man in so unterschiedlichen Situationen wie in den Südstaaten vor dem Bürgerkrieg und in der Sowjetunion unserer Zeit gesammelt hat, bestätigen dies.

Kap. 6: Ein Überblick

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Die Fähigkeiten sozialer Prozesse und Institutionen, Wissen zu vermitteln, darf man nicht nur daran messen, wieviel Informationen übertragen werden, sondern auch daran, wie effektiv dies geschieht. Ein Minimum an Informationen – z. B. das Wimmern eines Säuglings – kann sehr wirksam sein und die Eltern auf den Plan rufen, die eventuell einen Arzt zu Rate ziehen, bevor es zu spät ist. Offen ausgesprochene Klagen hingegen mögen bei einem Diktator auf taube Ohren stoßen und ihn bewaffnete Aufstände niederschlagen lassen, ohne dass er seine Politik ändern würde. Die gesellschaftliche Nutzung von Wissen ist nicht in erster Linie ein intellektueller Vorgang, sonst könnte ein wimmernder Säugling nicht effektiver sein als eine wohlformulierte politische Erklärung. Noch einmal, so einfach und offenkundig all dies erscheinen mag, es widerspricht nicht nur allgemeinen Vorstellungen von der „Gesellschaft“ als Entscheidungsträger, sondern auch eingehenden Forderungen nach mehr „Intellekt“ für bestimmte Entscheidungen, die der gesellschaftlichen Verbesserung dienen sollen. Was entschieden werden soll, ist keine intellektuelle Frage, sondern eine institutionelle Frage. Es ist die Frage, welche gesellschaftlichen Prozesse eingedenk ihrer Eigenschaften und des anstehenden Problems die Entscheidung herbeiführen sollen. Manches Wissen ist so weit verstreut, allseits anwendbar und gewiss, dass es nicht lohnt, es bei jedem Einsatz aufs Neue zu verifizieren. Menschen wollen nicht umgebracht werden, ihre Kinder entführen lassen, hintergangen werden oder ohne Prozess hinter Gitter wandern. Gesetze können solche Wünsche in dauerhaften sozialen Institutionen verankern, verstärkt durch die Macht des Staates. Der hohe Grad an Konsens sorgt für einen großen Nutzen und vergleichsweise niedrige Kosten, weil man nur denen mit Gewalt zu Leibe rücken muss, die den moralischen Konsens nicht teilen. In den Bereichen, in denen der Konsens ungewisser ist, sind die Vorteile kleiner und die Durchsetzungskosten höher. Ab einem gewissen Punkt ist es für eine ganze Reihe von Entscheidungen gesellschaftlich effektiver, die Individuen nach eigenem Gutdünken verfahren zu lassen. Nach eigenem Ermessen vorzugehen heißt nicht, dass jemand stets ad hoc entscheiden wird. Es steht jedem Einzelnen frei, neuen Beschränkungen eigene Strukturen zu verpassen und mit Gleichgesinnten Verträge, Klubbestimmungen, Verbandsvorschriften, Spiel- und Sportregeln zu vereinbaren. Der Rechtsrahmen definiert lediglich die Grenzen des privaten Ermessensspielraums – egal, ob dieser nun individuell oder gemeinschaftlich ausgeschöpft wird. Jene gesellschaftlichen Prozesse, die auf emotionale Bande zurückgreifen – Familie, Freundschaft, Kirche und sonstige freiwillige Vereinigungen – erleichtern die gegenseitige Abstimmung unter den Direktbeteiligten sowie die zwischen diesen und der Gesellschaft, ohne dass es Gewalt bräuchte. Die Vorteile dieser Bande liegen nicht nur darin, die unangenehme Bekanntschaft mit der Gewalt zu umgehen, sondern auch in der Vermeidung der Ineffizienzen, die mit der Gewalt als einem gesellschaftlichen Mechanismus einhergehen. Die offizielle Staatsgewalt, vor allem die von Verfassungsstaaten, setzt explizit dargelegte Regeln voraus (Gesetze oder Regulierungen), die unvermeidlich Schlupflöcher offenlassen, weil

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1. Teil: Gesellschaftliche Institutionen

die Sprache nun mal nicht perfekt ist. Das bedeutet, dass einige Missetäter, die gegen den Sinn des Gesetzes verstoßen, von den Folgen ausgenommen werden, während andere, die den eigentlichen Zweck des Gesetzes nicht verletzten, für reine Verstöße gegen den Wortlaut des Gesetzes bestraft werden. Informelle Regeln sind oft unausgesprochen und werden angewendet, ohne dass auf die Rigiditäten der Sprache Rücksicht genommen würde. Techtelmechtel mit der Ehefrau eines anderen müssen nicht im Voraus schriftlich umschrieben werden, um aufzufallen und gesellschaftlich (oder privat) geahndet zu werden. Weil die Bandbreite und Wirksamkeit informeller Sozialkontrollen von der Stärke der involvierten emotionalen Bande abhängen, kann man die jeweiligen Gesetze und Maßnahmen, die Einfluss auf die emotionale Stärke dieser Sozialprozesse nehmen, nicht nur als unmittelbar wirkende Faktoren betrachten, sondern dabei auch außer Acht lassen, wie sie sich langfristig auf Familien, Kirchen, Philanthropie usw. auswirken. All die Entscheidungen, die man der Familie abgenommen hat (Schulzwang, Gesetze zur Kinderarbeit und sonstige Direktmaßnahmen zwischen Institution und Kind), mindern den Grad der Verantwortlichkeit, welche die Familie gegenüber ihren Mitgliedern hat – objektiv wie subjektiv. Ungeachtet der grundsätzlichen und praktischen Verdienste solcher institutionellen Maßnahmen muss man die Schwächung informeller Institutionen für ein gesellschaftlich optimales Ergebnis mit in Rechnung stellen. Allerdings tendiert man dazu, solche Maßnahmen einzeln und im Hinblick auf ihre separaten Verdienste hin zu betrachten. Komplexe Abwägungen informeller Gesellschaftsgüter bieten sich kategorischen Politikentscheidungen nicht so ohne weiteres an. Die Wirksamkeit, mit der Wissen übermittelt und koordiniert wird, hängt nicht nur von den eingesetzten institutionellen Mechanismen ab, sondern auch von der Natur der anstehenden Entscheidungen – beispielsweise davon, ob das Gesetz der nachlassenden Gewinne eine Rolle spielt, ob die Entscheidung sequentiell oder ein für alle Mal getroffen wird, und ob die Folgen sich nur auf die Spanne eines Lebens auswirken oder darüber hinaus gehen und deshalb die Rückmeldung verhallen lassen. Man kann Systeme nicht nur daraufhin vergleichen, wie gut sie dafür sorgen, dass gegenwärtige Entscheidungen auch in der Gegenwart Wirkung zeigen, sondern auch mit Blick auf ihr Vermögen, Zeitschranken zu überbrücken – vor allem jene Schranke, die vom Lebensende gesetzt wird. Dieses Vermögen zeigt sich in solchen Begriffen wie den „gegenwärtigen Werten“, welche die künftigen Vorteile oder emotionalen Bande einer Familie als einer generationenübergreifenden Einheit widerspiegeln. Die Betrachtung der Ursächlichkeit im systemischen statt im intentionalen Sinne schließt den individuellen Aspekt nicht vollkommen aus. Aber je nach Art bietet ein System seinen Typen von Individuen mehr Spielraum als andere. Wenn z. B. die eine oder andere Branche oder Berufsgruppe (Gebrauchtwagenhändler, Automechaniker) unsauberen Geschäften außergewöhnliche Möglichkeiten bietet, dann haben dort unehrliche Zeitgenossen einen Wettbewerbsvorteil. Wenn man

Kap. 6: Ein Überblick

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dann feststellt, dass in dieser Branche sich mehr skrupellose Personen tummeln als sonst wo, dann bedeutet das nicht, dass diese Branche wegen dieser hohen Anzahl unseriöser ist als andere. Ganz im Gegenteil! Vor allem bei langfristigen Phänomenen, die mehrere Generationenwechsel überstehen, liegt eine Erklärung im Sinne systemischer Anreize und Zwänge näher. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Prinzipien, die hier im ersten Teil skizziert wurden, kann man über die Veränderungen nachdenken, die in den nationalen und internationalen Prozessen im Bereich von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auf dem Weg sind – und darüber nachsinnen, welche Konsequenzen diese für die Zukunft womöglich haben werden.

2. Teil

Themen und Tendenzen Kapitel 7

Historische Tendenzen Teil 1 galt einigen mehr oder weniger dauerhaften Merkmalen diverser Gesellschaftsprozesse und deren Implikationen für die Koordinierung des fragmentierten individuellen Wissens. Teil 2 untersucht einige der vergangenen und gegenwärtigen Veränderungen in diesen Prozessen und deren Implikationen. Die nächsten drei Kapitel handeln von historischen Tendenzen in gewissen ökonomischen, rechtlichen und politischen Prozessen. Um die Erörterung spezifisch und handhabbar zu gestalten, liegt das Augenmerk auf den Erfahrungen, die Amerika gemacht hat, aber viele dieser Tendenzen sind auch sonst in der westlichen Zivilisation und darüber hinaus zu beobachten, wobei manche außerhalb Amerikas noch weiter auf die Spitze getrieben wurden. In diesem Kapitel skizzieren wir ein allgemeines Bild der Tendenzen, die sich in unserem Jahrhundert abgezeichnet haben. Das 20. Jahrhundert hat der Welt so viele Veränderungen beschert – in der Wissenschaft, Kultur, Demographie, Lebensqualität und auch an Zerstörung –, dass es schwerfällt, die rein institutionellen Veränderungen aus dem Gesamtbild der menschlichen Ereignisse herauszuschälen. Eigentlich ist es unmöglich, das umfassend zu tun, weil zumindest einer der beiden Weltkriege einer bestimmten Sorte totalitärer Institution und deren Antrieb entsprang, „heute Deutschland, morgen die ganze Welt“ zu erobern. Neben allem Gemetzel hat das 20. Jahrhundert einen beispiellosen Schrecken erlebt. Millionen wehrloser Menschen wurden willkürlich abgeschlachtet, nur weil sie einer bestimmten kategorisch erklärten Klassifikation angehörten: Juden, Kulaken, Igbos usw. Auch diese Ereignisse sind mit einem institutionellen Wechsel verwoben. Im Sinne allgemeiner Tendenzen bei der gesellschaftlichen Anwendung von Wissen kann man sagen, dass die Entscheidungsfindung in vielerlei Hinsicht ihren Schwerpunkt verlagert hat: weg von jener, die unmittelbar von den Rückmeldungen betroffen ist, und hin zu jener, die in Institutionen stattfindet, die sich zunehmend von Rückmeldungen entfernen und abkapseln. Schon allein die Vielfalt an institutionellen Veränderungen innerhalb eines Landes zeigt ein komplexes und kaleidoskopisches Bild, das natürlich noch komplexer wird, wenn man die sonstigen weltweiten Veränderungen der jüngsten Geschichte einbezieht. Diese allgemeine Tendenz ist auch auf dem Spektrum erkennbar, das sich von der indivi­duellen Ent-

Kap. 7: Historische Tendenzen

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scheidungsfindung bis zur jener, die in Diktaturen gepflegt wird, erstreckt. Im Falle länderspezifischer Veränderungen, die mit dem Wechsel von demokratischen zu undemokratischen Regimes einhergehen (wie in zahlreichen osteuropäischen und südamerikanischen Staaten) oder – wie im Falle autokratischer Regimes – einen Wechsel von verhalten kontrollierenden Autokratien mit wechselnder Personalgarnitur zu dauerhaft und umfassend totalitären Parteiautokratien (Russland und China) erkennen lassen, ist dies recht offensichtlich. Aber auch bei den demokratischen Nationen hat sich der Ort der Entscheidungsfindung verlagert: vom Individuum, von der Familie und den diversen freiwilligen Vereinigungen weg, hin zum Staat. Und im Staat ging sie von den gewählten offiziellen Vertretern, die der Rückmeldung der Wähler ausgesetzt waren, auf abgeschottete staatliche Institutionen über. Gemeint sind die Behörden und bestallten Gerichte. Diese Tendenzen haben tiefgreifende Implikationen, nicht nur für die individuelle Freiheit, sondern auch für die Art, wie Wissen in der Gesellschaft genutzt, verdreht oder unwirksam gemacht wird. Jene institutionellen Veränderungen wurden von einem Wandel in der Gesellschaft begleitet. Die tiefstgreifende soziale Veränderung des letzten Jahrhunderts – in den Vereinigten Staaten und im Rest der westlichen Welt – war wohl die, dass Entscheidungsträger in großer Zahl aufgehört haben, Ansprüche auf ihre Residualgewinne zu erheben, und zu Angestellten mit fixen Ansprüchen wurden. Als das Gros der Bevölkerung aus Bauern bestand (eigenständige, Lehnbauern oder Landpächter), wurden die Optionen und Beschränkungen, die sich aus der Gesamtwirtschaft ergaben, diesen Individuen mehr oder weniger direkt vermittelt. Ihre landwirtschaftlichen Mühen wurden ihnen – mal in bar, mal in Naturalien – in unterschiedlichen Höhen entlohnt. Die Verbindung zwischen Einsatz und Ernte war klar, bestimmte aber nicht alles. Unwetter, Mehltau und andere Plagen, die Feld und Vieh befielen, ließen die Menschen das Risiko in unterschiedlichem Ausmaß spüren. Der Wandel der westlichen Wirtschaft von der Landwirtschaft zur industriellen Wirtschaft brachte es mit sich, dass der Bevölkerungsanteil der selbstständig Entscheidenden zurückging. Obwohl viel von ihrer „Konsumentensouveränität“ erhalten blieb, isolierte die Angestelltenrolle sie als Produzenten ein Stück weit von den unmittelbaren Folgen ihrer eigenen Entscheidungen – vor allem, indem sie die Reichweite ihrer Entscheidungen beschnitt. Die Folge war nicht unbedingt ein Nettozugewinn an – objektiver wie subjektiver – Sicherheit. Dem einen mochte Wohl, dem anderen Wehe winken – aber zum größten Teil war das die Folge fremder Entscheidungen. Die eigentliche Frage ist hier nicht, ob die Menschen alles in allem besser dran waren oder nicht, sondern, was all dies für ihr Wissen von dem, was vor sich ging, und die gesellschaftlichen Folgen dieses Wissens bedeutete. Parallel zu diesen ökonomischen Entwicklungen vollzog sich die politische Ausweitung des Wahlrechts. Sie hatte zur Folge, dass Menschen mit zunehmend weniger Entscheidungserfahrung im Wirtschaftssektor an Macht zur Gestaltung der Wirtschaft durch den politischen Prozess hinzugewannen. Eine über Preise

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2. Teil: Themen und Tendenzen

koordinierte Wirtschaft kann als solche funktionieren, ohne von irgendjemandem verstanden zu werden. Aber sobald sie in einer vorhandenen rechtlichen und letztlich politischen Struktur funktionieren muss, hängen Ausmaß und Art, in der diese Strukturen ihren Ablauf zulassen, davon ab, wie andere die wirtschaftlichen Ergebnisse beurteilen – es sei denn, sie entscheiden sich, Urteil und Kontrolle den wirtschaftlichen Prozessen zu überlassen. Eine andere historische Veränderung, die sich im letzten Jahrhundert einstellte, war der Aufstieg der Intellektuellen zu prominenten Größen, die Einfluss und Macht errangen. Die Bildung der Massen hatte zur Folge, dass sowohl das Angebot an Intellektuellen als auch die Nachfrage an ihren Produkten stieg. Sie wurden zu einer neuen Elite und damit praktisch zu einer Konkurrenz für die alten Eliten. Es liegt in der Natur ihres Berufsstandes, sich weniger mit unverständlichen „Ergebnissen“ zu befassen. Lieber analysieren sie Prozesse, zumal auch andere Anreize im Spiel sind, wenn der Elitenwettbewerb öffentlich ausgetragen wird. Die Intellektuellen waren die Speerspitze der Kritik am „Kapitalismus“ – d. h. an der preiskoordinierten Entscheidungsfindung, die im Rahmen individueller und transferierbarer Rechte stattfindet. So weit, wie man Meinungsforschung, Umfragen und einzelne Wahlergebnisse zurückverfolgen kann, standen die westlichen Intellektuellen schon immer politisch links von der allgemeinen Bevölkerung.1 Man kann all dies aber auch so sehen, dass es zur politischen Isolierung einer recht kleinen Klasse gewinnorientierter Unternehmer mit unterschiedlichen Einkommen kam, die auf Anreize und Zwänge reagieren, die von der allgemeinen Gesellschaft so nicht mehr wahrgenommen werden. Wissen über sich ändernde ökonomische Optionen und Beschränkungen, das über Preis, Investment und Beschäftigungsentscheidungen dieser Klasse (von Kapitalisten) weitergegeben wird, hat seinen Ursprung allem Anschein nach in dieser Klasse und dient daher allein deren Interessen. Inwieweit dies im Einzelfall wahr oder falsch ist, ist nicht, worum es hier geht. Der Punkt ist, dass dieser Anschein recht tief sitzen muss – und politisch wichtig ist –, egal, wie die Dinge im Einzelnen auch liegen mögen. Erst wenn man im Kopf die Ursachenfrage von der Kommunikationsfrage trennt (der Übermittler schlechter Botschaften, der erschlagen wird), kann man sich der Faktenfrage stellen. Die Erörterung der Tendenzen der letzten 50 Jahre wäre letzten Endes unvollständig, wenn man eines der großen sozialen Traumata dieser Epoche unbeachtet ließe: die große Depression der 30er Jahre. Sowohl was Größe und Dauer angeht, stellt sie alle anderen Depressionen der Geschichte in den Schatten. Die Arbeitslosenrate erreichte 25 % und die Unternehmensgewinne waren überall in den Vereinigten Staaten 2 Jahre lang negativ. Diese Depression war nicht nur in ihrer Größe und Dauer einmalig, sondern auch im Hinblick auf die – kurzfristigen wie anhaltenden – staatlichen Eingriffe, zu denen sie die Gelegenheit bot. Man kann durchaus die Frage aufwerfen, ob diese drei Charakteristika der Depression zusam 1

Ladd / Lipset (1975), Kapitel 1.

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menhingen. Aber eine beliebte Erklärung war, dass die Marktwirtschaft versagt und damit den Beweis dafür geliefert habe, dass es für den Staat notwendig war, wirtschaftlich einzugreifen. Diese These kann man – was auch geschah – auf der Grundlage wissenschaftlicher Analyse auf den Prüfstein stellen.2 Aber hier geht es nur darum, dass diese wichtige wirtschaftliche Episode unseres Jahrhunderts andere Tendenzen in Richtung politischer Isolierung gewinnorientierter Entscheidungsträger und preiskoordinierter Wirtschaftssysteme verstärkt hat. Bis zu einem gewissen Grad hat die Große Depression den politischen Erhalt der traditionellen westlichen Werte allgemein untergraben. Das schließt auch die Freiheit und die Demokratie mit ein, wie der Aufstieg der Nazis in Deutschland, des Faschismus in Spanien und Teilen Lateinamerikas und die weltweite Ausbreitung des Kommunismus nach dem 2. Weltkrieg gezeigt haben. Die nächsten drei Kapitel handeln im Detail von speziellen Entwicklungen innerhalb der gesellschaftlichen Institutionen und deren Konsequenzen. Es geht dabei insbesondere um die zentrale Frage, wie ein System sein verstreutes und fragmentiertes Wissen in gesellschaftlich optimal wirksamer Weise koordiniert, und die wohl noch bedeutsamere Frage, was dies für die Freiheit bedeutet. Kapitel 8

Tendenzen in der Ökonomie Wirtschaftssysteme gelten als institutionelle Prozesse zur Abwägung von Kosten und Nutzen. Kosten wiederum sind die entgangenen Alternativnutzen. Kosten und Nutzen sind letztlich subjektiv, was aber nicht heißt, dass sie willkürlich variierten oder jede Art, sie gegeneinander abzuwägen, gleich rational wäre. Die physischen und psychischen Kosten, einen Graben auszuheben, sind für jeden, der einen aushebt, subjektiv. Aber die Kompensation für den Anreiz, dass A einen Graben aushebt, ist für B eine objektive Größe. Wenn B einen Graben ausgehoben haben möchte und ihm egal ist, wer gräbt, dann werden die niedrigsten der verschiedenen subjektiven Kosten für das Ausheben eines Grabens, die unter A, C, D, E usw. bestehen, unweigerlich zu seinen objektiven Kosten. Umgekehrt ist das, was jemand subjektiv für das Ausheben eines Grabens will, eine objektive Größe für jedermann, der überlegt, die Arbeit selbst zu erledigen. Preise vermitteln anderen ein effektives Wissen über die Erfahrung und subjektiven Empfindungen einer Person. Es ist ein unausgesprochenes Wissen in Form eines ausgedrückten Anreizes. Preisfluktuationen vermitteln Wissen über veränderte Güterabwägungen angesichts wechselnder Optionen, weil die Menschen die Kosten und Nutzen je nach Zeitpunkt unterschiedlich abwägen und auch Geschmack und Technologie mit der Zeit gehen. Die Gesamtheit allen Wissens, das 2

Vgl. z. B. Friedman / Schwartz (1963), Kapitel 7, vor allem S. 407–419.

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von unzähligen Preisen und deren vielfältigen Veränderungen vermittelt wird, übersteigt bei weitem das, was ein Einzelner wissen kann und für seine eigenen Zwecke wissen muss. Wie genau diese Preise Wissen vermitteln, hängt davon ab, wie frei sie fluktuieren. Wenn man Gewalt einsetzt, um diese Fluktuationen zu begrenzen oder das Verhältnis der Preise untereinander zu verändern, dann wird das Wissen verzerrt und gibt nicht die Kooperationsmöglichkeiten zwischen A und B wieder, sondern die von C praktizierte Gewalt. Anders formuliert: Die Bandbreite an Möglichkeiten, welche die Menschen einander darbieten möchten, wird eingeengt, wenn Gewalt eingesetzt wird, um das Niveau bzw. die Fluktuation der Preise zu beschränken. Die Bandbreite kann bis zu dem Punkt schrumpfen, da sie ganz verschwindet, weil eine dritte Partei den Preis fixiert, es sei denn, die Festlegung würde mit der Güterabwägung zusammenfallen, die für beide Seiten, die eine Transaktion erwägen, akzeptabel wäre. Preisbindung als Prozess kann nicht mittels der erhofften Ergebnisse definiert werden – „angemessenes Gehalt“, „vernünftige Erntepreise“, „bezahlbarer Wohnraum“. Preisbindung meint nicht einfach Gewinn oder Verlust nach Marktlage für bestimmte Gruppen, je nachdem, ob der Preis höher oder niedriger angesetzt wird, als er es sonst wäre. Sie stellt einen Nettoverlust für die Wirtschaft insgesamt dar, weil aufgrund der Reduzierung beiderseitig akzeptabler Möglichkeiten viele Transaktionen gar nicht stattfinden. Die Menge der für A und B simultan akzeptablen Optionen ist unweigerlich größer als die Optionsmenge, die für A, B und C akzeptabel ist, wenn C die dritte Partei ist (in der Regel der Staat), die das Geschehen mit Gewalt beobachtet. Die Form, in der Gewalt eingesetzt wird, um die Preiskommunikation zu beeinträchtigen, kann stark variieren. 1. Man kann eine Preisobergrenze festlegen und jedem Gewalt androhen, wenn er sie überschreitet (Bußgelder, Gefängnis, Konfiszierung). 2. Man kann auch eine Preisuntergrenze festsetzen. 3. Man kann einige Preise indirekt anheben, indem man bestimmte Dinge höher besteuert als andere, oder indirekt senken, indem man Produkte subventioniert. Dabei transferiert man gewaltsam Vermögenswerte der Steuerzahler, anstatt Vermögenswerte freiwillig transferieren zu lassen, und zwar von den Konsumenten, die für das Produkt, das sie konsumieren, bezahlen. Preiskontrollen sind nicht die einzige Methode, den Markt auszuhebeln. Zu den sonstigen Methoden gehören die erzwungene Kontrolle der Produkteigenschaften („Qualitätskontrolle“), aufgezwungene Wettbewerbsbeschränkungen sowie gewaltsame Strukturveränderungen des Marktes mithilfe von Kartellgesetzen und umfangreicher, mit Gewalt durchgesetzter „Planwirtschaft“. Es sei nochmals betont, dass der Einsatz von Gewalt hier nicht hervorgehoben wird, weil er nun mal Unannehmlichkeiten verursacht, sondern weil die Wissenskommunikation im Kern verzerrt wird, wenn das, was man kommunizieren kann, eingeschränkt wird. All diese Formen der Verzerrung freier Wissenskommunikation (über Vorlieben und technologische Grenzen) haben zugenommen, aber jede hat ihre eigene Charakteristik.

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Das Kontrollieren der Preise Erzwungene Preisanhebung Gesetzliche Mindestlöhne und Gesetze, die es einer Branche verbieten, Güter „unter Kosten“ zu verkaufen, sind typische staatliche Maßnahmen, um Preisfluktuationen gewaltsam einzudämmen. Gesetzliche Mindestlöhne haben sicherlich eine größere Reichweite als Gesetze, die den Verkauf von Produkten „unter Preis“ verbieten. Letztere zeigen aber deutlicher die Natur und Verzerrungen, die von derlei Prozessen ausgehen. Es mag befremdlich erscheinen – ja, eigentlich unverständlich –, dass man ein Unternehmen, das allein zum Zwecke der Gewinnerzielung gegründet wurde, mit Gewalt davon abhalten sollte, mit Verlust zu verkaufen; ganz abgesehen von der gesellschaftlichen Frage, ob so etwas der Wirtschaft insgesamt nutzt. Dennoch limitiert ein Großteil staatlicher Regulierung  – von Fluggesellschaften, Eisenbahnen, Agrarmärkten und Importgütern allgemein –, wie tief Preise angesetzt werden dürfen; in welcher Sprache auch immer man dies explizit formuliert. Es ist egal, ob man nun Verkauf „unter Preis“ beziehungsweise „ruinösen Wettbewerb“ verbietet und „Schleuderpreise“ respektive „Kampfpreise“ untersagt oder ob man lieber positive und wohlklingende Synonyme für Preisfixierung verwendet und von der „Stabilisierung eines Industriezweiges“, der Schaffung „geordneter Märkte“ und dergleichen spricht. Neben diesen direkten Verboten niedrigerer Preise können auch die Handhabung und juristische Auslegung der Kartellgesetze einem Unternehmen, das „unter Preis“ verkauft, das Handwerk legen. Außerdem verweigert der Staat auch oft die notwendige Zulassung zu diversen regulierten Branchen und Berufen  – Transportwesen, Rundfunk und Fernsehen, Medizin usw. –, damit der Wettbewerb die Preise nicht „in den Keller“ oder Amtsinhaber – in den „Ruin“ treibt. Oft meint man irreführend, dies sei zum Erhalt „der Wirtschaft“. Aus politischer Sicht verhält der Staat sich nicht irrational – genau so wenig wie Unternehmen sich aus ökonomischer Sicht irrational verhalten, wenn sie scheinbar „unter Herstellungskosten“ verkaufen. Für eine dritte Partei sind die Kosten einer Branche kaum – wenn überhaupt – zu bestimmen. In Kapitel 3 sahen wir, dass Kosten entgangene Optionen sind. Optionen sind aber immer prospektiv. Die Vergangenheit ist unwiderruflich festgelegt. Deshalb sind alle Optionen gegenwärtig oder zukünftig. Die objektiven Daten, die Drittparteien zugänglich sind, beziehen sich immer auf vergangene Handlungen, die jemand als Reaktion auf jene künftigen Optionen eingegangen ist, die er zum Zeitpunkt der Handlung subjektiv vorhergesehen hat. Derlei subjektive Vorhersagen sind weder in den objektiven Daten zu den vergangenen Handlungen enthalten noch Teil der objektiven Aufzeichnungen der Folgeereignisse, die mit den Vorhersagen konform sein können oder nicht. Als Napoleon in Russland einmarschierte, waren die absehbaren Kosten offenkundig

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niedriger als die vorhersehbaren Vorteile. Ähnlich war es, als die Autofirma Ford begann, den Edsel zu produzieren. Staatliche Regulierung kann niemals auf derlei flüchtigen und subjektiven Einschätzungen der Alternativen gründen, die Unternehmer bei ihrer Entscheidungsfindung leiten. Selbst wenn die Geschäftsleute alles exakt in Erinnerung behielten und präzise beschrieben, gäbe es für den Staat keine Möglichkeit, die Angaben zu verifizieren. Staatliche Regulierungen und „Kosteneinschätzungen“ gründen auf objektiven Statistikdaten zu den aktuellen Investitionskosten. Daher liegen Unternehmer, die ihre Preise auf der Basis von Optionen festlegen, die sich ihnen zeitnah präsentieren, mit ihren Preisen oft unter den objektiven Kosten, die sich an den vergangenen Ausgaben für die Produktion orientieren. Wenn das Fantasieunternehmen Zingo in der Überzeugung gegründet wird, dass die Menschen begeistert Zingos kaufen werden, und große Summen für die Herstellung des Produkts ausgibt, dann wird es, sobald es erkennt, dass die Konsumenten kein Interesse haben, seine Zingos zum halben Preis dessen verkaufen, was sie in der Herstellung gekostet haben. Zu diesem Zeitpunkt gibt es drei Optionen: 1. Man verkauft die Zingos zu diesem Preis. 2. Man verursacht zusätzliche Kosten, indem man die Zingos im Inventar behält, in der Hoffnung, durch mehr Werbung oder sonstige Maßnahmen das Interesse bei den Konsumenten zu erhöhen. 3. Man geht bankrott und lässt die Gläubiger mit dem Problem allein zurück. Abhängig von den Kapitalreserven des Unternehmens könnte der Verkauf „unter Herstellungskosten“ der Firma gestatten, die Verluste des Produkts zu minimieren und als Unternehmen, das künftig andere Produkte herstellt, zu überleben. Aber unabhängig davon, welche Zukunftsoption zum Zuge kommt, die Daten der ver­ gangenen „Kosten“ sind irrelevant. Wie die Ökonomen sagen: „Verlorene Kosten sind verloren.“ Sie sind Geschichte, aber keine Ökonomie. Das allgemeine Prinzip gilt im Übrigen nicht nur für wirtschaftliche Transaktionen. Als Napoleon erkannte, dass er in Russland verlor, spielte es für ihn keine Rolle mehr, wie viele Leben er geopfert hatte, um Russland zu erobern bzw. den besetzten Teil zu halten. Da die Zukunftsaussichten nicht rosig waren, musste er mit seinen Truppen den Rückzug aus Russland antreten und das ganze Unternehmen als Verlust abschreiben. Rückzug bedeutete, dass er der russischen Armee Territorium „unter Herstellungskosten“ überlies, und zwar in dem Sinne, dass er Leben rettete, die er für die Eroberung geopfert hätte. Im militärischen wie auch im ökonomischen Sinne repräsentiert ein physikalisches Objekt einen bestimmten Wert nur dann, wenn man Zeit bzw. Umstände hinzurechnet. Teilgebiete, deren prospektiver Wert einmal darin lag, ein strategisches Areal zu sein, von dem aus man den Rest des Landes angreifen konnte, können sich im Nachhinein für eine Armee, die auf der Rückflucht ist, als Hindernis erweisen. Unternehmen verkaufen aber nicht nur „unter Preis“, wenn sie die Zukunft falsch vorhergesagt haben, sondern auch, wenn ihre Entscheidungskosten unter besonderen Umständen unter jenen liegen, die unter normalen Umständen anfallen. Wie

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wir in Kapitel 3 sahen, kann die Nutzung einer sonst ungenutzten Ausrüstung geringere inkrementelle Kosten haben als die Anschaffung einer Ausrüstung zum selben Zweck. Preisbildung, die sich an diesen inkrementellen Kosten orientiert (die Ökonomen sprechen von „Grenzkostenpreisbildung“) kann für den Verkäufer rational und für den Käufer vorteilhaft sein, wird aber oft angegriffen, bestraft oder vom Staat verboten. Die Regulierungsbehörden opponieren beständig gegen niedrige Preise infolge niedriger inkrementeller Kosten, und bestehen darauf, dass die gemaßregelten Unternehmen ihre Preise an den Durchschnittskosten, einschließlich Fixkosten, orientieren. Wie weit die Regulierungsbehörden für Eisenbahn, Rundfunk und zivile Luftfahrt – Interstate Commerce Commission, Federal Communications Commission, Civil Aeronautics Board – die Preise über das Niveau heben, das die einzelnen Firmen vorzögen, bleibt der Öffentlichkeit meistens verborgen. Ihnen gegenüber heißt es, die Behörden „schützen“ die Öffentlichkeit vor hohen Preisen und der „Ausbeutung“ durch „mächtige“ Unternehmen. Aber die staatlichen Behörden sind genau so wenig irrational wie die Unternehmen altruistisch. Massenartikel zu niedrigen Preisen haben schon so manchem ein glückliches Schicksal beschert. Jede Seite reagiert auf die Anreize, die sich ihr bieten. Niedrige inkrementelle Kosten nutzen auch nichts, wenn in Kartellklagen der Vorwurf erhoben wird, Verkäufe „unter Herstellungskosten“ würden die Konkurrenz „unfair“ aus dem Wettbewerb drängen. Der Oberste Gerichtshof entschied unter Berufung auf den Sherman Antitrust Act gegen ein Unternehmen, dessen „Preis niedriger war als seine direkten Kosten einschließlich eines Betrags für die Fixkosten“,3 obwohl die Fixkosten nicht Teil der inkrementellen Kosten sind. In diesem wie in vielen anderen kartellrechtlichen Fällen wird der Schaden für den marktführenden Mitbewerber mit dem Schaden für den Wettbewerbsprozess, den das Kartellrecht eigentlich schützen soll, gleichgesetzt. Die Konsumenten werden auch in anderen staatlich kontrollierten Bereichen, wie z. B. in diversen Agrarmärkten, gut vor niedrigen Preisen, die auf inkrementellen Kosten gründen, geschützt. Der Staat selbst hat eine „nahezu vollständige Scheu“4, die Preisbildung seiner Güter und Dienstleistungen an inkrementellen Kosten auszurichten. Man denke an die Post, Mautstraßen und Mautbrücken. In der Tat sind Mautgebühren für die am höchsten, die am wenigsten Kosten verursachen, und am niedrigsten für jene, die für die meisten Kosten ursächlich sind. Die Auslastung einer Autobahn oder Brücke orientiert sich meistens am Verkehrsaufkommen zu Stoßzeiten. Die Herstellungs- und Auslastungskosten werden also von den Nutzern zu Stoßzeiten bestimmt. Die zusätzlichen Kosten durch Personen, die zwischen den Stoßzeiten verkehren, wenn die Kapazitäten weitgehend ungenutzt bleiben, liegen deutlich niedriger, und oft bei null. Attraktiven Mengenrabatt gibt 3 4

Utah Pie Co. v. Continental Baking Co., et al., 386 U. S. 685 (1967), S. 698. Chickering (1976), S. 332.

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es aber meist nur für die regelmäßigen Nutzer zu Stoßzeiten, nicht aber für die Gelegenheitsfahrer, die seltener zu den Stoßzeiten verkehren. So ökonomisch pervers diese Preispolitik auch sein mag, für die gewählten Volksvertreter ergibt sie poli­ tischen Sinn, weil die regelmäßigen Nutzer eher in politischen Interessengruppen organisiert sind als die unregelmäßigen. Das heißt, dass die Organisationskosten sich auf mehr Nutzereinheiten verteilen. Eine rationale Berechnung ihrer individuellen Kosten und Nutzen führt die Vielfahrer also dazu, dass sie pro Kopf als auch in der Gruppe politisch aktiver sind als die Gelegenheitsfahrer. Das Wachstum der Regulierungsbehörden, die Ausweitung der Kartellgesetze durch legislative Erlasse sowie juristische Auslegungen und die an Art und Bereichen zunehmenden staatlichen Kontrollen der Preisbildung ziehen der Preisfluktuation überall engere Grenzen, von ihren sonstigen Effekten ganz abgesehen. Die Frage ist, welche Wirkung all dies auf die Übermittlung von Wissen hat. Die tatsächlichen Kosten vieler Güter und Dienstleistungen werden in die Höhe getrieben und verführen manche Konsumenten zu Verzicht, obwohl sie willens und imstande wären, genug zu zahlen, um die Produzenten zu höheren Stückzahlen zu veranlassen, falls es diesen freigestellt wäre, deren Angebote zu akzeptieren. Wissen wird bei der Übermittlung verzerrt, und zwar dank der Gewalt, die dritte Parteien anwenden – in diesem Fall die diversen staatlichen Organe. Während die Handlungen des Staates die Übermittlung von Wissen in der summarischen Form von Preisfluktuationen untersagen bzw. unterbinden, ersetzt der Staat seine eigenen Entscheidungen in Form von recht explizit formuliertem Wissen; entweder durch Worte oder Statistiken. Mit der Artikulation gehen aber große Mengen an Wissen verloren. Der unentwegte Anpassungsprozess der Entscheidungsfindung mittels kurzlebiger subjektiver Einschätzungen der Aussichten wird nicht aufgezeichnet und steht dritten Parteien nicht verifizierbar zur Verfügung. Die retrospektiven Daten, die dieser prospektive Prozess hervorbringt, sind bruchstückartige Artefakte, vergleichbar mit den Scherben zerbrochener Vasen oder Fetzen von Kleidung, aus denen der Anthropologe die Lebensabläufe prähistorischer Völker zu rekonstruieren versucht. Der Anthropologe hat keine andere Wahl, als aus dem zu schließen, was er findet. Aber niemand würde derlei Schlüsse dem Wissen vorziehen, das die Menschen jener prähistorischen Gesellschaften hatten, könnte man einen von ihnen fragen. Ein ähnliches Wissensungleichgewicht gibt es, wenn die Entscheidungen jener, die Teil eines noch laufenden Prozesses sind, außenstehenden Drittparteien übertragen werden, die sich an statistische Artefakte halten. Derlei statistische Kunstprodukte sind nicht nur unvollständig, sondern auch geradewegs irreführend, weil sie von einem ganz anderen Schlag sind als jene des Prozesses, den sie wiedergeben sollen. Wir haben z. B. schon in Kapitel 4 gesehen, dass der subjektive „Zeithorizont“ nicht durch die objektiven Daten der Lebensrestzeit angezeigt wird. Säuglinge haben äußerst kurze Zeithorizonte. Ähnliches gilt für die durchschnittlichen „Fixkosten“ des Produktausstoßes. Sie zeichnen ein retrospektives Bild vom prospektiven, inkrementellen Prozess der Entscheidungsfindung. Die gesellschaftliche Nutzung ungenutzter oder nur teil­

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genutzter Ressourcen – Stromabnahme bei Unterauslastung, halbleere Flugzeuge, unausgelastete Fabriken usw. – wird untersagt, während das effektive Wissen über derlei kostengünstige Gelegenheiten mit Gewalt verzerrt wird, weil man niedrige Preise, die niedrige inkrementelle Kosten wiedergäben, nicht zulässt. Das Element der Gewalt ist für die Verzerrung entscheidend. Das Wissen, das über freiwillig akzeptierte Preise vermittelt wird, gibt die Bedingungen wieder, unter denen verschiedene Formen beiderseitiger Kooperation erhältlich sind. Das Wissen, das unter den staatlichen Preisrestriktionen übermittelt wird, spiegelt den Wunsch wider, der Bestrafung zu entgehen, nicht aber die volle Bandbreite an Optionen, die unter Marktbedingungen möglich wären. Vor allem erfährt man nicht die billigste Option. Ein weitverstreutes Unternehmen kann z. B. die Kommunikation unter seinen vielen Niederlassungen entweder über das öffentliche Telefonnetz stattfinden lassen oder ein eigenes Telefonsystem, das die Dependancen miteinander verbindet, einrichten. Wenn man das bestehende Telefonnetz nutzt, dann dürfte dies die Ressourcen der Wirtschaft weniger in Anspruch nehmen. Aber wenn die niedrigen inkrementellen Kosten für die Wirtschaft nicht in niedrigen Preisen zum Ausdruck kommen dürfen, dann kann es sein, dass es für das Unternehmen (im Sinne ihrer eigenen Finanzen) günstiger ist, ein gesellschaftlich überflüssiges Telefonnetz für die eigenen Zwecke einzurichten, statt die hohen Preise zu zahlen, welche die „Durchschnittskosten“ der Telefondienste widerspiegeln. In den abstrakten Diskussionen über Vorzüge und Nachteile der „Grenzpreisbildung“ wird die entscheidende Bedeutung der Gewalt als Verzerrer der Wissensvermittlung übersehen. In derlei Diskussionen versucht man, direkt festzulegen, was getan werden sollte, statt zu entscheiden, wer diese Festlegung vornehmen sollte. Fragen wie die nach der Präzision, mit der man inkrementelle Kosten („Marginalkosten“) kalkulieren kann5, sowie nach den Kosten einer solchen Präzision6 oder den veränderten Umständen der inkrementellen Kosten7 oder der Disparität zwischen den jeweiligen Alternativen der Entscheidungsfindung und den statistischen Artefakten8 sind nur dann ernsthafte Themen, wenn sie im Kontext wirtschaftlicher „Problemlösungen“ auftauchen und man sie wie ein Gott direkt aus einer unitären Perspektive heraus oder im Rahmen einer wissenschaftlichen Aufgabe klären will. Dort, wo Gewalt keine Rolle spielt – bei den freiwilligen Transaktionen – hat unter allen möglichen Methoden, mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden (ob via intuitive Einsicht, rationalistische Expertise oder durch zufällige Entdeckung dessen, was funktioniert), die billigste einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.

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Dahl / Lindblom (1976), S. 294. Dahl / Lindblom (1976), S. 206. 7 Dahl / Lindblom (1976), S. 205 f. 8 „Eine zweite Gruppe von Schwierigkeiten betrifft das Messen von Kosten und Nachfrage sowie die Probleme infolge der Unmöglichkeit, statistische Äquivalente zu den theoretischen Begriffen zu erhalten.“ Dahl / Lindblom (1976), S. 206. 6

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Dies liegt nicht am beabsichtigten modus operandi des Geschäftsmannes9, sondern an den systemischen Effekten des Wettbewerbs. Ähnliches gilt für die Mindestlohngesetzgebung. Sie verhindert die Übermittlung von Wissen über Arbeitskräfte, die zu Kosten erhältlich sind, die zu mehr Beschäftigung führen. Wenn man die Arbeitskosten falsch ausweist, dann bleiben viele Arbeitskräfte ohne Anstellung, obwohl sie durchaus bereit wären, zu Löhnen zu arbeiten, die andere bereitwillig zahlen würden. Der Begriff „Mindestlohngesetz“ definiert den Prozess über die erhofften Ergebnisse. Doch das Gesetz garantiert nicht, dass irgendein Lohn bezahlt wird, da die Anstellung nach wie vor eine freiwillige Transaktion darstellt. Alles, was das Gesetz erreicht, ist, dass die Auswahl unter den Optionen, die beiden Transakteuren zugängig sind, kleiner wird. Wenn man aber das Gesetz erst einmal gemäß der Eigenschaften definiert, die es als Prozess hat, und nicht mittels der von ihm erhofften Ergebnisse, dann überrascht es kaum, dass mit den Optionen auch die Transaktionen abnehmen (und die Arbeitslosigkeit wächst). Was eher verwundern dürfte, ist die Beharrlichkeit und der Umfang, in dem die Menschen glauben, man könne sie besserstellen, indem man ihre Optionen reduziert. Im Falle des sogenannten10 Mindestlohn­gesetzes mehrt sich die empirische Evidenz, dass mit ihm nicht nur die Arbeitslosigkeit wächst, sondern dass diese vor allem unter den am meisten benachteiligten Arbeitern wächst.11 Dieser Umstand untergräbt einige der Schlüsselannahmen des Ansatzes, die Preise zu fixieren. So mancher bezweifelt die allgemeine These, die Menschen seien besser dran, wenn man ihre Optionen reduziere, glaubt aber dennoch, dass eine der Tauschoder Verhandlungsparteien besser dastünde, wenn man ihre „schlechteste“ Option ausmerzte – das heißt, Niedriglöhne für Arbeiter, hohe Mieten für Mieter oder Verkaufen mit Verlust für Unternehmen. Aber diese Optionen sind schon per definitionem nicht wirklich ihre schlechtesten. Sie könnten auch gar keine Transaktio­nen haben (oder weniger Transaktionen) – d. h. arbeitslos, obdachlos oder kundenlos. Drittparteien auf einem hohen moralischen Ross könnten beispielsweise sagen, sie sähen es lieber, wenn die Menschen arbeitslos wären, statt zu einem „Ausbeuterlohn“ zu arbeiten. Allerdings zeigt allein die Tatsache, dass Menschen als Arbeiter, Mieter oder Unternehmer freiwillige Transaktionen vollziehen, dass ihre Präferenzen andere sind. Sie, die offengelegten Präferenzen des Transakteure sind empirisch maßgebend; es sei denn, man sähe die Preisbindungsgesetze als 9

Wie von Dahl / Lindblom (1976), S. 207 ff., behauptet. Das beste Beispiel für diesen animistischen Fehlschluss dürfte Lester (1946) abgeben. Zu den vielen, die Lester etwas entgegnet haben, zählt Machlup (1946). Vgl. auch Friedman (1953). 10 Es wäre tatsächlich ein Mindestlohngesetz, wenn es garantierte, dass man Arbeit zu solch einem Lohn finden kann, indem man genug Arbeitsplätze zu diesem Lohn anbietet. Darauf hinzuweisen, bedeutet nicht, dass man für einen derartigen Plan einträte. Dazu müsste man dessen Vorzüge und Nachteile erst genauer untersuchen. Eine Skizzierung einiger Einwände gegen eine derartige Politik bietet Sowell (1978a), S. A-7. 11 Williams (1977).

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moralische Konsumgüter für außenstehende Beobachter. Die Tatsache, dass die am schlechtesten gestellten Arbeiter am meisten von den Mindestlohngesetzen benachteiligt werden, legt nahe, dass es hier nicht um eine skrupellose „Ausbeutung“ geht, sondern um eine Lohnzahlung, die den Wünschen der Beschäftigten entspricht. Wenn die am schlechtesten bezahlten Arbeiter bloß die wären, die in Relation zu ihrer Produktivität am meisten „unterbezahlt“ sind, dann könnte man mehr als den üblichen Gewinn dadurch machen, sie einzustellen. Das Mindestlohngesetz könnte einfach diesen Extragewinn an die Arbeiter weitergeben, ohne sie den Arbeitsplatz zu kosten. Die auf „Ausbeutung“ abstellende Erklärung niedriger Löhne betont indes eher die absichtsvolle Moralität des Arbeitgebers („skrupellos“) als die systemischen Effekte des Wettbewerbs. Nichts ist üblicher in der Ökonomie als die Anziehung neuer Mitbewerber, wann und wo immer ein unüblich hoher Profit möglich ist. Wenn das Einstellen niedrig bezahlter Arbeiter eine solche Gelegenheit darstellte – das heißt, wenn „Ausbeutung“ wirklich eine gehaltvolle Bedeutung hätte –, dann würde der angezogene Wettbewerb deren Löhne in die Höhe treiben und den Beziehern niedriger Löhne sicherere Arbeitsplätze bescheren als anderen. Ihre Grenznachfrage seitens der Arbeitgeber wird indes von ihrem prekären und episodischen Beschäftigungsmuster und ihrer im Allgemeinen höheren Arbeitslosenrate angezeigt. Kurz und gut: Das Wissen, das durch niedrige Preise (Löhne) vermittelt wird, ist normalerweise akkurates Wissen, und das Verbot seiner Übermittlung geht sowohl zu Lasten der Wirtschaft als auch zu Lasten der vorgesehenen Nutznießer der Preisfixierungen. Wenn sich die Dinge ändern würden – beispielsweise durch berufliche Qualifizierungsmaßnahmen für Bezieher niedriger Löhne –, dann hätte dies andere Effekte als das reine Untersagen oder Verzerren einer Übermittlung von Wissen, das sich auf bestehende Tatsachen bezieht. Rein informatorisch betrachtet kennt der Arbeitgeber jene Sorten von Arbeitern, deren Produktivität niedrig und Anstellungsrisiken hoch sind. Diese Information stellt sicher, dass es wegen fehlender effektiver Wissensvermittlung via Preise (Löhne) bei dieser Gruppe zu noch größerer Beschäftigungslosigkeit kommt. Es gibt keinen Grund an sich, warum ungelernte Arbeiter oder solche mit hohem Risiko seltener eingestellt werden sollten als gelernte oder risikoarme Arbeiter. Jemand, der einem Arbeitgeber fünf Mal so wertvoll ist wie andere, kann genauso so gut eingestellt werden wie einer, der einem Arbeitgeber nur ein Fünftel so viel wert ist wie andere. Die Lohndifferenz braucht nur die Nutzendifferenz für den Arbeitgeber widerzuspiegeln. Die Pointe ist nicht nur eine theoretische. Die Geschichte zeigt, dass schlechtere Qualifikationen männliche Schwarze nicht davon abhielten, eine höhere Beschäftigungsrate zu haben als männliche Weiße. Das gilt für jeden US-Zensus von 1890 bis 1930.12 Seitdem haben sich mit der allgemeinen Zunahme an Lohnfixierungsarrangements – Mindestlohngesetze, Gewerkschaften, Beamtengehälter usw. – die Verhältnisse umgekehrt und wurden mehr und 12

U. S. Bureau of Census (1961), S. 72.

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mehr Schwarze „unvermittelbar“, und das obwohl das Niveau ihrer Bildung und Qualifizierung sowohl absolut als auch im Verhältnis zu den Weißen gestiegen ist. Kurzum, niemand ist absolut vermittelbar oder unvermittelbar, sondern immer nur relativ zur relevanten Lohnskala. Schwarze wurden zunehmend über den Preis aus dem Markt getrieben. Besonders auffällig ist das bei den Schwarzen mit der geringsten Berufserfahrung. Gemeint sind schwarze Jugendliche. Unter ihnen ist die Arbeitslosenrate extrem hoch. Die Alternative, die hohe Arbeitslosigkeit unter jugendlichen Schwarzen mit „Rassismus“ zu erklären, kollidiert mit zwei unverrückbaren Tatsachen. (1) Die Arbeitslosigkeit unter schwarzen Jugendlichen betrug in den 40er und 50er Jahren nur einen Teil dessen, was sie in den 60er und 70er Jahren betrug, und lag damals gleichauf mit der unter weißen Jugendlichen. (2) Die Arbeitslosigkeit unter Schwarzen, die Mitte zwanzig sind, fällt gegenüber jener der Jüngeren steil ab. Dabei haben sie nicht mit zunehmendem Alter ihre Hautfarbe verloren, sondern sind nur berufserfahrener geworden. Die intentionale Erklärung – „Rassismus“ – mag moralisch befriedigender sein, aber nur die systemische Erklärung passt zu den Fakten. Eine Dekade rasanter Inflation nach Einführung des Bundesgesetzes für Mindestlöhne 1938 hatte bis zu den späten 40er, frühen 50er Jahren das Gesetz als Wirtschaftsfaktor praktisch aufgehoben. Danach hat eine Serie von Zusätzen das ursprüngliche Minimum stufenweise erhöht. In den späten 40er, frühen 50er Jahren haben die Inflation und die Ausklammerung vieler Berufe aus der Lohnkontrolle das Mindestlohngesetz recht zahnlos gemacht. Damals lag die Arbeitslosigkeit unter schwarzen Jugendlichen bei weniger als einem Drittel von dem, was sie danach betrug, als der Mindestlohn so angehoben wurde, dass er die Inflation ausglich, und die Gesetzgebung so weit ausgedehnt wurde, dass sie praktisch die ganze Wirtschaft betraf. Um eine Vorstellung von der Größe dieser Auswirkung zu bekommen, sollte man bedenken, dass die Arbeitslosigkeit unter schwarzen Jugendlichen im Rezessionsjahr 1949 niedriger war als in irgendeinem der Blüte­ jahre in den 60ern und 70ern. Außerdem war die Jugendarbeitslosigkeit auch in Ländern mit ausschließlich weißen Arbeitskräften für Mindestlohngesetze anfällig.13 Dies stimmt mit der geringeren Berufserfahrung überein und auch mit der größeren Wissensverzerrung, die am Werk ist, wenn die Mindestlohngesetze den Wert der betroffenen Arbeitskräfte für den Arbeitgeber falsch wiedergeben. Statistische Daten erhebt man nach Alter und Rasse. Aber ganz allgemein gilt, dass der Negativeffekt erzwungener Wissensverzerrung jenen am meisten schadet, für welche die Verzerrung am größten ist. Obwohl der Staat der zentrale Träger der Macht ist, ist er noch lange nicht der einzige. Auch die Gewerkschaften setzen während ihrer Streiks oft Gewalt, Drohungen und Schikanen ein, um die Kunden oder Beschäftigten, die auf dem Weg zur Warenausgabe oder zum Arbeitsplatz des bestreikten Unternehmens sind, aufzuhalten oder zu bremsen. Viele Arbeitgeber unternehmen während eines 13

Williams (1977), S. 16 ff.

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Streiks noch nicht einmal den Versuch, den Betrieb aufrechtzuerhalten, und zwar wegen der guten Aussicht auf Gewalt und der schlechten Aussicht auf effektive Rechtsdurchsetzung.14 Der Einsatz privater Gewalt zur Verhinderung einer wirksamen Übermittlung von Preisen, welche die ökonomischen Optionen widerspiegeln, hat Effekte, die denen der Staatsgewalt in Form von Mindestlohngesetzen sehr ähneln. Der systemische Effekt, die am stärksten benachteiligten Arbeiter mittels Preis loszuwerden, vermischt sich manchmal mit beabsichtigten Effekten, die darauf abzielen, verschiedene Minoritäten aus gewerkschaftlich organisierten Berufen auszugrenzen, entweder ausdrücklich oder versteckt. Im 19. Jahrhundert war praktisch jede Immigrantenminorität irgendwann die Zielscheibe solcher Gewerkschaftsausschließungen. Die Klausel „nur Weiße“ gab es in vielen Gewerkschaftsstatuten und ­-verträgen, nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch noch im 20. Jahrhundert, bis die Bürgerrechtsgesetzgebung derlei Worte in den 60er Jahren verbannte. Solch beabsichtigte Diskriminierung braucht es aber nicht für die Gewerkschaften, um benachteiligten Gruppen systemische Nachteile zu bescheren, die denen der Mindestlohngesetze ähneln, gleichwohl diese für gewöhnlich15 keine Diskriminierung beabsichtigen. Ob auf systemischem oder beabsichtigtem Wege, die Gewerkschaften hatten in der Geschichte eine verheerende Auswirkung auf die Beschäftigungsmöglichkeiten der Schwarzen. Einige Gewerke, in denen vormals Schwarze vorherrschten – Berufe in der Bau- bzw. Eisenbahnbaubranche –, suchten nach der Vergewerkschaftung „nur Weiße“.16 Die Geschichte der Schwarzen, die im Süden und Norden erlernten Berufen nachgingen, illustriert den Unterschied zwischen der intentionalen und der systemischen Variablen sehr anschaulich. Von der intentionalen Warte aus würde man meinen, dass der Süden der Beschäftigung von Schwarzen in erlernten Berufen am meisten abgeneigt gewesen wäre, aber in Wirklichkeit behielten im Süden die Schwarzen ihre Stellungen in erlernten Berufen länger als im Norden17, weil die systemischen Effekte der Gewerkschaften und der „liberalen“ bzw. „progressiven“ Mindestlohngesetzgebung im Süden erst viel später auftraten. Erzwungene Preissenkung Ziemlich ähnliche Prinzipien sind am Werk, wenn man die Preise gewaltsam unter das Niveau drückt, das sie erreichen würden, wenn ihre freie Fluktuation gestattet wäre. Mietpreisbindung, Zinsdeckel und allgemeine Lohn- und Preisbindun 14

Siehe Rees (1962), S. 34 f. Das gilt aber nicht immer, siehe Williams (1977), S. 23 f.; Hutt (1964), S. 71; Bauer (1959), S. 346 f. 16 Green / Woodson (1930), S. 34 f. 17 Sowell (1978b), S. 19 f. 15

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2. Teil: Themen und Tendenzen

gen, die es in Kriegszeiten oder im Rahmen einer umfassenden „Planwirtschaft“ gibt, sind Beispiele für derlei aufgezwungene Preisobergrenzen. Da Preise bloß das Wissen über die Bedingungen der möglichen Güterabwägun­ gen darstellen, ist es ökonomisch dasselbe, ob man nun A vorschreibt, wie hoch er im Preis bei seinen Geschäften mit B gehen kann, oder B vorschreibt, wie weit er mit dem Preis bei seinen Geschäften mit A runtergehen kann. Der einzige Unterschied liegt im Wortlaut. Insofern dürfte es nicht überraschen, wenn Mietober­ grenzen genauso zu knappem Wohnraum führen wie Lohnmindestgrenzen zu Arbeitslosigkeit. Allein mit einer Wortlautänderung kann man zeigen, dass Mindestlohngesetze mit ihrer Festlegung, wieviel Arbeit man für einen Arbeitsplatz maximal anbieten darf, eine Verknappung der Arbeitsplätze zu diesem Preis in derselben Weise verursachen, wie Mietpreisbindungen, die sagen, wie viel Miete man für einen Wohnraum zahlen darf, eine Verknappung des Wohnraums zu derlei Preisen auslösen. Alle „Mindermengen“ und „Überschüsse“ gibt es zu einem ge­gebenen Preis. Es gibt sie nicht absolut in dem Sinne, dass die Dinge im quantitativen Sinne knapp oder im Überfluss vorhanden wären. Die schlimme Wohnraumverknappung während des 2. Weltkriegs passierte, ohne dass der Gesamtwohnraum im Land signifikant abgenommen oder die Bevölkerung merklich zugenommen hätte. In der Tat scherten während des 2. Weltkriegs 10 Millionen Menschen aus der Zivilbevölkerung aus, viele verließen das Land. Die Nachfrage nach Wohnraum zu mietkontrollierten Preisen kam von der verbliebenen Bevölkerung. Das effektive Wissen, das die künstlich niedrigen Preise enthielten, galt eigentlich Wohnraum, von dem in Wirklichkeit kaum welcher und auch früher nicht viel existierte. Es gibt kein fixes Verhältnis zwischen der Anzahl der Personen und der Menge an Wohnraum, der „gebraucht“ wird, um behaust zu werden. Ob die Kinder sich ein Zimmer teilen oder nicht, wann sie als junge Erwachsene ausziehen werden, um ihren eigenen Haushalt zu gründen, und wie viele kinderlose Verwandte oder Untermieter gegebenenfalls mit im Haus leben, hängt von den Preisen auf dem Wohnungsmarkt und dem Einkommen der Personen ab, die das Sagen haben. Für praktisch jede ethnische Gruppe in Amerika hat es irgendwann einmal eine Phase gegeben, in der die Aufnahme von Untermietern gang und gäbe war.18 Künstliche niedrige Preise im Zuge der Mietpreisbindung erleichtern den Zerfall bestehender Familien und Wohngemeinschaften in kleinere Gruppen von Individuen mit separatem Haushalt und geben den verbleibenden Personen im Haushalt mehr Platz für sich, so dass die „Zimmer frei“-Schilder sehr schnell wieder verschwinden. Ab diesem Moment müssen Menschen, die aus triftigen Gründen wegziehen müssen, plötzlich enger zusammenrücken oder mit Garagen, Notunterkünften oder überbelegten Wohnungen Vorlieb nehmen; und das nur, weil allgemein im ganzen Land die Menschen mehr Platz für sich beanspruchen. Junge Paare mit Nachwuchs leben nun plötzlich beengt in einer Wohnung, die den Bewohnern 18

Howe (1976), S. 177 ff.; Conzen (1976), S. 57 ff.; 80 f., Myrdal (1964), S. 376.

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früher einmal gereicht hat, während ältere Paare, deren Kinder das Haus verlassen haben, keinen finanziellen Anreiz mehr haben, die große Wohnung, die sie früher mit den Kindern gebraucht haben, aufzugeben, weil sie wegen der Mietpreisbindung die alte Wohnung halten können. Hinzu kommt, dass sie dank Mietpreisbindung ohnehin weniger Alternativen vorfinden würden. Ohne Mietpreisbindung gibt es einen Anreiz für Familien, die Größe der Wohnung der jeweiligen Lebensphase, in der sie sind, anzupassen. Die junge wachsende Familie gibt nach und nach andere Güter für mehr Wohnraum auf, während die ältere Familie, deren Kinder „das Nest verlassen“, ihren frei gewordenen Wohnraum nun gegen andere Dinge, die sie wollen, eintauschen. Preise enthalten brauchbares Wissen über diese nie endenden Güterabwägungen, die alle Entscheidungsträgergruppen dorthin lenken, wo deren Vermögenswerte ihnen die – für ihr Befinden – größere Befriedigung bescheren können. Die Mietpreisbindung verzerrt diesen Informationsfluss  – bringt ihn zum Versiegen. Dieselben Menschengruppen und dieselben Sachwerte existieren auch weiterhin, aber die Menschen können sich nicht selbst auf sie umverteilen, wie es ihren divergierenden und wechselnden Bedürfnissen entspricht. Das bedeutet, dass derselbe Wohnungsbestand wie früher heute weniger Befriedigung erlaubt. Obwohl die Materie physikalisch dieselbe bleibt, ist ihr Wert doch kleiner. Die Verluste infolge der Mietpreisbindung sind keine materiellen oder monetären Verluste. Beide bleiben in denselben Mengen wie zuvor erhalten – und können deshalb nicht mit „objektiven“ statistischen Daten zu den relevanten Transaktionen (Mieten) erhoben werden. Der Verlust liegt in der Reduzierung oder dem nicht Vorhandensein erwünschter Transaktionen. Zahlen und Expertisen können vereitelte Wünsche nicht objektiv erfassen. Objektiv dokumentierbar sind allenfalls Wartelisten, Schmiergelder an Vermieter und sonstige verstreute Artefakte – ganz ähnlich den Tonscherben und Kleiderfetzen, mit denen der Anthropologe prähistorische Völker erforscht. Auf lange Sicht übermitteln gebundene Mietpreise nicht nur ein verzerrtes Wissen über die optimale Allokation des vorhandenen Wohnraums, sondern auch über die Güterabwägungen, welche die Menschen gern vornähmen, um neuen Wohnraum zu bekommen. Den Mietern ist es untersagt, die volle Dringlichkeit ihrer Wünsche nach neuem Wohnraum in Form finanzieller Anreize, die Vermieter, Banken und Bauunternehmer verlocken könnten, zu übermitteln. Diese Dringlichkeit dürfte weiterwachsen, da der alte Bestand an Wohnraum kontinuierlich verfällt und abnutzt. Das einzige Signal, das bei den Bauunternehmern ankommt, ist aber, dass es kaum Ressourcen geben dürfte, die man für neue Wohnungen aufwenden könnte. Das Signal, das der Vermieter alter Gebäude empfängt, ist wohl, dass man mieterseitig für Unterhalt und Instandhaltung, die zum Erhalt der Gebäude nötig sind, nur wenig aufbringen will. Dabei kann es sein, dass die Mieter gern mehr zahlen würden, statt zuzusehen, wie das Gebäude verfällt und der Vermieter es loswerden will. In der Stadt New York, wo man die Mietpreisbindung seit dem 2. Weltkrieg aufrechterhalten hatte, war dergleichen im großen Stil der Fall.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Der Mieterschutz illustriert nicht nur, wie leicht es für ein politisches System ist, die Wissensvermittlung in einem Wirtschaftssystem zu verzerren. Seine Geschichte illustriert auch, wie schwer es für Rückmeldungen ist, eine politische Entscheidung wirksam zu korrigieren. Die Einheiten politischer Entscheidungsfindung werden durch geographische Grenzen bestimmt, und nicht von den Personengruppen, die mit den Folgen der beschlossenen Politik zu leben haben. Mieterschutzgesetze, die vor Jahrzehnten zum Wohl der „New Yorker“ bzw. der dortigen Mieter beschlossen wurden, entspringen dem Urteil, das die damaligen New Yorker und damaligen Mieter (auf Grundlage der prospektiven Plausibilität solcher Gesetze) im politischen Prozess gefällt haben. Eine Generation später – mit all den Todesfällen, Geburten und der üblichen Migration stadteinwärts und -auswärts – hat sich die Wählergemeinde drastisch geändert. Nur wenige ihrer Mitglieder haben die Auswirkungen des Mieterschutzes von Anfang bis Ende miterlebt. Viele, die den Verfall der Gebäude zu Mieterschutzzeiten in New York mitbekommen haben, leben nun außerhalb der Stadt, manche von ihnen genau aus diesem Grund. Ihre Erfahrungen kommen bei Wahlen in der Stadt nicht als Rückmeldung an. Zur aktuellen New Yorker Wählerschaft gehören viele Menschen, die dort erst hinzogen oder geboren wurden, als die Auswirkungen des Mieterschutzes schon griffen. Sie haben keine Möglichkeit, „vorher“ und „nachher“ aus eigener Erfahrung zu vergleichen. Sie wissen beispielsweise nicht, dass die Bevölkerung in der Stadt größer war und es keine Wohnungsknappheit gab, und auch keine riesigen Mengen an unbewohnten Gebäuden. Ihre persönlichen Erinnerungen reichen nicht weit genug zurück, um den fatalen Fehler in der Argumentation ausmachen zu können, der zufolge man Mieterschutz nicht gefahrlos abschaffen kann, solange es immer noch nicht genug Wohnraum gibt. Da ihnen die persönliche Erfahrung fehlt, müssten sie ökonomisch geschult werden, um erkennen zu können, dass die „Knappheit“ ein Preisphänomen ist und es auch bleiben wird, solange die Mietpreisbindung weiter besteht. Während die Zeit und die Komplexität viele politische Entscheidungen vor effektiven Rückmeldungen aus den Reihen der Wählerschaft abkapseln, gibt es zum Ausgleich ein Wissen, das Gruppen mit geringeren Erkenntniskosten gern bereitstellen, weil sie offenkundig stärker benachteiligt sind – in unserem Fall die Maklerlobby und die Vermieterverbände. Im Allgemeinen haben speziell Interessierte nicht nur geringere Kosten beim Erkennen ihrer eigenen Interessen, sondern auch einen Anreiz, herauszufinden, inwiefern andere Gruppeninteressen auch betroffen sind, um so Verbündete zu gewinnen. Da aber Argumente pro domo automatisch unbeachtet bleiben, sind die Erkenntnisse von Sonderinteressengruppen weitgehend unwirksam oder kontraproduktiv. Die Interessen von Vermietern und Immobilienbesitzern versorgen z. B. die Kräfte, die sich für Mieterschutz einsetzen, mit einem Feindbild. Sie verschaffen ihnen in der Auseinandersetzung eine gewisse moralische Überlegenheit und lassen sie glauben, im Interesse derer zu handeln, die beschützt werden müssten. Letzteres gründet allerdings stillschweigend auf der Vorstellung, die Ökonomie sei ein Nullsummenspiel oder gar ein negatives

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Summenspiel. Wenn man aber die Ökonomie als ein positives Summenspiel betrachtet – freiwillige Transaktionen nutzen beiden Parteien, sonst würden sie nicht stattfinden –, dann können, wenn derlei Transaktionen verboten werden, auch die zu erleidenden Verluste auf beiden Seiten auftreten. Die Tatsache, dass die Beschwerden zuerst oder nur von einer Partei geäußert werden, dürfte daran liegen, dass das Erkennen der Auswirkungen für sie weniger Kosten birgt. Allgemeiner formuliert, kann man sagen: Wenn man sämtliche Sonderinteressenargumente ganz und gar ausschließt, dann gibt man zu erkennen, dass man die Gesellschaft grundsätzlich für ein Nullsummenspiel hält. Diese Auffassung ist schwer mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass es in der Geschichte aller Völker immer wieder Gesellschaften gab, die als Summenspiel von anderer Art waren. Die Auswirkung der Mietpreisbindung auf die Wohnqualität ist ein anschauliches Beispiel für die allgemeine Charakteristik von Preiskontrollen und Artikula­ tionsgrenzen. Welchen Preis auch immer ein außenstehender Beobachter gewaltsam festlegen will, er muss das Produkt, dessen Preis er bestimmt, beschreiben – und seine Wortwahl kann selten mit der unartikulierten Erfahrung der eigentlichen und freiwillig agierenden Transakteure mithalten. Das hat zur Folge, dass Preise, die unter dem Niveau liegen, das sich sonst eingependelt hätte, Qualitätsverzerrungen bewirken. Im Fall mietpreisgebundener Wohnungen lässt alles nach, das mit Unterhalt, Instandsetzung, Renovierung, Heizung, Warmwasser und Sicherheitsdiensten zusammenhängt. Dies wirkt sich auf brandneue Gebäude weniger schlimm aus als auf älteren Baubestand, der mehr Unterhaltskosten benötigt, um der Verwahrlosung zu entgehen. Da Menschen mit niedrigen Einkommen eher in älteren Gebäuden wohnen, ist es für sie sehr wahrscheinlich, dass ihr Zuhause zu einem unbeheizten Elendsquartier wird, in dem viele unbewältigte Probleme auf sie lauern. Im Extremfall leben sie dann in einem Gebäude, dass der Vermieter verkommen lässt, weil plötzlich die Mindestunterhaltskosten über der zulässigen Miete liegen. In der Stadt New York liegt die jährliche Zahl solcher Brachen bei etwa 25.000.19 Wenn es um die Auswirkung auf die Produktqualität geht, dann steht die Mietpreisbindung nicht allein da. Allgemeine Preiskontrollen führten im 2. Weltkrieg zu einer Verbreitung minderwertiger Billigmarken, von denen einige aus dem Hause bekannter Hersteller stammten, die das Renommee ihrer regulären Markenprodukte nicht nachhaltig schädigen wollten. Gelegentlich kam es zu Qualitätseinbußen in Form schlechter Dienstleistungen, die gern in Komödien mit arroganten Metzgern, kaltschnäuzigen Verkäufern usw. thematisiert wurden. Preiskontrolle bedeutet an sich nicht nur, einen Preis anzugeben – was leicht ist –, sondern auch die Charakteristiken des Produkts auszuweisen. Und obwohl es scheinbar leicht ist, ein Produkt wie ein Apartment oder eine Dose Erbsen zu definieren, lehrt uns Erfahrung, wie ungenau die Beschreibung einer Sache im Vergleich zur unbeschriebenen Erfahrung mit derselben ist. Ein Apartment ist nicht nur einfach ein physisches Objekt, sondern enthält eine Vielfalt an mit ihm verbundenen Dienst 19

Eagleton (1977), S. 111.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

leistungen, quantitativen wie qualitativen Änderungen, die sich auf die Fixkosten, den Mietzins und den Preis niederschlagen, den man auf einem nicht-regulierten Markt erzielen kann. Wenn der Staat niedrigere Mieten erzwingt, dann reduziert der Vermieter freiwillig die Unterhaltskosten, indem er Qualität und Quantität der Dienstleistungen senkt und das „Produkt“ sich selbst ändert. Eine Produktspezifizierung, die streng den gesetzlichen Vorgaben folgte und perfekt überwacht würde, ließe dergleichen nicht zu. Aber die Ausweitung dieses Verfalls – bis hin zur kompletten Verwaisung – zeigt die Grenzen auf, die der wörtlichen Beschreibung und der Überwachung durch Dritte gesetzt sind. Wenn es keine Mietpreisbindung gibt, dann achten die Mieter selbst auf Veränderungen und teilen dem Vermieter ihre Reaktionen nicht nur verbal mit, sondern – weitaus überzeugender – mit Mietkürzungen. Dienstleistungen, von denen sie nichts wissen, können sie auch nicht kontrollieren. Das heißt, sie können sie nicht auflisten, wenn man sie danach fragte, was sie zur Wohnung sonst noch gern hätten. Viele Mieter würden z. B. nicht angeben, dass ihnen daran gelegen wäre, wenn die Hausverwaltung kontrollierte, wer im Mietshaus ein- und ausgeht. Wenn aber das Mietsgebäude ein Treffpunkt für Stadtstreicher, Ganoven oder Drogensüchtige würde, dann stiege der Leerstand rasch an. Andererseits würden negative Reaktionen auch nicht lange auf sich warten lassen, wenn die Hausverwaltung jeden eintreffenden Besucher aufdringlich überprüfte. Mit anderen Worten: Wenn der Vermieter den Leerstand niedrig halten will und die Mieteinnahmen hoch, dann muss eine Dienstleistung, über die wenig gesprochen wird, nicht nur erbracht werden, sondern auch so erfolgen, dass sie für beide Seiten im Rahmen bleibt. Die Vielzahl und Bedeutsamkeit dieser Zusatzdienste sieht man in ihrer Dramatik nicht auf den freien Märkten, wo diese Dienste Standard sind, sondern dort, wo sie fehlen: in Gebäuden mit Mietpreisbindung und im öffentlichen Wohnungsbau. Bezeichnenderweise ist in solchen Gebäuden sehr viel mehr an expliziten Ausführungen in Form von Hausordnungen zu finden, und weitaus weniger an wirksamer Kontrolle. Nicht einmal eine einfache Erbsendose kann erschöpfend beschrieben und komplett überwacht werden, wenn die Preise festgeschrieben sind. Der Geschmack, das Aussehen, die Textur und die Einheitlichkeit der Erbsen in einer Dose sowie von Dose zu Dose hängen von der Auslese und Kontrolle der Hülsen sowie von der Sortierung und Verarbeitung der Erbsen ab. In nicht-regulierten Märkten wird all dies an den inkrementellen Kosten, die mit jeder einzelnen Verbesserung verbunden sind, ausgerichtet. Und der inkrementelle Wert jeder Optimierung zeigt sich in der Höhe des Preises, den der Kunde für Marken zu zahlen bereit ist, welche die gewünschten Merkmale zuverlässig erfüllen. Wenn eine dritte Partei den Preis gewaltsam auf ein niedrigeres Niveau drückt, dann hat der Anbieter Anreize, weniger von diesen Qualitäten vorzuhalten, um so seine Herstellungskosten zu senken. Auf die gleiche Weise, wie ein zwangsweise unter Marktniveau festgesetzter Preis die Qualität des preisgebundenen Produkts tendenziell mindert, verbessert

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ein erzwungener Preis, der über Marktniveau liegt, tendenziell die Produktqualität. Mindestlohngesetze führen tendenziell dazu, dass Arbeitgeber weniger, aber besser qualifizierte Arbeiter einstellen – das heißt, sie machen weniger talentierte und erfahrene oder sonst wie weniger begehrte Arbeiter „unvermittelbar“. Höher qualifizierte Arbeiter und mehr „Unvermittelbare“ in der Erwerbsbevölkerung sind eine und dieselbe Sache, aber unterschiedlich ausgedrückt. Gedeckelte Zinsraten – Gesetze gegen Wucherzinsen – reduzieren tendenziell und in ähnlicher Weise einen der wichtigsten Dienste, die der Verleiher leistet (Risiko­übernahme), weil sie ihn dazu veranlassen, mehr Schuldner als unzureichend gute Risiken auszuschließen. Wenn jemand glaubt, das Risiko, Geld zu verlieren, liege weit über 50 %, sollte er nach einer Ölquelle bohren (also nach einer Quelle, aus der hoffentlich Öl sprudelt), dann ist klar, dass die Risikohöhe die Kapitalgeber solange nicht zurückschreckt, wie die Rückzahlungsrate hoch genug sein darf, um das Risiko hinreichend zu kompensieren. Wenn man aber die Rückzahlungsraten für persönliche Darlehen gewaltsam auf das beschränkt, was die Menschen aus der Mittelschicht, die ein geringes Ausfallrisiko haben und die Verfasser von Zinsgesetzen sind, erfahrungsgemäß für „vernünftig“ halten, dann wird der Kredit oft jenen Niedrigverdienern verwehrt oder eingeschränkt gewährt, die nur ein marginal höheres Ausfallrisiko haben und auch in der Lage wären, geringfügig höhere Tilgungsraten zu zahlen. Stattdessen bleibt ihnen kein anderer Weg als der zu einem „Kredithai“, dessen Zinsraten viel höher und Eintreibungsmethoden viel rauer sind. Die Wucherzinsgesetze verzerren – wie andere Formen der Preiskontrolle auch – die Kommunikation der das Kreditrisiko wiedergebenden Tatsachen, ohne sie selbst in irgendeiner Weise zu verändern. Eines der dramatischsten Beispiele in der jüngeren Geschichte, die den Effekt der unter Marktniveau gedrückten Preise illustrieren, war die sogenannte „­Ölkrise“ von 1979. Wegen der komplexen Verwicklungen unter den seit langem bestehenden Regulierungen, mit denen der Staat die Benzinpreise kontrollierte, begann man die vollen Auswirkungen im Frühjahr 1979 zu spüren. So wie im Fall der Mietpreisbindung wirkte sich das Ganze nicht primär auf die Quantität der physischen Produkte aus – hier: Benzinmengen –, sondern auf die Zusatzdienste, die im Gesetz unerwähnt blieben. Auf die gleiche Weise, wie Mietpreisbindung tendenziell derlei Zusatzdienste wie Wartung, Heizung oder Warmwasser reduziert, so mindert die Benzinpreiskontrolle Extraleistungen wie längere Öffnungszeiten, Kreditkartenakzeptanz und den prüfenden Blick unter die Motorhaube. Was man „Benzinknappheit“ nannte, war eigentlich primär eine Verknappung der Tankstellenöffnungszeiten. Die traumatischen Auswirkungen des Ganzen belegen, dass es keineswegs ein Zufall ist, wenn bestimmte Aspekte eines an sich physischen Produkts unerwähnt bleiben. In New York beispielsweise waren die Tankstellen im September 1978 ca. 110 Stunden in der Woche geöffnet, im Juni 1979 hingegen nur 29 Stunden pro Woche.20 Die Menge des abgegebenen Benzins fiel 20

New York Times (1979), S. 30.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

nur um wenige Prozentpunkte, die der Dienstzeiten aber um 75 %. Das heißt, die Tankstellen versuchten, ihre Verluste infolge der Preiskontrollen wettzumachen, indem sie die Arbeitsstunden, für die sie ihre Angestellten bezahlten, reduzierten. Im gleichen Zug stiegen die Zeitverluste der Autofahrer, die in Schlangen auf ihr Benzin warten mussten, drastisch an. Die Autofahrer litten zudem unter den höheren Risiken auf langen Autofahrten, weil man sich auf der Route nicht darauf verlassen konnte, genug Tankstellen zu finden, die geöffnet hatten. Die vorausliegenden Seelenqualen der Autofahrer äußerten sich darin, dass die Geschäfte in den Urlaubsregionen drastisch einbrachen, die zurückliegenden Daten über die Menge des verkauften Benzins zeigten indes, dass kaum weniger getankt wurde. Kurz und gut, die wahren Kosten der sogenannten Benzinknappheit lagen nicht einfach in der statistisch unbedeutenden Quantitätsänderung des physischen Produkts Benzin, sondern darin, dass man auf lange Sicht das Produkt nicht mehr dort bzw. dann bekam, wo und wenn man es brauchte. Wie in vielen anderen Fällen auch, so fangen auch hier die objektiven Daten von etwas Zurückliegendem die wirtschaftliche Realität nicht ein. Erzwungene Kostenänderungen Jede Zeit und jede Technologie wirft für die Wirtschaft als Ganzes Kosten auf. Ungeachtet dessen kann man die Kosten, vor der jede Entscheidungseinheit steht, durch Sondersteuern anheben oder durch Subventionen senken. Jede Steuer verkörpert den Einsatz von Gewalt zur Beeinflussung von Entscheidungen, und Subventionen verkörpern die Steuern, die man anderen gewaltsam entzogen hat. Das bedeutet indirekte Preisfixierung. Eine Sondersteuer, die zusätzlich zur normalen Steuer für ein Produkt von ähnlichem Wert erhoben wird, verklärt die Kosten, die durch das Wirtschaftssystem übermittelt werden. Die Zuzahlungen des Konsumenten stellen keinen Verlust dar, den die Wirtschaft als Ganzes erlitte. Der höhere Preis ist nur ein interner Wohlstandstransfer unter Individuen desselben Systems – das als Ganzes weder ärmer noch reicher wird. Was das System als Ganzes ärmer macht, sind die Transaktionen, die wegen des künstlich hohen Preises nicht stattfinden. Dort, wo ein hoher Preis eine akute Materialknappheit oder Unwilligkeit, eine bestimmte Arbeit zu erledigen, wiedergibt, übermittelt er zutreffende Informationen über die inkrementellen Kosten des Wirtschaftssystems. Aber wenn der Preis einfach in die Höhe geht, weil der Staat meint, es solle so sein – egal, ob durch direkte Preisfixierung oder eine Sondersteuer –, dann vermittelt er ein falsches Bild von den Kosten und veranlasst potentielle Kunden, auf das Produkt zu verzichten, gleichwohl andere bereit wären, ihnen das Produkt zu dem von ihnen gewünschten Preis zu besorgen. Wenn der Staat Güter subventioniert, dann werden die Informationen über die Vorrätigkeit der Güter in die entgegengesetzte Richtung verzerrt. Mancher Konsument eines subventionierten Gutes würde dessen Preis nicht zahlen wollen, wenn die Kosten des Gutes vom Preis akkurat übermittelt würden. Und so werden Dritt-

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parteien gezwungen, einen Teil der Kosten in Form von Steuern zu tragen, egal, was sie von dem Produkt halten oder ob sie es überhaupt nutzen. Manchmal werden die Subventionen subtiler arrangiert, also ohne explizite Besteuerung. Dort, wo es staatlich betriebene Monopole (wie z. B. die Post) oder eine staatlich regulierte Branche gibt, in der staatliche Gesetze keinen Wettbewerb zulassen (öffentliche Versorgungswerke), bringen die staatlich festgesetzten Preise einige Nutzer dazu, andere Nutzer zu subventionieren. Man setzt keine Gewalt gegen die Nutzer ein, sondern gegen potenzielle Konkurrenzanbieter, denen es untersagt ist, in der Branche Fuß zu fassen und jenen, die die anderen subventionieren müssen, günstigere Preise anzubieten. Wer seine Briefe erster Klasse zustellen lässt, muss mehr zahlen, als zur Zustellung nötig ist, während die Versender von „Werbepost“ weniger zahlen, als diese kostet. In diesem Fall übermittelt das ökonomische System verzerrte Informationen. Es scheint so, als ob der Versand von Werbepost billiger wäre, als er ist. Auf diese Weise kommt es dahin, dass mehr Werbepost verschickt wird, als es der Fall wäre, wenn die Versandkosten dem Sender korrekt mitgeteilt würden. Ressourcen, die, anders gebraucht, für andere Menschen wertvoller wären, werden zum Versenden von Werbepost verwendet, weil das Gebot für diese Ressourcen nicht nur die Vermögenswerte umfasst, die der Versender aufgrund dessen, was ihm die Sendungen wert sind, freiwillig opfert, sondern auch die Vermögenswerte, die der Nichtsender von Werbepost als Preis für seine eigene Post erster Klasse abtreten muss. Auf diese Weise wird er unfreiwillig zum Mitbieter um Ressourcen, die er gar nicht haben oder nutzen will. In einem politischen System, das ideal funktionierte und keine Erkenntniskosten hätte, hätten die Extrazahler genauso viele Möglichkeiten, diese Quersubventionierung zu beenden, wie die Sonderinteressengruppen die Gelegenheit hätten, sie zu schaffen. Im wahren Leben aber sind Sonderinteressengruppen – schon fast definitionsgemäß – Gruppen mit niedrigeren Erkenntniskosten. Sie wissen jede für sich, was sie mit anderen gemein haben. Also können sie einander kontaktieren und sich als Personen oder Verbände, die von der Politik ähnlich betroffen sind, organisieren. Ihr größeres politisches Gewicht versetzt sie dann in die Lage, anderen mit Gewalt wirtschaftliche Ressourcen wegzunehmen. Quersubventionen funktionieren in allen Systemen mit Preisdiskriminierung nur so lange, wie man Konkurrenten fernhalten kann. Normalerweise hat nur der Staat ausreichend Macht, um das effektiv durchzusetzen. Wenn Preisdiskriminierung in Wettbewerbsmärkten ausprobiert wird, dann kann eine Firma, die jeder Kundengruppe die Rechnung gemäß ihrer Kosten präsentiert, jene, die mehr als diese Kosten zahlen, günstiger und profitabler bedienen. Preisdiskriminierung unter solchen Bedingungen wird schnell versuchte Preisdiskriminierung, weil übers Ohr gehauene Kunden andere Firmen für ihre Transaktionen finden. Dergleichen widerfuhr beispielsweise der Eisenbahnbranche, als sie ihr Monopol mit dem Aufkommen des Schwerlastverkehrs und der Fluglinien verlor. Frachtgüter, die zu hoch berechnet wurden, um andere Frachtgüter zu subventionieren, wurden nun mit Lkw, Flugzeugen oder Schleppzügen versandt.

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Da ein monopolistischer Markt für Quersubventionierungen (und andere Formen der Preisdiskriminierung) wesentlich ist, überrascht es nicht, dass quersub­ ventionierte Preise bei der Post, den Versorgungswerken und anderen Unternehmen, die der Staat selbst betreibt oder direkt kontrolliert, an der Tagesordnung sind. Die Quersubventionierung bei der Briefzustellung tritt nicht nur zwischen Briefen erster Klasse und der Werbepost auf. Es gibt sie auch zwischen Kunden, die in großen Städten leben, und jenen, die weit ab vom Schuss wohnen. Das große Briefaufkommen zwischen Chicago und New York sorgt dafür, dass die Kosten pro Brief sehr niedrig sind, während der geringe Umfang an Briefen, die in entlegene Dörfer gehen, die Kosten pro Brief stark anhebt. In einem freien Markt würden die jeweiligen Preise die großen Kostenunterschiede widerspiegeln. In einem staatlichen Markt werden aber alle Kosten zusammengeworfen und zahlen alle Kunden dasselbe Porto, egal, wieviel jeder damit zur Deckung der Kosten beiträgt. Das durch die einheitlichen Preise übermittelte Wissen ist daher eine Verzerrung der wirklichen Kosten, mit denen die Ressourcen gemeint sind, die vom Wirtschaftsbetrieb gebaucht werden, um die Post an ihre Adressaten zu liefern. Da auch die übrigen vom Staat kontrollierten Preise nur verzerrt wiedergeben, was die Versorgung mit Strom, Wasser und sonstigen Dienstleistungen im ländlichen Raum kostet, werden die gesamten Lebenshaltungskosten in abgelegenen Gemeinden und Dörfern all jenen, die ihren Wohnsitz festlegen wollen, falsch ausgewiesen. Die Geschichte des amerikanischen Transportwesens – von den Gemeindebussen über die Straßenbahnen bis hin zu den Eisenbahnen und Fluggesellschaften – ist die Geschichte von staatlichen Quersubventionen. Das städtische und ländliche Transitwesen lag ursprünglich in privater Hand und wurde von einigen wenigen Firmen betrieben, die verschiedene Linien eingerichtet hatten. Die Vergabe von Städtelizenzen – Monopolen – ging in der Regel mit fixen Tarifen einher, ungeachtet der gereisten Entfernung oder notwendigen Umstiege. Fahrgäste, die kurze Wege zurücklegten, subventionierten Reisende, die lange Strecken unterwegs waren. Das hatte neben Umverteilungseffekten auch Allokationseffekte. Es wurden mehr Ressourcen für die Beförderung von Passagieren auf Fernstrecken verwendet, als es der Fall gewesen wäre, wenn man die tatsächlichen Kosten auf die Fernreisenden umgelegt hätte. Auf diese Weise wurden die Vorstädte und Industriegebiete auf Kosten der Stadtbewohner und den Geschäften in deren Nachbarschaft subventioniert. Die Frage ist nicht, welches dieser Arrangements von Wohnen und Arbeiten in einem kategorialen Sinne „besser“ ist als das andere. Der Punkt ist einfach der, dass Quersubventionen falsche ökonomische Information an die Entscheidungsträger übermitteln, die festzulegen haben, wo man leben und arbeiten soll. Die Tatsache, dass diese Subventionen nie im Staatshaushalt auftauchen, lässt die Wählerschaft ohne jegliche Informationen zurück. Dem regionalen Transitwesen ging es wie den meisten Preisdiskriminierenden. Es war anfällig für Konkurrenten, die sich entschließen könnten, ihre Dienste jenen Kunden anzutragen, denen man zu viel berechnet hat. Um das Jahr 1914/1915 herum löste die Massenproduktion in der Automobilbranche einen Anstieg privater

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Bus- und Taxiunternehmen aus, die umgangssprachlich „Jitneys“ genannt wurden – so wie das ein Fünfcentstück, der Nickel, der für eine Fahrt berechnet wurde. „Die Jitneys waren Fahrzeuge, die für einen Wettbewerb im öffentlichen Transportwesen sorgten. Typisch waren das schnelle Ein- und Aussteigen, die rasche Anpassung an die wechselnde Nachfrage und vor allem die ausgezeichnete Anpassung an die Stoßzeiten. Ungefähr 60 % der Jitneymänner fuhren teilzeitweise, viele fuhren ihre Gäste für einen Nickel von zuhause zur Arbeit und zurück. In der Folge gab es in den Städten zu Stoßzeiten ein Kreuz und Quer unzähliger Routen zwischen Arbeit und Wohnung. Die Jitneys wurden in jeder Stadt in Amerika abgeschafft, um die Straßenbahnen zu beschützen und vor allem, um die Quersubventionen in den stadtgebundenen Tarifstrukturen aufrechtzuerhalten. In der Folge stieg die Öffentlichkeit von öffentlichen Fahrzeugen auf private Automobile um.“21

Kurzum, das Quersubventionsverfahren verzerrte nicht nur die Ansiedlung der Wohn- und Industriegebiete, sondern erhöhte zudem künstlich den „Bedarf“ an Privatfahrzeugen, indem es den Markt für die gemeinsame Nutzung von Fahrzeugen gewaltsam unterband bzw. einschränkte. Es ist pure Ironie, dass viele Kommunen Jahre später versucht haben, Modelle der gemeinsamen Fahrzeugnutzung anzuregen, um das Verkehrsaufkommen zu reduzieren. Aber Fahrgemeinschaften ohne Marktmechanismen aufzubauen, erfordert viel mehr Wissen als das, welches der Markt für Jitneys liefert, und übermittelt viel weniger Anreize für zuverlässiges und kooperatives Verhalten. Weil Fahrgemeinschaften Vorabarrangements von bestimmten Kleingruppen darstellen – und kein systematisches Arrangement für alle Autos und sämtliche Fahrgäste –, verschlingen sie enorme Kosten für Sortierung und Etikettierung, um im Einzelnen festzulegen, wer wohin fährt, und herauszufinden, wie verlässlich und pünktlich jede Person der Gruppe ist. Im Gegensatz dazu haben die Jitney-Fahrer ihr Geschäft damit gemacht, Leute aufzusammeln (meistens auf dem eigenen Weg zur Arbeit). Sie hatten Anreiz genug, sie Tag für Tag pünktlich aufzusammeln. Ansonsten wäre ein anderer Jitney-Fahrer ihnen zuvorgekommen. Im Fall von nichtmarktlichen Fahrgemeinschaften wartet eine bestimmte Gruppe von Mitfahrern auf ein bestimmtes Fahrzeug – und bleibt es für andere Autos illegal, ihre Dienste ohne Taxilizenz anzubieten. Unter diesen Voraussetzungen haben Fahrgemeinschaften wenig gegen das Verkehrsaufkommen ausrichten können, und außer viel Zuspruch wenig geerntet. Die Verkehrsüberlastung zu Stoßzeiten, ausgelöst von Tausenden Menschen, die jeder für sich in ihren Autos zur Arbeit fahren, wurde von Sozialkritikern als „irrational“ verunglimpft und mit einer dubiosen psychologischen Anziehungskraft erklärt, die Autos auf Amerikaner ausübten. Die Reaktion ist aber eine vollkommen rationale Antwort auf die übermittelten Anreize und Zwänge. Die Vermittlung der wahren Vorzüge und Nachteile von Fahrgemeinschaften über Preise wird gewalt 21

Hilton (1976), S. 152.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

sam unterdrückt. Nicht nur in diesem Bereich ist die angebliche Irrationalität der Öffentlichkeit nur ein Vorspiel auf die Argumente, mit denen man einer staatlich auferlegten, rationalen „Lösung“ des „Problems“ das Wort reden will. Und ebenfalls nicht nur hier ist es die vom Staat eingesetzte Gewalt, mit der die akkurate, mittels Preisen stattfindende Vermittlung von Wissen unterbunden wird. Mit ihr lassen sich nur suboptimale systemische Resultate erzielen, von denen es heißt, sie seien das absichtliche Ergebnis einer personifizierten irrationalen „Gesellschaft“. Auch private Macht kommt zum Einsatz, um zu verhindern, dass Wissen bezüglich verfügbarer Fahrer über den Preis vermittelt wird. Viele arbeitslose Personen wären perfekt in der Lage, zu fahren, werden aber als Mitbewerber, die entweder als Angestellte oder mit ihrem eigenen Auto einsatzfähig wären, abgewiesen. Die private Gewalt kommt von den Gewerkschaften. Sie wird gelegentlich (wie bewaffnete Überfälle) praktiziert. Auch sonst ist sie nicht nur metaphorisch gegeben – denn beide Seiten kennen die Situation. Wenn ein Arbeitsloser 1X Dollars Arbeitslosengeld erhält, aber für 2X arbeiten würde, dann wird er von seinem Plan abgehalten, sofern der Gewerkschaftslohn bei 3X liegt. Es reicht nicht, dass die Gewerkschaft mit dem Arbeitgeber (Busunternehmen, Taxibetrieb) einen Vertrag über 3X abgeschlossen hat. Der Arbeitslose könnte für 2X auf eigene Kappe oder für eine Firma arbeiten, die nicht gewerkschaftsgebunden ist – aber nur, wenn er nicht durch Gewerkschaftsdrohungen und / oder staatliche Gewalt, die sein Tun für illegal erklären, davon abgehalten würde. Die Gewerkschaften setzen nicht einfach die Löhne für eine Reihe ausgesuchter Berufe fest. Die angesetzte Lohnrate gibt an, wie eine bestimmte Aufgabe ausgeführt wird – soll heißen, wie viele „Aufträge“ erledigt werden. Im Fall des städtischen Transitwesens sorgen die hohen Busfahrerlöhne für Anreize zur Anschaffung großer Busse  – als Ausgleich für das Arbeitskapital beim Transport einer bestimmten Anzahl von Fahrgästen. Ein renommierter Transportökonom hat geschätzt, dass etwa acht Fahrgäste pro Fahrzeug für ein System optimal wären, dem es gestattet ist, die Kosten für Fahrzeug, Fahrer und Straße korrekt in Form des Preises weiterzuleiten22 – also anders als im Fall der üblichen Busse mit 40 bis 45 Fahrgästen. Wenn nur ein Fünftel von ihnen mit dem Bus befördert würden, dann gäbe es fünf Kleinbusse statt einem regulären Bus, fünf Mal so viele Busfahrer und fünf Mal kürzere Wartezeiten. Man könnte weitaus mehr Fahrrouten bedienen (so wie es die Jitneys taten), anstatt zu Stoßzeiten die wenigen Hauptlinien zu verstopfen und die Menschen unnötig weit weg von ihren Fahrzielen aussteigen zu lassen, wie es im Moment der Fall ist. Unter solchen Bedingungen wären die Busse für viele Menschen eine weitaus attraktivere Alternative zu Privatfahrzeugen, als es derzeit der Fall ist. Egal wie desaströs sich die politische Entscheidungsfindung auf das öffent­liche Transportwesen auch auswirken mag, politisch gesehen ist sie keineswegs irratio 22

Hilton (1976), S. 153 f.

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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nal. Dieselben politischen Maßnahmen hat es nämlich in vielen Städten im ganzen Land gegeben und tauchen immer und immer wieder in den nationalen Transportbestimmungen für das Eisenbahnnetz und die Fluglinien auf. Insofern sind sie eindeutig ein beständiger Effekt, der von beständigen Ursachen ausgelöst wird und keinesfalls von so etwas beliebigem wie „Irrationalität“. Ein zentraler Bestandteil der Entscheidungsfindung in diesem Bereich war die Beibehaltung der vorherrschenden Transportinstanzen – was oft die Beibehaltung der vorherrschenden Technologien bedeutete (subventionierte Überalterung).23 Als konkurrierende Verfahren auftraten, leisteten die besagten Transportinstanzen Widerstand gegen das Auslaufenlassen bestehender Verfahrenstechniken. Rivalisierende Verfahrensweisen, die technologische oder organisatorische Vorteile haben, belegt man lieber mit Strafen oder untersagt sie (wie im Fall der Jitneys), um die bestehenden Organisationen und Technologien in Schutz zu nehmen. Das ist noch nicht einmal eine wirtschaftsfreundliche Haltung, sondern eine statusfreundliche Haltung, weil es in Abwesenheit solcher Regulierungen durchaus viel profitablere Branchen (mit neuen Firmen) geben könnte, die zudem der Öffentlichkeit besser dienten. Wirtschaftsfreundlich zu sein, wäre eine ideologische Haltung. Statusfreundlich zu sein, ist eine praktische politische Haltung, weil die Platzhirsche entweder organisiert sind oder sich leichter zu einer effektiven Sonderinteressengruppe formieren lassen. Dieselbe Art der Bevorzugung von Platzhirschen findet man auch im Arbeitssektor – d. h. bei den Gewerkschaften, die sich für die einsetzen, die Arbeitsplätze haben, und zwar auf Kosten der anderen Arbeiter, deren Arbeitsmöglichkeiten geopfert werden. Das Subventionsprogramm des Bundes für den Massenverkehr macht es beispielsweise zur Bedingung, dass die Gewerkschaft jeder größeren Ausgabe24 zustimmen muss. Auf diese Weise stellt man sicher, dass keine Veränderung eingeführt wird, die den fest angestellten Gewerkschaftsmitgliedern schaden könnte. Es liegt nicht am Transportwesen selbst, dass derlei Resultate eintreten. Die regulierte Kommunikationsbranche zeigt die gleichen Muster. Einst gab es dort für den Staat – wie anfangs beim Transportwesen – einen plausiblen Grund, einzuschreiten. Die Lage war nämlich so, dass ein freier Wettbewerb nicht möglich zu sein schien. In der Funk- und Fernsehbranche gibt es vorgegebene technologische Grenzen für die Anzahl der Konkurrenten in einem Wellenbereich, weil die Funksignale einander stören können. Ab einem bestimmten Störaufkommen wird es sinnlos, Sendungen auszustrahlen. In diesem Fall war die staatliche Schaffung von Eigentumsrechten – hier das Recht, andere von der Nutzung derselben Sendefrequenz auszuschließen  – ein gesellschaftlicher Gewinn, und nicht nur ein Gewinn für die Eigentümer der Rundfunkstationen. Aber der Staat ging über die Festlegung eines Eigentumsrechts hinaus und nahm auch die Zuweisung des Rechts vor. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Funktionen 23 24

Hilton (1976), S. 167, 170, 172. Hilton (1976), S. 154.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

ist bei Grundstücken offensichtlich. Für sie gibt es ausgefeilte allgemeine Eigentumsrechte und ein staatliches Katasterwesen, das jedes Grundstück erfasst. Die tatsächliche Zuweisung erfolgt aber allein über Transaktionen am Markt. Die Festlegung der Eigentumsrechte an bestimmten Sendefrequenzen im Rundfunk­sektor lag im Interesse der Allgemeinheit, aber die Macht, diese Rechte bestimmten Individuen und Unternehmen zuzuweisen, lag im Interesse der Politiker. Der von ihnen geschaffene Regulierungsprozess – auf den sie durch Stellenbesetzungen und Mittelzuweisungen weiterhin Einfluss nehmen – schuf enorme Eigentumsrechte, die sie nach Belieben zuteilen konnten. Außer vagen Formulierungen im Sinne des „öffentlichen Interesses“ gab es kaum rechtliche Einschränkungen. Zum Ausgleich waren die Politiker und die von ihnen eingesetzten Beauftragten in der Position, sich Gefälligkeiten erweisen zu lassen, von der einfachen Ehrerbietung25 über Zuwendungen für Wahlkampagnen, Geschenke für Freunde und Wählerschaften bis hin zu lukrativen Stellenangeboten in der regulierten Branche oder unverblümten Bestechungsgeldern. Im Kommunikationssektor wie auch im Transitwesen bedrohten neue technologische Entwicklungen die alteingesessenen Organisationen und altbackenen Technologien. Durch das Kabelfernsehen war es plötzlich möglich, beliebig viele Stationen an einem Ort empfangen zu können, etwas, das der terrestrische Empfang nicht zuließ. Die ganze Struktur der Branche – Netzwerke, Kooperationsunternehmen, Werbepartner – hätte durch die neuen technologischen Möglichkeiten unterwandert und zerstört werden können. Das Gleiche drohte dem Regulierungsapparat, weil er nicht länger benötigt wurde, nachdem die Branche nicht mehr inhärent monopolistisch war. Aber es war wie im Verkehrswesen auch, wo alternative Fortbewegungsmittel (Autos, Flugzeuge) das Eisenbahnmonopol – zu dessen Zweck das ICC gegründet worden war – gebrochen hatten. Auch im Kommunikationssektor war die Antwort auf den verschwundenen Grund für die Regulierung eine Ausdehnung der Regulierung, um es der neuen bedrohlichen Technologie schwerzumachen und sie in Schach zu halten. Angesichts solcher institutionellen Anreize und Zwänge kann es kaum überraschen, dass die Kommunikationsregulierung über Jahrzehnte hinweg von Skandalen erschüttert wurde.26 Was die klar belegten Korruptionsfälle umweht, ist eine fragwürdige Grauzone mit finanziellen Glücksgewinnen für Politiker, einschließlich des Glücksfalls für Lyndon B. Johnson. Gelegentlich sind die politischen Gewinne, die auf dem Rücken der Regulierung erzielt werden, eher indirekt, aber nicht weniger substanziell und auch nicht weniger verzerrend mit Blick auf die Nutzung der Ressourcen in der Branche. So verlaufen z. B. die Routen der vom Bund geförderten Bahnstrecken dort, wo die

25 26

Stigler (1975), S. 19. Siehe z. B. Wilcox (1971), S. 452 f.

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Wahlkreise wichtiger Politiker liegen, und nicht dort, wo die Menschen, die auf die Dienste der Bahn am meisten angewiesen sind, in großer Zahl leben. „Weil der Vorsitzende des Energie- und Handelsausschusses und ein prominentes Mitglied des ICC aus West Virginia kommen, fahren drei Reisezüge am Tag von Osten nach ­Westen durch den Bundesstaat, obwohl die Nachfrage gering ist. Ähnlich ist es in Montana, wo Amtrak auf der früheren Trasse der Linien Great Northern und Northern Pacific zwei Verbindungen anbieten muss, weil die Senatoren aus Montana politisch sehr mächtig sind. Und da Ohios Kongressabgeordnete kein besonderes Interesse an Bahnreisen haben, hat ihr Bundesstaat trotz seiner Bevölkerungsdichte nur eine relativ kleine Anzahl an Reiseverbindungen erhalten. Cleveland stand anfangs gar nicht erst auf dem Plan von Amtrak …“27

Aufgrund ähnlicher politischer Überlegungen hat nun das vom Bund finanzierte Autobahnsystem „viele Meilen nur leicht frequentierter Schnellstraßen zu umfassen, vor allem in den Flächenbundesstaaten, obwohl die Investition in den bevölkerungsreicheren Gegenden der Gesellschaft einen größeren Vorteil beschert hätte.“28 Der Punkt ist auch hier nicht einfach die Widersprüchlichkeit mit Blick auf die wirtschaftliche Optimierung, sondern die vollständige Widerspruchsfreiheit im Hinblick auf die politische Optimierung. Die grundlegendere Frage dürfte wohl die sein, warum man wirtschaftliche Optimierung von jemandem erwarten sollte, der politisch gewählt wurde und unter politischen Anreizen und Zwängen zu handeln hat. Die Erklärung mag in den vagen Personifizierungen der „Gesellschaft“ und in dem, was der Staat in diese Rolle hineinprojiziert, liegen. Quersubventionierung ist in staatlich kontrollierten Unternehmen so tief verwurzelt und so weit verbreitet, dass es einen Schmähbegriff gibt, mit dem man die Störung solcher Maßnahmen schmähen will, die von neuen Firmen ausgeht, die auf dem Markt auftauchen, um denen zu dienen, denen man bis dahin zu viel berechnet hat: „Rosinenpickerei“. Als die Firma United Parcel Service damit begann, ihre Pakete – billiger, schneller und sicherer als die Post – auszuliefern, bezichtigte man sie, die Rosinen rauszupicken, weil sie innerhalb der Stadt und deren Speckgürtel zustellte, statt in den entlegenen Orten, die von der Post versorgt wurden. Ein Privatunternehmen hat keine Anreize, einen Teil ihrer Kunden auf Kosten der übrigen Kundschaft zu subventionieren. Sein Anreiz liegt darin, das Maximum zu geringstmöglichen Kosten herzustellen (wobei die Differenz den Profit ausmacht). Das bedeutet systematisch, dass man aus den vorhandenen Ressourcen das meiste macht und dabei so wenig wie möglich von den alternativen Verwendungsmöglichkeiten der Ressourcen opfert. Ein unkontrollierter Marktwettbewerb für Paketzustellungen hieße nicht, dass man Menschen in entlegeneren Gegenden keine Pakete zustellen würde. Er würde nur bedeuten, dass als Antwort auf die höheren Kosten die Lieferfrequenz niedriger wäre. Wer weit draußen lebte und bei seinem nächsten Einkauf in der Stadt oder auf dem Weg zur Arbeit an einem Postamt oder einer Paketlieferstation vorbei 27 28

Hilton (1976), S. 163. Hilton (1976), S. 147.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

käme, würde dort sein Päckchen abholen, statt die wahren Zustellkosten zu entrichten, die bei einer Lieferung anfielen. Außerdem gäbe es einen inkrementellen Ersatz lokaler Produkte durch Produkte, die versendet würden. Im Gegensatz zum marktinduzierten sparsamen Umgang mit kostspieligen Ressourcen würde ein staatliches Unternehmen, dessen Profiteure (Steuerzahler) nicht die Entscheidun­ gen fällen, den Anreiz haben, Größe und Budget so weit wie möglich durch Aus­ dehnung des „Bedarfs“ ihrer Dienstleistung zu maximieren – auch dann, wenn die zunehmenden inkrementellen Kosten über dem inkrementellen Wert für die Kunden lägen. Angesichts dessen, dass in einem steuerfinanzierten Unternehmen die Anreize zur internen Effektivität fehlen, ist es auch möglich, dass alle, die seinen Dienst in Anspruch nehmen – in entlegenen Gegenden wie auch in großen Städten –, mehr für die staatliche Zustellung der Post zahlen, als sie es täten, wenn das Unternehmen privat geführt würde und den Zwängen, Profit zu machen und Verluste zu vermeiden, unterläge. Flughäfen verkaufen Monopolrechte an Taxiunternehmen, Restaurants, Souvenirläden und andere Konzessionäre und nutzen die Einnahmen zur Subvention der Preise, die sie den Fluglinien für die Landung berechnen. So schätzen Ökonomen, dass die Kosten für eine Landung auf dem Kennedy-Flughafen zu Stoßzeiten etwa 2.000 USD betragen, der Fluglinie aber nur 75 USD berechnet werden.29 Wenn man die wahren Landekosten auf diesem Wege verzerrt, dann heißt das, dass die Fluglinie ihre Entscheidung, auf dem Kennedy-Flughafen zu landen, so trifft, als wären die Landekosten für die Wirtschaft niedriger, als sie es in Wirklichkeit sind. So fliegen Fluglinien oft mehrmals am Tag den Kennedy-Flughafen an, wobei die Plätze in den Maschinen manchmal nur zu einem 1 /5 oder 1 ⁄10 besetzt sind. Hinzu kommen die anderen Fluglinien, die das auch so machen. Netto führt das zum Ergebnis, dass der „Bedarf“ für zusätzliche Einrichtungen am Flugplatz aufgebläht wird – was die Politik auf den Plan ruft, die Flughäfen auszubauen und neue, teure Flugplätze zu bauen. Quersubventionierung schafft so einen „Bedarf“ für mehr Mitarbeiter, Einrichtungen und Mittelzuweisungen – egal, ob das Staatsunternehmen ein Flughafen, ein Postamt oder sonstiges ist. Die objektiven Statistiken, mit denen man den offenkundigen „Bedarf“ an Dienstausweitung belegt – Anzahl der Starts und Landungen pro Stunde, Wartezeiten in der Luft vor dem Anflug usw. – sind vollkommen irreführend. So etwas wie einen objektiven, quantitativen „Bedarf“ gibt es nicht. Wie hoch der „Bedarf“ von etwas ist – das gilt für Flughäfen, Wohnungen und tausend andere Dinge – hängt vom Preis ab, den man verlangt. Auf die gleiche Weise, wie künstlich niedrige Preise im Zuge von Mietpreisbindung bei einer konstant großen Bevölkerung einen zusätzlichen „Bedarf“ für mehr Wohnungen auslösen, sorgen künstlich niedrige Landegebühren dafür, dass der „Bedarf“ an Flügen zur Beförderung der gleichen Anzahl von Fluggästen steigt – mit Flugzeugen, in denen viele Plätze leer bleiben. Wären die Landegebühren 25 Mal so hoch, was den wahren Kosten einer Landung 29

Hilton (1976), S. 149.

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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auf dem Kennedy-Flughafen schon sehr nahekäme, dann würde man weniger Flüge pro Tag haben und die Zahl der genutzten Sitzplätze viel stärker ausgelastet sein. Nur wenige Privatmaschinen mit nur ein oder zwei Fluggästen an Bord würden die kostbaren Landemöglichkeiten der großen Flughäfen nutzen, wenn sie tausende Dollars für die Landung zahlen müssten. So aber wird eine kleine Maschine mit nur einem Piloten an Bord lieber auf einem extrem teuren Flughafen landen und tausenden Menschen, die in der Luft „Warteschlangen“ drehen müssen, Verspätungen verursachen, nur weil der in Rechnung gestellte Preis dem Piloten nicht die Alternativen zur Kenntnis bringt, die er in seine Entscheidung, wo er landen soll, einzubinden hat. Die kommerziellen Fluglinien in den USA fliegen im Schnitt mit halbleeren Sitzen. Das bedeutet, dass man zur Beförderung aller Fluggäste mit den vorhandenen Maschinen nur halb so viele Flüge bräuchte. Eigentlich bräuchte man noch weniger, weil (1) Bummelflieger bei effektiverer Beanspruchung tendenziell kleiner wären und (2) die Flugzeuge von morgen im Schnitt größer gebaut würden, wenn man die Landegebühren zur Deckung der wahren Kosten großer Flughäfen anhöbe. Kleine Privatflugzeuge hätten finanzielle Anreize, kleinere Flugplätze anzufliegen, statt zur Verstopfung großer Flughäfen, die ein großes Aufkommen kommerzieller Fluglinien zu bedienen haben, beizutragen. Kurzum, wenn die Preise die Kosten widerspiegeln würden, dann wäre der „Bedarf“ an Flügen zu den großen Stadtflughäfen kleiner und es gäbe weniger von jenem Lärm, der die Grundstückswerte der Anwohner um Millionen von Dollars senkt, und auch weniger „Bedarf“ dafür, ihr Land zu konfiszieren, um die Flughäfen auszubauen. Die Muster der Übernutzung durch Unterpreisung  – einschließlich der Nullpreise für viele staatliche Leistungen – ist kein Fall von „Irrationalität“. Die Beständigkeit, mit der sie sich bei den unterschiedlichsten Produkten und Dienst­ leistungen (von Flughäfen bis Briefmarken) einstellen, legt einen anderen Grund als willkürliche Launen nahe. Betrachtet man sie vom Standpunkt der Wohlstandmaximierung für die Entscheidungsinstanzen (Flughafenmanagement, Post­ beamte, Führungspersonal der TVA (Tennessee Valley Authority) aus, dann ist sie vollkommen rational. Im Zuge der Unterpreisung kann man immer einen größeren „Bedarf“ als „objektiv“ gegeben nachweisen. Liegt die Preisfestlegung aber beim Markt, der Wissen weitergibt, das zu einer wirtschaftlicheren Nutzung dessen führt, was zum Verkauf steht, dann ist dies nicht möglich. Eine Vorstellung von den Komplikationen, die sich durch die Regulierungsinstanzen, die sich von den Rückmeldungen der betroffenen Bürger abkapseln, ergeben, bietet die Tatsache, dass die Experten, die sich mit der Erforschung dieser Behörden befassen, noch nicht einmal über deren Gesamtzahl einig sind, nur darin, „dass man sie auf über 100 schätzt.“30 Ein den Regulierungskommissionen gegenüber kritisch eingestellter Senator behauptet, dass der „gesunde Menschen 30

Senator Percy (1977), S. S2133.

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verstand“ dort rar sei und charakterisiert die Gremien als „undemokratisch, abgehoben und für alle – abgesehen von einigen Bürokraten und Anwälten – rätselhaft.“31 Derlei Kritik trifft nicht den Kern, denn der ist, dass den Interessen solcher Behörden kaum besser gedient ist als durch die Unverständlichkeit für Außenstehende; derart, dass selbst ein US-Senator, dem ein eigener Mitarbeiterstab zur Verfügung steht, nicht genau herausfinden kann, wie viele Behörden es gibt – ganz zu schweigen davon, dass er seiner legislativen Aufsicht über die behördlichen Aktivitäten nicht wirksam nachkommen kann. Die der Öffentlichkeit jährlich entstehenden Regulierungskosten – gemeint sind die Unwirtschaftlichkeitsauswirkungen und die Verwaltungskosten – wurden vom obersten Rechnungshof der USA mit ca. 60 Milliarden USD veranschlagt32 – das sind 1.000 USD pro Familie. Mag sein, dass die regulatorischen Entscheidungen, die diese Kosten verursachen, den „gesunden Menschenverstand“ in der öffentlichen Politik vermissen lassen, aber derlei Entscheidungen ergeben aus Sicht der Regulierungskommissionen durchaus ihren Sinn – vor allem dann, wenn alteingesessene Sonderinteressengruppen bevorzugt werden. Die hohen Kosten der Behördenaufsicht lohnen sich schon, weil dabei sehr viel auf dem Spiel steht. Erzwungener Ressourcentransfer Außer auf erzwungene Änderungen – Verzerrungen – der Preissignale, die Wissen hinsichtlich der Knappheiten und Gelegenheiten vermitteln, setzt der Staat inzwischen auch auf die Erzwingung direkter Ressourcentransfers. Mit großen Programmen zur „Stadterneuerung“ hat man die Menschen einfach gezwungen, ihre Domizile und Geschäfte aufzugeben, um das Land einzuebnen und etwas Neues an alter Stelle aufzubauen. Ähnliches gilt für den Wehrdienst. Man hat Menschen gewaltsam eingezogen und andere Berufe ausüben lassen. Nicht ganz so dramatisch, aber nicht weniger wichtig, ist die gewaltsame Aneignung von Eigentumsrechten, die der Staat seit Jahren betreibt, ohne Eigentumsrechte an den physikalischen Objekten zu besitzen, die mit diesen Rechten verbunden sind. Wie wir bereits in Kapitel 5 festgestellt haben, ist es dasselbe, ob man 10 % des Grundstückswerts oder 10 % des Grundstücks selbst besitzt. Politisch sieht es aber ganz anders aus. Wenn der Staat sich einen Teil des Grundstückswerts sichert, indem er die Nutzungsoptionen beschränkt, dann hat die Wählerschaft weitaus höhere Erkenntniskosten als in dem Fall, in dem der Staat sich den entsprechenden Wert einverleibt, indem er einen Teil des Landes nach außen sichtbar enteignet. Dasselbe Prinzip kommt zur Anwendung, wenn der Staat die Vertragsklauseln, die zwei Vertragsparteien aus freien Stücken ausgehandelt haben, im Nachhinein ändert; wenn er etwa das sogenannte „Rentenalter“ ändert – gemeint ist das Alter, ab dem die Obligation einer Vertragspartei, die andere Vertragspartei zu beschäftigen, endet. Vermögens 31 32

Senator Percy (1977), S. S2133. Senator Percy (1977), S. S2133.

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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werte, die für andere Zwecke gedacht waren, müssen von Rechts wegen aufgezehrt werden, um ungewollte Leistungen zu erhalten. Auf diese Weise reduziert man den tatsächlichen Wert monetärer Vermögenswerte, indem man ihre Verwendungsoptionen verkleinert. Das Gleiche ist es, wenn man ein Grundstück nur mehr eingeschränkt nutzen kann. Es ist dann weniger wert als ein physikalisch vollkommen gleichwertiges Grundstück, das von Auflagen, Bebauungsvorschriften und entzogenen Bohrrechten verschont bleibt. Mit großen Worten versucht man außenstehenden Dritten zu versichern, dass erzwungene Transfers mehr Vorteile brächten. Aber im Allgemeinen kann man wohl nicht sagen, dass große Worte die beste Art wären, alternative Werte gegeneinander abzuwägen oder dass außenstehende Dritte die besten Richter wären. Wenn, wie im Falle der „Stadterneuerung“, der Abriss eines bestehenden Wohnund Geschäftsviertels zugunsten eines neuen Viertels tatsächlich wertsteigernd wäre, dann würde der große Wert des neuen Viertels die Stadterneuerer (oder deren Finanzunterhändler) in die Lage versetzen, ganz ohne Staatsgewalt das Land von den dort Ansässigen im freien Wettbewerb aufzukaufen (zumal die neuen Nutzer meist viel höhere Einkommen als die alten hätten).33 Freiwillige Land­verkäufe sind so gewöhnlich, dass man Zweifel an einem „Bedarf“ für Gewalt haben darf, wenn die neue Nutzung in der Tat mehr Wert produziert. Eigentlich wird bei Stadterneuerungen zweimal Gewalt eingesetzt – zum einen, um die alten Besitzer zu vertreiben, und zum anderen, um Vermögenswerte des Steuerzahlers zu transferieren, mit denen die neuen Nutzer subventioniert werden. Der Punkt ist hier nicht so sehr die Unerfreulichkeit der Gewaltanwendung selbst, sondern vielmehr deren Implikationen für die Behauptung, der Ressourcentransfer geschähe zum Zwecke einer wertvolleren Nutzung. Die besagte Gegend der „Stadterneuerung“ kann durchaus hinterher viel attraktiver sein, als sie es vorher war – was der Behauptung gesellschaftlichen Zugewinns eine gewisse Plausibilität verschafft. Aber man kann jede Gegend, Aktivität oder Person attraktiver gestalten, wenn man darauf Ressourcen verwendet. Die entscheidende Frage ist, ob die inkrementellen Kosten, die den Zahlern widerfahren, die inkrementellen Vorteile aufwiegen, die den Nutznießern zugutekommen. Wenn Zahler und Nutznießer dieselben sind, wie es bei freiwilligen Markttransaktionen der Fall ist, dann ist es unnötig, dass eine dritte Partei unter Berufung auf die Plausibilität die Entscheidungskosten verursacht – ganz zu schweigen von den höheren Kosten, die sie hätte, um verlässlichere Kenntnisse zu bekommen. Wenn man Gewalt einsetzen muss, um den Transfer umzusetzen, dann übersteigen die inkrementellen Kosten offensichtlich die inkrementellen Vorteile der Änderung, die den direkt involvierten Parteien zuteilwerden. Die „objektiven“ Daten, die zeigen, dass die enteigneten Menschen anderenorts in ein „besseres“ Zuhause umgezogen sind, genießen mehr Plausibilität als Substanz. Das „bessere“ Zuhause war auch schon vorher eine Option – zu einem Preis. Das Auslassen dieser Option weist auf 33

Anderson (1965), S. 67, 220 f.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

eine Güterabwägung hin, bei der diese Option zugunsten anderer Optionen, die den Betroffenen wertvoller erschienen, nicht zum Zuge kam. Wenn man die Einschränkung einer vorhandenen Optionsmenge erzwingt, dann kann das zu einer neuen Ansammlung von Ergebnissen führen – von denen Teile im Vergleich zur alten Ansammlung „besser“ sein können. Die wahre Frage aber ist, welche Ansammlung dem Entscheidungsträger lieber war, als er die Wahl hatte. Allgemeiner formuliert: „Stadterneuerung“ bedeutet sichtbare Vorteile, die auf einer Seite konzentriert auftreten, und Kosten, die über die ganze Nation der Steuerzahler verstreut auftreten. Hinzu kommen die Kosten der Alteingesessenen, die nun in alle Winde verstreut sind. Mit anderen Worten: Die Kosten für das Wissen um die Vorteile sind viel geringer als jene für das Wissen um die Nachteile – selbst, wenn die Nachteile die Vorteile überwiegen. Insofern ist es für die politischen Entscheidungsträger rational, ihre Politik fortzusetzen, auch wenn diese selbst wirtschaftlich und gesellschaftlich irrational ist. Der Einsatz von Wehrdienstpflichtigen mag aus Sicht der Armee auch rational sein, und aus Sicht der Wirtschaft oder Gesellschaft irrational. Es gibt keinen objektiv quantifizierbaren „Bedarf“ an Personalstärke für die Armee, genau so wenig wie für irgendeine andere Organisation. Die Zahl der Soldaten, Zivilangehörigen und Ausrüstungsgegenstände, die man für eine militärische Wirkung braucht, kann bei dem einen Preisgefüge so aussehen, und bei dem anderen Preisgefüge anders; der quantitative „Bedarf“ kann in beiden Fällen sehr unterschiedlich sein. Selbst bei einem Totaleinsatz kämpfen die meisten Soldaten nicht direkt, sondern üben diverse Hilfstätigkeiten aus, von denen viele von Zivilbeschäftigten übernommen werden können, weil sie weit vom Kampfgeschehen entfernt ausgeführt werden. Aus Sicht der Armee als Entscheidungsinstanz ist es rational, einen Chemiker einzuziehen, der den Boden wischt, solange die Kosten für ihn als Wehrdienstpflichtigen niedriger sind als die für eine professionelle Reinigungskraft, die eingestellt werden müsste. Aus Sicht der Gesamtwirtschaft ist es indes eine Verschwendung von Humankapital. Noch einmal: Der Einsatz von Gewalt ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil er unangenehm ist, sondern weil er das effektive Wissen um die Optionen verzerrt. Die Beanspruchung von Sachen oder Personen ist weitaus offensichtlicher als die Beanspruchung nicht greifbarer Güter wie z. B. Eigentumsrechte, aber die Prinzipien und Auswirkungen sind sich ähnlich. Weder das „Eigentum“ noch der Wert des Eigentums ist ein physisches Objekt. Eigentum besteht aus einer Menge von Optionen, von denen einige (beispielsweise das Recht an den Mineralien des Bodens) separat veräußert werden können. Es ist die Menge der Optionen, die einen wirtschaftlichen Wert darstellt – daher können z. B. Änderungen im Baurecht den Marktpreis für ein Grundstück oder Gebäude drastisch steigen oder fallen lassen. Es sind die Optionen, nicht die physischen Objekte selbst, die das „Eigentum“ darstellen – ökonomisch wie rechtlich. Es gibt auch Eigentumsrechte an nicht greifbaren Dingen wie urheberrechtlich geschützte Musik, eingetragene Markennamen,

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Anlegerscheine und Warentermingeschäfte. Ein Vertrag begründet ein Eigentumsrecht am zukünftigen Verhalten einer Person und kann am Markt ge- und verkauft werden. Man denke an Verträge mit Profisportlern oder Konsumkredite. Da aber die Öffentlichkeit Eigentum für etwas Greifbares hält, für physische Objekte, steht dem Staat der politische Weg offen, Eigentum zu konfiszieren, indem er nur die Optionen mit Gewalt an sich zieht, die physischen Objekte aber unangetastet lässt. Eine solche Optionsdezimierung kann den Wert des Eigentums auf null oder gar unter null drücken. Das war bei jenen Appartementhäusern in New York der Fall, deren Eigentümer sie leer stehen ließen, weil sie dieselben weder verkaufen noch verschenken konnten. Die Kombination aus Bauvorschriften und Mietpreiskontrollen ließ ihren Wert unter null sinken. Wenn der Staat die Gebäude konfisziert hätte, wäre der Verlust kleiner gewesen. Im Endeffekt gibt der Hausbesitzer das Gebäude dem Staat, wenn er es verwahrlosen lässt. Eigentlich zahlt er noch drauf, um es los zu werden, weil die Aufgabe ihm zusätzliche Kosten beschert, sollte man ihn als Eigentümer ausfindig machen und nachweisen, dass er – illegal – das Gebäude aufgegeben hat. Wenn die Eigentumsrechte erst gar nicht an ein physisches Objekt gebunden sind, dann sind sie politisch noch angreifbarer. Gesetzgebung und Rechtsprechung können Verträge, in denen künftiges Verhalten festgelegt wird, regelrecht neuschreiben. Getan hat man beides. Man hat Vertragsbedingungen vorab mit Einschränkungen versehen  – Zinsobergrenzen, Mindestlohngesetze, Mietpreisbindung etc. – und bestehende Verträge im Nachhinein nullifiziert, z. B. durch das Gesetz zur „Zwangspensionierung“. Bevor dieses Gesetz verabschiedet wurde, gab es nur wenige Arbeitsverträge – wenn überhaupt –, die jemanden zur Pensionierung verpflichtet hätten. Ungefähr 40 % aller Personen, die das sogenannte Rentenalter erreicht hatten, haben weitergearbeitet. Das sogenannte „Rentenalter“ war einfach nur das Alter, ab dem die eingegangene Verpflichtung des Arbeitgebers, Personen zu beschäftigen, endete. Die vertragliche Obligation war das einzig „Verbind­ liche“ – und genau das wurde vom Staat eigenmächtig geändert. Die kategorischen und spekulativen Festschreibungen seitens Dritter hinsichtlich der Produktivität älterer Personen als Gruppe haben die inkrementellen Beurteilungen ersetzt, die sonst der Arbeitgeber von jedem einzelnen seiner Beschäftigten vorgenommen hat. Wie an anderer Stelle auch, so verändert auch hier die zeitliche Verschiebung eines Vermögenswertes oder einer Obligation nach vorne oder hinten den Wert bzw. die Kosten drastisch. Wenn man das Rentenalter in die eine oder andere Richtung ändert, dann ist das dasselbe wie der erzwungene Transfer von Milliarden Dollars von einer Gruppe zur anderen, weil die Kosten solcher Verpflichtungen (Lebensversicherungen, Zusatzrenten etc.) von der Zeit entscheidend abhängen. Eine der größten finanziellen Verpflichtungen, die willkürlich durch die Änderung des Rentenalters abgewandelt wurde, stellt die vom Staat eingeführte „Sozialversicherung“ dar. Sie erspart ihm Milliarden Dollars, weil seine Auszahlungen an die Rentner aufgeschoben werden, indem man die Arbeitgeber zwingt, dieselben länger zu beschäftigen. Diese Änderungen (massive finanzielle Verpflichtungen

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für die Arbeitgeber durch neue Vorgaben des Staates) wirken nach außen hin so, als wären sie „nur“ eine Änderung im Kalender. Wegen der Erkenntniskosten, die der Wähler hat, um ihre Gesamtwirkung auf die Wirtschaft herauszufinden, sind diese Änderungen politisch abgekapselt.

Das Kontrollieren der Produzenten und Händler Die Kontrolle über die Bedingungsklauseln, die Individuen einander anbieten dürfen, ist nur eine von vielen Methoden wirtschaftlicher Kontrolle. Zu den übrigen Techniken zählen (1) die Kontrolle darüber, wer von bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeiten ausgeschlossen ist und wer nicht, (2) die Festlegungsgewalt jener Merkmale, die Produkte, Hersteller und Käufer haben dürfen, und schließlich (3) eine umfassende „Planung“ der Wirtschaft, mit der man generell die gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten einer Nation kontrollieren kann. Erzwungene Wettbewerbsbeschränkungen Da Preise als Wissensquelle für Entscheidungsträger äußerst wichtig sind, können künstliche Preise, die dieses Wissen verzerren, nur solange bestehen, wie man jene Konkurrenten ausschließt, deren Preise wahres Wissen vermitteln.34 Ein Grund für den erzwungenen Konkurrenzausschluss haben wir bereits erwähnt – „externe“ Effekte, die (wie im Fall interferierender Sendefrequenzen) einen uneingeschränkten Wettbewerb unpraktikabel machen.35 Es gibt auch Branchen, in denen die Produktionskosten zum größten Teil aus festgelegten Kosten zusammengesetzt sind – und noch hohe Fixkosten dazu haben. In der Folge sinken die Kosten pro produzierte Einheit konstant mit jeder Einheit, die nachgefragt wird. In einem 34

Für hohe künstliche Preise ist das offensichtlich, aber auch dann, wenn sie niedrig sind, können sie nur bestehen, falls (1) die preisgebundenen Produkte mit schlechterer Qualität nicht mit besseren Produkten, deren Preise unkontrolliert sind, konkurrieren müssen oder (2) die Subventionen, die zu jenen niedrigen Preisen führen, verdeckt sind oder politisch vor Rückmeldungen seitens der zur Subvention gezwungenen Personen in Schutz genommen werden. 35 In einem gewissen Sinne liegt hier nicht mehr als ein Sonderfall des allgemeinen Prinzips vor, das allen Eigentumsrechten zugrunde liegt. Gemeint ist, dass zwei vollkommen unterschiedliche und voneinander unabhängig betriebene und uneingeschränkte Aktivitäten nicht zur selben Zeit und am selben Ort ausgeführt werden können, ohne zu kollidieren. Deshalb wird einer Partei gestattet, alle anderen auszuschließen, und zwar letzten Endes nicht zu ihrem Vorteil, sondern deshalb, damit überhaupt eine Aktion wirksam stattfinden kann, was letztlich der Gesellschaft zum Vorteil gereicht. Dieses Recht, andere von der Nutzung einer vorhandenen Ressource auszuschließen, ist alles, was es braucht, damit eine Ressource praktisch genutzt werden kann. Ein sozialistisches Land muss dieses Recht genau so rigoros umsetzen wie ein privater Kapitalist, ansonsten kann nichts produziert werden. (Es ist wie bei einem Baseballspiel, das in einer Glasfabrik ausgetragen wird, während dort andere aus Spaß Schießübungen veranstalten.)

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solchen Fall kann ein Produzent den Markt günstiger versorgen als zwei oder drei Produzenten, weil mehr Ertrag weniger Produktionskosten bedeutet. Beispiele für derlei Fälle findet man beispielsweise dort, wo man lange Rohrsysteme braucht, um Wasser, Gas, Elektrizität oder Telefonanschlüsse ins Haus zu bringen. Die Ökonomen sprechen von „natürlichen Monopolen“, weil es mehr kosten würde, wenn in einer Gegend die gleiche Dienstleistung von mehreren Anbietern statt von nur einem bereitgestellt würde. In solchen Fällen ersetzt die staatliche Kontrolle den Wettbewerb als Mittel zur Vermeidung hoher monopolistischer Preise. So sieht der Idealfall in der Wirtschaftstheorie aus. Die Realität ist eine andere. Wenn man erst einmal eine sachliche Begründung für eine Regulierung geschaffen hat, dann folgt die Regulierungsbehörde weder ihr noch den erhofften Resultaten, sondern passt sich den institutionellen Anreizen und Zwängen an, die sich ihr stellen. So geht z. B. die Bandbreite der Regulierung weit über „natürliche Monopole“ hinaus, obwohl sie ursprünglich nur für solche Unternehmen galt. Die Gründe für die Schaffung der Kommunikationskommission des Bundes (Federal Communications Commission, FCC) können ganz und gar nicht erklären, warum die Kommission das Kabelfernsehen kontrollieren sollte. Das „natürliche Monopol“, das die Eisenbahnen im 19. Jahrhundert besaßen, führte zur Errichtung der Interstate Commerce Commission (ICC). Aber als im 20. Jahrhundert Lkw und Busse als Konkurrenten auftauchten, wurde die Regulierung nicht aufgegeben, sondern auf diese ausgeweitet. Flugzeuge waren nie ein „natürliches Monopol“, aber die zivile Luftfahrtaufsicht hat die Politik der übrigen Regulierungsbehörden eins zu eins übernommen. Sie hat die Platzhirsche vor den Neulingen beschützt, so wie das FCC das terrestrische Fernsehen vor dem Kabelfernsehen in Schutz nahm, die ICC die Eisenbahnen vor dem Schwerlastverkehr schützen wollte oder die städtischen Aufsichtsbehörden die bestehenden Buslinien gegen die Jitneys und andere Fahrgemeinschaftsprojekte abschirmten. Eine Koryphäe ihres Fachs fasste die Politik des Taxivermittlung einmal so zusammen: „Obwohl die Nachfrage zwischen 1938 und 1956 um 4.000 % stieg, erlaubte man auf den Hauptlinien nicht einem einzigen Betreiber den Zutritt zum Markt.“36 Im Allgemeinen haben Regulierungsbehörden das Recht, Firmen aus der Branche, für die sie zuständig sind, auszuschließen. Dies ist ein Eigentumsrecht und Milliarden Dollars wert. Die Kommissionsmitglieder dürfen das Recht nicht verkaufen, aber sie können es so handhaben, dass ihr Leben leichter wird oder das Glück einzelner Mitglieder später, wenn sie Angestellte einer der jetzt von ihnen beaufsichtigten Firmen geworden sind, in sichere Bahnen lenkt. Vorzugsbehandlung für Platzkirsche ist die perfekte rationale Haltung angesichts solcher Anreize, aber mit dem öffentlichen Interesse nicht vereinbar. Die rechtliche Vorgabe erfordert nur, dass der Zugang der Unternehmen zum regulierten Markt der Branche den „Bedürfnissen und Annehmlichkeiten“ der Öffentlichkeit dient. Die Regulierungsbehörde legt die Zahl der Unternehmen fest, die „gebraucht“ werden, um 36

Adams (1958), S. 539.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

der Öffentlichkeit zu dienen. Dahinter steckt die Idee, es gäbe quantitative und objektive „Bedürfnisse“, die eine außenstehende Partei festlege – im Unterschied zur ökonomischen Realität, wo die Quantitäten und Qualitäten je nach Kosten nachgefragt werden. Aber der „Bedarf“ für Bahnverkehr wird „physisch und nicht ökonomisch gemessen,“ mit der Folge, dass „neue Konkurrenten solange keinen Marktzugang erhalten, wie es den existierenden Waggons physisch möglich ist, eine bestimmte Dienstleistung zu erfüllen, – Ausnahmen gibt es selbst dann nicht, wenn das Leistungsangebot der Konkurrenten billiger, besser und effizienter ist.“37 Andere Regulierungsbehörden verfahren ähnlich. Da das Recht, in einer regulierten Branche zu arbeiten, ein wertvolles Eigentumsrecht ist, das man buchstäblich kostenlos erhält, übersteigt die Nachfrage der Interessenten das Angebot bei weitem, selbst dann, wenn es nur den Alteingesessenen gestattet ist, zu konkurrieren. Es gereicht der Regulierungsbehörde zum politischen Vorteil, wenn sie so viele Platzhirsche wie möglich befriedigt bzw. bei Laune hält – das heißt, die Rechte so weit und so fein wie möglich verteilt. Demzufolge sind die gesetzlich zugestandenen Rechte, sich im Schwerlastverkehr quer durch die Bundesstaaten zu engagieren, sehr dünn gesät. Oft bekommt man nur die Transportrechte in eine Richtung – „ein Spediteur zwischen dem Nordwesten am Pazifik und Salt Lake City darf dann Frachtgut ostwärts, aber nicht westwärts transportieren.“38 Auf diese Weise verdoppeln sich die Kosten für den Kunden, der genug Frachtgebühren zahlen muss, damit die Kosten für Hin- und Rückweg des Lkw gedeckt sind. Manchmal schließt das Recht, von A nach B zu liefern, nicht das Recht ein, auf dem Weg Zwischenhalte einzulegen, um dort etwas abzuholen oder abzuliefern. Wiederum werden so die Kosten der Leistung künstlich erhöht, weil man nicht zulässt, dass sich so viele Kunden wie möglich die Kosten teilen können. Die wirtschaftlichen Kosten mögen für das Land enorm sein, politisch gesehen ist es indes sehr sinnvoll, weil so die Patronage so weit wie möglich verteilt wird und so viele Wählerschaften wie möglich abgespeist werden. Weil die Öffentlichkeit im Allgemeinen wenig bis gar nichts über Regulierungsbehörden weiß, ist das, was sie will, keine politisch relevante Größe. Ungeachtet der Moralität oder Absicht, die eine Regulierungskommission im Einzelnen antreiben mag, erwirken die systemischen Faktoren bestimmte Ergebnisse. Erstens, sie führen eine riesige Kluft zwischen den jeweiligen Erkenntniskosten herbei, welche die Öffentlichkeit und die Sonderinteressengruppen pro Nutzeneinheit haben. Zweitens, die Kommissionsmitglieder werden ernannt statt gewählt. So vermeidet man, dass einer der politischen Gegenkandidaten einen persönlichen oder organisatorischen Vorteil darin sehen könnte, der Öffentlichkeit von den Missetaten amtierender Kommissionsmitglieder zu berichten. Sowohl der politische als auch der ökonomische Wettbewerb ist eingeschränkt oder ausgeschaltet. Wenn man so viele Wählerschaften wie möglich hofiert, dann schützt man nicht nur die Platzhirsche 37 38

Adams (1958), S. 529. Adams (1958), S. 539.

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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vor künftigen Mitbewerbern, sondern auch hochpreisige (ineffi­ziente) Platzhirsche vor niedrigpreisigen Dienstleistern, die im freien Wettbewerb ihre Preise unterbieten, ihre Kunden wegschnappen und sie selbst in den Konkurs treiben könnten. Statt still und leise beim Insolvenzgericht zu landen, betreten die hochpreisigen Firmen sehr wahrscheinlich die politische Bühne mit viel Getöse, vielleicht sogar mit der Hilfe des Kongresskomitees, das die Macht und die Zuweisungen der zuständigen Regulierungsbehörde kontrolliert. Für die Kommission ist es politisch klug, eine „Versicherung“ gegen solche Probleme abzuschließen – deren Kosten von der Öffentlichkeit getragen werden. Man erzielt dies, indem man ein Preisminimumniveau aufrechterhält, das dem Überleben der hochpreisigen Firmen zuträglich ist. Niedrigpreisige Firmen können indes durch höhere Verkaufszahlen Gewinn erzielen, sind aber daran gehindert, die hochpreisigen Firmen komplett zu zerstören. Kurzum, es ist für jeden etwas dabei. Politisch ist das viel praktischer als der „mörderische“ und „ruinöse“ Wettbewerb, vor dem die Regulierungsbehörden die Firmen stets schützen. Sofern die Öffentlichkeit an den Resultaten des Regulierungsprozesses und deren Kontrolle ein Interesse hat, hat sie es meistens im Hinblick auf die Produkt­ preise oder die Profitrate der Branche. Schon rein definitionsgemäß haben sie nichts, womit sie die Preise vergleichen könnten – es gibt keine Firma, die unregu­ liert dasselbe Gut oder dieselbe Dienstleistung erbringen könnte, jedenfalls meistens nicht. Damit verbleibt ihnen als Kriterium nur die Profitrate der regulierten Firmen. Die Regulierungsbehörde beschwichtigt daher die Öffentlichkeit, indem sie die Profitrate regulierter Firmen zu jener unregulierter Unternehmen „niedrig“ hält. Das ist etwas ganz anderes als das Niedrighalten der Preise. Eine niedrige Profitrate für eine Lkw-Lieferung, die zweimal so viel kostet wie nötig, weil der Lastwagen mangels legaler Autorisierung alternativer Nutzungsweisen leer zurückfahren muss, bedeutet immer noch einen fast doppelt so hohen Preis wie der, den man in einem nicht-regulierten Markt zahlen würde. Die Flugtarife dürften auch das Doppelte von dem betragen, was sie ohne Regulierung kosten würden, weil die Flugzeuge im regulierten Markt regelmäßig halbleer sind. Was die Flugtarife betrifft, so kann man Vergleiche anstellen, weil große Bundesstaaten wie Texas und Kalifornien ausschließlich innerstaatliche Fluggesellschaften kennen und somit die Regulierung des Bundes umgehen. Pacific Southwest Airlines fliegt z. B. zwischen Los Angeles und San Francisco zu weit günstigeren Tarifen – und mit höheren Gewinnen – als die von der Bundesregierung regulierten Fluglinien zwischen Washington und Boston, die gleichweit voneinander entfernt liegen.39 Sie fliegen einfach mit mehr Plätzen, die belegt sind,40 u. a. deshalb, weil es keine Aufsichtsbehörde gibt, die sie davon abhalten könnte, niedrige Tarife zu berechnen. Um es in den Worten einiger Ökonomen zu sagen, welche die Preise von Fluglinien untersucht haben: die „erheblichen Zugewinne im innerstaatlichen Flugverkehr 39 40

Simat / Helliesen / Eichner (1977), S. 42 ff. Simat / Helliesen / Eichner (1977), S. 44.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

haben die niedrigeren Gewinne, die pro Kopf erzielt wurden, wettgemacht …“ 41 Wenig Lorbeer und viel Umsatz ist das Erfolgsrezept vieler gutgehender Unternehmen, egal, in welcher Branche. Trotz des „öffentlichen Interesses“, das in den Regulierungsgesetzen und -vorschriften so gern beschworen wird, gibt es keinen institutionellen Mechanismus, mit dem man die Kommissionen zwingen, verleiten oder gar belohnen könnte, damit sie die Kosten und Nutzen für die Öffentlichkeit abwägen, wenn sie ihre Entscheidungen treffen. Vor allem gibt es keine Anreize, die Kosten niedrig zu halten – und die Kosten haben einen weitaus höheren Anteil an den Preisen der meisten Güter als der Profit. Eine kleine Ineffizienz kann den Preis eines Gutes sehr viel leichter in die Höhe treiben als die Verdopplung des Profits. Die durchschnittliche Profitrate in den USA liegt bei 10 %. Liegt sie bei 20 %, dann gilt sie als enorm. Wenn aber Firma A nur 10 % höhere Kosten als Firma B hätte, dann würde ihr Preis genauso steigen, wie er es täte, wenn sie ihren Profit verdoppelte. Das politische Sichtbarmachen der Profitraten führt dazu, dass man sehr viel Zeit, Energie und Streit in die Regulierung steckt, um festzulegen, ob eine „vernünftige“ Profitrate bei 6, 7 oder 8 % liegen sollte. Die Unterschiede sind für den durchschnittlichen Verbraucher oft unbedeutend, umgerechnet in Dollars und Cents. Weitaus weniger Aufhebens wird um das Thema gemacht, ob die Produktionskosten nicht eventuell höher als nötig sind – dabei haben die Produktionskosten einen viel größeren Einfluss auf die Preise. Dieser Umstand ist teilweise den Grenzen geschuldet, die Gesetzgeber und gesunder Menschenverstand einer Regulierungsbehörde setzen und ihr sagen, wie weit sie in die Geschäftsführung einer Firma eingreifen darf. Regulierte Unternehmen, deren finanzielle Profitrate explizit begrenzt ist, haben alle Anreize der Welt, die Kosten steigen zu lassen und sich allerlei Vorteile nichtpekuniärer Art gefallen zu lassen, wie z. B. Nebenleistungen (vor allem für die Geschäftsleitung), eine entspanntere (ineffizientere)  Geschäftsführung, weniger Innovationstätigkeit (und dadurch weniger Kopfschmerzen), weniger Unangenehmes (wie das Entlassen von Menschen oder Anheuern von Partnern, die mit ihrer Art, Rasse oder ihrem Geschlecht anecken).42 Außerdem: je mehr Kosten dieser Art ein reguliertes Unternehmen akkumulieren kann – und von der Regulierungsbehörde als berechtigt absegnen lassen kann –, desto größer ihr Gesamtprofit bei einer gegebenen Profitrate.43 Kurzum, für regulierte Firmen gibt es kaum Anreize zur Minimierung der Kosten, aber viele, sie steigen zu lassen, vor allem dann, wenn dies dazu führt, dass das Leben der Geschäftsführung leichter wird. So lohnt z. B. in regulierten Branchen der Widerstand gegen hohe Lohn­forderungen der Gewerkschaften (und das Riskieren von Streiks) weit weniger als in nicht-regulierten Branchen, weil die Lohnsteigerungen Teil der Kosten werden, zu denen die Regulierungsbehörde den Preis festlegt. Die Eisenbahnarbeiter und die Beschäftigten 41

Simat / Helliesen / Eichner (1977), S. 44. Alchian / Kessel (1962).  43 Averich / Johnson (1962). 42

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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bei den städtischen Verkehrsbetrieben zählen zu den bestbezahlten Angestellten im Land, und das trotz der in beiden Branchen herrschenden desolaten Zustände und der regelmäßigen Zuwendungen an Steuermitteln, die beide Branchen einfordern. Viele der extremen Beispiele für unnötige Beschäftigungsmaßnahmen – Arbeitsplatzerhaltung – findet man in den regulierten Branchen. Zu den finanziellen Aderlässen im amerikanischen Eisenbahnwesen zählen Doppelbesetzungen. Die eine Rotte ist für den Zug auf der Strecke verantwortlich, die andere für den Zug, sobald er in den Betriebshof rollt. Bekannt ist auch die Beibehaltung von Kohleschauflern oder „Heizern“, obwohl die Dampflokomotiven ihren Betrieb längst eingestellt hatten, oder Gesetze und Praktiken, die dafür sorgen sollen, dass immer eine vollständige Mannschaft im Einsatz ist. Die Eisenbahn ist finanziell nicht mehr in der Lage, ihre Gleise in Ordnung zu halten und den unterjährigen Entgleisungen vorzubeugen oder den Austritt von giftigen und tödlichen Chemikalien bei derlei Unfällen zu verhindern. Gleichwohl kamen die Geschäftsleitungen der finanziell gebeutelten Gesellschaften in den Genuss von Sonderzahlungen, von denen manche rechtlich fraglich waren. Dergleichen mit individuellen Absichten – „Gier“ – zu erklären, verkennt die zentrale systemische Frage: Warum kann die Gier auf Seiten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in dieser Branche um so vieles besser befriedigt werden als in anderen Gewerben? Die Anreize und Zwänge, welche die Regulierung im Vergleich zum Wettbewerb bereithält, bilden einen wichtigen Teil der Antwort auf diese Frage. Die Regulierung sprießt nicht nur, weil immer mehr Regulierungsbehörden geschaffen werden, um zusätzliche Industriezweige zu regulieren, sondern auch weil die vorhandenen Regulierungsbehörden versuchen, Zulieferindustrien zu regulieren, die sich auf den von ihnen kontrollierten Industriezweig auswirken. Die FCC, die sich auch das Kabelfernsehen einverleibt, oder die ICC, die auch für den Schwerlastverkehr zuständig sein will, sind klassische Beispiele für die regulatorische Ausweitung des eigentlichen Mandats auf Dinge, die von der ursprünglichen Begründung des Mandats nicht erfasst werden und auch nie als inkludierbar zur Debatte standen. Die Hartnäckigkeit, mit der Regulierungsbehörden an ihren Aufgaben festhalten, zeigt sich beispielsweise auch darin, wie die ICC darauf reagierte, dass landwirtschaftliche Produkte nicht in ihre Zuständigkeit fielen. Sie entschied einfach, dass Frachthühner keine landwirtschaftlichen Erzeugnisse, sondern „gefertigte“ Erzeugnisse seien, da man sie gerupft habe. Das Gleiche galt fortan für Nüsse, deren Hülsen man entfernt hatte, oder für Gemüse, das eingefroren war.44 Man kann den Wettbewerb auch auf andere Weise beschränken als mithilfe gesetzlicher Auflagen, die Neuzugängen auferlegt werden, nämlich in Form von Subventionskontrollen in jenen Branchen, in denen aufgrund der Preisstruktur die Subventionierung der Unternehmen überlebenswichtig ist. So hat z. B. die amerikanische Handelsschifffahrt derart hohe Löhne und ineffiziente Gewerkschafts­ regeln, dass die betroffenen Firmen ohne massive staatliche Förderung nicht über 44

Adams (1958), S. 537. Diese Bestimmungen wurden später von einem Gericht kassiert.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

leben könnten. Firmen, denen die Subventionen nicht gewährt werden, können mit den anderen, die sie erhalten, nicht mithalten, weil sie ihren Kunden viel mehr berechnen müssen als ihre subventionierte Konkurrenz. Die Bundeschifffahrtskommission (FMC, Federal Maritime Commission) legt fest, wer auf welchen Handelswegen wieviel Förderung erhält. Sie entscheidet dies danach, wie „wesentlich“ oder „notwendig“ diese Handelswege ihrer Natur nach sind.45 Sowohl die Schifffahrtsindustrie als auch deren Gewerkschaften sind wichtige Förderer der beiden großen politischen Parteien. Das sichert den Fortbestand solcher Arrangements, ungeachtet des jeweiligen Ausgangs der Wahlen. Nicht alle staatlichen Wettbewerbsschranken treten in Gestalt der klassischen Regulierung auf, die man von den öffentlichen Versorgungsunternehmen her kennt. Es gibt auch sehr viele Regulierungen in einzelnen Märkten, wie z. B. für landwirtschaftliche und milchverarbeitende Produkte, deren Begründungen gar nichts mit „natürlichen Monopolen“ oder Konsumentenschutz zu tun haben. Die Beschränkungen werden meist in Gestalt von Preiserhöhungen sichtbar, und in vielen Fällen ist es ziemlich offensichtlich, dass dies auch so beabsichtigt war. Manchmal gehen die staatlichen Interventionen auch über die allgemeinen Preisfestsetzungen hinaus. Dann wird z. B. der Milchpreis unterschiedlich festgelegt – je nachdem, für welchen Zweck die Milch verarbeitet wird. Die Konditionen, nach denen Joghurt, Käse oder Eiskreme gehandelt werden, dürfen nicht durch den Preis kommuniziert werden, der sich der Nachfrage oder den technologischen Veränderungen anpasst. Sie werden stattdessen politisch festgelegt und verzerren daher das Wissen hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit bestehender Alternativen. Gesetze zu Berufslizenzen sind eine weitere und gänzlich anders geartete Form ökonomischer Regulierung. Gleichwohl zeigen sie viele politische Merkmale, die sie mit den Kommissionen teilen, die den Sektor öffentlicher Versorgungsunternehmen oder den des Schwerlastverkehrs regulieren. Zunächst wäre da die enorme Ausrichtung an den Platzhirschen. Von den steigenden Qualifikationsstandards in den lizensierten Berufsfeldern werden diejenigen, die ihre Tätigkeit schon länger ausüben, fast ausnahmslos ausgenommen. Dadurch ist diesen möglich, zunehmend von der künstlichen Knappheit zu profitieren, ohne zu den Kosten beizutragen, die sie den Neuankömmlingen in Form längerer Ausbildung, strengerer Abschlussprüfungen und längerer Lehrzeiten zumuten.46 Zu nennen wäre auch, dass die Preise für die beruflichen Dienstleistungen künstlich erhöht werden und es entweder verboten ist, sie zu unterschreiten (Taxitarife), oder unwirtschaftlich, weil der Berufsstand keine Werbung mit Preisen zulässt (Anwälte, Ärzte, Optiker). Obwohl das „öffentliche Interesse“ ein bekanntes rhetorisches Element in der Gesetzgebung und öffentlichen Darstellung von Zulassungsberufen ist, kommt der Impetus zur Lizensierung historisch gesehen fast ausschließlich von Berufserfahrenen und nicht

45 46

Adams (1958), S. 541. Rottenberg (1962), S. 11 f.

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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von der Öffentlichkeit. Die Quantität der Berufsneulinge wird durch diverse Restriktionsmittel fast überall verringert, was im Endeffekt zu höheren Preisen führt. Eine gewisse Vorstellung von der Größe des Effekts, den die Berufslizensierung hat, gewinnt man mithilfe der Preise, zu denen Berufslizenzen am Markt gehandelt werden. In vielen amerikanischen Großstädten kostet ein Taxilizenz mehrere Tausend Dollars – in New York City sogar 50.000 USD.47 Wenn Berufslizenzen nicht übertragbar sind, wie es z. B. in der Medizin der Fall ist, dann kann man den Effekt der restriktiven Praktik am Einkommen ablesen. Das Einkommen der Ärzte war in den 30er Jahren niedriger als das der Anwälte, ist aber inzwischen auf das Doppelte dessen, was Anwälte verdienen, angestiegen, und zwar in Folge der restriktiven Praktik der amerikanischen Ärztevereinigung. Der Verband besitzt weitaus mehr Kontrolle über die Zulassung an medizinischen Hochschulen und über die Anstellung von Fachpersonal in Krankenhäusern, als es die amerikanische Anwaltskammer entsprechend für ihren Teil tut. Ein anderer Bereich, in dem der Staat den Wettbewerb beschränkt, ist dort anzutreffen, wo die Nutzung von Land gesetzlich geregelt ist. Das gilt auch für die Nutzung von Gemeindeflächen oder Erholungsgebieten in Wildreservaten. Wenn man die Nutzung natürlicher Landstriche nur gegen Auflagen gestattet, dann schreckt das viele Nutzer ab – vor allem Mittelsmänner („Bauentwickler“), die Wohnraum an Menschen aus der Arbeiterschicht verkaufen bzw. vermieten. Politisch ist es undenkbar, dass man offen eingesteht, die Staatsgewalt werde eingesetzt, um die Armen auszugrenzen. Und so spricht man lieber vage und hochtrabend in Bildern, in denen nicht Menschen, sondern unpersönliche Größen auftauchen, wie „wertvoller öffentlicher Raum“,48 „gefährdete Region“.49 Solche Größen dominieren in der Diskussion um die Notwendigkeit, „die Umwelt zu schützen“;50 zu schützen mit einer „vernünftigen und flächendeckenden“51 Ansammlung von Landstrichen durch den politischen Prozess. Die schichtabhängigen Tendenzen zeigen sich in vielen Dingen. (1) Wer zur oberen Schicht (Geschäftsführer, Ärzte, Ingenieure, Akademiker) gehört und Mitglied des Naturschutzbundes Sierra Club ist, der geht „umweltpolitisch“ aktiv52 voran. (2) Die Arbeiterschicht wehrt sich gegen die Umweltzonen, während die Oberschicht dafür stimmt.53 (3) Teure „Anforderungen“ an den Hausbau haben nichts mit der „Umwelt“ oder der „Ökologie“ zu tun, sondern sehr viel damit, die Armen mittels Preis aus dem Markt zu drängen.54 (4) Dass die günstige und kurzfristige Nutzung der Naherholungsgebiete nur begrenzt möglich ist und ausgedehnte Nutzungen bevorzugt werden, dient hauptsäch 47

Williams (1978), S. 22. Udall (1975), S. 59. 49 Udall (1975), S. 65. 50 Udall (1975), S. 70. 51 Udall (1975), S. 74. 52 Chickering (1975). 53 Siegan (1975a), 160 f. 54 Bobo (1975), S. 95. 48

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2. Teil: Themen und Tendenzen

lich denen, die viel Freizeit haben.55 Ein Forscher, der sich mit der sogenannten „Umweltkontroverse“ befasst hat, stellte fest, dass es „einen hässlichen Anflug von engen Klasseninteressen bei Fragen zur freien Natur“ gebe, sowie einen „Versuch der Wohlhabenden, den Pöbel auszugrenzen.“ Zudem unternähmen jene, die „ihre Feriendomizile in verschwiegenen Seeregionen“ haben, einiges gegen den „Trend, die Massen dort mit Lebensmitteln zu versorgen.“56 Die Verteidigung von Klassenprivilegien im Namen des öffentlichen Interesses hat andauernd Alarm und irreführende Statistiken ausgelöst. So hat man z. B. ein Bild zunehmender und sich verschärfender Urbanisierung gezeichnet, indem man jede Ortschaft, die mehr als 2.500 Einwohner zählte, der Zensusdefinition folgend „städtisch“ nannte. Mit dieser Technik zauberte man eine „Megalopolis“ aus dem Hut, die sich „vom südlichen New Hampshire bis zum Norden Virginias und von der Atlantikküste bis zum Fuße der Appalachen“ hinzog.57 In Wirklichkeit aber liegt die durchschnittliche Bebauungsdichte bei einem Haus pro 50.000 qm. 87 % der Menschen der angeblichen „Megalopolis“ wohnen in dichtbesiedelten Gegenden. Man denkt an New York und die anderen Ostküstenstädte. Ansonsten prägen nicht Beton, sondern grüne Landschaften die Region.58 Die Befürworter eines strengeren Bebauungsrechts schüren gern Ängste vor Fabriken und Tankstellen in Wohngegenden. Aber in Städten, in denen es dergleichen nicht gibt – vor allem in Houston –, finden all diese schlimmen Dinge nicht statt. Die Wohngegenden der Mittelschicht sehen dort aus wie ihre Pendants in anderen Städten. Dort, wo die weniger Wohlhabenden leben, gibt es hier und da Reparaturwerkstätten und andere lokale Annehmlichkeiten. Und genau dort, wo es Autowerkstätten gibt, werden die Bebauungsvorschriften von den Wählern überwiegend abgelehnt.59 Die Güterabwägung zwischen Annehmlichkeit und Ästhetik ist offenbar bei Menschen mit weniger Geld und älteren Autos eine andere. Betrachtet man die Dinge einmal anders, dann erlaubt ein schärferes Baurecht einigen Menschen, ihren Wertekanon und Lebensstil anderen aufzunötigen, die derlei Werte nicht teilen oder sich diesen Lebensstil nicht leisten können. Kartellrecht Sowohl private Parteien als auch der Staat können einen Markt kontrollieren. Das Kartellrecht strebt im Allgemeinen danach, Monopole und ähnliche Marktverzerrungen zu verhindern. Aber die wichtigsten Kartellrechtsbestimmungen sind zu den unterschiedlichsten Zeiten festgelegt worden und geben verschiedene Vorstellungen und sich überschneidende Ziele wieder. Der Sherman Antitrust Act von 1890 ist das wichtigste und älteste der Bundesstatuten und sieht härteste Strafen 55

Bruce-Briggs (1975), S. 9. Bruce-Briggs (1975), S. 9. 57 Gottman (1962), S. 3. 58 Bruce-Briggs (1975), S. 13. 59 Siegan (1975b), S. 38. 56

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vor, die bei Zivilklagen schon mal Millionen Dollars erreichen und die Auflösung der Firma zur Folge haben können und / oder Gefängnisstrafen für die Geschäftsleitung bedeuten können. Der Sherman Antitrust Act verbietet jedem, zu „monopolisieren oder den Versuch zur Monopolisierung“ zu unternehmen bzw. sich für „Handelsbeschränkungen“ einzusetzen. Der Clayton Act von 1914 untersagt bestimmte Aktionen, die mit monopolistischem Verhalten einhergehen, z. B. Preisdiskriminierungen. Und der Federal Trade Commission Act, der im selben Jahr verabschiedet wurde, setzte eine Organisation ein, die eine Reihe von unerwünschten „unlauteren“ Wettbewerbspraktiken im Blick halten bzw. untersagen sollte. Der mysteriöseste und umstrittenste Kartellrechtsbeschluss ist der Robinson-PatmanAct von 1936, der vordergründig das Verbot der Preisdiskriminierung seitens des Clayton Acts stärken sollte, in der Praxis jedoch Rechtsrisiken und -unsicherheiten für Firmen bedeutet, die sich in einem turbulenten Preiswettbewerb befinden. Der 1950 beschlossene Celler Zusatz zum Clayton Act schuf neue rechtliche Hürden für fusionswillige Unternehmen. Das rechtliche Problem, all diese sich überschneidenden Statuten unter einen Hut zu bringen, wird durch die sich kreuzenden Jurisdiktionen erschwert, die in Kartellrechtsfragen beim Justizministerium und bei der Bundeshandelskommission liegen. Erschwerend hinzu kommt auch, dass einige Wirtschaftsakteure – unter anderem die regulierten öffentlichen Versorgungsunternehmen und die Gewerkschaften – von den kartellrechtlichen Bestimmungen ganz oder teilweise ausgenommen sind. Darüber hinaus lassen die vagen Formulierungen des Kartellrechts sehr viel Raum für juristische und verwaltungstechnische Auslegungen. Das hat führende Wirtschafts- und Rechtsgelehrte zur Auffassung geführt, dass das Kartellrecht zum Gegenteil dessen, was mit ihm beabsichtigt war, geführt hat.60 Zu den zentralen Themen der Kartellgesetze gehören Marktstrukturen, Preisfestsetzungen und Preisdiskriminierungen. Ein Monopol würde die Kosten nicht korrekt durch seine Preise vermitteln, weil die Preise auf ein Niveau gehoben würden, das sich im Wettbewerb nicht hielte. Im Wettbewerb befindliche Unternehmen legen ihre Preise so fest, dass diese die Herstellungskosten widerspiegeln. Andernfalls laufen sie Gefahr, dass die Verkaufszahlen ihrer hochpreisigen Produkte fallen, wenn Mitbewerber dasselbe Produkt günstiger anbieten. Nicht Gier oder Altruismus erklären die Preisunterschiede, sondern die systemischen Unterschiede zwischen kompetitiven und nicht-kompetitiven Märkten. Preisdiskriminierung ist sowohl ein Symptom für einen nicht-kompetitiven Markt als auch eine Verzerrung des wirtschaftlichen Wissens, weil den Nutzern unterschiedliche Informationen hinsichtlich der relativen Knappheit eines unverändert bleibenden Produkts vermittelt werden. Das führt dazu, dass Nutzer unterschiedlich wirtschaften – und mindestens einer von ihnen falsch.

60

Bork / Bowman (1965), Rowe (1964), Posner (1976).

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Die gesellschaftliche Wirksamkeit von Kartellgesetzen hängt – ähnlich wie jene, die auch allen anderen Formen der Kontrolle durch dritte Parteien eigen ist – von der nachträglichen Darstellung der objektiv beobachtbaren Eigenschaften ab. Entweder spiegelt sie den Entscheidungsprozess, der sich den betroffenen Parteien vor der Entscheidung darbot, wider oder nicht. In Kartellrechtsfällen steht in der Regel niemand mit einem rauchenden Pistolenlauf über der Leiche. Objektive statistische Daten gibt es zuhauf. Wie man sie interpretiert, hängt indes von den Definitionen und Theorien ab, aus denen man die Natur des prospektiven Prozesses ableitet, der die jeweils im Nachhinein gewonnenen Zahlen zurückgelassen hat. Wenn man z. B. ein Produkt definiert, dann wirken die daraus entstehenden Verwicklungen wie ein Fass ohne Boden. Zellofan ist entweder ein Monopol – sofern man damit nur Produkte mit dem geschützten Namen meint, den von Rechts wegen nur DuPont verwenden darf – oder kennt zahlreiche Surrogatprodukte, deren Zahl davon abhängt, wie vielen anderen Herstellern transparenter und dehnbarer Verpackungsfolien man unterstellt, ein vergleichbares Produkt anzubieten. Manche grenzen Transparenz und Flexibilität so ab, dass sie Zellofan mangels hinreichender Ersatzprodukte für monopolistisch erklären. Folgt man anderen Definitionen, dann bietet sich Zellofan mit unzähligen Substituten einen intensiven Marktwettbewerb. Die Diskussionen im Anschluss an die Entscheidung des Obersten Gerichts, ob Zellofan ein „Monopol“ bilde oder nicht, legt nahe, dass es andere Definitionen gab, die einige (wenn auch nicht alle) Rechts- und Wirtschaftsexperten vorgezogen haben. Entscheidend ist hier allein, dass es keinen objektiven und zwingenden Grund dafür gibt, entweder die eine oder die andere Definition vorzuziehen. Und dennoch hängt die ganze Angelegenheit letztlich davon ab, welche Definition man wählt. Für kompliziertere Produkte gibt es oft zahlreiche Abwandlungen desselben Gutes. Davon, welche dieser Varianten als „dasselbe“ Produkt in einen Topf geworfen werden, hängt ab, wie der jeweils definierte Markt aussieht und welchen Anteil der Hersteller an ihm hat. Smith-Corona hat z. B. einen kleineren Marktanteil an sämtlichen amerikanischen Schreibmaschinen als an elektrischen Schreibmaschinen, die in den USA verkauft werden, oder an tragbaren Schreibmaschinen, die in Amerika hergestellt werden. Die Importrate mancher Produkte ist so hoch, dass der Marktanteil amerikanischer Hersteller wirtschaftlich kaum ins Gewicht fällt. Jeder amerikanische Hersteller einer einäugigen Spiegelreflexkamera wäre definitionsgemäß automatisch ein Monopolist, weil derlei Kameras ausschließlich importiert werden. Aber das rein definitorische Monopol hat angesichts Dutzender Konkurrenten aus dem Ausland keine Auswirkung auf das ökonomische Verhalten. Hier geht es nicht um eine technische Besonderheit des Kartellrechts, sondern um die viel weiter reichende Frage hinsichtlich der Nutzung von Wissen und der Rolle, die der Darstellung dabei zufällt. Das Grundproblem der Produktdefinitionen liegt darin, dass die Ersetzbarkeit letztlich subjektiv und prospektiv ist, während die Versuche, sie zu definieren, objektiv und retrospektiv sein müssen. Selbst dort, wo ein Produkt scheinbar eindeutig in einem einfachen Sinn definiert werden kann – denken wir z. B. an eine Mandarine –, kann man immer noch

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die Frage nach der wirtschaftlichen Bedeutung einer solchen Definition stellen. Wenn ein weltweites Kartell die Kontrolle über jede Mandarine auf Erden hätte, dann könnte es immer noch nicht den Preis für das Monopolprodukt verdoppeln, ohne auf Millionen unverkäuflicher Mandarinen sitzen zu bleiben, die in den Kaufhäusern verrotten würden, weil die Konsumenten auf Orangen, Tangelos und ähnliche Früchte ausweichen würden. Kurz und gut, selbst dort, wo die physikalische Grenzziehung eines Produkts offensichtlich und unstrittig erscheint, ist die ökonomische Grenzziehung schwer oder gar unmöglich. Das Ausmaß, in dem der Preis eines Produkts den Verkauf anderer Produkte beeinflusst, ist es, was wirtschaftlich von Bedeutung ist. Was die praktische Seite angeht, so kann ein Verkäufer im Rahmen eines anhaltenden Prozesses von Versuch und Irrtum ein nicht artikulierbares „Gespür“ für dergleichen entwickeln. Doch das ist etwas ganz anderes als das, was außenstehende Beobachter tun, die jene retrospektive Statistiken erstellen, die den Gerichten objektiv unwiderlegbare Resultate liefern sollen. Die Messzeiträume, in denen die Beobachter Daten erheben, können z. B. viel länger sein als die durchgehende Zeitspanne, in denen die Transakteure ihre Erfahrungen sammeln. Dadurch repräsentieren die Beobachtungsdaten sehr wahrscheinlich eine Verschmelzung höchst unterschiedlicher Preis- und Verkaufsfluktuationen, die während der untersuchten Zeitspanne aufgetreten sind. Im Mittelpunkt der Diskussionen um die systemischen Monopolauswirkungen stehen meistens die Absichten bzw. das Verhalten der Monopolisten, vor allem dann, wenn es um den Ausschluss von solchen Konkurrenten geht, die ihren Kunden andere Konditionen anbieten würden. Der Ausschluss der Konkurrenz ist natürlich das entscheidende Merkmal des Monopols. Insofern scheint der explizite Hinweis auf dasselbe unnötig zu sein. Dennoch ist ein wirkliches Monopol äußerst selten, es sei denn, der Staat schließt aus. In der Praxis gibt es Kartellrechtsklagen, die eine „Monopolisierung“ monieren, Zusammenschlüsse verhindern oder bestehende Unternehmen entflechten wollen, meistens in Branchen, in denen es nicht einen, sondern einige Anbieter gibt, die den Löwenanteil des Branchenausstoßes halten. Es handelt sich dabei um eine fragwürdige Gleichsetzung bzw. Ausweitung der Situation, in der ein Anbieter (Monopolist) den gesamten Ertrag der Branche herstellt, mit bzw. auf jene, in der einige wenige Anbieter nahezu den gesamten Branchenausstoß stellen – wobei man stillschweigend unterstellt, die beiden wären einander sehr ähnlich. Aber es ist entscheidend, sich bewusst zu machen, dass der systemische Wirtschaftseffekt nicht davon abhängt, was der oder die Produzenten tun kann respektive können, sondern davon, was diese tun können, um andere vom Handeln abzuhalten. Wenn in einer Branche vier Firmen 80 % des Ertrags produzieren, dann mögen sie wie ein Quasi-Monopol wirken, wenn aber ein Dutzend anderer Firmen die übrigen 20 % herstellen, dann ist dem Monopol der Ausschluss missglückt, und das ist entscheidend. Jede künstliche Anhebung der Preise über Wettbewerbsniveau, welche die vier Firmen heimlich beschlössen, liefe Gefahr, so zu enden, wie es in unserem fiktiven Beispiel dem Mandarinenkartell erging. Die Kunden

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2. Teil: Themen und Tendenzen

würden anfangen, bei den 12 anderen Anbietern einzukaufen. Die rückblickende Statistik, der zufolge vier Unternehmen während einer bestimmten Periode 80 % des Gesamtausstoßes gehalten haben, bedeutet nicht, dass diese Größenordnung festgeschrieben wäre oder künftig so bleiben müsste. Die Kartellrechtsbefürworter haben einen verbalen Coup gelandet, indem sie immer wieder von solchen Prozentzahlen sprechen, als würden bestimmte Firmen den entsprechenden „Marktanteil kontrollieren“ – so, als wäre die Rede vom künftigen Verhalten und nicht von zurückliegenden Zahlen. Um den Menschen exklusive Machtstellungen einzureden oder sie einzuschüchtern, braucht man keine Evidenz. Es reicht, wenn man auf das bewährte Prinzip der Wiederholung vertraut. In der Geschichte kam es immer wieder zu Veränderungen der Marktanteile – manche waren sogar drastisch. In einigen Fällen sind die sogenannten „dominierenden“ Unternehmen völlig von der Bildfläche verschwunden. Das Magazin Life und die Graflex Corporation sind Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit. Früher hat die Graflex Corporation buchstäblich alle Kameras verkauft, die damals in der Pressefotographie eingesetzt wurden. Aber „kontrolliert“ hat sie nichts. Es gab immer viele heimische und ausländische Pressekameras. Fast alle von ihnen verschwanden, zusammen mit Graflex, als man kleine Kameras so sehr verbessert hatte, dass sie die großen Apparate ersetzen konnten. Es mag einiges über den geistigen Zustand der Kartellrechtsdoktrin sagen, wenn man sich anschaut, wie führende Experten in dieser Domäne über sie urteilen, wenn sie über sie als „sekulare Religion“61 sprechen, die mit der „evangelischen Theorie“62 gleichgesetzt werden könne, oder sie einfach nur „wild und verfilzt“63 nennen. Sogar ein Richter des Obersten Gerichtshofs stellte fest, dass in manchen Kartellrechtsfällen, die „einzige Konstante“ die sei, „dass der Staat immer gewinnt.“64 Daher ist es besonders wichtig, die Besonderheiten, die sich hinter den vagen und tendenziösen Begriffen der kartellrechtlichen Doktrin (wie „Kontrolle“, „Preisdumping“, „Marktverdrängung“, „Monopolanbahnung“ usw.) verbergen, beim Namen zu nennen. Offensichtlich gibt es zwei alternative Erklärungen dazu, warum eine oder einige wenige Firmen den Löwenanteil am Produktionsausstoß einer Branche haben. Gemäß der einen Erklärung üben sie auf irgendeine Weise „Kontrolle“ über andere aus – sei es, dass sie potenzielle Konkurrenten auszuschließen oder einzuschüchtern vermögen, indem sie ihnen im Falle eines Preiswettbewerbs finanziellen Ruin androhen. Folgt man der anderen Erklärung, dann arbeiten die Firmen unterschiedlich effektiv – entweder bei der Produktion, Produktqualität, Versandart oder der Geschäftsführung ganz allgemein. Wer behauptet, dass Branchenriesen irgendwie monopolistische Kontrolle repräsentierten, der stellt Unterschiede bei der Produk 61

Bork (1965), S. 401. Dewey (1974), S. 3. 63 Posner (1976), S. 228. 64 United States v. Von’s Grocery Co., 384 U. S. 270 (1965), S. 301. 62

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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tionseffizienz, Produktqualität oder Geschäftsführung in Abrede. So werden z. B. Unterschiede im Geschäftsmanagement in den Analysen einfach ausgeblendet, als ob jede Firma oder Fabrik die „derzeit beste Geschäftspraxis“ in der Produktion65 an den Tag legte oder die „Geschäftsführungskompetenz“ von den Beobachtern als „gleich eingestuft“66 werden könnte. Skaleneffekte werden gelegentlich im engen Sinne als Einsparungen individueller Produktionsanlagen verstanden. Man übersieht dabei Unterschiede, die sich in der Geschäftspolitik von Unternehmen mit verschiedenen Produktionsstandorten dokumentieren können, beispielsweise darin, wie bedacht die Standorte gewählt wurden, um die Lieferkosten der Rohmaterialien und Endprodukte sowie die Kosten für eine effiziente Belegschaft zu minimieren und in einer wirtschafts- und politikfreundlichen Umgebung produzieren zu können, usw. Manchmal werden Einsparungen einfach als vernachlässigbar gering dargestellt. Dann heißt es z. B., dass sie „nur 2,7 %“ der Produktions- und Transportkosten ausmachten.67 Aber angesichts einer durchschnittlichen Profitrate von 10 % kann eine vergleichsweise geringe Differenz bei solchen Kosten den Ausschlag dafür geben, ob die Profitrate den Betrieb am Laufen hält oder so niedrig ist, dass die Anteilseigner weniger erhalten, als ihnen eine sichere Spareinlage einbrächte – was offensichtlich dazu führen würde, dass die Situation dann nicht mehr lange zu halten wäre. Außenstehende Beobachter sind die Letzten, die – wenn es um das Geld anderer Leute geht – erklären könnten, was vernachlässigbar gering ist. Die alternative Hypothese besagt, dass es deshalb in manchen Branchen zu Konzentrationen kommt, weil die Produkte einiger Firmen von den Menschen einfach vorgezogen würden – entweder aufgrund ihrer Qualität, ihres Preises, ihrer Zweckmäßigkeit oder eines sonstigen Attraktivitätsmerkmals. Wenn dem so ist, dann ist die etwas größere Profitabilität in dieser Branche mit ihren wenigen Anbietern nicht deshalb gegeben, weil die Branche insgesamt (aufgrund von Absprachen) profitabler wäre, sondern deshalb, weil bestimmte Unternehmen eine höhere Profitrate erzielen und damit den Schnitt heben. Ökonomisch gesehen macht dies aber den Rest der Branche nicht profitabler, als es unter Wettbewerbsbedingungen der Fall wäre. Die Daten belegen keinen Profitvorteil, den ein Unternehmen einer gegebenen Größe in einer „konzentrierten“ Branche hätte, in einer nicht-konzentrierten Branche hingegen nicht.68 Die Annahme, dass Branchen mit wenigen Anbietern monopolistische Praktiken und Folgen an den Tag legten, krankt daran, dass (1) jede Evidenz fehlt, die unter Juristen oder Ökonomen allgemein als überzeugend anerkannt wäre, (2) willkürliche Definitionen und schwammige Annahmen die vorgelegte Evidenz durchziehen und (3) die Befürworter einer „Entflechtung“ die politische Position vertreten, 65

Scherer (1974), S. 21. Scherer (1974), S. 26. 67 Scherer (1974), S. 31. 68 Demsetz (1973). 66

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2. Teil: Themen und Tendenzen

dass die Beweislast bei den Fürsprechern konzentrierter Industrien liege und sie zu zeigen hätten, dass von diesen keine Gefahr für die Wirtschaft ausgehe.69 Ein großer Teil der juristischen und ökonomischen Analyse jener Branchen, in denen einige wenige Firmen den Großteil des Produktausstoßes herstellen und verkaufen, verweisen auf die mutmaßliche Homogenität des Produkts, die angeblich jegliche rationale Grundlage einer Kundenpräferenz, die dann zu derart ungleichen Marktanteilen führe, ausschließt. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass mit der angeblichen Homogenität gemeint ist, dass es zu jedem be­ reits vorliegenden Produkt brandneue und perfekte Vergleichsprodukte gäbe, die identisch oder gleich wären. Der Unterschied zwischen „gleich“ und „identisch“ kann aber in erhebliche Wissenskosten ausarten. Gleiches gilt für das Ausfindigmachen eines Produkts. Zu den vielen Hinsichten, in denen sich angeblich ähnliche Produkte unterscheiden können, zählen die Langlebigkeit – gemeint ist die Leistungsfähigkeit, die auch dann noch gegeben ist, nachdem das Produkt schon lange nicht mehr brandneu ist –, die Qualitätskontrolle, die etwas darüber sagt, wie hoch der Anteil der fehlerhaften Erstexemplare ist, und die Verfügbarkeit in leicht zugänglichen Verkaufsstellen. In derlei Fällen kann ein sogenanntes „Expertengutachten“ ein äußerst irreführendes Gutachten sein. Schon definitionsgemäß hat der Experte höhere Erkenntniskosten erbracht als der durchschnittliche Konsument. Insofern hat er sowohl gegenwärtig wie auch künftig geringere inkrementelle Erkenntniskosten als der Konsument. Die Tatsache allein, dass er ein Urteil über das Produkt abgeben kann, bedeutet, dass er bereits einen Ort kennt, wo man das Musterexemplar beziehen kann. Dass er es versteht, von „gleichen“ Produkten ähnliche Ergebnisse zu erzielen, bedeutet, dass er genug Wissen von beiden Produkten hat, um sie für gegeneinander austauschbar zu halten. Ein Konsument, der nur eines der Produkte kennt und womöglich erheblichen Kosten entgegensieht, die mit einem Produktwechsel einhergehen, hat dieses Wissen nicht unbedingt. Es gibt genug Beispiele. In dem wohlbekannten Kartellrechtsfall der Firma Clorox, entschied der Oberste Gerichtshof, dass „alle Flüssigbleichmittel identisch sind.“70 Im selben Fall hielt man es aber auch für eine Tatsache, dass „Clorox höchste Qualitätskontrollen durchführt“ und einige andere Marken für Flüssigbleiche sich „in ihrer Leistungsstärke unterscheiden“71 – kein unwichtiger Umstand für Nutzer beim Abwägen dessen, welche Menge reicht und welche ihre Kleidungsstücke ruinieren werden. Es mag durchaus sein, dass es andere Flüssigbleichemarken gibt, die mit Clorox absolut identisch sind, aber das Wissen um diese ist kein kostenloses Gut und die Frage, ob die Ungewissheit einer Abweichung die Preisdifferenz wert ist, ist nicht eine, die ein für alle Mal von allen Drittparteien geklärt würde, da die Konsumenten tag täglich unterschiedliche Marken in den 69

Goldschmidt / Mann / Weston (1974), S. 244f; siehe auch Posner (1976), S. 89. Federal Trade Commission v. Procter & Gamble Co., 386 U. S. 568 (1967), S. 572. 71 Federal Trade Commission v. Procter & Gamble Co., 386 U. S. 568 (1967), S. 603 f. 70

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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Regalen des Supermarkts vorfinden. In einem anderen, ebenfalls wohlbekannten Kartellrechtsfall wurden konkurrierende Kuchen vom Obersten Gerichtshof als in ihrer „Güte und Qualität gleich“ eingestuft, obwohl eine der Kuchenfirmen keine „Bereitschaft zur Einführung von Qualitätskontrollen“ zeigte, um sich dem Wettbewerb ihrer erfolgreicheren Konkurrentin zu stellen.72 Eine Aufnahme mit einer brandneuen Pressekameras der Firma Graflex, die seinerzeit Marktführer war, würde sich von einer Aufnahme, die man mit einer der unzähligen billigeren und ebenfalls brandneuen Pressekameras machte, ganz und gar nicht unterscheiden. Da aber Kameras in der Regel von professionellen Pressefotographen gekauft werden, und vor allem von den Fotoabteilungen der Zeitungen, kann man die starke Präferenz für Graflex-Pressekameras nicht mit technischem Unwissen erklären, auch nicht mit „Irrationalität“, Launen oder mit der psychologischen Anfälligkeit uninformierter Konsumenten. Die Erfahrung hat einfach gezeigt, wie robust diese Markenkamera in besonders brenzligen Situationen ist, wenn sie in Menschenmengen, Stadien und auf Kriegsschauplätzen zum Einsatz kommt. Manchmal kann man die Konsumentenvorlieben für das eine oder andere Produkt nicht vornehmlich auf dessen Charakteristiken zurückführen, sondern eher auf die unterschiedlichen Kosten, die entstehen, wenn man die jeweiligen Produkteigenschaften in Erfahrung bringen will. Fotoexperten haben festgestellt, dass etliche Filme von Ilford Ergebnisse erzielen lassen, die man von denen, die mit den im Markt dominierenden Kodakfilmen möglich sind, praktisch nicht unterscheiden kann. Das bedeutet, dass ein Techniker, der mit der Entwicklung beider Filmmarken vertraut ist, mit beiden dieselben Ergebnisse erzielen kann. Die Entwicklung von Ilfordfilmen ist auch nicht komplizierter als die der Firma Kodak. Erstere sind einfach nicht so bekannt, genauso wenig wie ihre Eigenschaften. Gleiches gilt für alle übrigen vergleichbaren Marken. Schon allein die Herausstellung von Ilford als eine Marke unter vielen, die mit Kodak vergleichbar ist, verlangt ein Vorwissen und ein Aussortieren der weniger bekannten Marken. Wichtig ist, dass es hier nicht darum geht, aus der Unwissenheit der Konsumenten einen „Vorteil zu ziehen“. Ein professioneller Fotograph, dem die Gleichheit sehr wohl bewusst ist, mag nichtsdestotrotz die ihm vertraute Marke weiterhin vorziehen, statt in sich zu gehen oder sich mit unterschiedlichen Reihen von Filmentwicklungsdaten zu befassen. Die Bevorzugung einer bestimmten Marke kann auch den Vorteil haben, dass (1) das gemachte Bild aus ästhetischen Gründen und nicht aus technischen Gründen Aufmerksamkeit erfährt und (2) man immer einen neuen Film, der mit dem alten identisch ist, kaufen kann, egal, wo man im Einsatz ist. Mit anderen Worten, man muss sich keine Sorgen darum machen, ob man seine Filme an der nächsten Ecke bekommt oder nicht. Außenstehende Beobachter mögen Produktunterschiede als vernachlässigbar abtun, in etwa so, wie sie Produktionskostenunterschiede als geringfügig abtun. Allerdings gibt es keinen „objektiven“ Maßstab für das, was vernachlässigbar ist. 72

Utah Pie Co. v. Continental Bakery Co., et al., 386 U. S. 685 (1967), S. 690, 695.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Vernachlässigbar oder nicht vernachlässigbar ist etwas immer nur für jemanden. So dürfte z. B. im Baseball der Unterschied zwischen einem Schlagmann, der bei 1.000 Bällen im Schnitt 250 Mal trifft, und einem, dessen Schnitt bei 350 liegt, bei einem Schlag in drei Spielen liegen. Jemandem, der nur gelegentlich Baseball sieht, mag das vernachlässigbar gering erscheinen. Aber dieser Unterschied kann darüber entscheiden, ob jemand zurück in die zweite Liga muss oder in der Ruhmeshalle endet. Kunden und Aktieninhaber dürften sich in der Frage, was vernachlässigbar ist und was nicht, von außenstehenden Beobachtern erheblich unterscheiden. Die Produkte, die an professionelle Fotographen und fotographische Gesellschaften veräußert werden, zeigen genauso deutliche Konsumentenvorlieben und die mit ihnen einhergehenden „Marktkonzentrationen“ wie die Produkte, die an die vermeintlich „irrationale“ Öffentlichkeit verkauft werden. Was bei Versuchen, die Käufervorlieben in Rechnung zu stellen, immer wieder übersehen wird, sind die Kosten des Wissens – Wissen darüber, wo man das Produkt beziehen kann, welche Eigenschaften es hat und wie man es nutzen kann, aber auch das Wissen darüber, worin die Qualitäten der jeweiligen Musterproben sich unterscheiden. Wenn man diese Frage danach bescheiden will, inwiefern der Hersteller seinen großen Marktanteil „verdient“ habe, dann führt dies zu einer Ausblendung der Konsumenteninteressen. Wenn man sagt, dass die Reputation einer Firma dem Unternehmen im Wettbewerb einen Vorteil verschaffe73 – einen angeblich unfairen Vorteil –, dann meint man damit, dass die Konsumenten ihr Wissen auf das Aussortieren und Auszeichnen anhand von Produktnamen begrenzen, weil das Unternehmen auf eine traditionelle Produktqualität zurückschauen kann und die inkrementellen Kosten einer feineren Auswahl sich nicht lohnen. Es geht weniger darum, einer Firma, die sich den Ruf der Verlässlichkeit erarbeitet hat, im Nachhinein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Gesellschaftlich viel wichtiger ist der prospektive Anreiz für alle Firmen, eine solche Reputation anzustreben und zu pflegen – das bedeutet, gesellschaftlich gesehen, die Anreizkontrolle dort zu platzieren, wo sie am wirksamsten stattfinden kann. Vorbehalte gegen den Marktanteil, den Unternehmen halten, hat zu widersinnigen Kartellrechtsentscheidungen geführt, sogar dann, wenn die Gerichte keine adversen Wirtschaftseffekte feststellen konnten. In dem hochgelobten Kartellrechtsfall gegen das amerikanische Aluminiumunternehmen Alcoa – eines der wenigen aktenkundig gewordenen Monopolunternehmen, das privat geführt wird – stellte sich heraus, dass die durchschnittliche Profitrate bei gerade mal 10 % lag,74 und damit auf dem Niveau, das im Wettbewerb befindliche Firmen erzielen. Das Gericht konnte auch keine negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft erkennen – dennoch verlor Alcoa. Seine „Ausgrenzung“ der Konkurrenten bestand allein darin, die Kapazität ihrer Fertigungshallen in Antizipation der steigenden Nachfrage nach Aluminium ausgebaut zu haben.75 Den Abkühlungseffekt dieser Erkenntnis 73

Siehe Posner (1976), S. 119. United States v. Aluminium Co. of America, 148 F. 2d 416 (2d Cir. 1945), S. 426. 75 United States v. Aluminium Co. of America, 148 F. 2d 416 (2d Cir. 1945), S. 431. 74

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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konnte man später im Falle von Zellofan sehen. Es gab einen chronischen Engpass, weil DuPont aus Angst vor einer Kartellrechtsklage sich weigerte, die Fertigungskapazitäten angesichts wachsender Nachfrage im Voraus auszubauen. In den meisten Kartellrechtsklagen kommt es zu rechtlichen Schritten gegen einzelne Unternehmen, die nicht einmal annäherungsweise einen monopolnahen Anteil am Gesamtausstoß oder -verkauf halten. Im vielgerühmten Fall Brown Shoe Company v. United States, bei dem es um einen Firmenzusammenschluss ging, der den betreffenden Firmen einen gemeinschaftlichen Marktanteil von 5,5 % beschert hätte, befand man, dass die Fusion das Kartellrecht verletze.76 Eine andere Fusion, mit der die Pabst Brewing Company ihren Verkaufsanteil am heimischen Bier auf 4,5 % gesteigert hätte, wurde ebenfalls wegen Verstoßes gegen das Kartellrecht zerschlagen.77 Und in einem ebenfalls sehr bekannten Fall hob das Oberste Gericht eine Fusion zwischen zwei lokalen Lebensmittelketten in Los Angeles auf, die zusammen nur 7,5 % der in der Stadt verkauften Lebensmittel vorhielten.78 Wenn man eine Kartellrechtsdoktrin, die Firmen zerschlägt, die in Branchen mit Hunderten von Konkurrenten und weit entfernt von jeglicher „monopolistischer“ Kontrolle agieren, als „sekulare Religion“ charakterisiert, dann dürfte dies kaum übertrieben sein. Dennoch ist das Betreiben solcher Fälle mithilfe staatlicher Stellen institutionspolitisch keineswegs irrational. Behörden, deren Mandat es ist, gegen Monopolfirmen vorzugehen, haben jeden möglichen Anreiz, den Monopolbegriff so weit wie möglich auszulegen und Monopole so oft wie möglich „im Ansatz“ zu erkennen – vor allem in einer Wirtschaft, in der private Monopole rar gesät sind. Wenn sie sich darauf beschränkten, nur gegen die echten oder ernsthaft drohenden Monopole vorzugehen, dann hieße das, dass sie den Großteil ihrer Mitarbeiter, Zuwendungen und Macht aufgeben müssten. Die allgemeinere gesellschaftliche Frage ist, wie sie die Unterstützung von außen finden, die sie politisch benötigen, um ihre Aktivitäten in den Bereich der nachlassenden (oder negativen) Gewinne erstrecken zu können. Diese Frage hängt mit dem geistigen Klima zusammen und wird in Kapitel 10 erörtert. Ungeachtet ihrer ursprünglichen Idee, vor hohen Preisen monopolistischer Firmen zu schützen, wurde die Kartellgesetzgebung zusehends dazu genutzt, die Berechnung niedriger Preise zu verhindern. Ein Meilenstein in dieser Entwicklung war 1936 die Verabschiedung des Robinson-Patman-Gesetzes. Der angebliche Zweck dieser Akte war die Unterbindung jener Art von Preisdiskriminierung, die eine „substanzielle Wettbewerbsbeeinträchtigung“ darstelle. Der politische Impetus, der unmittelbar hinter dem Gesetz stand, war das Wachstum von großen Einzelhandelsketten mit niedrigen Gewinnspannen, die bei Großhändlern große Mengen zu Discountpreisen einkauften, um dann die kleineren Händler zu unterbieten, mit denen sie im Einzelhandel um den Endverbraucher konkurrierten. 76

Brown Shoe Co., Inc., v. United States, 370 U. S. 294 (1962), S. 303. United States v. Pabst Brewing Co., 384 U. S. 546 (1966), S. 550. 78 United States v. Von’s Grocery Co., 384 U. S. 270 (1966), S. 272. 77

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Zyniker sprachen auch gern vom Anti-Sears- bzw. Anti-Roebuck-Gesetz. Preisdiskriminierungsbeschwerden im Sinne des Robinson-Patman-Gesetzes werden in der Regel dann erhoben, wenn bei den Transaktionen Großhändler im Spiel sind. Fälle, die unter das Robinson-Patman-Gesetz fallen und davon abhängen, ob der Wettbewerb durch eine bestimmte Aktion beeinträchtigt wird oder nicht, bilden besonders dramatische Beispiele für die Zweideutigkeit, die bei Kartellgesetzen mitschwingt, nämlich einerseits zwischen den systemischen Merkmalen, die den „Wettbewerb“ auszeichnen, und andererseits den etablierten Firmen, die im gegebenen Fall die Wettbewerber des Antragsgegners darstellen. Zahllose Ökonomen haben sich darüber beschwert, dass die Verwaltungsbehörden und Gerichte nicht den Wettbewerb schützen, sondern die Wettbewerber. Obwohl viele Gerichte diese Distinktion verbal zur Kenntnis genommen haben,79 ging es in jedem einzelnen Fall darum, ob der niedrige Preis des Antragsgegners irgendwelche Mitbewerber benachteiligt habe. Wenn Großhändler bei Großabnahmen Preisnachlässe gewährt haben, dann wurden diese für illegal erklärt, weil kleine Einzelhändler „finan­ zielle Einbußen erlitten“ hätten, die mit „Verstößen gegen den Wettbewerb“80 gleichgesetzt wurden. Gleiches gilt für die reduzierten „Wettbewerbsangebote für bestimmte Händler, denen ein Schaden entstand“, weil sie für jede Kiste Tafel­ salz 10 Cent Aufpreis zahlen mussten, wenn sie weniger als eine Waggonladung bestellten.81 In der Theorie können Preisdifferenzen rechtlich erlaubt sein, wenn nachweisbar ist, dass sie aufgrund kundenseitiger Unterschiede gefordert werden. Allerdings lassen retrospektive Kostenanalysen höchst unterschiedliche Auslegungen zu, weshalb in der Praxis der Verkäufer normalerweise gar nichts belegen kann – und die Beweislast liegt beim Beklagten, sobald feststeht, dass er seinen Kunden unterschiedliche Preise berechnet hat. Der Oberste Gerichtshof hat festgestellt, dass „nur allzu oft niemand nachprüfen kann, ob die Kosten den Preis rechtfertigen.“82 Der Oberste Gerichtshof hat auch in einem Fall unter Einbeziehung der Fixkosten behauptet, dass ein Großhändler unter Preis verkauft hätte („erlitt erhebliche Verluste“83), welche die „Marktanteile“84 eines lokalen Marktes verändert hätten – von 1,8 % auf 8,3 %.85 Die Bundeshandelskommission hat sogar die Macht, den Mengenrabatt ohne Rücksicht auf Kostenargumente zu begrenzen.86 Außerdem gestatten die Gerichte Großhändlern nicht, Käufern nach Kategorien unter 79 Anheuser-Busch, Inc. v. Federal Trade Commission, 289 F 2d 835 (7th Cir. 1961), S. 840: „Das Gesetz bezieht sich auf die Auswirkungen auf den Wettbewerb und nicht nur auf jene, welche die Wettbewerber spüren …“ 80 Federal Trade Commission v. Morton Salt Co., 334 U. S. 37 (1948), S. 50. 81 Federal Trade Commission v. Morton Salt Co., 334 U. S. 37 (1948), S. 46 f. 82 Automatic Canteen Co. v. Federal Trade Commission, 346 U. S. 61 (1953), S. 79. 83 Utah Pie Co. v. Continental Baking Co., et al., 386 U. S. 685 (1967), S. 697. 84 Utah Pie Co. v. Continental Baking Co., et al., 386 U. S. 685 (1967), S. 691n. 85 Utah Pie Co. v. Continental Baking Co., et al., 386 U. S. 685 (1967), S. 699. 86 Robinson-Patman-Gesetz, Sektion 2(a).

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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schiedliche Preise zu berechnen – z. B. Supermarktketten im Vergleich zu „Tante Emma“-Läden –, obwohl Supermärkte leichter zu bedienen sind. Ausnahmen kann es nur geben, wenn man nachweisen kann, dass in den Kategorien völlige „Gleichförmigkeit“ besteht.87 So nahm das Gericht zwar zur Kenntnis, dass „eine große Mehrheit“ der Einzelhändler Dienste in Anspruch nehmen mussten, welche die Supermärkte selbst erbringen, meinte aber, dass man „nicht gezeigt hat, dass alle Einzelhändler diesen Dienst in Anspruch nehmen.“88 Kurzum, die Sortierungsund Etikettierungskosten wurden ignoriert und man bestand darauf, dass jeder Laden individuell zu betrachten sei und erst danach als den anderen hinreichend ähnlich klassifiziert werden könne – sofern die anschließende Feststellung durch das Gericht so ausfalle. Der Staat „gewinnt nicht immer“, wenn es zu einem Robinson-Patman Streitfall kommt, aber die Fälle, in denen der Beklagte gewinnt, zeigen so ziemlich dasselbe Muster ökonomischer (bzw. nicht-ökonomischer) Argumentation. Sieht man von den üblichen Lippenbekenntnissen ab, die behaupten, der Ausgang des Klageverfahrens sei der Idee geschuldet, den Wettbewerb als systemische Bedingung zu wahren, so entgehen die Beklagten, die ungeschoren davonkommen, einer Strafe meist deshalb, weil sie – in den Worten des Gerichts – eine „angemessene Beschränkung“89 bei ihren Preisnachlässen zeigten, keinen Hinweis auf „Raubtierverhalten“90 gegenüber der Konkurrenz zu erkennen gaben und mit ihren Preisen denen der anderen „exakt entsprachen“, statt sie zu unterbieten.91 Dies steht ganz im Einklang mit der Rechtsgeschichte des Robinson-Patman-Gesetzes, dessen Philosophie der Kongressabgeordnete Patman als eine vom „leben und leben lassen“ beschrieb, die „jedem eine Recht auf Leben“92 zugestehe – vermutlich zu Lasten des Konsumenten. Eine der Theorien, die man zur Rechtfertigung des Robinson-Patman-Gesetzes heranzog, besagt, dass die großen Anbieter die Preise ohne das Gesetz temporär unterböten, die kleineren Konkurrenten damit aus dem Markt drängten, und später die Preise auf ein monopolistisches Niveau anheben würden. Konkrete Beispiele für solche Fälle sind eine Rarität (oder schlicht nicht existent),93 und das, obwohl das Land schon 160 Jahre vor der Verabschiedung des Robinson-Patman-Gesetzes existierte. Aber auch die Argumentation der Theorie selbst ist sehr problematisch, weil nur Gewissheit bezüglich der kurzfristigen Verluste zur Verdrängung 87

United States v. Borden Co., 370 U. S. 460 (1962), S. 469. Siehe auch S. 470 f. United States v. Borden Co., 370 U. S. 460 (1962), S. 470. 89 Anheuser-Busch, Inc. v. Federal Trade Commission, 289 F 2d 835 (7th Cir. 1961), S. 843. 90 Anheuser-Busch, Inc. v. Federal Trade Commission, 289 F 2d 835 (7th Cir. 1961), S. 843. 91 Anheuser-Busch, Inc. v. Federal Trade Commission, 289 F 2d 835 (7th Cir. 1961), S. 842. 92 Rowe (1964), S. 416 Anm. 93 Vertreter der „Preisdumping“-Theorie des 20. Jahrhunderts führen wiederholt die Machenschaften der Standard Oil Company im 19. Jahrhundert an (vermutlich in Ermangelung jüngerer Beispiele). Aber sogar die Authentizität dieses alten Beispiels ist umstritten; vgl. McGee (1958). 88

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2. Teil: Themen und Tendenzen

der Konkurrenz bestünde. Die langfristigen Gewinne, die zum Ausgleich dieser Verluste nötig wären, sind aber sehr ungewiss, weil es unzählige Wege für eventuelle Neurivalen gibt. Diese könnten z. B. den Nachlass der bankrotten Firmen zu Schnäppchenpreisen aufkaufen und dann mit Gewinn die Möchtegernmonopolisten unterbieten. In den jeweiligen Kartellrechtsfällen nach dem Robinson-PatmanGesetz hält weder die Empirie noch die Theorie der Wirklichkeit stand. Es ist der Beklagte, der den glaubhaft gemachten Sachverhalt entkräften muss, während die düsteren Theorien als unausgesprochene Mutmaßungen im Hintergrund wirken. Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Folgen des gesellschaftlichen Wissens kann man sagen, dass Preiswettbewerbsschranken ein Informationsverbot darstellen. Informationen, die über Preise kommunizieren, wie man Dinge am günstigsten haben kann, sind verboten. Es ist günstiger, 100 Paletten mit Zerealien an einen Supermarkt zu liefern als je 10 Paletten an 10 „Tante-Emma-Läden“. Dieser Umstand wird wirksam kommuniziert, wenn der Großhändler den Preis für große Gütermengen scharf kalkuliert. Wenn er das nicht tun darf oder in einem kostenintensiven Prozess mittels feinmaschiger Sortierungs- und Etikettierungskategorien rechtfertigen muss, dann kann dieses Wissen keine wirtschaftliche Entscheidungsfindung mehr lenken. Die Beweislast der Beklagten in Bereichen, in denen unwiderlegbare Beweise praktisch unmöglich sind, bedeutet entweder de facto ein Verbot oder stellt, wirtschaftlich gesehen, dasselbe dar wie eine hohe Strafe (Rechtskosten) für wirtschaftliche Aktivitäten, für deren gesellschaftliche Schädlichkeit keinerlei Evidenz vorliegt. Kartellrechtsentscheidungen haben – wie Gerichtsurteile in anderen Bereichen auch – Auswirkungen, die weit über die betroffenen Parteien hinausreichen, und das auf Wegen, die vom Gesetz nie beabsichtigt waren. So haben beispielsweise viele Großhändler Lkw, die Einzelhändler beliefern und leer zurückkehren, während andere Lkw hergestellte oder weiterverarbeitete Waren zum Warenlager eben jener Großhändler bringen. Gesellschaftlich gesehen würde es offensichtlich sinnvoller sein, wenn die Lieferfahrzeuge der Großhändler auf ihrem Rückweg bei den Verarbeitungsunternehmen haltmachten, um die Waren für ihre Lagerhallen von dort mitzunehmen. Gegenwärtig verschwendet das bestehende System jährlich etwa 400 Millionen Liter Treibstoff – genug, um 140.000 Fahrzeuge ein Jahr lang zu versorgen,94 ganz zu schweigen von dem überflüssigen Inventar an Lkw, den vergeudeten Fahrerstunden und der unnötigen Luftverschmutzung. Als reine Information ist dies leicht zu verstehen, aber wir haben es mit keinem gesellschaftlich wirksamen Wissen zu tun, weil die Preise, die es vermitteln könnten, wegen der Auslegung des Robinson-Patman-Gesetzes durch die Bundeshandelskommission gewaltsam beschränkt sind. Normalerweise würde die Lebensmittelverarbeitungsindustrie jenen Käufern, die ihre Waren selbst abholen, niedrigere Preise berechnen als jenen, die eine Belieferung benötigen. Für die Großhändler 94

Wall Street Journal, 15. Juli 1977, S. 6 (The Empty Truck Syndrome).

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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wäre dies ein Anreiz, ihre Lkw auf der Rückfahrt bei ihren Zulieferern vorbeifahren zu lassen, um Ladung von dort mitzunehmen. Aber die Bundeshandelskommission hat gutachterlich feststellen lassen, dass besagte Preisdifferenzen als Verstoß gegen das Robinson-Patman-Gesetz, das „Preisdiskriminierung“ untersagt, ausgelegt werden könnten. Die einheitlichen Preise, die erhoben werden, spiegeln also die Gewaltandrohung und nicht die relativen Kosten wider. Und die Großhändler reagieren auf diese Preise, als ob es gar nicht billiger wäre, Waren in leeren Lkw aufzusammeln, statt sie eigens liefern zu lassen – und genau das ist, finanziell betrachtet, wahr, wenn man dem Wissen folgt, das die rechtlich beschränkten Preise vermitteln. Natürlich ist es aus gesellschaftlicher Sicht ein verzerrtes Wissen, aber sowohl seine Übertragung wie auch seine Rezeption sind im Rahmen der recht­ lichen Anreize des Robinson-Patman-Gesetzes rational. Die gesellschaftliche Rationalität der Handlung ist eine andere Sache. Große Kosten entstehen aber auch durch die Ungewissheit, die mit der Auslegung vager Kartellgesetze einhergeht – vor allem des Robinson-Patman-Gesetzes, zu dem ein führender Experte auf diesem Gebiet einmal meinte, es verströme den „Pesthauch rechtlicher Ungewissheit.“95 Und ein Richter am Obersten Gerichtshof sagte von ihm, es sei als „Statut von einzigartiger Schleierhaftigkeit und Schlüpfrigkeit.“96 Kartellrechtspolitik zeigt, ähnlich wie die Regulierung der Versorgungsbetriebe, einen deutlichen Hang zur Bevorzugung des Etablierten – einen Hang zum Schutz der Wettbewerber, und nicht des Wettbewerbs. Aus Sicht der Institutionenpolitik ist dies mehr als verständlich: Rechtsbeschwerden werden von Wettbewerbern eingereicht. Der Wettbewerb als abstrakter Prozess kann dergleichen nicht tun. Die Wettbewerber versorgen die Verwaltungsbehörden, wie z. B. die Bundeshandelskommission, mit einem politischen Auftrag. Der Wettbewerb als Abstraktion kann das nicht. Erst dann, wenn man staatliche Behörden als Entscheidungsträger betrachtet, die von Menschen angeführt werden, die eigene individuelle Karrieren und institutionelle Ziele verfolgen, ergeben viele vermeintlich „irrationale“ Kartellrechtsentscheidungen einen Sinn. So geht z. B. die verwaltungstechnische Umsetzung von Kartellgesetzen, obwohl diese – allen voran das Robinson-PatmanGesetz – scheinbar gegen monopolistische Praktiken gerichtet sind, hauptsächlich mit der Verfolgung kleiner Unternehmen einher, von denen die meisten noch nicht einmal in Moody’s Industrial gelistet sind und die wenigsten in der Fortune-Liste der großen Konzerne auftauchen.97 Der institutionelle Grund liegt auf der Hand: Eine Klage gegen ein kleines Unternehmen hat größere Aussichten auf Erfolg, weil derlei Firmen weder das Geld noch die Rechtsabteilungen haben, über die große Konzerne verfügen. Ein großer Kartellrechtsfall gegen ein riesiges Unternehmen kann Jahrzehnte dauern oder länger. Eine Anklage gegen ein kleines Unterneh 95

Rowe (1964), S. 427. Rowe (1964), S. 436, Anm. 97 Rowe (1964), S. 430. 96

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2. Teil: Themen und Tendenzen

men kann – mit Aussicht auf Erfolg – innerhalb einer Zeitspanne zu Ende gebracht werden, die sich sowohl im Zeithorizont der staatlichen Behörde als auch in dem der Karriereziele bewegt, die ihre Anwälte hegen. Es erleichtert die erfolgreiche Klage eines vom Staat glaubhaft gemachten Sachverhalts, dass der Beklagte die Schuldvermutung zu widerlegen hat, vor allem dann, wenn es um komplexe Sachverhalte geht, die retrospektiv unterschiedliche Auslegungen zulassen, so dass niemand irgendetwas schlüssig nachweisen kann. In einem wohlbekannten Fall hatte ein Arbeitgeber mit nur 19 Angestellten und 70 Mitbewerbern allein in seiner Stadt nachzuweisen, dass seine Handlungen den „Wettbewerb nicht substanziell einschränken“ – er verlor den Fall.98 Der Ausgang bestätigt, dass es weise ist, in allen anderen Klagefällen den Staat die Beweislast tragen zu lassen. Im Allgemeinen glaubt die Öffentlichkeit, Kartellgesetze und Kartellpolitik seien ein Weg, um riesige Monopolisten von der Preistreiberei abzuhalten, aber die meisten der großen Kartellrechtsfälle richten sich gegen Unternehmen, welche die Preise senken – und die meisten dieser Firmen sind kleinere Unternehmen.

„Wirtschaftsplanung“ „Wirtschaftsplanung“ ist einer der vielen irreführenden Begriffe in der Politik. Jede wirtschaftliche Aktivität muss geplant werden, und zwar in jeder denkbaren Gesellschaftsform. Unterschiede bestehen nur hinsichtlich der Entscheidungseinheit, die mit der Planung befasst ist. Diese Einheiten reichen von Kindern, die ihr Taschengeld für den Kauf von Spielzeug sparen, über multinationale Konzerne, die nach Öl bohren, bis hin zu den zentralen Planungsbehörden der kommunistischen Staaten. Im politischen Sinne meint man mit „Wirtschaftsplanung“ die von Vertretern des Staates gewaltsam durchgeführte Verhinderung der Pläne anderer Personen. Die Vor- und Nachteile dieser Art der Entscheidungsfindung kann man allgemein oder auch im Speziellen diskutieren. Aber es geht hier nicht um buchstäbliches Planen einerseits und den Zufall entscheiden lassen andererseits. Dieser offenkundige Sachverhalt sollte bedacht und betont werden, und zwar nicht nur, weil der Begriff „Planung“ tendenziös ist, sondern auch, weil oft lamentiert wird, „Zufälle“, „Gelegenheiten“ und „unkoordinierte“ Institutionen99 endeten in Hilflosigkeit, wenn die Wirtschaft so „dahinfließe“.100 Wir haben bereits einige Fälle kennengelernt, in denen der Staat die Pläne anderer Personen gewaltsam verhindert, sei es in Form von Preiskontrollen, Marktregulierungen oder direkten wie indirekten Transfers von Ressourcen. Was nun zu untersuchen aussteht, ist die umfassende „Planung“ der Wirtschaft – die all 98

Areeda (1995), S. 847 f. Leontief / Woodcock (1976), S. 348. 100 Leontief / Woodcock (1976), S. 352. 99

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gemeine Unterordnung nicht-staatlicher Wirtschaftsentscheidungen unter einen Plan, den man der gesamten Wirtschaft aufzwingt. Dergleichen kann stattfinden, indem man Privateigentum an physikalischen oder finanziellen Vermögenswerten beibehält (Kapitalismus), wie es derzeit faschistische Regimes tun, oder dem Staat das Eigentum an den Produktionsmitteln zugesteht (Sozialismus), Hand in Hand mit einer umfassenden „Planung“. Man kann aber auch Staatseigentum mit Preismechanismen statt „Planung“ kombinieren, wie im sogenannten Marktsozialismus (Jugoslawien beispielsweise). Es gibt auch Wohlfahrtsstaaten (wie z. B. Schweden), die sich selbst „sozialistisch“ nennen, die aber weitgehend mittels Transfers der in der Privatwirtschaft erhobenen Einkommensteuer funktionieren und auf umfangreiche staatliche Kontrollen der Produktionsentscheidungen verzichten. Wir werden hier das Augenmerk auf die umfassende „Planung“ der Wirtschaft im Allgemeinen richten, und nicht auf deren besondere politische oder ideologische Abarten. Das heißt, unsere Analyse wird sich an institutionellen Charakteristika orientierten, statt an den erhofften Ergebnissen. Die umfassende „Planung“ der Wirtschaft ist vor viele Probleme gestellt, die wir bereits von den besonderen Formen her kennen, mit denen der Staat wirtschaftliche Aktivitäten steuert – im Wesentlichen Probleme des Wissens, der sprachlichen Darstellung und der Motivation. Artikulation In einer Wirtschaftsordnung, die von den staatlichen Autoritäten einer Nation („Zentralplanern“) geleitet wird, müssen die angeordneten Direktiven die Eigenschaften der herzustellenden Produkte artikulieren. Unsere früheren Darlegungen zu Miet- und Preisbindung im Allgemeinen haben gezeigt, dass es (1) Schwierigkeiten gibt, selbst einfachste Dinge, wie ein Apartment oder eine Büchse mit Erbsen, zu definieren, und (2) die Tendenz besteht, dass Produkte – oder Arbeit – in Reaktion auf Preis- und Lohnkontrollen auf perverse Art und Weise ihr Qualität ändern. Beide Probleme sind in einer Wirtschaft, die umfassend zentralverwaltet wird, gang und gäbe. In der sowjetischen Presse gibt es Beispiele zuhauf, in denen Ökonomen und andere über besonders hervorstechende Fälle herziehen und eine bessere „Spezifizierung“ fordern – anstatt die politisch gefährlichere Frage aufzuwerfen, ob Zentralplaner überhaupt irgendeine Spezifizierung artikulieren können, die einen Ersatz für die Kontrolle durch den eigentlichen Konsumenten, wie sie in preiskoordinierten Wirtschaftsformen üblich ist, bieten könnte. Als beispielsweise die sowjetische Nagelindustrie ihren Ausstoß nach Gewicht bemaß, tendierte sie dazu, große, schwere Nägel herzustellen, von denen viele unverkäuflich in den Regalen der Läden liegen blieben, während das Land nach „kleinen Nägeln schrie.“101 Wenn 101

Shipler (1977), S. 3.

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der Produktausstoß nach Wertigkeit bemessen wird, dann tendieren die einzelnen Betriebe dazu, weniger und kostenträchtigere Einheiten herzustellen – egal, ob es um Kleidung oder Stahl geht,102 und egal, was der Kunde möchte. Wenn man angibt, der Erfolg werde nach der Anzahl der produzierten Einheiten bemessen, dann kaufen die Betriebe unnötig viele Teile von anderen Betrieben103 und kriegen anschließend viel Lob, weil die von anderen hergestellten Produkte in ihrer Produktstatistik auftauchen. Wird hingegen nach den Nettoausstoßeinheiten gemessen, dann neigen die Betriebe dazu, so viel wie möglich selbst zu machen, selbst dann, wenn spezialisierte Zulieferbetriebe die Teile zu niedrigeren Stückkosten produzieren könnten.104 All diese Entscheidungen sind aus Sicht der jeweiligen Sowjetfirmen, die ihr eigenes Wohlergehen maximieren, vollkommen rational, so pervers sie auch aus Sicht der sowjetischen Wirtschaft sein mögen. Selbst der Terror unter Stalin ließ die einzelnen Betriebe nicht die gesamtwirtschaftliche Perspektive einnehmen. Ganz im Gegenteil! Wenn für Versager, die das Planziel der Zentralplaner aus Moskau verfehlten, Gefängnis oder gar Tod warteten, dann war der jeweilige Unternehmensleiter noch mehr darauf erpicht, den Buchstaben des Gesetzes zu folgen, und keine Rücksicht auf gesamtwirtschaftliche Überlegungen zu nehmen. In einem tragikomischen Fall wurde eine dringend benötigte Bergbauausrüstung zwar produziert, aber nicht an die Bergbauminen ausgeliefert, weil die Ausrüstung rot gestrichen sein sollte, und zwar in ölbeständiger Farbe. Der Hersteller hatte aber nur grüne ölbeständige Farbe vorrätig, und keine rote. Die ungestrichene Ausrüstung türmte sich schließlich auf dem Betriebsgelände, obwohl sie im Bergbau so dringend gebraucht wurde, weil der Betriebsleiter – wie er sagte – „nicht acht Jahre dafür bekommen wollte.“105 Für die Verbraucher hätte die Farbe keinen Unterschied gemacht, aber dieses beiläufige Merkmal hatte als Artikulation genau so viel Gewicht wie die äußerst bedeutsamen technischen Spezifikationen. All diese Dinge sind keine Besonderheiten, die nur dem russischen oder sowjetischen Wirtschafts- und Politiksystem eigen wären. Sie spiegeln die Grenzen wider, die der Artikulation innewohnen. Die in Amerika erhobene politische Forderung nach mehr Abiturienten – die nach dem akademischen Paradigma eine Antwort auf das Problem der Schulabbrecher sein sollte – hatte zur Folge, dass mehr von dem Produkt hergestellt wurde und die dafür notwendige Senkung der Standards in Kauf genommen wurde. Es ist leicht in Worte zu fassen, was mit einem Abiturienten gemeint ist – jemand, der eine schöne Urkunde von einer autorisierten Stelle empfängt –, aber es ist bei weitem schwerer, im operationalen Sinne in Worte zu kleiden, welche Bildung dadurch zum Ausdruck kommen soll.

102

Nove (1958), S. 5; Nove (1977), S. 97 ff. „Einige Herstellungsbetriebe blähen ihre Produktionsstatistik auf, indem sie ihre Fließbänder auf verschiedene Betriebe verteilen und dann jedes Mal ein Teil aufführen, wenn es von einer Betriebstätte zur anderen wandert.“ Shipler (1977), S. 3. 104 Nove (1958), S. 6; Granick (1961), S. 132 ff. 105 Granick (1961), S. 134. 103

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Bei preiskoordinierten Entscheidungen kann der Nutzer die Ergebnisse ohne große Mühe und viele Worte kontrollieren und braucht dazu den Produzenten nicht. Die Sorte Nägel, die inkrementell mehr gewünscht ist, lässt sich zusehends besser und teurer verkaufen. Ihr Hersteller wird ihre Produktion automatisch ausbauen, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, warum sie derzeit mehr gefragt ist. Wenn eine bestimmte Farbe den Verkauf von Bergbauausrüstung erhöht, dann wird der Hersteller mehr von dieser Farbe einsetzen, aber er wird wohl kaum den Verkauf aussetzen oder aufschieben, bis er die gewünschte Farbe bekommt, sollte die Nachfrage nach der Ausrüstung so sein, dass sie sich in einer anderen Farbe fast genauso schnell verkauft. Wenn preiskoordinierte Schulbildung (Privatschulen) eine machbare Option ist, dann können auch solche Eltern, die sich nie hingesetzt haben, um eine Liste mit Lerninhalten zu erstellen, die Bildungsresultate einer Schule beurteilen und mit denen anderer (privaten wie öffentlichen) Schulen vergleichen und entscheiden, ob die Unterschiede bei den Ergebnissen die Unterschiede bei den Kosten rechtfertigen. Wenn die Preise nach dem Willen des Staates festgelegt werden, dann enthalten sie keine Informationen hinsichtlich der permanent im Wandel begriffenen Güterabwägungen, die den Wandel von Technologien und Vorlieben sowie die nachlassenden Gewinne in Produktion und Konsumption widerspiegeln. Preisänderungen finden von einem auf den anderen Moment statt. Die Statistiken, auf die Planer zurückgreifen können, hinken immer hinterher. Ein Forscher, der die britische Wirtschaftsplanung untersucht hat, schrieb einmal: „Angesichts der endlos wechselnden Bedingungen, die sich auf Angebot und Nachfrage der zahllosen Güter und Leistungen auswirken, die Tag für Tag gehandelt werden, ist selbst die beste Statistik längst überholt, bevor sie zusammengestellt ist.“106 Wenn man nur ein paar „abgestandene Statistiken“ nimmt, um eine „komplexe und sich ständig wandelnde Wirtschaft“ zu führen, dann heißt das „in der Praxis, dass man auf ad hoc Eingriffe und zahllose Appelle „im Sinne des öffentlichen Interesses zurückgreift …“107 Nazi-Deutschland hatte ähnliche Wirtschaftsprobleme, als es prospektive Entscheidungen anhand retrospektiver Statistiken fällen sollte.108 Das Problem liegt in den Umständen und ist keine Besonderheit einer bestimmten Ideologie, wenn auch einige Ideologien mehr als andere dafür anfällig sind, solche Umstände beizubehalten. Die Unbeständigkeit des Vorgefassten kann man auch daran festmachen, dass man nicht artikulieren kann, was nicht existiert – nämlich ein objektives Konglomerat an Eigenschaften, das eine objektive Skala an ökonomischen Prioritäten festlegen würde. Alle Werte sind letzten Endes subjektiv und inkrementell variabel. Weder eine gesellschaftliche Gruppe noch eine Prioritätenskala kann den verschiedenen Konsumenten und den ebenso verschiedenen Herstellern die wechsel 106

Harris (1976), S. 58. Harris (1976), S. 59. 108 Eucken (1969). 107

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hafte Bedeutsamkeit der vielschichtigen Eigenschaften vorschreiben. Wer unter all den Millionen Produkten Güterabwägungen vornehmen kann, sind die Millionen Konsumenten, die den Produkten gegenüberstehen, aber es gibt keine dritte Partei, die alle diese wechselnden Güterabwägungen erfassen und den Produzenten vorab mithilfe einer fixen Definition mitteilen könnte. Wenn die Konsumentenkontrolle, die durch Preise und Verkaufszahlen zum Ausdruck kommt, durch Artikulation einer dritten Partei ersetzt wird, also durch Nummern, dann geht viel Wissen in diesem Prozess verloren. Und wenn die Nutzerkontrolle des Produzentenausstoßes im Markt fehlt, dann muss eine Spezifizierung dessen, was produziert werden soll, durch eine dritte Partei erfolgen. Dies aber führt jede Artikulation an ihre inhärenten Grenzen. So viele Beschränkungen und Verzerrungen die Artikulation als Kommunikationsmittel ökonomischen Wissens auch haben mag, ihre politische Anziehungskraft ist genau so weit verbreitet wie der Glaube, dass Ordnung einen Plan voraussetze, die Alternative zum Chaos in der expliziten Absicht bestehe und dass es nicht nur inkrementelle Güterabwägungen, sondern auch objektiv spezifizierbare sowie quantifizierbare und kategoriale „Bedürfnisse“ gebe. Von dieser Warte aus betrachtet ist es notwendig, das „Verhältnis zu verstehen“109 – soll heißen, das Verhältnis zu artikulieren –, das zwischen den Wirtschaftsbereichen besteht, um sie zu koordinieren. Die Koordination durch den Preis ist im Rahmen solcher Ansichten keine Alternative mehr. Es müssen „Prioritäten“ und ein „Zeitrahmen“ artikuliert werden.110 An sich „brauchen wir eine umfassende Offenlegung der Dinge, unter denen wir auswählen wollen“ und die „ein vollständig automatisch ablaufender freier Markt“ nicht artikulieren würde. Aus diesem Grund „akzeptieren wir diesen Ansatz nicht.“111 Stattdessen „müssen wir in der Lage sein,“ artikulierte Alternativen „zu erkennen“, um überhaupt „eine intelligente Wahl treffen zu können.“112 Unter der Annahme objektiv definierbarer und quantifizierbarer „Bedürfnisse“ ist die Effizienz ein reines Ingenieurproblem und keine Aussöhnung konfligierender Wünsche, die Menschen haben. Sozialpolitik kann analog zu den Aktivitäten mit fixem Ziel betrieben werden, so als würde man einen Menschen auf den Mond schießen.113 Selbst das „Planen“ ist einfach nur eine Frage der „technischen Koordination“ durch „Experten“114, die „systematischen Analysen“ folgen.115 Innerhalb dieses Rahmens kann sogar das „öffentliche Interesse“116 als ein empirisch gehaltvoller Begriff in vertrauter Runde diskutiert werden – zusammen mit einer „objektiven Analyse … dessen, was wirklich wünschenswert ist.“117 Diese Zitate sind 109

Humphrey (1976), S. 3. Humphrey (1976), S. 6. 111 Leontief (1976), S. 9. 112 Leontief (1976), S. 9. 113 Humphrey (1976), S. 7. 114 Leontief (1976), S. 14 f. 115 Leontief (1976), S. 20. 116 Humphrey (1976), S. 19. 117 Humphrey (1976), S. 37. 110

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keine unbedachten Äußerungen von Zehntklässlern, sondern Erklärungen, die von einem der berühmtesten amerikanischen Senatoren und einem der berühmtesten amerikanischen Ökonomen abgegeben wurden – Hubert Humphrey und Wassily Leontief. Sie stehen bei weitem nicht allein da. Wissenstransfer Die Begrenzungen und Verzerrungen der Artikulation sind Ausdruck der schlichten Tatsache, dass Zentralplaner als dritte Parteien nicht wissen können, was die Nutzer wollen, egal, ob die Nutzer Konsumenten oder Produzenten sind, die Rohmaterialien, Bauteile oder Produktionsmaschinen anschaffen. Die komplexen Güterabwägungen, die zwischen den Eigenschaften eines vorhandenen Gutes und zwischen unterschiedlichen Produkten getroffen werden müssen, können nicht mithilfe einer fixen Definition erfasst werden, so detailreich diese auch sein mag. Sogar die Menge der Details selbst impliziert Güterabwägungen, weil diese Details ab einem bestimmten Punkt kontraproduktiv werden, wie es im Falle der sowjetischen Bergbauausrüstung, die eine bestimmte Farbe haben sollte, der Fall war. Es ist aber nicht nur die enorme Datenmenge, die das Vermögen des menschlichen Verstands übersteigt. Man könnte sich ja vorstellen, dass diese Daten in einem Computer mit hinreichender Kapazität gespeichert würden. Aber das eigentliche Problem ist, dass das benötigte Wissen ein Wissen in Form subjektiver Muster von Güterabwägungen ist, die nirgends artikuliert vorliegen, nicht einmal dem Individuum selbst. Vielleicht denke ich, dass ich im Angesicht eines drohenden Bankrotts eher mein Auto als meine Möbel verkaufe oder lieber den Kühlschrank als den Ofen opfere, aber solange dieser Moment nicht oder noch nicht da ist, kenne ich meine Güterabwägungen genau so wenig wie irgendjemand sonst. Es gibt keine Möglichkeit, diese Information in einen Computer einzugeben, wenn sowieso keiner diese Information hat. Transaktionen auf dem Markt erfordern derlei Wissen nicht im Voraus. Wenn man vor einer Ware steht, die man normalerweise kauft, deren Preis aber derweil in die Höhe geschnellt ist, und die Wahl hat, stattdessen ein Schnäppchenprodukt zu erwerben, das man unter normalen Umständen nicht erstehen würde, dann, und nur dann, wird die Wahl zwischen den beiden Gütern getroffen. Viele Menschen wissen, dass sie in solchen Situationen Entscheidungen treffen, die selbst sie nicht von sich erwartet hätten, auch wenn das Alternativprodukt gut genug wäre, um eine dauerhafte Veränderung des Konsumverhaltens auszulösen. Die meisten von uns müssen nicht darüber nachdenken, ob sie sich lieber eine Yacht oder ein Flugzeug zulegen würden, und noch weniger die inkrementelle Entscheidung zwischen einer längeren Yacht und einem leistungsstärkeren Flugzeug in Betracht ziehen. In einer Marktwirtschaft muss ein Individuum bzw. eine Entscheidungseinheit nur mit einem Bruchteil aller in der Ökonomie stattfindenden Güterabwägungen befasst sein. In einer Planwirtschaft muss jemand versuchen, sie alle gleichzeitig unter

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einen Hut zu kriegen. In einer Marktwirtschaft müssen weder der Yachtbauer noch der Flugzeughersteller sich um die Güterabwägungen zwischen den beiden Produkten kümmern, ganz zu schweigen von den Abwägungen zwischen diesen und den übrigen zahllosen Produkten, die mit ihnen um den Einsatz unterschiedlicher Dinge konkurrieren, wie Metall, Glas, Treibstoff, Werksgelände, Arbeitskräfte etc. Jeder Hersteller muss sich nur mit den Güterabwägungen befassen, die sein Produkt und sein Geld betreffen – Geld, das austauschbare Medium, in dem auch alle anderen die Güterabwägungen für ihre Produkte vornehmen. Im Sinne einer Redensart könnte man sagen, dass die Wirtschaft durch dieses Medium ein Gut gegen das andere abwägt. Das stimmt nicht nur, sondern bringt auch eine wichtige Wahrheit zum Ausdruck, weil es erklärt, inwiefern Wissen durch Preisallokation haushälterisch genutzt wird. Man kann die Sache aber auch anders ausdrücken: In einer zentralen Planwirtschaft bräuchten die Zentralplaner eigentlich weitaus mehr Wissen, um im Endeffekt dasselbe Ergebnis zu erzielen. Es mag zwar empirisch zutreffen, dass die verschiedenen Ideologien die Zentralplanung im Allgemeinen unterschiedlich bewerten, aber sie ist letztlich keine grundsätzliche Ideologiefrage. Marx und Engels gingen mit ihren kommunistischen Kameraden, welche die Preiskoordinierung durch eine zentrale Planung ersetzen wollten, hart zu Gericht. Proudhons These, dass der Staat die Preise anhand der Arbeitszeit, die zur Herstellung der Produkte nötig war, festsetzen sollte, nahm Marx im ersten Kapitel seiner Schrift Das Elend der Philosophie auseinander: „Möge Herr Proudhon es übernehmen, ein solches Gesetz zu formulieren und durchzusetzen, und wir wollen ihm die Beweise erlassen. Wenn er im Gegenteil darauf Wert legt, seine Theorie nicht als Gesetzgeber zu rechtfertigen, sondern als Ökonom, so wird er zu beweisen haben, daß die zur Herstellung einer Ware nötige Zeit genau ihren Nützlichkeits­ grad  anzeigt und außerdem ihr Proportionalitätsverhältnis zur Nachfrage und folglich zur Summe des gesellschaftlichen Reichtums feststellt. In diesem Falle werden, wenn ein Produkt sich zu einem seinen Herstellungskosten gleichen Preise verkauft, Angebot und Nachfrage sich stets ausgleichen; denn die Produktionskosten gelten als der Ausdruck des wahren Verhältnisses von Angebot zu Nachfrage.“118

Der Rest des Kapitels stellt klar, dass Marx nicht daran glaubte, Proudhon könne dergleichen tun. 30 Jahre später stellte Engels einen anderen sozialistischen Theoretiker bloß, der die Märkte abschaffen wollte. „Nur vermittelst der Entwertung oder Überwertung der Produkte werden die einzelnen Warenproduzenten mit der Nase darauf gestoßen, was und wieviel davon die Gesellschaft braucht oder nicht braucht. Gerade diesen einzigen Regulator aber will die von Rodbertus mitvertretene Utopie abschaffen. Und wenn wir dann fragen, welche Garantie wir haben, daß von jedem Produkt die nötige Quantität und nicht mehr produziert wird, daß wir nicht an Korn und Fleisch Hunger leiden, während wir im Rübenzucker ersticken und im Kartoffelschnaps ersaufen, daß wir nicht Hosen genug haben, um unsre Blöße zu bedecken, während die Hosenknöpfe millionenweise umherwimmeln – so zeigt uns Rodbertus trium 118

Marx (1975), S. 91.

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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phierend seine famose Rechnung, wonach für jedes überflüssige Pfund Zucker, für jedes unverkaufte Faß Schnaps, für jeden unannähbaren Hosenknopf der richtige Schein ausgestellt worden ist, eine Rechnung, die genau „aufgeht“, nach der „alle Ansprüche befriedigt werden und die Liquidation richtig vermittelt“ ist.“119

Einige der modernen Sozialismustheoretiker haben die Idee von Marx und Engels aufgegriffen und Modelle einer preiskoordinierten sozialistischen Wirtschaftsform entwickelt.120 Sie zeigen, welchem Zweck der Sozialismus bzw. das „Planen“ dient. Wenn der Zweck darin liegt, den Wünschen der Menschen als Gesamtheit ökonomisch besser zu entsprechen – indem man z. B. die Externalitäten des Kapitalismus überwindet –, dann haben solche Modelle eines Marktsozialismus eine größere Anziehungskraft als sie hätten, wenn ihr Zweck darin läge, die Vorlieben der Menschen durch jene zu ersetzen, die glauben, dass dritte Parteien (vor allem sie, die Sozialismustheoretiker selbst) objektive „Bedürfnisse“ (oder deren Gegenstück „Verschwendungen“) definieren könnten. Die Vorherrschaft der Zentralplanung über den Marktsozialismus – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis – lässt erahnen, welchen Zweck bzw. welche Vision man verfolgt. Selbst dort, wo einige Elemente des Marktsozialismus eingeführt wurden, geschah dies in der Regel, nachdem man es zunächst mit Zentralplanung versucht hatte und dann feststellte, dass die Ergebnisse nicht hinnehmbar waren. So gestatteten die Sowjets beispielsweise lokale Märkte für Milchprodukte und landwirtschaftliche Erzeugnisse. Ihnen wurde ein gewisses Maß an Autonomie und Koordination durch unkontrollierte Preise zugestanden, nachdem frühere Versuche einer umfassenden landwirtschaftlichen Planwirtschaft zu Lebensmittelknappheiten, ja sogar zu Hungersnöten geführt hatten. Die privat bewirtschafteten Ackerflächen in der UdSSR betragen etwa 3 % des gesamten Agrarlandes und erwirtschaften ca. ein Drittel des Gesamtertrags.121 Die Schwierigkeiten, die beim Verstehen und erfolgreichen Artikulieren der komplexen Güterabwägungen anderer Menschen entstehen, vermischen sich mit den Schwierigkeiten, herauszufinden, wie das Gewünschte hergestellt werden kann. Im ersten Kapitel haben wir festgestellt, dass es niemanden gibt, der wüsste, wie man einen einfachen Bleistift herstellt. Die Aufgabe, vor der die Zentralplaner stehen, ist weitaus komplexer, weil es nicht nur um weitaus komplexere Produkte geht, sondern auch um weitaus komplexere Güterabwägungen unter Millionen von Produkten, die alle dieselben oder ähnliche Güter einsetzen. Die sowjetische Industrie produziert beispielsweise ca. 125.000 Werkzeugteile, was schätzungsweise 15.000.000.000 Kombinationen zulässt.122 Selbst dann, wenn die Zentralplaner alle Experten, die zur Herstellung der Produkte nötig sind, zusammenführen könnten – was ein Stadion voller Menschen bedeuten würde –, wären die Abwägungen unter 119

Engels (1975), S. 184. Lange (1964); Lerner (1944). 121 Pejovich (1976), S. 109. 122 Pejovich (1976), S. 99. 120

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den Gütern, die um dieselben Rohstoffe rivalisieren, ein unlösbares Problem. Kurz und gut, die Zentralplaner können die Abwägungsmuster für die Produktion genauso wenig kennen wie die für die Konsumption. Andere könnten sie kennen – jeder für sein kleines Segment in der Gesamtwirtschaft –, aber der Transfer, der dieses Wissen intakt zu einer zentralen Entscheidungsstelle übermitteln würde, wäre eine kostspielige und riskante Angelegenheit. Vieles hinge von den Anreizen und Begrenzungen ab, denen das Individuum vor Ort beim Übertragen seines Wissens an die zentrale Planstelle ausgesetzt wäre. Ein sowjetischer Betriebsleiter weiß besser als irgendjemand in Moskau, was sein Werk kann bzw. nicht kann. Es geht ihm genau so, wie es den Siedlern in den amerikanischen Kolonien ging, die besser als irgendjemand in London wussten, was unter den lokalen Bedingungen wirtschaftlich machbar war und was nicht – oder die Sklaven, die besser als irgendein Aufseher oder Sklavenbesitzer wussten, was sie zu leisten vermochten und was nicht. Das Grundproblem liegt in der Trennung von Wissen und Macht. Wer die Macht hat, das Wissen hervorzukitzeln, kann sich dazu Anreize ausdenken, aber diese Anreize unterliegen Grenzen, die der Erhalt der Grundbeziehung einfordert – in unseren Fällen heißt die Grundbeziehung Zentralplanung, Kolonialismus und Sklaverei. Weil die Schätzungen der Zentralplaner hinsichtlich der Kapazitäten der einzelnen Anlagen die Grundlage für die anschließende Bewertung des Erfolgs werden, den die Betriebsleiter erzielen, sind die sowjetischen Betriebsleiter bei der Informationsübertragung an die zentrale Planstelle stets bemüht, „die Leistungsfähigkeit herunterzuspielen und den Bedarf hinaufzuschrauben.“123 Die Zentralplaner wissen, dass sie belogen werden, doch nicht, wie sehr, weil sie dazu das Wissen bräuchten, das ihnen fehlt. Eine Möglichkeit, die Leistung zu erhalten, die sich am wahren Leistungsvermögen statt an übertragenen Botschaften orientiert, bietet ein System mit abgestuften Anreizzahlungen für die „Übererfüllung“ des Plansolls. Die sowjetischen Betriebsleiter wissen wiederum ganz genau, dass sehr viel höhere Produktionszahlen zu einer Höhersetzung ihres Plansolls führen. Also wird ein kluger Betriebsleiter sein Soll nur um 5 % „übererfüllen“, und nicht um 25 %.124 Kurzum, zwischen den sowjetischen Betriebsleitern und Zentralplanern gibt es fortwährend „gegenseitige Versuche, einander auszutricksen.“125 Eine intakte Wissensübertragung findet nicht statt. Die Wissensverzerrung ist weitaus verheerender, wenn die gesamte Wirtschaft auf Grundlage solcher Verlautbarungen und den Einschätzungen der Zentralplaner beruht. In einer Marktwirtschaft werden Entscheidungen in einem völlig anderen Verfahren getroffen. Das einzelne Unternehmen, das Rohmaterial, Kapitalausstattung usw. möchte, versucht auf dem Markt, mit seiner Einschätzung das Beste zu erzielen. Der Wettbewerb mit den anderen potenziellen Nutzern derselben Res 123

Pejovich (1976), S. 99. Nove (1962), S. 588. 125 Berliner (1959), S. 361. 124

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sourcen zwingt sie, so weit, wie es ihnen angesichts ihrer Kenntnis um das eigene Unternehmen und die Kundschaft möglich ist, mit zu bieten. Es geht nicht darum, irgendjemandem irgendetwas zu verkünden, sondern darum, Wissen durch Angebotspreise zu vermitteln. Es ergibt auch keinen Sinn, die Produktionskosten gegenüber dem Kunden zu übertreiben, weil die Konkurrenz sonst den Preis unterbietet und die Kunden abwirbt. Kurz und gut, das unartikulierte Wissen, das implizit in den Preisen steckt, dürfte weitaus akkurater sein als das explizit artikulierte Wissen, das die Zentralplaner vermitteln. Die Sondernachteile der Zentralplanung in der Landwirtschaft – die sich symbolträchtig in den massiven Importen amerikanischen Weizens in die Sowjetunion dokumentieren – sind auf Sonderprobleme der Wissensvermittlung zurückzuführen. Im landwirtschaftlichen Anbau und in der landwirtschaftlichen Produktion tritt viele Varianz auf. Folglich ist hier der Umfang des benötigten Wissens für eine zentrale Planung in der Größenordnung, wie man sie in der übrigen Industrie kennt, noch viel wuchtiger. Allein die Bodenbeschaffenheit auf einer Fläche von ein paar hundert Quadratmetern kann erheblich variieren. Verkrustungen, chemische Zusammensetzung, physikalische Formung, horizontales und vertikales Wasseraufkommen: sie alle beeinflussen, was zu welchen Kosten hier wachsen kann. Der Ertrag variiert oft buchstäblich von einer Parzelle zur anderen. Auch Frische, Nährwert und Verderblichkeit variieren von einem Tag auf den anderen, manchmal von einer Stunde auf die andere. All dies steht z. B. in scharfem Kontrast zur Stahlproduktion, bei der eine Kombination auf Eisen und Kohle im Schmelzofen dafür sorgt, dass ein Produkt entsteht – egal, ob in Moskau oder in Wladiwostok. Außerdem behält das Produkt seine ursprüngliche Qualität jahrelang. Die Sowjets kennen „die sehr unterschiedlichen Bedingungen, die es schon immer in der Landwirtschaft gab,“126 selbst sehr genau. Aber es gibt eine große Kluft zwischen der Erkenntnis und der Fähigkeit, Anreize für den richtigen Umgang mit den Bedingungen zu schaffen, ohne gleichzeitig die politische und wirtschaftliche Struktur des Landes aufzugeben. Zahllose „Reformen“ haben sich in der sowjetischen Landwirtschaft die Hand gegeben und versucht, die ihr innewohnenden Beschränkungen in den Griff zu kriegen. Viele wohlklingende politische Maßnahmen im Agrarsektor – Anbaurotationsverfahren, Anpflanzsysteme usw. – aus den Reihen der Zentralplaner wurden kategorisch und „ohne Rücksicht auf die lokalen Bedingungen“ über die Köpfe der opponierenden Agronomen vor Ort hinweg angewendet, auch dort, wo die notwendigen Umweltbedingungen einer erfolgreichen Umsetzung nicht gegeben waren.127 Oft geschah dies auf Anweisung von oben, aber selbst dann, wenn der sowjetische Premier vor „Exzessen“ warnte, fanden viele lokale Politchefs es sicherer, der allgemeinen und offiziellen Politik zu folgen, statt einen persönlichen Sonderweg zu riskieren, der nur eventuell funktioniert hätte.128 126

Nove (1964), S. 588. Nove (1964), S. 581. 128 Nove (1964), S. 582 f. 127

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Es gibt viel Literatur zur Launenhaftigkeit sowjetischer Zentralplaner, doch es geht hier nicht um die Ineffizienz der Sowjets und den Schwierigkeiten, die das „Planen“ birgt. Das Leben der Menschen birgt stets Schwierigkeiten. Der Punkt ist der, dass mit einer besonderen Art institutioneller Anreizstrukturen eine besondere Form von Schwierigkeiten verbunden ist, die auf die Artikulation und Übertragung von Wissen zurückführbar ist. Dieser Sachverhalt wird dadurch verdeutlicht, dass die Schwierigkeiten dieser Anreizstruktur in derselben Form auch dort auftauchen, wo völlig andere historische und ideologische Bedingungen vorherrschen. Georgia war unter den Kolonialstaaten Amerikas seinerzeit die am weitesten ausgebaute „Plankolonie“. Es wurde von London aus gesteuert und stark subventioniert, und zwar von einer Gruppe von Philanthropen, die nicht profitorientiert waren und denen die britische Regierung die Geschicke der Kolonie anvertraut hatte. Sie gaben die Rationen aus, verfügten über die Fonds für Lehrer und Hebammen sowie über die Kochutensilien und Kleidung – und das alles für Menschen, die 3.000 Meilen weit weg in einem Land lebten, das die Londoner Kuratoren nie gesehen hatten.129 Keine andere Kolonie genoss die Vorteile einer so umfangreichen „Planung“ bzw. Zentralverwaltung. Und dennoch war Georgia am Ende „die Kolonie mit der geringsten Prosperität und Population.“130 Seine Probleme waren die klassischen Planungsprobleme. Die Fehlkalkulationen in der Anfangsphase, die auf dem inadäquaten Wissen der entfernt lebenden Planer gründeten, konnten nicht sogleich durch die Rückmeldungen korrigiert werden, die auf dem Erfahrungswissen basiert hätten, das die Menschen hätten sammeln können. So waren z. B. Eigentumsrechte nicht frei transferierbar. Folglich wurden die ursprünglichen Einschätzungen, welche die Londoner Kuratoren hinsichtlich der für den Anbau optimalen Landvergabe hatten, eine festgefrorene Größe im Kolonialalltag. Ihre verlautbarten Entscheidungen galten nur dem „Land“ – als ob es eine homogene Ressource wäre. Land variiert aber – wie bereits festgestellt – in chemischer, topographischer und sonstiger Hinsicht, die Einfluss auf den Ertrag nimmt. Grundstücksparzellen, die gleich groß waren, waren im Hinblick auf jene ökonomischen Variablen ganz und gar nicht gleich. Ohne Austauschmöglichkeiten unter denen, die dort lebten und mit der Natur des Landes und dem bäuerlichen Leben auf dem Lande vertraut waren, gab es auch keine Möglichkeit, diese Merkmale gegeneinander abzuwägen und so zu interagieren, dass es Einfluss auf die „Fruchtbarkeit“ genommen hätte. Kurz, die Planungsverzerrungen waren nicht nur voller Ungerechtigkeiten, sondern auch von Ineffizienzen begleitet. Wäre es möglich gewesen, die ursprünglich verlosten Parzellen frei zu handeln, dann wäre derlei Ineffizienz zumindest korrigierbar gewesen.131 129

Boorstin (1958), S. 87 f. Boorstin (1958), S. 95. 131 Die physikalische Beschaffenheit des Bodens in Georgia wäre zwar unverändert geblieben, aber die durchschnittliche Farmgröße hätte sich auf ein optimales Maß eingependelt und die Verteilung des Landes auf Menschen mit unterschiedlich großem Wissen in der Landwirtschaft hätte die Felder nach einem solchen Sortierungsprozess insgesamt produktiver werden lassen. 130

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Gemäß der Regel, die Farm an einen männlichen Erben weiterzugeben, hatten die Siedler mit einer Zuteilung, aber ohne männlichen Erben, einen Vermögenswert mit einem verhältnismäßig kurzen Zeithorizont. Folglich hatten sie weniger Anreize, langfristige Verbesserungen herbeizuführen, weil sie diese nicht auf dem Markt verkaufen konnten.132 Die Unzufriedenheit und Benachteiligung, zu der dieses Anreizsystem führte, zwang die Londoner Kuratoren schließlich dazu, die Kontrolle über den Transfer der Bodenrechte zu lockern, wobei jede Konzession zähneknirschend gemacht wurde, „so als ob man ein Prinzip opfern würde.“133 Ihr fehlendes Wissen zeigten die Londoner Planer auch bei der Wahl jener Wirtschaftstätigkeiten, die sie förderten. Weil in Georgia Maulbeerbäume wuchsen, befand man, hier sei der richtige Ort für Seidenraupen und eine Seidenindustrie. Wie so oft wurde eine „Expertise“ (von einem Experten der italienischen Seidenherstellung) angefordert. Sie sollte das Projekt befürworten und führte zu einem Bericht, der „an Enthusiasmus zu viel hatte, was ihm an Wissen aus erster Hand fehlte …“134 Das entscheidende Stück Erfahrungswissen aus erster Hand, das fehlte, betraf die besondere Art von Maulbeerbaum in Georgia, die eine andere war als jene, die von den Seidenraupen im Orient genutzt werden. Auch das Klima war ein anderes. In der Folge starben die Seidenraupen in Savannah zur Hälfte.135 Außerdem fand man in Georgia nicht die Arbeitskräfte, die es mit denen im Orient an Geschick, Fleiß und niedriger Bezahlung hätten aufnehmen können. Dennoch gab es ein Lieblings- bzw. „Vorzeigeprojekt“ – ein Talar für die Königin, hergestellt in Georgia. Die georgische Seide blieb indes kommerziell unrentabel.136 Zwanzig Jahr lang pumpte die britische Regierung mehr als 130.000 Pfund in die georgische Wirtschaft. Hinzukamen kirchliche und private Donationen, einschließlich einer Summe von mehr 90.000 Pfund von einem der Londoner Kuratoren. Derlei massive Subventionen machten es unnötig, dass die Georgier Steuern zahlten. Mithin war es auch nicht nötig, vor Ort eine repräsentative Regierung zu haben, die Steuern erhoben hätte. Dies wiederum eliminierte den Bedarf für Institutionen, die politische Rückmeldungen für eventuelle Modifikationen der Kuratorenpläne aus der Ferne hätten geben können. Die von der britischen Regierung ausgegebene Summe war größer als jede andere, die sie jemals für ein nichtmilitärisches Projekt aufgebracht hat. In der Zwischenzeit kehrten die Nutznießer dieser Großzügigkeit Georgia den Rücken und verschwanden in weniger stark subventionierte und kontrollierte Kolonien. Sogar massive Subventionen konnten das Planungsprojekt letztlich nicht länger am Leben halten. 1751 gaben die Kuratoren die Kolonie an die britische Regierung zurück. So wie andere „Planer“ auch, suchten sie die Schuld für das Scheitern nicht bei ihren eigenen Entscheidungen 132

Boorstin (1958), S. 95. Boorstin (1958), S. 90. 134 Boorstin (1958), S. 83. 135 Boorstin (1958), S. 93. 136 Boorstin (1958), S. 93. 133

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2. Teil: Themen und Tendenzen

oder den inhärenten Grenzen der Planung, sondern bei der mangelnden finanziellen Unterstützung, die man noch gebraucht hätte.137 Nicht-ökonomische Begründungen Es gibt neben ökonomischen Gründen auch moralische und politische Gründe, eine regierungsgesteuerte Wirtschaftsform („Planwirtschaft“) der dezentralisierten Koordination durch den Preis („Kapitalismus“) vorzuziehen. Der wohl gängigste Grund für die Bevorzugung der „Planwirtschaft“ im Allgemeinen und der sozialistischen „Planwirtschaft“ im Besonderen ist die Auffassung, der Kapitalismus sei moralisch unangemessen – entweder im Sinne (1) einer unverhohlenen „Ausbeutung“ einer Gruppe durch eine andere, national wie international, (2) einer egoistischen Jeder-für-sich-Amoralität oder (3) einer „Meritokratie“, die unser gemeinsames kulturelles Erbe und die Humanität im Allgemeinen außen vorlasse. Zu den ökonomischen Gründen im engeren Sinne, die für eine Bevorzugung eines staatlichen Dirigismus gegenüber einer dezentralen Preiskoordination sprechen, gehört die Möglichkeit, externe Kosten zu internalisieren und auch die langfristigen Konsequenzen ökonomischer Entscheidungsfindung im Auge zu behalten sowie die monopolistischen Praktiken zu vermeiden, die sich nachteilig auf die Effizienz der preiskoordinierten Wirtschaftsform auswirken. Einer der hauptsächlichen politischen Einwände gegen das historisch gewachsene Preiskoordinierungssystem in der westlichen Gesellschaft gilt der Ungleichheit von Wohlstand und Macht unter den Menschen und Organisationen sowie den Verzerrungen, die mit dieser Ungleichheit in den politischen und ökonomischen Prozess Einzug halten. Kapitalistische Zwischenhändler werden oft als „reine Absahner und Parasiten“138 und Profit als schlichte Form der „Überberechnung“139 dargestellt. Gelegentliche Abschöpfung bei Gütern, die ihren Weg vom Hersteller zum Konsumenten angetreten haben, mag vielleicht plausibel erscheinen, aber wenn Hersteller und Konsumenten wiederholt und dauerhaft die Entscheidung treffen, ihre Ver- und Einkäufe über Mittelsmänner abzuwickeln, kann man dies nur schwer erklären, es sei denn damit, dass beide diesen Umweg weniger kostspielig finden als die direkte Verhandlung. Die Konsumenten müssen nicht direkt den Weg in die Fabrik nehmen und sparen sich so all die Unannehmlichkeiten (und etwaigen Gefahren), die mit diesem Weg verbunden sind. Die Hersteller könnten eigene Verkaufsfilialen unterhalten, was manche von ihnen auch tun. Dass dies trotzdem selten der Fall ist – selbst dann, wenn die Hersteller über genug Kapital zur Finanzierung verfügen –, legt die Vermutung nahe, dass für so unterschiedliche Aufgaben auch unterschiedliche Talente gefragt sind. Firmen, die auf einer bestimmten Stufe des ökonomischen Prozesses sehr erfolgreich sind, finden es daher ab und an billiger, 137

Boorstin (1958), S. 93. Shaw (1928), S. 334. 139 Shaw (1928), S. 137. 138

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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ihre Produkte an andere Firmen weiterzureichen, die den Prozess auf der nachfolgenden Prozessstufe günstiger durchführen können. Wenn diese die Weiterlieferung an den Konsumenten billiger bzw. besser umsetzen könnten, dann hätte der Hersteller keinerlei Anreiz, Kosten und Mühen für eine Verhandlung mit Mittelsmännern aufzubringen, diesen die Güter zu schicken und sich mit der Erwirkung einer reibungslosen Bezahlung herumzuschlagen. Als Evidenz für die ökonomischen Vorteile der Mittelsmannfunktion dürfte vielleicht noch schwerer wiegen, dass sogar die sowjetische „Planwirtschaft“ – die den Mittelsmännern ideologisch feindlich gegenübersteht – sich genötigt sah, ähnliche Einrichtungen einzusetzen, und zwar nicht nur für Konsumgüter, sondern auch für die Ausrüstung und den Bedarf der Hersteller.140 In jedwedem Wirtschaftssystem sind inventarisierte Lagerbestände ein Ersatz für Wissen. Beide werden unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Kosten inkrementell gegeneinander abgewogen. Wenn die Hausfrau genau wüsste, was und wieviel ihre Familie essen wird, dann müsste sie weder ihren Kühlschrank noch ihre Vorratskammer so reich und reichhaltig bestücken, wie es meistens der Fall ist. Es würde auch weniger „Lebensmittelabfall“ anfallen als sonst. Wie so viele andere im Nachhinein vorgenommene Einschätzungen, so fußt auch diese auf der stillschweigenden Annahme, man könne die Zukunft vollständig und kostenlos vorhersehen. Wenn man den Pfad einer bestimmten Gütereinheit oder eines besonderen Produkts rückwärts zurückverfolgt, dann stellt man für das isoliert betrachtete Produkt oft eine „Überberechnung“ oder einen „exorbitanten“ Aufschlag fest. Der Grund für die Anlegung eines Vorrats – egal, ob Hausfrau oder multinationaler Konzern – liegt jedoch allein in den Kosten prospektiven Wissens. Folglich wird eine ganze Ansammlung von Sachen gelagert, weil keiner im Voraus wissen kann, was davon wann gewollt wird. Die Kosten für die Sachen, die sich später als ungewollt herausstellen, sind (teilweise) in den Kosten enthalten, die man für die Dinge verlangt, die sich dann als nachgefragt erweisen. Dort, wo größte Unsicherheit (und 140 Berliner (1976), S. 440. Zentrale Lagerbestände und die dafür zuständigen „Mittelsmänner“ sind eine (zumindest inkrementelle) Alternative zu den individuellen Vorratshaltungen der Konsumenten und Hersteller. Eines der Probleme, welche die Sowjetwirtschaft chronisch plagen, ist das Horten von Rohmaterialien und Ausrüstungsteilen in den einzelnen Fabriken. Im Idealfall teilen die Zentralplaner den Herstellern die Einsatzmengen zu, die sie für ihre Produktion benötigen. Aber die Allwissenheit, die in der Theorie für diese Aufgabe gebraucht wird, ist in der Praxis selten anzutreffen. Ein Flaschenhals an irgendeiner Stelle kann eine Kettenreaktion an unerfüllten Planquoten auslösen, es sei denn, die einzelnen Betriebe können inventarisierte Lagerhallen nutzen, für die sie keine langen bürokratischen Wege gehen müssen, um den Zentralplanern „auf dem Dienstweg“ artikulierte Rückmeldungen zu geben. Ohne offizielle Dienstwege zur Bescheinigung, Sortierung und Etikettierung von Anfragen würden die Zentralplaner von – frivolen bis verzweifelten – Anfragen überhäuft werden. Man würde von allem, und aus allen Ecken des Landes, mehr anfordern. Sowjetische Mittelsmänner mit Erfahrung können ohne zentrale Autorisierung auf lokale Anfragen reagieren. Dieses Verfahren wiederum „stellt den Wert der Zentralplanung in Frage“ (Berliner (1976), S. 440). Zumindest lässt es deren Grenzen erahnen und dürfte die politische Erklärung dafür liefern, warum die Zentralplanung letztlich ein Experiment bleibt.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

höchste Wissenskosten) herrschen, ist dies ganz offensichtlich, vor allem bei den verderblichen Agrargütern. Wenn 1/3 aller Pfirsiche auf dem Weg vom Hersteller zum Kunden ausrangiert werden müssen, dann entsprechen die Kosten für den Verzehr von 200 Pfirsichen den Kosten der Herstellung von 300 Pfirsichen. Würde man rückblickend die Kosten jener 200 tatsächlich gegessenen Pfirsiche aufspüren wollen, dann entdeckte man, dass 50 % „zu viel“ berechnet wurden, obwohl keiner einen Cent Profit gemacht hätte. In ähnlicher Weise würde man auf die Frage, wie viel der Bauer für jeden Pfirsich erhalten hat und wie der Betrag sich zu dem verhält, den der Konsument für einen Pfirsich bezahlt hat, eine große Diskrepanz bemerken, selbst dann, wenn für Transport, Lagerung und Mittelsmänner keine Kosten veranschlagt wären und der Profit bei null läge. Angenommen, die Mittelsmannfunktionen erfüllen einen ökonomischen Zweck und führen Kosten mit sich, was hält dann die Mittelsmänner davon ab, mehr für ihre Dienste zu berechnen, als diese kosten bzw. wert sind? Nur das, was jeden anderen auch davon abhält, der an anderer Stelle in der Wirtschaft oder Gesellschaft gleichermaßen verfährt. Wie wir bereits festgestellt haben, sind Kosten nichts anderes als entgangene Alternativen. Es sind diese Alternativen, die auch Mitbewerbern offenstehen, die festlegen, wie viel ein Anbieter mit Erfolg verlangen kann. Wenn irgendein Verkäufer mehr berechnet, als man braucht, um die auftretenden Kosten zu decken – also mehr, als den alternativen Herstellern die Risiken und die Anstrengungen wert sind –, dann werden die alternativen Hersteller ihn verdrängen, indem sie ihn preislich unterbieten. Letzten Endes sind Verkäufer mehr damit befasst, ihren gesamten Profit zu mehren, statt den Profit pro Verkaufseinheit zu maximieren. Ganze Verkaufsketten leben davon, allerlei Waren für ein paar Cents weniger anzubieten. Die konstanten Bemühungen, dergleichen mithilfe von Gesetzen für einen „fairen Handel“ und das Robinson-Patman-Gesetz zu unterbinden, ist eigentlich nur ein Zeichen dafür, wie allgegenwärtig die Anreize für solche Preisunterbietungen sind. Der Wunsch der Geschäftsleute, Gewinn zu machen, ist der Grund, der die Preise nach unten drückt – solange sie nicht mit Gewalt (meist in Form staatlicher Aktivitäten) davon abgehalten werden, in Preiswettbewerb zu treten. Sogar Karl Marx hat erkannt, dass ein Kapitalist, der eine Kostenersparnis einführt, den übrigen Kapitalisten keine andere Wahl lässt, als ihm zu folgen.141 Alle Preise – ob für Löhne, Profite, Zinsen, Gebühren oder sonstiges – werden nur durch den Wettbewerb mit den anderen Anbietern begrenzt. Die Preise unterscheiden sich hier im Grunde nicht von den anderen Faktoren, wenn man davon absieht, dass sie Residualgewinne und daher variabel und nicht durch Verträge fixiert sind. Gelegentlich werden Profite als etwas Besonderes betrachtet. Man meint, sie stellten eine „Ausbeutung“ anderer Produktionsfaktoren dar – vor allem der Arbeit –, und nicht (nur) eine des Konsumenten. Ein Grund dafür, warum man dies glaubt, ist schlicht die Betonung des physikalischen Herstellungsprozesses als Quelle ökonomischer Werte und die Ausklammerung jener, die nicht Teil dieses 141

Marx (1959).

Kap. 8: Tendenzen in der Ökonomie

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physikalischen Prozesses sind, aus der Gruppe derer, die etwas zum wirtschaftlichen Endergebnis beitragen. Folglich ist alles, was letztere für ihren nicht-existenten „Beitrag“ erhalten, Ausbeutung. Besonders gut ausgeklügelt findet man diese Denkweise in Marxens Theorie vom „Mehrwert“ – genauer noch in seiner Definition von Mehrwert als Spanne zwischen den Löhnen der Arbeiterklasse und dem Gesamtausstoß.142 Wie so viele andere gemütsbewegende Vorstellungen, ist auch die von Marx keine überprüfbare Hypothese, sondern eine axiomatische Konstruktion. Ausstoß pro Arbeitseinheit wird einfach „Arbeitsausstoß“ genannt – eine Praxis, die auch jenseits marxscher Kreise üblich ist. Ausstoß kann man offensichtlich durch jeden Produktionsfaktor teilen, so wie jeder Nenner durch jeden beliebigen Zähler geteilt werden kann. Statt die Anzahl der produzierten Automobile durch Arbeitsstunden zu teilen, können wir sie auch durch eine bestimmte Menge Handcreme teilen, wenn es uns beliebt. Der Umstand, dass in einem Bruch eine Zahl oben und eine unten steht, ergibt noch keine kausale Verbindung zwischen den beiden. Die implizite Verbindung zwischen Automobilen und Handcreme könnten wir unmittelbar erahnen. Aber sobald wir einen Anfang mit zwei Dingen haben, die plausibel miteinander verbunden sind, können wir auch dazu übergehen, der Plausibilität den Anschein von Überprüfung oder Präzisierung zu verleihen, indem wir die Dinge in Brüche verwandeln. Geschäftsleute verlangen oft Steuererleichterungen und begründen sie mit der Notwendigkeit, in jeden Job eine bestimmte Menge Dollars investieren zu müssen. In der Folge der Steuerkürzungen werde dann die Beschäftigung steigen. Dass Investitionen und Beschäftigung miteinander verbunden sind, klingt im Allgemeinen plausibel, aber eine Überprüfung bzw. Präzisierung durch Brüche ist fadenscheinig. Mal ganz abgesehen davon, dass man gesenkte Unternehmenssteuern als Dividenden an die Firmenleitung verteilen kann, kann auch dann, wenn sie restlos als Investition eingesetzt werden, diese Investition genauso gut dafür genutzt werden, die bestehende Belegschaft durch Maschinen oder durch neue Arbeitskräfte zu ersetzen. All dies hängt von den relativen Preisen, der Lage auf dem Gütermarkt und der technologischen Entwicklung ab. Keine dieser prospektiven Variablen kann durch retrospektive Daten erfasst werden, die das Verhältnis zwischen Gesamtinvestition und Anzahl der Beschäftigten abbilden. Marxens Argumentationsweise ist letztlich dasselbe Spiel, nur mit anderen Karten. Ausstoß pro Arbeitseinheit wird per Definition zum Arbeitsausstoß. Eigentlich gibt es ein ganzes System an subsidiären Definitionen, die auf demselben willkürlichen Postulat gründen.143 Als überprüfbare Hypothese formuliert würde diese Doktrin wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Wenn der Faktor Arbeit der einzige – oder auch nur der hauptsächliche – Wertfaktor wäre, dann wären in jenen Wirtschaftsformen, in denen der Arbeitseinsatz höher und der Einsatz anderer Faktoren niedriger ist, der Pro-Kopf-Ausstoß und somit das Realeinkommen höher. 142 143

Marx (1962), 3. Abschnitt, Kapitel 5.2 (Verwertungsprozess), S. 201–213. Marx (1962), 3. Abschnitt, Kapitel 5.2, 6 und 7, S. 201–244.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Aber offensichtlich ist das Gegenteil der Fall. In den ärmsten der armen Länder arbeiten die Menschen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts härter und länger, als es in den fortschrittlichen und wohlhabenden Ländern der Fall ist, wo kaum jemand die materiellen Güter während ihrer Herstellung anrührt. Eigentlich kann man nur in den letztgenannten Ländern seine Existenz wie selbstverständlich auf einfache Weise sicherstellen. Und nur dort hat man die Zeit und das Geld für Bücher über die „Ausbeutung“ und „Entfremdung“ der Arbeit. Manche Versuche, die Ausbeutungstheorie zu retten, nehmen Rekurs auf die internationalen Verhältnisse und behaupten, dass die wohlhabenden „kapitalistischen“ Nationen Schuld an der „Beraubung der restlichen Welt“ in Form des „Imperialismus“ hätten.144 Manchmal gründet derlei auf nichts als verbaler Willkür, bei der man sich auf den Konsum jener Länder am eigenen Ausstoß bezieht und ihn als unverhältnismäßig hohen Konsum am Gesamtausstoß bzw. an den Gesamtressourcen „der Welt“ deklariert. Das ist vor allem im Hinblick auf die Vereinigten Staaten, deren internationale Wirtschaftstransaktionen in Relation zu den inländischen Wirtschaftsaktivitäten nur einen Bruchteil ausmachen, ein sehr irreführendes Vorgehen. Außerdem erstrecken sich die internationalen Aktivitäten Amerikas überproportional auf andere Industrienationen und kaum auf die Staaten der Dritten Welt, die angeblich die Quelle des amerikanischen Wohlstands sind. Die Vereinigten Staaten haben mehr in Kanada investiert als in sämtlichen Staaten Lateinamerikas, Asiens und Afrikas zusammengenommen. Die amerikanischen Investitionen in Westeuropa liegen sogar noch über denen in Kanada.145 Selbst die Daten in Lenins Imperialism zeigen, dass die Industrienationen lieber in ihren eigenen Reihen als in den Regionen der unterentwickelten Länder anlegen,146 obgleich die Worte in seinem Text behaupten, dass der Kapitalismus nur seiner Selbstzerstörung entkommen sei, indem er sein Kapital in nicht-kapitalistische Staaten exportiert habe. Wenn nichts mehr hilft, dann verweisen die Anhänger dieser Auffassung auf spezifische Aktivitäten, die belegten, dass die kapitalistischen Länder sich in einer Weise verhalten hätten, die moralisch falsch sei. Welche Verdienste diese Argumente auch in vereinzelten Fällen haben mögen, der Machtmissbrauch ist ein so allgemeines Phänomen in der Geschichte, dass man ihn kaum darauf reduzieren kann, das Wesensmerkmal des Kapitalismus zu sein. Noch unangebrachter ist, mit Hilfe der genannten Argumente für ein alternatives System zu werben, das noch mehr Machtanballung in sich trägt.

144

Genovese (1978), S. 41. U. S. Bureau of Census (1975), S. 870. 146 Lenin (1963), S. 64. 145

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Das 20. Jahrhundert wurde Zeuge eines deutlichen Trends hin zu wirtschaftlichen Entscheidungen, die von Dritten getroffen werden. Dieser Trend zeichnete sich im Banner vieler politischer und ideologischer Strömungen und in verschiedenen Formen wirtschaftlichen Lebens ab. Manchmal wurde einer bestimmten Form wirtschaftlicher Transaktion die Entscheidungsfindung vorgeschrieben, wie z. B. bei der Mietpreisbindung und den Mindesteinkommen. Ein anderes Mal waren die Maßnahmen eher willkürlich, etwa wenn man die Preise allgemein oder eine bestimmte Branche, wie das Transport- oder Kommunikationswesen, regulieren wollte. In einigen Ländern ging man sogar so weit, die ganze Wirtschaft kontrollieren zu wollen. Die Resultate moderner „Planung“ zeigen ein Muster, das sich schon in den Jahrhunderten zuvor unter ganz anderen Umständen und im Rahmen völlig anderer Ideologien und Parolen abgezeichnet hat. Die Ergebnisse des umfangreichen „Planens“ im Georgia der Kolonialzeit sind die, die auch die sowjetische Planwirtschaft zeitigte, und die diversen modernen Formen der Preiskontrolle haben buchstäblich das Gleiche hervorgebracht wie die Preiskontrollen unter dem Codex Hammurabi oder jene im Römischen Reich unter Kaiser Diokletian.147 Das Ganze birgt eine besondere Form der Ironie, weil ein Großteil der modernen „Planwirtschaft“ betont, revolutionär und neu zu sein – was wahrscheinlich nahelegen soll, dass man vor der kritischen Prüfung mittels altmodischer Analysemethoden und altmodischer Moralstandards gefeit sei. Dabei ist nichts älter als die Idee, dass die Weisheit der Menschen sich in einigen wenigen Auserwählten vereine (Anwesende stets eingeschlossen), die sie den vielen Unwissenden aufzwingen müssten. Der in sehr unterschiedlichen historischen Situationen wiederholt unternommene Versuch, diese Doktrin entschlossen anzuwenden, legt die Vermutung nahe, dass die Doktrin die Zeit wohl eher als Axiom oder Ideologie überstehen wird denn als Hypothese. Kapitel 9

Tendenzen im Rechtswesen Die rechtlichen Institutionen in den Vereinigten Staaten sind in einer Verfassung verankert, die rund 200 Jahre alt ist und sich seither in ihrer Grundphilosophie wenig verändert hat. Die meisten Zusätze, die später hinzukamen, sind in ihrem Geiste und dem der Bill of Rights verfasst. Und dennoch erlebten die amerikanischen Rechtsinstitutionen im Verlaufe der letzten Generation eine Revolution – eine Revolution, die nicht nur zeitlich, sondern auch geistig mit Änderungen in den 147

Schuettinger (1978), S. 74.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

wirtschaftlichen und politischen Institutionen zusammenfiel und mit diesen in dieselbe Richtung weist. Die Zentralisierung der Entscheidungsfindung ist ein Muster, das die wichtigsten Gerichtsurteile durchzieht – angefangen vom Kartellrecht über die Bürgerrechte, die Rassenpolitik bis hin zur Neuordnung der staatlichen Gesetzgebung. Diese rechtlichen Entwicklungen führten im Endergebnis dazu, dass die Befugnisse der Gerichte und die Macht der staatlichen Behörden ausgeweitet wurden – wobei diese Institutionen die wenigsten Rückmeldungen aus der Bevölkerung erfahren, was sie besonders dafür anfällig macht, einen eingeschlagenen Weg fortzusetzen, nachdem sie in die Fänge einer Idee oder Clique geraten sind. Wir haben es hier mit einer Verschiebung zu tun. Das gilt sowohl für den Ort der Entscheidungsfindung als auch für die Art und Weise der Entscheidungsfindung. Entscheidungen, die vormals in einem inkrementellen und fungiblen Medium wie Empfindungen und Geld erwogen wurden – wobei das Wissen kostengünstig und bequem durch informelle Mechanismen geleitet wurde –, werden nun in einem Medium der Artikulation und im Rahmen meist kategorischer Bedingungen erwogen, wobei die Wissensvermittlung für dritte Parteien dokumentiert wird, nach bestimmten Evidenzregeln abläuft und höhere Kosten aufwirft. Auch die Vorlieben oder Anfälligkeiten besagter Drittparteien gewinnen weit mehr an Bedeutung, als man für eine verfasste bzw. demokratische Gesellschaft je erwogen hat. Diese historischen Veränderungen im Rechtswesen gingen mit einer enormen Zunahme an Anwälten, Richtern und Rechtsfällen einher. Die Zahl der Anwälte und Richter pro Kopf stieg zwischen 1970 und 1977 um 50 %.148 Allein Kalifornien hat ein größeres Rechtssystem als jede Nation der Welt mit Ausnahme der USA.149 Die quantitativen und qualitativen Aspekte der Gesetzestrends sind nicht frei von gegenseitigen Abhängigkeiten. Die Gerichte haben sich vermehrt Themen angenommen und Urteile zu Fragen gefällt – unter ihnen die internen Regeln freiwilliger Organisationen und die Neustrukturierung politischer Körperschaften. Gleichzeitig haben immer mehr Menschen versucht, vor Gericht das herauszuschlagen, was sie mithilfe anderer Institutionen nicht erreichen konnten, und Gerichtsurteile auf extrem dürftiger Grundlage zu erzielen. Eine Übersicht von 1977 stellt fest: „Berufungsrichter schätzen, dass 80 % aller Berufungen nicht haltbar sind.“150 Zu den Kosten von alledem gehören aber nicht nur die Gehälter der Richter und Anwälte. Auch anderenorts liegen die realen Kosten in den entgangenen Alternativen – vor allem schnelle Urteile, die den Unschuldigen freisprechen und den Schuldigen bestrafen, damit die Öffentlichkeit den frei herumlaufenden Kriminellen nicht schutzlos ausgesetzt ist, während sich die Prozesse vor Gericht in die Länge ziehen. Die Kosten der Verzögerungen zeigen sich in Zivilrechtsfällen vor allem dann, wenn große ökonomische Ressourcen aus Gründen der Rechts-

148

Those Lawyers (1978). Kline (1978), S. 1. 150 Too much law (1977), S. 45. 149

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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unsicherheit brachliegen. In Fällen, in denen die Fürsorge des Kindes oder andere seelisch belastenden Belange auf Klärung warten, treten sie uns aber genauso real entgegen. Kurz und gut, es gibt eine gesellschaftliche Abwägung der Kosten und Nutzen, die mit einer Zunahme an Zivilprozessen und einer Mehrung der Prozessverlängerungen einhergehen. Die institutionelle Frage lautet hier: Wie werden diese gesellschaftlichen Kosten und Nutzen an die einzelnen Entscheidungsträger – die streitenden Parteien, Anwälte und Richter – übertragen? Einige Parteien bleiben von den Kosten ganz und gar verschont. Stattdessen trägt sie der Steuerzahler – z. B. in strafrechtlichen Verfahren, weil dort die Pflichtverteidiger, Berufungen und Gefängnisbibliotheken, in denen die Berufungen vorbereitet werden, zu Lasten des Steuerzahlers gehen. Die verlorenen Kosten der Inhaftierung von Kriminellen, die auf ihren Prozess oder ihre Berufung warten, werden ebenfalls von der Öffentlichkeit beglichen. All diese Kosten sind in den letzten Jahrzehnten aufgrund von Gerichtsentscheiden gestiegen. Natürlich zahlen die Anwälte keine Kosten, sondern erfreuen sich der Vorteile der komplizierteren und zeitaufwändigen Rechtsfindung. Versuchen von Rechtsvereinfachungen stellen sie sich entgegen. Man denke nur an „verschuldensunabhängige“ Versicherungen. In den letzten Jahren nahmen die Vorteile für Anwälte zu, weil zu den Honoraren der Klienten die Zahlungen von anderen hinzukamen – nicht nur jene der Steuerzahler, sondern auch jene, die aufgrund institutioneller Arrangements anfallen, die man gern im Sinne der erhofften Ergebnisse definiert, wenn es beispielsweise um Kanzleien geht, die im „öffentlichen Interesse“ handeln und sich bei ihren „Fällen“ von Donatoren unterstützen lassen. Weil Steuergeld nur für eine bestimmte Art von Fällen zu bekommen ist und die Donatoren sich nur bestimmter Sachen annehmen – wie z. B. die „Umweltschützer“ oder die Unterstützer der NAACP –, haben Anwälte und Rechtsinstitutionen, die von Drittparteien bezahlt werden, jeden erdenklichen Anreiz, sich solcher Fälle anzunehmen, die längst die Schwelle zu den abnehmenden Erträgen bzw. zu den negativen Erträgen für die Gesellschaft überschritten haben. Weil das amerikanische Rechtssystem mit seinen Zivilgerichten und Berufungsinstanzen im Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten gipfelt, sind deren Trends für das Verhalten des ganzen Systems entscheidend. Während der letzten drei Jahrzehnte – und vor allem in der umstrittenen Ära unter Earl Warren („Warren Court“) – mehrten sich die Angelegenheiten, zu denen der Oberste Gerichtshof Stellung bezog. Der Oberste Gerichtshof nahm sich damals auch mehr heraus, wenn es um die Festlegung der Grenzen ging, innerhalb derer andere Institutionen ermessen durften, ob sie die jeweiligen Entscheidungen neu bewerteten. Ein gewisses Maß einer solchen Entwicklung liegt wohl in der Funktionsweise eines jeden Appellationsgerichts. Ein Schuldurteil, das eine Jury unter dem Druck eines aufgebrachten Lynchmobs fällt, kann man nicht aufrechterhalten, nur weil es formal nach der Prozessordnung zustande kam. Aber genauso wenig sollten die Berufungsgerichte einfach nur Fälle neu aufrollen. Vielmehr sollten sie die Verfassungsmäßigkeit der Verfahren und Gesetzgebung feststellen. Anderenfalls

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2. Teil: Themen und Tendenzen

findet statt, was ein Berufungsrichter einmal so formulierte: „Recht wird, was der subjektiven Vorliebe der Berufungsinstanz entspricht.“151 Nachdem Earl Warren 1953 zum Obersten US-Bundesrichter ernannt worden war, wurde der Oberste Gerichtshof zunehmend zu einem Zankapfel. In der Frühphase dieser Auseinandersetzungen waren jene, die dem Gerichtshof vorwarfen, die legitimen Grenzen der Verfassungsauslegung zu überschreiten und das gefährliche Terrain richterlicher Politik zu betreten, meistens gesellschaftlich und politisch gegen den Kern der gefällten Entscheidungen eingestellt, während solche, die sich auf die Seite des Obersten Gerichtshof schlugen, in der Regel die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen (erreichte oder erwartete) befürworteten. An dieser Stelle müssen wir nicht auf die Besonderheiten der frühen Kontroversen eingehen. Mit der Zeit und nachdem der Oberste Gerichtshof einen Weg eingeschlagen hatte, auf dem es dann in allen Bereichen und in einer Vielzahl von Sachverhalten zu richterlichem Aktivismus kam – untere Instanzen befanden über Schulsysteme, ordneten den Bau von Gefängnissen an und schrieben der Gesetzgebung sogar ein Steuergesetz vor –, wandelte sich auch die Natur, mit der der Gerichtshof sich verteidigte. Viele, die für die gesellschaftlichen oder politischen Folgen der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs waren, begannen zu fragen, ob denn derlei Entscheidungen eine legale oder verfassungsmäßige Grundlage hätten. Manche argumentierten, dass man für die Verfassungskonformität der Entscheidungen plädieren könne, der Gerichtshof das aber nicht wirklich getan hätte.152 Andere lamentierten, jetzt sei man schlicht bei der richterlichen Politik angekommen.153 Wiederum andere begrüßten den richterlichen Aktivismus and beklagten nur seine Verschleierung – die „Maskierung“ der „Entscheidungen gemäß der Verdienste“ und der legale Formalismus des Gerichtshofs, um „die Überlegungen hinter den Entscheidungen zu verstecken.“154 Gemäß dieser Auffassungen sollte sich der Oberste Gerichtshof nicht auf die Rolle des Verfassungsinterpreten beschränken, sondern danach streben, die Verfassung als eine Ansammlung von „Werten“ anzuwenden.155 Kurz gesagt, Freund und Feind kamen letztlich gleichermaßen zu der Auffassung, dass der Oberste Gerichtshof die bis dahin bestehende Grenze der Verfassungsauslegung überschritten und sich in das Reich der richterlichen Politik begeben hatte. Wir wollen nun vier Bereiche genauer betrachten, in denen man Tendenzen innerhalb der amerikanischen Rechtsinstitutionen erkennen kann: (1) im Verwaltungsrecht, (2) in der Redefreiheit, (3) beim Thema Rasse und (4) beim Thema Verbrechen.

151

Wheeler v. St. Joseph Hospital, App. 133 Cal. Rptr. 775, S. 794. Glennon / Nowak (1977), S. 247; Horowitz / Karst (1966). 153 Maidment (1975); Berger (1977); Kurland (1970). 154 Glennon / Nowak (1977), S. 247. 155 Glennon / Nowak (1977), S. 260. 152

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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Verwaltungsbehörden Hand in Hand mit der Ausbreitung der traditionellen Rechtsinstitutionen, die im Rahmen der traditionellen Verfassungsschranken agieren, entstand eine sich schnell ausbreitende neue Hybridinstitution  – die Verwaltungskommission. Sie nimmt sowohl legislative, judikative als auch exekutive Funktionen wahr, ungeachtet des Prinzips der Gewaltenteilung, und ist in ihrer Machtausübung nur der sporadischen Aufhebung ihrer Entscheidungen durch ein Berufungsgericht unterworfen, gelegentlich auch der Gesetzgebung durch den Kongress. Die Verwaltungskommissionen sind eine Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts. Die erste ihrer Art war die Interstate Commerce Commission, gegründet 1887. Der neue Behördentypus breitete sich mit dem New Deal von 1930 schnell aus. Er ließ viele sogenannte ABC-Agenturen entstehen: SEC, NLRB, FPC, etc. Die Leiter dieser Bundesbehörden werden vom Präsidenten eingesetzt und haben feste sowie zeitlich versetzte Amtszeiten, die sich überlappen – auch mit den Amtszeiten der Regierung, ganz im Sinne ihrer Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung. Die leitenden Mitglieder dieser Behörden und Kommissionen können nur durch Amtsenthebung abgelöst werden. Ihre Regulierungsentscheidungen, die Gesetzesstatus besitzen, benötigen weder die Zustimmung des Präsidenten noch die des Kongresses. Sie treten automatisch in Kraft, sobald sie im Bundesanzeiger veröffentlicht sind. Neben der so ausgefüllten Gesetzgebungsfunktion nimmt eine Verwaltungskommission auch die Funktion von Richter bzw. Jury wahr, sollte jemand beschuldigt werden, die Regulierung zu missachten. Außerdem weisen sie ihr Personal und ihre Zweigstellen an, die im Hoheitsgebiet der Behörde forschen, beraten und Aufsichtsfunktionen wahrnehmen. Einige der wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Kommissionen wurden bereits in Kapitel 8 dargestellt. Hier wollen wir uns mit den allgemeinen der von ihnen aufgeworfenen Fragen rechtlicher und gesellschaftlicher Natur befassen. Die Bedeutung dieser Regulierungseinrichtungen steht in keinem Verhältnis zu der Wahrnehmung, die ihnen als Institution in der Öffentlichkeit zuteilwird, und zu der politischen Rechenschaft, die sie abzulegen haben. Sie schaffen mehr Gesetze als der Kongress. Die Bundesbehörden erlassen jedes Jahr mehr als zehntausend neue Regulierungen.156 Im Vergleich dazu verabschiedet der Kongress in einer Sitzungsperiode selten mehr als 1.000 Gesetze.157 Bis vor kurzem waren die Regulierungen der Verwaltungsbehörden weitgehend auf einzelne Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft zugeschnitten. Waren die Zuständigkeit der frühen Verwaltungskommissionen allgemein auf einzelne Wirtschaftszweige wie Schienenverkehr (ICC), Handelsschifffahrt (NMC) oder Rundfunk beschränkt, regulieren die neueren Kommissionen Aktivitäten, die sich quer durch alle Industriezweige hinziehen und erreichen so nahezu jede Firma und Farm und jede Schule oder sonstige 156 157

Lilley / Miller (1977), S. 51. U. S. Bureau of Census (1975), Band 2, S. 1081.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

gesellschaftliche Einrichtung. Sie schreiben im Rahmen der Politik „gezielter Fördermaßnahmen“ vor, wie und mit welchem Ergebnis Neueinstellungen vorzunehmen sind, setzen und kontrollieren „Umweltstandards“, erlassen Regulierungen zur Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz, legen den Verteilungsschlüssel fest, nach dem die Schulen Schüler, Lehrer und Verwaltungskräfte aller Rassen aufzunehmen haben – alles so, wie sie es für richtig halten. In die Schranken gewiesen werden können sie nur durch die Berufungsgerichte – und auch nur insoweit, wie diese im Rahmen ihrer sonstigen Aufgaben ein Auge auf sie haben können. Die Legalität der Verwaltungsbehörden – die man hier und da auch die „vierte Gewalt im Staate“ nennt – stand von Anfang an in Frage, da die Verfassung nur drei Gewalten vorsah und diese sehr sorgfältig voneinander trennt. Die Verfassungsfrage wurde zu einer Zeit zugunsten der Verwaltungsbehörden entschieden, als diese bei der staatlichen Entscheidungsfindung und im Leben der Nation nur eine Nebenrolle spielten, blieb aber als kategorische Entscheidung fortan bestehen, während Zahl und Reichweite dieser Bundesbehörden über die Jahre enorm wuchsen. Das soll keine Kritik am Obersten Bundesgericht sein, denn nachdem das inkrementelle Wachstum der Verwaltungsbehörden einen gewissen Punkt überschritten hatte, hätte jede Neubewertung oder Rücknahme ihrer Verfassungsmäßigkeit einen Großteil der vorhandenen Rechtseinrichtungen des Landes und ganze Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, die von diesem „Regulierungsrecht“ abhängen, untergraben. Wie auch immer, es illustriert die folgenschweren Auswirkungen kategorischer Entscheidungsfindung – in diesem Fall im Hinblick auf die scharfe Zweiteilung von „verfassungsgemäß“ und „verfassungsungemäß“ – und die hohen Kosten, die entstehen, wenn man im Nachhinein versucht, effektives Wissen über deren Kosten zum Tragen zu bringen. Die Verwaltungsbehörden setzen ihre Entscheidungen in einer Weise durch, mit der sie die Schranken umgehen, die von der Verfassung bzw. der angelsächsischen Rechtstradition vorgegeben sind. Die amerikanischen Gesetze sind prospektiv – das heißt, sie beschreiben im Voraus, was der Bürger tun kann und was nicht. Man kann den Bürger nicht einfach dafür bestrafen, dass seine Handlungen dem Staat rückblickend missfallen. Hinzu kommt, dass die Beweislast beim Staat liegt, bzw. beim Kläger ganz allgemein. Außerdem kann man den Bürger wegen des 5. Verfassungszusatzes nicht dazu zwingen, sich selbst zu belasten. All diese Sicherheitsvorkehrungen umgehen die Verwaltungsbehörden ganz einfach. Im achten Kapitel haben wir gesehen, dass die Bundeschifffahrtskommission (MARCOM) die finanzielle Macht über Leben und Tod von Handelsschifffahrtsunternehmen hat, weil sie entscheidet, wann und wem die Subventionen gewährt werden, die im Zuge kostenträchtiger und vom Staat vorgeschriebener Vorgaben notwendig sind und jede amerikanische Schifffahrtsgesellschaft, die allein von den Einnahmen ihrer Kunden lebt, in den Ruin trieben. Juristisch stellen diese Subventionen kein Recht dar, ihre Verweigerung ist somit keine Bestrafung, die verfassungsmäßigen Auflagen unterläge. Wirtschaftlich betrachtet sind massive staatliche Subventionen an die Mitbewerber jedoch dasselbe wie diskriminierende Geldstrafen

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im Falle staatlich missbilligten Verhaltens, auch wenn sie – rechtlich gesehen – keine Verletzung der Verfassung darstellen. Die Branche der Handelsschiffer hat kein verfassungsmäßig verbrieftes Recht auf Subventionen. Daher halten viele Ökonomen die ganze Maßnahme für lächerlich. Die Sache ist jedoch die, dass in dem Moment, in dem die ganze Branche subventioniert wird, derjenige unter den Mitbewerbern, der seine Subventionierung einbüßt, nicht mehr seinen alten Platz zurückerhält, den er in einer gewöhnlichen Wettbewerbsbranche einmal hatte. Ganz im Gegenteil, für ihn ist sie eine diskriminierende Geldstrafe dafür, das Missfallen der ­MARCOM erregt zu haben. Das Prinzip gilt nicht nur für die Schifffahrtsbranche. Es betrifft auch die Verteilung der Bundessteuern, Vertragsanpassungsverfahren im Sinne der „Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen“ sowie andere Verwaltungsaktivitäten, mit denen die Bundesregierung Einrichtungen mit Vorteilen bedenkt, sofern diese der Politik der Regierung entsprechen und das tun, wozu die Regierung sie sonst nicht zwingen könnte. Mit Blick auf die Anreize und Zwänge macht es keinen Unterschied, ob jemand Steuern in Höhe von x zahlt und dann für regierungsmissliebiges Verhalten eine Geldstrafe in Höhe von y zu zahlen hat, oder ob er x und y in Form von Steuern zahlt und dann y für ein regierungsgefälliges Verhalten erhält. Rechtlich gesehen ist der Unterschied jedoch ein wesentlicher. Die verfassungsmäßigen Sicherheitsvorkehrungen, die im ersten Fall greifen, werden beim zweiten Verfahren umgangen. Es gibt in den Büchern kein prospektives Gesetz, das dem Staat die Kontrolle über die Zusammensetzung einer universitären Fakultät nach Rasse, Geschlecht oder ähnlichem gestattete. Aber nur jene Universitäten, die es dem Staat in dieser Hinsicht recht machen, kommen in den Genuss großer bundesstaatlicher Subventionen. Für die führenden „privaten“ Universitäten des Landes machen diese einen Großteil der Einnahmen aus. Die Universitäten als Gruppe haben kein verfassungsmäßiges Recht auf Subventionen. Aber wenn Harvard den größten Teil seiner Einnahmen vom Bund erhält, dann kann Yale als Konkurrentin nicht überleben, wenn sie jenen Behördenvertretern missfällt, die über ihre Berechtigung, Mittel des Bundes zu bekommen, entscheiden. Die Bundesregierung kann auf gleiche Weise die bundesstaatlichen Regierungen und jene auf der lokalen Ebene dazu bringen, ihre Straßen-, Schul- und Wohlfahrtspolitik zu übernehmen; nicht, weil sie konstitutionell oder nach den Statuten die Autorität dazu besäße, derlei Dinge zu bestimmen, sondern weil die Bundesbehörden als Herren über diverse Fonds einseitig solche Vorgaben als Vorbedingung für den Erhalt ihrer Fördergelder machen können. Noch einmal, es ist die allgemeine Verfügbarkeit solcher Subventionen, die den individuellen Mitbewerber, dem sie vorenthalten werden, in eine schlechtere Position bringt, als es der Fall wäre, wenn es sie erst gar nicht gäbe. Die leichtfertige Doktrin, nach der „man den Staat am schnellsten los wird, wenn man ihm nicht länger auf der Tasche liegt,“158 greift viel zu kurz. Für eine Branche oder einen Sektor (man denke an Universitäten oder lokale Re 158

Dies pflegte U. S.-Senator Gary Hart zu sagen.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

gierungen) würde diese Doktrin einen Sinn ergeben – falls ganze Branchen oder Sektoren Entscheidungseinheiten wären. Der eigentliche Einwand betrifft jedoch nicht die Wechselfälle bestimmter Kläger, sondern das Anwachsen der außerrechtlichen Befugnisse der Bundesregierung – Befugnisse, die weder Verfassung noch Gesetzgebung gewährten und auch nie öffentlich zur Wahl standen, aber so real wie die Gesetze sind, die der Kongress verabschiedet, und oft gravierendere Strafen mit sich bringen, einschließlich der völligen Zerstörung von Institutionen mithilfe massiver Subventionen ihrer Konkurrenz. Eine andere Praktik, die der amerikanischen Rechtstradition zuwiderläuft, liegt darin, die Beweislast dem Beklagten aufzuerlegen. Im achten Kapitel haben wir dargelegt, dass nach dem Robinson-Patman-Gesetz unterschiedliche Preise für unterschiedliche Kunden prima facie einen „zu widerlegenden Vorwurf“ der illegalen Preisdiskriminierung begründen können. In der Praxis ist eine solche Widerlegung wegen der vielen möglichen Auslegungen der vorhandenen Kostenaufstellungen eigentlich unmöglich. Außerdem kann der Versuch wegen der Neigung des Obersten Gerichtshofs, Kunden zu klassifizieren, äußerst kostspielig werden. Obendrein muss die Kostenrechtfertigung zuerst der Bundeshandelskommission (FTC – Federal Trade Commission) vorgelegt werden. Die aber hat allen Grund, dieselbe nicht zu akzeptieren. Der FTC geht es wie dem Friedensrichter, der von den Bußgeldern lebt, die er auferlegt. Ihre rechtlichen Entscheidungen wirken sich auf ihr ökonomisches Wohlergehen aus, weil der Umfang an Zuwendungen und Personal, den sie vom Kongress für ihre Aufgabe als Exekutive anfordern können, und das Ausmaß ihrer Macht, die sie in ihrer Eigenschaft als Legislative ausüben kann, davon abhängen, wie viele Streitfälle sie für ihre Rolle als Judikative entdeckt. Bedenkt man diese institutionellen Anreize und Zwänge, dann überrascht es kaum, dass die FTC fast überall in ihrer Stringenz, mit der sie das RobinsonPatman-Gesetz umsetzt, die Gerichte überflügelt.159 Dies ist jedoch weder eine Besonderheit der FTC noch eine ihres Rechtsprechungsbereichs. Im Zuständigkeitsbereich der Kommission für Chancengleichheit am Arbeitsplatz (EEOC  –  Equal Employment Opportunity Commission) findet man sehr ähnliche Prinzipien und Resultate. Hier muss der Arbeitgeber Minderheiten und Frauen in einem Verhältnis einstellen, das den aus der Retrospektive gewonnenen Erwartungen der EEOC entspricht. Ansonsten muss er den Diskriminierungsvorwurf entkräften, der gemäß der von der EEOC gesetzlich festgesetzten und kontrollierten Richtlinien erhoben wird. Er muss den Gegenbeweis vor der EEOC antreten, die dabei ihre Rolle als Judikative wahrnimmt. Auch die EEOC hat, wie die FTC, das Gesetz durch die Bank stringenter angewendet als jedes ordentliche Gericht.160 Dabei ging es nicht um die prospektive Anwendung der Gesetze, sondern um die retrospektive Bestrafung von Resultaten, die der EEOC missfielen. Da aber die Bestrafung weitgehend darin besteht, den versiegenden Geldfluss des Bundes zu 159 160

Rowe (1964); Posner (1976), S. 31, 46.  Sowell (1975b), S. 7.

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verantworten, ist sie, legal betrachtet, nicht dasselbe wie eine Bestrafung. Daher fällt sie auch nicht unter den verfassungsgemäßen Bann, der retrospektive Strafen für Taten, die nicht im Voraus spezifiziert sind, ausschließt. Außerdem müssen die Arbeitgeber – entgegen der Grundsätze, die hinter dem fünften Verfassungsartikel stehen – vorab eine „Unterbeschäftigung“ der beschäftigten Minderheiten und Frauen zugeben, sollten ihre Angestelltenzahlen einmal nicht den Erwartungen der EEOC entsprechen, ansonsten können sie keine Fördergelder des Bundes erhalten. Der fünfte Verfassungszusatz schützt in solchen Situationen Nazis, Kommunisten und Kriminelle, aber nicht die Unternehmer, weil letztere nicht bestraft werden oder strafrechtlichen Verfahren ausgesetzt sind. Dabei können ihre Verluste weitaus höher sein als die Bußgelder, die in Strafverfahren verhängt werden. Kurzum, die Bundesbehörden bilden inzwischen einen wichtigen Teil des amerikanischen Rechtssystems, der nicht nur außerhalb der ursprünglichen Verfassungsidee steht, sondern in der Praxis imstande ist, auf eine Weise Gesetze zu erlassen und durchzusetzen, die keinem anderen Staatsorgan, das die Verfassung vorsieht, gestattet ist. Obwohl die Verwaltungsbehörden formal etwaigen legislativen Veränderungen durch den Kongress und der Rechtsprechung der Berufungsinstanzen unterworfen sind, sind sie der effektiven Kontrolle enthoben, schon allein wegen ihrer Anzahl, Verästelungen sowie unverständlichen Regulierungssprache und wegen der zahlreichen anderen Aufgaben, denen der Kongress und die Gerichte ausgesetzt sind. Effektive Rückmeldungen kommen weitgehend von gut aufgestellten Sonderinteressengruppen, welche die für sie zuständige Behörde im Auge behalten, Berufungskosten schultern und das für sie wichtige Komitee des Kongresses bearbeiten können. Aber ein Krimineller kann das von einem Geschworenengericht beschlossene Urteil viel kostengünstiger anfechten als der einfache Bürger die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde. Außerdem ist die Art persönlicher Voreingenommenheit, die einen Richter disqualifizieren würde, im Falle von Mitgliedern einer Verwaltungsbehörde geduldet oder gar erwünscht. Dass Befürworter von Erholungsanliegen („Umweltschützer“) die Kommissionen, die mit Umweltthemen befasst sind, dominieren sollten, wird als natürlich angesehen; genauso, dass Aktivisten, die sich für „Minderheiten“ einsetzen, im EEOC die Mehrheit bilden sollten. Dies dürfte eine fragwürdige Verabschiedung von unserer Rechtstradition sein; auch in solchen Fällen, in denen man nicht den „zu widerlegenden Vorwürfen“ ausgesetzt ist, die man zur Zufriedenheit der zuständigen Behördenvertreter zu entkräften hat. Kosten spielen in allen Arten von rechtlichen Vorgängen eine entscheidende Rolle. Ein verbrieftes Recht, das die Summe x wert ist, ist nicht wirklich ein Recht, wenn die Kosten, es durchzusetzen, doppelt so hoch sind. Wenn man die Rechte und Kosten in Geld ausdrücken kann, dann ist dies mehr als offensichtlich. Im Grunde ist dies aber nicht weniger wahr, wenn die Werte nicht finanzieller Natur sind. So kann z. B. das Recht einer Frau, einen Vergewaltiger zu verklagen, drastisch reduziert sein – aus Sicht mancher Frauen null und nichtig –, wenn dem gegnerischen Anwalt gestattet ist, sie im Zeugenstand das Trauma erneut durchleben

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2. Teil: Themen und Tendenzen

zu lassen, und zwar mittels ausführlicher Befragungen und Bemerkungen, die sie in der Öffentlichkeit erniedrigen, aber mit der Schuld oder Unschuld seines Klienten wenig zu tun haben. Hier und da werden diese Kosten inzwischen zur Kenntnis genommen und führen zu speziellen Verfahrensregeln in Vergewaltigungsfällen. Aber in der Regel sieht man darin ein spezielles Problem, bedingt durch die spezielle Situation, nicht aber ein grundsätzliches Kostenproblem, das in Rechtsverfahren auftritt. Wenn man ein Recht so auslegt, sei es in der Gesetzgebung oder vor Gericht, dass entweder der Kläger oder der Beklagte der anderen Partei quasi zum Nulltarif große Kosten aufbürden kann, dann gerät das Gesetz im Hinblick auf seine Auswirkungen in eine Schieflage. Das Recht wird dann entweder erheblich beschnitten bis bedeutungslos oder weit über seine ursprüngliche Reichweite und Zielvorgabe hinaus ausgedehnt. In Vergewaltigungsfällen ist es der Verteidiger, der disproportionale Kosten auferlegen kann – die ein Niveau erreichen können, das vielen Frauen untragbar erscheint. In anderen Rechtsfällen ist es der Kläger, der dem Beklagten enorme Kosten verursachen kann, ohne selbst eigene Kosten zu haben. So können z. B. Erholungsanliegen („Umweltschützer“) Bauträgern erhebliche Kosten in Form von Fahrradwegen oder Staudämmen verursachen. Man fordert einfach, dass die Bauträger Erklärungen zu den „Umweltauswirkungen“ einzureichen haben, womit im Endeffekt die Beweislast dem Beklagten aufgehalst wird. Obwohl derlei Erklärungen von offizieller Seite nach den erwarteten Ergebnissen ausgerichtet werden, haben sie eigentlich keinerlei erwiesenen Wert. Man kann mit ihrer Hilfe nicht vorhersagen, welche Auswirkungen die Umwelt tatsächlich erfahren wird.161 Nichtsdestotrotz sind sie aber sehr effektiv darin, sowohl direkte finanzielle Kosten als auch Kosten, die mit den bewirkten Verzögerungen einhergehen, aufzuwerfen. Der reine Zeitverlust kann Projekte, die große Investitionen erfordern, Millionen kosten oder ihren Untergang bedeuten, weil der Wert eines physischen Objekts von der Zeit, da es zur Verfügung steht, abhängt. Das heißt, dass die eingeforderten „Umweltauswirkungen“ der einen Partei hohe und der anderen niedrige Kosten aufbürden, unabhängig vom Ausgang des recht­ lichen Verfahrens. Das Gesetz und seine Kritiker sind gleichermaßen so sehr in die abschließende Handhabung der Fälle versunken, dass die Prozesskosten darüber in Vergessenheit zu geraten drohen. Die Prozesskosten können jedoch für das, was auf dem Spiel steht, entscheidend sein. Für manche, die nach jahrelangem Anlegen von Prozessakten und Beiwohnen von zahllosen Anhörungen, Prozessen und Berufungen endlich vollständig rehabilitiert sind, ist das Ergebnis am Ende bedeutungslos. Die Argumente, die der Kläger in Umweltrechtsfällen vorzulegen hat, um einen kostspieligen Prozess in Gang zu halten, können haltlos sein oder auf reinen Spekulationen beruhen. Der Kläger hat keine Beweislast zu tragen. Gewiss gibt es andere Rechtssysteme, welche die prozessführende Partei bzw. die von ihr repräsentierte Menschengruppe stärker in den Mittelpunkt rücken, aber 161

Bardach / Pugliaresi (1977), S. 29 ff.; Sands Miller (1978), S. 1 ff.

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letztlich dienen alle Rechtssysteme gesellschaftlichen Anliegen, und zu diesen gehört auch die Vermittlung von Wissen, damit gesellschaftliche Entscheidungen getroffen werden können, die mit Kosten verbunden sind, die von den alternativen Formen gesellschaftlichen Verhaltens bestimmt werden. Wenn aufgrund des Rechtssystems die Güterabwägungen gegensätzlicher Privatinteressen oder konkurrierender Gesellschaftsanliegen in einer Art und Weise vorgenommen werden, die einer Partei mehr Kosten aufbürdet als der anderen, dann hat dies größere Auswirkungen als die Gerechtigkeit oder die Logik, mit der in derlei Fällen das schlussendliche Urteil gesprochen wird. In Rechts- wie in Wirtschaftsprozessen dürften die Transaktionen, die nicht stattfinden, den größten Teil der Kosten ausmachen, die von der Öffentlichkeit zu tragen sind. Das Elektrizitätswerk, das nicht gebaut wird, und die traumatischen Ausfälle, die aus der Überbelastung der bestehenden Elektrizitätskapazitäten resultieren, dürften die Verärgerung einiger Seeanrainer oder Mitglieder des Sierra Clubs mehr als aufwiegen – falls man die Kosten dieser beiden alternativen Ergebnisse gleichermaßen exakt entweder im Rahmen des ökonomischen oder des legalen Systems übermitteln kann. Dort, wo man die Vermittlungskosten einer Wissensmenge (in unserem Fall die Nachfrage nach Elektrizität) die Vermittlungskosten der anderen Wissensmenge (Erholungsnachfrage) künstlich überragen lässt, kann die Wissensverzerrung zu Ergebnissen führen, auf die kein Entscheidungsträger der Rechts- und Wirtschaftssysteme verfallen wäre, wenn beide Seiten ihr Wissen zu gleichen Kosten hätten vermitteln dürfen. Im Strafrecht gilt Gleiches. Die wahren Kosten des Rechtssystems sind nicht die finanziellen Kosten jener Transaktionen, die stattfinden, sondern in erster Linie die gesellschaftlichen Kosten derjenigen Transaktionen, die nicht stattfinden – Klagen, die gar nicht erst angestrengt, sondern fallengelassen werden oder über die man sich außergerichtlich einigt, weil die Kosten ansonsten untragbar wären.

Redefreiheit Die Redefreit ist nicht als individueller Vorteil, sondern auch als ein systemisches Erfordernis ein integraler Bestandteil des politischen Prozesses. Der systemische Wert der Redefreiheit hängt von der Höhe der individuellen Erkenntniskosten ab – das heißt, vom Mangel an Allwissenheit. „Die Verfolgung wegen Meinungsäußerung“ kann laut Oliver Wendell Holmes, Richter am Obersten Gerichtshof, „vollkommen logisch sein, „wenn man keinen Zweifel an den eigenen Prämissen hat.“ Weiter schreibt er: „Aber wenn die Menschen erst einmal erkannt haben, dass mit der Zeit viele kämpferische Bekenntnisse über Bord gegangen sind, dann werden sie davon überzeugt sein – überzeugter als von den Grundlagen ihrer eigenen Lebensführung –, dass das höchste Gut durch den freien Handel der Ideen weitaus besser erreicht wird. Sie werden davon überzeugt sein, dass der beste Test der Wahrheit in der Stärke der Gedanken liegt, die sich im Wettbewerb des Marktes durchsetzen, und die Wahrheit der einzig sichere Boden ist, auf dem man seine

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Wünsche in die Tat umsetzen kann. Das jedenfalls ist die Grundlage unserer Verfassung. Sie ist ein Experiment, so wie alles in unserem Leben ein Experiment ist. Jedes Jahr, ja jeden Tag, knüpfen wir unser Seelenheil an Prophezeiungen, die auf unsicherer Erkenntnis gründen. Dieses Experiment ist Teil unseres Systems, und ich denke, wir sollten uns vor Versuchen hüten, verhasste Meinungsäußerungen, von denen wir glauben, dass sie todbringend sind, zu kontrollieren, es sei denn, sie stellten eine unmittelbare Bedrohung für die rechtmäßigen und drängenden Aufgaben des Rechts dar, so dass eine unmittelbare Überprüfung erforderlich ist, um das Land zu retten.“162

Dieses Vertrauen in systemische Prozesse anstatt in individuelle Absichten bzw. individuelle Weitsicht würde bedeuten, dass selbst „das verrückte Flugblatt eines Unbekannten“163 den Schutz durch die Verfassung verdient hätte, nicht wegen seiner besonderen Meriten und auch nicht aus Wohlwollen oder Fürsorge, übrigens auch nicht deshalb, weil jemand mit „Rechten“ ausgestattet wäre, welche die Aura des „Heiligen“ genießen, sondern aus Gründen der gesellschaftlichen Zweckmä­ ßigkeit, die sich auf Dauer für das System ergibt. Genau aus diesem Grund stellt die Redefreiheit kein kategorisches Recht dar, sondern ein Recht, das der gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit  – eine Zweckmäßigkeit, welche die Redefreiheit überhaupt erst rechtfertigt, und zwar widerruflich, sollte diese eine „klare und aktuelle Gefahr“ für den Fortbestand des systemischen Prozesses selbst bzw. der Menschen und des Staates, die den Prozess in Gang halten, darstellen.164 Kurz gesagt, die Redefreiheit ist das geheimnisumwitterte „heilige“ Recht des Einzelnen. Übrigens sind die anderen Eigentumsrechte genauso wenig irgendwelche „heilige“ Besitztümer des Einzelnen. Rechtfertigung erfahren sie allesamt nur, indem sie den Lackmustest der gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit bestehen – nicht in dem Sinne, dass irgendwelche Einzelpersonen oder Gruppen, die sich kühn zutrauen, die spezifischen Einzelheiten eines jeden einzelnen Statuts oder Privilegs in seiner gesellschaftlichen Bedeutung zu erfassen, an zentraler Stelle alle Worte und Ausdrucksmittel kontrollieren würden, sondern eher in dem Sinne, dass wir langfristig die historischen Verdienste des systemischen Zusammenspiels besser beurteilen können als die individuelle Weisheit in den sich formierenden Worten und Taten. Ungeachtet seiner offensichtlichen und tiefsitzenden Abneigung gegen Geschäftsleute165 legte Adam Smith eine systemische Verteidigung des Laissez faire vor, die ganz der systemischen Vorgehensweise entsprach, mit der Holmes die Freiheit von Meinungen rechtfertigte, die er für schädlich oder verachtenswert hielt. Beide laufen darauf hinaus, die unterschiedlichen Erkenntniskosten zu bedenken, die zum einen bei der Beurteilung des Gesamtergebnisses und zum anderen beim Beurteilen der individuellen Prozessabschnitte anfallen. Kompliziert wird es, wenn man die Bedeutung der Begriffe „Rede“ und „Freiheit“ thematisiert. Die Grundidee der Redefreiheit – dass der Kerngehalt der indi 162

Abrams v. United States, 250 U. S. 616 (1919), S. 659. Abrams v. United States, 250 U. S. 616 (1919), S. 661. 164 Schenck v. United States, 249 U. S. 47 (1919), 655. 165 Smith (1937), S. 128, 249 f., 402 f., 429, 438, 579. 163

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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viduellen Kommunikation nicht vom Staat kontrolliert wird – erfährt zusätzlich juristische Erwägungen, wenn man die ökonomischen Kommunikationskosten bedenkt. Wenn der Inhalt der Rede vom Staat nicht eingeschränkt wird, wohl aber die Modalitäten, sie auszudrücken (z. B. durch ein Verbot für Beschallungsfahrzeuge nach 2 Uhr in der Früh), dann kann man einen Sprecher ab einem gewissen Punkt mit solchen Restriktionen über den Preis aus dem Markt drängen. Die „Freiheit“ zur Rede ist deshalb seit vielen Jahren auch ein Thema der Kommunikationskosten – so als ob „frei“ eine ökonomische Bedeutung hätte, und nicht eine politische. Auch die „Rede“ wird nun juristisch weiter gefasst und schließt andere Artikulationsformen ein (z. B. das Aufstellen von Streikposten), sogar inartikulierte Symbolsprache (Verbrennen von Flaggen). Wenn man die Idee der „Rede“ auf andere Aktivitäten ausweitet, dann werden bestimmte Aspekte dieser Aktivitäten – wie z. B. Belästigung oder Einschüchterung – unter den Schutz der Verfassung gestellt, der an sich nur für die Kommunikation gedacht war. Ähnlich sieht es aus, wenn man es im Namen der Pressefreiheit zulässt, dass Zeitungen zum Sprachrohr für Drohungen oder Lösegeldforderungen werden, die Einzelpersonen oder Gruppen an ihre Opfer bzw. deren Familien oder die Polizei richten, indem sie mit Reportern telefonieren, die daraus eine Zeitungsreportage machen. 1940 wurde im Fall Thornhill gegen Alabama das im Bundesstaat Alabama verhängte Verbot von Streikabsperrungen als verfassungswidrig abgewiesen, weil es gegen die Redefreiheit verstoße.166 Das allgemeine Verbot und die entsprechend auf Streikabsperrungen ausgeweitete Bekräftigung des Rechts auf Redefreiheit zogen weitere Forderungen nach sich, in denen andere, kleinere Streikbeschränkungen Thema waren. Dieses Mal berücksichtigte das Gericht die nichtsprachlichen Aspekte von Streikposten, weil sie die gesamte Aktivität zum Gegenstand staatlicher Aufsicht machten, da man sagte, „das Momentum der Angst“, das durch frühere Gewaltaktionen hervorgerufen worden sei, bliebe auch dann bestehen, wenn künftig die Streikaktionen völlig friedlich verliefen.167 Streiksperren durch organisierte Gruppen seien außerdem „mehr als Redefreiheit“, weil die Anwesenheit der Streiklinie „Aktionen der einen oder anderen Art hervorrufen können, unabhängig von der Natur der Ideen“, die verbreitet würden.168 Sieht man einmal von diesen Vorbehalten gegen die rechtliche Immunisierung von nichtsprachlichen Aktivitäten mithilfe der verfassungsmäßigen Bestimmungen zur „Redefreiheit“ ab, so haben die Gerichte im Allgemeinen den Bereich der Aktivitäten, die man vom ersten Verfassungszusatz für geschützt hält, ausgeweitet und die verfassungsmäßigen Schranken auch Organisationen gesetzt, die nicht Teil des Staatsapparates sind. Im ersten Verfassungsartikel heißt es zu Beginn, der „Kongress darf kein Gesetz erlassen …“ Aber indem der Oberste Gerichtshof den 14. Verfassungsartikel so auslegt hat, dass dieser die Bundesstaaten den bundesstaatlichen Verfassungsschranken unterwerfe, hat er auch die übrigen Verfassungszusätze auf die Regierungen der 166

Thornhill v. Alabama, 310 U. S. 88. Milk Wagon Drives Union v. Meadowmoor Dairies, 312 U. S. 287 (1941), S. 193. 168 Bakery Drivers Local v. Wohl, 315 U. S. 769, S. 776. 167

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Bundesstaaten angewendet.169 Anschließend hat er in einer Reihe von Fällen auch verschiedene private Organisationen diesen Verfassungsschranken unterworfen. Den Wendepunkt bildete der Fall Marsh v. Alabama (1946). In ihm hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass Alabama die Beschuldigte nicht wegen unerlaubten Betretens belangen könne. Die Frau hatte Flugblätter mit religiösem Inhalt in einer privaten Wohnanlage verteilt, obwohl der Eigentümer derlei Aktionen untersagt hatte. Obwohl es nicht der Bundesstaat war, der die Verteilung der Flugblätter untersagt hatte, und er nur das Recht des Eigentümers, sich gegen unerlaubtes Betreten zu wehren, durchsetzen wollte, sah man es für erwiesen an, dass sein Vorgehen das Verbot des Eigentümers in einen „Staatsakt“ verwandelt und damit ein Verfassungsrecht verletzt habe. Das Gericht urteilte: „Wenn wir die Verfassungsrechte der Eigentümer gegen die Verfassungsrechte jener Menschen aufwiegen, die sich – wie in diesem Falle – an Presse- und Religionsfreiheit erfreuen, dann müssen wir berücksichtigen, dass letztere die vorzugswürdigere Position einnehmen.“170 Die Tatsache, dass verschiedene Kosten und Nutzen gegeneinander abgewogen werden müssen, besagt selbst noch nicht, wer sie gegeneinander abwägen muss – oder dass es für alle ein Gleichgewicht geben muss, einen einheitlichen Gesichtspunkt (ein „wir“), von dem aus die Angelegenheit kategorisch aufzulösen wäre. Jeder, der sich entscheidet, in einer privaten Wohnsiedlung zu leben, zu arbeiten und einzukaufen, kann die Kosten und Nutzen der dort herrschenden Regeln für sich abwägen, so wie die Menschen für sich die Kosten für die Teilnahme an Aktivitäten, für die privat getroffene Regeln gelten, taxieren können (z. B. für das Essen in einem Restaurant, das Jackett und Krawatte vorschreibt, das Verfolgen einer Bühnenshow, die Kameras verbietet, oder das Leben in einem Mehrparteienhaus, das Katzenhaltung untersagt. Das Gericht nahm sich hier mehr heraus als das Ziehen der Grenzen, innerhalb derer andere Institutionen ihre spezifischen Entscheidungen treffen dürfen. Es nahm sich der Entscheidungsfindung selbst an. Indem es dies tat, verwandelte es eine individuelle und inkrementelle Entscheidung in eine kategorische Entscheidung, konfiszierte einen Teil der Vermögenswerte der einen Partei und übertrug sie der anderen – eine Übertragung, die dem Urheber der Entscheidung bewusst war.171 Denn er setzte seine Bewertung der Kosten und Nutzen des Kommunikationszugangs an die Stelle der Bewertungen jener, die dort, wo die Flugblätter verteilt wurden, lebten, arbeiteten und einkauften. Aus Sicht der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung gibt man die Dinge verzerrt wieder, wenn man sagt, hier stünden sich die Interessen von Eigentümer und Flugblattverteiler gegenüber. Der Eigentümer einer Wohnanlage ist ein Zwischenhändler, dessen direkten Interessen im Profitstreben stecken und dessen 169

Berger (1977), Kapitel 8. Marsh v. Alabama, 326 U. S. 501 (1946), S. 507. 171 Amalgamated Food Employees Union Local 590, et al. v. Logan Valley Plaza, Inc. et al., 391 U. S. 308 (1968), S. 330. 170

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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spezifische Handlungen in dieser Rolle darin bestehen, die wahrgenommenen Präferenzen anderer Menschen (Mieter und Einkaufsbummler), die den Quell seines Profits bilden, zu vertreten. Was es wirklich abzuwägen gilt, ist der Wunsch einer einzelnen Person nach Zuhörern und die Bereitschaft der auserkorenen Zuhörer, die ihnen zugedachte Rolle wahrzunehmen. Wie wichtig einer Zuhörerschaft ein zusätz­licher Kommunikationsweg ist, variiert inkrementell, und zwar in Abhängigkeit zu den bereits existierenden Zugängen zu TV, Zeitschriften, Magazinen, Postwurfsendungen, Vorträgen, Kundgebungen – und zu den sonstigen Gelegenheiten, zu denen Flugblätter verteilt bzw. ausgehändigt werden. Vielleicht hat die ausersehene Zuhörerschaft dort, wo sie lebt und einkauft, eine inkrementelle Vorliebe dafür, in Ruhe gelassen zu werden – unbehelligt von Botschaften oder direkter Ansprache, Botschaften zu lesen. Vielleicht ist dies ihr mehr wert als irgendein Verlust, den sie erleiden mögen, wenn sie derlei Botschaften nicht zu einem gewissen Zeitpunkt und einem bestimmten Ort erhalten; auch mehr wert als die Möglichkeit der behelligenden Partei, sie dort anzutreffen, oder der gesellschaftliche Wert der „Redefreiheit“ als Bestandteil politischer und sonstiger Entscheidungsprozesse. Aber derlei Abwägung findet nicht statt, indem man im Rahmen rechtlicher Verfahren kompensationslose Vorteilsumverteilungen mit „Rechten“ ausstattet. Beide, Behelligender und Behelligter, haben alternative Kommunikationswege. Zu behaupten, die Kosten alternativer Kommunikationskanäle seien „abschreckend“ hoch, geht am Kern der Kosten vorbei – denn die sollen ja abschrecken. Kosten vermitteln die inhärenten Grenzen von Ressourcen in Relation zu ihrer Nachfrage, sie schaffen diese grundsätzliche Disproportionalität aber nicht. Alle Kosten schrecken bis zu einem gewissen Grad ab, und es gibt keine Kosten, die absolut abschreckten.172 Auf jeden Fall könnte man mit dem Geld für die Flugblattverteilung genauso gut eine Briefwurfsendung, eine Zeitungsannonce, eine Telefonbefragung oder eine öffentliche Versammlung und dergleichen organisieren. „Redefreiheit“ im Sinne der freien Rede ohne staatliche Kontrolle impliziert nicht, dass die Botschaftsvermittlung kostengünstig zu sein hat. Genau so wenig impliziert das Recht auf Privatheit einen Anspruch auf subventionierte Scheibenverdunkelung. Besonders grotesk ist es, wenn man die Unterstützung der Botschaftssender so anlegt, dass andere in die Rolle der unfreiwilligen Zuhörer gedrängt werden, und man eine kleine Gruppe von Hausierern „die Menschen“ nennt, während man die zahlreichen Behelligten unter dem Namen ihres Zwischenhändlers als „Eigentümer“ führt. Selbst die Richter, die abweichende Voten formulierten, haben die Dinge im Fall Marsh v. Alabama so dargestellt.173 Grundlegender als die Frage nach den wahrscheinlichen Wünschen der ausersehenen Zuhörerschaft ist allerdings die Frage, wer entscheiden soll, welcher Art 172 So dürfte z. B. die Tagesleihgebühr für einen Rolls Royce sehr wohl im Budget der meisten Amerikaner liegen. Dennoch wissen die meisten, mit ihrem Geld besseres anzufangen. 173 Marsh v. Alabama, 326 U. S. 501 (1946), S. 512–517 und passim.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

diese Wünsche sind; absolut und auch relativ im Vergleich zu den Wünschen des Botschaftssenders. Das soll heißen, welcher Entscheidungsfindungsprozess kann diese Frage am besten beurteilen – und das Urteil revidieren, falls nötig? Offensichtlich hat man einigen Menschen unterstellt, für die Botschaft empfänglich zu sein. Ansonsten hätte man die Flugblattaktion erst gar nicht unternommen. Es ist auch anzunehmen, dass andere lieber in Ruhe gelassen sein wollten. Ansonsten hätte es kein Hausierungsverbot und keine Durchsetzung des Verbots vor Gericht gegeben. Insofern erhebt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen Anzahl der Personen bzw. nach den entsprechenden gesellschaftlichen Kosten für die jeweiligen Aktionen, sondern auch die grundsätzliche Frage danach, wie via Rückmeldung die ursprünglichen Fehleinschätzungen im Rahmen der verschiedenen institutionellen Verfahren korrigiert werden. Wäre der Entscheidungsfindungsprozess informell und nicht institutionalisiert, also ohne Einbindung des Staates und der Wohnungsgesellschaft, dann hätte der Flugblattverteiler keinerlei Anreiz, die externen Kosten, die er den Personen aufhalst, die lieber ungestört bleiben und keine Flugblätter haben wollen, zu berücksichtigen. Selbst dann, wenn eine große Mehrheit der potenziellen Zuhörerschaft es vorzöge, ungestört zu bleiben, würde der Verteilerwunsch, zivilisiert vorgetragen, d. h. ohne Gewalt oder Übergriffe, den Flugblattverteiler wohl kaum bis gar nicht in seiner Abwägung der Vor- und Nachteile beeinträchtigen. Die Verteilung fände weiter statt, egal, wie gering der Vorteil wäre, den einige wenige Passanten empfänden, und wie störend es den anderen vorkäme – letztlich auch unabhängig davon, wie sehr der Flugblattverteiler in seiner Einschätzung von beiden danebenläge. Formale ökonomische Institutionen bringen Freud und Leid der Mieter, Einkäufer und sonstigen Nutzer einer privaten Wohnsiedlung durch eine höhere bzw. niedrigere finanzielle Wertigkeit zum Ausdruck, die eine vorhandene bauliche Struktur hat. Der Eigentümer der Anlage hat auch dann, wenn er auch anderenorts wohnt und gegenüber Flugblättern indifferent ist, einen Anreiz, jeden gewünschten Grad an Privatheit und Ruhe herzustellen, solange die Produktionskosten für ihn unter dem bleiben, was das Ergebnis den Kunden wert ist, also unter dem, was sie zu zahlen bereit sind.174 Aber wichtiger ist, dass Wohnanlagenbesitzer, die hinsichtlich Natur und Ausmaß der Wünsche anderer Leute nach Privatheit und Ruhe danebenliegen, feststellen, dass ihr Eigentum weniger wert ist, als angenommen. Daher haben sie einen Anreiz, ihre Zugangsregeln entsprechend zu verschärfen oder zu lockern oder anderweitig anzupassen. Formale politische Institutionen können zu ähnlichen Resultaten führen, sofern die Verfassung diese zulässt. Besagte Institutionen können in unserem Falle die Form einer Mieter- oder Händlervereinigung oder einer einfachen Gemeinde annehmen. Das Problem mit den Abstimmungen in solchen Angelegenheiten liegt darin, dass die Stimme einer Person, die sich kaum benachteiligt sieht, genauso stark wiegt wie die einer Person, die sich stark behelligt fühlt. Im Gegensatz dazu 174

Kunden zahlen in Geschäften mit einer „besseren“ Atmosphäre höhere Preise.

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spiegelt das wirtschaftliche „Wählen“ im Markt das Ausmaß und die Richtung der betroffenen Gefühle wider. Dummerweise spiegelt das wirtschaftliche Wählen auch signifikante Einkommensdifferenzen. Im Allgemeinen wird dieser Effekt aber durch die Vielfalt der Einkommensniveaus auf beiden Seiten des Wettbewerbs minimiert. Wohlstandsverzerrungen sind vor allem unter Mietern und Einkäufern in einer privaten Wohnanlage praktisch kein Problem, weil derlei Anlagen eine Klientel anziehen, die weitaus weniger sozioökonomisch divers ist als die Gesellschaft insgesamt. Ökonomische Entscheidungsprozesse lassen auch Minoritäten zur Sprache kommen. In unserem Falle geschieht dies, sobald die Wünsche jener Gruppe, die in ihrer Wohnsiedlung „überstimmt“ wird, in einer steigenden Nachfrage nach einer Wohnanlage mit anderen Regeln kanalisiert werden. Derlei Verfahren sind nicht an die Uniformität gebunden, welche die Gesetzgebung verlangt, auch nicht an das Vorhandensein von Präzedenzfällen. Wenn 100 Wohnsiedlungen Regel A folgen, dann hindert nichts die 101. Wohnsiedlung daran, Regel B zu folgen, um so die andernorts wirtschaftlich „Überstimmten“ zu attrahieren. Entscheidet man solche Angelegenheiten gerichtlich, dann entbehrt dies viele Vorteile, die entstehen, wenn man die Angelegenheiten im Rahmen wirtschaftlicher oder politischer Institutionen entscheidet. Weder der Gerichtsentscheid selbst noch dessen eventuelle Revision entspringen dem Wissen um die Wünsche der betroffenen Parteien, die andere sind als die Wünsche der Prozessparteien. Aber selbst dann, wenn die Wünsche der betroffenen Parteien bekannt wären, würden sie das Gericht kaum zu einem Urteil bewegen, das mit ihnen im Einklang stünde. Das Abwägen von Kosten und Nutzen gilt nicht nur für Mieter und Laufkundschaft mit ihren unterschiedlichen Präferenzen, sondern auch für die Flugblattverteiler. Dass der Eigentümer das Recht hat, Flugblattverteiler vom Zutrittsrecht auszunehmen, heißt nicht, dass er von ihm Gebrauch macht. Flugblattverteiler könnten das Zugangsrecht auch erkaufen, so wie es die Mieter und Wohnanlagenbewohner tun. In dem Fall würden die Hausierer so viel zu zahlen haben, dass der Wertverlust ausgeglichen würde, weil die Anlage aufgrund der geringeren Privatheit und Ruhe bei den vorhandenen und künftigen Mietern weniger gefragt wäre. Die Interessen der Flugblattverteiler würden im ökonomischen Prozess gegen die Interessen der Anwohner abgewogen. Nicht nur das! Die Flugblattverteiler hätten auch einen Anreiz, Ort, Art und Häufigkeit ihrer Hausbesuche zu ändern, weil sie so die Belästigung der Anwohner minimierten und damit auch den Preis drücken könnten, den sie für das Zutrittsrecht zahlen müssen. Ökonomische Prozesse sind nicht nur Nullsummenspiele, bei den es um Geldtransfers unter Menschen geht. Sie sind als Entscheidungsprozesse für gegenseitige Gefälligkeiten positive Summenspiele. Natürlich könnte der Oberste Gerichtshof mit seiner Entscheidung nie so eine „Feinabstimmung“ finden, wie es der ökonomische Prozess kann. Noch weniger könnte er sein Urteil automatisch an die sukzessiv zutage tretenden (und mög­ licherweise unentwegt sich wandelnden) Präferenzen der Menschen anpassen. Sein Urteil war sowohl kategorisch wie auch präzedenziell – ein „Pakethandel“ in Raum

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2. Teil: Themen und Tendenzen

und Zeit. Wenn die Verfassung von den Gerichten genau das haben wollte, dann sind Diskussionen über Alternativen sinnlos. Doch selbst die Befürworter der Gerichtsurteile in Fällen „staatlichen Handelns“ sehen in ihnen juristische Improvisationen, die sie mit politischen Gründen rechtfertigen. Sie sprechen von „vernünftigen Ergebnissen“, zu denen es keine „einheitlichen Lehrmeinungen“175 gäbe und welche die Grundprinzipien einer „freien Gesellschaft“ bejahten, allerdings kaum „grundsätzliche Auslassungen“ zur Rechtsgrundlage für derlei Schlussfolgerungen enthielten, usw.176 Das Oberste Gericht ist weder seiner verfassungsgemäßen Verpflichtung nachgekommen, noch füllte es ein institutionelles Vakuum. Es hat sich dazu entschlossen, sich über andere Entscheidungsverfahren hinwegzusetzen. Die Rechtsauffassung des Urteils von Marsh war, dass die im Privatbesitz befindliche Wohnanlage Handlungen untersagte, die eine „gewöhnliche Stadt“ nicht verfassungskonform untersagen konnte, und dass diese Wohnanlage in der Vorstadt sich in „nichts“ von einer gewöhnlichen Gemeinde „unterscheidet, abgesehen von diesem Anspruch, den sie als Privatgesellschaft hat.“177 Genau so könnte man sagen, dass die Obersten Richter sich in nichts von neun Männern gleichen Aussehens unterscheiden, abgesehen von dem rechtlich verbrieften Anspruch, so zu handeln, wie sie es tun. In keinem der beiden Fälle kann man die aufwendigen gesellschaftlichen Prozesse oder die mit ihnen einhergehenden gewichtigen Verpflichtungen einfach so beiseiteschieben, indem man die Schriftstücke, auf denen die Endergebnisse zusammengefasst sind, verunglimpft. Wenn einander entsprechende Erscheinungsbilder oder Funktionen als ausreichender Grund dafür angesehen werden, einen privat veräußerten Wertgegenstand Verfassungsschranken zu unterwerfen, die nicht greifen, wenn derselbe Wertgegenstand anderweitig genutzt wird, dann bedeutet dies allgemein, dass der wirtschaftliche Wert von Eigentum gemindert wird, weil die besonderen Nutzungsformen in Form und Funktion jenen ähneln, die für staatliche Organisationen gelten. Wirtschaftlich betrachtet ist dies eine zusätzliche (diskriminierende) und implizite Steuer auf die Durchführung von Leistungen, die den vom Staat erbrachten Leistungen entsprechen. Die gesellschaft­ lichen Folgen, die entstehen, wenn man jemanden davon abhält, Dienstleistungen anzubieten, die Alternativen zu staatlichen Dienstleistungen darstellen, dürften vor allem in einer pluralistischen Gesellschaft, die auf der Zurückweisung eines ausufernden Staates gründet, fragwürdig erscheinen. Was die ökonomischen Beziehungen rund um das Privateigentum von den politischen Beziehungen unterscheidet, die den verfassungsgemäßen Staatsauflagen zu genügen haben, ist nichts, das sich im Bild nach außen oder in der täglichen Handhabung zeigen würde. Die Verwaltungsroutine in der Hauptgeschäftsstelle des Roten Kreuzes kann jener in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager durchaus ähnlich sein. Aber dergleichen dürfte die beiden Organisationen in ge 175

Horrowitz / Karst (1966), S. 38. Wechsler (1959), S. 19, 24. 177 Marsh v. Alabama, 326 U. S. 501 (1946), S. 503. 176

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sellschaftlicher Hinsicht wohl kaum auf eine Stufe stellen. Was die ökonomischen Beziehungen auszeichnet, ist die freiwillige Vereinigung, die durch beiderseitige Übereinkunft verändert und durch einseitige Aufkündigung beendet werden kann. Was die politischen Beziehungen ausmacht, ist die Zwangsgewalt, die den Einzelnen unterwirft und sich auf eine geographische Region erstreckt, egal, welchem demokratischen Wege auch immer der Machthaber seine Position verdankt. Die Verfassungsschranken staatlicher Macht nehmen Bereiche davon aus, damit die Individuen auf freiwilligem Wege ihre eigenen Lieblingsordnungen schaffen können, deren Grenzen in ihrem Ermessen liegen. Die äußere Gestalt solcher frei geschaffenen Ordnungen mag manchmal den staatlichen Prozessen sehr ähneln, aber ihre Freiwilligkeit gibt ihnen von Grund auf eine andere Bedeutung und bestimmt in letzter Instanz, was ihre Mitglieder erschaffen. Die Rolle der Berufungsgerichte als Wachhunde, die an den Grenzen staatlicher Macht patrouillieren, besteht im Kern darin, den Menschen auf der anderen Seite der Grenze ein sicheres und freies Leben zu gewähren. Was einen Wachhund wertvoll macht, ist just jene Fähigkeit, Menschen, die in Schach zu halten sind, von jenen unterscheiden zu können, die man in Ruhe zu lassen hat. Ein Wachhund, der diese Unterscheidung nicht treffen kann, ist kein Wachhund, sondern schlicht eine allgemeine Plage. Die Freiwilligkeit vieler Handlungen – die persönliche Freiheit – halten viele für einen Wert an sich. Darüber hinaus haben die Prozesse freiwilliger Entscheidungsfindung aber auch viele Vorteile, die verlorengehen, wenn Gerichte versuchen, Ergebnisse vorzugeben, statt die Grenzen der Entscheidungsfindung festzulegen. Die Entscheidung im Fall Marsh schuf ein Präzedenzurteil, das nicht nur nachgeahmt wurde, sondern auch ausgedehnt. Wenn ein privates Wohnviertel ähnliche Funktionen erfüllt wie eine Gemeinde, dann müsste das dortige Einkaufszentrum auch „das funktionale Äquivalent“ zum entsprechenden Gegenstück einer Gemeinde sein.178 Daher könne man Streikposten nicht als Eindringlinge des Einkaufszentrums ansehen.179 Um es zu wiederholen, die Angelegenheit wurde als eine Sache dargestellt, bei der es um das Recht der vielen auf freie Rede gegen das Recht einiger auf Eigentum gehe.180 Das Recht der Öffentlichkeit auf ungestörte Ruhe und die Rolle des Eigentümers als Vermittler und Verteidiger dieses Rechts, der seine finanziellen Eigeninteressen wahrnimmt, durften dieses Bild nicht stören. Im Fall Food Employees Union v. Logan Valley Plaza (1968) wurden die wenigen namentlich im Sinne der viel größeren Einheit geführt, von der sie lediglich ein Teil sind („Arbeiter“). Für sie verwendete man auch die Begriffe anderer Entitäten, von denen einige auch ähnlich dachten („Konsumenten, Minderheiten“). Die gegenläufigen Interessen der vielen wurden indes mit unpersönlichen Begrif 178 Amalgamated Food Employees Union Local 590, et al. v. Logan Valley Plaza Inc. et al., 391 U. S. 308 (1968), S. 318. 179 Amalgamated Food Employees Union Local 590, et al. v. Logan Valley Plaza Inc. et al., 391 U. S. 308 (1968), S. 324 f. 180 Amalgamated Food Employees Union Local 590, et al. v. Logan Valley Plaza Inc. et al., 391 U. S. 308 (1968), S. 309, 313, 324, 326 und 324: „Es geht um nichts als das Anrecht.“

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fen belegt. Man sprach von Eigentumsrechten und von einigen Mittelsmännern („Wirtschaftsunternehmen“).181 Wie auch in dem anderen Fall bewegten sich die abweichenden Meinungen unter den Richtern im selben Rahmen und bemängelten vor allem das Ausmaß, in dem man die funktionale Analogie zum „staatlichen Handeln“ bemüht hatte. In einem späteren Fall, Lloyd Corporation v. Tanner (1972), machte der Oberste Gerichtshof einen Rückzieher. Im Urteil mit 5 zu 4 Stimmen wurde hervorgehoben, dass man die Flugblätter in einer Einkaufspassage verteilt habe, die kein „funktionales Äquivalent“ darstelle, weil sie nicht in einer „großen privaten Enklave“ wie Logan Valley liege, in der „sonst keine vernünftige Gelegenheit“ bestanden habe, Botschaften zu verkünden.182 Kurz gesagt, wieder einmal wurde die politische Freiheit, von staatlichen Verboten verschont zu bleiben, mit dem wirtschaftlich günstigen Versenden von Botschaften verwechselt. Das Minderheitenvotum verwies zwar auch auf die Kosten der Botschaftssendung, kam aber zu einer anderen Kosteneinschätzung: „Wenn die Rede diese Leute erreichen soll, dann muss sie diese im Logan Center erreichen.“183 Offenbar gibt es ein Recht auf eine Zielgruppe, ohne dass man auf deren Wünsche Rücksicht nehmen müsste. In späteren Verfahren, in denen der Oberste Gerichtshof die Anwendung der für „staatliche Handlungen“ geltenden Einschränkungen ablehnte, fragte man ebenfalls, wie weit man „die Analogie treiben kann, um … eine Fülle von Funktionen beanspruchen zu können, die man zwar gemeinhin für nicht-staatlich hält, die aber staatlichen Aktivitäten weitgehend entsprechen.“184 Von der Grundidee, derlei funktionalen Parallelismus zum ausschlaggebenden Faktor zu machen, rückte man indes nicht ab. Merke, die Mehrheit unterschied sich von den Abweichlern nur darin, dass sie die Analogie nicht so weit treiben wollte wie jene. An der Gültigkeit des Analogieprinzips hielt man aber fest. In einem weiteren späteren Fall, in dem es um ein Versorgungsunternehmen in privater Trägerschaft ging, das seine Dienstleistung „ohne rechtsstaatliches Verfahren“ einstellte, begründete man die unterbliebene Bemühung, die Beschränkungen für „staatliches Handeln“ heranzuziehen mit der Feststellung, die Funktionsanalogie sei unzureichend – und dies, obgleich der Konsument aufgrund der staatlichen Macht gar keinen anderen Stromanbieter auswählen konnte, weil der Staat seinerzeit durch die Lizensierung des alten Anbieters den Wettbewerb ausgeschlossen hatte.185 Selbst wenn man die Theorie vom „natürlichen Monopol“ 181

Amalgamated Food Employees Union Local 590, et al. v. Logan Valley Plaza Inc. et al., 391 U. S. 308 (1968), S. 324. 182 Lloyd Corporation, Ltd., v. Tanner, et al., 407 U. S. 551 (1972), S. 563. 183 Lloyd Corporation, Ltd., v. Tanner, et al., 407 U. S. 551 (1972), S. 580. 184 Evans et al. v. Newton et al., 382 U. S. 296 (1966), S. 322. 185 Öffentliche Versorgungsunternehmen können nicht gegründet werden, es sei denn der Staat autorisiert sie, weil sie „öffentlichen Bedürfnissen und Annehmlichkeiten“ zuträglich sind. Dergleichen zieht man aber nicht in Betracht, wenn ein bestehendes Versorgungsunternehmen seine Leistungen einer Gemeinde bereitstellt, egal, wie gut oder schlecht.

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öffentlicher Versorgung186 teilt, ist es nicht ökonomisch unvermeidbar, dass ein bestimmtes staatlich ausgewähltes Unternehmen dieses Monopol wahrnehmen muss, egal, wie gut es seine Kunden bedient. In einigen Bereichen gibt es natürliche Monopole aus Kostengründen. Aber Kostenvorteile sind nie absolut. Ein hinreichend schlechter Umgang mit Kunden schafft genügend Gelegenheiten für Mitbewerber – es sei denn, der Staat unterbindet diesen ökonomischen Rückkopplungsmechanismus, mit dem die Konkurrenten sich „gegenseitig in Schach“ halten. Wenn man die ökonomische Variante der gegenseitigen Kontrolle aufgibt, ohne sie durch eine politische Form der gegenseitigen Kontrolle zu ersetzen, dann kombiniert man damit die schimmsten Eigenschaften, welche die beiden institutionellen Prozesse haben. Wenn Fragen des „staatlichen Handelns“ anstanden, dann nahmen weder die Abweichler noch die Rückzieher bei Gericht zur Kenntnis, dass es um ein anderes Verfassungsprinzip ging. Sie bedachten auch nicht die relative Überlegenheit anderer Entscheidungsfindungsprozesse, mit denen man die infrage stehenden Interessen hätte abwägen können.

Rasse Damals, als sie eingeführt wurde, enthielt die Verfassung keinen expliziten Passus zur Sklaverei bzw. zur versklavten Rasse, obgleich „freie Personen“ und „andere Personen“ für Wahlzwecke auseinandergehalten wurden. Erst mit dem 13. Verfassungsartikel von 1865 und dem Sklavenhaltungsverbot wurde die Sklaverei ein Thema in der Verfassung, und dann erneut 1870, als der 15. Verfassungszusatz festhielt, dass man niemandem das Wahlrecht „auf Grund der Rassenzugehörigkeit, der Hautfarbe oder des vormaligen Dienstbarkeitsverhältnisses“ versagen dürfe. Zwischen beiden Zusätzen liegt der bedeutende 14. Verfassungsartikel, der vorschreibt, dass „alle Personen … den gleichen Schutz durch das Gesetz“ genießen. Man schätzt, dass der 14. Zusatz den Obersten Gerichtshof am meisten beschäftigt. Seine Auswirkungen gehen zwar weit über die Rassenthematik hinaus, aber zusammen mit den anderen beiden Zusatzartikeln hat er die Rassenbeziehungen in den Vereinigten Staaten am meisten verändert. Wir werden drei Bereiche, in denen das Gesetz Tendenzen in der Rassenfrage erkennen lässt, untersuchen: (1) Staatshandlungen, die Auswirkungen auf die Rassen hatten und vom Obersten Gerichtshof als verfassungswidrig verworfen wurden, (2) „Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen“, die in den 60er und 70er Jahren auf Veranlassung der Gerichte und bundesstaatlichen Verwaltungsbehörden ergriffen wurden, und (3) die Rassenintegration an Schulen in der Konzeption, wie sie 1954 im wegweisenden Fall Brown v. Board of Education

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Sowell (1977), S. 120 f.

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beschlossen und in den darauf folgenden Jahren rechtlich und gesellschaftlich fortentwickelt wurde. Staatliches Handeln Bevor 1868 der 14. Verfassungszusatz verabschiedet wurde, gab es im Norden und Süden zahllose Gesetze, nach denen schwarze und weiße Bürger gesondert zu behandeln waren. Nach dem Bürgerkrieg wurden im Süden noch mehr solcher Gesetze verabschiedet – vor allem recht weitreichende Gesetze für „Nicht­ sesshafte“ –, welche die befreiten Schwarzen praktisch neu versklavten. Vor dem Bürgerkrieg gab es Gesetze, um jene 500.000 „freien farbigen Personen“ in Schach zu halten. Man versagte ihnen Grundrechte wie jene, vor Gericht als Zeuge auszusagen (es sei denn, sie sagten gegen andere Schwarze aus), frei umherzuziehen oder ihre Kinder auf eigene Kosten auszubilden.187 In der weitreichenden und tiefgreifenden Natur, mit der man ihnen selbstverständliche und grundlegende Rechte verweigerte, darf man den Ursprung für die Worte vermuten, die für den 14. Verfassungsartikel gewählt wurden. Der „gleiche Schutz durch das Gesetz“ hatte eine sehr klare und einfache Bedeutung – und eine sehr begrenzte Be­deutung, die mit einer gesellschaftlichen Revolution nichts zu tun hatte. Gleiches galt für das Gebot, dass der Staat niemandem ohne „ordentliches Gerichtsverfahren“ „Leben, Freiheit oder Eigentum“ nehmen dürfe. Die Verfasser jener Zeilen haben ausdrücklich, wiederholt und mit Nachdruck jegliche Auslegungen untersagt, die mehr als die Ahndung grober Rechtsbrüche erlaubt hätten.188 Noch nicht einmal das Wahlrecht fand hier einen Platz.189 Die Urteile, die der Oberste Gerichtshof im 19. Jahrhundert unter Berufung auf den 14. Zusatzartikel fällte, respektierten den eingegrenzten Bereich, den die Auto­ren im Sinn hatten. Der Oberste Gerichtshof erklärte, es sei nur das „Staats­ handeln, das bestimmte Merkmale trägt, verboten.“ „Einzelne Eingriffe in individuelle Rechte sind nicht der Gegenstand des Zusatzes.“190 Auch die Beherbergungsgesetze fielen nicht darunter.191 Selbst Fälle von Lynchjustiz an Gefangenen in staatlicher Obhut wurden nicht nach dem 14. Verfassungszusatz beschieden.192 Im 20. Jahrhundert fing der Oberste Gerichtshof damit an, die Bedeutung „staatlichen Handelns“ auf vielerlei Fälle (die ab den 20er Jahren einsetzten) anzuwenden, und zwar vor dem Hintergrund innerparteilicher Vorwahlen im Süden, zu denen nur Weiße zugelassen waren. Dort liefen die Vorwahlen bei den Demokra 187

Sowell (1977), S. 120 f. Berger (1977), Kapitel 2. 189 Berger (1977), S. 30. 190 Civil Rights Cases, 109 U. S. 3 (1883), S. 11. 191 Civil Rights Cases, 109 U. S. 3 (1883), S. 26 f. 192 United States v. Cruikshand, 92 U. S. 542 (1875); United States v. Harris, 106 U. S. 629 (1882). 188

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ten auf einen Wahlsieg hinaus. Dass man es den demokratischen „Abgeordneten des Staates“ überließ, die Qualifikationen ihrer Wähler festzulegen, war ein leicht zu durchschauendes Manöver, um die Schwarzen von der Wahl fernzuhalten.193 In den besagten Fällen waren es staatliche Stellen, welche die Initiative ergriffen haben und Entscheidungen trafen, die den Bürgern die Gleichbehandlung versagten. 1940 begann dann eine ganz andere Serie von Fällen „staatlichen Handelns“. Nun lag sowohl die Initiative wie auch die Entscheidung, Individuen ungleich zu behandeln, bei Privatpersonen. Der Staat kam nur später ins Spiel, um die legalen Rechte jener privaten Personen bzw. Organisationen zu schützen, damit sie ihre wie auch immer ausfallenden Entscheidungen hinsichtlich beabsichtigter Verträge (mit Nutzungsbeschränkungen) und der Nutzung ihrer Liegenschaften (Betretungsrechte) treffen konnten. Um es kurz auszudrücken, der Staat entschied in diesen Fällen einfach nur, wer gemäß der vereinbarten Verträge und Rechte das Entscheidungsrecht hatte. Die Staatsgewalt spielte bei der Durchsetzung von Verträgen und Rechten eine Rolle, die Entscheidungen des Staates aber spielten keine. Der Oberste Gerichtshof räumte zwar ein, dass der 14. Verfassungszusatz „keinen Schutzschild gegen rein privates Verhalten bildet, egal, wie diskriminierend oder verwerflich dieses auch ausfällt.“ Allein man glaubte, dass die staatliche „Durchsetzung“ restriktiver Vereinbarungen der Beginn staatlicher „Mitwirkung“ sei.194 Man sagte, dies sei staatliches Handeln „in seiner umfassenden und vollständigen Bedeutung des Wortes.“195 Ähnlich verhielt es sich bei der staatlichen Durchsetzung von Zutrittsrechten, wenn Demonstranten, die für die Aufhebung der Rassentrennung eintraten, Sitzstreiks in privaten Versorgungsbetrieben abhielten. Man sah in der Durchsetzung ein „staatliches Handeln“, das gegen den 14. Verfassungszusatz verstoße.196 Die wohl extremste Vorstellung von „staatlichem Handeln“ trat in dem 5:4-Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall Reitman v. Mulkey (1967) zutage. Das Urteil wertete die Aufhebung des kalifornischen Gesetzes zum „sozialen Wohnungsbau“ als einen Verstoß gegen den 14. Verfassungszusatz, weil der Staat Kalifornien sich mit der Gesetzesaufhebung der „Begünstigung“ privater Diskriminierung schuldig mache.197 In anderen Fällen wurden private Diskriminierungsentscheidungen als „staatliches Handeln“ klassifiziert, weil irgendeine staatliche Einrichtung finanziell, verwaltungstechnisch oder in anderer Weise mit einer privaten Partei verknüpft war – wie im Fall Burton v. Wilmington Parking Authority (1961). In ihm ging es um ein Restaurant, das staatliche Räumlichkeiten gemietet hatte und Rassen 193

Nixon v. Herndon, 273 U. S. 536 (1927); Smith v. Allwright, 321 U. S. 649 (1944). Shelley v. Kraemer, 334 U. S. 1 (1948), S. 13. 195 Shelley v. Kraemer, 334 U. S. 1 (1948), S. 19. 196 Petersen v. Greenville, 373 U. S. 244 (1956); Lombard v. Louisiana, 373 U. S. 267 (1963). 197 Reitman, et al. v. Mulkey, et al., 387 U. S. 369 (1967), S. 375. Dort zitiert man mit Zustimmung das vom Obersten Gerichtshof der USA bestätigte Urteil des Obersten Gerichtshofs in Kalifornien. 194

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diskriminierung betrieb. Die Frage, wie sehr der Staat mit einer privaten Partei verstrickt sein muss, damit in rechtlicher Hinsicht aus privaten Entscheidungen „staatliches Handeln“ wird, wurde nie geklärt. Der Oberste Gerichtshof hielt das Zurechtschneiden einer „präzisen Formulierung“ für „eine unlösbare Aufgabe“, die „dieses Gericht nie in Angriff genommen hat.“198 Ging es aber um staatliche Lizenzvergaben – selbst wenn diese restriktiv199 oder monopolistisch200 waren –, dann reichten dieselben nicht, um aus ihnen „staatliches Handeln“201 zu machen. Was ungeklärt blieb, war nicht nur die Frage, wo man die Grenze zu ziehen habe – eine „präzise Formulierung“ –, sondern auch die Frage, nach welchem Grundsatz dabei vorzugehen sei. Statt eines Grundsatzes zieht sich ein Sammelsurium an Ad hoc-Gründen durch die Fälle „staatlichen Handelns“. Dabei ging es entweder um die Funktionsentsprechung privater und öffentlicher Aktivitäten,202 staatliche Vorteile aus privaten Tätigkeiten,203 die „Öffentlichkeit“ einer Aktivität204 oder nur darum, dass der Staat in einem Bereich „hätte agieren können“, sich aber dazu entschlossen habe, stattdessen zu „entsagen“.205 Das Bürgerrechtsgesetz von 1964 hob viele Unterschiede privater und staatlicher Entscheidungsfindung als unnötig auf, weil man vielen privaten Betreibern diverser öffentlicher Einrichtungen per Gesetz das untersagte, was auch dem Staat untersagt war: Rassendiskriminierung. Die anschließenden Fälle lassen erkennen, dass der Oberste Gerichtshof die Karte des „staatlichen Handelns“ nicht mehr spielte. Das zeigte sich nicht nur in der Frage, wo die Grenze zu ziehen sei, sondern mehr noch in der Frage nach dem Grundsatz, nach der man sie zu ziehen habe. „Dort, wo die Umsetzung einer beschlossenen Tat, die der Staat zulässt, vom Beklagten ausgeht und nicht vom Staat, wird das Handeln des Beklagten nicht zu einem „staatlichen Handeln“ im Sinne des 14. Verfassungszusatzes.“206 Diese Distinktion zwischen staatlicher Autorisierung in einem Bereich privaten Ermessens und direkter staatlicher Entscheidungsfindung macht die Begründungsidee in der vorausgegangenen Reihe an Grundsatzentscheidungen zu „staatlichem Handeln“ eigentlich nichtig. Das beginnt mit dem Betretungsverbot und endet mit der Aufhebung des kalifornischen Gesetzes zum „sozialen Wohnungsbau“. Da dieser Grundsatz in einem Fall verkündet wurde, der nichts mit Diskriminierung zu tun hatte, hängt die Feststellung verfassungsgemäßer Grundsätze offenbar nicht davon ab, worum es im Fall 198

Burton v. Wilmington Parking Authority, et al., 365 U. S. 715 (1961), S. 722. Moose Lodge No. 107 v. Irvin, 407 U. S. 163 (1972). 200 Jackson v. Metropolitan Edison Co., 419 U. S. 345 (1974). 201 Burton v. Wilmington Parking Authority, et al., 365 U. S. 715 (1961), S. 728. 202 Marsh v. Alabama, 326 U. S. 501 (1946); Amalgamated Food Employees Union Local 590, et al. v. Logan Valley Plaza, Inc. et al., 391 U. S. 308 (1968). 203 Burton v. Wilmington Parking Authority, et al., 365 U. S. 715 (1961). 204 Evans et al. v. Newton et al., 382 U. S. 296 (1966). 205 Burton v. Wilmington Parking Authority, et al., 365 U. S. 715 (1961), S. 725. 206 Jackson v. Metropolitan Edison Co., 419 U. S. 345 (1974), S. 357. 199

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geht. Weder im Fall Marsh, in dem es um „Redefreiheit“ ging, noch in Fällen wie der Fall Burton, in dem die Rassenfrage thematisiert wurde, initiierte der Staat die Entscheidungen, die dann jeweils zu legalen Handlungen führten. Alles, was der Staat unternahm, war die Durchsetzung des allgemeinen (nicht-rassistischen) Rechts von Privatpersonen, andere auszuschließen. Die Inkonsistenzen, die sich durch die genannten Fälle ziehen, werfen indes die Frage auf, ob es hier auch nur um einen Bereich von „Ergebnissen“ ging, für die der Oberste Gerichtshof der Warren-Ära bekannt ist.207 Falls ja, dann dürfte die erkennbare Inkonsistenz der Fälle in der gesellschaftspolitischen Auffassung zu suchen sein, die der Gerichtshof in Rassenfragen vertrat, und auch in der größeren Leichtigkeit, mit der man derlei Ergebnisse nach dem Bürgerrechtsgesetz von 1964 erzielen konnte, ohne herbeigezogene und wackelige Argumente bezüglich „staatlichen Handelns“ bemühen zu müssen. Affirmative action (Fördermaßnahmen) Der Ausdruck „affirmative action“ ist mehrdeutig. Er nimmt Bezug auf einen allgemeinen Ansatz und auf hochspezifische Maßnahmen in der Politik. Der allgemeine Ansatz geht von der Annahme aus, dass die „Beendigung und Unterlassung“ einiger schädlicher Praktiken unzureichend sein könne, um bereits angerichteten Schaden ungeschehen zu machen bzw. Schaden vorzubeugen, der künftig aus Ereignisstrukturen, die in der Vergangenheit ausgelöst worden sind, hervorgehen könnte. Diese Idee gab es bereits vor den Bürgerrechtsgeschehnissen der 60er Jahre. Das Wagner-Gesetz von 1935 schrieb vor, dass Arbeitgeber, die der Einschüchterung von gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern für schuldig befunden worden waren, „Fördermaßnahmen“208 zu ergreifen hätten – z. B. durch Aushänge, in denen sie ihre geänderte Geschäftspolitik kundtaten, und / oder durch Wiedereinstellung entlassener Arbeiter mit Lohnrückzahlung.209 Rassendiskriminierung ist einer der Bereiche, in denen Beenden und Unterlassen allein den Schaden in der Zukunft, der aus vergangenen Handlungen stammt, nicht unterbinden würden. Die weitverbreitete Praxis, neue Arbeiter einzustellen, die von bestehenden Teilen der Belegschaft empfohlen werden, hat wahrscheinlich zur Folge, dass ein rassendiskriminierender Arbeitgeber mit einer rein weißen Belegschaft, der seine Diskriminierung beendet, auch weiterhin nur weiße Arbeitskräfte haben wird, weil er nur Bekannte und Verwandte bestehender Belegschaftsmitglieder einstellt. Widersacher der Rassendiskriminierung fordern daher, dass man „Fördermaßnahmen“ ergreifen müsse, um die Einstellungspraxis aufzuheben, die rassische oder ethnische Minderheiten meist unberücksichtigt lässt. Zu derlei 207

Siehe Anm. 6 und 7 sowie Charles L. Black, zitiert nach Berger (1977), S. 346 ff. und passim. 208 National Labor Relations Act von 1935, Absatz 10 (c). 209 Millis / Brown (1950), S. 97.

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Maßnahmen könnten Stelleninserate in Zeitungen bzw. Medien gehören, die eher als andere die Minderheiten erreichen. Aber auch andere Maßnahmen sind denkbar, die einen gleichermaßen leichten Zugang für jene ermöglichen, die sich um eine Stelle oder einen Studienplatz bemühen, usw. Die erste öffentliche Erwähnung des Begriffs „Fördermaßnahme“ im Zusammenhang mit Rassen bzw. Ethnien findet sich in der Verfügung von Präsident Kennedy, die verlangt, dass staatliche Vertragspartner ihre Neueinstellungen auf einer nicht-diskriminierenden Basis und affirmativ vorzunehmen hätten.210 Auch Präsident Johnson erließ eine präsidentielle Verfügung, die Fördermaßnahmen verlangte. Mit ihr werde sichergestellt, dass Mitarbeiter „ohne Ansehen von Rasse, Glaube, Hautfarbe oder nationaler Herkunft“ eingestellt würden.211 Das Bürgerrechtsgesetz von 1964 fordert ebenfalls wiederholt in seinen diversen Absätzen, dass Einstellungen und andere Entscheidungen ohne Ansehen von Rasse oder Ethnizität vorzunehmen seien.212 Kurzum, spezielle Anstrengungen waren zu unternehmen, um vormals ausgeschlossene rassische oder ethnische Gruppen in den Kreis der Bewerber aufzunehmen, gleichwohl die eigentliche Wahl unter den Bewerbern dann ohne Ansehen von Rasse und Ethnie zu treffen war. So sah der ursprüngliche Vorstoß der „Fördermaßnahmen“ aus. Sowohl die präsidentiellen Verfügungen als auch die Gesetzgebungen des Kongresses riefen nach diversen Verwaltungsbehörden – bestehenden wie neu zu schaffenden –, um die jeweiligen politischen Maßnahmen geordnet ausformulieren und ausführen zu können. Genau an dieser Stelle verwandelte sich die Idee der „Fördermaßnahme“. Aus der Idee, künftig Chancengleichheit zu haben, entstand die Vorstellung, rückblickend eine statistische „Repräsentation“ bzw. Quoten zu haben. Diese Transformation ist umso bemerkenswerter, wenn man sie im Lichte der Wortwahl und der legislativen Vorgeschichte des Bürgerrechtsgesetzes von 1964 sieht, weil in diesen der Ansatz einer statistischen Repräsentation ausdrücklich abgelehnt wird. Noch während man die Gesetzgebung durch den Senat lotste, wies Senator Hubert Humphrey darauf hin, dass „es nicht notwendig ist, dass ein Arbeitgeber eine Art von Ausgewogenheit unter den Rassen seiner Belegschaft anstreben und dazu irgendwelche Personen oder Gruppen bevorzugt behandeln muss.“213 Bevor man einen Arbeitgeber der Diskriminierung für schuldig befinden konnte, musste man ihm die „Absicht nachweisen.“214 Tauglichkeitstest waren nach 210

Glazer (1975), S. 46. Zitiert nach Lester (1974), S. 62. 212 Das Bürgerrechtsgesetz von 1964 verwendet in Absatz 401 (b) die Formulierung „ohne Ansehen ihrer Rasse, Hautfarbe, Religion, ihres Geschlechts oder ihrer nationalen Herkunft.“ An anderen Stellen wird erklärt, dass eine Reihe von Entscheidungen oder Ausgrenzungen nicht „aufgrund der Rasse, Hautfarbe, Religion oder nationalen Herkunft“ (Absatz 202 und 601) bzw. „unter Berufung“ auf solche Kennzeichnungen (Absatz 301a) oder „wegen“ ähnlicher Kennzeichnungen (Absatz 703) vorgenommen werden dürfen. 213 U. S. Equal Employment Opportunity Commission (1964), S. 3005. 214 U. S. Equal Employment Opportunity Commission (1964), S. 3006. 211

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wie vor legal, auch wenn die Testgruppen sie unterschiedlich gut bestanden.215 Ein anderer Befürworter des neuen Gesetzes, Senator Joseph Clark, verwies darauf, dass die Beweislast für Diskriminierungsverstöße gegen das Bürgerrechtsgesetz beim Staat liege.216 Und ein weiterer Fürsprecher, Senator Williams aus Delaware, erklärte, ein Arbeitgeber mit einer rein weißen Belegschaft könne auch weiterhin „nur die bestqualifizierten Bewerber einstellen, auch dann, wenn alle weiß sind.“217 All diese Zusicherungen decken sich mit der Wortwahl im Bürgerrechtsgesetz,218 nicht aber mit der Politik, die nach Inkrafttreten des Gesetzes von den Verwaltungsbehörden gepflegt wurde. Ab 1968 gab das Arbeitsministerium eine Reihe von „Richtlinien“ für jene heraus, die im Auftrag des Staates handeln. Man forderte von ihnen „spezifische Ziele und Zeitvorgaben“ hinsichtlich der „Beschäftigung von Minderheiten in der Belegschaft“. Nach und nach wurden daraus „ergebnisorientierte“ Anstrengungen (1970), die schließlich dazu führten, dass der Arbeitgeber die Beweislast zu tragen hatte, wenn er Minderheiten und Frauen „unterbeschäftigte“. Und mit Unterbeschäftigung meinte man einen „geringeren Anteil an Minderheiten und Frauen in einem Berufsfeld, als man aufgrund ihrer Zahl auf dem Arbeitsmarkt annehmen sollte …“219 Diese sogenannten Richtlinien hatten Gesetzeskraft, und wegen der großen Rolle des Staates im Wirtschaftsleben stellten die Unternehmen (und deren Zulieferer), die im Auftrag des Staates arbeiteten, ein Großteil der Arbeitgeber. Mit dem „verfügbaren Anteil“ der Minderheiten und Frauen war – in den Augen der für die Beurteilung zuständigen Verwaltungsbehörden – meist nicht mehr und nicht weniger als deren prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung gemeint. Eine „Repräsentation“, die auf der Bevölkerungsgröße basiert, übersieht die großen Unterschiede der Altersverteilung unter den ethnischen Gruppen in Amerika, die auf Unterschiede im Kinderreichtum der Familien zurückzuführen sind. Die Hälfte aller Hispanics in den Vereinigten Staaten sind entweder Säuglinge, Kinder oder Jugendliche. Ihr Durchschnittsalter liegt 10 Jahre unter dem der Gesamtbevölkerung. Es liegt zudem 20 Jahre unter dem der Iren oder Italiener und 25 Jahre unter dem der Juden.220 Derlei demographische Fakten werden in der Statistik aus 215

U. S. Equal Employment Opportunity Commission (1964), S. 3160 f. U. S. Equal Employment Opportunity Commission (1964), S. 3015. 217 Zitiert nach Glazer (1975), S. 45. 218 „Dieser Rechtsanspruch lässt keine Auslegung zu, die von Arbeitgebern, Arbeitsämtern, Berufsverbänden oder Einstellungskomitees, die diesem Rechtsanspruch unterliegen, verlangen könnte, Einzelne oder Gruppen bevorzugt zu behandeln, und zwar aufgrund der Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlechtszugehörigkeit oder nationalen Herkunft der betreffenden Person oder Gruppe im Sinne eines Ungleichgewichts, das hinsichtlich der prozentuellen Beschäftigung der Personen oder Gruppen nach Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlechtszugehörigkeit oder nationalen Herkunft bestehen mag …“ Absatz 703 (j) des Bürgerrechtsgesetzes von 1964. 219 Richtlinien des amerikanischen Arbeitsministeriums, herausgegeben am 4. Dezember 1971, zitiert nach Glazer (1975), S. 49. 220 Sowell (1978c), S. 221. 216

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geblendet, da diese nur den „repräsentativen Anteil“ an der Bevölkerung erfasst. Und zu dieser gehören Kinder und Erwachsene. Die hochrangigen Positionen, denen das besondere Augenmerk der „Fördermaßnahmen“ gilt, werden üblicherweise von Personen mit langjähriger Berufserfahrung und / oder Berufsfortbildung bekleidet – also meistens von Personen, die über 40 sind, und nicht gerade mal 20. Die demographischen Unterschiede zwischen Gruppen dieser Alterskohorten können extrem ausfallen. Die Hälfte aller jüdischen Amerikaner sind 45 Jahre alt oder älter. Von den Puerto-Ricanern sind es gerade mal 12 %. Selbst in einer vollkommen diskriminierungsfreien Gesellschaft wären die Puerto-Ricaner in den Berufen, in denen die Menschen ihres Alters arbeiten, „unterrepräsentiert“. Die Verteilung der ethnischen Gruppen in Amerika ist – allgemeiner ausgedrückt – hinsichtlich Alter, Bildung, Region sowie sonstigen Variablen, die sich spürbar auf Einkommen und Beruf auswirken, nicht zufällig.221 Mit Blick auf die Idee der Fördermaßnahmen hat man auch die qualitativen Dimensionen der „Verfügbarkeit“ gedehnt. Man zählt die gerade noch „Qualifizier­ ten“ genauso hinzu wie jene, die gut oder sehr gut qualifiziert sind. Die Kommission für Chancengleichheit am Arbeitsplatz (EEOC  –  Equal Employment Opportunity Commission) deutet das Konzept so, dass Bewerber als qualifiziert gelten, wenn sie „qualifizierte Personen [sind], die man weiterbilden kann“222 – Personen also, denen die notwendigen Qualifikationen fehlen und deren Einstellung höhere Kosten verursachte als die Einstellung einer bereits qualifizierten Person. Man kann Bewerbern oder Mitarbeitern einen Arbeitsplatz noch nicht einmal dann verwehren, wenn sie schwer kriminell waren. Die EEOC legte dies so fest, weil „ein merklich überproportionaler Anteil der Personen, die eines ‚schweren Verbrechens‘ überführt wurden, Minoritäten angehören“ und die Einstellung von Arbeitgebern, niemanden mit einer schwerkriminellen Vergangenheit zu beschäftigen, „Neger diskriminiert“.223 Ein Arbeitgeber könne an seiner Praxis nur festhalten, wenn er die Beweislast auf sich nähme und nachwiese, dass „die Straftat arbeitsplatzrelevant“ sei. Außerdem muss er die „jüngste“ Arbeitsbiografie der Person berücksichtigen – all dies zur nachträglichen Zufriedenheit des EEOC.224 Die EEOC hat bestimmt, welche Gruppen in rechtlicher Hinsicht als „Minoritäten“ gelten: Neger, Indianer, Orientalen und Hispanics.225 Die Kommission (die nicht per Wahl zustande kam) traf ihre Festlegung ohne Restriktionen und musste sie gegenüber niemanden rechtfertigen. Orientalen wurden nur berücksichtigt, sofern sie höhere Einkommen bezogen als andere ethnische Gruppen (wie z. B. Amerikaner deutscher, irischer, italienischer oder polnischer Abstammung226) – 221

Sowell (1978c). Hearings (1969), S. 303 (Anhörungen im kalifornischen Los Angeles vom 12.–14. März 1969). 223 Zitiert nach Glazer (1975), S. 56. 224 Zitiert nach Glazer (1975), S. 57. 225 Vgl. Glazer (1975), S. 47. 226 Sowell (1978c), S. 214 f. 222

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oder gar höhere Einkommen als der amerikanische Durchschnittsverdiener.227 Die anderen offiziell anerkannten ethnischen Minderheiten haben alle ein anderes Durchschnittsalter und andere Bildungsniveaus als die allgemeine Bevölkerung. Diese Tatsache wird in den Diskussionen zur Frage der „Repräsentation“ im Allgemeinen übersehen. Zählt man die Frauen zu den bevorzugt zu behandelnden (oder „förderungswürdigen“) Gruppen hinzu, dann stellen alle anspruchsberechtigten Personen zusammen zwei Drittel der amerikanischen Gesamtbevölkerung. Man kann die Sache auch anders betrachten. Tut man dies, dann ist eine Diskriminierung gegen ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung (männliche Juden, Italiener, Iren usw.) rechtlich statthaft – und für Arbeitgeber im Auftrag des Staates ist sie nicht nur statthaft, sondern vorgeschrieben. Im Zuge der Beweislastverschiebung lud man dem Arbeitgeber, nachdem man ihm eine auf Anschein basierende und von der Verwaltung definierte statistische „Unterrepräsentation“ nachgewiesen hatte, noch eine weitere Beweislast auf, die er immer dann zu tragen hatte, wenn ein Test bei den offiziell erkorenen Minderheiten unterschiedliche Auswirkungen zeitigte.228 Die an und für sich vernünftige Forderung, derlei Tests zu „validieren“, bedeutet in der Praxis für viele Arbeitgeber ein Verbot solcher Tests, weil die Validierungskosten nach Schätzungen professioneller Tester „im günstigen Fall zwischen 40.000 und 50.000 USD liegen.“229 Viele Arbeitgeber haben zudem nicht genug Arbeitskräfte in jeder Berufssparte, um in allen Fällen statistisch aussagekräftige Ergebnisse zu generieren, selbst wenn sie willig und imstande wären, dafür zu bezahlen. Die EEOC ging sogar über die Forderung der „Validierung“ hinaus und forderte eine differenzielle Validierung für jede ethnische Gruppe – was, wo überhaupt möglich, noch kostspieliger ist, und noch seltener praktikabel. Dort, wo Verwaltungen die Gesetze festlegen und wo die Beschuldigten allein aus Gründen der Offensichtlichkeit für schuldig erklärt werden können, sieht man mehr als deutlich, wie bedeutend Kosten sind und wie wichtig es ist, bei legalen Transaktionen dem Staat die Beweislast aufzuerlegen. So, wie die „Fördermaßnahmen“ von der Verwaltung entwickelt wurden, besteht die Offensichtlichkeit schlicht und ergreifend in systemischen Ergebnissen („unterrepräsentiert“), die vor dem Gesetz mit absichtsvollem Verhalten („Diskriminierung“) gleichgesetzt werden. Ein renommierter Vertreter seines Faches meinte einmal: „Man kann die umfangreichen Berichte der Behörden und deren Rechtsfälle ausgiebig studieren, aber man findet nur selten einen Bezug zu irgendeinem Akt, in dem eine Person diskriminiert wurde.“230 So sehr auch „Fördermaßnahmen“ in der Praxis die Bedeutung von Quoten haben mögen, die Verwaltungsbehörden können nicht explizit Quoten festlegen, weil das Bürgerrechtsgesetz ihnen dies untersagt. Stattdessen zwingt man einen Arbeit 227

Sowell (1978c), S. 214. Vgl. Glazer (1975), S. 51–56. 229 Glazer (1975), S. 47. 230 Glazer (1975), S. 47. 228

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geber, „Unterbeschäftigung“ zu gestehen und seinen eigenen Plan für „Fördermaßnahmen“ aufzustellen, und erklärt dies zur Bedingung, damit er Regierungsaufträge erhalten und Unterverträge mit anderen Firmen abschließen kann, die vom Staat Geld erhalten. Die Behörde sagt ihm nicht, wie viele Personen einer Gruppe in toto oder prozentual er zu beschäftigen hat. Sie kann aber seine individuellen Vorgehensweisen und Ziele solange ablehnen, bis sie einverstanden ist. Auf diese Weise steigen die Kommunikationskosten für Verwaltung, Arbeitgeber und Gesellschaft. In diese Kosten mischen sich jene der überlappenden Rechtsprechungen der betroffenen Verwaltungsbehörden – die EEOC, das Justizministerium, das Gesundheitsministerium und das Arbeitsministerium. Ein Plan für „Fördermaßnahmen“, der einer Behörde zusagt, muss nicht einer anderen Behörde behagen. Aber selbst dann, wenn er von allen Behörden gleichzeitig abgesegnet werden sollte, kann ein einzelner Angestellter immer noch den Arbeitgeber wegen „umgekehrter Diskriminierung“ verklagen. In der Tat hat es schon Bundesbehörden gegeben, die unter Berufung auf das Bürgerrechtsgesetz einander verklagt haben.231 Kurzum, die Politik versagt darin, im Voraus klarzustellen, was ein Individuum machen kann und was nicht. Ein Teil der Unklarheit liegt in der heimlichen Verfolgung von Zielen, welche die Verwaltungsbehörden von Rechts wegen nicht erwirken dürfen. Weil die Absichten des Kongresses missachtet wurden, gab es auch Versuche, die „Fördermaßnahmen“ auf ihre ursprüngliche Bedeutung – nämlich die „Ausdehnung der Bewerberpools“232 – zurückzuführen. Dieser Versuch, das Gesetz zu verbessern, schlug fehl.233 Sein Scheitern belegt, wie der Zeitgeist sich auf Sonderinteressengruppen auswirken kann. Gesetze sind nicht einfach Reaktionen auf bereits bestehende Interessen. Sie schaffen auch spezielle Interessengruppen, wenn sie das auslösen, was anschließend politisch möglich ist. Wie wir bereits sahen, sind Sonderinteressengruppen in ihrem Kern Menschen, die geringere Kosten beim Durchschauen staatlicher Politik haben. So gesehen bilden auch Staatsdiener Sonderinteressengruppen, weil ihre Arbeitsplätze und Einflussbereiche durch die vorhandene Gesetzgebung geschaffen werden. Die Politik der „Fördermaßnahmen“, die dann folgte, hatte enormen Einfluss auf die Verwaltungsbehörden, die dieselben durchführten. Die Personalstärke des EEOC verzehnfachte sich beispielsweise in nur drei Jahren.234 Die Auswirkungen auf die Beschäftigung von Minderheiten stufte man hingegen als recht gering ein.235 Schwarze lehnen zu 64 % eine Vorzugsbehandlung ab, 27 % stimmen für sie. Von den Frauen lehnen 4 /5 eine Bevorzugung ab. Es gibt nicht eine einzige Gruppe (bezogen auf Rasse, Region, Geschlecht, Einkommen oder Bildung), die sich zufolge einer Gallup-Umfrage für eine Vorzugsbehandlung ausspräche.236 Ungeachtet dessen haben der Arbeitseifer 231

Ward (1975), Teil IV, S. 1 ff. Buckley (1976). 233 Congressional Record, 94th Congress, Second Session, Band 122, Nr. 28. 234 Glazer (1975), S. 38. 235 Smith / Welch (1978), S. 1. 236 Gallup Opinion Index, Juni 1977, Report 143, S. 23. 232

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der Verwaltungsbehörden und die allgemeine Billigung der Gerichte ausgereicht, um die Maßnahmen fortzusetzen, die nie ein Kongress abgesegnet hat und die der legislativen Absicht schlicht zuwiderlaufen. Die Abschirmung der Verwaltungsprozesse von der politischen Kontrolle zeigt sich in zweierlei: (1) Die Verwaltungsbehörden gingen über die „Fördermaßnahmen“, die von den beiden Demokraten im Weißen Haus (Kennedy und Johnson) autorisiert und auf Entscheidungen begrenzt worden waren, die ohne Rücksicht auf Gruppenidentität zu treffen sind, hinaus. (2) Sie taten dies trotz der beiden folgenden republikanischen Präsidenten (Nixon und Ford), die den Trend in den ehemals ihnen unterstellten Behörden als Teil der regierenden Exekutive entschieden ablehnten. Die politische Abgeschirmtheit zeigt sich auch im ersten großen Rückschlag für die „Fördermaßnahmen“ – der von einem anderen nicht durch Wahlen bestimmten Teil des Staates stammt, dem Obersten Gerichtshof. Nach mehr als einem Jahrzehnt der Befürwortung von „Fördermaßnahmen“ war er nun in der Lage, diese Politik zu stoppen. Weder das Volk noch seine gewählten Vertreter konnten dies rückgängig machen. In einer 5 zu 4-Entscheidung, mit allerlei Minderheitenmeinungen, befand der Oberste Gerichtshof im Fall Bakke (1978), dass eine Universität keine Zulassungsquoten für Minderheiten beschließen kann, die darauf hinauslaufen, dass „jede Bewerberkategorie … vom Wettbewerb mit den übrigen Mitbewerbern abgeschirmt wird.“237 Man verbat nicht, wenn man sich aus freien Stücken zur Verwendung der Rasse als Bevorzugungsgrund aussprach, wo dies „nicht den Einzelnen vor dem Vergleich mit den übrigen Kandidaten ausschloss.“238 Aber man hob hervor, dass jede Zuordnung des Staates nach Rasse gemäß des 14. Verfassungszusatzes „an sich suspekt ist und daher nach sehr sorgfältiger juristischer Abwägung ruft.“239 Der Oberste Gerichtshof verwarf die Idee der Gruppenentschädigung für allgemeine „gesellschaftliche“ Übelstände – im Gegensatz zu einer nachweislichen Diskriminierung durch einen vorhandenen Entscheidungsträger.240 Er wies darauf hin, dass der 14. Verfassungszusatz jedem Individuum „gleiches Recht“ zugestehe – aber keine Gruppenrechte und schon gar nicht irgendwelche Sonderrechte an Gruppen einräume, die historisch mit dem Ursprung des 14. Verfassungszusatzes in Verbindung stehen.241 Nach mehr als 100 Jahren Prozesserfahrung im Namen des 14. Verfassungszusatzes „kann man nicht mehr argumentieren, der gleiche Schutz aller Personen gestatte es, besonderen Schutzbefohlenen einen Grad des Schutzes zu billigen, der größer ist als jener, den man anderen gewährt.“242 In einer multiethnischen Gesellschaft wie der in den USA können die Gerichte sich nicht die Aufgabe stellen, die „Vorurteile und den anschließenden Schaden, den zahlreiche 237

Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4909. Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4903. 239 Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4902. 240 Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4906. 241 Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4901. 242 Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4903. 238

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Minderheitengruppen erlitten haben,“ historisch zu bewerten. Ja, die Begriffe „Mehrheit“ und „Minderheit“ selbst stehen auf dem Prüfstein, weil „sich die weiße ‚Mehrheit‘ aus vielen ethnischen Gruppen zusammensetzt, von denen die meisten behaupten können, in der Geschichte Diskriminierungen von Seiten des Staates und einzelner Individuen erfahren zu haben.“243 Jede Rangfolge unter den Gruppen und alle verfügbaren Abhilfen wären nur vorübergehend und würden – nachdem die rechtlichen Abhilfemaßnahmen gegriffen haben – wiederholt inkrementelle Korrekturen verlangen. Die „dehnbare soziologische und politische Analyse“, die dazu notwendig wäre, „liegt einfach nicht im Bereich der Gerichtskompetenz“ – mag sie auch noch so politisch möglich und gesellschaftlich wünschenswert sein.244 Die oben genannten und von Richter Lewis F. Powell verfassten Gerichtsurteile griffen die wichtigsten Themen auf, die durch die Politik der „Fördermaßnahmen“ aufgeworfen wurden. Die Entscheidung war knapp und Übereinstimmungen gab es nur in Teilen. Das führte zu unterschiedlichen Mehrheiten für die verschiedenen Bereiche, über die abzustimmen war. All das lässt den Fall Bakke nicht zu dem Präzedenzfall werden, der er sonst gewesen wäre. Dass höchst unterschiedliche und gegnerische Gruppen in der Entscheidung einen Sieg für ihre jeweiligen Standpunkte sahen, verstärkt diesen Eindruck noch mehr. Die vier Richter, die mit Powell gegen das Zulassungsprogramm für Minderheiten stimmten, lehnten es ab, sich ihm in irgendeinem anderen Punkt seiner offiziellen Gerichtsmeinung anzuschließen.245 Sie gaben an, dass „nur eine Mehrheit für den Obersten Gerichtshof sprechen oder festlegen kann, was die ‚zentrale Botschaft‘ jedweden Gerichtsurteils ist.“246 Die recht engbegrenzte Basis der Übereinstimmung ließ keine weitere Mehrheit zu irgendeinem der von Powell aufgegriffenen Themen zustande kommen. Die trüben rechtlichen Auswirkungen, die das Urteil im Fall Bakke noch haben sollte, zeigte sich zudem in den vier Abweichlern, die hinreichend klarmachten, wie weit der Oberste Gerichtshof bereits die Richtung eingeschlagen hatte, die er nun ablehnte.247 Wie knapp, ja dünn die Entscheidung im Fall Bakke war, unterstrich das Urteil im Fall Weber, das kein Jahr später getroffen wurde und in die entgegengesetzte Richtung wies. Hatte er noch für die Universität von Kalifornien Zulassungsquoten verworfen, so verteidigte nun der Oberste Gerichtshof Berufsausbildungsquoten, und zwar für das Werk der Kaiser Corporation in Louisiana. Nachdem die im Arbeitsministerium angesiedelte Behörde zur Kontrolle der Vertragstreue (OFCCP – ­Office of Federal Contract Compliance Programs) Kritik an der Einstellungspolitik von Kaiser geübt und mit dem Verlust von Regierungsaufträgen gedroht hatte, 243

Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4903. Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4903. 245 Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4935. 246 Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4933, Anm. 1. 247 Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4918– 4922, passim. 244

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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entwarfen Kaiser und die Stahlarbeitergewerkschaft gemeinsam einen Plan für „Fördermaßnahmen“. Dazu übernahmen sie einen Musterplan, den die Regierung der Stahlgewerkschaft unter Einwilligung aufgenötigt hatte. Die Hälfte aller Stellen im Ausbildungsprogramm war Schwarzen vorbehalten. Einer der Weißen, der zugunsten von Schwarzen mit weniger Berufserfahrung eine Absage erhielt, war Brian F. Weber, der einen Diskriminierungsprozess anstrengte. Weber gewann vor Gericht, auch die Berufung, verlor aber vor dem Obersten Gerichtshof durch eine 5 zu 2-Entscheidung. Die vier Gegenstimmen im Fall Bakke (Brennan, Marshall, White und Blackmun) bekamen in Gestalt von Richter Potter Stewart Verstärkung und bildeten im Fall Weber die neue Mehrheit. In beiden der genannten Fälle gründete die Mehrheitsentscheidung auf dem, was die maßgeblichen Paragrafen des Bürgerrechtsgesetzes von 1964 vorsahen, und nicht auf der Verfassung. Das bedeutete, dass man in beiden Fällen die Verankerung eines umfassenden Rechtsprinzips vermied. Außerdem legte man in beiden Fällen die Anwendbarkeit des gesetzlichen Regelwerks sehr eng aus. Im Fall Bakke erklärten die vier Richter, die mit Powell gestimmt hatten: „Dies ist keine Gruppenklage. Hier streiten zwei konkrete Prozessparteien gegeneinander.“248 Im Fall Weber verkündete die (anders zusammengesetzte)  Mehrheit ganz ähnlich: „Wir betonen gleich zu Beginn die Begrenztheit der Untersuchung. Da es im Plan von Kaiser und Stahlgewerkschaft nicht um staatliches Handeln geht, enthält der Fall auch keine mutmaßliche Verletzung der Verfassungsklausel, die allen gleichen Schutz gewährt.249 In beiden Fällen hat man die Tradition, bei ausreichender Gesetzeslage unnötige Verfassungsurteile tunlichst zu vermeiden, auf die Spitze getrieben. (1) Man übersah, dass der Staat in die Quotenentscheidungen wesentlich involviert war. (2) Man übersah außerdem die Absicht, die der Kongress mit dem Bürgerrechtsgesetz verfolgte, gab sie sogar falsch wieder. Bakke hatte sich um einen Studienplatz für Medizin an einer staatlichen Universität beworben, und Weber wollte an einer Fortbildungsmaßnahme teilnehmen, die auf Druck der OFCCP zustande gekommen war. Aber nur Richter Powell sprach das Thema an, wonach die Verfassung vom Staat verlangt, dass allen der „gleiche Schutz durch das Gesetz“ widerfahre. Was die Absicht des Kongresses angeht, so hatten die vier mit Powell stimmenden Richter im Fall Bakke behauptet, dass „der Kongress sich in den Debatten um das Bürgerrechtsgesetz mit der Legalität der ‚umgekehrten Diskriminierung‘ bzw. der ‚Fördermaßnahmen‘ nicht direkt befasst hat.“250 Andererseits hat einer dieser vier Richter (Rehnquist) später recht ausführlich im Fall Weber in seinem Votum von den Quoten und Bevorzugungen berichtet, die der Kongress bei der Abfassung des Bürgerrechtsgesetzes immer wieder diskutiert und entschieden wie nachdrück-

248

Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4933. United Steelworkers of America v. Brian F. Weber, 47 U. S. Law Week 4851, S. 4853. 250 Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4934. 249

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2. Teil: Themen und Tendenzen

lich abgelehnt hatte.251 Warum also im Fall Bakke die erfundene Rechtshistorie? Ihr einziger Effekt lag darin, eine Rechtsauslegung zu einem Punkt zu ermöglichen, mit dem der Kongress sich angeblich nicht befasst hatte. Man schuf also das Recht, eine Klage nach dem Bürgerrechtsgesetz einzureichen, für die dasselbe keine rechtliche Grundlage vorgesehen hatte.252 Dieses neu geschaffene Klagerecht schuf also eine gesetzliche Lösung für mögliche Fälle unter Vermeidung eines verfassungsrechtlichen Präzedenzfalles. Das, was eine andere Richtergruppe im Fall Weber – als Gegengewicht zu „einer buchstabengetreuen Auslegung“253 dessen, was der Kongress ins Bürgerrecht hineingeschrieben hatte und was eine Vorzugsbehandlung untersagte – heranzog, war gleichermaßen erfundene Rechtsgeschichte. Man berief sich lieber auf den „Geist“ des Gesetzes und dessen „vorrangiges Anliegen, sich des Elends der Neger in unserer Wirtschaft anzunehmen.“254 Damit hielt die Richtermehrheit im Fall Weber an der Kaiserquote fest und nannte sie wiederholt „freiwillig“, obwohl sowohl in der Erstverhandlung als auch in der Berufung die Gerichte einen offenkundigen Druck von Seiten der OFCCP festgestellt hatten.255 Das Quotensystem von Kaiser war in Wahrheit nur das Quotensystem des Staates, das man dem Vertragspartner auferlegt hatte. Kurz und gut, acht der neun Richter – in zwei unterschiedlichen Fällen, die vor demselben Gerichtshof stattfanden  – hielten lieber an der Option des Gerichts fest, Kataloge zu „Fördermaßnahmen“ nach Belieben auszuwählen oder abzulehnen. Man scheute auch nicht, (1) vorzutäuschen, die Absicht des Kongresses, die eine andere war, umzusetzen, und (2) außer Acht zu lassen, dass der Staat an der Schaffung der besagten Maßnahmen beteiligt war. Das Muster, das den beiden sehr unterschiedlichen Fällen zu Grunde liegt, ist sehr schlüssig und dürfte weitaus gravierendere Folgen haben als die jeweiligen Urteile an sich. Die eigentliche Unterstellung hinter den Quoten der „Fördermaßnahmen“ wurde bislang weder von den Gerichten noch von den Verwaltungsbehörden thematisiert. Sie besagt, dass die systemischen Muster („Repräsentation“) entweder Folgen absichtlichen Handelns („Diskriminierung“) oder des gesellschaftlichen Verhaltens im Großen und Ganzen seien – und nicht das Ergebnis von Handlungen, für welche die fraglichen Gruppen irgendwie bzw. zumindest graduell verantwortlich seien, oder von statistischen Artefakten bzw. von Mustern, die demographischen oder kulturellen Gründen entspringen. Der springende Punkt ist nicht die kategorische Dichotomie, es entweder auf das „Opfer“ oder „die Gesellschaft zu schieben.“ Es geht um die inkrementelle Frage der Multikausalität und die wohl multiplen Möglichkeiten, politisch auf dieselbe zu antworten.

251

United Steelworkers of America v. Brian F. Weber, 47 U. S. Law Week 4851, S. 4861–4866. Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4936. 253 United Steelworkers of America v. Brian F. Weber, 47 U. S. Law Week 4851, S. 4853. 254 United Steelworkers of America v. Brian F. Weber, 47 U. S. Law Week 4851, S. 4853. 255 United Steelworkers of America v. Brian F. Weber, 47 U. S. Law Week 4851, S. 4853 f., 4859. 252

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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Generell gesehen kann die angebliche Zufälligkeit der ausgewählten Ergebnisse, die man als Grundlage zur Messung von Diskriminierung verwendet, weder empirisch noch logisch nachgewiesen werden. In vielen Fällen und vielfacher Weise ist sie auch widerlegt. So zeigen beispielsweise selbst Handlungen, die völlig im Ermessen und Kontrollbereich eines jeden Individuums liegen  – Wahl des gewünschten Fernsehprogramms, des gewollten Spiels oder der Meinungen, die man bei einer Umfrage mitteilen will –, Muster, die je nach Ethnie, Geschlecht, Region, Bildungsniveau usw. erheblich voneinander abweichen. Es ist völlig willkürlich, Varianzen, die aus der Gruppe heraus erwachsen, von den Größen, die Einfluss auf die Gruppenergebnisse nehmen, auszuschließen.256 Genauso willkürlich ist die Mutmaßung, dass jene Variablen, die moralisch gesehen die wichtigsten sind, auch kausal die wichtigsten zu sein hätten. Eine der Variablen, die weder moralischer noch gesellschaftlicher Natur ist, aber routinemäßig übersehen wird, ist das Alter. Wie bereits erwähnt, betragen die Altersunterschiede unter den ethnischen Gruppen Amerikas zum Teil Jahrzehnte. Das mittlere Alter unter den amerikanischen Indianern beträgt nur die Hälfte von dem der polnischen Amerikaner (20 Jahre hier, 40 Jahre dort); das Medianalter der Schwarzen liegt knapp unter der Hälfte des Medianalters der Juden (22 Jahre versus 46 Jahre).257 Diese Unterschiede wirken sich auf alles aus, sei es Einkommen, Beruf, Arbeitslosigkeit, Geburten-, Kriminalitäts- oder Todesrate.258 Die kubanischen Amerikaner haben z. B. ein höheres Einkommen als die mexikanischen Amerikaner, die im Schnitt 10 Jahre jünger sind, in einigen Alterskohorten aber das höhere Gehalt beziehen.259 Jeder Versuch, große Einkommensunterschiede zwischen diesen beiden Gruppen zu erklären, indem man auf gesellschaftliche „Diskriminierung“ oder die Diskriminierung ihrer Fähigkeiten verweist, scheitert schlicht an der Tatsache, dass der große Unterschied die Kehrseite des alters­ spezifischen Unterschieds ist. Ähnlich sieht es bei den Sterberaten aus. Die Sterberate der Schwarzen ist niedriger als die der Weißen. Aber das deutet keineswegs auf bessere Lebensbedingungen oder eine bessere medizinische Versorgung der Schwarzen hin, und auch nicht auf irgendeine Fähigkeit der Schwarzen, die Weißen in dieser Hinsicht zu diskriminieren. Schwarze sind einfach jünger als Weiße, und jüngere Menschen haben niedrigere Sterberaten als ältere Menschen. Spezifiziert man nach Alter, dann haben Weiße eine niedrigere Sterberate als Schwarze.260 Altersunterschiede überdecken auch Rassenunterschiede bei der Arbeitslosigkeit. Seit Jahrzehnten haben Schwarze in der Alterskohorte der 24–44-Jährigen jahrein, 256 Außerdem impliziert die Verwendung negativer Abweichungen vom nationalen Durchschnitt (an Einkommen, „repräsentativer Vertretung“ in Berufsgruppen usw.) als Maßstab der Diskriminierung a priori den Ausschluss der Möglichkeit, dass eine Gruppe der Diskriminierung im Laufe der Jahre graduell entkommen ist. 257 Sowell (1978c), S. 221. 258 Sowell (1978c), S. 221–225. 259 U. S. Bureau of the Census, Current Population Reports, Series P-20, Nr. 213, S. 6. 260 Wattenberg (1974), S. 136.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

jahraus konstant niedrigere Arbeitslosigkeitsraten als Weiße unter 20 Jahren.261 Indes liegt die Arbeitslosigkeit der Weißen als Gruppe unter der der Schwarzen als Gruppe. Kurzum, die Auswirkung des Alters auf statistische Daten ist so groß, dass jeder Vergleich von Gruppen unter Ausblendung des Alters auf einen Vergleich von Äpfeln und Birnen hinausläuft. Gleichwohl werden bei „Fördermaßnahmen“, bei denen die Gruppen auf ihre anteilige „Repräsentation“ hin verglichen werden, die Altersunterschiede fast ausnahmslos übersehen. Das Alter ist aber in Bezug auf Daten zu „Fördermaßnahmen“ auch noch in anderer Hinsicht wichtig. Wenn man die künftige Chancengleichheit anhand zurückliegender Ergebnisse aus Zeiten zunehmender Chancenangleichung bemisst, dann werfen die Übersichtsstatistiken verschiedene Alterskohorten in einen Topf, obwohl diese während ihrer beruflichen Laufbahn von der zunehmenden Chancenangleichung unterschiedlich stark profitiert haben – von 0 bis 100 Prozent. Ältere Personen, die ihre Karriere begonnen haben, als es noch keine Angleichung gab – oder man sie noch von bestimmten Berufen ausgeschlossen hat –, haben ein entsprechend geringeres „Humankapital“, mit dem sie im Wettbewerb mit ihren Altersgenossen ausgestattet sind. Jüngere Angehörige derselben ethnischen Gruppe werden in dieser Hinsicht weniger benachteiligt sein, sofern die Chancenangleichung für sie zunahm. Selbst wenn das Ideal, künftig gleiche Chancen zu haben, erreicht würde, könnten die retrospektiven Daten erst einige Jahrzehnte später, nachdem alle Zugehörigen der älteren Alterskohorten ausgeschieden sind, eine statistische Parität ausweisen. Dieser Sachverhalt ist nicht nur theoretisch von Belang. Die Einkommensannäherung zwischen Schwarzen und Weißen fällt mit dem Alter.262 Und während der Bildungszugewinn für Schwarze im Allgemeinen geringer ausfällt als für Weiße, fällt er für junge Schwarze etwas höher aus als für ihre weißen Zeitgenossen.263 Eine andere nicht-moralische Variable, die kaum im Verhältnis zu den Absichten der „Gesellschaft“ steht, sich aber auf die statistischen Daten auswirkt, ergibt sich aus den örtlichen Unterschieden. Es gibt keine ethnische Gruppe, deren Einkommen bei der Hälfte des nationalen Durchschnittseinkommens läge, aber unter den Gruppen kann der Einkommensunterschied von einem zum anderen Ort ein Verhältnis von 2 zu 1 haben. Der Zensus von 1970 zeigt, dass das durchschnittliche Familieneinkommen von Schwarzen in New York mehr als doppelt so hoch wie das Einkommen schwarzer Familien in Mississippi war. Indianische Amerikaner in Chicago, Detroit oder New York City verdienten mehr als das Doppelte von dem, was sie üblicherweise in den Reservaten verdient hätten. Mexikanische Amerikaner verdienen im städtischen Umland von Detroit zweimal so viel wie sie im texanischen Laredo oder Brownsville bekämen.264 Angesichts der Größe 261

Employment Report (1976), S. 241 ff. Smith / Welch (1978), S. 7. 263 Welch (1973). 264 U. S. Bureau of the Census (1970), S. 170. 262

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und Vielfalt der Vereinigten Staaten wirkt sich die geographische Verteilung der ethnischen Gruppen auf die statistischen Medianwerte aus, die oft unbekümmert zitiert werden, ohne auf die geographischen und demographischen Verteilungsmuster allzu große Rücksicht zu nehmen. Jede ethnische Gruppe hat ihr eigenes Verteilungsmuster, das eine Reihe von historischen und kulturellen Einflüssen widerspiegelt,265 die wenig mit den Absichten der „Gesellschaft“ zu tun haben. Wenn man Alter und Geographie berücksichtigt, dann spricht vieles dafür, dass junge schwarze Paare, die nicht im Süden leben, seit 1971 genauso viel verdienen wie junge weiße Paare in ihrer Region.266 Die Ungläubigkeit und Bestreitung, die mit der Veröffentlichung dieser Tatsache einhergegangen sind, sind ein Zeichen für die handfesten Interessen, die sich aus einer anderen Vorstellung von gesellschaftlichem Prozess ergeben und sich in politischen Maßnahmen, die auf dieser Vorstellung gründen, niedergeschlagen haben. In späteren Studien wurden die Einkommensparitäten unter den Alterskohorten junger Schwarzer und Weißer mit ähnlichen kulturellen Merkmalen bestätigt.267 Es geht hier nicht darum zu sagen, alles sei gut. Weit gefehlt! Der Punkt ist, dass sowohl die kausale Bestimmung als auch die politischen Rezepte eine kohärente Analyse voraussetzen, und nicht gute Gefühle, die mit ein paar Zahlen garniert sind. Viele der Hypothesen, die hinter den „Fördermaßnahmen“ stehen, sind als solche nicht unvernünftig. Unvernünftig ist es aber, Hypothesen in Axiome zu verwandeln. Die Vorliebe für intentionale Variablen („Diskriminierung“) hat dazu geführt, dass systematische Variablen (Alter, Region, Kultur) praktisch nicht mehr in Betracht gezogen werden. In der Praxis ergeben sich aus dieser willkürlichen Aussonderung für die Theorie Folgen, die weit über die Mittelsmänner – Arbeitgeber – hinausreichen und große Gruppen betreffen, die weitaus anfälliger sind, vor allem die ethnischen Minderheiten selbst. Jede fehldiagnostizierte Bedingung ist ein Hindernis auf dem Weg zur Verbesserung. Wenn jüngere Studien immer noch substanzielle Einkommensdisparitäten unter Schwarzen und Weißen auf Bedingungen zurückführen, die lange bestanden, bevor die jüngeren Alterskohorten den Arbeitsmarkt betreten haben  – und Gewohnheiten in die häusliche Umgebung, Erziehung usw. hineinlesen (oder nicht hineinlesen)268 –, dann hat dies Auswirkungen auf die Wirksamkeit politischer Maßnahmen, die (1) davon ausgehen, dass Diskrepanzen, die man am Arbeitsplatz entdeckt, auf Entscheidungen am Arbeitsplatz zurückzuführen seien, und (2) rechtliche Verfahren anstrengen, die den Arbeitsplatz in den Mittelpunkt rücken. Die Auswirkungen der „Fördermaßnahmen“ gelten axiomatisch für das, was man ursprünglich mit ihnen erreichen wollte. In Wahrheit aber haben Studien nur geringe bis gar keine Auswirkungen feststellen können, die Fördermaßnahmen 265

Sowell (1978c), S. 225 f. U. S. Bureau of the Census (1971), S. 22. 267 Freeman (1976), S. 88, 107; Sowell (1975b), S. 21 f. 268 Freeman (1976), S. 88. 266

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2. Teil: Themen und Tendenzen

gehabt hätten, um ethnische Minderheiten voranzubringen, sei es im Hinblick auf Einkommen oder Beruf.269 In einigen besonderen Fällen – bei prominenten Firmen, öffentlichen Versorgungsträgern und sonstigen Unternehmen, die besonders auf die Beschwichtigung der Bundesbehörden angewiesen sind – hat es gewisse Änderungen gegeben. Aber alles in allem hat sich die ökonomische Lage der Minderheiten durch die „Ziele und Zeitvorgaben“ (Quoten), die im Dezember 1971 verpflichtend eingeführt wurden, wenig geändert. Die wirkungslose Bilanz der „Fördermaßnahmen“ steht im krassen Gegensatz zur Bilanz, welche die kurz zuvor verabschiedeten Gesetze zur „Chancengleichheit“ aufzuweisen hatten. Nach Erlass des Bürgerrechtsgesetzes von 1964 – und vor der Quoteneinführung 1971 – stieg das Einkommen der Schwarzen, gemessen an dem der Weißen, rasant an. Auch stieg die Zahl der Schwarzen in den Büroetagen und Ausbildungsberufen.270 Ein Grund für diese Diskrepanz lag in den unterschiedlichen Anreizen, die mit den beiden politischen Maßnahmen verbunden waren. Gesetze zur „Chancengleichheit“ sahen im Fall erwiesener Diskriminierung Geldstrafen vor. Die Gesetze zu den „Fördermaßnahmen“ bestraften für Zahlen, die für die Behörden enttäuschend waren, und machten Prozesse gegen „zu widerlegende Vorwürfe“ zu teuren und unsicheren Angelegenheiten. Auf den ersten Blick mögen die Strafen bei „Fördermaßnahmen“ zwar „härter“ (höher) erscheinen, aber nicht dann, wenn man Kosten als Opportunitätskosten auffasst, d. h. als die Differenz zwischen der Verfolgung einer Handlungsoption und einer anderen. Weil man ohnehin viele Quoten nicht einhalten an, werden die Strafen gleichmäßig auf diskriminierende und nicht-diskriminierende Arbeitgeber verteilt. Ein diskriminierender Arbeitgeber gewinnt daher wenig, wenn er zum nicht-diskriminierenden Arbeitgeber wird, zumal die Merkmale der Zielpopulation (Alter, Bildung usw.) dafür Sorge tragen, dass er die Quoten unmöglich erfüllen kann. Die Leichtigkeit, mit der man einen Diskriminierungsfall erzeugen kann, macht es problematisch, Frauen und Minderheiten zu beschäftigen, und zwar im Hinblick auf künftige Streitfälle vor Gericht, sollten ihre Bezahlung, Beförderung und sonstigen Bevorteilungen nicht denen der übrigen Belegschaft bzw. den Erwartungen der zuständigen Behörden entsprechen. Es ist so wie auch in anderen Fällen, in denen es, wie wir in Kapitel 5 sahen, um Gruppen mit Sonderrechten geht. Derlei Rechte haben auch für die Rechteinhaber Kosten. Kurz und gut, „Förder­ maßnahmen“ halten entgegengesetzte Anreize bereit, manche für das Einstellen und manche gegen das Einstellen von Frauen und Minoritäten. Es überrascht daher kaum, dass sie weniger effektiv sind als die Gesetze zur „Chancengleichheit“, die nur Anreize in eine Richtung bereitstellen. Weil die Politik der „Fördermaßnahmen“ auch für Frauen gilt, sollte man anmerken, dass auch in diesem Fall die Bereitschaft, außer nach groben statistischen Größen nach offenkundig systemischen Variablen Ausschau zu halten, ähnlich 269 270

Smith / Welch (1978), S. 47–50; Ashenfelter (1974), S. 568; Sowell (1975b), S. 23, 41 f. Wattenberg (1974), S. 131 f.

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gering ausfällt. Im Falle der Frauen ist die Verheiratung die Schlüsselvariable. Bereits vor Einführung der Quoten im Zuge der „Fördermaßnahmen“ verdienten Frauen um die 30, die seit ihrem Abschluss an einer fortführenden Schule ohne Unterbrechung im Beruf waren, mehr als ihre männlichen Kollegen.271 In den akademischen Berufsfeldern, in denen viele Diskriminierungsklagen unter Berufung auf die Fördermaßnahmen geführt wurden, verdienten unverheiratete Akademikerinnen etwas mehr als ihre ledigen männlichen Kollegen272 – auch hier bereits vor den „Fördermaßnahmen“. Promovierte ledige Frauen, die ihre Abschlüsse in den 30er oder 40er Jahren erwarben, wurden in den 50er Jahren etwas häufiger in den Professorenstand befördert als die unverheirateten Promovierten ihres Jahrgangs.273 Kurzum, die Einkommens- und Karriereunterschiede zwischen Männern und Frauen sind weitgehend Unterschiede zwischen verheirateten Frauen und allen anderen Personen. In den Daten wird dies manchmal nicht ganz deutlich, weil als „ledig“ auch Frauen geführt werden, die verwitwet, geschieden oder getrenntlebend sind – die also häusliche oder mutterschaftsbedingte Nachteile während ihrer Karriere erfahren. Die eindeutig gleiche (oder gar bessere) Einkommenssituation nicht-verheirateter Frauen legt mithin nahe, dass systemische Variablen mehr mit den statistischen Daten zu tun haben als die intentionalen Entscheidungen, die in jenen Betrieben getroffen werden, in denen man die statistischen Werte erhebt. Schulische Integration Die 1954 vom Obersten Gerichtshof gefällte Entscheidung im Fall Brown v. Board of Education setzte eine Folge von Ereignissen in Gang, die zu einer bitteren Kontroverse führte. Während die einen sie mit Blick auf die erhofften Resultate als wegweisend für die „Rassenintegration“ in den öffentlichen Schulen anpriesen, sprachen die anderen angesichts der institutionellen Mechanismen lieber von der „erzwungenen Buslösung“. Rassenintegration meinte eigentlich mehr als statistisches Mischen. Sie legte zumindest nahe, dass ein Sinn für gegenseitigen Respekt entstünde. Mit der erzwungenen Buslösung war gemeint, dass übergeordnete – meist weit entfernte – Autoritäten (zumeist beamtete Richter) den gewählten Amtsträgern sowie Eltern und Kindern vor Ort die Handhabung des lokalen Busverkehrs kategorisch vorschrieben. Damit unterschied man sie von jener Buslösung, die letztere – frei von Zwang – so gestaltet hätten, wie ihnen die Vorteile inkrementell nahegelegt hätten. Die Entscheidung im Fall Brown hatte in vielerlei Hinsicht historische Ausmaße. Sie verurteilte die komplette politische wie rechtliche Vorgehensart, mit der im Süden Rassentrennung praktiziert wurde, als verfassungswidrig. Betroffen waren nicht nur die öffentlichen Schulen. Der Oberste Gerichtshof lag auf Jahre hinaus 271

The Economic Role of Women (1973), S. 103. Sowell (1975b), S. 32 f. 273 Astin (1973), S. 153. 272

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mit der politischen Struktur des Südens über Kreuz und setzte mit dieser Entscheidung seine allgemeine Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit aufs Spiel. Hätte der Oberste Gerichtshof in dieser Frage auf Straffreiheit bestanden, dann hätte er damit seine Möglichkeiten, seine sonstigen Entscheidungen in anderen Bereichen durchzusetzen, dauerhaft aufs Spiel gesetzt. Nun ja, es war der Beginn der Ära des Obersten Bundesrichters Earl Warren und des aufkommenden richterlichen Aktivismus, den der Oberste Gerichtshof unter seiner Führung betrieb. Das, was mit dem Urteil im Fall Brown politisch und richterlich auf dem Spiel stand, ist ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte, wie sich über die Jahre die schulische Rassentrennung in ein erzwungenes System gemeinsamer Busse verwandelte, das die vorgeschriebenen Rassenproportionen erzielen sollte.274 Noch bevor das Urteil gefällt wurde, verwies Richter Frankfurter auf die große Gefahr, die eine Entscheidung bergen könne, die ein Prinzip bekräftigt, aber in der Praxis Spott erntet, und zwar durch Trotz und Unterwanderung auf lokaler Ebene.275 Man vermied einen unmittelbaren und kategorischen Stärketest, indem man in der Entscheidung selbst verkündete, dass es mit einer gewissen Verzögerung zu Neuanhörungen komme. Im Anschluss an die Neuanhörung beschloss man dann, das Urteil mit „der ge­ botenen Schnelligkeit“ umzusetzen – das heißt inkrementell, soweit es die politischen „Realitäten“ zulassen. Diese höchst ungewöhnliche Rechtsprozedur276 erlaubte der niederen Gerichtsbarkeit und dem Obersten Gerichtshof, vor dem Sprung ins Wasser die Temperatur zu messen, Anpassungen vorzunehmen und sich an die Lage vor Ort anzupassen, vor allem im Süden des Landes. Außerdem gewannen die Meinungsbildner, die gut Wetter für das „Gesetz des Landes“ machen wollten, wertvolle Zeit. Man muss bedenken, dass viel auf dem Spiel stand, darunter der Rechtsrahmen der Nation, und nicht nur das Schulsystem oder das Verhältnis der Rassen untereinander. Was auch immer die Verdienste dieser Herangehensweise sein mochten, sie hatte auch erhebliche Nebenwirkungen. Sie verwandelte den Obersten Gerichtshof in eine Partei, die mit Institutionen über Kreuz lag, über die er Recht zu sprechen und unparteiische Urteile zu fällen hatte. Außerdem war die Herangehensweise regelrecht eine Einladung, das Recht auf jede nur erdenkliche Weise zu umgehen und hinauszuzögern. Dies wiederum bedeutete, dass die Gerichte die Gesetze, Vorhaben, Regulierungen und Organisationsstrukturen der Institutionen bis in die letzte kleine Schulbehörde hinein detailliert überwachen mussten. Sie mussten über die Festlegung des Legalen hinausgehen und alles auf „Treu und Glauben“ festschreiben. Das, was für Treu und Glauben sprach, waren die Zahlen der schwarzen Schüler, die tatsächlich in weiße Schulen integriert wurden – Zahlen, die in einigen Südstaaten bei null lagen. Im tiefen Süden hielt sich die tiefverwur­ zelte Rassentrennung in den öffentlichen Schulen auch noch 10 Jahre nach dem Urteil im Fall Brown. 274

Graglia (1976), Kapitel 3. Kluger (1976), S. 572. 276 Graglia (1976), S. 34. 275

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Mit der Zeit zeigte sich, dass die Gerichte ihre Anordnungen anderen Institu­ tionen wirksam aufzwingen konnten und dass  – wenn nötig  – Bedienstete der Kommune, des Bundesstaates oder einer Bundesbehörde mithilfe der Polizei oder Einsatztruppen das „Gesetz des Landes“ vor dem offenen Widerstand der Bevölkerung bewahren konnten. Die Zeit ließ auch jene, die der Aufhebung der Rassentrennung erbitterten Widerstand leisteten, ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen nehmen und in private Schulen stecken oder in weiße Vororte ziehen, wodurch der Widerstand geschwächt wurde. Als die politische Waagschale sich zuungunsten ihrer Gegenspieler neigte, die ihnen lange Zeit Frustrationen beschert hatten, holten die Gerichte zu Rundumschlägen aus und mischten sich mehr und mehr in die Umgestaltung des Schulsystems ein. Das Urteil im Fall Brown verlangte zunächst vom Staat nicht mehr als die Außerachtlassung der Rasse bei der Verteilung der Kinder auf die Schulen. Dies wurde auch (1963) in einem späteren Fall bestätigt, in dem man festhielt, dass „rassische Klassifizierungen ungültig sind.“ Diese Haltung bewies man auch im Bürgerrechtsgesetz von 1964, das die „Aufhebung der Rassentrennung“ mit der Zuweisung der Schüler an die öffentlichen Schulen „ohne Ansehen ihrer Rasse, Hautfarbe, Religion oder nationalen Herkunft“ definierte und hinzufügte, dass dies nicht bedeute, dass die Zuweisung „rassische Ungleichgewichte ausmerzen“277 solle. Derlei Formulierungen tauchen auch mehrfach in den Entwürfen zum Bürgerrechtsgesetz und in den Debatten des Kongresses vor Verabschiedung des Gesetzes auf.278 Dennoch wurde die Absicht des Kongresses von den Entscheidungen der Bundesbehörden auf den Kopf gestellt. Die Bürgerrechtskommission drängte das Bildungsministerium, Richtlinien zur Vergabe von Bundesmitteln an die Schulbezirke zu erlassen, in denen man von den Bezirken nicht nur die „Aufhebung“ segregierter Schulen, sondern auch die Schaffung „integrierter Systeme“ verlangte. Diesen Empfehlungen folgte man in den Verwaltungsvorschriften, die 1966 herauskamen.279 Im selben Jahr hob das Bundesberufungsgerichts des 5. Bezirks ausdrücklich hervor, dass die „rassische Vermischung der Studenten ein hohes und vorrangiges Ziel der Erziehung“ sei.280 Diese Interpretation war allein die des 5. Bundesberufungsgerichts, aber der Oberste Bundesgerichtshof kippte die gegenteiligen Auffassungen anderer Bundesberufungsgerichte, womit es indirekt das Urteil des 5. Bundesberufungsgerichts zu einem Präzedenzurteil machte.281 Kurzum, die Entscheidung einer Bundesbehörde hatte die Gesetzgebung des Kongresses auf den Kopf gestellt,282 und die Billigung dieser Philosophie durch ein Berufungsgericht hatte eine neue „Verfassungsklausel“ geschaffen, die weder vom 277

Graglia (1976), S. 46. Graglia (1976), S. 46–52. 279 Graglia (1976), S. 55. 280 Graglia (1976), S. 59. (Das Bundesberufungsgericht des 5. Bezirks ist zuständig für Louisiana, Mississippi und Texas, d. Hg.) 281 Graglia (1976), S. 66. 282 Sowell (1975b), S. 4–7. 278

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Kongress noch vom Wähler bewilligt worden war und auch nirgends in der Verfassung stand. Einer der Richter, der ein ablehnendes Votum abgab, meinte dazu: „Die englische Sprache lässt sich nun mal nicht als ein Zeuge aufrufen, der deutlicher als die eindeutige Verfügung des Kongresses zum Ausdruck brächte, dass die sogenannten ‚Richtlinien‘ der Bundesbehörde … öffentliche Verlautbarungen sind, die mit der eindeutigen Verfügung des Kongresses offen im Widerspruch stehen und diese missachten.“283

Ein derart umfassender Politikwechsel, der sich zweifelhafter Mittel bedient, ist nur schwer damit zu erklären, dass hier die Organe des Recht ihre judikative Funktion wahrnähmen. Er ist wohl eher als eine Reihe von Handlungen zu verstehen, die sich gegen jene langjährigen Gegenspieler richten, die man nun endlich besiegt hat. 1968 erklärte der Oberste Gerichtshof im Fall Green v. County School Board, dass „freie Wahl“ beim Einschreiben verfassungswidrig sei, weil nunmehr eine „Förderungspflicht“ bestünde, um duale Schulsysteme „mit Stumpf und Stiel“284 auszurotten. So, wie in anderen Bereichen auch, wurde hier künftige Chancengleichheit an zurückliegenden Ergebnissen gemessen. Weil nur 15 % der schwarzen Kinder sich für einen Wechsel in die ehemals nur für Weiße vorgesehene Schule entschieden hatten und kein weißes Kind in eine Schule wechseln wollte, die früher nur Schwarzen zugängig war, gab es für den Obersten Gerichtshof kein die Rassentrennung aufhebendes bzw. „einheitliches“ Schulsystem.285 Das Urteil im Fall Green unterschied sich von dem im Fall Brown nicht nur hinsichtlich des Farbnamens. Brown verlangte, die Schulkinder ohne Ansehen der Rasse zuzu­ weisen, Green hingegen, dass dies mit Ansehen geschähe, damit das statistische Ungleichgewicht im Endergebnis verschwände. Der Oberste Gerichtshof tat so, als ob die Entscheidung von 1968 aus dem Urteil von 1954 logisch ableitbar wäre, ohne diese Ableitung zu erläutern – das Urteil von 1954 wurde nur erwähnt, aber nicht zitiert. Das Urteil im Fall Green wurde recht treffend als „Meisterwerk der Umkehrung“ charakterisiert, das als „Heldenstück der Sophisterei seinesgleichen sucht.“286 Das Gericht wandte sich nach seinem Sieg einfach dem nächsten Ziel zu, ohne auf abnehmende oder negative Erträge Rücksicht zu nehmen. Unter dem Schutzschirm des Obersten Gerichtshofs, der durch das Urteil im Fall Green entstanden war, fing die untere Gerichtsbarkeit an, im großen Stil gemeinsame Busse zu fordern,287 und zwar nicht nur dort, wo es früher legal getrennte Schulsysteme gab,288 sondern auch dort, wo es diese nie gegeben hatte,289 sowie dort, wo Rassentrennung bereits vor dem Urteil im Fall Brown nach dem Gesetz

283

Bell v. School City of Gary, Indiana, 372 F2d 910, S. 906. Green v. County School Board of New Kent County 391 U. S. 430 (1968), S. 437 f. 285 Green v. County School Board of New Kent County 391 U. S. 430 (1968), S. 441. 286 Graglia (1976), S. 71. 287 Graglia (1976), S. 71 und passim. 288 Graglia (1976), S. 105. 289 Graglia (1976), S. 129, 132, 203. 284

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des jeweiligen Bundesstaates untersagt war.290 Manchmal sah man davon ab, die Klassen nach Leistungsstärken zu trennen, weil dies sich statistisch für Schwarze und Weiße unterschiedlich ausgewirkt hätte. Aber man behielt die Zuweisung der Lehrer nach Rasse bei und entließ weiße Lehrer, die ihre eigenen Kinder in Privatschulen schickten.291 Erst 1971, im Fall Miliken v. Bradley, zog der Oberste Gerichtshof die Grenze, bis zu der ein Gericht gemeinsame Busse fordern konnte. Mit 5 zu 4 Stimmen kassierte man die Entscheidung einer niederen Instanz, die einen Schulbus zwischen Detroit und den Schulbezirken der Vororte gefordert hatte – ein Gebiet so groß wie der Staat Delaware und größer als der von Rhode Island.292 Vom allgemeinen Prinzip, Busse zwischen den Schulbezirken verkehren zu lassen, rückte man indes nicht ab.293 Es gab auch keine Trendwende in der massiven und tiefgreifenden Vorgehensweise, mit der die Gerichte das Verhalten der Schulleiter retrospektiv in Schach hielten. Dazu gehörte auch, dass man ihnen die Beweislast aufbürdete. Sie mussten ihre Unschuld anhand einer rein statistischen Evidenz nachweisen. Die Möglichkeit der Gerichte, sich über die Autorität anderer Institutionen hinwegzusetzen, ist nicht gleichbedeutend mit der Möglichkeit, die angestrebten gesellschaftlichen Ziele zu erreichen. Der Ausbreitung der von den Gerichten verordneten gemeinsamen Busse folgte ein massiver Rückzug weißer Schulkinder aus den betroffenen Schulen294 sowie eine Rassenpolarisierung unter den verbliebenen „integrierten“ Schülern,295 die mit einer Zunahme an Gewalt einherging296 und gleichermaßen bei der weißen und schwarzen Bevölkerung zu einem wachsenden Widerstand gegen die gemeinsamen Busse führte.297 Nichts von alledem hinterließ beim Obersten Gerichtshof, dessen Mitglieder auf Lebenszeit im Amt bleiben, irgendwelche Spuren. Jegliche Versuche der Gesetzgebung, mit denen man hätte unterbinden können, dass erzwungene Gemeinschaftsschulbusse zur Erzielung eines ausgewogenen Rassenverhältnisses genutzt werden, wurden vom Obersten Gerichtshof abgeschmettert. Man leugnete ganz einfach, dass die Gerichte nach einem statistischen Gleichgewicht strebten (obwohl sie „Rassentrennung“ mithilfe des statistischen Ungleichgewichts definierten).298 Auf diese Weise sagte man implizit auch, dass das Gesetz nicht auf die betroffenen Fälle anzuwenden wäre. Die angeblichen erzieherischen oder psychologischen Vorteile für schwarze Kinder in Schulen ohne Rassentrennung haben sich als trügerisch erwiesen, un-

290

Graglia (1976), S. 160 f. Graglia (1976), S. 145, 223; Glazer (1975), S. 92 f. 292 Graglia (1976), S. 216. 293 Graglia (1976), S. 257. 294 Graglia (1976), S. 132; Armor (1978a). 295 Graglia (1976), S. 276; Armor (1972), Armor (1973). 296 Graglia (1976), S. 269; Langerton (1975), S. 15 f. 297 Armor (1978b), S. 2; Graglia (1976), S. 277; Langerton (1975), S. 3. 298 Graglia (1976), S. 153 f. 291

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geachtet der vielen Studien, die dergleichen nachweisen wollten.299 Einige dieser Studien haben triumphierend verkündet, solche Vorteile ausfindig gemacht zu haben, aber, auf den Prüfstand gestellt, haben sich deren Daten schnell verflüchtigt.300 Die Ausgangsprämisse des historischen Urteils im Fall Brown – dass separate Schulen an sich inferior seien – wurde weder durch Fakten belegt, noch durch Überprüfung bestätigt. Ein Steinwurf vom Obersten Gericht entfernt lag eine rein schwarze Schule, deren 80-jährige Geschichte das Urteil im Fall Brown glänzend widerlegt. Bis 1899 lässt sich zurückverfolgen, dass die dortigen Testergebnisse besser ausfielen als an irgendeiner weißen Schule in Washington.301 Die Schüler-IQs lagen 1939 elf Punkte über dem nationalen Durchschnitt – 15 Jahre bevor der Oberste Gerichtshof erklärte, dergleichen sei unmöglich.302 Es gab solche schwarzen Schulen auch an anderen Orten. Thurgood Marshall, der Anwalt der Bürgerrechtsorganisation NAACP im Fall Brown, war Schüler einer solchen Schule in Baltimore.303 Anders als das angesehene „Gesetz des Landes“ würde die Geschichte der Exklusivschulen für Orientalen und Juden diese ungewöhnliche Entdeckung als eine Lachnummer entlarven. Dass schwarze Schulen im Allgemeinen schlechter abschneiden als weiße Schulen, stand nie ernsthaft zur Debatte. Interessant jedoch ist die Frage, was die Ur­ sache dafür ist. Die Geschichte der ungleichen finanziellen Unterstützung weißer und schwarzer Schulen hat einige dazu veranlasst, die Ausbildungsunterschiede auf diese Ungleichheit zurückzuführen. Aber die Daten im Coleman Report304 zeigen (1), dass in dieser Hinsicht die Differenzen zwischen weißen und schwarzen Schulen um die Mitte dieses Jahrhunderts minimal waren und (2) die finanzielle Ausstattung und sonstige Merkmale der Schulen die schulischen Leistungen kaum beeinflussten. Die offenkundigen Differenzen, die genetisch zwischen Schwarzen und Weißen vorhanden sind, haben wiederum andere zu der Vermutung veranlasst, die schulischen Unterschiede diesen Differenzen zuzuschreiben.305 Aber Daten zu ethnischen Gruppen mit europäischen Wurzeln, die auf einer vergleichbaren Stufe ihrer sozialen Entwicklung stehen, zeigen, dass deren Intelligenzquotienten jenen der Schwarzen entsprechen – und manchmal auch darunter lagen. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass jene europastämmigen Gruppen mit ihrem IQ inzwischen über dem nationalen Durchschnitt liegen.306 Ein Problem mit Vergleichen von Gruppen mit dem „nationalen Durchschnitt“ liegt darin, dass der nationale Durchschnitt selbst einfach nur eine Verschmelzung von höchst unterschiedlichen individuellen und kollektiven Durchschnittswerten ist. Daher kann eine Gruppe stark vom nationalen Durchschnitt abweichen, ohne irgendwie einzigartig zu sein. 299

Graglia (1976), S. 272 f. Langerton (1975), S. 51–57, 72. 301 McLaughlin Green (1967), S. 137. 302 Sowell (1974a), S. 8. 303 Sowell (1976), S. 28 und 35 ff. 304 Coleman (1966). 305 Jensen (1969). 306 Sowell (1978d). 300

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Noch einmal, systemische Erklärungen (Gruppenanballungen, kulturelle Orientierungen usw.) solcher Gesellschaftsphänomene hat man  – wie auch schon im Falle der „Fördermaßnahmen“ – zugunsten intentionaler Erklärungen („Rassentrennung“, „Diskriminierung“) vernachlässigt, obwohl die akademischen Leistungen der Schwarzen weder historisch noch anderweitig nach Art oder Ausmaß einzigartig waren. Große statistische Ungleichheiten im Bereich der schulischen Leistungen verschiedener kultureller Gruppen gab es in der Vergangenheit immer, auch dann, wenn die Gruppen nur aus Weißen bestanden. 1911 lag das Verhältnis von irischstämmigen und jüdischen Jugendlichen, die ihren Abschluss an einer weiterführenden Schule machten, bei 1:100.307 Die Italiener schnitten noch schlechter ab als die Iren.308 Schulen mit 99 % jüdischen Kindern waren keine Seltenheit und Versuche, sie mit Bussen quer durch die Stadt in die weniger gut besuchten Schulen der irischen Viertel zu transportieren, stießen auf den erbitterten Widerstand der Eltern309 und der jüdischen Presse.310 Diese frühen von oben verordneten Reformen des Bussystems waren Rückmeldungen ausgesetzt, weil sie von gewählten Beamtem stammten und nicht von Gerichten und Bundesbehörden. Das Institutionswesen sowie die institutionellen Anreize und Beschränkungen sind elementar für den, der die Wirkkraft und Dauerhaftigkeit der schulischen „Integration“ bzw. die Trends zu „gemeinschaftlichen Bussen“ verstehen will – vor allem in der Form, in der sie sich gegen den Widerstand der Schwarzen und Weißen durchgesetzt haben. In den 60er Jahren waren die Schwarzen halb für, halb gegen gemeinsame Busse, wobei die Zahl der Gegner leicht überwog.311 In Umfragen, die man später in Detroit und Atlanta durchführte, wo man massiv gemeinsame Busse durchgesetzt hatte, hatten die Opponenten eine Zwei-Drittel-Mehrheit.312 In dem berüchtigten Bostoner Fall bildeten 12 schwarze Gemeinden eine Koalition und drängten Richter Garrity dazu, die gemeinsamen Busse für ihre Kinder zu reduzieren.313 Aber weder er noch der Verteidigungsfond der NAACP ließen sich von derlei Appellen beirren. Die NAACP ging in der Busfrage sogar gegen ihre eigenen Niederlassungen in Atlanta und San Francisco vor.314 Der Chef des Verteidigungsfonds der Vereinigung meinte, dass seine Organisation nicht „jede einzelne schwarze Person“ vor einem legalen Verfahren befragen könne.315 Doch damit umging er die eigentliche Frage, warum seine Organisation eine Richtung eingeschlagen hatte, die bei Schwarzen generell Missfallen erregte. Die Antwort darauf ist recht aufschlussreich, nicht nur in Bezug auf den Verteidigungsfonds der NAACP, sondern generell im Hinblick auf Kanzleien, die im „öffentlichen Inte 307

Ravitch (1974), S. 178. Ravitch (1974), S. 178. 309 Ravitch (1974), S. 176. 310 Howe (1976), S. 278. 311 Langerton (1975), S. 37. 312 Langerton (1975), S. 37, 42. 313 Bell (1976), S. 470, 482. 314 Bell (1976), S. 486; Glazer (1975). 315 Zitiert nach Bell (1976), S. 492. 308

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resse“ agieren. Die Kosten der NAACP-Prozesse werden nämlich nicht von den Kunden getragen, sondern von Dritten, „Schwarze und Weiße aus der Mittelschicht, die inbrünstig an die Integration glauben.“316 Kurzum, „die namhaft gemachten Kläger sind rein nominal,“317 und von der schwarzen Bevölkerung, in deren Namen dies alles geschieht, kommen kaum oder gar keine Rückmeldungen. Die Anwälte der NAACP „reagieren auf einen winzigen Kundenkreis und bedienen gleichzeitig eine riesige Klientel.“318 In der weißen Öffentlichkeit, vor allem in den Massenmedien, herrscht das Bild von den NAACP-Vertretern und -Anwälten als den „Sprechern“ aller Schwarzen – obwohl es keinen institutionellen Mechanismus gibt, der dieses Bild rechtfertigte. Außerdem spricht die öffentliche Meinung zum Thema gemeinsame Busse und „Fördermaßnahmen“ gegen dieses Bild. Institutionell gesehen üben weder die Schwarzen als Gruppe noch die jeweiligen Kläger irgendeine Kontrolle oder Macht auf die Repräsentanten und Anwälte der NAACP aus. Es ist hier wie überall: Kanzleien, die gemäß der von ihnen erhofften Ergebnisse als Vertreter des „öffentlichen Interesses“ auftreten, sind institutionell nichts weiter als Kanzleien, die von Dritten bezahlt werden. Im Fall der NAACP sind die Interessen der Drittpartei von den Kosten ihrer Aktivitäten fein säuberlich durch die Tatsache getrennt, dass ihre Kinder Privatschulen besuchen. Das gilt sowohl für die direkten Akteure der Integrationsbewegung (wie Thurgood Marshall und Kenneth Clark) als auch für die politischen Fürsprecher (wie Senator Kennedy und Senator McGovern319) und die Unterstützer aus den Medien (wie z. B. Carl Rowan).320 Es geht hier nicht darum, die NAACP kategorisch zu verurteilen. Ein solches Urteil würde zweifellos viele wertvolle und heroische Akte der NAACP in Bereichen schreienden Unrechts unterschlagen. Hier geht es mehr um die Frage der inkrementellen Bewegung der NAACP und darum, ob sie sich in den Bereich abnehmender bzw. negativer Erträge begibt oder nicht. Einer der entschiedenen Befürworter und früheren Angestellten des Verteidigungsfonds der NAACP erinnert sich, dass Mitte der 60er Jahre „die goldene Zeit der Bürgerrechtsbewegung zu Ende ging“321 und „Werkzeuge entwickelt worden waren, die nun drohten, nur noch Staub aufzuwirbeln,“322 falls nicht doch noch ein neuer Kreuzzug begonnen würde. Vorher gab es „einfach so viel zu tun.“323 Der Übergang vom Dringenden über das Optionale zum Kontraproduktiven ist einer, den man auch von anderen Organisationen kennt, in denen Rechtsmandate wahrgenommen werden und Dritte für die Kosten aufkommen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, die NAACP sei 316

Bell (1976), S. 489. Bell (1976), S. 491, Anm. 318 Edmonds (1974), S. 178. 319 Graglia (1976), S. 334 f. 320 Langerton (1975), S. 152 f. 321 Meltsner (1973), S. 36. 322 Meltsner (1973), S. 37. 323 Meltsner (1973), S. 15. 317

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die Ausnahme von der Regel, die man auch andernorts, wo derlei Anreize und Beschränkungen gelten, finden kann. Wo die Kosten und Vorteile Dritter das Handeln sogenannter Kanzleien im „öffentlichen Interesse“ bestimmen und wo die verwaltungstechnischen und juristischen Lösungen der initiierten Angelegenheiten von den Rückmeldungen der direkt Betroffenen abgekoppelt sind, hat die politische und legale Macht sich von den eigentlichen Erfahrungen und Wünschen der allgemeinen Öffentlichkeit losgelöst und sich den Überzeugungen und Träumen kleiner selbst-ernannter Gruppen angenähert – und das alles im Namen der „Demokratie“ und des „öffentlichen Interesses“. Das Besondere an der Rasse Rassenpräferenzen und -antipathien kann man theoretisch – und historisch war dies auch der Fall – mit der ganzen Bandbreite an sozialen Prozessen und Institutionen beikommen. Diese schlichte Tatsache kann man wiederum auch anders ausdrücken, indem man sagt, dass rassenbasierte Attitüden und Verhaltensweisen, die immer und überall auf die Menschheit eingewirkt haben, in unterschiedlich wirksamer Weise von den Entscheidungsprozessen und Institutionen einer Gesellschaft gehandhabt werden. Damit „Rassismus“ eine empirisch bedeutsame Kategorie sein könnte, müsste es irgendwo eine nicht-rassistische Alternative geben. Solange deren Entdeckung noch aussteht, stehen wir immer noch vor dem alten Problem, Institutionen danach zu bewerten, wie gut sie die Dilemmata lösen, die sich aufgrund der Schranken ergeben, die dem Menschen mit Blick auf Wissen, Macht und Moral begegnen. Vermutlich brauchen nur Gott und die Engel keine Institutionen. Einen Grund dafür, die Rasse gesondert zu behandelt, gibt es natürlich: die historische und traumatische Erfahrung der Schwarzen, die Opfer der Sklaverei, Diskriminierung und Herabsetzung in der amerikanischen Gesellschaft wurden. Doch selbst dann, wenn dieser Grund eine Sonderpolitik für Schwarze rechtfertigen mag, ist er dennoch kein Grund für die Rechtfertigung eines allgemeinen Prinzips, das überall dort anwendbar wäre, wo Rassenunterschiede bestehen, und – logisch oder politisch – auf nicht nach Rasse definierte Teilgruppen der Bevölkerung, die sich selbst „Minderheiten“ nennen (was im Fall von Frauen im offenen Widerspruch zur statistischen Sachlage steht), beliebig ausdehnbar wäre. Diese „unreflektierte Ausdehnung der aus dem amerikanischen Rassendilemma resultierenden Politik auf andere Bereiche“324 gehört zu den Kosten einer Entscheidungsfindung, die auf dem Wege jener Prozesse stattfindet, die ihrer Natur gemäß in allgemeiner Weise und nach vorgefassten Kriterien Entscheidungen herbeiführen. Politische, administrative und vor allem judikative Prozesse neigen zu derlei Verfahrensweisen. 324

Berger / Neuhaus (1977), S. 12.

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Dies „trivialisiert das historische Leid,“325 das der Anstoß zu all dem war. Aber nicht nur das! Es vervielfacht auch die Kosten für jegliche Lösung der Rassenprobleme, weil es Grundsätze in die Welt setzt, die über den sie rechtfertigenden Fall hinaus anwendbar sind. Selbst dann, wenn es um die Rassenfrage geht, ist es alles andere als klar, ob man all das historische Leid wiedergutmachen oder gar sagen kann, wer für die Kosten der in Angriff genommenen Wiedergutmachung aufkommen soll. Falls der Zweck der sein soll, eine Kompensation für das erlittene Leid der Sklaverei herbeizuführen, so sind die, die eine solche Kompensation am meisten verdient hätten, schon lange tot. Sollte der Zweck aber der sein, die Nachkommen in die Position zu versetzen, die sie eigentlich schon haben sollten, „aber wegen“ der Versklavung ihrer Vorfahren nicht haben, dann stellt sich die Frage, welche Position das sein sollte. Ergibt sie sich aus dem Durchschnittseinkommen, Status und Wohlergehen der übrigen Amerikaner oder aus dem Durchschnittseinkommen, Status und Wohlergehen, das im Ursprungsland der Betroffenen herrscht? Ersteres unterstellt – was sehr unwahrscheinlich sein dürfte –, dass man eine freiwillige Immigration mit der erzwungenen Verschleppung der Schwarzen aus Afrika vergleichen kann. Und Letzteres wirft die groteske Vorstellung auf, dass man von Schwarzen verlangen kann, Weiße für die unterschiedlichen Lebensstandards von Amerikanern und Afrikanern zu entschädigen. Wenn man die Kompensation auf den unbezahlten Beitrag, den die versklavten Vorfahren zur amerikanischen Entwicklung geleistet haben, beziehen will, dann berührt man eine Streitfrage, die schon seit Jahrhunderten hinsichtlich der Auswirkungen der Sklaverei auf die amerikanische Wirtschaft schwelt – und die gilt nicht nur der Größenordnung der Auswirkung, sondern auch der Frage, ob die Sklaverei einen positiven oder negativen Einfluss auf die heimische Wirtschaft gehabt habe.326 Ohne hier den anhaltenden Disput unter den Spezialisten lösen zu wollen, darf man festhalten, dass man die Auffassung von der negativen Auswirkung kaum von vornherein abtun kann. Der Süden war auch vor dem Bürgerkrieg ärmer als der Norden, und jene Teile des Südens, in denen es die dichtesten Sklavenansammlungen gab, gehörten schon seit langem zu den ärmsten Regionen des Südens, was für Weiße und Schwarze gleichermaßen galt. Eine Kompensation, die auf dem wirtschaftlichen Beitrag der Sklaverei gründete, könnte demnach negativ ausfallen. Gibt es jemanden, der so sehr am genannten Prinzip festhalten würde, dass er die Schwarzen bäte, die Weißen zu entschädigen? Oder haben wir es einfach nur mit einem dieser „ergebnisorientierten“ Prinzipien zu tun, die man nur ernstnimmt, wenn sie einem anderen Zweck dienen? Wenn der Grund für die besondere und kompensatorische Behandlung von Schwarzen einfach nur das Verlangen eines Teils der weißen Gesellschaft ist, sich von der Schuld historischer Übel reinzuwaschen, dann stellt sich die Frage, warum

325 326

Berger / Neuhaus (1977), S. 12. Woodman (1963).

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dies mithilfe von Institutionen geschehen muss, die ihre Kosten auf andere – vielleicht viel größere – Teile der Gesellschaft abwälzen sollten, deren Vorfahren noch nicht einmal in den Vereinigten Staaten lebten, als das meiste von alledem passierte, oder nicht in der Lage waren, etwas daran zu ändern. Auch das Argument, dass sie oder ihre Vorfahren passive Nutznießer der Rassenunterdrückung gewesen seien, verliert viel von seiner Kraft, wenn unklar ist, ob es nicht irgendeinen gesellschaftlichen Nettonutzen gab, der über den unmittelbaren Profit einer kleinen Gruppe von Sklavenbesitzern hinaus bestand. Falls es irgendwelche gesellschaftlichen Nettonutzen gab, ist es fraglich, ob diese den Bürgerkrieg überlebt haben, denn dessen Kosten scheinen Lincolns Befürchtung zu bestätigen, dass Gottes Gerechtigkeit es erfordern würde, dass der Wohlstand der „unbezahlten Mühe verloren“ sei und „jeder Tropfen Blut, den die Peitsche gefordert hat, durch anderes Blut bezahlt wird, welches das Schwert fordert.“327 Individuelles Mitleid oder ein Gefühl der Verantwortung für die mit weniger Glück gesegneten Mitmenschen hängen zwar nicht von Theorien über Schuld und ungerechtfertigte Vorteile ab, aber ohne solche Theorien kann man Zwangshandlungen an anderen nicht so leicht rechtfertigen. Ohne sie akzeptieren die Gezwungenen die Maßnahmen auch nur mit Unmut. Manche „finden es ein wenig ironisch, wenn man von ihnen verlangt, sich für das, was ihre Vorfahren Schwarzen angetan haben, verantwortlich fühlen sollen …“328 Sonderkompensationen können zudem bei denen auf Widerstand stoßen, für die sie gedacht sind – so wie sich in den Meinungsumfragen wiederholt gezeigt hat, dass die Schwarzen mehrheitlich gegen Quoten sind.329 Es ist also unklar, ob Maßnahmen zum Schuldabbau einen gesellschaftlichen Nettonutzen haben. Schuldabbau oder Gesten sozialer bzw. humanitärer Anteilnahme können auch durch freiwillige Organisationen zum Ausdruck kommen. Solche Organisationen haben in der Tat viele entscheidende Beiträge zur Förderung schwarzer Amerikaner geliefert.330 Die Frage, wer welche Kompensationsleistungen zu erbringen habe, führt oft zu perversen Ergebnissen, weil administrative oder juridische Prozesse, die kaum oder gar keine Rückmeldungen zulassen, dem Empfänger die Kosten aufbürden. Würde die Kompensation in übertragener Form von Geld zu erbringen sein, dann wäre es zumindest möglich, die Kosten in Relation zur Zahlungsfähigkeit zu stellen. Aber viele Kompensationsmaßnahmen sind in Form von Sonderüberschreibungen zu erbringen – bezeichnenderweise indem man jemanden von Standards befreit, die andere, die sich um eine Stelle oder einen Studienplatz bewerben, erfüllen müssen etc. Auf diese Weise werden die Kosten unverhältnismäßig auf jene Mitglieder der Bevölkerung verteilt, die diese Standards noch gerade so erfüllen und daher diejenigen sind, die am ehesten ihren Platz für Minderheitenbewerber 327

Second Inaugural Address of Abraham Lincoln. Greely (1972), S. 40. Siehe auch Scalia (1979), S. 152. 329 Gallup Opinion Index, Juni 1977, Report 143, S. 23. 330 McPherson (1975), Kapitel 9–11. 328

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räumen müssen. Jene, die die Standards mit Abstand am besten erfüllen, sind nicht direkt betroffen – das heißt, sie zahlen nichts. Sie werden eingestellt, zugelassen oder gefördert, als ob Schwarze gar nicht existierten. Personen aus Familien, die das Geld leicht aufbringen, sind am ehesten in der Lage, für Vorbereitung und Training zu bezahlen, die ein gutes Abschneiden ermöglichen. Die Kosten der Sonderstandards werden also von denen getragen, die das nicht können. Diejenigen aus der schwarzen Bevölkerung, die am ehesten von den gesenkten Standards profitieren, sind jene, die den normalen Standards am ehesten entsprechen können. Im Grunde ist es ein stillschweigender Wohlstandstransfer unter Menschen, die sich hinsichtlich nicht-rassenbezogener Merkmale am Wenigsten unterscheiden. Für die weiße Bevölkerung ist es eine regressiv bemessene Naturaliensteuer für jene, die aufsteigen, aber oben noch nicht angekommen sind. Dort, wo das Besondere der Rasse über die historische Dichotomie von Schwarz und Weiß hinausragt, sind die Anomalien zusammengesetzter Natur. Amerikaner mit orientalischem Vorfahren werden oft in speziellen Kategorien geführt. Biologie und Geschichte mögen dafür eine gewisse Handhabe bieten, aber die Ökonomie tut es nicht. Chinesisch- und japanisch-stämmige Amerikaner haben schon seit langem höhere Einkommen als weiße Amerikaner. Ein Viertel aller in den Vereinigten Staaten beschäftigten Chinesen gehören in den technischen Berufsgruppen zur obersten Kategorie.331 Viele Orientalen haben in den letzten Jahren Diskriminierung und Gewalt erlebt, die in ihrer extremen Form Ausnahmen in der amerikanischen Geschichte bilden.332 Früher wurden viele Chinesen als Schüler diskriminiert  – wie sehr, kann man heute anhand der hohen Analphabetenrate unter den älteren Chinesen ablesen. Das heißt, dass die chinesischen Amerikaner ungeachtet der oben erwähnten überdurchschnittlichen Bildung Analphabetenraten haben, die mehrfach über denen der Schwarzen liegen.333 Keine noch so große Bevorteilung eines Sohnes, dessen chinesischer Vater Arzt oder Mathematiker ist, kann irgendeinen älteren Chinesen, der nicht lesen oder schreiben kann und dessen Leben darauf beschränkt war, in einer Wäscherei zu arbeiten oder in einem Restaurant das Geschirr zu spülen, „entschädigen“. Die rassische und ethnische Mischung der amerikanischen Bevölkerung hält aber für jeden Versuch, Formen der „Sonderbehandlung“ für Rassen und Gruppen nach definierten Kategorien auf institutionalisierte Füße zu stellen, noch weitere Dilemmata bereit. Etwa die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung kann ihre ethnische Herkunft nicht angeben – wahrscheinlich aufgrund eben jener Mischung.334 Etwa 70 % aller schwarzen Amerikaner haben irgendwo kaukasische Vorfahren.335 Ein führender Sozialhistoriker schätzt die Zahl der Weißen mit schwarzen Vor 331

Sowell (1978e), S. 300. Lyman (1974), Kapitel 4 und 5; Petersen (1971), Kapitel 3 und 4. 333 Sung (1967), S. 125. 334 U. S. Bureau of Census (1973), S. 1. 335 Myrdal (1964), S. 133. 332

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fahren auf Zigmillionen.336 Der Versuch, die Geschichte dieser Bevölkerung ungeschehen zu machen, ähnelt dem Versuch, ein Rührei wieder auseinanderzubekommen. Dem Einzelnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mag in unserer Zeit Herausforderung genug sein.

Kriminalität Im Grunde ist das Strafrecht ein Prozess zur Übertragung und Auswertung von Wissen bezüglich der Schuld oder Unschuld einzelner Personen, die einer kriminellen Handlung bezichtigt werden. Es ist auch ein Prozess zur Übertragung von Wissen an potentielle Kriminelle hinsichtlich der Kosten, die ihre Taten anderen aufbürden würden, und hinsichtlich der Bereitschaft jener anderer, die Kosten in Form von Bestrafungen an die Kriminellen, die für diese ursächlich sind, zurückzugeben.337 Bei alledem gibt es Kosten; Kosten bei der Übermittlung des Wissens hinsichtlich der Schuld oder Unschuld einer Person an das Rechtssystem, Kosten für den individuellen Verteidiger, der in den Fall verstrickt ist, Kosten für den überführten Kriminellen, und natürlich Kosten für das Opfer der Tat und für die allgemeine Öffentlichkeit, deren Ängste und Vorsichtsmaßnahmen gegen kriminelle Handlungen sehr reale Kosten darstellen, ob man sie nun in Geld ausdrücken kann oder nicht. Ideal wäre es, die Summe dieser Kosten gering zu halten – was nicht notwendigerweise für jeden dieser Kostenpunkte im Einzelnen gelten muss. In einem idealen Rechtssystem würde man die Kosten zur Feststellung von Schuld und Unschuld auf die Minimalkosten beschränken, die mit der Einholung von Informationen und der Überprüfung ihrer Richtigkeit bis zu einem akzeptablen Wahrscheinlichkeitsgrad verbunden sind – „über jeden Zweifel erhaben“ im Schuldfalle und zu welchem Wahrscheinlichkeitsniveau auch immer, das sozial vertretbar erscheint, um Anklagen fallen zu lassen oder Ermittlungen einzustellen, wenn der Beklagte bzw. Verdächtige unschuldig zu sein scheint. Weil diese Kosten nun mal beträchtliche Kosten sind, kann selbst ein ideal funktionierendes Rechtssystem Kriminalität nicht ganz ausschließen, aber mit ihm hätte man eine Art optimale Quantität an Kriminalität,338 die auf Kosten basiert: Erkenntniskosten, Kosten für Vorsichtsmaßnahmen und Unannehmlichkeiten, die Unschuldigen aufgrund der Regeln, Arrangements, Ermittlungen und Verdächtigungen, die mit der Vorbeugung und Aufdeckung von Straftaten einhergehen, auferlegt werden. Die 336 Furnas (1969), S. 406. Genovese (1978), S. 420: „Die Gesetze der Bundesstaaten definieren jene, die bis zu 7/8 weiße Vorfahren haben, vorsichtig als ‚Neger‘. Hätte man die Definition noch weiter ausgeweitet, hätte dies zu viele ‚weiße Familien‘ in Verlegenheit gebracht.“ 337 Es gibt keinen Zweifel daran, dass jeder Kriminelle für seine Tat bestraft werden kann, aber dieser Umstand bedeutet auch, dass die Anwendung des Prinzips auf Wahrscheinlichkeiten baut, so wie die Suche nach Öl, der Erwerb einer Lebensversicherung oder sonst eine individuelle oder gesellschaftliche Entscheidung, die von Wahrscheinlichkeiten abhängt. 338 Becker / L andes (1974), S. 55–67.

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Vorstellung einer „optimalen“ Kriminalitätsmenge mag Unbehagen verursachen. Aber es ist auch klar, dass niemand das halbe Bruttosozialprodukt darauf verwenden würde, um jedem auch noch so kleinen Verdachtsmoment nachzugehen. Genau so wenig sind wir bereit, die Mordrate zu reduzieren, egal, was es kostet. Denn das würde bedeuten, dass man die Gesetze für Mord so strikt handhaben und das Niveau zur Überführung des Täters so sehr drücken würde, dass mancher Arzt sich schlicht weigern würde, Patienten anzunehmen, die während der Behandlung sterben könnten. Es brächte keinen sozialen Nutzen, wenn man Tausende – die nicht mehr rechtzeitig behandelt würden – ohne Not umkommen ließe, um hundert Mordopfer weniger zu haben. Bestimmt würde niemand für derart extreme Fälle von Glücksspiel, Mord und anderen strafbaren Handlungen sein. Aber das, worum es hier geht, sind die Gründe – Gründe, die bis zu einem gewissen Grad auf eine viel größere Bandbreite von Situationen anwendbar sind. Will man Kriminalität kontrollieren, dann gilt, was auch in anderen sozialen Prozessen gilt: Die Entscheidungen und Bewertungen müssen inkrementell und nicht kategorisch sein. Es ist witzlos, zu argumentieren, dass diese oder jene Handlung diese oder jene Straftat aufhalten werde oder nicht.339 Nichts außer der Todesstrafe wird den bereits erwischten und überführten Kriminellen aufhalten, und die anderen schon gar nicht. Und niemand will für jede Straftat die Todesstrafe fordern. Das Austarieren der sozialen Kosten, die mit der inkrementellen Entscheidungsfindung zur Kriminalitätskontrolle einhergehen, schließt die Kosten aller Parteien ein, auch die der Kriminellen. Eigentlich will niemand anderen für jede noch so kleine Straftat unbeschränkte Kosten – Strafen – auferlegen, auch keine unverhältnismäßig schweren Strafen für schwere Delikte. Kosten (Strafen) werden Straftätern aufgebürdet, um die Kosten, die sie anderen aufladen, zu reduzieren. Wenn eine Verwarnung ausreichen würde, um vor Mord abzuschrecken, dann wäre dies die sozial optimale Strafe in dem Sinne, dass die Gesamtkosten, die mit der Straftat verbunden sind, minimiert wären. Das Argument für deutlich härtere Strafen ist, dass eine Verwarnung die Zahl der Morde kaum, wenn überhaupt, reduzieren würde. Die Kosten für Kriminelle minimieren heißt also nicht, die sozialen Kosten zu mindern, sondern nur, den Opfern mehr Kosten aufzuhalsen. Änderungen im Strafrecht ändern die Wirksamkeit, mit der Wissen an jene übermittelt werden kann, die über Schuld und Unschuld entscheiden, und an Kriminelle, die über Straftaten nachdenken, sowie an die Wahlbürger, die ihre Erfahrungen mit dem Strafrechtssystem und dem von ihm angebotenen – oder nicht angebotenen – Schutz überdenken. Es gibt viele Erkenntnisquellen und das Verhalten der Rechtsorgane kann die Kosten der Wissensübermittlung bzw. -auswirkung entweder anheben oder senken. Zu welchen Kosten das Wissen um eine Straftat einem Strafrechtssystem zur Verfügung steht, hängt von den Kosten ab, die Opfer, Zeugen oder Informanten 339

Clark (1970), S.118: „[D]iese Praktiken werden nicht einfach durch Gewalt gebremst.“

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fordern. Die Kosten einer Vergewaltigungsmitteilung können erheblich ansteigen oder sinken, je nachdem wie die Polizei auf ein Vergewaltigungsopfer eingeht, der gegnerische Anwalt das Opfer im Kreuzverhör befragen darf und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der überführte Vergewaltiger bald wieder frei ist (und damit sich an Klägerin oder Zeugen rächen kann) oder der Prozess wegen eines formalen Fehlers wiederholt werden kann. Im wohlbekannten Vergewaltigungsfall Mallory340 lief die angeordnete Wiederaufnahme des Falles auf einen Freispruch hinaus, weil das Opfer es nicht ertragen konnte, das Gefühlstrauma ein zweites Mal durchzustehen. Das abstrakte Wissen um die Schuld – das sich aus dem Geständnis des Beschuldigten und den Anschuldigungen des Opfers ergab – war kein gesellschaftlich wirksames Wissen. Eine Vergewaltigung ist ein dramatisches Vergehen, von dessen Existenz die Gesellschaft aus verständlichen Gründen nur dann wirksam wissen kann, wenn die Rechtsorgane durch ihr Verhalten die Kosten angemessen gestalten. Im Prinzip gilt das auch ganz allgemein und trifft auf Gesetze und Verfahrensweisen zu, die mit der Herausgabe von Daten zu Informanten, Opfern und Zeugen zu tun haben. Auch mit der Auslegung und Handhabung der Beweisregeln wird der Informationsfluss, der zur Klärung von Schuld und Unschuld notwendig ist, gesteuert bzw. gebremst. Das amerikanische Rechtssystem ist im Hinblick auf Beweismittel, die vor Gericht nicht zugelassen sind, einzigartig.341 Beweismittel können ausgeschlossen werden, wenn sie für qualitativ weniger sicher gehalten werden als andere Beweismittel oder wenn sie auf unzulässigen Wegen erbracht wurden. Informationen, die inkrementell weniger sicher sind, werden oft kategorisch als nicht-existent abgetan, wobei man den Ausschlussregeln („Hörensagen“) des angelsächsischen Rechts folgt, während Beweise dieser Art in den Gerichtssälen Westeuropas oder Japans zugelassen werden.342 „Hörensagen“ meint nicht nur Gerüchte, sondern gilt auch für viele offizielle Dokumente, deren Authentizität und Wahrhaftigkeit nicht in Frage stehen.343 Die angelsächsischen Regeln zum „Hörensagen“ reduzieren nicht nur den Informationsfluss in das Strafrechtssystem, sondern gelten auch als „Hauptquelle der Wortklaubereien, die bei Prozessen vor amerikanischen und britischen Gerichten so ungemein viel Zeit in Anspruch nehmen.“344 Indem sie zum Verfahrensstau und zu Verzögerungen bei Prozessen beitragen, reduzieren sie indirekt auch anderenorts den Informationsfluss. Eine der wichtigsten Formen, Wissen dem Strafrechtssystem zu entziehen, besteht darin, das Wissen entweder vom Prozess auszuschließen oder die Überführung im Berufungsverfahren durch den Hinweis, dass man das Wissen nicht ausgeschlossen habe, rückgängig zu machen. Auch Beweise, die nicht auf dem 340

354 U. S. 449 (1957). Tullock (19), S. 93; Schlesinger (1977), S. 4, 107 f. 342 Tullock (1971), S. 94. 343 Tullock (1971), S. 93–97. 344 Tullock (1971), S. 96. 341

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Wege der minutiös vorgeschriebenen Verfahren erbracht wurden, können ausgeschlossen werden, egal, wie akkurat, dokumentiert oder wichtig sie auch sein mögen. Die große Angst, die ursprünglich hinter all dem stand, war, dass die Polizei Geständnisse aus Unschuldigen herausprügeln würde, was die Verlässlichkeit des Geständnisses untergrübe und selbst eine Straftat darstellte. Aber auch nachdem erzwungene Geständnisse nicht mehr zugelassen wurden, ging der Oberste Gerichtshof noch einen Schritt weiter, um unabhängige Beweismittel der Schuld auszugrenzen, sofern diese sich als Resultat von Informationen erweisen sollten, die aufgrund eines erzwungenen Geständnisses zustande gekommen waren. Auch die Bedeutung von „Zwang“ wurde ausgeweitet. Erst meinte man mit Zwang körperliche Misshandlung, dann auch psychologischen Druck, „unnötig“ lange Untersuchungshaft sowie Polizeifehler – um alle legalen Optionen des Verdächtigen, so davonzukommen, zu nennen.345 Es mag genug unabhängiges Beweismaterial zur Überführung des Mörders vorliegen. Wenn aber das Geständnis, das die Polizei zum Tatort führt, wo sie die Leiche und die Tatwaffe mit reichlich Fingerabdrücken des Angeklagten entdeckt, verfahrenstechnisch inkorrekt ablief, dann müssen alle diese Beweismittel laut Strafrechtssystem verworfen werden.346 Noch nicht einmal die Briten gehen so weit. Kurzum, die gesellschaftlichen Kosten effektiven Wissens um Schuld oder Unschuld werden zunächst durch die Schranken vervielfacht, die man der Ermittlung von Wissen auferlegt, und dann durch die vielen Wege, die Wirksamkeit der Informationen durch Berufungsgerichte zu annullieren. In der Summe ist es gleich, ob man die Erkenntniskosten direkt verdreifacht oder einfach nur ein Drittel der Informationen den Selektionsprozess überleben lässt, der den restriktiven Regeln für Beweismittel, Verfahrenstechniken und der Entkräftung der Zeugen durch Verzögerungen und Verfahrensneuaufnahmen innewohnt. In Strafrechtsprozessen unterliegen – so wie in anderen gesellschaftlichen Prozessen auch – Umstände und Personen inhärenten Beschränkungen, die Güterabwägungen nach sich ziehen. Der Widerwille und Schmerz, den eine gewissenhafte Person bei dem Gedanken an die Inhaftierung oder Exekution eines Unschuldigen bzw. die – durch einen Verfahrensfehler bedingte – Entlassung eines schuldigen sadistischen Mörders in die Gesellschaft empfindet, kann weder die Beschränkungen aufheben noch die Güterabwägung selbst erleichtern. Das Ideal „einer Regierung durch das Gesetz und nicht durch Menschen“ impliziert einen etablierten Prozess und nicht Ad-hoc-Urteile dessen, was in jedem einzelnen Falle recht ist. Mit ihm gehen Abweichungen einher, die zwischen den jeweiligen Folgen eines systemischen Prozesses und den einzelnen Ergebnissen bestehen, die mit den Grundsätzen, die dem Prozess innewohnen sollten, weitestgehend in Einklang stehen. Je effektiver die legalen Prozesse, desto geringer fallen die Abweichungen aus. Aber in jedem Prozess, den Menschen ersinnen und durchführen, wird es Abweichun 345 346

Siehe Escobido v. Illinois, 378 U. S. 748 (1964); Miranda v. Arizona, 384 U. S. 436 (1966). Fleming (1975), S. 123 f.

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gen geben – manchmal extreme Abweichungen. Rechtssysteme versuchen, diese extremen Abweichungen zu reduzieren, indem sie Berufungsgerichten gestatten, Fälle neu aufzurollen. Aber bis zu einem gewissen Grad entsteht daraus erneut das ursprüngliche Dilemma des Gerichtssaals, allerdings auf der Ebene der Berufungsgerichte. Falls die Berufungsgerichte Teil eines in sich schlüssigen Rechtssystems sein sollen, und nicht Schiedsrichter, die mit der Macht ausgestattet sind, jeden Fall neu aufzurollen und nach Belieben zu entscheiden, dann muss ein Berufungsurteil Teil eines Rechtsmusters sein, das auch auf ähnlich gelagerte Fälle anwendbar ist. Was in Extremfällen entschieden wird, wird zu einem Präzedenzurteil für andere Fälle. In dieser Art von gesellschaftlichem Verhandlungspaket entstehen aus „schweren Fällen schlechte Gesetze“ für die Zukunft. So können z. B. unverhohlen rassistische Entscheidungen und Verurteilungen, die hier und da in einzelnen Staaten auftreten, das gesamte Rechtssystem des Bundes dazu bewegen, sich minutiös und in allen Staaten in die Geschäfte der Gerichte einzumischen.347 Im Endergebnis kann dann ein angelsächsischer Straftäter, der in Kalifornien auf frischer Tat ertappt wurde, ungeschoren davonkommen, und zwar aufgrund von Rechtsverfahren, die man eingeführt hat, nachdem man in Mississippi einen unschuldigen Schwarzen vor ein Gericht geprügelt hat, in dessen Jury ausschließlich Weiße saßen. Berufungsgerichte können die Anwendung ihrer Urteile ein Stück weit korrigieren. Aber diese Korrekturen unterliegen Grenzen und der Herrschaft des Rechts sowie der Rolle der Berufungsgerichte, die regelsetzende Organisationen sind – und keine umherziehenden Kommissionen mit souveräner Macht, die entscheiden können, wie es ihnen passt. Dies soll weder eine Kritik noch eine Verteidigung der Berufungsgerichte sein, sondern nur ein Hinweis auf die bedeutsamen rechtlichen Güterabwägungen, die auf dem Spiel stehen. Die Verfassung der Vereinigten Staaten legt fest, wie weit diese Abwägungen im Extremfall gehen können – will heißen, wie hoch die Kosten für einen bezichtigten oder auch einen überführten Straftäter sein können. Im Vergleich dazu gibt es keine Grenzen für die Kosten, die das Rechtssystem dem Opfer einer Straftat, das den Kriminellen verfolgt sehen will, auferlegt. Im Falle von Vergewaltigungsopfern bestehen diese Kosten offensichtlich nicht nur für das Opfer, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt, die will, dass keine Vergewaltiger sich auf ihren Straßen herumtreiben. Aber für das Opfer gibt es nichts, das ein Pendant zum verfassungsmäßigen Schutz des Beklagten vor doppelter Strafverfolgung, Selbstbeschuldigung oder grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung darstellte. Vor allem gilt das Recht auf eine zügige Verhandlung nur für den Beklagten, nicht aber für das Opfer oder die Zeugen, die mit der Zeit müde, angewidert und verängstigt werden können oder entscheidende Details vergessen können, wenn die Gerichtstermine immer wieder hinausgeschoben werden und sich über Monate, ja Jahre hinziehen. Opfer und Zeugen können auch sterben oder wegziehen, wenn die Rechtsprozesse sich 347

Das Ausmaß dieser Einmischung diskutiert Fleming (1975), Kapitel 3–7.

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hinschleppen, ganz zu schweigen von den finanziellen Aufwendungen, die ihn zugemutet werden, weil sie sich immer wieder frei nehmen müssen, um an den Gerichtsverhandlungen teilnehmen zu können, die auf Wunsch des Beklagten wieder und wieder vertagt werden können. Strafverteidiger wissen um die Vorteile des bloßen Hinauszögerns. Es zermürbt Kläger und Zeugen, auch den Bezirksstaatsanwalt, dessen Budget und Zeitkontingent beschränkt sind. Kurzum, „ordentliche Gerichtsverfahren“ verursachen der Gesellschaft Kosten, die – in einigen Fällen – auf ein Niveau steigen, das im Endeffekt das betroffene Gesetz negiert. Ob dies nun mit dem Verfassungsrecht einhergeht oder nicht, entscheidend ist hier, dass man sich über derlei Kostenverhältnisse, die den Kern der Güterabwägungen ausmachen, im Klaren ist – jetzt, da wir uns nach dieser kurzen Skizze des Strafrechts und der Berufungsgerichte eingehend die Trends im Strafrecht der letzten Jahrzehnte betrachten wollen. Zu ihnen gehören die Trends in den Kriminalitätsraten, Verhaftungsprozeduren, Verfahren und Berufungen. Kriminalitätsraten In den 60er Jahren verdoppelte sich die Kriminalitätsrate pro 100.000 Einwohner – egal, ob man sämtliche Straftaten, nur Gewaltdelikte oder Eigentumsdelikte meint.348 Wieviel davon einen Anstieg an Straftaten wiedergibt, und wieviel auf eine Zunahme der gemeldeten Straftaten, ist Gegenstand anhaltender Kontroversen. Wenn auch sonst wenig Einhelligkeit unter den Menschen herrschen mag, so ist man sich doch allseits einig darin, dass über Morde meist akkurat berichtet wird, zumal es schwerfällt, eine Leiche zu übersehen oder das plötzliche Verschwinden eines Menschen nicht zu bemerken.349 Die Zahl dieser meistens gemeldeten Delikte steigt ebenfalls dramatisch an. Die Mordraten in größeren Städten haben sich allein zwischen 1963 bis 1971 verdoppelt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Großstadtbewohner unserer Zeit ermordet wird, ist größer, als es die Wahrscheinlichkeit für einen amerikanischen Soldaten des 2. Weltkriegs war, im Kampf zu fallen.350 Kriminalität ist genauso wenig ein Zufall wie jede andere gesellschaftliche Aktivität. Die Mordraten in den Großstädten sind viermal so hoch wie jene in den Vorstädten.351 Mehr als die Hälfte aller schweren Straftaten in den Vereinigten Staaten wird von Jugendlichen im Alter von 10 bis 17 Jahren begangen.352 Außerdem steigt die Kriminalitätsrate der Jugendlichen schneller als die der Erwachsenen.353 Die Zahl der von 16-Jährigen begangenen Morde in New York City verdreifachte sich innerhalb von vier Jahren.354 348

U. S. Bureau of the Census (1974), S. 413. Clark (1970), S. 31. 350 Wilson (1975a), S. 17. 351 Clark (1970), S. 34. 352 The Youth Crime Plague (1977), S. 18. 353 All Kinds of Crime (1974), S. 33. 354 Haag (1975), S. 146. 349

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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Diese Muster haben eine gewisse Bedeutung für populäre Erklärungen der Kriminalität. So hat man z. B. die Kriminalität auf „Armut, Rassismus und Diskriminierung“355 und auf die „Inhumanität in unseren Gefängnissen“356 zurückgeführt. Wie bereits erwähnt, wogen Armut und Rassendiskriminierung (gemessen an Einkommen, Ausbildung oder Gesetzen zur Rassentrennung) früher stärker und zeigen offenkundig unter älteren Schwarzen eine länger anhaltende Wirksamkeit als unter jungen Schwarzen. Die Kriminalität ist aber unter jugendlichen Schwarzen am stärksten verbreitet,357 während die größte Feindseligkeit gegenüber der Polizei bei Schwarzen mit höheren Einkommen verzeichnet wird.358 Was harte Strafen als Ursache für Wiederholungstäter angeht, so werden (1) festgenommene Personen, die freigelassen oder freigesprochen werden, häufiger erneut festgenommen als jene, die Gefängnisstrafen absitzen,359 und (2) stiegen die Kriminalitätsraten in den 60er Jahren, während die Zahl der Inhaftierten sank – das heißt, als die Kriminalitätsrate anstieg, sanken die Verurteilungsrate360 und die Zahl der Gefängnisinsassen.361 Wer also glaubte, dass Armut, Diskriminierung und Inhaftierung korrelierende Variablen der Kriminalitätsraten wären, sah seine Hypothese von der Evidenz widerlegt. Stellen die Variablen indes Axiome dar, dann sind sie natürlich gegen derlei Evidenz immun. Niveau und Tendenzen der amerikanischen Kriminalitätsraten kann man leichter ins rechte Licht rücken, wenn man sie mit jenen anderer Nationen vergleicht. Die Mordraten in den Vereinigten Staaten lagen ein Mehrfaches über jenen vergleichbarer Nationen in Westeuropa oder Japan.362 Auch die Raten für Raub liegen höher.363 Die allgemeinen Kriminalitätsraten in den Vereinigten Staaten sind aber nur geringfügig höher als in Europa.364 Die Unterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und anderen Ländern liegt also im Bereich der Gewaltdelikte. So haben beispielsweise New York, London und Tokio vergleichbar viele Einwohner (Tokio die meisten), aber in New York gibt es achtmal so viele Morde wie in Tokio365 und 15 mal so viele wie in London.366 Internationale Vergleiche belegen, dass die Kriminalität weltweit steigt367 – bemerkenswerter Weise nicht in Japan. Was in Japan anders läuft, mag als Faktenbasis für das Testen konkurrierender Theorien zur Kriminalitätskontrolle dienen. 355

Clark (1970), S. 35. Clark (1970), S. 195. 357 Haag (1975), S. 100. 358 Wilson (1975a), S. 104. 359 Tittle (1973), S. 89. 360 Haag (1975), S. 158. 361 U. S. Bureau of the Census (1974), S. 413, 420. 362 Haag (1975), S. 222. 363 Wilson (1975a), S. 199; Haag (1975), S. 5, Anm.  364 Wilson (1976), S. 5. 365 Haag (1975), S. 5, Anm. 366 Wilson (1976), S. 6. 367 Wilson (1976), S. 10. 356

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Die steigende Mordrate in den Vereinigten Staaten ist weitgehend ein Phänomen, das bis in die Mitte der 60er Jahre zurückreicht und in den 70er Jahren weiter zunahm368 – ein Anstieg, der mit einer steilen Abnahme vollzogener Todesstrafen einherging.369 Dieser Mordratenanstieg kehrte einen langanhaltenden Rück­ gang der Mordrate in den Vereinigten Staaten um. Die Gesamtzahl der Mörder aus amerikanischen Ballungsgebieten mit mehr als 25.000 Einwohnern blieb von 1937 bis 1957 relativ konstant,370 obschon die dortige Bevölkerung im selben Zeitraum stark wuchs.371 Die Urbanisierung als solche zog offenbar keinen Anstieg der Mordrate nach sich. Die demographischen und sozioökonomischen Änderungen in der Bevölkerung waren nur gradueller Art. Insofern können sie für die plötzliche Umkehr der Abwärtstendenz und deren Ersatz durch eine galoppierende Aufwärtstendenz kaum herhalten. Die einzige erkennbare Variable, die sich in den 60er und 70er Jah­ren dramatisch änderte, betrifft die Verfahrensweisen und Praktiken im Strafrecht. Strafrechtsverfahren Eine der Grundfragen zu Strafrechtsverfahren ist schlicht die nach ihrer Anzahl. In England dauerte der längste bekannte Strafprozess 48 Tage.372 In den Vereinigten Staaten gab es Strafprozesse, in denen allein die Auswahl der Jury mehrere Monate währte.373 In England dauert die Selektion der Jurymitglieder „nur ein paar Minuten.“374 Eine Strafprozessdauer, die in Kalifornien „Routine“ ist,375 würde in England alle Rekorde brechen. Das britische Beispiel ist besonders passend, nicht nur wegen der allgemeinen Übereinstimmungen zwischen den Systemen der beiden Länder, sondern auch weil das amerikanische Recht aus dem britischen Recht erwuchs, beide Länder ähnliche Fairnessvorstellungen haben und England weder als Polizeistaat noch als Ort gilt, an dem unschuldige Angeklagte zum Prozess geprügelt werden. Verzögerungen an amerikanischen Gerichten gab es nicht einfach so. Der Oberste Gerichtshof schuf in den 60er Jahren eine Verfahrensrevolution im Strafrecht – also in jenem Zeitraum, in dem die Straftaten sich verdoppelten. Die Besonderheiten dieser Verfahrensänderungen haben große Aufmerksamkeit auf sich gezogen – Verwarnungen für Verdächtige, Beschränkungen der Beweismittel usw. Aber auch die Vervielfachung der Verzögerungsgründe, die es für alle Phasen eines 368

U. S. Bureau of Census (1976), S. 142. U. S. Bureau of Census (1974), S. 422. 370 U. S. Bureau of Census (1974), S. 413. 371 U. S. Bureau of Census (1974), S. 11. 372 Haag (1975), S. 166. 373 Fleming (1975), S. 64; Haag (1975), S. 166. 374 Fleming (1975), S. 64. 375 Fleming (1975), S. 65. 369

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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Strafverfahrens gibt – von der Auswahl der Jury bis hin zu den Berufungsmöglichkeiten und dem Obersten Gerichtshof –, ist einer Erwähnung wert. Der Warren-Gerichtshof brach mit der langen Rechtstradition und legte den 14. Verfassungszusatz so aus, als würden viele Bundesrechte und Praktiken für die einzelnen Staaten im Allgemeinen und für deren Gerichte im Besonderen gelten.376 Unabhängig von der Frage, ob dies eine zulässige Auslegung der Verfassung war oder ob die Sonderpraktiken des Bundes besser oder schlechter als die der einzelnen Bundesstaaten waren, standen nun zwei Wege offen, Berufung einzulegen. Der Angeklagte konnte zwischen beiden hin und her springen – und wiederholt jedes der zahlreichen neuen Rechte in den beiden Systemen verschiedener Gerichtsbarkeiten durchspielen. Ein einfacher Bezirksrichter des Bundes konnte nun die Entscheidung des Obersten Gerichts eines Bundesstaates kassieren, und die Bundesgerichte maßten sich nun die Rechtsprechung über alle Verfahren an, die bei Prozessen und Berufungsverfahren in den Bundesstaaten zum Tragen kamen. Außerdem wurden einige dieser neu entdeckten bzw. neu geschaffenen Rechte rückwirkend eingesetzt. Ein Krimineller konnte so z. B. frühere Überführungen in Frage stellen, und zwar mit der Begründung, das Gericht im zuständigen Bundestaat könne nicht belegen, dass sie ihm seinerzeit einen Anwalt zur Seite gestellt hätten – 30 Jahre bevor der Oberste Gerichtshof die Bereitstellung eines Anwaltes (bzw. die Pflicht, derlei Dinge in den Akten zu vermerken) gefordert hat.377 Ähnliches gilt für eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 1968, die es für verfassungswidrig erklärte, die Jury wissen zu lassen, dass ein nicht-öffentliches Geständnis eines Mitangeklagten im Nachhinein gemacht wurde. 1969 wurde diese Entscheidung genutzt, um ein Urteil in einer Strafsache von 1938 aufzuheben, in der dergleichen geschehen war.378 Die Prozessflut, die durch das Urteil des Warren-Gerichtshofs möglich wurde, führte dazu, dass Verfahren der Prozess gemacht wurde – und nicht Schuld oder Unschuld verhandelt wurde. Vorsätzliche Mörder, die bei der Tat beobachtet wurden, konnten so jahrelang in Berufung gehen, ohne ihre Unschuld überhaupt be­ haupten zu müssen, weil es reichte, das Verfahren anzuzweifeln.379 Der Mörder und Vergewaltiger eines achtjährigen Kindes, dessen Geständnis durch Beweise und Zeugenaussagen erhärtet war, wurde aus Verfahrensgründen von einem Bundesgericht freigesprochen  – und den Gerichten des betroffenen Bundesstaates wurde die Wiederaufnahme des Falles verboten, obwohl er sein Geständnis aus freien Stücken abgelegt hatte, die Fakten der Straftat außer Frage standen und die Beweislage aus Sicht des Obersten Gerichtshof des Bundesstaates „erdrückend“ war.380 Die Verfahrensfrage betraf auch nichts Ernsthaftes wie z. B. polizeiliche 376

Berger (1977), Kapitel 8; Kurland (1970), Kapitel 3. Fleming (1975), S. 16. 378 Fleming (1975), S. 17 f. 379 Fleming (1975), S. 28 f. 380 Fleming (1975), S. 31–35. 377

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Misshandlung oder Drohungen, sondern einige subtile Rechtsfragen, an denen sich die Geister der Berufungsgerichte gern mal scheiden und dann entweder vier zu drei oder fünf zu vier entscheiden. Die gesellschaftlichen Kosten, die mit den Verfahrensänderungen des WarrenGerichtshofs einhergingen, erwuchsen nicht nur den besagten Fällen, in denen man – zur Verstörung der Öffentlichkeit – gefährliche Straftäter auf freien Fuß setzte, sondern auch einer exponentiellen Prozessanhäufung, die andere Strafprozesse sich aufstauen ließ und zu einem Feilschen um Einsprüche führte. Die Zahl der Staatsgefangenen, die vor einem Bundesgericht die Haftprüfung nach dem Habeas-Corpus-Rechtsakt verlangten, stieg von 100 im Jahre 1940 auf 12.000 im Jahre 1970.381 Diese Fälle waren jedoch keine neu entdeckten Missgeburten der Justiz. Ein Bundesrichter an einem Appellationsgericht stellte fest: „Unter all den Tausenden Fällen ist mir keiner zu Ohren gekommen, in denen ein Staats­ gefangener überführt worden wäre, der unschuldig war. Das Endergebnis all unserer fruchtlosen Suche nach der nicht-existierenden Nadel im immer größer werdenden Heuhaufen, ist eine bedenkliche Beschädigung der Rechtsverwaltung in den Bundesstaaten.“382

Ein Richter an einem kalifornischen Appellationsgericht stellte Ähnliches fest: „Man möchte sich fast mit melancholischer Nostalgie daran erinnern, dass es noch vor fünf Jahren möglich war, ein Überführungsurteil, das in solch klarer Weise die Schuld unzweifelhaft nachwies, aufrechtzuerhalten und den Fall ohne unnötige Anstrengung abzuschließen. Heute hat sich die Lage allerdings weitgehend geändert.“383

Das Ausmaß, in dem prozedurale Komplexitäten und Ambiguitäten Strafprozesse in den Vereinigten Staaten behindern können, mag zwar einzigartig sein, aber diese Tendenz hat sich auch außerhalb des Landes durchgesetzt. Wenn auch die britischen Gerichte illegal beschaffte Beweismittel nicht vom Prozess ausschließen und einen Verbrecher nicht laufen lassen, nur weil die Polizei bei der Einhaltung der Verfahrensregeln Fehler machte,384 hat es dort eine gewisse Bewegung in Richtung „einer ‚Amerikanisierung‘ der englischen Strafjustiz“385 gegeben: seltener Inhaftierungen,386 mildere Strafen,387 öfter Freilassungen in die Gesellschaft,388 und Maßnahmen, die wegen ihrer erhofften Ergebnisse als Programme zur „Rehabilitierung“ beschrieben werden. Wie sehr sich die Dinge in England geändert haben, mag man an der Tatsache ersehen, dass in den 30er Jahren eine Überführung wegen Mordes in zwei Dritteln aller Fälle die Exekution binnen zweier Monate

381

Fleming (1975), S. 27. Fleming (1975), S. 27. 383 Fleming (1975), S. 17. 384 Wilson (1976), S. 13 f. 385 Wilson (1976), S. 5. 386 Wilson (1976), S. 20. 387 Wilson (1976), S. 21. 388 Wilson (1976), S. 22. 382

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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bedeutete,389 wo hingegen die Todesstrafe 1975 abgeschafft wurde.390 Mit den amerikanischen Methoden kamen auch die amerikanischen Ergebnisse – überlastete Gerichte,391 verschleppte Prozesse392 und steigende Kriminalitätsraten.393 Die britischen Intellektuellen waren wie ihre amerikanischen Kollegen voreingenommen, was die mutmaßlich sozialen Gründe der Kriminalität anging394 – die „Wurzel des Übels“ in der Terminologie der amerikanischen Intellektuellen. Die für gewöhnlich unterstellten sozialen „Ursachen“ der Kriminalität – Armut, Arbeitslosigkeit und zerrüttete Familienverhältnisse  – korrelieren gar nicht mit dem Kriminalitätsanstieg in Großbritannien. Es gab dort keine Zunahme an Armut oder zerrütteten Familienverhältnissen, vielmehr eine Einkommensangleichung und eine „nahezu nicht-existente“ Arbeitslosigkeit während der Zeit schnell ansteigender Kriminalitätsraten.395 Das Strafrechtssystem wurde einfach nur langsamer und unzuverlässiger. Die einzige bedeutende Nation, in der im Gegensatz zum Besagten die Straftatraten im Verlaufe einer Generation sanken, ist die japanische. 90 % aller Gewaltdelikte führen in Japan zu Gefängnisstrafen, und 98 % aller Angeklagten werden für schuldig befunden. Mildere Strafen im Gegenzug für Schuldeingeständnisse sind in Japan illegal.396 Gleiches gilt für viele andere Länder. Die Strafen in Japan sind nicht härter,397 aber die Chancen, ungeschoren davonzukommen, sind geringer. Eine Reihe von angenommenen Ursachen der Kriminalität – Gewalt im Fernsehen, Verstädterung, Ballungsgebiete – sind in Japan genauso verbreitet und dominant wie in den Vereinigten Staaten.398 Es gibt aber in Japan mehr Polizisten pro Quadratkilometer als in den Vereinigten Staaten, wenn auch geringfügig weniger pro Kopf.399 Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass Japan die „Wurzel des Übels“ aller Kriminalität entdeckt oder gar eliminiert hätte – oder viel dafür täte, dass etwas in diese Richtung unternommen wird. Sowohl internationale als auch intertemporale Vergleiche zeigen, dass die Strafrechtsverfahren die Kriminalität so beeinflussen, wie es der gesunde Menschenverstand nahelegt: Bestrafung, die schnell und / oder mit größerer Gewissheit erfolgt, schreckt mehr ab als Strafe, die hinausgezogen oder umgangen werden kann. Die Tendenz des Obersten Gerichtshofs während der Ära Warren war, die Zahl und

389

Tullock (1974), S. 108. Wilson (1976), S. 25. 391 Wilson (1976), S. 5. 392 Wilson (1976), S. 25. 393 Wilson (1976), S. 4, 6. 394 Wilson (1976), S. 10. 395 Wilson (1976), S. 9 f. 396 Haag (1975), S. 157. 397 Bayley (1976), S. 60. 398 Bayley (1976), S. 58 ff. 399 Bayley (1976), S. 58 f. 390

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2. Teil: Themen und Tendenzen

die Bandbreite an Gründen, nach denen Kriminelle in Berufung gehen konnten, auszudehnen – was die jeweilige Strafe hinausschob (und dadurch verwässerte), die Wahrscheinlichkeit, für das vorgeworfene Delikt entsprechend verurteilt zu werden, reduzierte (öfter Strafmilderung bei Schuldeingeständnis) und die Wahrscheinlichkeit minderte, überhaupt verurteilt zu werden. Die Tatsache, dass die Schuld weitgehend irrelevant wurde, wenn die Polizei sich nicht an ihre Regeln hielt, gab korrupten Polizeibeamten die Möglichkeit, Kriminellen eine legale Immunität zu besorgen: Sie mussten nur die Regeln absichtlich brechen.400 Die Kosten für grundlose Berufungen sind für den Kriminellen gleich null, wenn er einen Anwalt hat, der ihm vom Staat gestellt wird oder von einer dritten Partei (Kanzlei im „öffentlichen Interesse“) finanziert wird. Selbst dann, wenn er als sein eigener Anwalt fungieren muss, sind die Kosten vernachlässigbar klein, da er im Gefängnis sitzt und sonst nichts zu tun hat. Die unangenehme Aufgabe, die Gerechtigkeit zu rationieren, ist, so unangenehm sie auch ist, unvermeidbar. Solange es keine grenzenlosen Ressourcen für Strafrechtsprozesse gibt – und überforderte Gerichte implizieren, dass es sie nicht gibt –, bedeutet das Recht eines Menschen, Berufung einzulegen, für einen anderen, dass er sein Recht auf einen zügigen Prozess aufgeben muss, und / oder dass eine unschuldige dritte Partei unter dem Aufschub für andere Straftäter, die auf Kaution frei sind, leiden muss, solange sie bei dem überforderten Gericht auf ihren Prozess zu warten hat. Seit einigen Jahren werden Strafrechtsprozesse nicht als gesellschaftliche Institutionen betrachtet, die Wissen zu Schuld und Unschuld vermitteln, sondern als Arenen für Wettbewerb zwischen einzelnen Kämpfern (Ankläger und Verteidiger), deren Aussichten bis zu einem gewissen Grad anzugleichen sind. Vor allem die Macht des Staates wird so dargestellt, als ob sie den Möglichkeiten der Verteidigung so unverhältnismäßig überlegen wäre, dass eine Angleichung geboten sei. Auch die intrakriminelle Gleichheit ist ein großes Anliegen – Angleichung der Aussichten unter den Kriminellen, die unterschiedlich raffiniert darin sind, der Verfolgung und Überführung zu entgehen. Wenn erfahrene Kriminelle, Bandenmitglieder und Mafiosi wissen, wie man gegen die Fragen der Polizei „mauert“, dann gebietet es die „elementare Fairness“401, dass der Staat den weniger gewieften Straftätern dieselbe Raffinesse zur Verfügung stellt, damit sie vor dem Appellationsgericht gegen ihren Schuldspruch Einspruch einlegen können.402 Gemäß dieser Auffassung hieße jedes andere Handeln, „die Armen, Unwissenden und Vernachlässigten zu übervorteilen.“403 Die intrakriminelle Gleichheit steht demnach über der Gleichheit der Opfer von Straftaten – das heißt, eigentlich beachtet man die zweite Form der Gleichheit gar nicht. Hier liegt ein Sonderfall des Ansatzes vom „fairen Wettbewerb“ vor. Man stellt auf die große Macht ab, die der Staat gegen 400

Rubinstein (1973), S. 57. Clark (1970), S. 297. 402 Derlei Überlegungen tauchen in den zitierten Aussagen auf, die im weithin bekannten Fall Miranda v. Arizona, 384 U. S. 436 (1966), S. 470 f., gefallen sind. 403 Clark (1970), S. 298. 401

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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über dem einzelnen Straftäter habe. Aber wenn man die „Macht“ nach physischen Größen beurteilt – Zahl der Bediensteten, Summe der Geldmittel, Anzahl der Waffen usw. –, dann übersieht man das Verhältnis zwischen diesen Dingen und dem, worauf sie gerichtet sind. Ein Motor, der für einen Rasenmäher zu groß ist, kann für einen Lastwagen vollkommen ungeeignet sein. Der einzelne Kriminelle muss sich nur darum kümmern, dass er nicht verurteilt wird, aber der Staat muss die gesamte Bevölkerung vor ihm und den übrigen Verbrechern schützen, und auch vor den Ängsten und Sorgen, die sie verursachen. Die empirische Evidenz spricht dafür, dass die Kriminellen als Gruppe mehr als nur in der Lage sind, dem Staat die Stirn zu bieten. Nur wenige Verbrechen führen in den Vereinigten Staaten dazu, dass irgendjemand eingesperrt wird.404 Intrakriminelle Gleichheit ist, wie jede andere Gleichheit auch, nur eine Gleichheit in einer Hinsicht und konfligiert mit Gleichheiten in anderer Hinsicht. Wenn z. B. die Menschen danach gleich bezahlt werden, wie sehr sie sich bei ihrer Arbeit anstrengen, dann konfligiert dies mit dem Prinzip, die Erträge des Arbeitgebers gleich aufzuteilen, oder mit dem Grundsatz, gleiche Anteile am nationalen Ausstoß zu haben – von dem Konflikt der Gleichheit mit wirtschaftlichen und sonstigen Prinzipien einmal ganz abgesehen. Mit der intrakriminellen Gleichheit ist es genauso. Man kann sie nicht unendlich ausdehnen, ohne mit anderen Gleichheitsüberlegungen, die man hinsichtlich der Straftatopfer oder der Öffentlichkeit im Allgemeinen hegen kann, in Konflikt zu geraten. Allerdings gibt es keinen institutionellen Mechanismus, der die Berufungsgerichte zur Abwägung solcher Überlegungen zwänge. Und da die Bundesgerichte über allen Einzelstaatsgerichten stehen, sind letztere – obwohl gewählt und mithin Rückmeldungen ausgesetzt – an die Vorgaben des Bundes gebunden. Kurzum, die einzigen Beschränkungen in der Frage, wie weit man die intrakriminelle Gleichheit treiben kann, sind solche, welche die Bundesrichter sich selbst auferlegen wollen. Wenn sowohl der U. S. Generalstaatsanwalt als auch der Vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs für eine judizielle Angleichung der Rechtsaussichten zwischen den weniger gerissenen und den äußerst gerissenen Kriminellen plädieren, damit die „abgehärteten

404

Der genaue Anteil variiert mit der Definition – folgt man Gordon Tullock (1971), S. 171, dann ist es nur eines von sechzig. Silberman (1978), S. 257–260, nennt eine viel höhere Prozentzahl. Er schließt zunächst eine Viertelmillion Jugendliche aus seiner Statistik (S. 259) aus und fährt dann damit fort, die verbleibenden Verbrecher mit „Gesamtzahl“ oder „Alle“ anzugeben. Er verteidigt auch die Strafrechtsentscheidungen des Warren-Gerichtshofs, indem er (1) seine Untersuchung der nationalen Verbrechensraten von 1970 auf Extrapolierungen kalifornischer Statistiken aus den frühen 60er Jahren basiert (S. 257 f.), also bevor viele umstrittene Entscheidungen des Warren-Gerichtshofs gefällt wurden, und (2) Daten aus den 20er Jahren als Vorher-Nachher-Evidenz des Warren-Gerichtshof-Effekts auf die Kriminalitätsraten (S. 261 f.) nutzt – obwohl die Ära Warren nicht vor 1953 begann und ihre wichtigsten strafrechtlichen Urteile in die späten 60er Jahre fallen. Derart verzweifelte Statistikmanöver sprechen für sich – nicht nur im Hinblick auf die Angreifbarkeit der Bilanz des Warren-­Gerichtshofs, sondern auch hinsichtlich der Bereitschaft seiner Mitstreiter, an sie zu glauben.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Unterwelttypen“ keinen unfairen Vorteil gegenüber den „unbedarften“405 respektive „zerstreuten“406 Kriminellen haben, dann ist das Prinzip der intrakriminellen Gleichheit eines, das sich an höherer Stelle großer Beliebtheit erfreut. Das Prinzip geht weit über die Idee hinaus, dass ein Gericht selbst keine kategorischen Ungleichheiten schaffen darf, und mündet in die Idee, dass man bestimmte vorhandene Unterschiede in krimineller Gerissenheit bei der Rechtsbeugung ausgleichen müsse. Und da die Gerichte nicht nach unten angleichen können, indem sie die Gewitztheit der versiertesten Verbrecher beschneiden, bleibt nur die Angleichung nach oben, indem man die Möglichkeiten der weniger gerissenen Kriminellen, die Bestrafung für ihre Taten zu umgehen, mehrt – egal, was dies für die Gleichheit der Opfer und der Allgemeinheit bedeuten mag. Intrakriminelle Gleichheit gilt sogar für grundlose Berufungsgesuche. Wenn privat bezahlte Anwälte frivole Berufungsgesuche stellen und diese mit haltlosen Behauptungen wie „Geisteskrankheit“ begründen, dann hat ein vom Gericht bestellter Anwalt, der das für seinen Klienten nicht macht, demselben das von der Verfassung verbriefte Recht auf Beratung verweigert407  – ein Recht, das in der Ära Warren ausgedehnt wurde und kostenlose Beratung beinhaltete. Ob die Verteidigung sich richtig verhalten hat, kann ein Berufungsgericht im Nachhinein überprüfen. Auf diese Weise stellt es sicher, dass der Verteidiger technisch alles unternommen hat, um der Vorstellung einer „kompetenten“ Vertretung zu genügen. Das heißt nicht, dass im besagten Fall das Appellationsgericht den Beklagten tatsächlich für geisteskrank hielt – oder auch nur die Möglichkeit für wahrscheinlich gehalten hätte –, sondern, dass sie die Verteidigungsstrategie des Pflichtverteidigers erneut überdacht hat und glaubt, dass es eine Taktik gab, die er hätte ausprobieren können. Derlei Extrapolierungen und Stegreiflösungen, abgeleitet aus dem einfachen verfassungsmäßigen Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen, illustrieren einmal mehr das Gesetz der nachlassenden Erträge und die Tendenz weisungsungebundener Institutionen, sich über jenen Punkt hinaus zu begeben, ab dem sie aus Sicht des zugedachten Zwecks Kontraproduktives leisten – in unserem Fall bei der Bestimmung von Schuld und Unschuld und bei der Bemessung der Gerechtigkeit. Bestrafung Die Tendenzen bei der Bestrafung von Kriminellen lassen sich schnell zusammenfassen. In den letzten 20 Jahren waren Strafen für verurteilte Kriminelle nicht mehr so üblich wie vorher. Sie waren auch weniger streng und wurden der Öffentlichkeit auch nicht mehr so offen mitgeteilt. Das amerikanische Rechtssystem pflegt seltener zu bestrafen als das britische Rechtssystem, aus dem es hervor­ gegangen ist. Allein Kalifornien hat sechsmal so viele Räuber wie England, aber 405

Warren (1977), S. 316. Clark (1970), S. 298. 407 Fleming (1975), S. 75 f. 406

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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in England saßen mehr Räuber ein als in Kalifornien.408 Auf dem Papier haben die Vereinigten Staaten „in ihren Gesetzbüchern die härtesten Strafen, die man unter den fortschrittlichen Nationen des Westens finden kann.“409 Aber in der Praxis werden sie selten angewendet. Weniger strenge Strafen – die aber tatsächlich verhängt wurden – haben in Japan zu einem langfristigen Rückgang der schweren Delikte (Missbrauch harter Drogen eingeschlossen) geführt, und zwar im selben Zeitraum, in dem die Verbrechensraten in den Vereinigten Staaten steil anstiegen. Studien zeigen, dass in vielen amerikanischen Städten vorbestrafte Verbrecher meist auf Bewährung frei sind und nicht einsitzen.410 Saftige Strafen auf dem Papier und Bewährung in der Praxis sind Teil einer allgemeinen Strategie der Doppelzüngigkeit. „Lebenslänglich“ bedeutet in vielen Staaten ein „Anrecht auf Haftaussetzung nach drei bis vier Jahren.“411 Als „Ersttäter“ gelten auch Kriminelle mit langen Haftstrafen, deren frühere Strafen technisch nicht vor Gericht verwertet werden können, weil die entsprechenden Straftaten im jugendlichen Alter begangen wurden. Immer wieder haben sich angeblich erfolgreiche Programme zur „Rehabilitation“ bei näherem Hinsehen als ineffektiv oder gar kontraproduktiv herausgestellt.412 Dergleichen sind keine zu­ fälligen Abweichungen zwischen Theorie und Praxis. Sie sind vielmehr Ausdruck eines systematischen Hangs, gegenüber der Bevölkerung darin zu übertreiben, welche Strafen verhängt werden, und hinsichtlich des Verbrechens („Strafminderung bei Schuldeingeständnis“) und der Natur der Verurteilten („Ersttäter“) zu untertreiben. Simultane Haftstrafen bedeutet, dass es für zusätzliche Verbrechen im gleichen Zeitraum keine zusätzlichen Haftstrafen gibt. Bewährungsausschüsse bedeuten, dass selbst die wenigen Strafen, die das Gericht überhaupt verhängt, große Übertreibungen sind. Mit der sogenannten „überwachten“ Bewährung und dem „überwachten“ Freigang sind „ein oder zwei 10 bis 15-minütige Befragungen pro Monat“413 gemeint, die zwischen einem Kriminellen, der ansonsten auf freiem Fuß ist, und einem Beamten, der in zwei Dritteln aller Bewährungsfälle für mehr als 100 Freigänger gleichzeitig verantwortlich ist, stattfinden.414 Diese systematischen Neigungen in der Übermittlung von Wissen entkoppeln die Entscheidungsträger, Berater und andere, die Einfluss auf das Strafrechtssystem nehmen, von den Rückmeldungen aus der Bevölkerung, die am eigenen Leib spürt, wohin diese Einflussnahme führt. Inmitten der Doppelzüngigkeit und Abkapselung machen sich große Unterschiede zwischen dem, was die „Eingeweihten“ des Strafrechts und die Öffentlichkeit glauben, breit  – und auf Seiten der Eingeweihten die Entschlossenheit, den öffentlichen Einfluss zu mindern. Es gilt 408

Wilson (1976), S. 19. Wilson (1975a), S. xiv. 410 Wilson (1975a), S. 165, 173. 411 Wilson (1975a), S. 186. 412 Wilson (1975a), S. 168f, 186 f. Siehe auch S. 172. 413 The Challenge of Crime (1967), S. 165. 414 The Challenge of Crime (1967), S. 169. 409

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2. Teil: Themen und Tendenzen

als ehrenwert, nicht auf die „Stimme des Volkes“ zu hören. Kurzum, Strafrechtsentscheidungen werden von Rückmeldungen abgekapselt, institutionell wie auch ideologisch. Keine Abkapselung ist jedoch perfekt. Daher schlägt sich hier und da die öffentliche Entrüstung über die ungeheuerlichen Fälle, die gelegentlich ans Licht kommen, im Recht nieder. Nichtsdestotrotz ist die Geschichte der jüngsten Tendenzen im Strafrecht vor allem eine Geschichte der intellektuellen Moden, die sich in einer kleinen Gruppe von Rechts- und Sozialtheoretikern breit gemacht haben. Diese Moden gründen auf einige Schlüsselannahmen: (1) Bestrafung ist moralisch fragwürdig, (2) Bestrafung schreckt nicht ab, und (3) Haftstrafen sollten sich individuell am Kriminellen orientieren und nicht allgemein vom Delikt ableiten. Die moralische Fragwürdigkeit der Bestrafung leitet sich aus der Annahme ab, dass „Rache“ eine „verrohender Rückfall in die Schreckenszeit der menschlichen Inhumanität“415 sei. Dieses auf die Zeitumstände verweisende Argument wird mit der Behauptung untermauert, dass die fleischgewordene „Gesellschaft“ selbst Kriminalität erzeuge. Gemäß dieser Theorie „verletzten gesunde und vernünftige Personen keine anderen Menschen.“416 Mithin ist Kriminalität das Ergebnis eines gesellschaftlichen Versagens bei der Erschaffung so gearteter Menschen bzw. bei der Umwandlung des Kriminellen in eine Person, die „nicht die Fähigkeit besitzt – sich nicht selbst dazu bringen kann –, einen anderen zu verletzten oder Eigentum zu zerstören.“417 Blaupausen oder gar Beispiele gibt man nicht an. Die Zitate stammen auch nicht aus der Facharbeit eines Zehntklässlers, sondern aus einem Buch, das Rechtsgelehrte, praktizierende Anwälte sowie führende Tageszeitungen und Magazine in den Himmel loben.418 In ähnlicher Manier meint der Vorsitzende Richter am Obersten Gerichtshof, Earl Warren, die Kriminalität „in unserer gestörten Gesellschaft“ gehe auf solche „Grundübel“ zurück wie „das elende Leben in den Ghettos sowie Ignoranz und Armut“ bzw. – was dann tautologisch wäre – illegalen Drogenhandel und organisiertes Verbrechen.419 „Grundübel“ sind in dieser Literatur prominent vertreten.420 Man spricht so selbstverständlich von ihnen, als wären sie wohldokumentierte Tatsachen und keine willkürlichen Behauptungen, die nach Belieben in eine empirische Beziehung zur steigenden Kriminalität und verminderten Armut bzw. Diskriminierung gestellt werden. Die Idee, dass Menschen aufgrund von schlechten Bedingungen der einen oder anderen Art zur Kriminalität gezwungen würden, übersieht, dass die Geschichte seit mehreren tausend Jahren Könige und Herrscher kennt, die inmitten von Luxus aufgewachsen sind und die brutalsten Gräueltaten an ihren Untergebenen begangen haben. Die Behauptung, Strafen würden nicht abschrecken, tritt in verschiedenen Formen auf. Die einfachste Form vom Abschreckungsversagen der Bestrafung stützt 415

Clark (1970), S. 199. Clark (1970), S. 200. 417 Clark (1970), S. 200. 418 Clark (1970), S. 1 und Buchrückseite. 419 Warren (1977), S. 317. 420 Warren (1977), S. 317; Meltsner (1973), S. 40. 416

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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sich darauf, dass viele Straftatarten – bzw. Kriminalität im Allgemeinen – noch immer nicht kategorisch ausgemerzt sind. Von dieser Warte aus betrachtet ist die Existenz von Verbrechen der Beweis für die Sinnlosigkeit der Abschreckung, da „Kriminelle immer noch unter uns weilen.“421 Man könnte analog dazu argumentieren, Lebensmittel seien zur Linderung des Hungers nutzlos, weil die Menschen, obwohl sie essen, immer wieder hungrig werden. Es gibt den alten Witz von dem kleinen Kind, das sich vor der Badewanne drückt und meint, Baden sei nutzlos, „weil man später sowieso wieder schmutzig wird.“ Wenn ein erwachsener Mann, der das höchste Amt der Rechtsdurchsetzung im Land erklommen hat, genauso argumentiert, klingt es zwar nicht ganz so humorvoll, aber genauso lächerlich.422 Von Bedeutung ist hier nicht die kategorische Abschreckung, sondern der inkrementelle Effekt der Bestrafung auf die Kriminalitätsraten. Man bleibt schnell mal in der Frage stecken, wie sehr das Umfeld im Vergleich zum Willensakt des Einzelnen für eine Straftat ursächlich ist. Doch selbst dann, wenn wir diskussionshalber annehmen wollen, dass das Umfeld weitgehend – oder auch voll und ganz – verantwortlich ist, so folgt doch nicht, dass Bestrafungen vergebens wären, weder inkrementell noch kategorisch. Die These, dass Umwelteinflüsse das Auftreten von Gewalt fördern oder bestimmen, schließt nicht aus, dass Strafen wirkungsvoll sein können, gleichwohl die Theorie oft vorgebracht wird, um dergleichen zu behaupten. Wir haben es hier letztlich mit einer empirischen Frage, nicht mit einer philosophischen Frage zu tun, aber die Verpflichtung zu sozialen Reformen und zur Theorie der „Grundübel“ heißt auch, dass nur wenige Juristen und Sozio­logen „jemals bereit sein werden, auch nur in Betracht zu ziehen, dass Strafen einen Unterschied machen können.“423 Erst vor wenigen Jahren hat es ernstzunehmende statistische Untersuchungen zur Überprüfung der empirischen Frage gegeben – und diese haben gezeigt, dass Bestrafung abschreckt.424 Die Argumente für eine „individuelle Anpassung“ der Bestrafung an den Kriminellen anstelle einer allgemeinen an der Straftat ausgerichteten Bestrafung, gehen von einem Resultat aus, anstatt einen Prozess zu spezifizieren. Ob ein solches Resultat wünschenswert ist oder nicht, kann man erst fragen, wenn man weiß, ob Gerichte es herbeiführen können. Einfach die Strafe zu variieren, ist einfach, aber es in einer Weise zu tun, die der tatsächlichen Persönlichkeit des betroffenen Kriminellen entspricht, ist nicht einfach, wenn überhaupt durchführbar. Wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, haben formale Institutionen große Schwierigkeiten, wenn sie akkurate Informationen zu individuellen Persönlichkeiten einholen sollen. Alles in der Strafrechtslage bietet für den Verbrecher mitsamt seiner Familie und seinen Freunden Anreize zum Verdunkeln und Verschweigen – und sie sind jene, die an und für sich im Besitz aller genauen Informationen sind. Aus densel 421

Amsterdam (1977), S. 47. Clark (1970), S. 117 f. 423 Wilson (1975a), S. 175. 424 Wilson (1975a), S. 174 f. 422

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2. Teil: Themen und Tendenzen

ben Gründen überlassen die Banken die Finanzierung neuer kleiner Unternehmen den Firmengründern sowie deren Familien und Freunden. Die Gerichte unterliegen beim Spekulieren über die persönlichen Charakterzüge nicht den institutionellen Beschränkungen, denen die Banken angesichts drohender finanzieller Verluste ausgesetzt sind, aber die gesellschaftlichen Kosten solcher Spekulationen können sogar noch größer sein, wenn die Gerichte sich mechanisch auf Kriterien verlassen oder psychologisches Rätselraten betreiben, um das Strafmaß zu „individualisieren“. In der Praxis meint das sogenannte „individualisierte“ Strafmaß ohnehin ein verkürztes Strafmaß. Keine psychologischen Einblicke oder Evidenzen werden für einen Taschendieb eine lebenslange Haft oder Exekution rechtfertigen, egal, wie tödlich die offengelegte Persönlichkeitscharakteristik auch sein mag. Der Prozess ist völlig asymmetrisch und sollte als das gesehen werden, was er ist – ein weiterer Weg, die Strafen zu reduzieren oder eliminieren. Worin bestehen die gesellschaftlichen Kosten dieses asymmetrischen Prozesses der Strafmaßreduzierung? Wenn die Strafe reduziert (oder ausgesetzt) wird, um der angeblichen Persönlichkeit des Gewalttäters zu entsprechen, dann sendet diese keine klare und deutliche Botschaft der Abschreckung an andere. Darüber hinaus wird auch dem individuellen Straftäter die Strafe nicht als die Beurteilung mitgeteilt, die seine Mitmenschen hinsichtlich der Schwere seines Vergehens haben, sondern als Zufallsergebnis, das aus der Persönlichkeit oder Laune des Richters stammt, oder gar aus der beeindruckenden Vorstellung, die der Kriminelle mithilfe von Psychiatern, Psychologen und Bewährungshelfern geboten hat. Die gesellschaftlichen Kosten schlagen sich aber auch in zusätzlichen Prozessverschleppungen vor Gericht nieder, weil allerlei Informationen, „Befunde“ und „Empfehlungen“ gesammelt werden müssen  – ein Prozess, der Monate dauern kann. Das ist sogar in relativ einfachen Fällen so, in denen derlei Betriebsamkeit am Endergebnis wenig ausrichtet. Es ist hier so wie in auch in anderen Fällen, in denen für gesellschaftliche Entscheidungen ein „Feineinstellung“ versucht wird. Die Frage der Strafgerechtigkeit ist nicht die, was wir an Gottes Stelle täten, sondern, welche wirksamen Entscheidungen wir treffen können – wir als Menschen, was immer das auch im Sinne beschränkter individueller Kenntnisse mit sich bringt. Das Strafmaß im Jugendstrafrecht ist der Tendenz zur „Individualisierung“ besonders stark ausgesetzt – in einigen Staaten ist das Wohlergehen des jugendlichen Straftäters das einzige Kriterium, das von Rechts wegen als Kriterium für den weiteren Prozesswerdegang herangezogen werden kann. Es dürfte für sich sprechen, dass hier das Versagen des Systems in Form außergewöhnlich schnell ansteigender Kriminalitätsraten besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Das Thema Todesstrafe ist sehr emotionsgeladen. Eine kürzlich erschienene Studie zeigt, dass jede einzelne Exekution vor weiteren Morden abschreckt.425 425

Ehrlich (1975), S. 39.

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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Dieses Ergebnis konfligiert mit einer früheren und gröberen Studie. Es spricht für sich, wie die beiden Studien in der Rechts- und Gesellschaftstheorie aufgenommen wurden. Die ältere Untersuchung zur Todesstrafe stammt von Thorsten Sellin und verglich Bundesstaaten, die keine Todesstrafe im Gesetzbuch führen, mit solchen, die sie im Gesetz vorsehen.426 Die jüngere Studie Ehrlichs verglich die tatsächlich vollzogenen Exekutionen, nicht aber die selten umgesetzten Gesetze. Zweifellos sind es die Exekutionen und nicht die Textpassagen im Gesetzbuch, die eine Todesstrafe darstellen, und die Frage der Abschreckungseffekte ist eine Frage der Exekutionen. Es ist Ehrlichs Untersuchung zu den tatsächlichen Exekutionen, die einen Abschreckungseffekt nachweist. Dennoch ist es die ältere und gröbere Studie von Sellin, die nach wie vor zitiert wird und belegen soll, dass die Todesstrafe als Abschreckungsmaßnahme wirkungslos wäre. Die jüngere Studie indes wird entweder ignoriert oder ist Gegenstand weitaus kritischerer Überprüfung als die ältere Untersuchung.427 Es steht außer Frage, welcher Schlussfolgerung Rechts- und Gesellschaftstheoretiker den Vorzug einräumen. Aber die politischen Vorlieben der „Experten“ werden nicht dadurch zu empirischen Fakten, dass sie allgemeine Zustimmung finden bzw. immer wieder wiederholt werden. An und für sich stimmen alle Forscher auf beiden Seiten der Kontroverse um die Todesstrafe darin überein, dass die Daten Probleme bergen428 und auch die Wahl der richtigen Statistikmethode zur Auswertung der Daten mit Problemen behaftet ist.429 Schon die Definition von „Mörder“ wirft Fragen auf. Zugängliche Daten gibt es nur zu „Tötungsdelikten“, zu denen auch Verkehrsopfer und fahrlässige Tötungen gerechnet werden. In den „Aufzeichnungen wird im Allgemeinen nicht nach der Tötungsart unterschieden.“430 Kein Fachmann geht davon aus, dass die Todesstrafe für vorsätzlichen Mord vor fatalen Verkehrsunfällen abschrecken kann, die ebenfalls in den zu analysierenden Daten integriert sind. Außerdem bereitet der drastische Rückgang und – in manchen Jahren – völlige Ausfall von Exekutionen während der letzten 20 Jahre431 statistische Probleme, weil man so für eine der Variablen zu wenige Stichproben hat. Es gibt keine Zeitspanne, für die man sowohl gutes Datenmaterial zu vorsätzlichen Morden als auch eine hinreichende Anzahl von Exekutionen hätte. Und schließlich war die Periode, in der die Todesstrafe immer seltener vollstreckt wurde und praktisch verschwand, auch eine Zeit, in der das Risiko, überhaupt bestraft zu werden, stark sank. Kurzum, es gibt so oder so keine tatsächliche Überprüfung, wohl aber das weithin geteilte Dogma, dass die Todesstrafe nicht abschrecken würde. Hier gilt, was auch in anderen Politikbereichen gilt: Die Frage ist nicht, was man wählen soll, sondern wer entscheiden soll, was getan wird. Die Gerichte haben 426

Sellin (1959). Baldus / Cole (1975); Bowers / Pierce (1975); Zeisel (1976). 428 Zeisel (1976), S. 326 f.; Furman v. Georgia, 408 U. S. 238 (1972), S. 349. 429 Zeisel (1976), S. 333. 430 Zeisel (1976), S. 326. 431 U. S. Bureau of Census (1974), S. 422. 427

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2. Teil: Themen und Tendenzen

sich weitgehend der legislativen Aufgabe angenommen – unter dem Deckmäntelchen, die Verfassung „auszulegen“. Feststehen dürfte indes, dass der Rückgang an verhängten Strafen im Allgemeinen (vor allem der Todesstrafe) in den letzten Jahren – vor allem während der 60er Jahre – mit einer allgemeinen Zunahme an Gewaltdelikten, insbesondere Morddelikten, einherging. Internationale Vergleiche stützen diese Schlussfolgerung und passen auch zu der Konklusion, dass es nicht der Text im Gesetzbuch sei, der abschrecke. Die amerikanischen Gesetze zählen in der Theorie zu den strengsten der westlichen Welt, und zu denen, die in der Praxis am seltensten umgesetzt werden. Und die Vereinigten Staaten haben weitaus größere Quoten an Gewaltverbrechen (vor allem Morddelikte)  als jene Länder, die weniger strenge, aber dafür umso konsequenter angewendete Gesetze haben. Die diversen historischen, kulturellen und sonstigen Unterschiede zwischen den Nationen erschweren internationale Vergleiche, aber es ist auffällig, dass das Überschwappen amerikanischer Rechtstheorien und Rechtspraktiken auf andere Länder mit amerikanischen Ergebnissen hinsichtlich Verfahrensverschleppungen und steigenden Kriminalitätszahlen einhergeht. Auch der Einfluss von Juristen und Soziologen auf die Handhabung des Strafrechts hat sich jenseits unserer Landes­ grenzen breitgemacht. Außerhalb der Vereinigten Staaten sind die „Experten“ für Tatsachen, die nicht zu ihren Überzeugungen passen, offenbar genauso wenig offen wie ihre Kollegen hierzulande.432 Die Todesstrafe wurde in der gesamten westlichen Welt entweder dezidiert abgeschafft oder in der Praxis auf ein Minimum reduziert. Die Vereinigten Staaten waren bereits Teil der allgemeinen Reduzierung verhängter Todesstrafen, als der Oberste Gerichtshof 1972 erklärte, die Todesstrafe sei verfassungswidrig, weil sie eine „grausame und ungewöhnliche Strafe“ sei, die der achte Verfassungszusatz verbiete – zumindest in einigen Fällen.433 Da der achte Verfassungszusatz nur aus einem Satz besteht434 und keine Ausnahmen zulässt, ist die partielle Verfemung der Todesstrafe ganz offensichtlich nur eine judizielle Improvisation und keine Entscheidung an sich. Der Denkfehler, Entschiedenheit mit Genauigkeit zu verwechseln, zieht sich durch einen großen Teil der Einlassung des Obersten Gerichtshofs und der Frage, welche Strafe genau mit „grausam und ungewöhnlich“435 gemeint sei. Die Todesstrafe war ganz bestimmt nicht gemeint. Der fünfte Verfassungszusatz, der gleichzeitig mit dem achten Verfassungszusatz verabschiedet wurde, bestätigte die Todesstrafe und forderte nur, dass ihr ein „ordentlicher Prozess“ vorauszugehen habe. Die Bundesstaaten, die beide Zusätze ratifizierten, hatten die Todesstrafe, die sie  – zusammen mit anderen Bundestaaten  – seit mehr als 200 Jahren vollzogen, im Gesetz stehen, bevor sie durch eine 5 : 4-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (mit neun Stellungnahmen) mit dem Hinweis gekippt 432

Wilson (1976), S. 23. Furman v. Georgia, 408 U. S. 238 (1972). 434 „Es sollen weder übermäßige Kautionen verlangt noch übermäßige Bußgelder verhängt noch grausame und ungewöhnliche Bestrafungen angewendet werden.“ 435 Zitiert nach Meltsner (1973), S. 268–278. 433

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wurde, sie sei unter bestimmten Umständen verfassungswidrig. Die besonderen Umstände, die sie verfassungswidrig machten, variierten aber. In der Praxis hieß das, dass die Todesstrafe immer dann gegen die Verfassung verstieß, wenn die jeweilige Besetzung des Obersten Gerichtshofs zu dem Ergebnis kam, irgendetwas gegen die Verfahrensweise, die zur Verurteilung führte, einzuwenden. Im Endeffekt waren es die Gesetze und Gerichtsurteile, die für verfassungswidrig erklärt wurden. Man gab vor, die Bestrafung sei verfassungswidrig gewesen, weil sie „zur Tat unverhältnismäßig“ gewesen oder eigenwillig angewendet worden sei – wobei keines von beiden ein Merkmal der Bestrafung selbst ist. Die Gegner der Todesstrafe haben mehrere Argumente ins Spiel gebracht: (1) Es ist unmoralisch, wenn der Staat vorsätzlich tötet. (2) Die Todesstrafe schreckt nicht ab. (3) Fehler sind unwiderruflich. (4) Die Verhängung der Todesstrafe ist willkürlich und in der Praxis eigenwillig. (5) Schwarze sind überproportional unter den Exekutierten vertreten, was die rassistische Tendenz des Systems zeigt. Das Unmoralische an der Exekution gründet auf der Parallelität zwischen dem vorsätzlichen Mord, bei dem der Mörder das Opfer mit voller Absicht tötet, und der anschließenden vorsätzlichen Tötung des Mörders durch das Gesetz. Angesichts dessen müssen wir uns „von der Vorstellung verabschieden, dass das zweite Unrecht das erste ausgleicht …“436 Gewiss sind die beiden Akte als physische Handlungen identisch. Aber wenn man nach diesem Prinzip die Moralität festlegen würde, dann wäre es genauso unmoralisch, einem Räuber gewaltsam das wegzunehmen, das er zuvor mit Gewalt geraubt hat. Und es wäre genauso unmoralisch, jemanden einzusperren, der zuvor jemanden eingesperrt hat. Auch hier haben wir es mit einem Fall von physikalischem respektive physischem Fehlschluss zu tun: Man betrachtet Dinge, die physisch identisch sind, als Dinge von gleichem Wert – in diesem Fall von gleichem moralischen Wert. Nach dieser Maßgabe wäre eine Frau, die Gewalt einsetzt, um eine Vergewaltigung abzuwehren, genauso unmoralisch wie der Möchtegern-Vergewaltiger. Wenn er erfolgreich abgewehrt wird, dann hat physisch nichts weiter stattgefunden als ein Kampf unter zwei Personen. Niemand würde die physische Entsprechung als moralische Entsprechung ansehen. Wenn es bei der physischen Parallele um Menschenleben geht, dann liegt die Latte zwar höher, aber das Prinzip bleibt dasselbe. Die Moralität der Hinrichtung hängt nicht von der physischen Parallelität ab. Manchmal begründet man das Unmoralische mit der angeblich ungewollten Bloßstellung eines Schamgefühls, das sich im Unwillen der meisten Menschen – selbst der Befürworter der Todesstrafe – dokumentiere; dem Unwillen, einer Exekution beizuwohnen.437 Allerdings schauen die meisten Menschen auch nicht gern bei einer Unterleibsoperation zu, aber niemand erkennt darin ein unmoralisches Moment, das in derlei Operationen läge. Es würde auch niemand einen 436 437

Meltsner (1973), S. 316. Siehe auch Amsterdam (1977), S. 43. Meltsner (1973), S. 62, 181.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Philan­thropen, der einem Krankenhaus zur Durchführung solcher Operationen Geld spendet, für einen Heuchler halten, falls dieser es ablehnte, einer Unterleibs­ operation beizuwohnen. Es fällt einem noch schwerer, derlei Argumente ernst zu nehmen, wenn ihre Verfechter gleichzeitig behaupten, früher sei unmoralisch gewesen, wenn Personen Exekutionen zusahen,438 nun aber sei unmoralisch, wenn sie es nicht täten.439 Das Argument, die Todesstrafe schrecke nicht ab, kehrt einige wichtige Unterscheidungen unter den Teppich. Jede Strafe schreckt entweder den Straftäter (temporär oder permanent) von der Wiederholung seiner Vergehen ab, oder sie schreckt andere ab, denen der Straftäter als abschreckendes Beispiel dient. Gewiss macht die Todesstrafe wie keine andere handlungsunfähig. So offensichtlich diese Feststellung auch ist, sie ist sehr bedeutsam. Sie ist besonders deshalb wichtig, weil der Versuch, die Handlungsunfähigkeit durch die sogenannte „lebenslange Haft“ herbeizuführen, nicht dasselbe bedeutet, weil es legal sein kann, dass der vorsätzliche Mörder bereits nach fünf Jahren wieder frei herumläuft, vielleicht sogar früher, falls er flieht. Außerdem kann er im Gefängnis töten. Argumente zu den angeblich niedrigen Rückfallraten von Mördern führen im Allgemeinen in die Irre. Sie wären dann von Bedeutung, wenn es darum ginge, ob man Mörder ohne Rücksicht auf die Umstände immer zu exekutieren hätte. Aber dieses Gesetz steht nicht zur Debatte. Außerdem sind Richter wie Juroren nie dieser Devise gefolgt. Zur Debatte steht indes, ob die Gerichte diese Option in solchen Fällen, in denen sie die einzig sinnvolle Maßnahme zu sein scheint, haben sollten. Der unwiderrufliche Fehler, die falsche Person zu exekutieren, ist für jeden eine schreckliche Vorstellung. Das Töten unschuldiger Menschen durch einen freigelassenen oder geflohenen Mörder ist keine weniger schreckliche Vorstellung, und gewiss nicht seltener der Fall. Die Rückfallquote unter Mördern war nie null. Genauso wenig kann man den menschlichen Irrtum bei Todesurteilen auf null reduzieren. So oder so werden unschuldige Menschen sterben. Wenn es irgendeine Alternative gäbe, die das Töten von Menschen vermeidbar gestalten würde, dann würde sie jeder vorziehen. Aber eine solche Alternative ergibt sich nicht deshalb, weil wir sie innig herbeisehnen oder unterstellen, indem wir unsere Augen vor der unweigerlichen und bitteren Güterabwägung verschließen. Manche versuchen, den der Sache anhängenden Einschränkungen zu entgehen, indem sie sagen, dass „eine Gesellschaft, die in der Lage ist, einen Menschen auf den Mond zu schicken,“ auch in der Lage sei, „einen Menschen im Gefängnis davon abzuhalten, Menschen zu töten.“440 Gemäß diesem Argument können wir – zumindest nach und nach – alles zu Ende bringen, was wir wollen, egal, was es ist. Dieses Argument lässt dem demokratischen Fehlschluss freien Lauf.

438

Meltsner (1973), S. 61. Meltsner (1973), S. 62, 181. 440 Amsterdam (1977), S. 46. Siehe auch Furman v. Georgia, 408 U. S. 238 (1972), S. 300 f. 439

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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Weil vollzogene Exekutionen nur einen Teil der wegen Kapitalverbrechen Verurteilten ereilen, meinen die Gegner der Todesstrafe, dass die Todeskandidaten „eigenwillig“, „launisch“, „willkürlich“ oder zufällig sowie ohne jede Logik und Gerechtigkeit ausgewählt würden.441 Natürlich kennt die Gerechtigkeit viele Dimensionen, intrakriminelle Gleichheit ist eine von ihnen. Das heißt aber nicht, dass sie wie selbstverständlich die einzige oder hauptsächliche Überlegung bilden würde. Wenn man das Willkürargument ernstnähme und ernsthaft anwenden wollte, dann könnte man in einem System mit unterschiedlichen Geschworenenjurys keinen Straftäter für irgendein Vergehen bestrafen – eine Unmöglichkeit, die für alle möglichen Rechtssysteme gilt, solange die Menschen sterblich sind. Wenn man von der Möglichkeit absieht, dass es eine einzige, unsterbliche Jury gäbe, die sich alle Straffälle anhören würde, dann kann man intrakriminelle Gleichheit nie bis zur Perfektion treiben, sondern nur in Regionen mit negativen Erträgen, also in jedwedem Gerechtigkeitssystem, dem auch an anderen Formen der Gleichheit liegt, wie z. B. an der Gleichheit für Opfer und Öffentlichkeit. Wer argumentiert, der Grad der intrakriminellen Gleichheit könne direkt anhand der Fallzahlen und Prozente ermittelt werden, der verfällt in den Fehlschluss jener Fälle von „Fördermaßnahmen“, in denen unterstellt wird, dass die Zahlen, die eine Institution erfasst, von dieser auch verursacht sind. Wenn sich Menschen in der Quantität und Modalität ihrer Verbrechen unterscheiden, dann unterscheiden sie sich statistisch auch hinsichtlich ihrer Verurteilungen und Haftstrafen, selbst dann, wenn alle Gerichte und Geschworenenjurys vollkommen unparteiisch und gerecht sind. Wir wissen, dass derlei Perfektion unter Richterbänken und Geschworenenjurys genauso wenig zu finden ist wie unter anderen Gruppen, die Menschen bilden. Und in manchen Fällen – Schwarze, die im Süden auf eine Jury aus lauter Weißen treffen, sind das Paradebeispiel – ist die Wirklichkeit sehr weit vom Ideal entfernt. All dies gründet allerdings auf geschichtlichen Erkenntnissen und Beobachtungen, und nicht auf den zitierten Statistiken, die als Evidenz zitiert werden und dazu dienen, allem einen „wissenschaftlichen“ Anstrich zu geben. Wenn man Statistiken ernsthaft berücksichtigen will, dann muss man auch eine oft übergangene Statistik einbeziehen: Es werden mehr schwarze als weiße Personen ermordet – das bedeutet, dass es in absoluten Zahlen mehr schwarze Mordopfer als weiße Mordopfer gibt,442 obwohl Schwarze nur 12 % der Gesamtbevölkerung stellen. Außerdem werden Morde meist nicht rassenübergreifend begangen, sondern oft unter Familienangehörigen und Freunden. Vor diesem Hintergrund zeigt die Statistik, der zufolge Schwarze unter den Exekutierten überrepräsentiert sind, eine andere Dimension, da Schwarze auch unter den Opfern überrepräsentiert sind. In einer jüngeren Studie über den Norden fand man heraus, dass schwarze und weiße Personen, die einen Mord begangen haben, mit nahezu der gleichen Wahrscheinlichkeit exekutiert werden.443 Es ist eine Sache, über das Unrecht der 441

Furman v. Georgia, 408 U. S. 238 (1972), S. 193, 195, 300, 304, 309 f. Wattenberg (1974), S. 142. 443 Wilson (1975a), S. 188 f. 442

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Geschichte zu lamentieren, und eine andere, sie zu nutzen, um die aktuellen empirischen Daten verzerrt widerzugeben. Zweifellos haben sogar in rassisch homogenen Gesellschaften die jeweiligen sozialen Gruppen unterschiedliche Kriminalitätsraten. In den Vereinigten Staaten gibt es z. B. große Unterschiede in den Mordraten von Männern und Frauen.444 Aber auch ohne derlei Evidenz wird ein jeder, der Demut kennt oder ein Gespür für Mitmenschlichkeit hat, eingestehen, dass auch er dann, wenn er unter hinreichend miserablen Bedingungen hätte aufwachsen müssen – ohne den Unterschied zwischen recht und unrecht kennengelernt zu haben, in einer Gegend großgeworden, in der Gewalt nicht nur hingenommen, sondern bewundert wird –, zu einer Person geworden wäre, mit der keine Gesellschaft zurechtkommt. In einem gewissen und letztendlich moralischen Sinne „hätte es auch mich erwischen können.“ Es wäre unverzeihlich, einen tollwütigen Hund zu erschießen, wenn wir wüssten, wie man ihn sicher einfängt und im Handumdrehen heilt. Wir erschießen tollwütige Hunde nur aufgrund der Beschränkungen, die uns als menschlichen Wesen innewohnen. Es gibt keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen – und bestimmt keinen Anlass, vorzugeben, mehr Wissen zu besitzen, als wir haben, um Mörder zu „rehabilitieren“ und die „Grundübel“ der Kriminalität zu eliminieren. Wir spielen nicht Gott, wenden wir so agieren, wie wir es im Rahmen unter Beschränkungen tun. Wir spielen Gott, wenn wir vorgeben, ein Allwissen und eine Palette von Optionen zu besitzen, die wir gar nicht haben. Die Vorstellung, dass die Todesstrafe launenhaft verhängt werde – also nicht tendenziös – ist ein auf Unwissenheit bauendes Argument. Außenstehende wissen nicht, warum die eine Jury so und die andere so entscheidet. Es gibt keine institutionellen Vorgaben für Jurys, ihre Gründe darzulegen  – und auch keine Vorgaben, die Darlegungen der einen Juryentscheidung mit denen anderer Jurys zu koordinieren. Dass der Außenstehende kein Muster erkennt, dürfte also kaum überraschen. Dass er ein solches nicht sieht, heißt aber nicht, dass es keines gäbe. Ein Autofahrer, der über die Autobahn oder durch eine Stadt fährt, mag zwar in der Verteilung der Hamburgerfilialen kein Muster erkennen, aber ein leitender Mitarbeiter von McDonald’s oder Burger King könnte ihm durchaus zeigen, dass die gewählten Standorte keineswegs zufällig oder launenhaft ausgesucht wurden. Es zeichnet den Spezialisten in seinem Bereich aus, dass er Muster wahrnehmen kann, die sich der gewöhnlichen Beobachtung entziehen. Es gibt viele Bereiche menschlicher Erfahrung, für die es keine Spezialisten oder Experten gibt, weil niemand bereit ist, die Zeit und Mühe zu investieren, die man braucht, um in diesen Bereichen Muster zu erkennen. In einem Bereich wie dem der Verurteilungen durch eine Geschworenenjury, in dem es schwerfällt, die Gründe akkurat zu artikulieren, und in dem die Artikulierung zum einen nicht erforderlich ist und zum anderen nur mit Auflagen in der Öffentlichkeit stattfinden dürfte, ist die Deutung eines fehlenden offensichtlichen Musters unter den Juroren als Zeichen für 444

U. S. Bureau of Census (1974), S. 414.

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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„launen­hafte“ Entscheidungen und willkürliche Festlegungen nichts weiter als die von Arroganz geprägte Behauptung, dass das, was man nicht erkennt, auch nicht existiert. Und dies zur Grundlage von Verfassungsregeln zu machen, bedeutet, die Arroganz einer Elite dem Rest der Bürger als „Gesetz des Landes“ aufzubürden.

Die Auslegung der Verfassung Jenseits aller Fragen zur Weisheit, Wirkung und Effizienz rechtlicher Entscheidungen bezüglich freier Rede, Rassen, Kriminalität und sonstiger Anliegen von vitalem Interesse gibt es die übergreifende Frage nach der Rolle des Rechts, insbesondere nach „der Herrschaft des Rechts und nicht der Menschen“. Angesichts Jahrhunderte langem menschlichen Leid, Kampf und Blutvergießen, um der Tyran­ nei zu entkommen, dürfte die große Sorge, dass dieses Ideal untergraben oder umgangen werden könnte, kaum überraschen. Immer wieder mal war der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten das Zentrum heftiger Kontroversen. Nicht immer ging es dabei um die Verdienste einzelner Entscheidungen, sondern auch um die Sorge, dass er seine Rolle als Ausleger der Verfassung für eine Ausdehnung judizieller Politik nutzen könnte – und damit eine Gefahr für die Herrschaft des Rechts darstellte, die er ja eigentlich verkörpern soll. Derlei Befürchtungen reichen bis ins Jahr 1803 und dem Fall Marburg v. Madison zurück, der dem Obersten Gerichtshofs die Macht gab, die Gesetze des Kongresses für verfassungswidrig und damit für ungültig zu erklären. Später tauchten sie dann in solchen Fällen wie dem Dred-Scott-Urteil von 1857 wieder auf, oder 1930 in der Kontroverse um Roosevelts Strategie bei der Besetzung des Obersten Gerichtshofs („court packing“) oder 1954 im Fall Brown v. Board of Education. Die modernen Debatten um den Obersten Gerichtshof sind zwar nicht historisch einzigartig, aber einzigartig im Hinblick auf die Frequenz, Reichweite und anhaltende Verbitterung, mit der sie geführt werden. Ihren Ursprung haben sie in einer ganzen Reihe von Entscheidungen, die bis in alle einzelnen Adern des amerikanischen Lebens reichen. Einzigartig ist auch, dass die Mitstreiter des Warren-Gerichtshofs – vor allem in den Rechtsfakultäten des Landes  – die judizielle Politik als eine Funktion des Obersten Gerichtshof nicht nur hingenommen, sondern auch befürwortet haben und darauf drängen, dieselbe möge ihr Urteil über die Weisheit und Moralität im Handeln von Kongress und Präsident offener zum Ausdruck bringen, und zwar nach weit gefassten konstitutionellen „Werten“, statt nach strengen, expliziten Regeln der Verfassung.445 Die Themen, die in den Kontroversen zur Auslegung der Verfassung behandelt wurden, reichen weit über das amerikanische Rechtssystem hinaus und galten auch Fragen, welche die gesellschaftlichen Prozesse und die menschliche Freiheit ganz 445

Bickel (1962), S. 68: „Die verfassungsgemäße Aufgabe des Gerichts ist es, Werte festzulegen und Prinzipien zu verkünden.“ Siehe auch S. 27, 39, 48, 50, 58 und 71; Glennon / Nowak (1976), S. 227, 261.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

allgemein betreffen. Das Maß, in dem es zentralen Entscheidungsträgern möglich ist, die Folgen ihrer Entscheidungen in einem komplexen sozialen Prozess weise vorauszusehen und zu kontrollieren, wird von jenen, die den Gerichtshof kühn agieren sehen wollen, anders beurteilt als von jenen, die wollen, dass der Gerichtshof die Verfassung als ein Regelsystem begreift, an dessen Wortlaut er sich so genau wie möglich anzulehnen hat.446 Inwieweit man die jeweiligen Methoden für erstrebenswert hält, hängt auch davon ab, wem man mehr Wert beimisst: der Freiheit der vielen oder der Weisheit der Wenigen – wobei der Dünkel von Letzterem bereits ernsthaft in Frage gestellt wurde.447 Auch die Diskussionen, die wir eingangs dieses Kapitels geführt haben, werfen in dieser Hinsicht manche Frage auf. Zu guter Letzt haben die Urteile des Obersten Gerichtshofs mit ihren Inhalten die Haltung mancher Beobachter und Kritiker offensichtlich beeindruckt. E ­ inige Mitstreiter des Warren Courts haben dessen Kritiker pauschal als „Rassentrennungsbefürworter und Sicherheitsfanatiker“,448 „Militaristen“,449 „reaktionäre Interessenvertreter“,450 „Bigotte“451 oder „Bescheuerte“452 abgekanzelt. Historisch betrachtet haben die Widersacher einer ausufernden judiziellen Verfassungsauslegung schon allen politischen Lagern angehört. Im Zuge der Dred-Scott-Entscheidung gehörte auch Thaddeus Stevens dazu, einer der größten Fürsprecher für die Sache der Schwarzen.453 Sogar in unserer Zeit hat es vehemente Kritiker des Warren-Gerichtshofs gegeben, die sich bereits vor dem Fall Brown v. Board gegen die Rassentrennung gestellt hatten.454 Und als sich der Gerichtshof immer weiter in Richtung eines judiziellen Aktivismus bewegte, haben sogar einige seiner früheren Mitstreiter, wie z. B. Alexander Bickel, begonnen, die Grundidee in Frage zu stellen. Allerdings sahen sie sich alsbald jenem Spott455 ausgesetzt, den sie noch kurz vorher über andere ausgegossen hatten.456 Selbst ein engagierter Bürgerrechtsanwalt, der sich den Gefahren der in Mississippi herrschenden Gewalt ausgesetzt hatte,457 wurde als Verräter verunglimpft, als er später die Gemeinschaftsbusse in Frage stellte.458 Der Aufstand unter den Juristen zeigt dasselbe Muster wie auch die übrigen Formen des Aufbegehrens. Die Bausteine in der Verfassung, die der legalen Revolution des Warren-Gerichtshofs als Ausgangspunkt dienten, waren die Klausel zum „ordentlichen 446

Zur letztgenannten Sichtweise siehe Berger (1977), passim.  Siehe auch Kapitel 8 und 9, passim. 448 Bickel (1962), S. 46. 449 Warren (1977), S. 325. 450 Warren (1977), S. 330. 451 Warren (1977), S. 293. 452 Kluger (1976), S. 747. 453 Berger (1977), S. 222. 454 Berger (1977), S. 4. 455 Berger (1977), S. 322. 456 Bickel (1962), S. 46, 74 f. 457 Gemeint ist Derrick A. Bell. Siehe Meltsner (1973), S. 12. 458 Jones (1976), S. 29. 447

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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Prozess“ im fünften und vierzehnten Verfassungszusatz und die zum „gleichen Schutz“ im vierzehnten Verfassungszusatz. Jene, die für eine „strikte Einhaltung“ der Verfassung sind, unterstellen diesen technischen Rechtsphrasen begrenzte und sehr spezielle Bedeutungen,459 während die Befürworter des „judiziellen Aktivismus“ meinen, sie seien „so formuliert worden, damit sie wie ein Chamäleon passend zu den jeweiligen Stimmungen und Lagen ihre Farbe ändern können.“460 Judizieller Aktivismus Für judiziellen Freiraum bzw. Aktivismus bei der Auslegung der Verfassung sprechen drei Annahmen: (1) Die spezifische Anwendung der allgemein gehaltenen Verfassung erfordert per se Urteile, auch Werturteile.461 (2) Die ursprüngliche Bedeutung bzw. Absicht der Verfassungsklauseln ging mit der Zeit verloren oder war ohnehin nie im spezifischen Sinne gedacht worden.462 (3) Selbst wenn die ursprüngliche Bedeutung erkennbar ist, muss man sie nicht im Lichte späterer Erkenntnisse und Erfahrungen blind hinnehmen. (4) Gerichte sind besser als legislative oder exekutive Organe in der Lage, den moralischen Gehalt und die Konsequenzen allgemeiner gesellschaftlicher Prinzipien zu beurteilen.463 (5) Die Gerichte sind der „ungefährlichste Arm“ des Staates, weil es ihnen an der Macht des Geldes und der Waffen gebricht.464 (6) Die Gerichte sind die letzte Möglichkeit, soziale Ziele umzusetzen, die mit anderen Institutionen nicht erzielt werden können.465 Diese Behauptungen werden wir der Reihe nach betrachten. Schon aufgrund der Begrenzungen, denen die Sprache unterliegt, kann es bei der Auslegung von Regelsystemen, also auch der Verfassung, nicht ohne ein Mindestmaß an Beurteilung gehen. Ab und an braucht man Werturteile auch, um sehr knifflige Fälle oder Konflikte, die bei der Anwendung von Verfassungsbestimmungen auf Sonderfälle auftreten, zu lösen. Eigentlich streitet dies keines der Lager, die sich an der Kontroverse beteiligen, ab. Allerdings haben einige Befürworter des judiziellen Aktivismus „Literaten“ als Strohmänner gewonnen, die mit derlei „unwiderstehlichen Binsenweisheiten“ den „Bund fürs Leben“ eingegangen sind.466 Bestimmte Beiträge (Beurteilungen, Werturteile) zum Entscheidungsprozess sind manchmal inkrementell produktiv. Aber das bedeutet nicht, dass sie immer und generell kategorisch notwendig wären. Ein Berufungsgericht mag in einigen Fäl 459 Berger (1977), S. 18: „Wenn man darüber nachdenkt, was diese Begriffe für die Verfasser bedeutet haben, dann erkennt man, dass diese nichts Mysteriöses mit ihnen meinten.“ Siehe dort auch Kapitel 2, 10 und 11. 460 Berger (1977), S. 100, Anm. 461 Bickel (1962), S. 43, 48, 58, 68, 71. 462 Bickel (1962), S. 15, 49, 93, 103 f. 463 Bickel (1962), S. 33. 464 Bickel (1962), Kapitel 5. 465 Meltsner (1973), S. 25 f. 466 Bickel (1962), S. 75.

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len genötigt sein, auf derlei Beiträge zurückzugreifen, aber das heißt noch lange nicht, dass der Oberste Gerichtshof ein allgemeines Mandat hätte, eigene Prinzipien, die er für „vernünftig“ hält oder „im Geiste der Verfassung“ wähnt, zu „entwickeln und anzuwenden.“467 Auch wenn es von dieser Sichtweise heißt, sie gehe mit der Zeit, so ist sie doch recht alt. Derlei Ideen wurden schon im 19. Jahrhundert aufgestellt – und abgelehnt. Der Oberste Gerichtshof befand 1873, dass „vage Vorstellungen vom Geiste der Verfassung“ keine Grundlage böten, auf der man „Gesetze, die mit diesen Vorstellungen über kreuz liegen“, für ungültig erklären könne. Der „Geist“ einer Verfassung, so hieß es weiter, „ist für die Anwendung bei Gericht zu abstrakt, zu wenig nahbar und als Grundlage einer richterlichen Entscheidung, welche die Gesetzgebung des Kongresses für ungültig erklärt, viel zu unsicher.“468 Die Idee, statt der Regeln den Geist oder die Werte anzuwenden, ist nicht neu. Neu ist indes, wie weit man der Tendenz, so zu verfahren, nachgegeben hat. Wir haben es mit einem logisch ungültigen Schluss zu tun, dem zufolge das, was hier und da autorisiert, gerechtfertigt oder nützlich ist, auf eine allgemeine Regel schließen lässt. Es ist so, als ob ein Argument für die Existenz einer rechtfertigbaren Tötung als rechtliche Kategorie beweisen würde, dass Gesetze gegen vorsätzlichen Mord unnötig wären. Das oben genannte Argument, dass der Oberste Gerichtshof die ursprüngliche Bedeutung der Verfassungsregeln aufgeben solle, wird oft um die Behauptung ergänzt, dass er die ursprüngliche Bedeutung jener Regeln nicht befolgen könne, weil sie zu vage und ungenau oder im Laufe der Geschichte auf der Strecke geblieben sei. Allerdings gibt es Bände voller detaillierter und wortgetreuer Aufzeichnungen von den Debatten, die der Annahme der Verfassung und diverser Verfassungszusätze vorausgegangen sind. Dass es an historischem Material mangeln würde, ist also nicht wirklich ein Problem. Die Schwierigkeit, die ursprüngliche Bedeutung oder Absicht der Verfassung zu ergründen, löst oft das aus, was man den „Präzisionsfehlschluss“ nennt – die Gewohnheit, einen Präzisionsgrad als notwendig festzulegen, der für die anstehende Entscheidung eigentlich zu hoch ist. Letzten Endes kann man keinen Präzisionsgrad angeben – ob in Worten oder Zahlen –, den man nicht als unangemessen erachten könnte, indem man einfach erklärt, einen höheren Grad an Präzision zu fordern. Wenn jemand die Distanz zwischen dem Washingtoner Monument und dem Eiffelturm bis auf eine Zehntelmeile akkurat vermisst, dann kann man die Angabe als unpräzise zurückweisen, indem man einfach Angaben in Zoll fordert, und wenn sie in Zoll sind, in Zentimetern usw. ad infinitum. Andererseits kann uns die vage Angabe eines Arbeitgebers, in der er eine Vermittlungsagentur darum bittet, ihm einen „großen“ Arbeiter zu schicken, ausreichen, um sagen zu können, die Agentur habe seine Anfrage falsch verstanden, wenn sie ihm jemanden schickt, der 1,30 Meter groß ist. Die Vagheit von „groß“ kann unendliche Diskussionen darüber auslösen, ob Männer ab 1,80 Meter oder 467 468

Bickel (1962), S. 55. Hepburn v. Griswold, 75 U. S. 603 (1869), S. 638.

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erst ab 1,86 Meter gemeint sind. Wenn aber, wie im vorliegenden Fall, der Mann nach allen gängigen Standards als „klein“ anzusehen ist, dann führt uns die Vagheit an dieser Stelle nicht weiter. Der Präzisionsfehlschluss wird oft polemisch verwendet. So warf z. B. ein Befürworter der Sklaverei einmal die Frage auf, wo genau die Linie zwischen Freiheit und unfreiwilliger Dienstbarkeit liege, und führte dann als Beispiel geschiedene Ehemänner an, die arbeiten müssen, um die Alimente bezahlen zu können.469 So faszinierend die Fragen nach der Trennlinie auch sein mögen, für die zur Debatte stehende Angelegenheit haben sie kaum einen Nutzen. Egal, wo man im Hinblick auf die Freiheit die Trennlinie ziehen will, für jeden vernünftigen Menschen liegt die Sklaverei jenseits dieser Linie. In einem Spektrum, in dem eine Farbe graduell in eine andere übergeht, kann man gar keine Trennlinie ziehen – aber das hält uns nicht davon ab, rot von blau unterscheiden zu können (und auf das Zentrum ihrer jeweiligen Segmente des Spektrums zu zeigen). Wer argumentiert, bedeutsame Distinktionen würden Präzision notwendig machen, der begeht einen Präzisionsfehlschluss. Im Recht geht es nicht darum, präzise anzugeben, was in jedem erdenklichen Fall mit einem „ordentlichen Prozess“ und mit ähnlichen Ausdrücken, die in der Verfassung vorkommen, gemeint ist, sondern anzugeben, ob in einem vorliegenden Fall bestimmte Bedeutungen des Ausdrucks ausgeschlossen sind. Niemand kennt präzise die Ursprungsbedeutung der Grenzen, die das Verbot „grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung“ vorsieht – aber aufgrund der Geschichte ist klar, dass der Ausdruck nie die Ungesetzlichkeit der Todesstrafe meinte. Deshalb ist seine „Vagheit“470 auch kein unbeschriebenes Blatt, das stellvertretend für jedweden Standard steht, der den Richtern des Obersten Gerichtshofs zufälligerweise gefällt. Der Oberste Richter Earl Warren stößt ins selbe Horn, wenn er im Fall Brown v. Board of Education zum 14. Verfassungszusatz anmerkt, dieser sei im Verlaufe seiner Geschichte „im Hinblick auf nach Rassen getrennte Schulen“ von „uneindeutiger Natur“ gewesen.471 Damit verwechselte er den entscheidenden Punkt: Es gibt keinen Hinweis dafür, dass die Verfasser des Zusatzes die Absicht hegten, Rassentrennungen für ungesetzlich zu erklären, aber es gibt sehr viele Hinweise darauf, dass sozialpolitische Themen außerhalb der Reichweite des Verfassungszusatzes lagen.472 Dass wir nicht genau wissen, wo die Grenze des 14. Verfas­ sungszusatzes verläuft, heißt noch lange nicht, dass wir nicht wissen können, ob gewisse Dinge diesseits oder jenseits dieser Grenze liegen. Eine Grenzfrage zwischen Griechenland und Jugoslawien hält uns nicht davon ab, zu wissen, dass Athen in dem einen Land liegt, und Belgrad in dem anderen. Entschiedenheit bedeutet nicht Genauigkeit. 469

Phillips (1957), S. 160. Meltsner (1973), S. 269. 471 Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U. S. 483. 472 Berger (1977), S. 117–133. 470

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Der Präzisionsfehlschluss – die Verwechslung von Entschiedenheit und Genauigkeit – zieht sich durch die gesamte Literatur, die für den judiziellen Aktivismus plädiert. Der Verfassung fehle es an „Präzision“, sie sei nicht „exakt“,473 sondern „trüb“474 und von „mysteriösen Schleiern umhüllt.“475 Felix Frankfurter hatte, lange bevor er Mitglied am Obersten Gerichtshof wurde, die eigennützige Natur der „bequemen Vagheit“ bloßgestellt. Die Frage, die er stellte, war: „‚Bequem‘ für wen und zu welchem Zweck?“476 Aufrichtiger Agnostizismus mag dort, wo Unsicherheit herrscht, mit Vorsicht, Toleranz und Unentschlossenheit ein Bündnis eingehen, judizielle Bekenntnisse zum Agnostizismus hingegen sind in der Regel das Vorspiel zu einer revolutionären Veränderung in der Interpretation der Verfassung. Sogar Befürworter des judiziellen Aktivismus erkennen die judizielle Tendenz, „auf eine schlechte Bilanz der Gesetzgebung“ zurückzugreifen, um mit ihr eine Entschuldigung für die Neuauslegung des Rechts zu haben.477 Aus der Gesamtgeschichte kann man auch eine fiktive Rechtsgeschichte weben. So behauptet die Mehrheit der Obersten Richter im Fall Bakke, dass der Kongress bei der Abfassung des Bürgerrechtsgesetzes von 1964 die „umgekehrte Diskriminierung“ nicht bedacht hätte.478 Aber in den Aufzeichnungen kann man nachlesen, dass das Thema der umgekehrten Diskriminierung in den Debatten immer und immer wieder zur Sprache kam.479 Vieles, das man unter Bezug auf die Vagheit unternommen hat, richtete sich direkt gegen die Intentionen, die hinsichtlich jener Auslegungsfragen recht klar waren, mögen sie dies auch in anderer Hinsicht nicht gewesen sein. Derlei steht für jene Form des judiziellen Ansatzes, dem man „staatsmännische Verschlagenheit“480 und „Heuchelei“ vorwarf. Ein Mitstreiter des judiziellen Aktivismus hielt solche Taktiken für „unvermeidbar“.481 Ein Kritiker hielt sie für „Augenwischerei“482 und sah in ihnen „eine Verdrehung von Wahrheit und Nützlichkeit im Stile der Marxisten.“483 Grundlegender als die Frage nach der möglichen Ergründung der ursprünglichen Verfassungsabsichten und -bedeutungen ist die Frage, ob diese Absichten und Bedeutungen ergründet und als Regeln für die judiziellen Entscheidungen von heute befolgt werden sollten. Wer den judiziellen Aktivismus bewundert, der hebt die Notwendigkeit zur „Weiterentwicklung der Prinzipien im Rahmen der neuen Umstände“484 hervor, aber auch, dass die Verfassung „ein komplexer Freibrief des 473

Bickel (1962), S. 36. Berger (1977), S. 343. 475 Berger (1977), S. 368, Anm. 476 Berger (1977), S. 193, Anm. 477 Berger (1977), S. 387. 478 Regents of the University of California v. Allan Bakke, 46 U. S. Law Week 4896, S. 4934. 479 U. S. Equal Employment Opportunity Commission (1964), S. 3005 f., 3015, 3131, 3134, 3160 f. 480 Bickel (1962), S. 14. 481 Bickel (1962), S. 96. 482 Berger (1977), S. 244. 483 Berger (1977), S. 319. 484 Bickel (1962), S. 25. 474

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Herrschens [ist], der die unvorhersagbaren Eventualitäten der Zukunft im Auge hat“485 und an sich „eine Einladung zu Gegenwartsurteilen“486 sei. Die Verfasser der Verfassung „glaubten nicht an eine statische Welt“487 oder daran, dass die Verfassung „für immer und überall bindend“488 sei. Wir müssen „unserem eigenen vernünftigen und widerrufbaren Willen und nicht irgendeinem idealisierten Zwang unserer Vorfahren“489 folgen. Mithin müssen wir „die Verfassung aktualisieren“,490 damit „die Verfassung den Bedürfnissen der Zeit stets angepasst bleibt.“491 Die ursprünglichen Meinungen der Gestalter der Verfassung sind, so gesehen, reine „Artefakte der Verbalarchäologie“.492 Sie ernst zu nehmen, ist eine „liebedienerische Vorstellung.“493 Mit ihr würden wir es den Gründern der Republik erlauben, „uns aus ihren Gräbern heraus zu regieren.“494 Mit der Präzision ist es nicht anders als mit der Veränderung. Man legt einen großen Aufwand (und ein „Realismusgebahren“) an den Tag, um für etwas zu argumentieren, das im Hinblick auf die im vorliegenden Fall erzielte Schlussfolgerung sowohl offensichtlich als auch irrelevant ist. Für „Veränderung“ ganz allgemein zu argumentieren heißt, mit sich selbst zu reden. Keine Person, die bei gesundem Verstand ist, leugnet, dass es seit der Niederschrift der Verfassung Veränderungen gegeben hat. Die Frage ist: welche Art von Veränderungen? Sind sie technologischer, verbaler, philosophischer, geographischer, demographischer oder sonstiger Art? Und auf welche Weise genau ändert sich mit dieser Art welcher Baustein der Verfassung bzw. dessen Anwendung? Aktivisten scheuen solche Fragen. Gewiss gibt es technologische Veränderungen. Man denke nur an elektronische Abhörgeräte. Sie werfen auf eine Art Fragen zur konstitutionell verbrieften Privatheit auf, die von den Vätern der Verfassung nicht vorhergesehen wurden. Aber in den großen Kontroversen, die sich um den judiziellen Aktivismus des Warren-Gerichtshof ranken, geht es um Dinge, die seit Hunderten, ja Tausenden von Jahren Bestand haben – die Todesstrafe, getrenntes Leben der Rassen (das Wort „Ghetto“ stammt aus den Erfahrungen, die Juden Jahrhunderte lang gesammelt haben), die Inhaftierung von Kriminellen, die Macht der Bürokratie (sowohl das alte Rom als auch das alte China haben einen erdrückenden Bürokratismus entwickelt), das Verlegen von Wahlkreisbezirken, das unterschiedliche Gewichten der Wählerstimmen. In diesem Zusammenhang ist das ständige Wiederholen des Wortes „Veränderung“ kaum mehr als eine Zauberformel. Warum hätten die Urheber der Verfassung einen Kongress und Präsidenten als dekoratives Beiwerk ersinnen sollen, wenn 485

Bickel (1962), S. 35. Bickel (1962), S. 93. 487 Bickel (1962), S. 103. 488 Bickel (1962), S. 106. 489 Bickel (1962), S. 110. 490 Berger (1977), S. 282. 491 Berger (1977), S. 363, Anm. 492 Berger (1977), S. 288. 493 Berger (1977), S. 288. 494 Berger (1977), S. 314. 486

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sie der Meinung gewesen sind, dieselben hätten, sobald sie mit den aufkommenden Bedürfnissen der Nation in Berührung kommen würden, nichts zu tun? Zauberformeln zu den „Veränderungen“ können nicht die zentrale Frage, die jedem gesellschaftlichen Prozess eigen ist, übertönen. Diese fragt nicht, was zu tun sei, sondern: Wer entscheidet (unter welchen Anreizen und Beschränkungen), was zu tun ist? Diese Frage bildet das Herzstück der konstitutionellen Herrschaft, und kein noch so großes Beharren darauf, dass etwas getan werden müsse – oder dass etwas Neues getan werden müsse –, darf diesen Umstand verklären. Worte und „ursprüngliche Absichten“ sind als Beschränkungen wichtig – nicht als historische oder archäologische Artefakte, und auch nicht als fromme Reverenz an die Gründerväter. Wissenskosten sind dann, wenn man das „Gesetz des Landes“ durch eine große und heterogene Nation und von Generation zu Generation weitergibt, von entscheidender Bedeutung. Was die ursprüngliche Bedeutung der in der Verfassung gewählten Kombination aus Worten (im Vergleich zu alternativen Bedeutungen, die in einem Wörter- oder Grammatikbuch als Äquivalente verwendet würden) so anders macht, ist, dass jene Bedeutung in einem großen Netzwerk von Entscheidungsträgern dokumentiert, wiederholt, analysiert und verbreitet wurde und wichtige öffentliche und private Verpflichtungen im Rahmen dieser Bedeutung gemacht wurden. Manchmal müssen Rahmenwerke trotz riesiger Verluste geändert werden, aber die Frage ist, wer das wann und wie entscheidet. Soll dies durch gewählte Beamte geschehen, die den Rückmeldungen jener ausgesetzt sind, die den größten Teil der mit der Veränderung einhergehenden gesellschaftlichen Kosten tragen, oder soll es durch ernannte Richter vollzogen werden, die nur dem Einfluss bestimmter Sichtweisen ausgesetzt sind, denen sie nach Gutdünken (bekannt als „moralisches Gewissen“) folgen, während sie sich anderen Sichtweisen (bekannt als „Stimme des Volkes“) nach eigenem Gusto verschließen? Soll der Wechsel offen vollzogen werden, unter Abwägung der Vor- und Nachteile im Lichte allen Wissens und aller Erfahrungen, die – über die Menschen verstreut – gemacht wurden, oder soll er in einem verbalen Handstreich geschehen, der von neun einzelnen Personen auf Grundlage ihrer spärlichen Erfahrungen in den Hinterzimmern des Obersten Gerichtshofs beschlossen wird? So wichtig diese Dinge für die jeweiligen verfassungsrelevanten Entscheidungen auch sind, richtig folgenschwer sind sie erst, wenn man an die generelle Politik des judiziellen Aktivismus denkt, denn sie zieht nicht nur die einzelnen Gesetze, die von dem jeweiligen judiziellen Erlass abgeändert werden, sondern das gesamte Gesetzeswerk in Zweifel. Die Idee, „über dem Gesetz“ zu stehen, die mit dem judiziellen Aktivismus einhergeht, kann auch auf andere Staatsorgane überspringen, wie man anhand der WatergateGeschichte erkennen kann. Der innere Kreis um Nixon hatte sich die Rhetorik von einer „flexiblen“ Verfassung, die „im Lichte moderner Bedürfnisse“ zu verstehen sei, schon zu eigen gemacht.495 Der rechtsfreie Transfer der verfassungsgemäß beim Kongress liegenden Macht, Kriege zu erklären, an den Präsidenten – den man noch 495

Berger (1977), S. 329.

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während des Vietnamkriegs so heftig kritisiert hatte – lag auf derselben Linie. Die selektive Entrüstung der Presse und der Intellektuellen im Allgemeinen auf diese recht ähnlichen Machtergreifungen, die unterschiedlichen Zwecken dienten, sind Teil des Umfeldes, indem der judizielle Aktivismus aufblüht. Wenn man den Eindruck hat, dass es allein nicht reicht, vom Bedürfnis auf „Veränderung“ zur Behauptung überzugehen, dass die Gerichte die geborenen Vollstrecker der Veränderung seien, dann bringt man Argumente vor, wonach die Gerichte entweder die besten oder die einzig fähigen Staatsorgane zur Umsetzung der notwendigen gesellschaftlichen Veränderung sind. Nach diesem Ansatz ersetzt die gesellschaftliche Moral die expliziten Verfassungsregeln, wenn ein Gericht „Werturteile gemäß den breitgefassten Bestimmungen“ der Verfassung trifft.496 Dies wird als „prinzipiengeleiteter Prozess“497 der judiziellen Entscheidungsfindung verstanden, weil die Richter nicht einfach ihre Entscheidungen subjektiv oder ad hoc498 träfen, sondern einer allgemeinen Regel folgten, die man nicht im expliziten Wortlaut der Verfassung finde, wohl aber in der Gesellschaft entdecke. Selbst ein Richter wie Felix Frankfurter, dem man schon mal „judizielle Zurückhaltung“ attestierte, zeigt diese Haltung. Obwohl Richter Frankfurter die Vorstellung zurückwies, er würde „wie ein Kadi unter dem Baum sitzen und Recht nach seinem eigenen Ermessen sprechen,“ meinte er dennoch, dass er die „Meinung der Gesellschaft“ und nicht „seine private Meinung“ durchsetze. Außerdem sei die Meinung der Gesellschaft der relevante Standard, den „die Verfassung vorgesehen hat.“499 Frankfurter meinte, ein Richter solle – um ein Gespür für die sich entwickelnde Moral der Gesellschaft zu bekommen – „Antennen zur Registrierung von Gefühlen und Urteilen [haben], die sich der logischen oder gar quantitativen Überprüfung“500 entziehen. Gemäß dieser Vorstellung judizieller Einschränkungen, die Frankfurters früherer Rechtsreferendar Alexander Bickel erläuterte, beschränkt das Gericht, das von den expliziten Auflagen der niedergeschriebenen Verfassung befreit ist, sich selbst und erklärt sich zum Sprachrohr der sich entwickelnden Gesellschaftsmoral. Und indem es seine Erlasse verfügt, trifft es „Erfahrungsurteile“ über den Zustand der Gesellschaft.501 Es mag eigenartig klingen, dass eine Institution, die absichtlich von den Rückinformationen aus der Bevölkerung, welche die Legislative und Exekutive des Staates beschränken, abgekoppelt ist, sich dazu entscheiden sollte, sich selbst eben diese Schranken aufzuerlegen und sie an die Stelle der expliziten Beschränkungen der Verfassung zu setzen. Wie auch immer, für diese Argumentation gilt, was auch mit Blick auf die Präzision bzw. die „Veränderung“ gilt: Sie ist alles andere als geistreich. Das judiziell eingeschränkte Gericht bindet sich nicht selbst als Re 496

Bickel (1962), S. 48. Bickel (1962), S. 58. 498 Bickel (1962), S. 59. 499 Louisiana ex rel, Francis v. Resweber 329 U. S. 459 (1947), S. 471. 500 Zitiert nach Berger (1977), S. 261, Anm. 501 Bickel (1962), S. 57. 497

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aktion auf die allgemeine Öffentlichkeit; ganz und gar nicht. Man spricht zwar gelegentlich davon, dass der Oberste Gerichtshof „den Willen der Nation gegenüber dem lokalen Partikularismus vertritt.“502 Aber die Befürworter des judiziellen Aktivismus sprechen viel lieber davon, dass der Oberste Gerichtshof eine „Erziehungseinrichtung“,503 ein „Streiter für den Glauben“504 und ein „Meinungsführer, und nicht nur ein Meinungsfeststeller“505 sei. Kurzum, das Oberste Gericht ist die Vorhut des moralischen Wandels und kann auch dann noch handeln, wenn andere Staatsorgane, die von gewählten Beamten geleitet werden, von einer amorphen und irgendwie eingefärbten Größe namens politische „Realität“ eingeengt sind – eine Größe, die, neben anderen Dingen, die Verbesserung der Verfassung so schwierig macht. Was von all jenen hehren und vagen Phrasen übrigbleibt, ist, dass das Oberste Gericht Dinge verordnen kann, die der Wähler nicht will und die Verfassung nicht fordert, die aber in den Kreisen, auf die das Gericht hört, en vogue sind. Paradoxerweise hält man all dies für „demokratisch“: es sei, was die Menschen wollen würden, wollen sollen und letztlich wollen werden, auch wenn es schon mal „gegen die Mehrheit“ geht.506 Das Gericht soll sich sowohl vom Wort der Vergangenheit als auch von dem, was die Öffentlichkeit heute glaubt, fern halten und bei seinen Entscheidungen nach Prinzipien und nicht ad hoc verfahren.507 Mithin kann dieser Ansatz sowohl die Idee direkter, willkürlicher Ad-hoc-Regeln als auch die beschränkte Rolle des Verfassungsinterpreten mit staatsmännischer Ausgewogenheit von sich weisen. Es sagt wohl alles über diese Vision, wenn man bedenkt, wie einer ihrer eloquentesten Fürsprecher, Alexander Bickel, später, nachdem er sie einige Jahre in Aktion erlebt hatte, gegen sie Position bezogen hat.508 Anstatt die Freiheit des Gerichtshofs, die Geschehnisse zu gestalten, zu bejubeln, hielt der spätere Bickel es für eine „moralische Pflicht“, an der „manifesten Verfassung festzuhalten, es sei denn, sie wird durch einen Verbesserungsprozess verändert, den sie sich selbst vorgibt.“509 Judizielle Novellierungen durch „Interpretieren“ und „Erziehen“ der Gesellschaft waren nun nicht mehr Teil der Vision, und in der „wohlwollenden Quote“,510 mit der er früher sympathisiert hatte, sah er nun „einen Spalter der Gesellschaft und Schöpfer von Kasten“ und das „Schlechteste für die Rassenfrage“.511 Die Ereignisse rundum Watergate waren nur „der letzte Strohhalm“ einer „ergebnisorientierten“ Denkweise, die sich auf den Warren-Gerichtshof besann.512 502

Bickel (1962), S. 33. Bickel (1962), S. 33. 504 Bickel (1962), S. 70. 505 Bickel (1962), S. 239. 506 Bickel (1962), S. 16. 507 Bickel (1962), S. 43, 244. 508 Bickel (1975), S. 46. 509 Bickel (1975), S. 30. 510 Bickel (1975), S. 60. 511 Bickel (1975), S. 133. 512 Bickel (1975), S. 119 f. 503

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Ironischerweise sahen die Väter der Verfasser mit ihren viel geschmähten „ursprünglichen Intentionen“ die Probleme voraus, die den Wortverdrehern des 20. Jahrhunderts erst anhand leidvoller Erfahrungen klar wurden. Thomas ­Jefferson hielt die judiziell agierenden Richter für eine Truppe aus Pionieren und Bergarbeitern, die sich an die Grundlagen der amerikanischen Herrschaftsform513 machten und die Macht bei der Bundesregierung ansiedelten, weil man so „ihnen alles zu Füßen legen würde …“514 Ordentliches Gerichtsverfahren Die Verfassung der Vereinigten Staaten erklärt an zwei Stellen, dass keine Person „ohne ordentliches Gerichtsverfahren um Leben, Freiheit oder Eigentum gebracht“ werden dürfe; einmal durch den 5. Zusatzartikel seitens der Bundesregierung und ein anderes Mal durch den 14. Zusatzartikel seitens der Bundesstaatenregierungen. „Die Worte ‚ordentliches Gerichtsverfahren‘“, so Alexander Hamilton, „haben eine präzise technische Bedeutung und sind nur auf den Prozess und die Verfahren bei Gericht gemünzt; man kann sie nie auf einen Gesetzgebungsakt beziehen.“515 Die beiden schicksalsträchtigen Begriffe hatten ohnehin schon eine lange Geschichte im angelsächsischen Recht hinter sich, als sie zum ersten Mal in der amerikanischen Bill of Rights von 1791 Eingang fanden.516 Noch länger ist die Geschichte willkürlicher Macht – von Grundstücken, ja von Leben, die durch königliche oder kaiserliche Erlasse konfisziert wurden, und Köpfen, die auf Geheiß des Gebieters abgeschlagen wurden. Sie verleiht der Forderung, dass nur in vorherbestimmten Rechtsverfahren die Grundrechte von Individuen verhandelt werden dürfen, eine einzigartige Bedeutung. Hinter den Worten „ordentliches Gerichtsverfahren“ liegen somit Jahrhunderte des Streits und des Blutvergießens. Der erste Versuch, der in der Geschichte gemacht wurde, um dem „ordentlichen Gerichtsverfahren“ eine andere Bedeutung als die Einhaltung des Rechtswegs zu geben, fand 1857 im Fall Dred Scott statt. Der Oberste Gerichtshof erklärte, dass „ein Kongressbeschluss, der einen Bürger der Vereinigten Staaten um seine Freiheit oder sein Eigentum bringt, und zwar allein aufgrund der Tatsache, dass der Bürger, ohne gegen bestehendes Recht verstoßen zu haben, sich oder sein Eigentum in das Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten gebracht hat, wohl kaum als im Sinne eines ordentlichen Gerichtsverfahrens zu würdigen ist.“517 Es ging hier nicht darum, ob die regulären Verfahrensweisen im Sinne des Gesetzes gehand 513

Zitiert nach Kurland (1970), S. 56. Kurland (1970), S. 57. 515 Berger (1977), S. 194. 516 Berger (1977), S. 196, Anm.: „Die Worte ‚ordentliches Gerichtsverfahren‘ sollten zweifellos dieselbe Bedeutung wie die in der Magna Carta verwendeten Worte ‚durch das Gesetz des Landes‘ haben.“ Murray’s Lessee v. Hoboken Land Co., 59 U. S. 272 (1856). 517 Dred Scott v. Sanford, 60 U. S. 393 (1857). 514

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habt bzw. befolgt worden sind, sondern, ob die Gesetzgebung in ihrem Kern gültig war. In vielen ganz anders gelagerten Fällen wurde dann die Auseinandersetzung während der nächsten einhundert Jahre mit der Frage verknüpft, ob eine „prozedurales ordentliches Verfahren“ ausreiche oder ob der Oberste Gerichtshof auch auf ein „substanzielles ordentliches Verfahren“ achten solle – soll heißen: ob er die rechtmäßig verabschiedeten Gesetze und rechtmäßig eingerichteten judiziellen Verfahren auch nach ihrem Inhalt und deren Rechtsgültigkeit beurteilen solle. Die erste judiziell aktivistische Interpretation in der Geschichte des „ordentlichen Gerichtsverfahrens“, die forderte, dass der Oberste Gerichtshof seine Zustimmung auch zum Inhalt, zur Substanz einer rechtmäßig vonstattengegangenen Gesetzgebung geben sollte, findet man im Fall Dred Scott. Im besagten Fall erklärte man, dass Eigentum – gemeint war das Eigentum an einem Sklaven namens Dred Scott – ohne ordentliches Gerichtsverfahren konfiszieren würde, wenn man den Sklaven, der in ein Hoheitsgebiet gebracht worden war, in dem der Kongress die Sklaverei gemäß des Missouri-Kompromisses für ungesetzlich erklärt hatte, einfach freisetzen würde. Aus diesem Grund wurde entschieden, dass es verfassungswidrig wäre, ihn freizusetzen. Die einfache Annahme, dass judizieller Aktivismus stets auf der Seite dessen ist, was die heutigen Linksliberalen für moralisch und gesellschaftlich fortschrittlich halten, passt nicht so recht zur Geschichte der Klausel vom ordentlichen Gerichtsverfahren. Vorübergehend kam es zu einer kurzen Ruhepause der substanzorientierten Auslegung „ordentlicher Gerichtsverfahren“, nachdem der Oberste Gerichtshof 1873 es abgelehnt hatte, über die substanziellen Verdienste eines staatlich geschaffenen Schlachtmonopols in Louisiana zu befinden. Man berief sich darauf, dass eine Beurteilung solcher Verdienste „dieses Gericht zu einem Dauerzensor der bundesstaatlichen Gesetzgebung machen würde.“518 In dieser Phase widerstand man auch den Anstrengungen, mit denen man andernorts vergeblich den Obersten Gerichtshof dazu bringen wollte, die substanzielle Gerechtigkeit in den Entscheidungen der niederen Gerichtsbarkeit – oder auch „die Verdienste der Gesetzgebung, auf die man sich in den Entscheidungen berufen hatte“519 – zu überprüfen. Wie auch immer, keine 20 Jahre später erklärte 1887 ein neuer Oberster Gerichtshof, dass er auch über die „vorgetäuschten Tatsachen“ hinweg schauen würde, um „die Sache in ihrer Substanz“520 zu erkennen. Mit dem neuen Jahrhundert hat dann die Ära der „substanziellen ordentlichen Verfahren“ eingesetzt. In ihr hat der Oberste Gerichtshof wiederholt Gesetze zur Regulierung der Unternehmen und der Arbeitsbedingungen als verfassungswidrig aufgehoben. Das Zeitalter der „substanziellen ordentlichen Verfahren“ dauerte länger als die Ära des Warren-Gerichtshofs. Natürlich haben das die Befürworter des vom Warren-Gerichtshof ausgehenden Aktivismus im Nachhinein beklagt. 518

Slaughter-House Cases, 21 L. Ed. 394 (1873). Davidson v. New Orleans, 96 U. S. 97 (1877). 520 Mugler v. Kansas, 123 U. S. 623 (1887). 519

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Die Gerichte haben während der Ära der „substanziellen ordentlichen Verfah­ ren“  – ungefähr von 1905 bis 1937  – unter Eigentum nicht nur die physischen Objekte selbst verstanden, sondern auch die zu ihnen gehörenden Optionen. Sie erkannten, dass die Zerstörung solcher Optionen im Grunde dasselbe war wie die Konfiszierung des Eigentums – auch dann, wenn die physischen Objekte selbst weiterhin im Besitz der Eigentümer blieben. Wie zutreffend ihre ökonomischen Argumente nach wie vor sind, wird im Fall der mietpreisgebundenen Gebäude in New York City in besonders dramatischer Weise deutlich. Deren Wert ist oft bis ins Negative gesunken (man beachte, dass die Gebäude trotz Bußgelder aufgegeben wurde). Man hat den Vermietern viele Optionen genommen, den physischen Besitz indes überlassen. Umgekehrt haben Arbeiter, die kein physisches Eigentum besitzen, nichtsdestotrotz mehrere Optionen auf einen Arbeitsplatz. Der Oberste Gerichtshof erkannte in der Reduzierung dieser Optionen sogar einen Eigentumsentzug und damit einen Verstoß gegen die Verfassung.521 Die ökonomischen Argumente gelten hier in gleicher Weise wie im Fall von Betriebseigentum, weil es im Grunde um dasselbe Prinzip geht. Eigentumsrechte sind im Grunde Optionen und keine physischen Objekte. Im Hinblick auf die Verfassung war jedoch die Frage zur Rolle des Obersten Gerichtshofs während der Ära der „substanziellen ordentlichen Gerichtsverfahren“ bedeutsamer. Es ging darum, ob der Schutz des Eigentums nach dem fünften und vierzehnten Zusatzartikel verlangte, dass die Gerichte die Aufsicht über die wirtschaftliche Substanz der Gesetzgebung haben sollten. Kurz gesagt, das ökonomische Argument zeigt nur, dass in der Tat eine Konfiszierung von Eigentum vorlag. Die legale Frage aber ist, ob dies im Rahmen eines ordentlichen Verfahrens geschah. In den Urteilen, die später ergingen, lehnte man wirtschaftlich orientierte Verfahren, die „substanziell ordentlich“ ausgerichtet waren, ab und umging bzw. verweigerte die Konfiszierung von Eigentum. Die Urteile des Obersten Gerichtshofs nach 1937 zitieren demonstrativ Entscheidungen aus der ökonomisch geprägten Ära der „substanziellen ordentlichen Verfahren“, um zu zeigen, was man nicht tun würde.522 Paradoxerweise war es Richter William O. Douglas, ein führender judizieller Aktivist, der regelmäßig Stellungnahmen verfasste, in denen er die Verwendung von „ordnungspolitischen Vorstellungen“523 ablehnte und erklärte, dass „wir hier nicht als Über-Gesetzgeber sitzen, die über die Weisheit der Gesetzgeber zu befinden haben.“524 Wie paradox dies ist, zeigen zusätzliche Klauseln, in denen diese judizielle Einschränkung auf Bereiche wie „Wirtschafts- und Sozialprogramme“,525 „Geschäfts- und Arbeitsbe 521

Lochner v. New York, 198 U. S. 452 S. Ct. 539. Olsen v. Nebraska, 313 U. S. 236 (1941), S. 247; Lincoln Federal Labor Union v. Nor­ thwestern Iron & Metal Co., 335 U. S. 525 (1949), S. 535 ff.; Ferguson v. Skrupa, 372 U. S. 726 (1963), S. 729 ff.; Day-Brite Lightning, Inc. v. Missouri, 342 U. S. 421 (1952), S. 423; William­ son v. Lee Optical Co., 348 U. S. 483 (1955), S. 488; Griswold v. Connecticut, 381 U. S. 479 (1965), S. 482. 523 Olsen v. Nebraska, 313 U. S. 236 (1941), S. 247. 524 Day-Brite Lightning, Inc. v. Missouri, 342 U. S. 421 (1952), S. 423. 525 Olsen v. Nebraska, 313 U. S. 236 (1941), S. 247. 522

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ziehungen,“526 „geschäftliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Angelegenheiten“527 sowie „Bedingungen in Wirtschaft und Industrie“528 begrenzt war. Kurzum, der Oberste Gerichtshof schuf einen konstitutionellen Doppelstandard und hielt sich so die Last und politische Verantwortung für die linksliberale Gesetzgebung vom Hals, während er mit Pioniergeist einen neuen judiziellen Aktivismus im Strafrecht und Zivilrecht sowie dort, wo es um politische Macht ging, ausprobierte. Man setzte also ganz und gar kein Signal, die Substanz „ordentlicher Prozesse“ nur noch reduziert zu untersuchen, sondern markierte den Beginn einer noch nie da gewesenen Ausweitung von derlei substanziellen Angelegenheiten. „Ordentliches Verfahren“ wurde zum gängigen Begriff für Beschränkungen seitens des Bundes – sowohl unter Berufung auf die Verfassung als auch durch judizielle Extrapolierungen –, die den Gerichten und den Rechtsdurchsetzungsorganen in den Einzelstaaten auferlegt wurden,529 und dies unter Missachtung von Verfassung und 200 Jahren judizieller Interpretationen. Der Ausschluss von Beweisen,530 der Anspruch auf staatlich bezahlte Verteidiger,531 Einschränkungen beim Befragen von Verdächtigen,532 bei Durchsuchungsbefehlen533 und Geständnissen,534 ja selbst die Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen des Bezirks Columbia535 und die Nullifizierung des Anti-Verhütungsgesetzes in Connecticut536 – sie alle gründeten auf einem substanziellen und nicht auf einem prozeduralen „ordentlichen Gerichtsverfahren“. Beulen trug die Phrase vom „substanziellen ordentlichen Verfahren“ nur durch die judizielle Interpretation davon.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Zu den Tendenzen im amerikanischen Recht des 20. Jahrhunderts – insbesondere während der Warren-Ära – zählen (1) ein Anstieg des Umfangs an Gesetzen und Gerichtsverhandlungen im Allgemeinen, vor allem an solchen, die von Institutionen ausgingen, die von Rückinformationen abgekoppelt sind – also vornehmlich von Bundesbehörden und von den Rechtsorganen des Bundes, (2) eine veränderte Rolle der Berufungsgerichte, die, statt die Grenzen der Ermessungsräume anderer Institutionen festzulegen, nunmehr sich auf eine Zweiteinschätzung der substanziellen Entscheidungen jener Institutionen verlegten, und (3) eine Anwen 526

Day-Brite Lightning, Inc. v. Missouri, 342 U. S. 421 (1952), S. 423. Day-Brite Lightning, Inc. v. Missouri, 342 U. S. 421 (1952), S. 425. 528 Williamson v. Lee Optical Co., 348 U. S. 483 (1955), S. 488. 529 Fleming (1975), S. 93; Berger (1977), Kapitel 8. 530 Mapp v. Ohio, 367 U. S. 643 (1961). 531 Gideon v. Wainright, 372 U. S. 335 (1963). 532 Escobido v. Illinois, 378 U. S. 748 (1964); Miranda v. Arizona, 348 U. S. 436 (1966). 533 Ker v. California, 374 U. S. 23 (1963). 534 Escobido v. Illinois, 378 U. S. 748 (1964); Miranda v. Arizona, 348 U. S. 436 (1966). 535 Bolling v. Sharpe, 347 U. S. 497 (1954). 536 Griswold v. Connecticut, 381 U. S. 479 (1965). 527

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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dung des Rechts, in der immer offener soziale Parteinahme anstelle tendenziöser Prinzipien bekundet wurde. Abkopplung von Rückmeldungen kann viele Formen annehmen, nicht zuletzt in Gestalt von Doppelzüngigkeit. Die Vorschriften des Bürgerrechtsgesetzes zur Gleichbehandlung werden von Behörden des Bundes so verdreht, dass in der Praxis Vorzugsbehandlungen herauskommen. Die Gesetze sehen drastische Strafen für Verbrechen vor, die weit über jenen liegen, die in Wirklichkeit verhängt werden. Ein „ergebnisorientierter“ Oberster Gerichtshof setzt „Auslegungen“ der Verfassung in die Welt, die selbst jene schockieren, die mit ihrer gesellschaftspolitischen Ausrichtung einverstanden sind. Auch wird Doppelzüngigkeit von anderen verlangt, z. B. wenn „Fördermaßnahmen“ Arbeitgeber dazu nötigen, sich der „Unternutzung“ von Minderheiten und Frauen schuldig zu bekennen und – in ihren „Zielvereinbarungen und Zeitplänen“ – zu versprechen, höhere Beschäftigungsraten zu erreichen, obwohl alle betroffenen Parteien wissen, dass dies unmöglich ist. Von der moralischen Frage einmal ganz abgesehen ist es so, dass Lehrmeinungen, die man nicht öffentlich diskutieren kann  – Quoten, judizielle Politik, Nichtdurchsetzung des Rechts –, nicht Gegenstand einer effektiven Kontrolle sein können. Ironischerweise hat die „ergebnisorientierte“ Rechtspolitik weitgehend institutionelle Zwischenergebnisse erzielt, weniger indes ihre sozialen Ziele. Die Berufungsgerichte haben anderen Institutionen erfolgreich ihren Willen aufgezwungen – Schulbehörden, Gerichten erster Instanz, Universitäten, Arbeitgebern –, ohne die erwarteten gesellschaftlichen Ziele zu erreichen. Trotz der zahllosen Kriminellen, die wegen technisch fehlerhafter Beweisführungen auf freien Fuß gesetzt wurden, haben wir keine Hinweise darauf, ob die Polizeipraktiken, die von den Gerichten angemahnt wurden, inzwischen abgeschafft oder auch nur minimiert wurden.537 Trotz aller kostspieligen und umstrittenen Prozeduren im Zuge der auferlegten „Förderquoten“ gibt es keine oder nur wenige Hinweise darauf, dass diese Maßnahmen die Schwarzen weiter gebracht hätten, als es ihnen ohnehin unter der bis dahin geltenden Politik der „Chancengleichheit“ möglich gewesen war.538 Trotz aller Verbitterung, die der Kontroverse um das gemeinsame Busfahren geschuldet ist, gibt es keinerlei Belege dafür, dass von den ergriffenen politischen Maßnahmen ein Gewinn sozialer, erzieherischer oder psychologischer Art ausgegangen wäre.539 Sogar die rein statistische „Integration“ wurde weitgehend durch das hohe Ausmaß der „Stadtflucht“ ausgeglichen, welche die Weißen in die Vorstädte ziehen ließ.540 Kurzum, schon oft hat die Opferung von Rechtsprinzipien zur Erreichung von „Ergebnissen“ sich als einseitige Güterabwägung herausgestellt, die im Sinne der bekundeten Ziele keinen gesellschaftlichen Nutzen abgeworfen hat. 537

Bivens v. Six Unknown Federal Narcotics Agents, 403 U. S. 388 (1971), S. 411. Smith / Welch (1978), S. 47–54; Ashenfelter (1974), S. 558; Sowell (1975b), S. 23. 539 Graglia (1976), S. 269, 276; Armor (1972), Armor (1973), Armor (1978b), S. 2; Langerton (1975), S. 3, 15 f. 540 Graglia (1976), S. 132; Armor (1978a). 538

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Dass wenig bis nichts erreicht wurde, heißt nicht, dass keine Kosten entstanden wären. Schon allein die finanziellen Kosten des gemeinsamen Bussystems, das ja nur das Schulwesen bedient, erreichen schnell die Höhe dreistelliger Millionenbeträge.541 Die dreistelligen Millionenbeträge für das Schließen vieler Schulen sind darin nicht eingerechnet.542 Hinzu kommen auch die sozialen Kosten durch eine zunehmende Feindseligkeit unter den Rassen543 sowie durch die Zerrüttung des gesellschaftlichen Lebens der Schulkinder und die nachlassende Mitwirkung der Eltern an den Schulen.544 Allein der Pflichtbericht zu den „Fördermaßnahmen“ kann dem Arbeitgeber sechsstellige Dollarbeträge abverlangen, von den Kosten der gedämpften Arbeitsmoral unter den Bediensteten545 und beschäftigten Weißen, aber auch unter den weiblichen und quotenbedingten Arbeitskräften, die den Gegenwind zu spüren bekommen, ganz zu schweigen. All dies ist kein Beweis für ein individuelles Verschulden oder eine besondere Form von Ignoranz in den Reihen der Berufungsgerichte und Bundesbehörden, die derlei Maßnahmen auferlegen. Vielmehr ist es ein Beleg für die inhärenten Grenzen solcher Institutionen und letztlich allen menschlichen Wissens, das es überhaupt geben kann. Die ausgefeilten und übergreifenden Netzwerke der Wissensvermittlung, die eine komplexe Gesellschaft mit all ihren Institutionen auszeichnet, belegen zweierlei: zum einen die weite Verbreitung aller relevanten Kenntnisse und zum anderen die hohen Kosten und der enorme Wert, den Vermittlung und Koordination dieser Kenntnisse darstellen. Wenn politische Institutionen  – vor allem solche, die von jeglichem Informationsrückfluss wirksam abgekoppelt sind – beständig die Entscheidungen anderer Institutionen und von Millionen von Individuen aufheben, dann bedeutet dies in der Praxis, dass sie unproduktive oder kontraproduktive Ergebnisse sichern. Das gilt auch im Hinblick auf ihre eigenen Präferenzen. Die in vielen Situationen gegebene sprichwörtliche Unmöglichkeit, entscheidendes Wissen vorab zu besitzen, hat eine Nachfrage nach Wissensersatz produziert – nach „Ergebnissen“ aus der Hand von „Experten“. Im Fall Brown v. Board of Education bezog sich der Oberste Richter Earl Warren vertraulich auf Ergebnisse psychologischer Forschungen, die „von heute führenden Autoritäten ihres Fachs reichlich gestützt werden.“546 Als maßgeblich zitierte er insbesondere eine Studie, die sich im Nachhinein als komplett falsch, wenn nicht sogar betrügerisch erwies.547 Sogar die Staatsanwälte, die diese Studie verwendet haben, waren untereinander skeptisch, und einer von ihnen sagte Jahre später: „Es kann sein,

541

Graglia (1976), S. 264. Graglia (1976), S. 264 f. 543 Graglia (1976), S. 276.  544 Glazer (1975), S. 104. 545 Siehe z. B. Adelson (1978), S. 23–29. 546 Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U. S. 483 (1954), S. 494. 547 Siehe z. B. Haag (1960) und Gregor (1963).  542

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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dass ich das Wort ‚Kikikram‘ verwendet habe …“548 Anders als andere Institutionen können Gerichte oft nicht zwischen (1) Meinungen, die unter Intellektuellen en vogue sind, und (2) empirischen Beweisen, die auf anerkannten analytischen Verfahrensmethoden gründen (wie beispielsweise das Durchführen von Ergebniskontrollen mithilfe anderer Variablen), unterscheiden. Beispielsweise strotzen die „Fördermaßnahmen“ nur so vor lauter Zahlen und Prozentangaben, die durch die Bank so gewichtige demografische Größen wie Altersdifferenzen übersehen, und in den Diskussionen zur Todesstrafe werden immer wieder wie ein Dogma die Ergebnisse einer längst überholten Studie zitiert, in der von „Todesstrafe“ im Sinne des Gesetzestextes gesprochen wird, und nicht gemäß der tatsächlichen Exekutionen. Wenn man all diese Dinge unter dem gewichtigen Begriff der „Expertise“ subsummiert, dann fügt man der Abkopplung vom Wissen aus erster Hand, das gern als die „Stimme des Volkes“ abgetan wird, noch die Selbsttäuschung hinzu. Die rein institutionellen, faktischen oder methodologischen Vergehen im Zuge legaler Entscheidungen können vielleicht gelegentliche Abweichungen erklären, aber kaum eine systematische Tendenz. Tendenz wäre auch nicht das treffende Wort, weil es eine Präferenz für ein bestimmtes Prinzip impliziert, wie z. B. die marxistische Präferenz für den Sozialismus oder die Vorliebe eines Abstinenzlers für nicht-alkoholische Getränke. Ein tendenziöses Gericht würde z. B. konsequent auf der Einhaltung besonders strenger Beweisstandards bestehen oder  – sofern es in die andere Richtung tendenziös wäre – eher niedrige Standards bei der Beweisführung akzeptieren. Die Gerichte haben aber weder das eine noch das andere getan. Sie haben für die Verurteilung bestimmter Klassen von Angeklagten extrem hohe Beweisführungsstandards verlangt, während sie von einem anderen Angeklagtentypus wollten, dass er seine Unschuld beweist. Das nennt man nicht prinzipienorientierte Tendenzen, sondern soziale Parteinahme. Ein Gericht, das an das Prinzip geglaubt hätte, ordentliche Gerichtsverfahren entweder nach dem „prozeduralen“ oder dem „substanziellen“ Gesichtspunkt durchzuführen, hätte wohl entweder dem einen oder dem anderen Modus folgen müssen oder – sofern es sich nicht so richtig hätte entschließen können – zwischen beiden hin und her schwanken müssen. Aber die Gerichte haben nichts dergleichen getan. Bei manchen Prozessparteien (z. B. bei Eigentümern) haben sie das prozedurale Prinzip angewendet, und bei anderen (z. B. bei Verbrechern) das substanzielle Prinzip. Ein Gericht, das aus prinzipiellen Gründen zur einen oder anderen Seite neigt, wenn es die Entscheidungen anderer Institutionen aufhebt, mag sich beständig zur einen oder anderen Seite neigen, aber die Beständigkeit des Obersten Gerichtshofs liegt nur darin, die eine Sorte von institutionellen Prozessen an andere (Bundesbehörden) weiterzuleiten und die andere Sorte (Gerichtsentscheide der Einzelstaaten, Wirtschaftsfragen) detailliert selbst zu kontrollieren und revidieren. Gerichte, die dem Prinzip, Menschen für die Konsequenzen ihres Handelns verantwortlich zu machen, entweder zu- oder abgeneigt sind, können diese oder 548

Kluger (1976), S. 555.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

jene Richtung einschlagen, aber nur sozial parteiische Gerichte würden, wenn es z. B. um „Produkthaftung“ geht, das Prinzip unverhältnismäßig stark auf Unternehmen549 anwenden und es extrem einschränken, wenn es darum geht, die Presse vor Verleumdungsklagen zu schützen.550 Als der Oberste Gerichtshof 1937 die Doktrin vom „substanziellen ordentlichen Verfahren“ in wirtschaftlichen Angelegenheiten demonstrativ zurückwies, hat er gleichzeitig in einem vorher nie dagewesenen Maße damit begonnen, die „ordentlichen Verfahren“ in Verbrechens-, Bürgerrechts- und Rassenfällen auf ihre substanzielle Natur hin zu überprüfen. Aus Sicht der Prinzipienabstimmung mag dies als eine Art „Einteilungsdenken“551 durchgehen, aber im Sinne sozialer Parteinahme ist es vollkommen schlüssig. Überhaupt gibt es eine erstaunliche Übereinstimmung an sozialer Parteinahme innerhalb der verschiedensten Bereiche, in denen inkonsistente Prinzipien am Werk sind. Die Zurückweisung der auf Wirtschaftsangelegenheiten bezogenen Form der substanziellen ordentlichen Verfahren bedeutete, dass man der linksliberalen Gesetzgebung und den Bundesbehörden freie Hand bei der Kontrolle von Geschäftsleuten ließ, ohne dass diese verfassungsmäßigen Bedenken, z. B. bei der Konfiszierung von Eigentum, allzu sehr judiziell nachgehen mussten. Laxe Beweisführungsverfahren – und die faktische Aufbürdung der Beweislast auf den Beschuldigten – erleichterten diese Politik zulasten derselben gesellschaftlichen Gruppe, einhergehend mit der judiziellen „Würdigung“ der Bundesbehörden, deren „Experten“ in kartellrechtlichen Fällen und Fragen der „Fördermaßnahmen“ mit ihren Ergebnissen aufwarteten. Den Resultaten, zu denen die niedere Gerichtsbarkeit mit ihren Richtern und Juroren gelangte, wurde nicht die Würdigung zuteil, die man den Ergebnissen der Verwaltungsbehörden entgegenbrachte, deren Mitarbeiter aufgrund ihres einseitigen Eifers für eine Sache ausgewählt wurden. Selbst die Beweise, die den Beklagten vor Gericht als schuldig überführten, reichten nicht, um eine Verurteilung vor dem Berufungsgericht aufrechtzuerhalten, falls irgendwelche neu geschaffenen und manchmal rückwirkend geltenden formalen Details nicht bedacht worden waren – auch dann nicht, wenn diese Detailangelegenheiten unter den Experten der Berufungsgerichte umstritten waren552 und mithin für den Streifenpolizisten kaum einleuchtend gewesen sein dürften. Das Problem sozialer Parteinahme liegt nicht einfach nur darin, dass bestimmte Gruppen ausgewählt und bevorteilt oder benachteiligt werden, sondern (1) in ihrer fehlenden Eignung, Teil des Rechtssystems zu sein, (2) in der Doppelzüngigkeit, die notwendig ist, um die Parteinahme in Gestalt von Rechtsprinzipien, die ebenso schnell wie unvorhersehbar kommen und gehen, aufrechtzuerhalten, und (3) in 549 Siehe z. B. Henningsen v. Bloomfield Motors, Inc., N. J. 358 A. 2d (1960); Collins v. Uni­ royal, 64 N. J. 260, 315A, 2d. 16 (1974). Siehe auch Henderson (1973). 550 New York Times Co, v. Sullivan, 376 U. S. 254 (1964). 551 Berger (1977), S. 303. 552 Fleming (1975), S. 123.

Kap. 9: Tendenzen im Rechtswesen

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der Ungewissheit und Demoralisierung, die eintritt, wenn das Rechtssystem nicht einen Rahmen bereitstellt, in dem das Wissen, das die Betroffenen am besten kennen, platziert und genutzt werden kann, sondern dauernd das Damoklesschwert einer Zweitmeinung über allem schweben lässt, was die Entscheidungsträger so handeln lässt, dass es den Außenstehenden am plausibelsten erscheint, und nicht so, wie es die gern sähen, die wirklich wissen, was am besten wäre. Selbst die Gruppen, die von der sozialen Parteinahme der Gerichte angeblich am meisten profitieren, verlieren als Mitglieder der Gesellschaft. Insofern geht es nicht nur einfach um judizielle Transfers von Vorteilen, sondern auch um viele politische Maßnahmen, die so kontraproduktiv sind, dass jeder verliert. Es dürfte für sich sprechen, wenn Schwarze in Umfragen gegen gemeinsame Buslinien oder „Vorzugsbehandlungen“ (Quoten) sind und erklären, das Gesetz gehe mit Kriminellen zu „nachlässig“ um.553 Trotzt der Neigung der Intellektuellen, „Experten“ und Gestalter der Politik, den Ablauf der Gesellschaft als eine Reihe von Angelegenheiten und Problemen zu sehen, die direkt aus einer letztlich einheitlichen Perspektive heraus zu lösen sind, liegt das wirkliche Problem darin, Entscheidungsspielräume in jenen gesellschaftlichen Prozessen anzusiedeln, die am ehesten in der Lage sind, die besonderen Problemstellungen, die in den mannigfachen Bereichen des menschlichen Lebens auftreten, aufzulösen. Die Vielfalt an Werten, die dieses Ziel wünschenswert macht, ist es auch, die das Erreichen dieses Ziel so schwer macht. Wer an höherer und einflussreicherer Stelle in den fernabgelegenen Institutionen sitzt, der sieht sich dauernd versucht, Ergebnisse vorzugeben, statt den Ermessenräumen der anderen Institutionen klare Grenzen zu setzen. Nichts ist leichter, als weitreichende Befugnisse mit tiefer Einsicht zu verwechseln. Aber jene mit der umfassenderen Macht sind schon fast definitionsgemäß am weitesten von jenem spezifischen Wissen entfernt, das man braucht, um entscheiden zu können und die Folgen der eigenen Entscheidungen zu kennen. Es gibt verschiedene Rückmeldungsmechanismen zur Eingrenzung der Fehlerauswirkungen, Abfederung der Voreingenommenheit unter den Mächtigen und zur Abhilfe gegen die grundsätzliche Unwissenheit einer sozialen „Expertise“. Diese Rückmeldemechanismen können formeller oder informeller Natur sein, sozialer, ökonomischer oder politischer Art. Ihre Effektivität variiert mit dem Ausmaß, in dem sie nicht nur Informationen vermitteln, sondern auch ein gewisses Maß an Nachdruck oder Zwang, der von jenen, deren Entscheidungen aufs Neue geprüft werden, nicht ignoriert werden kann. Im vertrauten Kreis der Familie oder in ähnlich intimen Beziehungen führt allein die Bedeutung der Beziehung dazu, dass man es sich gegenseitig leicht macht. Im Wirtschaftsleben, wo das Wohl und Wehe von den Kunden abhängt, wäre es töricht, die Präferenzen der Kunden zu ignorieren. Nur wenige könnten derlei sich erlauben oder gar überstehen. Politische Organisationen werden durch Wahlen begrenzt, aber für die Gerichte – und 553

Gallop Opinion Index, Juni 1978, Report 143, S. 23; Wattenberg (1974), S. 278.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

das heißt letzten Endes für den Obersten Gerichtshof – gelten nur die Beschränkungen, die der Geschichte und „einem gehörigen Respekt vor den Meinungen der Menschen“ geschuldet sind. Die Geschichte ist definitionsgemäß träge, und die Meinungen, die vor Gericht zählen, dürften sehr viel stärker eingeschränkt sein als die der Menschheit. Deshalb sind die Gerichte für „ergebnisorientierte“ Entscheidungen besonders ungeeignet. Ganz ändert verhält es sich, wenn es um prinzipielle Entscheidungen oder um die Festlegung der Ermessenspielräume anderer Institutionen geht. Die vergleichsweise geringe Flexibilität, die Gerichten eigen ist, ist ein Zugewinn, wenn Entscheidungen in Bereichen zu fällen sind, in denen wir nur wenig Flexibilität sehen wollen – gemeint sind Bereiche, in denen man mit der Sicherheit von Personen, Besitztümern und Freiheiten befasst ist. Indem die Gerichte sich über diese Bereiche hinauswagen, wagen sie sich dorthin, wo ihre institutionellen Vorteile nicht greifen. So wie die Legislative und die Exekutive der privaten Entscheidungsfindung Grenzen ziehen, so ziehen die Gerichte dem Staat und seinem Handeln Grenzen. Die Garantien der Verfassung behindern den Staat genau so, dass der Staat den Bürger nicht behindern kann. Die Regeln von Außenseitern zu nutzen, um die Einsichten und die Flexibilität der Eingeweihten ihrer Wirkung zu berauben, ist selbst als Sozialpolitik ein fragwürdiges Unterfangen, von der Verfassungsproblematik ganz zu schweigen. Wenn man ähnliches für den Obersten Gerichtshof vorschlüge, wenn auch nur ganz bescheiden in Form eines Ausschusses, der die Fälle vorab begutachtete, um für das Gericht die Flut an Arbeit einzudämmen, dann käme die institutionelle Notwendigkeit des Gerichts in einer Weise zum Ausdruck, die genau das auf den Punkt brächte, was der Gerichtshof mit seinen Entscheidungen den anderen Institutionen im Land angetan hat. In einem „an sich subjektiven“ Prozess554 mit „nicht greifbaren Faktoren“,555 die „eher eine Sache des ‚Empfindens‘ und keine Sache von präzis ermittelten Fakten“ sind556 und ein „heikles Wechselspiel aus Ermessensspielräumen“557 enthalten, wäre laut Richter Brennan die „Flexibilität verloren.“558 Tragischerweise scheint er dies offensichtlich für eine institutionelle Besonderheit des Obersten Gerichtshofs559 zu halten und nicht für eine allgegenwärtige Tatsache der Entscheidungsfindung an sich.

554

Brennan (1973), S. 481. Brennan (1973), S. 482. 556 Brennan (1973), S. 479. 557 Brennan (1973), S. 484. 558 Brennan (1973), S. 480. 559 Brennan (1973), S. 484. 555

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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Kapitel 10

Tendenzen in der Politik Zu den prominentesten politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts zählen (1) eine weltweite Zunahme der Staatstätigkeit in Größe und Umfang, (2) das Aufkommen einer ideologischen Politik und (3) die zunehmende politische Rolle der Intellektuellen. Abgesehen davon war es ein „amerikanisches Jahrhundert“ in dem Sinne, dass vor allem während der beiden Weltkriege und im Atomzeitalter die Rolle der Vereinigten Staaten auf der Weltbühne gewachsen ist. Das bedeutet nicht, dass die Ereignisse in der Welt einer amerikanischen Blaupause gefolgt oder gar insgesamt zum Vorteil der amerikanischen Interessen und Wünsche ausgefallen wären. Es bedeutet aber, dass das Schicksal der Vereinigten Staaten von welthistorischer Bedeutung und nicht nur national von Belang ist. Diese Entwicklung wollen wir hier näher betrachten, und zwar im Hinblick darauf, was sie für die effektive Nutzung des Wissens in gesellschaftlichen Prozessen bedeutet – aber auch im Hinblick auf die wohl noch wichtigere Frage, was sie für die Freiheit der Menschen bedeutet.

Größe und Umfang der Staatstätigkeit Größe Egal welchen Index man zugrunde legt, beinahe jeder zeigt, dass im letzten Jahrhundert überall in der westlichen Welt die Staatstätigkeit in Größe und Umfang all ihrer Aktivitäten und Befugnisse gewachsen ist. Dies gilt für alle Regierungsformen, aber insbesondere dort, wo ein Land von einer zentralen oder nationalen Regierung gelenkt wird. Bis zu Beginn des 1. Weltkriegs arbeiteten in den Vereinigten Staaten eine halbe Million öffentlich Bedienstete für die Bundesregierung. Inzwischen sind es jedoch sechsmal so viele.560 Doch diese Zahl untertreibt, was die Anzahl all derer angeht, die auf der Lohnliste des Bundes stehen, weil „die meisten Staatsaktivitäten von Arbeitern ausgeführt werden, die nicht in den Beschäftigtenstatistiken des Bundes aufgeführt sind“561  – Beschäftigte bei Unternehmen, die beim Staat unter Vertrag sind, oder deren Subunternehmen sowie Beschäftigte im Rahmen lokaler oder einzelstaatlicher Arbeitsmaßnahmen, die von Washington kontrolliert und finanziert werden. Hinzu kommt, dass „eine von vier Personen der US-Bevölkerung Arbeitslosenzuwendungen vom Staat erhält.“562 Gemeint sind Beihilfen, Arbeitslosengeld sowie die diverse Vorteile aus den unterschiedlichen Wohlfahrtsprogrammen. Die Ausgaben des Bundes waren 560

U. S. Bureau of the Census (1974), S. 1102. Freeman (1975), S. 5. 562 Freeman (1975), S. 6. 561

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2. Teil: Themen und Tendenzen

1975 doppelt so hoch wie 1965, und diese wiederum betrugen fast das Zweifache der Ausgaben von 1955.563 Vergleicht man diese Zahlen mit denen aus der Zeit vor dem New Deal, dann betrugen die Ausgaben 1975 das Hundertfache von dem, was 1925 anfiel.564 Davon abgesehen entspricht schon allein das Budget des Ministeriums für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt (HEW – Health, Education, and Welfare Department) ungefähr dem Haushalt, über den alle 50 Bundesstaaten zusammengenommen verfügen.565 Eines der Probleme beim Versuch, die Ausgaben des Bundes zu erfassen, liegt darin, dass die involvierten Summen – Milliarden von Dollars – so groß sind, dass sie für viele Bürger nicht vorstellbar sind. Um sich vor Augen zu führen, was eine Milliarde Dollars bedeutet, braucht man sich nur vorzustellen, dass eine Einrichtung jeden Tag seit Christi Geburt 1.000 USD ausgibt. Diese Ausgaben würden immer noch unter dem Betrag von einer Milliarde Dollars liegen.566 Nach knapp 2.000 Jahren hätte sie ca. 250 Millionen weniger als 1 Milliarde USD ausgegeben. Die staatlichen Einrichtungen geben allerdings nicht nur eine Milliarde USD jährlich aus, sondern viele Milliarden USD. Allein das HEW hat jährlich Ausgaben in Höhe von 182 Milliarden USD.567 Um eine Vergleichszahl von dem zu bekommen, was der Staat jährlich ausgibt, muss man sich vorstellen, er würde bereits seit Christi Geburt täglich eine halbe Million Dollars ausgeben. Nach 2.000 Jahren würde die Gesamtsumme ca. 70 % dessen betragen, was der Bund allein 1978 an Ausgaben tätigte. Die Staatstätigkeit hat an Größe zugenommen, nicht nur, weil der Staat mehr von dem getan hat, was er zu tun pflegt, sondern auch weil dieser den Umfang seiner Tätigkeiten ausgeweitet hat. Auf dem Gipfel dieser Entwicklung ist im 20. Jahrhundert ein neues Phänomen ans Tageslicht gekommen – der totalitäre Staat. Undemokratische, despotische und tyrannische Staaten hat es in der Geschichte immer schon gegeben, aber der totalitäre Staat ist mehr als das. Totalitarismus Es ist nicht einfach der Ursprung bzw. die Grundlage der politischen Macht, die den Totalitarismus definiert, auch nicht das Maß der Macht oder deren rücksichtslose Ausnutzung. Ein Tyrann ist nicht notwendiger ein Totalitarist. Es ist das politische Einhüllen menschlicher Aktivitäten im großen Stil – von intimen, persönlichen Beziehungen aufwärts bis hin zu weltanschaulichen Bekenntnissen –, 563

U. S. Bureau of Census (1976), S. 99; U. S. Bureau of Census (1975), S. 1105. U. S. Bureau of Census (1975), S. 1104. 565 The Beneficent Monster (1978), S. 28. 566 Bei 1.000 USD am Tag kommt man auf jährlich 365.000 USD, macht 365 Millionen USD nach 1.000 Jahren und 730 Millionen USD nach 2.000 Jahren. 1.000 Millionen sind bekanntlich 1 Milliarde, mithin sind 730 Millionen USD nicht ganz eine ¾- Milliarde USD. 567 The Beneficent Monster (1978), S. 28. 564

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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das den „Totalitarismus“ konstituiert. Der Begründer des Faschismus und Urheber des Begriffs „Totalitarismus“, Benito Mussolini, bringt es auf den Punkt: „Alles durch und für den Staat, aber nichts gegen den Staat oder jenseits von ihm.“568 Der Totalitarismus „erkennt das Individuum nur insoweit an, als dessen Interessen mit denen des Staates zusammenfallen.“ Nicht-staatliche Einrichtungen, ob formeller oder informeller Natur, haben keinen Platz. „Außer dem Staat selbst haben keinerlei Individuen, Gruppen, politische Parteien, Wirtschaftsverbände oder soziale Klassen zu existieren.“569 Es ist die Exklusion oder Unterdrückung autonomer Quellen der Orientierung, die den Totalitarismus charakterisiert. Ein Militärdiktator mag durch die Macht der Gewehre oder die gnadenlose Vernichtung des politischen Gegners an der Macht bleiben und sich dennoch wenig darum kümmern, wie die Kinder erzogen werden oder wie die Menschen es mit der Religion halten. Bevor das Christentum zur Staatsreligion wurde, herrschte überall im Römischen Reich religiöse Toleranz.570 Überhaupt gab es in jenem rassisch wie kulturell vielfältigen Reich seinerzeit ein hohes Maß an Toleranz, Nebeneinander und sozialer Mobilität.571 An diesem Scheideweg ging man mit der jüdisch-christlichen Religion deshalb hart ins Gericht, weil sie es ablehnte, andere Religionen, denen sie Götzenverehrung vorwarf, als Nachbarn zu dulden.572 Gleichwohl war das Römische Reich eine Autokratie, zeitweise auch eine Militärdiktatur, in welcher der Kaiser willkürlich über Leben und Tod der Massen wie auch der Aristokratie entschied. Totalitär war es dennoch nicht. Totalitäre Staaten haben Einblick in jeden noch so kleinen Winkel des Privatlebens der Massen und der Eliten. Die Kinder werden mit der offiziellen Ideologie indoktriniert. Man bringt ihnen bei, die Eltern an den Staat zu verraten und als Erwachsene in einer Atmosphäre zu leben, in der die intimsten Angelegenheiten der Kontrolle des Staates unterliegen. Dauernd lebt man in der Angst des gegenseitigen Verrats oder der staatlichen Vergeltung gegen die Liebsten oder einzelne Familienmitglieder, weil einer von ihnen etwas getan hat, das dem Staat missfällt. Auch Geschichte, Wissenschaft und Künste werden nun zum Gegenstand des politischen Kurses. Hitlers „anmaßende Pseudourteile über alles und jedes unter der Sonne“573 fanden ihr Gegenstück in Stalins kühnen Linguistikthesen und seiner verhängnisvollen Anordnung, die sowjetische Landwirtschaft möge Lysenkos Genetikthesen befolgen, sowie in Maos „Sprüchen“, die scheinbar auf alle Fragen des Lebens die richtige Antwort hatten. Es sind aber nicht der Ursprung oder die Hemmungslosigkeit der angewandten Macht allein, die den Totalitarismus definieren, sondern auch der nie dagewesene Umfang an Aktivitäten, die der staatlichen Kontrolle anheimfallen. 568

Zitiert nach Wolfe (1969), S. 162 Anm. Zitiert nach Wolfe (1969), S. 162 Anm. 570 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 25 f., 28, Band 2, S. 49, 464 f. 571 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 29–25, 240 f., 303, 945, Band 2, S. 79, 196, 885. 572 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 383–385, 409, 448. 573 Arendt (1973), S. 305. 569

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Ein Konzentrationslager ist die Endstufe im Totalitarismus. Die Politik legt hier auch die Routinen fest, wie Essen und Schlafen, aber auch die persönlichen Beziehungen (Entmenschlichung) und den Tod (Auslöschung). Vor dem Bürgerkrieg waren die Sklavenplantagen im Süden wie Konzentrationslager aufgebaut.574 Aber wegen des hauptsächlich unpolitischen Ziels der Gewinnerzielung mussten die Sklavenbesitzer ihren Sklaven mehr zugestehen, als die Lagerkommandanten ihren Lagerinsassen je eingeräumt hätten. Die Konzentrationslager der Nazis und Stalins waren wirtschaftlich weit weniger effizient als die totalitären Gesellschaften, zu denen sie gehörten.575 Aber aus politischen Gründen hielt man an ihnen fest. Sklavenplantagen waren gewinnträchtige Unternehmen.576 Aus sich heraus waren sie nur durch die Tatsache beschränkt, dass sie nicht beliebig weit gehen konnten, wenn sie die Quelle ihres Reichtums unterdrücken oder zerstören wollten. Inwieweit auch immer die beiden Organisationsformen sich moralisch entsprochen haben mögen, politisch wie auch ökonomisch waren sie nie gleichwertig. Eine einheitliche Ideologie ist für einen totalitären Staat wesentlich, und wenn auch nur aus dem Grund, dass die Organisationen in ihrer Vielzahl nicht zu sehr gegeneinander arbeiten, weil es sonst selbstzerstörerisch würde. Was die Absichten der totalitären Weltanschauung oder Propaganda angeht, so wird die Macht in den Dienst der Ideologie gestellt. Bedenkt man aber, wie leicht es den Nazifunktionären nach dem 2. Weltkrieg fiel, kommunistische Funktionäre zu werden, dann ist es auch möglich, die Ideologie in den Dienst der Macht zu stellen. Man kann sich eine totalitäre Staatsmacht schwerlich ohne einheitliche Ideologie vorstellen, und die Geschichte kennt keine Beispiele. Die jeweilige Ideologie mag eine Schöpfung des totalitären Führers sein, wie beispielsweise Hitlers Nationalsozialismus, oder in einer historischen Tradition stehen, wie der Marxismus. Aber auch dann, wenn letzteres der Fall ist, kann die Ideologie mehr einem Zweck als der Kontrolle dienen. Die Anhänger des Marxismus könnten – anders als die Nutzer des Marxismus – nie einen totalitären Staat auf die Beine stellen. Marx und Engels lehnten die Autokratie ab, vom Totalitarismus ganz zu schweigen.577 Die Pointe der proletarischen Revolution – gemeint ist eine Revolution von unten – lag ja gerade darin, dass die Revolution von oben eine post-revolutionäre Diktatur über das Proletariat bedeutete.578 Lenins Revolution von oben bestätigte Marxens Befürchtungen, aber Lenin fühlte sich nicht an die „ursprüngliche Bedeutung“ des Marxismus gebunden und legte Marx eigentlich neu aus, um das, was er tat, zu rechtfertigen.579

574

Elkins (1969). Arendt (1973), S. 305. 576 Conrad / Meyer (1958); Fogel / Engerman (1974), S. 59–106, 174, 184–190. 577 Sowell (1963).  578 Sowell (1963), S. 122 f.  579 Sowell (1963), S. 123. 575

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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Ideologie ist nicht nur ein Instrument oder Gut, das der Urheber für den Staat geschaffen hätte. Es ist auch ein Konsumgut für die Bevölkerung oder Teile von ihr. Bezeichnend für totalitäre Ideologien ist, dass sie (1) den Teufel zuordnen – den Juden, den Kapitalisten oder einer anderen Gruppe. Auf diese Weise scheint eine umfassende politische Lösung zu Problemen, die die Menschheit schon ewig plagt, in absehbarer Zeit machbar. Man muss nur die aggressive Gruppe herausschneiden und zurück bleibt ein gesunder politischer Körper. Bezeichnend ist (2), dass man die Weisheit zuordnet. Auf diese Weise erklärt man, warum diese wundersame Heilmethode so vielen Köpfen jahrhundertelang verborgen blieb und warum die Notwendigkeit bestand, über die demokratischen Institutionen und Überzeugungen hinweg zu entscheiden. Charakteristisch ist auch (3) eine einheitliche Werteskala, nach der die Prioritäten in den Aktivitätsfeldern des Menschen zu ordnen und „um jeden Preis“ umzusetzen sind, (4) die Annahme hinreichenden Wissens, um jedes erdenkliche Ziel zu erreichen, (5) die Dringlichkeit, das „Problem“ zu „lösen“ – was die Rücksichtslosigkeit zu einem kleineren Übel macht –, und (6) eine psychische Identifikation mit jenen Millionen von Menschen, deren Ansichten trotz alledem missachtet und deren Leben ohne Schuldempfinden für die Sache geopfert werden können. Schließlich muss die totalitäre Ideologie ein in sich geschlossenes System sein, das alternative Ansichten und Vorstellungen ausschließt, da diese – ungeachtet ihres Inhalts – per se einer einzigen totalitären Ideologie antithetisch gegenüberstehen. Daher ist es für eine totalitäre Ideologie entscheidend, dass sie Tatsachenfragen in Motivfragen verwandelt.580 Fakten sind eine Bedrohung, weil sie von der Ideologie unabhängig sind, und die Frage nach den Motiven dessen, der missliebige Fakten wiedergibt, ist eine kostengünstige Methode, Fakten loszuwerden. Man kann eine Ideologie als ein erkenntnissparendes Hilfsmittel betrachten, weil es komplexe empirische Daten mit ein paar einfachen und wohlbekannten Variablen erläutert. Es dürfte kaum überraschen, dass ideologische Erklärungen vor allem denen attraktiv erscheinen, die für alternatives Wissen hohe Kosten zu erwarten haben – die Unerfahren („die Jugend“) und die bis dato politisch Apathischen („die Massen“). Ein führender Experte auf dem Gebiet des Totalitarismus meinte einmal: „Für den Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland und der kommunistischen Bewegungen in Europa nach 1930 war charakteristisch, dass die meisten Mitglieder aus der Masse der offenkundig Indifferenten rekrutiert wurden, welche die anderen Parteien schon längst als zu apathisch oder zu dumm aufgegeben hatten.“581

Zur Idee der Ideologie als erkenntnissparendes Hilfsmittel gehört auch, dass es mit der Zeit zu Auflösungserscheinungen kommt, weil missliebige Informationen nun mal auffallen, bis schließlich der Punkt erreicht ist, an dem die Kosten dafür, 580 Arendt (1973), S. 385: Die totalitären Eliten „verwandeln jede Tatsachenaussage in eine Zweckerklärung.“ 581 Arendt (1973), S. 311.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

sie mit der Ideologie unter einen Hut zu bringen, so groß sind, dass es billiger ist, die Vision aufzugeben. Anfangs ist das Erklären komplexer Zusammenhänge mit einfachen und bekannten Größen recht günstig, aber mit der Zeit steigen die Kosten, weil immer kompliziertere Zusammenhänge zwischen den einfachen Größen und der zunehmend komplexer werdenden Wirklichkeit behauptet werden müssen – ungefähr so, wie die Flat Earth Society Phänomene wegerklären muss, die andere schon seit langem davon überzeugt haben, dass die Erde rund ist. Wenn man Theorien als Instrumente und nicht als wahrheitsgetreue Rekonstruktionen der Wirklichkeit begreift, dann ist die Bevorzugung der Theorie, die Erde sei rund, im Grunde ein Prozess der intellektuellen Einsparung. Die inkrementelle Investition in geringfügig komplexere Ausgangsthesen als die These, die Erde sei eine Scheibe, macht sich später bezahlt, weil man geringere intellektuelle Anstrengungen unternehmen muss, um die Ergebnisse mit den empirischen Beobachtungen unter einen Hut zu bringen. Es ist eine Frage der Kosteneffizienz und nicht eine nach der ultimativen und unveränderbaren Wahrheit. Für den in die Ideologie Eingeweihten mag indes das Festhalten an den einfachen Annahmen kostensparender sein, weil die Überprüfung ein sequentieller Prozess ist, dessen Gesamtkosten erst im Verlaufe der Zeit klar werden. Außerdem dürfte er auch mehr an der Macht interessiert sein, und weniger an den Erkenntnisvorteilen, die dem Totalitarismus zu entlocken sind – vielleicht wird er aber auch erst so mit der Zeit. Der Aspekt, die totalitäre Ideologie als Konsumgut zu sehen, ist ein wesentlicher Bestandteil des Phänomens. Die hypnotische Faszination und der Rausch, den Hitlers Anhänger während seiner Reden empfanden, war ein integraler Bestandteil des Nazitums. Bei den Kommunisten war die ideologische Vision – dass die „Unterdrückten dieser Welt eine neue Welt“ erschaffen – der Ersatz für ein fehlendes Rednergenie und im Hinblick auf die Intellektuellen auch weitaus effektiver. Das „intellektuelle Vergnügen“ und die „intellektuelle Seligkeit“ beim Lesen von Marxens Vision,582 das Gefühl der Offenbarung, wenn „das ganze Universum wie ein selbstgebasteltes Puzzle in seine Teile zerfällt und wie von Zauberhand mit einem Schlag zusammengefügt wird,“583 und der Schauer, als die „revolutionären Worte aus den Zeilen sprangen und mich mit unerhörter Kraft trafen,“584 – sie alle sind Teil der seelischen Labsal für die totale Hingebung, die für totalitäre Bewegungen kennzeichnend ist. Weil Marx und Engels die hohen Fixkosten für die Erschaffung einer Vision bereits bezahlt hatten, können die Marxisten unserer Tage ihre ideologischen Ergebnisse zu geringeren inkrementellen Kosten haben. Sie müssen nicht Hitlers Rednertalent haben, oder ein Gespür dafür, wie man menschliche Anfälligkeiten ausbeutet. Nur im Lichte solcher ideologischen Visionen kann man die „Geständnisse“ begreifen, die für nicht-existente Vergehen produziert wurden – nicht nur 582

Crossman (1949), S. 16. Crossman (1949), S. 19. 584 Crossman (1949), S. 125. 583

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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in sowjetischen Gerichtssälen, sondern auch von kommunistischen Bewegungen westlicher Demokratien; Bewegungen, die keine Handhabe zur Bestrafung ihrer Mitglieder haben. Der ideologische Kontext lässt die Eigenschaften einzelner Individuen klein erscheinen, wie man der Beschreibung eines internen „Parteiverfahrens“, das amerikanische Kommunisten in den 30er Jahren unter sich austrugen, entnehmen kann. „… [M]an musste in den Köpfen der Anwesenden ein lebendiges Bild der geknechteten Menschheit erzeugen  …  Schließlich wurde das Bild von der Welt, der Nation und der Nachbarschaft zu einem überzeugenden Drama des moralischen Kampfs, das jeden im Saal erfasst, verschmolzen. Diese Darbietung dauerte mehr als drei Stunden, aber sie pflanzte in den Herzen der Anwesenden einen neuen Sinn für die Realität, einen Sinn für den Menschen auf Erden … Dann gegen Abend wurden die Beschuldigungen gegen Ross erhoben … Dann kam der Moment für Ross, sich selbst zu verteidigen. Mir war gesagt worden, dass er Freunde instruiert hatte, für ihn auszusagen, aber er rief keinen auf. Er stand da und zitterte. Er versuchte zu reden, aber er fand keine Worte. Die Halle war mucksmäuschenstill. Die Schuld stand ihm in sein schwarzes Gesicht geschrieben. Seine Hand zitterte. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, klammerte sich an den Tisch. Seine Persönlichkeit, sein Selbstgefühl, sie waren wie ausgelöscht. Dennoch wäre er nicht so niedergeschlagen gewesen, hätte er nicht das Bild geteilt, das ihn zerschmettert hatte, jene gemeinsame Vorstellung, die uns alle verbindet. ‚Kameraden,‘ sagte er mit leiser, gebrochener Stimme, ‚ich bin in allen Punkten schuldig, in allen.‘ Seine Stimme überschlug sich, er schluchzte. Niemand schubste ihn, keiner quälte ihn, niemand drohte ihm. Er war frei und konnte die Halle verlassen, ohne einen der anderen Kommunisten je wieder zu sehen. Aber er wollte nicht. Er konnte nicht. Das Bild einer gemeinsamen Welt war in seine Seele eingetaucht und würde ihn nie mehr loslassen, bevor das Leben selbst von ihm ließe.“585

Andererseits war es auch die Hingebung an die ideologische Vision, die trotz aller Schrecken, die Lager und Sklavenarbeit bereithielten, Solschenizyn, Sacharow und die anderen Widersacher des Totalitarismus nicht davon abhalten konnte, ihr Schweigen zu brechen. Ironischerweise enthielt das erste Buch, das Marx und Engels 1843 gemeinsam schrieben, eine vernichtende Anklage gegen die Praxis, zuerst den individuellen Selbstrespekt und die Persönlichkeit zu brechen, um anschließend nach einem vorgefassten Plan ein neues menschliches Wesen zu erschaffen. Der Held in ihrer Novelle aus der Gegenwart hat auf diese Weise eine religiöse Konversion an einer Person vollzogen. Marx und Engels heben hervor, dass der Held zuvor mit einem „honigglatten Pfaffenfluch“ „sie vor sich selbst beschmutzen“ musste, damit sie für die von ihm offerierte Erlösung empfänglich würde.586 Die hochtrabenden Beweggründe seines Tuns waren einfach nur Tarnung für des Eiferers „Wollust an 585 586

Crossman (1949), S. 140 f. Marx / Engels (1972), S. 183 f.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

der Selbsterniedrigung des Menschen.“587 Marx hatte selbst im Zusammenhang mit der Politik keine Verwendung für die Idee der Indoktrination.588 „Geständnisse“ nicht-existenter Vergehen illustrieren ein weiteres Merkmal des Totalitarismus – die Idee der „politischen Wahrheit“. Nicht nur Menschen und Organisationen sind Gegenstand der totalen Kontrolle, sondern auch die Wahrheit. Hitlers wiederholt verwendete große Lüge und die unzähligen Klitterungen der offiziellen Geschichte (mit Ausradierungen in historischen Fotoaufnahmen) sind Teil einer Kontrollstrategie, die sich bis in kleinste Details hin erstreckt. Das geht über die politischen Lügen, die in den verschiedenen Politsystemen üblich sind, weit hinaus. Es ist ein monopolistisches Lügen, das alternative Informationsquellen ausschließt. Außerdem ist es ein Lügen aus Prinzip – oder vielmehr eine Philo­sophie, die das Gesagte vornehmlich als Instrument betrachtet, wodurch der eigentliche Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge verwischt oder als trivial und naiv angesehen wird.589 Politisch wahr ist, was immer den Interessen der Sache oder Bewegung dient. Von ethischen Fragen einmal abgesehen, gründet dieser Ansatz auf der Annahme von Allwissenheit, die für den Totalitarismus insgesamt von zentraler Bedeutung ist. Die philosophische Behauptung, dass Aussagen instrumentell seien, mag notwendig sein, reicht aber als Grundlage für ein Lügen aus Prinzip nicht aus. Es ist nicht die philosophische Behauptung, die für die Schlussfolgerung entscheidend ist. Entscheidend für dieselbe ist vielmehr die empirische Unterstellung, die inkrementellen Kosten (Allwissenheit) für eine Untergruppe der Gesellschaft (die „Führer“) lägen praktisch bei null. Selbst dann, wenn man es nur von der instrumentellen Warte aus betrachtet, ist die ethische Norm der Wahrheit eine kostensparende gesellschaftliche Institution für Menschen, für die Wissen kein freies Gut darstellt. Wenn dies für alle Menschen gilt, dann hat instrumentelles Lügen gesellschaftliche Kosten, die wohl kaum von den Vorteilen aufgewogen werden, die man sich vorstellen kann – ob nun für die Gesellschaft insgesamt oder nur für jene Untergruppe, die sich für dieses ganzheitliche Diskreditieren der Glaubwürdigkeit stark macht. Die Mutmaßungen weisen indes in eine andere Richtung. Die systemische Entwicklung der ethischen Normen, die Aufrichtigkeit verlangen und die man in den unterschiedlichsten und entlegensten Kulturen – in der Welt als auch in der Geschichte – antrifft, legen so etwas wie einen instrumentellen Wert der Wahrheit nahe. Ähnliche Moralnormen, die sich in dieser Hinsicht in der prähistorischen Phase der Menschheit gebildet haben, als unsere Spezies noch stärker voneinander separiert und fragmentiert war als heute, dürften wohl kaum das Ergebnis zufällig übereinstimmender philosophischer Intentionen sein, sondern eher das Resultat einer universell gemachten systemischen Erfahrung. Es fällt schon allein theoretisch schwer, sich eine Gesellschaft vorzustellen, die überleben könnte, wenn die 587

Marx / Engels (1972), S. 191. Marx / Engels (1959), S. 130. 589 Crossman (1949), S. 92–100. 588

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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Wahrheit ihrer Aussagen nicht wahrscheinlicher wäre als die Wahrheit solcher Aussagen, die ein Prozess hervorbrächte, der für die Wahrheit als Wert an sich blind wäre. Selbst totalitäre Staaten investieren, rein instrumentell gesehen, erheblich in die Herstellung von Wahrheit – Geheimpolizei und Folter eingeschlossen. Wenn man bei Aussagesätzen das Kriterium der empirischen Wahrheit durch das Kriterium der instrumentellen Konsequenzen ersetzt, dann bedeutet das noch lange nicht, dass man ein leichter handhabbares Kriterium gewonnen hätte. „Die Brauchbarkeit einer Ansicht ist selbst Ansichtssache. Sie ist genau so umstritten, ergebnisoffen und diskutierbar wie die Ansicht selbst.“590 Der ausufernde Umfang und die Willkürlichkeit der Annahme, man könne die instrumentellen Folgen bestimmter Worte und Taten zurückverfolgen, kann man mit Hilfe einer einfachen Frage erkennbar machen. Hätte irgendjemand die Folgen ahnen können, die ein gewisser italienischer Weltumsegler mit seiner Theorie hatte, er könne Indien auf der westlichen Seeroute erreichen – ein paar Worte und Taten, die zur Entdeckung der halben Welt führte und die Geschichte beider Hälften entscheidend prägte? Für den Totalitarismus ist es besonders ironisch, dass er an die Allwissenheit glaubte. Schließlich war es die totalitäre Unterdrückung, die jene zwei Männer aus Deutschland und Italien vertrieb, die Amerika während des 2. Weltkriegs die entscheidenden militärischen Waffen in die Hand gaben und das nukleare Zeitalter einläuteten – Albert Einstein und Enrico Fermi. Stellen wir uns einmal andererseits einen Menschen vor, der keine inkrementellen Erkenntniskosten hätte – jemand, der in der Lage wäre, selbst die entferntesten Auswirkungen all seiner Aussagen zu erfassen. Warum sollte er sich an die Norm der Wahrheitstreue gebunden fühlen – sei es aus Sicht seines eigenen Interesses oder aus dem der Menschheit, das er zur Handlungsschnur seines eigenen Tuns machen könnte? Wenn er mit Sicherheit wüsste, dass, A zu sagen, in seiner Netto­ bilanz (mit all seinen Folgen) für die Menschheit vorteilhafter wäre, als B zu sagen, wäre es dann nicht verblendet bzw. fetischistisch, wenn er aus Tradition B sagen würde? Wäre es nicht rücksichtslos von ihm, B zu sagen, nur um sein Gewissen zu beruhigen, wohlwissend, was dies Millionen von Menschen jetzt und in Zukunft kostet? Ich will damit nur sagen, dass für uns Menschen, sofern wir ganz andere Geschöpfe wären, womöglich auch ganz andere Prinzipien gölten. Praktisch bedeutet das, dass eine Wahl zwischen verschiedenen Prinzipien ein Wissen um die inhärenten Begrenzungen unserer Spezies und der sie umgebenden Umstände erfordert, nicht aber einen Vergleich mit dem, was in einer unbegrenzten Welt die beste Vorgehensweise wäre. Das instrumentelle Plädoyer für die Wahrheit ist auch ein instrumentelles Plädoyer für die menschlichen Einrichtungen im Allgemeinen – letztlich Erkenntniskosten, will sagen, die Unerreichbarkeit von Allwissen. Wir ziehen Gerichte dem lynchenden Mob vor, auch wenn wir in dem einen oder anderen Fall mit Sicherheit 590

Mill (1939), S. 966.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

wissen, dass der Beschuldigte schuldig ist und der Lynchmob genau dieselbe Strafe verhängen würde wie das Gericht. Instrumentell kann man den philosophischen Grundsatz, dass wir „das Recht nicht in die eigene Hand nehmen“, als die Aussage deuten, dass wir unabhängig davon, wie hoch die Gewissheit in einem bestimmten Fall auch sein mag, Rechtsorgane nicht durch kostensparende Hilfsmittel ersetzen können, weil wir nicht die gleiche Gewissheit für künftige Fälle voraussetzen können. Wenn wir mit Sicherheit (null inkrementelle Erkenntniskosten) in allen Fällen sagen könnten, wer schuldig ist, wäre es dann nicht verblendet bzw. fetischistisch, wenn wir aus Tradition heraus an unseren Rechtsorganen festhielten, um derlei Fälle zu entscheiden. Wenn wir wirklich in der Lage wären, alle Zustände – also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – gleichzeitig vor Augen zu haben, hätten wir dann überhaupt einen Grund für Institutionen? Warum sollten selbst dann, wenn einige dieser allwissenden Wesen asoziales Verhalten vorziehen würden, vorgehaltene Regeln (um solche handelt es sich ja im Falle von Institutionen) notwendig sein, um mit ihnen fertig zu werden, wenn die notwendigen Handlungen, um sie abzufertigen, ad hoc bestimmt werden könnten? Die potenziell asozialen Personen würden dies im Übrigen selbst wissen und somit abgeschreckt sein. Totalitäre Institutionen wären ein Widerspruch in sich, sollte die Kernannahme der Allwissenheit eine universalistische sein. Totalitäre Bewegungen und Institutionen gründen aber auf dem Glauben an unterschiedliche Erkenntniskosten (die dem Anführer oder der Doktrin einen großen Vorteil verschaffen) und an die Lüge als Einbahnstraße. Der instrumentelle Nutzen der Wahrheit, der in die andere Richtung zielt, wird in totalitären Nationen durch eine umfassende Kontrolle der Bevölkerung gewürdigt. Man überwacht die Wirksamkeit der Indoktrination und sortiert bzw. etikettiert die Bewohner nach ihrem gemutmaßten Nutzen für den Staat. All diese Verbesserungen sollen so wahrhaftig wie möglich sein, selbst in totalitären Staaten, in den nur gelogen wird. Die Wirtschaftsstatistiken der Sowjets gelten im Allgemeinen als technisch korrekt, wenn auch ihre Publizierung nur Selektives und Irreführendes enthält.591 Für die sowjetischen Entscheidungsträger ist es instrumentell schlicht und ergreifend wesentlich, auf die Wahrheit, soweit sie ihrer habhaft werden können, zurückzugreifen. Eine Vielzahl an Kopien von zwei unterschiedlichen Statistiken (eine richtige für den internen Gebrauch, eine falsche für den Rest der Welt) wären nicht machbar, schon allein wegen der Gefahr, dass bei der Vielzahl an Dubletten etwas durchsickern könnte. Das instrumentelle Plädoyer für die Wahrheit gründet letztlich auf derselben Annahme wie das instrumentelle Plädoyer für die menschlichen Einrichtungen im Allgemeinen und freie Institutionen im Besonderen. Weil wir nun mal nicht alle Folgen dessen, was wir tun oder sagen, kennen, müssen wir all unseren Glauben in bestimmte allgemeine oder systemische Prozesse (Moral, die Verfassung, die Familie usw.) legen, deren Legitimierung im Zuge jahrhundertelanger gesell-

591

Bergson (1953).

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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schaftlicher Erfahrung mehr Substanz gewonnen hat, als es irgendeine individuelle Offenlegung oder Äußerung vermag. Damit soll nicht gesagt sein, dass kein gesellschaftlicher Prozess jemals geändert oder abgelegt werden dürfte. Ganz im Gegenteil! Die Geschichte gesellschaftlicher Prozesse ist weitgehend eine Geschichte von Veränderungen – die für gewöhnlich auf sozialen Erfahrungen basieren, auch dann, wenn ihnen Einzelpersonen durch Offenlegung oder Artikulierung ihren Stempel aufgedrückt haben. Die entscheidende Frage lautet hier: Wer sollte über die Natur dieser Veränderungen entscheiden und welchen Anreizen und Beschränkungen sollte er dabei ausgesetzt sein? Ein dauerhafter Rahmen – Moralkanon oder Verfassung – schließt eine Änderung nicht aus, kann sie sogar erleichtern, weil er die Ängste nimmt, die sonst gern bei Reformen auftreten, wenn deren Auswirkungen in ihrer Gänze buchstäblich uneingeschränkt und unvorstellbar sind. Manche Länder können sich schneller ändern, weil sie bestimmte institutionelle Grenzen kennen, so wie manches Auto schneller fährt, weil es Bremsen hat. Die gesellschaftlichen und politischen Unterschiede zwischen den Vereinigten Staaten von heute und denen von vor 200 Jahren sind gewaltig, obschon sie sich alle im selben legalen und moralischen Rahmen bewegen. In totalitären Regimes kann es schneller zu Änderungen in der Personalgarnitur („Säuberungsaktionen“) oder in der Politik kommen, aber die festgelegten Zwecke all dieser Änderungen dürften im betroffenen Land die sozialen und politischen Verhältnisse weniger grundlegend ändern, als es in einer Demokratie oder in herkömmlichen autokratischen Systemen der Fall sein dürfte. Es dürfte gewiss schwerfallen, zu behaupten, die Sowjetunion sei heute politisch und sozial ganz anders als vor 50 Jahren, mindestens so anders, wie es die heutige USA im Vergleich zu den Vereinigten Staaten vor 50 Jahren gewesen sei. Allein die Änderung des Status der schwarzen amerikanischen Bevölkerung war dramatisch, hinzu kommen die veränderte Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft und die zahllosen Verlagerungen von gesellschaftlicher und politischer Macht, die es unter den verschiedenen Gruppierungen regionaler, wirtschaftlicher und philosophischer Provenienz gegeben hat. Wechsel ist eines der großen Versprechen, die totalitäre Bewegungen machen – sei es Hitlers „Neuordnung“, Mussolinis „Neubeginn der Geschichte“592 oder eine der vielen marxistisch-leninistisch-stalinistischen Versionen zum selben Thema. Anfänglich tiefgreifende Veränderungen der politischen Macht sind für Totalitarismen eigentlich charakteristisch. Aber egal, welche Kräfte und Absichten bei den einstigen Aufständischen am Werk sind, die systemischen Auswirkungen zielen auf den Erhalt der totalen Macht, selbst wenn dies zu Lasten der ursprünglichen Programmatik oder Ideologie geht. In der Regel folgte ab einem bestimmten Punkt eine Säuberungsaktion unter denen, die von jenem ursprünglichen Programm an­gelockt worden waren, das nach der Machtübernahme fallengelassen wurde. Hitlers Säuberungsaktion unter seinen Führern der SA (den Rebellen der ersten

592

Wolfe (1969), S. 162 Anm.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Stunde)593 und die von Stalin, der Trotzki (und viele andere) aus dem Weg räumte, sind Teil eines Musters, das für die Totalitarismen dieser Welt typisch ist. Obgleich man nationale Gefahren zur Rechtfertigung solcher Aktionen missbraucht hat, fanden sie meistens nach der Machtstabilisierung statt, als es bereits genug Hinweise (sowie Aussagen von Seiten des Regimes) gab, dass die Gefahr für das Regime schwand.594 Vielleicht markieren diese Ereignisse den Übergang einer totalitären Bewegung, die auf der Suche nach zweckgerichteter Macht ist, in eine Phase, in der die Macht selbst der Zweck ist. Zumindest für einige Segmente der totalitären Bewegungen, die ohne Fortune geblieben sind, dürfte klar sein, dass sie die Auswirkungen der Kräfte, die sie als Rebellen in Gang gesetzt hatten, nicht vorhersagen konnten. Konstitutionelle Demokratie Wie in Kapitel 5 erwähnt, kann ein Staat, dessen Gewaltenquelle die Demokratie ist, entweder Freiheit oder Tyrannei fördern. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts überall im amerikanischen Süden die Regierungen der Einzelstaaten vom Volk gewählt wurden, breiteten sich auch überall die Rassentrennungsgesetze aus. Zudem kam es zu einem nie dagewesenen Terror gegenüber der schwarzen Bevölkerung, und zwar sowohl diesseits wie jenseits der Gesetze. Im Gegensatz dazu wurden alle Personenrechte, die man im Volksmund „demokratische“ Rechte nennt, im England des 19. Jahrhunderts unter demokratisch gewählten Regierungen auf den Weg gebracht – das allgemeine Wahlrecht war eine Folge und keine Ursache dieser Entwicklung, die bis zur Magna Carta zurückreicht. Kurzum, trotz einer allgemeinen historischen Vereinigung von Freiheit und Demokratie, können beide Größen theoretisch voneinander unabhängig sein – was sie in der Praxis auch ab und an waren. Hitler kam beispielsweise auf einem demokratischen und verfassungsgemäßen Weg an die Macht. Man kann die Freiheit nicht per definitionem zu einem Teil der Demokratie machen. Der demokratische Prozess ist ein Modus der politischen Entscheidungsfindung. Freiheit kann es unter ihm oder anderen Modi geben. Dennoch gilt: Je autokratischer der Staat, desto mehr hängt die Freiheit vom Wohlwollen, Gleichmut und Unvermögen der Behörden ab. Sie kann flugs aufgehoben oder zurückgenommen werden, wenn sie die Autoritäten bzw. die bestehende Staatsform bedroht. Gleichwohl sieht man hinter der demokratischen Freiheit bezeichnenderweise eine praktische Angelegenheit – und / oder einen moralischen Grundsatz: Man kann sie schwer für den Großteil der Menschen wahren, wenn man sie nicht allen gewährt. Die demokratische Freiheit impliziert somit die Freiheit, dieselbe zu verwerfen und ihre Zerstörung zu befürworten und zu betreiben; so, wie es bei Hitlers Auf 593 594

Shirer (1960), S. 307 f. Arendt (1973), S. 390, Anm.

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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stieg in der Weimarer Republik der Fall. Kurzum, der institutionelle Übergang von der Freiheit zum Totalitarismus ist tendenziell eine Einbahnstraße, zumal der Despotismus kein allgemeines Recht auf Rückkehr zur Freiheit vorsieht. In der Geschichte findet der Übergang vom Despotismus zur Freiheit immer nach der Selbstzerstörung des Despotismus durch interne oder externe Kräfte statt, die der Despotismus selbst geweckt hat. Hitler ist das beste Beispiel. Die unmittelbaren inkrementellen Kosten für den Weg in den Totalitarismus sind indes asymmetrisch. Es ist leicht, die Freiheit aufzugeben, und schwer, sie zurückzugewinnen. Nur die allgemeine Schreckensvorstellung, die Freiheit zu verlieren, bringt uns dazu, diese künftigen Kosten in die Entscheidungsprozesse von heute einzubetten. Weltgeschichtlich ist die konstitutionelle Demokratie eine recht späte Entwicklung. Autokratische, aristokratische und dynastische Staatsformen kennt man schon seit vielen Jahrtausenden, aber das erste Mal in der Geschichte, dass die Regierung die Macht eines Landes freiwillig an eine andere Gruppe politischer Führer in Folge einer Volkswahl übergab, geschah 1800, als die Föderalisten die Macht an Jeffersons Demokratische Republikaner abtraten. Die konstitutionelle Demokratie ist eine neue – und freilich fragile – Regierungsform. Allerdings ist ihre Anziehungskraft so weitreichend, dass sogar einige totalitäre Regierungen sich ihren Anstrich geben, um zuhause und in der Fremde an Zustimmung zu gewinnen (oder zumindest die Kritiker zu beschwichtigen).595 Obwohl die Freiheit der konstitutionellen Demokratie vorangeht, sind doch beide in einer Form der Gewaltenteilung verwurzelt. Eine Verfassung schafft absichtlich, was in der Geschichte zufällig oder systemisch hier und da eintritt – wobei diese Form, die Entscheidungsgewalt zu teilen, eine Gruppierung von ihrer kompletten Dominanz abhält und dazu nötigt, das Volk zu umwerben. Unter solchen Umständen ist „selbst der Despotismus gezwungen, zu handeln und zu schachern.“ Und selbst ein absoluter Monarch ist dann gewillt, „mit lockeren Zügeln zu regieren, damit er überhaupt regieren kann …“596 Freiheit als Folge von Teilung gab es unter den Arabern bis zu deren Vereinigung unter Mohammed.597 Und religiöse Freiheit gab es unter den Völkern des Römischen Reiches schon lange vor dem Christentum, bis man schließlich deren Konversion erzwang. Ein großer Teil der Freiheit im kolonialen Amerika und den frühen Vereinigten Staaten war eine zufällige Freiheit, die ihren Ursprung schlicht der Vielfalt unter den lokalen Despotismen verdankte. Dieselben waren zu reich an Zahl und zu weit über das Land verteilt, um sich zu vereinigen oder gegenseitig zu überwältigen. Einer der führenden amerikanischen Historiker schrieb dazu: „In keiner der Kolonien gab es das, was man heute als ‚Pressefreiheit‘ kennt.“598 Auch die religiöse Freiheit war rar gesät. 1637 verabschiedete die Kolonie in der Bucht von Massachusetts „eine Anordnung, die 595

Pejovich (1976), S. 96. Burke (1961), S. 96. 597 Gibbon (o. J.), S. 65 ff. 598 Boorstin (1958), S. 329. 596

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2. Teil: Themen und Tendenzen

jedem verbot, sich in der Kolonie niederzulassen, ohne zuvor vom Magistrat eine Bestätigung seiner Gläubigkeit bekommen zu haben.“599 Ein Anführer der Puritaner erklärte, dass die Anhänger anderer Religionen „die Freiheit haben sollen, sich von uns fernzuhalten.“600 Die Verbannung von Roger Williams601 sowie die öffentlichen Auspeitschungen und brutalen Inhaftierungen der Quäker, die nach Massachusetts gekommen waren,602 beweisen, dass dies nicht nur so dahergesagt war. Massachusetts war auch kein Einzelfall und das Quäkertum nicht die einzige geächtete Religion. In der Spätphase des kolonialen Amerika war „der einzige Ort, an dem der katholische Ritus erlaubt war, Pennsylvania, und dies erst, nachdem der letzte Gouverneur seinen Protest eingelegt hatte.“603 Es war der „dezentralisierte Autoritarismus“, von dem „eine große Vielfalt an Meinungen“ ausging, nicht von der Toleranz als Prinzip, sondern von der „Existenz vieler Gemeinden innerhalb der Gesellschaft, die jede für sich ihren eigenen strengen Kanon der Orthodoxie hatte.“604 Die im Kolonialamerika systematisch entstandene Freiheit wurde später in der Verfassung der Vereinigten Staaten zur absichtlich bewahrten Freiheit. Die Verfassung vertraute auf die institutionelle Gewaltenteilung als Bewahrer der Freiheit, die einer zufälligen Gewaltenteilung entsprang. Sie war das gesellschaftliche Pendant zu einer zufälligen Mutation, die erhalten bleibt, weil sie sich als vorteilhaft erweist. Zusätzlich zur klassischen Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative verteilte die Verfassung die Gewalten auch auf Bund und Einzelstaaten – wobei die einzelstaatliche Macht in den meisten Bereichen die dominierende war und von der föderalen Macht nur dort übertrumpft wurde, wo es um zwischenstaatliche und internationale Angelegenheiten ging. Auf diese Weise entstanden genauso viele Machtzentren, wie es Bundesstaaten gab. Die bundesstaatlichen Rechte stehen, wie so viele andere Rechte auch, nicht vornehmlich im Dienste des aktuellen Rechteinhabers, sondern im Dienste eines größeren gesellschaftlichen Zwecks. Das dominierende Thema der Verfassung selbst sowie der Schriften ihrer Urheber war die Gefahr, die Macht könne sich in einer einzigen Entscheidungseinheit oder einiger weniger konzertiert agierender Entscheidungseinheiten konzentrieren. Was Madison das System der „gegensätzlichen und rivalisierenden Interessen“605 nannte, war ein Bauteil im amerikanischen Herrschaftssystem. Jeder der Gewalten wurden „die notwendigen verfassungsrechtlichen Mittel und persönlichen Motive zugestanden, um den Übergriffen der anderen Gewalten standzuhalten.“606 Man vertraute die Freiheit nicht der Sittlichkeit ihrer Anführer an, sondern deren widerstreitenden Antrieben. „Wer Ehrgeiz in Schach halten will, muss Ehr 599

Boorstin (1958), S. 7. Boorstin (1958), S. 7. 601 Boorstin (1958), S. 8. 602 Boorstin (1958), S. 37. 603 Roche (1969), S. 10. 604 Roche (1969), S. 41. 605 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 322. 606 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 321 f. 600

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geiz wecken.“607 Die Regierung sollte nicht Uneinigkeit säen, sondern bestehende Konflikte nutzen, die „in der Natur des Menschen lagen“, um die Freiheit zu bewahren.608 Man kann diesen Punkt leichter illustrieren, wenn man die Dinge umkehrt. Die Hinsicht, in der die Mehrheit der vereinigten Nation des kolonialen Amerika leicht identifizierbar war, war die Rasse. Gerade in diesem Bereich zeigte sich der Verlust der Freiheit in seiner extremen Form, nämlich der Sklaverei. Obwohl man weiß, wann die ersten Afrikaner nach Amerika verschifft wurden (1619), weiß man nicht, wann die Sklaverei begann, weil die ersten gefangengenommenen Afrikaner vertraglich verpflichtete Diener wurden. Weitaus mehr weiße Zeitgenossen wurden das damals auch.609 Aber für die Schwarzen entstand die Sklaverei genauso systematisch wie für die Weißen die Freiheit, und in beiden Fällen ratifizierte später das Rechtssystem, was längst beschlossene Sache war. Kurzum, die Verbindung zwischen Freiheit und ausgewogenen Gewalten zeigt sich sowohl in der Anwesenheit wie auch in der Abwesenheit der Freiheit im kolonialen Amerika. Mit der Zeit, und vor allem in diesem Jahrhundert, wurde die verfassungsgemäße Gewaltenteilung auf diversen Wegen unterwandert bzw. zerstört. Das absichtliche Bündeln der nach der Verfassung voneinander separierten Legislative, Exekutive und Judikative in Bundesbehörden ist nur einer dieser Wege, vielleicht der radikalste. Der Bürgerkrieg und seine Nachwehen ließ etliche Generationen unter der Konfrontation von Bund und Einzelstaaten leiden. Die Rechte der Einzelstaaten waren ausnahmslos mit rassischer Unterdrückung verknüpft, die zunehmend vom Bund abgelehnt wurde. Die Wahrung der historischen Gewaltenteilung hing von der Verfassungsauslegung eines Obersten Gerichtshofs ab, der antrat, um von der Machtkonzentration der Bundesregierung zu profitieren und die judizielle Gewalt auf Bereiche von Exekutive und Judikative auszudehnen. Außerdem erhielt die Bundesregierung allein durch ihr Wachstum neue Befugnisse, die weder in der Verfassung noch in irgendwelchen Statuten vorgesehen waren, aber mit der Verfügungsgewalt über große Geldsummen und wichtige Positionen sowie einem großen Ermessensspielraum bei der Umsetzung eines massiven und stets wachsenden Bergs an Gesetzen und Verordnungen einhergingen. Schließlich hat die Ideologisierung der Politik angesichts leidenschaftlich empfundener Notsituationen den Erhalt des konstitutionellen Rahmenwerks zu einer Sache von untergeordneter Bedeutung gemacht. All diese Wirkkräfte zusammen ergeben die moralischen und institutionellen Gründe für die Erosion der verfassungsgemäßen Gewaltenteilung. Wie wirkt sich das bloße Wachstum des Staates auf die konstitutionelle Demokratie bzw. Freiheit aus? Zunächst nimmt es Einfluss auf die Möglichkeiten der Bürger, den Staat in seinem Tun zu beaufsichtigen – aber auch auf Möglichkeiten ihrer gewählten Volksvertreter, die den beamteten Akteuren im weit entfernten Reich der Verwaltung, die über mehr Geld verfügen, als das Bruttosozialprodukt 607

Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 322. Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 79. 609 Jones (1960), S. 13, 32. 608

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vieler Länder umfasst, bei ihren Aktivitäten auf die Finger schauen wollen. Das Ausschusssystem des Kongresses versucht, mit dem Problem Schritt zu halten, indem es beide Häuser veranlasst, Teilgruppen zu bilden, die sich mit je einem Politikbereich näher befassen  – Bank- und Währungssystem, Militär, Beschäftigung usw. – und dann dem Senat und Repräsentantenhaus umfassend Bericht erstatten, damit die Einzelmitglieder ihre Stimmen entsprechend vergeben können. Da aber der Staat seine Aktivitäten so weit gestreut hat, muss jeder Senator bzw. Abgeordneter in so vielen Ausschüssen und Unterausschüssen mitwirken (manchmal 10 Unterausschüsse pro Senator610) und sich mit äußerst komplexen Materien befassen, dass keiner von ihnen alles gleichermaßen gut beherrschen kann. Dies wiederum bedeutet, dass politische Stellvertreter gezwungen sind, auf andere Stellvertreter zurückzugreifen – ihre Bürokräfte, deren Einfluss so um sich greift, dass man von ihnen als der Zweitgarnitur der Gesetzesmacher spricht.611 Die Zuarbeiter in den Ausschüssen sammeln nicht nur Tatsacheninformationen, sie beeinflussen auch Inhalt und Stoßrichtung der Gesetzgebung und schreiben die Vorlagen. Die hohen Erkenntniskosten geben auch den Lobbyisten der Interessengruppen ein stärkeres Gewicht. Ihr Anreiz liegt darin, sich in einem eng umrissenen und oftmals komplexen Feld gut auszukennen. Auch die Karrierebürokraten verdanken – ähnlich wie die Ausschussmitarbeiter und Lobbyisten – einen Großteil ihres Einflusses den hohen Erkenntniskosten. Sie verfassen die Vorschriften der Bundesbehörden. Allein 1975 füllten mehr als 60.000 Seiten den Bundesanzeiger (Federal Register) – dreimal mehr als noch 1970.612 Kurzum, steigende Erkenntniskosten sorgen dafür, dass die Regierung unterrepräsentiert ist. Außerdem sind da die hohen finanziellen Kosten der politischen Maßnahmen des Bundes, über die man hinsichtlich ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile gern diskutiert, ohne ihre Auswirkungen auf Größe und Gebaren des Staates zu bedenken. Beim Wachstum der Verwaltungsbehörden geht es nicht nur darum, dass ein Bereich des Staates wächst, der bestimmte Aufgaben wahrzunehmen hat. Es geht bei ihm auch um das Wachstum eines Sektors, der im Zuge seines ursprünglichen Mandats seine eigenen politischen Initiativen entwickelt, externe Wählerschichten erschließt und unentwegt die Grenzen seiner Aktivitäten und Vorteile weiter hinausschiebt. Es ist die Erschaffung einer externen Wählerschicht, die politisch entscheidend ist. Damit ist gemeint, dass ein Segment der Wählerschaft – zusätzlich zu den direkt zugeschanzten Vorteilen – den dauerhaften Vorteil hat, gemeinsam mit den Behörden zu wissen, wer die Nutznießer sind. Für dieses Wissen zahlt die besagte Wählerschicht weniger als der Durchschnittsbürger, der sein Wissen in Form von Geld oder auf andere Weise erwerben muss. All dies führt letztlich dazu, dass Förderprogramme, die mehr Kosten als Vorteile bringen, noch größer werden, weil die Erkenntniskosten für die erschaffene Wählerschicht und jene für die Öffentlichkeit unterschiedlich hoch sind. Angesichts dieser unterschiedlichen 610

Malbin (1976), S. 36. U. S. News (1977), S. 37; Scully (1977), S. 42. 612 Lilley / Miller (1977), S. 50. 611

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Erkenntniskosten kann man verstehen, dass sich zwischen 1950 und 1970 die Zahlungen des Staates an die Bauern verzehnfacht haben, obgleich sich die Anzahl der Bauernhöfe halbiert hat.613 Verständlich ist auch, dass für heftig kritisierte Programme, wie das zur urbanen Erneuerung, die Zuwendungen in weniger als 10 Jahren verdreifacht wurden,614 und die Ausgaben für den primären und sekundären Bildungssektor exponentiell stiegen, während sowohl die Zahl der Schüler als auch deren Leistungen sanken.615 Man kann sich schwer vorstellen, dass dergleichen in einer Welt ohne Erkenntniskosten oder mit gleichen Erkenntniskosten für bürokratische Wählerschicht und Wahlbevölkerung einträte. Die Erkenntniskostendifferenz wird auf vielfache Weise ausgenutzt. Eine Art ist, dass man bei politischen Innovationen zunächst versucht, „einen Fuß in die Tür“ zu bekommen. Die anfänglichen Einsätze sind so niedrig, dass sie bei der Opposition keine Ängste auslösen, denn solche Ängste würden als überzogen wahrgenommen und als außerirdisch abgekanzelt werden. Später, nachdem das öffentliche Interesse geschwunden ist oder sich anderen Dingen zugewendet hat, kann sich der Umfang der Innovation in wachsenden Geldbeträgen und / oder zunehmenden Befugnissen verfestigen. So begann z. B. das Ministerium für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt (HEW, Health, Education, and Welfare Department) mit einem Etat von 6 Milliarden USD. Mittlerweile beträgt er mehr als das 30-fache. Die Einkommensteuer erhob anfangs (1913) 6 % Steuern auf jährliche Einkommen ab einer Million USD. Inzwischen zahlt man bereits ab einem Jahreseinkommen von 2.000 USD höhere Steuerraten.616 Temporäres Verschweigen zahlt hohe politische Dividenden aus, weil es hohe Kosten – und unterschiedliche Kosten pro Nutzeneinheit – für die Öffentlichkeit gibt, die versucht, alle Programme laufend im Auge zu behalten. Die gebildeten Subventionen der staatlichen Programme werden gewohnheitsmäßig anfangs untertrieben, obwohl es offenkundig unmöglich ist, sie unbegrenzt zu verschweigen. Ein Behördenvertreter rechtfertigte sie einmal mit den Worten, dass dann, „wenn man die riesigen Kapitalbeträge vorab nennen würde, keine Regierung sie vorschlagen und kein Kongress ihnen zustimmen würde.“617 Mit anderen Worten, die Wähler wären nie dafür, wenn sie es wüssten. Dass es irgendwann einmal gewissermaßen zum „Allgemeinwissen“ gehört, hat für die politische Entscheidungsfindung keine praktische Bedeutung. Das „irgendwann“ liegt jenseits des Zeithorizonts der Amtsinhaber. Außerdem ist die „Allgemeinheit“, die um die Tatsachen weiß, erheblich kleiner als die Wählerschaft. Viele ökonomische Hilfsmittel und Buchhaltungstricks, die nichts anderes tun, als die Übermittlung des finanziellen Wissens an die Öffentlichkeit hinauszuzögern, hängen, um politisch effektiv zu sein, von den Unterschieden ab, die es zwi 613

Wilson (1975b), S. 92. Wilson (1975b), S. 92. 615 U. S. News (1978), S. 51. 616 U. S. Bureau of the Census (1974), S. 1111. 617 Mayer (1978), S. 417. 614

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schen den Erkenntniskosten der Öffentlichkeit und denen der „Mitwisser“ gibt. Eines dieser Hilfsmittel ist schlicht falsch als „Darlehen“ etikettiert, weil niemand erwartet, dass es zurückgezahlt wird. Dabei kann es sich um „Darlehen“ für Individuen, Unternehmen, Gemeinden oder Nationen bzw. internationale Organisationen handeln. Für derlei Verschleierungszwecke sind „Darlehensgarantien“ noch besser geeignet. Sowohl die Bundesregierung als auch der Empfänger erklären kühn (und ohne unmittelbaren Widerspruch befürchten zu müssen), dass es sich nicht um ein „Geldgeschenk“, sondern um eine freundliche Behördenleihgabe zur Einwerbung privater Bankdarlehen gehe. Jedem Beteiligten dürfte klar sein – wie im Falle der Darlehensgarantien des Bundes für die Stadt New York –, dass es keine vernünftigen Hoffnungen auf Rückzahlung des privaten Darlehens gibt. Die Banken werden das Geld bei Gelegenheit vom Finanzministerium zurückbekommen. In der Zwischenzeit wird es nirgends in den Büchern als Ausgabe oder (ökonomische oder politische) Verbindlichkeit der amtierenden Regierung erscheinen. Das ist kein neues Phänomen in der Geschichte. Es war lange Zeit gang und gäbe bei der Defizitfinanzierung der italienischen Städte durch die Zentralregierung in Rom.618 In Amerika ist seine politische Akzeptanz vergleichsweise neu, weil zuvor ein starker, allgemein verbreiteter, wenn auch unausgesprochener Argwohn gegen jede Form von Subvention dominierte. Als es jedoch zur Pflicht wurde, jede eingenommene Haltung rational zu begründen, stand der Öffentlichkeit derlei politischer Schutz zu niedrigen Kosten nicht mehr länger zur Verfügung. Die politischen Vorteile, die den „Mitwissern“ durch den Zugang zum aufgescho­ benen Wissen erwuchsen, lassen sich zwar besser in Gestalt ökonomischer Größen erkennen, aber das Prinzip, das in den nicht-politischen Bereichen galt, war dasselbe. Man kann „Frieden in unserer Zeit“ herstellen, so wie es der britische Premierminister Neville Chamberlain 1938 tat, wobei sich die Kosten erst später manifestieren – im Falle Chamberlains allerdings nicht mehr rechtzeitig, um seiner Karriere etwas anhaben zu können. Das japanische Militär erzielte in Pearl Harbour und Bataan erhebende Erfolge, deren Kosten letztendlich in Hiroshima und Nagasaki bezahlt wurden. Mit einer Reihe von deutschen Triumpfen löste Hitler seinerzeit in ähnlicher Weise eine große nationale Begeisterung aus, deren Kosten sich später in der Zerstörung deutscher Städte zeigten, die mithilfe einer prä­nuklearen Technik noch verheerender ausfiel als jene in Hiroshima und Nagasaki. Es ist nicht so, dass Tojo und Hitler sich verkalkuliert hätten. Vielmehr gingen sie kalkulierte Risiken ein, deren Größe (Kosten) ihre Völker in der Phase der Entscheidungsfindung nicht hinreichend erkannt haben. Politisch erfolgreiche Kostenverschleierungen gibt es im Übrigen in Hülle und Fülle. Es gab schon immer, wenn auch im kleineren Stil und auf andere Weise, gesellschaftliche Experimente, die den Mitstreitern unmittelbar politische Vorteile einbrachten und Kosten aufwarfen, die erst viel später sichtbar zu Tage traten.

618

Wall Street Journal (1978), S. 6.

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Die klassische Kritik am Wachstum des Staates ist, dass er sowohl die Effizienz als auch die Freiheit bedrohe – dass er „Der Weg zur Knechtschaft“619 sei. Während es viele Ineffizienzen des Staates gibt, die zu eklatant sind, um verschwiegen zu werden, wurde die Bedrohung der Freiheit durch zu viel Staatstätigkeit abgestritten oder ins Lächerliche gezogen. Es wurde behauptet, dass „nichts dergleichen geschehen ist.“620 „Wir müssen auch nicht befürchten“, dass „steigende Intervention des Staates Knechtschaft“ bedeute.621 Man verwies darauf, dass „in keinem der Wohlfahrtsstaaten der Staat die Kontrolle über die Wirtschaft hat – und dies ungeachtet der Weisheit und Machbarkeit der Regulierungsmaßnahmen  – oder die Wählerschaft davon abhält, die regierende politische Partei abzuwählen.“622 Solche Auffassungen findet man nicht nur unter den Linksliberalen des politischen Spektrum. Einer der führenden Ökonomen der „Chicagoer School“ meinte, „kaum einer glaubt, dass in unserer Zeit die Grundfreiheiten ernsthaft verletzt wären.“623 Problematisch ist das Argument, die Freiheit werde durch einen Staat mit ausgeprägter Staatstätigkeit nicht beeinträchtigt, zum Teil wegen der willkürlich restriktiven Definition von „Freiheit“, die auf jene Freiheiten zugeschnitten ist, die für die Intellektuellen als gesellschaftliche Klasse von Bedeutung ist. Aber das Recht, seinen Beruf oder seine Ausbildung frei von staatlich auferlegten Einschränkungen zu wählen, ist ein Recht von großem Wert, und zwar nicht nur für rassische oder ethnische Minoritäten – wie man anhand der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre sehen konnte –, sondern auch für die Bevölkerung insgesamt, wie man an deren von Entrüstung getragenen (aber weitgehend nutzlosen) Reaktion auf die „Fördermaßnahmen“ und das „gemeinsame Busfahren“ in den 70er Jahren erkennen kann. Auch ungeachtet der Frage, welche Vor- oder Nachteile substanzieller Art eine solche Politik haben mag, sehen die Menschen ihre Freiheit zweifellos verletzt, wenn ihre vitalen Interessen wie Arbeit und Kinder durch staatliche Entscheidungen kontrolliert werden, die ihren eigenen Wünschen und denen der Gesamtbevölkerung zuwiderlaufen bzw. von denselben losgelöst sind. Der Freiheitsverlust ist nicht weniger real, wenn andere die Verdienste der einzelnen sozialpolitischen Maßnahmen rühmen oder die Gegner derselben als unmoralisch schmähen. Freiheit ist eben das Recht, das eigene Verhalten anders auszurichten als nach den Werten, Wünschen und Weltanschauungen, die andere Personen hegen. Wenn man sagt, dieses Recht könne nie absolut sein, dann meint man damit, dass die Freiheit nie absolut sein könne. Der Verlust der Freiheit im Zuge ausgeprägter Staatstätigkeit wurde weitgehend dadurch verschleiert, dass es intermediäre Entscheidungsträger – vor allem Geschäftsleute – waren, die besagte direkte Freiheitsverluste erleiden mussten. Nachdem der Prozess nun aber schon eine Weile anhält, ist es auch für die Öffentlichkeit in krasser Weise deutlich geworden, dass die Einbuße 619

Hayek (1957). Commentary (1978), S. 31. 621 Commentary (1978), S. 31. 622 Commentary (1978), S. 49. 623 Stigler (1975), S. 5. 620

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der unternehmerischen Freiheit, einzustellen, wen man will, auch den Verlust der Freiheit bedeutet, die der Arbeiter sonst hätte, einen Arbeitsplatz aufgrund seiner Verdienste zu finden; dass mit dem Verlust der Freiheit, mit der die Universität ihre Professoren und Studenten aussucht, auch der Verlust an Freiheit einhergeht, mit der ihre Kinder ihre Studienzulassung einlösen wollen, um bei den klügsten Köpfen des Landes zu studieren. Die Gemüter, die von diesen Themen erhitzt werden, erregen sich hier weit mehr, als es bei einfachen Fragen der Effizienz, die nicht mit der Freiheit zusammenhängt, der Fall ist. Man kann hier auch nicht den leidenschaftlichen Widerspruch als „rassistisch“ beiseite wischen. Aber nicht nur die Minoritäten selbst sind gegen Quoten und gemeinsames Busfahren, sondern auch jene, die für Rassengleichheit eingetreten sind, bevor sie populär wurde. Es sind auch nicht nur Rassenfragen, welche die Gemüter erhitzen. Sogar offenkundig geringfügige Angelegenheiten, wie der Warnton ungenutzter Sicherheitsgurte im Auto, haben wegen der dahinterstehenden staatlichen Einmischung in die individuelle Freiheit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Das Stillschweigen der Intellektuellen, solange ihre Schreib- und Lehrfreiheit gewahrt ist, ist wohl weniger ein Hinweis auf die Bedeutsamkeit dieser Freiheiten als vielmehr ein Anzeichen für die Selbstabschottung der Intellektuellen. Das Argument, die Möglichkeit, per Wahl die Politiker aus dem Amt zu drängen, werde durch eine ausgeprägte Staatstätigkeit nicht eingeschränkt, geht an der Sache vorbei. Demokratie ist nicht nur das Recht, das politische Personal auszutauschen, sondern das Recht, die Politik zu ändern. Die eingeschränkten Möglichkeiten der Wähler, die Politik zu ändern, ist eine Folge zunehmender Staatstätigkeit – vor allem dort, wo die Macht des Staates am meisten wächst: bei seinen abgeschotteten Institutionen, den Bundesgerichten und den Verwaltungsbehörden. Die judizielle und behördliche Nullifikation der Kongressversuche, Quoten und gemeinsames Busfahren zu beenden,624 ist nur eines von vielen Beispielen in unserer Zeit. Der nicht-erklärte Vietnamkrieg ist auch ein Fall, in dem man die öffentliche Kontrolle über zentrale nationale Politikanliegen kurzgeschlossen hat. Die öffentliche Meinung, keine Nachsicht mit Kriminellen zu haben, hatte wenig bewirkt und die zunehmende Befürwortung der Todesstrafe625 in der Öffentlichkeit verlief parallel zu einer zunehmenden Ächtung ihrer Anwendung durch den Obersten Gerichtshof. Sogar die Politik, die nominell der Kontrolle gewählter Beamten unterliegt, lief der Philosophie besagter Staatsdiener zuwider. Quoten im Rahmen von „Fördermaßnahmen“ und ein massives Gemeinschaftsbuswesen kamen unter den Regierungen von Nixon und Ford auf, die beides ablehnten. Gleiches gilt für das rapide Wachstum der Wohlfahrtsausgaben, die unter Nixon die Militärausgaben überholten.626 Die inhaltliche Würdigung dieser Entwicklungen ist nicht unser Thema. Es geht vielmehr darum, dass diese Entwicklungen die zunehmende Schwierigkeit illustrieren, welche die Öffentlichkeit bei der Kontrolle staatlicher Politik er 624

Glazer (1975), Kapitel 1–3. Meltsner (1973), S. 308. 626 Anderson (1965), S. 26 f. 625

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fährt, selbst wenn die Beamten wechseln, auch die gewählten Beamten in hohen Leitungspositionen. Nichts von alledem ist einzigartig in der Geschichte. In der Schlussphase des Römischen Reiches fühlten sich die Staatsbeamten mächtig genug, „dem Kaiser ihre empfundene Abneigung zu zeigen.“627 Die römischen Kaiser hatten die Macht über Leben und Tod, aber Roms Bürokraten wussten, wie man ein riesiges Reich regiert, das der effektiven Kontrolle (und Kenntnis) eines Einzelnen längst entglitten war. Gleiches gilt für das russische Zarenreich, über das John Stuart Mill einmal sagte: „Der Zar selbst ist gegenüber dem bürokratischen Apparat machtlos. Er kann jeden einzelnen Bürokraten nach Sibirien schicken, aber er kann nicht ohne sie oder gegen ihren Willen regieren.“628 Die Erfahrungen, die man in China machte, waren die gleichen.629 Die Freiheit, in Wirtschaftsfragen zu handeln, ist weder an sich noch im Hinblick auf andere Freiheiten eine vernachlässigbare Form der Freiheit. Die Attacken, die während der „McCarthy Ära“ gegen Personen geritten wurden, die sich linksgerichteter Ziele verschrieben hatten, waren in erster Linie Angriffe auf ihre Anstellungen und weniger Versuche, das, was die Leute sagten und glaubten, mit direkten Verboten oder Beschränkungen zu belegen. Gleichwohl haben beide die enorme politische Bedeutung in den Restriktionen erkannt, die im Grunde wirtschaftlicher Natur waren. Selbst dort, wo sowohl Ziele als auch Mittel wirtschaftlicher Natur sind, kann die Freiheit betroffen sein. Wenn Menschen, die in ihren Häusern und ihrer gewohnten Umgebung leben, die weder für sie noch für andere eine Gefahr darstellen, gezwungen werden, ihre Wurzeln aufzugeben und sich in alle Winde zu zerstreuen, und ihre Häuser verlassen müssen, weil diese von Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht werden sollen, dann haben sie sowohl ihre Freiheit als auch ihr Zuhause und ihre persönlichen Beziehungen verloren. Dieser Freiheitsverlust wäre nicht weniger real, wenn er durch einen nationalen Notfall (Militärhandlungen) oder eine lokale Notlage (Epidemie) gerechtfertigt wäre. Wenn der Verlust aber eher ein Resultat dessen ist, dass eine Verwaltungsbehörde ein Einkaufszentrum dort haben will, wo früher einmal Nachbarn nebeneinander gewohnt haben, dann fügt das dem Ganzen nur ökonomische und soziologische Aspekte hinzu, ohne der Angelegenheit den freiheitlichen Aspekt zu rauben. Knechtschaft selbst war stets weitgehend eine ökonomische Beziehung. Doch das hinderte ihr Verschwinden nicht daran, ein Meilenstein in der Entwicklung der Freiheit zu sein. Die oft gescholtene politische „Feigheit“ der großen Unternehmen dürfte im Lichte der vielen kostenträchtigen Prozesse, durch die sie die Politik lotst, letztlich Klugheit sein. Die konstitutionellen Vorkehrungen gegen staatliches Bestrafen durch Prozessieren (ohne Ansehen des Verbrechens) finden keine Anwendung, wenn die Handlungen, die einem wirtschaftlich schaden, rechtlich nicht als Strafen gedeutet 627

Grant (1976), S. 147. Mill (1939), S. 1038. 629 Hucker (1975), S. 306. 628

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werden, oder wenn eine Verwaltungsbehörde jemandem Geld und Zeit entzieht – ohne durch die Idee judizieller Unparteilichkeit oder staatlicher Verpflichtung, die Beweislast zu tragen, eingeschränkt zu sein. Was „euphemistisch soziale Verantwortung genannt“ wird, ist wohl in Wirklichkeit schlicht die „Drohung mit dem Gesetz“630 oder mit der außerrechtlichen Macht, die sich aus Institutionen nährt, die zu ganz anderen Zwecken gegründet worden sind. So kann z. B. das Finanzamt Organisationen, deren Vorgehensweise dem Staat missfällt, mit dem Entzug der Steuerbefreiung drohen (und hat es auch schon getan), obwohl diese kein einziges Statut verletzt haben. Zudem fand die staatliche Feindseligkeit gegenüber philanthropischen Einrichtungen 1969 seinen Ausdruck im Gesetz zur Steuerreform, das den Stiftungen einerseits Teile der finanziellen Ressourcen entzog und andererseits vorschrieb, wie sie ihre Mittel einzusetzen hätten.631 Obwohl die Verfassung als Barriere gegen eine Machtkonzentration der Bundesregierung gedacht war, hat der Oberste Gerichtshof sie auf eine Weise ausgelegt, die eine solche Konzentration erleichtert hat. Ungeachtet der Unparteilichkeit, die man von der Richterschaft erwartet, ist der Oberste Gerichtshof auf jeden Fall eine Interessenpartei für sich, wenn es um die konstitutionelle Gewaltenteilung geht, sei es die Gewaltenteilung zwischen den Einzelstaaten und der Bundesregierung oder um jene, die Exekutive, Legislative und Judikative des Staates separiert. Lange Zeit war die öffentliche Meinung ein Hindernis für den judiziellen Aktivismus, und die in den 30er Jahren von Franklin D. Roosevelts Besetzung des Obersten Gerichtshofs („court packing“) ausgehende Bedrohung, die den Gerichtshof dazu brachte, sich auf die „substanzielle Variante ordentlicher Verfahren“ einzulassen, belegt, dass die politische Toleranz und die Bereitschaft des Gerichtshofs, sich auf eine Machtprobe mit der Verfassung einzulassen, sehr begrenzt waren. Keine 20 Jahre später haben die Richter am Obersten Gerichtshof jedoch einen Kurs des judiziellen Aktivismus eingeschlagen, der den ihrer Vorgänger recht zahm erscheinen lässt – und weder bei der öffentlichen Meinung noch bei der politischen Führung auf den Widerstand stieß, den man von früher her kannte. Versuche, den Gerichtshof einzuschränken oder einzelne Richter ihres Amtes zu entheben – Warren und Douglas waren bevorzugte Ziele – , wurden wegen ihrer geringen Aussichten lächerlich gemacht. Das mag teilweise der Tatsache geschuldet sein, dass der Gerichtshof in seiner Zusammensetzung zumindest anfangs mit der Zeit ging, vor allem im Hinblick auf die Rassentrennung. Zum Teil spiegelt es auch den zunehmenden Einfluss des politischen und legalen „Realismus“ wider, dem zufolge eine objektive „Auslegung“ der Verfassung unmöglich ist und der von der judiziellen Politikgestaltung zu unterscheiden ist. So, wie auch anderenorts, hat der „Realismus“ hier die Bedeutung, dass man inkrementelle Defekte als kategorische Präzedenzfälle hingenommen hat. Die Verbindung zwischen objektiver „Interpretation“ und subjektiver Politikgestaltung wurde in einer Weise willkürlich dichotomisiert, 630 631

Meckling / Jensen (1976), S. 3. Keim / Meiners (1978), S. 92.

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dass alles auf die subjektive Seite fiel. Nachdem man bewiesen hatte, dass eine perfekte, universell objektive und neutrale Interpretation nicht möglich ist, war es nur noch ein kurzer Schritt bis zur Akzeptanz einer wachsenden subjektiven Note, die nach und nach selbst von Freunden und Mitstreitern des Obersten Gerichtshofs als judizielle Politikgestaltung begriffen wurde. Und wieder triumphierte der Präzisionsfehlschluss, dem zufolge man aus Mangel an einer präzisen Trennlinie keine eindeutigen Unterscheidungen hinsichtlich der Teile fällen kann, die sich jeweils in der Nähe der entgegengesetzten Enden des Kontinuums befinden. Egal, welche Gründe wie vermengt und unterschiedlich gewichtet ausschlaggebend waren, der Gerichtshof entpuppte sich nie als Verfassungsbarriere der Machtkonzentration. Um es in der Sprache der Zeit zu sagen, er war nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Auch die historischen Ereignisse beförderten die Machtkonzentration. Der Bürgerkrieg und seine rassischen Nachwehen, die vor allem im Süden anhielten, ließen viele der von ihrem Gewissen angetriebenen Menschen auf die Seite der Bundesgewalt wechseln und sich gegen die „Rechte der Einzelstaaten“ wenden. Das Prinzip der „Einzelstaatsrechte“ war im Allgemeinen nur „im Paket“ zu haben, und zwar gemeinsam mit rassischer Bigotterie, zynischer Diskriminierung und Lynchaktionen. In einem solchen Paket hatte das Prinzip keine Chance, gegen den Grundsatz des unbegrenzten Föderalismus auf lange Zeit zu bestehen. Aber jede Entscheidung, mit der die Bundesgewalt auf Kosten der Einzelstaatengewalt wächst, betrifft alle Staaten – nicht nur den Süden – und lässt die Staaten als autonome Machtzentren zu Verwaltungseinheiten der Bundesregierung schrumpfen. In den gemeinsamen Programmen zwischen Bund und Einzelstaaten wird das besonders gut deutlich. Zu ihnen gehören Programme der „Gewinnaufteilung“, „aufgestockte Sonderbeihilfen“ und andere Unternehmungen, die von Washington finanziert und kontrolliert werden. Bundesmittel halten derlei staatliche Maßnahmen in Gang – unter der Maßgabe, dass die Einzelstaaten sich den Entscheidungen, die gemäß der „Richtlinien“ des Bundes getroffen werden, fügen. Selbst dann, wenn die Maßnahmen nur verwaltungstechnischer Art sind und von den einzelnen Staaten bzw. deren Bezirksverwaltungen durchgeführt werden  – z. B. öffentliche Schulen  –, bestimmen die „Richtlinien“ des Bundes, welche Lehrer eingestellt werden und welche Schule die Schüler besuchen. Gleiches gilt für eine Unmenge an Entscheidungen, die nur Kleinkram betreffen, wie z. B. die Anzahl der Cheerleader in den Sportteams der Jungen und Mädchen.632 Dass die Verwaltung physisch gesehen im Bundesstaat bzw. in lokalen Händen liegt, ändert nichts an der Tatsache, dass die Entscheidungsfindung nach Washington umgezogen ist. In diesem Fall verkleistert der physikalische Fehlschluss eine historische Machtverschiebung. Einen noch größeren Wendepunkt in der Politikgeschichte markiert die Große Depression in den 30er Jahren. Obwohl liberale und konservative Gelehrte 632

Will (1978), S. 7.

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gleicher­maßen den Ursprung der Depression in einer katastrophalen Geldpolitik sehen,633 kommen die populäre Auffassung und der politische Konsensus darin überein, dass die Depression das Versagen der Marktwirtschaft und die Schwächen des Kapitalismus bewies und nach einem wirtschaftlichen Einschreiten des Staates rief. Was immer man von dieser Position halten mag, sie markiert ganz zweifellos einen Wendepunkt im politischen und ökonomischen Denken jener Zeit. Man kann wohl kaum erklären, wie das Nachkriegsamerika in einer Zeit nie dagewesenen Wohlstands, immer neuer Möglichkeiten und praktisch ohne jede Arbeitslosigkeit sich von einer staatlich garantierten Sicherheit hat vereinnahmen lassen, wenn man vergisst, welches wirtschaftliche wie gesellschaftliche Trauma die Vorgängergeneration hat durchmachen müssen. Die 30er Jahre haben mehr als ein seelisches Vermächtnis hinterlassen. Man hat dauerhafte Institutionen gegründet, um episodische Krisen zu meistern. Die Ernsthaftigkeit dieser Krise darf man nicht unterschätzen, nur weil sie episodisch war. Millionen von amerikanischen Bauern und Häuslebauern standen kurz davor, alles zu verlieren, für das sie ein Leben lang gearbeitet und dem sie alles geopfert hatten, als Geldkontraktionen, die jenseits ihrer Vorhersehbarkeit lagen, die reale Last ihrer Darlehensraten zu einer Zeit ansteigen ließen, als ihre Einkommen erheblich sanken oder ganz wegfielen. Wenn bewaffnete und verzweifelte Bürger sich gegen Zwangsversteigerungen wehren, dann kann der Staat zwischen Blutvergießen und Erleichterungsmaßnahmen wählen. Wie klug, weise und human es damals auch gewesen war, den mittellosen Bauern zu helfen, z. B. durch die Einrichtung beständiger Institutionen, so hieß dies doch, viele Jahrzehnte später immer noch Milliarden Dollars unter komplett anderen Bedingungen auszugeben – einen großen Teil davon für landwirtschaftliche Kooperativen. Die Landwirtschaft war nur einer von vielen Bereichen, in denen man permanente Institutionen ins Leben rief, um episodische Krisen zu meistern. Beschäftigungswesen, Luftfahrt, Stromerzeugung, staatlicher Wohnungsbau, Molkereiprodukte und bündelweise „fair gehandelte“ Produkte: sie alle wurden zum Objekt neu eingesetzter Bundesbehörden. Auch die Fiskalpolitik des Bundes wurde andauernd geändert. Während es sowohl im 18. wie auch im 19. Jahrhundert mehr Jahre mit Haushaltsüberschüssen als -defiziten gab und obwohl die 1920er Jahre solide Haushaltsüberschüsse verzeichneten, gab es in den 1930er Jahren nur noch solide Haushaltsdefizite – und ab da war der Standard gesetzt, dass die defizitären Jahre die Überschussjahre überwogen.634 Der Inflationseffekt lässt sich an der Verdopplung der Endverbraucherpreise zwischen 1931 und 1948 ablesen. Zwischen 1831 und 1848 hingegen fielen die Endverbraucherpreise. Zudem lagen sie auch am Ende des 19. Jahrhunderts tiefer als noch zu dessen Beginn.635 Über die wirtschaft-

633

Siehe z. B. Galbraith (1961), Kapitel 3; Friedman / Schwartz (1963), Kapitel 7, vor allem S. 407–409. 634 U. S. Bureau of Census (1975), S. 1104 f. 635 U. S. Bureau of Census (1975), S. 200 ff.

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lichen Folgen hinaus haben Haushaltsdefizite auch noch den politischen Effekt, dass man die Ausgaben vom unmittelbaren Wissen des Steuerzahlers abkoppelt. Die New-Deal-Regierung nahm in den 30er Jahren auch sehr viele Intellektuelle in den Staatsdienst auf. Am New-Deal-Prozess wirkten viele von ihnen mit – nicht nur in den Behörden. Andere wurden an den Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen zu Mitstreitern ihrer Gesinnungsgenossen. Auch dies wurde zu einem dauerhaften Merkmal der politischen Entscheidungsfindung. Intellektuelle Weltanschauungen und Moden machten sich in der politischen Entscheidungsfindung breit, aber nicht offen und erkennbar unter dem Banner einer Interessengruppe oder Ideologie, sondern verschleiert und abgekapselt als „Expertise“. Kurzum, nun gab es eine neue Kraft, die dazu neigte, die staatliche Entscheidungsfindung von wirksamen Rückmeldungen aus der Bevölkerung abzukoppeln. Indem man ihnen eine politische Karriere ermöglichte (die in der Regel nicht mit einer Wahl verbunden war), versorgte man die Intellektuellen diesseits und jenseits des Regierungsapparates mit dem Anreiz, die Machtkonzentration zu befürworten. Tocqueville hatte schon mehr als 100 Jahre vorher festgestellt: „Es lässt sich leicht absehen, dass nahezu alle fähigen und strebsamen Mitglieder der demokratischen Gemeinde ohne Unterlass an der Machtsteigerung des Staates arbeiten werden, weil sie alle hoffen, selbst irgendwann einmal das Zepter schwingen zu dürfen. Es wäre reine Zeitverschwendung, ihnen darlegen zu wollen, dass eine extreme Zentralisierung dem Staat gefährlich wird, weil sie die Macht zu ihrem eigenen Vorteil zentralisieren. Unter den Menschen, die in der Öffentlichkeit der Demokratie stehen, gibt es nur wenige, die nicht entweder großes Desinteresse zeigen oder extrem mittelmäßig sind. Erstere sind rar gesät, letztere machtlos.“636

Begründungen für die Macht In unseren Betrachtungen ging es bislang um Fragen der Art und Weise, auf die sich der Staat ausgebreitet hat, und weniger um die Begründungen, die hinter dieser Ausdehnung stehen. Die vielleicht einfachste Erklärung für die Ausdehnung der Befugnisse und Anwendungsbereiche staatlicher Entscheidungsfindung ist die, dass eine Krise dem Staat neue Verantwortlichkeiten aufträgt und dass es vom Staat schäbig wäre, wenn er sich seiner Pflicht entzöge und seine Macht nicht einsetzte, um die Krise zu meistern. Viele der bekannteren ideologischen Begründungen expandierender Staatsgewalt mahnen eine „Fehlverteilung“ von Status, Rechten und Vorteilen an – jeder der vorhandenen Prozesse führe im Ergebnis zu einer „Fehlverteilung“ für diejenigen, die eine andere Verteilung vorziehen würden. Die Gleichheit kann z. B. aus der Sicht von Rassisten eine Fehlverteilung des Status sein. In Hitlers Politik war die Korrektur einer solchen „Fehlverteilung“ ein zentrales Anliegen. Nach Macht kann man auch mit der Begründung streben, 636

Tocqueville (1956), Band 2, S. 307 f.

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dass sie notwendig sei, um die bestehende Macht in Schach zu halten. Wieder eine andere Begründung für die Ausdehnung der Staatstätigkeit zielt auf die Erschaffung eines nationalen „Zwecks“ – wobei der Konsens darüber als ein Konsumgut betrachtet wird (das seine Kosten gewiss wert sei). Krise Während eines Krieges neigen selbst die demokratischsten und verfassungstreusten Regierungen zu einer Ausdehnung der Staatsgewalten, und dort, wo Naturkatastrophen wüten, marschieren meist Truppen auf und werden trotz Frieden die Notstandsgesetze ausgerufen. Solche Demonstrationen der Staatsmacht verflüchtigen sich meist, sobald der Notstand aufhört. Die Bevölkerung merkt das im Allgemeinen recht schnell. Damit die Machtkonzentration des Staates von Dauer sein kann, muss die öffentliche Wahrnehmung der Krise entweder künstlich verlängert werden oder die Krise dazu benutzt werden, um Institutionen ins Leben zu rufen, welche die Krise selbst überdauern. Nur ein totalitärer Staat kann eine Krisenatmosphäre unbegrenzt lange aufrechterhalten und sich seiner Bevölkerung als von allen Seiten von Feinden bedroht darstellen – und gegenteilige Darstellungen der Ereignisse untersagen. Eigentlich ist das die allgemeine Grundhaltung des totalitären Staates. Die wiederholte Beschwörung des „Friedens“, der Verzicht auf allgemeine oder spezielle Expansionsaktionen und die öffentliche Verspottung der ausländischen Befürchtungen machten sich in den 30er Jahren sowohl Hitler637 wie auch Stalin zu eigen – gleichwohl letzterer zu Beginn des 2. Weltkriegs mehr Gebiete als ersterer annektiert hatte, bevor die Nazis in die UdSSR einmarschierten.638 Selbst der aggressivste unter den totalitären Staaten kann behaupten, von anderen bedroht zu sein – und kann sogar Beweise liefern, weil seine aggressiven Kriegsvorbereitungen mit Sicherheit eine gewisse militärische Kriegsbereitschaft bei anderen Ländern auslösen. In den 30er Jahren gab Hitler das Paradebeispiel einer Propaganda ab, die Ursache und Wirkung umkehrt. Gewiss war es nicht das letzte Beispiel seiner Art. In einer konstitutionellen Demokratie kann man eine Krise nicht unbegrenzt verlängern, weil man alternative Deutungen der Ereignisse nicht unterdrücken kann. Reale Krisen müssen daher dazu genutzt werden, dauerhafte Institutionen einzusetzen. In dieser Hinsicht war die Große Depression ein Meilenstein. Das Geldsystem – der Goldstandard – wurde andauernd geändert. Das arbeitsrechtliche Verhältnis zwischen Angestellten und Arbeitgebern wurde durch das Wagner-Gesetz auf Dauer verändert, verhängte rechtliche Sanktionen gegen den Arbeitgeber zugunsten der Macht der Gewerkschaften, das Robinson-Gesetz engte die Grenzen 637 638

Shirer (1960), S. 291f, 394, 632 f. Siehe z. B. Werth (1969), Teil 1, Kapitel 3–5.

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des Preiswettbewerbs dauerhaft ein, was auch die „Fair Trade“-Gesetze taten, sowie etliche Spezialbeschränkungen und Subventionen für Zucker, die Schifffahrtsindustrie und andere. All diese politischen Entwicklungen vergrößerten die Macht des Staates entweder direkt mithilfe von Regulierungsdirektiven oder indirekt durch die Befreiung des Staates von zuvor existierenden Fesseln. Man denke an die Abschaffung des Goldstandards und die laschen Standards hinsichtlich der Verfassungskonformität der durch den New Deal geschaffenen Verwaltungsagenturen, die einen Hybriden aus Exekutive, Legislative und Judikative darstellen. Es gab nicht nur einen ungewöhnlichen Zuwachs an staatlicher Macht, sondern auch einen nie dagewesenen politischen Umschwung. Roosevelts Wahlsieg 1936 war damals der größte politische Erfolg. Roosevelt gewann alle Staaten bis auf zwei. Sein Erfolg war Teil eines historischen Musters, zu dem auch eine beispiellose Aneinanderreihung von vier Wahlsiegen gehörte, sowie eine mehr als 10-jährige Dominanz einer Partei in den beiden Kongresshäusern  – was es auch zuvor in Amerika noch nie gegeben hatte. Der nachweislich politische Wert von Krisen ging auch für die kommenden Regierungen und Politiker nicht verloren. Seit damals werden so viele Dinge „Krise“ genannt, dass das Wort ein Synonym für „Lage“ geworden ist und kaum mehr sagt als, dass es etwas gibt, das jemand ändern will. In den letzten Jahrzehnten hat es einen Trend gegeben, die individuelle Entscheidungsfindung, die auf Verhaltenseinschätzungen beruht, durch eine Entscheidungsfindung abzulösen, die auf einem zugewiesenen Status basiert. Es wurden Gesetze vorgeschlagen und in Kraft gesetzt sowie Verwaltungsvorschriften erlassen, judizielle Entscheidungen gefällt und andere politische Direktiven verabschiedet, mit der man diverse Entscheidungsträger von jener Sortierung und Etikettierung abhielt, die sie für gewöhnlich anhand angeborener biologischer Charakteristika (Rasse, Geschlecht), vorübergehender Umstände (Kindheit, Alter) oder Willensentscheidungen (homosexueller Lebensstil, Drogengenuss, Vorstrafen) vornahmen. Außerdem bürdete der Staat jenen, die versucht haben, Menschen nach Leistungsmerkmalen zu sortieren (Testergebnisse, Arbeitsleistung), Kosten in unterschiedlicher Form und Höhe auf. So durften z. B. Arbeitszeugnisse nicht mehr vertraulich ausgestellt werden. Weil man zudem den Gang zum Arbeitsgericht erleichterte, wurden die Arbeitszeugnisse nichtssagend und unverbindlich. Sie verloren weitgehend ihren Wert als Vermittler von Informationen, die für die Sortierung und Etikettierung von Bewerbern nach Leistungsmerkmalen nützlich waren. Und indem man die Vorstellungen eines „ordentlichen Verfahrens“ den Schulbehörden aufnötigte, hat man deren Befugnisse als lokale Entscheidungsträger ebenfalls beschnitten. So konnte eine Schule kaum mehr Schüler loswerden, die ihre Mitschüler vom Lernen abhielten, sei es, indem sie direkt die Klasse störten oder eine Atmosphäre schufen, in der Mitschüler willkürlich terrorisiert oder systematisch erpresst wurden.639 639

Siehe Goss, et al. v. Lopez, et al. 419 U. S. 565 (1975).

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Gelegentlich gingen mit derlei Staatsaktivitäten zusätzliche Ermahnungen einher, jede Person individuell zu bewerten, statt sie nach ausgewählten Kriterien zu sortieren und etikettieren. Doch dieser Rat streute lediglich etwas mehr Salz in die offene Wunde und bewirkte angesichts der generellen Kostenunterschiede beider Methoden nicht sehr viel. Manchmal ist der zugeschriebene Status vorzuziehen. Dann sind das Sortieren und Etikettieren nach der vorgeschriebenen Richtung legal, nach jeder anderen Richtung jedoch illegal. Viele Entscheidungen, die mit Statuszuschreibung einhergehen, mögen aus der einen oder anderen Sicht als gewöhnliche Gesellschaftsentscheidungen betrachtet werden, die von Effizienz oder einer anderen weltlichen Größe getragen sind. Was aber in jüngster Vergangenheit auffällt, ist die zunehmende ideologische Leidenschaft, wenn es um bestimmte Entscheidungen und Entscheidungsprozesse geht, die als Symbol für den Status und nicht schlicht als Instrumente zur Erreichung gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit gewertet werden. Eines der extremeren Beispiele für dieses Phänomen trat auf, als seinerzeit die französisch-kanadischen Behörden in der kanadischen Provinz Quebec darauf pochten, dass die Flugpiloten, die auf den dortigen Flughäfen landeten, mit den Fluglotsen Französisch zu sprechen hätten. Obwohl bei einer Unterhaltung zwischen Pilot und Fluglotse Hunderte Menschenleben auf dem Spiel stehen, wurde die gesellschaftliche Zweckmäßigkeit bestimmten Aspekten der Statuszuschreibung untergeordnet – die generelle Kon­ troverse um die Vorherrschaft der französischen Sprache und Kultur in Quebec. Nur die konzertierte Ablehnung der Piloten aus aller Welt brachte die Regierung von Quebec dazu, ihre Entscheidung zu überdenken. In den Vereinigten Staaten sahen viele Gruppen in zahlreichen Gesetzen und Richtlinien (privaten wie öffentlichen) ihren Status als Mitglieder berührt – ihren Wert als menschliche Wesen. Sie sahen nicht, dass es einfach nur darum ging, wie man eine Arbeit bestmöglich erledigt oder einen bestimmten Prozess gesellschaftlich zweckmäßig gestaltet. Selbst dort, wo Verhaltensunterschiede innerhalb bestimmter Gruppen nachweisbar waren – z. B. 10 Jahre längere Lebenserwartung bei Frauen im Vergleich zu Männern –, verbot das Gesetz den Arbeitgebern, für Männer und Frauen unterschiedliche Pensionspläne aufzustellen, weil sonst die Statusgleichheit verletzt würde.640 Auch die Trennung von Jungen und Mädchen beim Sport oder bei sozialen Aktivitäten kann vor Gericht angefochten werden, selbst wenn die Trennung in nicht-staatlichen, freiwilligen Organisationen stattfindet, wie z. B. in Jungs-Vereinen, und obwohl es nachweislich Verhaltensdifferenzen zwischen Jungen und Mädchen gibt, was Körperkraft aber auch Abschlussquoten angeht, um zwei offensichtliche Beispiele zu nennen. Aber die Leidenschaft hinter den Einwänden gegen unterschiedliche Behandlungsweisen gilt dem Status, nicht dem Verhalten. Zudem wird auch so getan, als ginge es ausschließlich nur um den Status – und gäbe es keinen Konflikt zwischen Entscheidungen, die auf Status gründen, und solchen, die auf Verhalten gründen. Mithin stellt man die Gegner bestimmter statusorientierter Entscheidun 640

City of Los Angeles v. Manhart, 435 U. S. 702 (1978).

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gen gern als jene dar, die für bestimmte Gruppen einen inferioren Status gutheißen. Selbst Gruppen, die aufgrund ihres Verhaltens definiert werden (Homosexuelle, Alkoholiker), behaupten, man würde ihnen den Status als Gleichgestellte nehmen, wenn sie von anderen unterschiedlich behandelt werden. Wenn man diese Tendenz logisch zu Ende denkt, dann müssten gesellschaftliche Entscheidungen nur aufgrund des Status und nicht aufgrund des Verhaltens gefällt werden: Wenn es Heime für alleinerziehende Mütter gibt, dann müsste es auch Heime für alleinerziehende Väter geben. Einige mögen tatsächlich so weit gehen, aber der Punkt ist, dass das geltend gemachte Prinzip – und die kategorische Art, in der man es geltend machen und dessen Widersacher verunglimpfen will – keinen vorherigen logischen Schlusspunkt vorsieht. Die einzige praktische Schranke liegt in dem, was die Befürworter der Statuszuschreibung intuitiv für plausibel oder derzeit politisch machbar halten. Keine dieser Überlegungen hält die Nachwelt langfristig davon ab, das Prinzip auf andere Bereiche nachlassender oder negativer Erträge auszudehnen. Die Verbindung zwischen Statuszuweisung und politischer Macht zeigt sich in der „Umverteilung“ von Einkommen und anderen wirtschaftlichen Vorteilen. Während man die wachsende staatliche Kontrolle über das, was private Aktivitäten im Ergebnis hervorbringen, gern mit dem erhofften Resultat der „Einkommensumverteilung“ beschreibt, zeigt die Statistik, dass die tatsächliche „Umverteilung“ von Geld und Macht an den Staat weit über die „Umverteilung“ hinausgeht, die von einer zur anderen Einkommensklasse stattfindet. Der prozentuale Anteil des aggregierten Einkommens in Amerika, den das obere Fünftel und untere Fünftel etc. erwirtschaften, ist seit Jahrzehnten unverändert geblieben,641 während die Macht des Staates und die wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben sich enorm ausgedehnt haben. Es gab „wie wir erwartet haben, weniger Umverteilung an frei erzieltem Einkommen der Reichen an die Armen als Umverteilung an Macht vom Individuum an den Staat.“642 Internationale Vergleiche kommen zu demselben Ergebnis wie intertemporale Vergleiche: „In allen westlichen Nationen – Vereinigte Staaten, Schweden, Vereinigtes Königreich, Frankreich, Deutschland – war die Verteilung des Einkommens trotz Unterschieden in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik auffallend ähnlich.“643 Was sich auf die nationalen Differenzen in Bezug auf „wohlfahrtsstaatliche“ Politik wirklich auswirkt, ist das Verhältnis, in dem Geld und Macht zwischen Bevölkerung und Staat aufgeteilt sind. Bei den Schemen der sogenannten „Einkommensumverteilung“ nimmt man den Status als Ersatz für das Verhalten. Nach ihm richtet sich der Bezug des Einkommens. Weil man als gleicher Bürger eines Landes einen Status hat, hat man auch ein „Recht“ auf ein „bescheidenes Einkommen“, vielleicht sogar einen „angeglichenen Anteil“ am Wirtschaftsvolumen der Nation – bzw. einen „gleichen Anteil“, falls der Glaubenssatz konsequent logisch umgesetzt wird. Kurzum, das 641

U. S. Bureau of Census (1975), S. 293. Kristol (1978), S. 224. 643 Kristol (1978), S. 185. 642

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Einkommen einer Person sollte nicht darauf gründen, wie die betroffenen Nutzer die erbrachte Leistung der Person bewerten, sondern auf dem Status beruhen, den ihr die politischen Autoritäten zuschreiben. Der letztgenannte Prozess geht mit einer Machtkonzentration einher, weil das erhoffte Ideal der „Verteilungsgerechtigkeit“ die Gerechtigkeit des Verteilers (verstanden als gesellschaftlicher Prozess) ist. In einer unkontrollierten Wirtschaft ist es möglich, dass alle Individuen höheren Wohlstand genießen, wobei jeder sein eigenes Sortiment an Gütern erhalten kann. Da aber „Gerechtigkeit“ an sich interpersonal ist, kann es nicht gleichzeitig möglich sein, dass jeder mehr Gerechtigkeit erfährt. Ein Mehr an „sozialer Gerechtigkeit“ meint notwendigerweise, das eine Gerechtigkeitskonzeption alle anderen übertrumpft. Die ökonomischen Ineffizienzen, die einem solchen Prozess anhaften, sind als solche politisch nicht so wichtig wie die Auswirkungen, die sie auf die Freiheit haben. Ein auferlegtes Gesellschaftsmuster, das viele der wirtschaftlichen Gewinne, die man aus gegenseitig vorteilhaften Transaktionen generieren kann, unverwirklicht lässt, muss einen großen Teil seiner politischen Macht zur Unterbindung von derlei Transaktionen aufwenden. Es muss die Kosten nicht nur ökonomisch und im Sinne von Freiheitsverlusten tragen, sondern auch in Form einer Demoralisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, da nun – dank seiner – Duplizität und / oder Korruption Teil des Lebens sind. Die demoralisierende Wirkung, die vom Versuch, beiderseitig vorteilhafte Transaktionen zu unterbinden, ausgehen kann, ist enorm; wie enorm, lässt sich erahnen, wenn man bedenkt, wie groß sie war, als es nur um eine unterdrückte Güterart ging – nämlich um alkoholische Getränke während der Prohibition. Gerechtigkeit jedweder Art – Strafgerechtigkeit wie auch die sogenannte „soziale Gerechtigkeit“ – impliziert, dass man einen vorhandenen Standard Menschen aufzwängt, die andere Standards haben. Ironischerweise kritisieren viele, welche die „soziale Gerechtigkeit“ politisch vehement begrüßen, den Verlust an persönlicher Freiheit, der im Namen der Strafgerechtigkeit verhängt wird, und sind – um die persönliche Freiheit zu stärken und sicherzustellen – sehr auf eine Begrenzung der Befugnisse bedacht, die Polizei und Geschworenengerichte haben. Die Auferlegung strafrechtlicher Standards setzt aber weit mehr Einvernehmen bezüglich der gewollten Werte – z. B. Unerwünschtheit von Mord oder Raub – voraus, als es die Standards „sozialer Gerechtigkeit“ tun, und sollten daher weniger Freiheitseinbußen beinhalten, wenn ein Standard für alle verbindlich erklärt wird. Bestimmt kann man nur schwer anders argumentieren, wenn man einerseits an die weitgehende Ähnlichkeit denkt, die das Strafrecht überall und jederzeit kennzeichnet, und andererseits an die großen Disparitäten, die es hinsichtlich der Verteilung von Einkommen und Macht („soziale Gerechtigkeit“) gibt. Was man eigentlich unter dem Banner der „sozialen Gerechtigkeit“ sucht und erreicht, ist ein Umverteilung der Entscheidungsautorität. Entscheidungsträger, die im Gegenzug für Geld oder Stimmen für andere entscheiden, werden durch Entscheidungsträger ersetzt, die weitgehend oder allein der dominierenden Ge-

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sellschaftsvision ihrer Clique verpflichtet sind. Die Umverteilung wird oft aufgrund der unterstellten Amoralität des ersten Entscheidungsträgertypus, dem man ein ausschließliches Interesse an Geld bzw. Stimmen zuschreibt, befürwortet und gerechtfertigt. Soweit diese Zuschreibung zutreffend ist, muss man hinzufügen, dass jene Entscheidungsträger nur die Präferenzen der Öffentlichkeit vermitteln und nicht ihre eigenen Präferenzen ins Spiel bringen. Sie üben also nicht wirklich „Macht“ aus, so sehr ihre Entscheidungen die sozialen Prozesse auch beeinflussen mögen. Es ist der zweite – eher moralische bzw. ideologische – Entscheidungsträgertypus, der Standards schafft und anderen auferlegt, und somit die Freiheit mindert. Seine mit Leidenschaft geführte Begründung für bestimmte gesellschaftliche Resultate will verschleiern und tendiert dazu, von der Frage nach den sozialen Prozessen, mit denen man die erhofften Resultate verfolgt, abzulenken. Dies wird nirgendwo besser veranschaulicht als in John Rawls’ Gerechtigkeit, in der davon die Rede ist, dass die Gesellschaft die gesellschaftlichen Ergebnisse irgendwie „arrangiert“,644 und zwar nach einer vorhandenen Gerechtigkeitskonzeption – das nichtssagende und unschuldige Wort „arrangieren“ verdeckt, dass es um eine tiefgreifende Ausübung von Macht geht, die man braucht, um die unzähligen Einzelentscheidungen innerhalb der Gesellschaft aufzuheben, und zwar mithilfe ausreichender Gewalt bzw. Gewaltandrohung, damit die Menschen aufhören, das zu tun, was sie wollen, und stattdessen das tun, was das auferlegte Prinzip von ihnen verlangt. Selbst Rawls’ Prinzip, die „wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten“ auf jene zu beschränken, „die in jedermanns Interesse sind,“645 setzt gewaltsame Eingriffe in alle Transaktionen voraus, von den Schwierigkeiten des Prinzips als solchem ganz abgesehen. Auf einem sinkenden Schiff mit weniger Rettungswesten als Passagieren gibt es nur eine gerechte Lösung für alle: jeder ertrinkt. Dennoch wäre es jedem lieber, Leben zu retten, selbst wenn der Anspruch der Geretteten auf Rettung nicht gerechter wäre als jener der Übrigen. Dieser Fall ist so extrem, weil die Alternativen so krass sind. Allgemeiner gesagt: Gesellschaftliche Entscheidungen sind kein Nullsummenprozess. Die „Verteilung“ der Vorteile („Gerechtigkeit“) kann nicht – anders als Rawls’ These im Kern behauptet – kategorisch wichtiger sein als die Vorteile selbst. Es muss vorab einen Wert der verteilten Dinge geben, damit die Verteilung einen Sinn ergibt. Niemand schert sich darum, wenn jeder von uns den Strand mit unterschiedlich viel Sand in den Haaren verlässt.

644 645

Rawls (1971), S. 43. Rawls (1971), S. 30.

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Die politische Rolle der Intellektuellen Eines der Grundprobleme, die mit der Analyse von Intellektuellen einhergeht, liegt in der Festlegung dieser Gruppe in einer Weise, die uns zwischen einer Klasse von Personen und einer qualitativen Beurteilung kognitiver Leistungen unterscheiden lässt. Wir definieren hier Intellektuelle als eine gesellschaftliche Klasse von Personen, deren ökonomischer Ertrag in verallgemeinernden Ideen besteht und deren ökonomische Belohnung aus der Übermittlung derselben erwächst. Damit ist keinesfalls ein qualitatives Urteil über die kognitive Leistung hinsichtlich Origi­nalität, Kreativität, Intelligenz oder Authentizität der übermittelten Ideen verbunden. Intellektuelle sind hier einfach in einem soziologischen Sinne definiert. Ein Vermittler hohler, konfuser oder völlig aus der Luft gegriffener Ideen ist in diesem Sinne genauso ein Intellektueller wie Einstein. Intellektueller ist eine Berufsbezeichnung. Genauso wie einem ineffektiven, korrupten oder anderweitig kontraproduktiven Polizisten dieselben Pflichten und Befugnisse zukommen wie dem besten Polizisten am Platz, genauso wenig kann man unfähige oder verwirrte Intellektuelle im berufsständischen Sinne willkürlich als „Pseudo-Intellektuelle“ bezeichnen – so sehr diese Klassifizierung im Hinblick auf ihre kognitiven Qualitäten auch stimmen mag. Qualitätsfragen hinsichtlich des intellektuellen Prozesses sind wiederum eine ganz andere Sache und später separat zu betrachten. Die Distinktion zwischen der intellektuellen Klasse und dem intellektuellen Prozess ist von entscheidender Bedeutung. Man kann beispielsweise in dem Sinne ein Anti-Intellektueller sein, dass man die gesellschaftlichen Ansichten dieser besonderen Klasse von Personen ablehnt, aber wiederum sehr intellektuell in dem Sinne sein, dass man dieselben Standards des kognitiven Prozesses einhält. Umgekehrt kann ein totalitärer Diktator insoweit anti-intellektuell sein, dass er die kognitiven Prozesse als solche verachtet und anzweifelt, weil sie den ideologischen Geist, der das, was für den Totalitarismus wichtig ist, konditionieren können, und gleichzeitig bereit sein, jene Intellektuellen, die dem Regime dienen wollen, mit nie dagewesener politischer Macht und / oder lohnenden Preisen auszustatten. Lysenko erreichte unter Stalin einen Grad an Prominenz und Dominanz, den damals in der freien Welt kein einziger Genetiker hätte erzielen können. Die erhofften Resultate des berufsmäßigen Intellektuellen – Kreativität, Objektivität, bestätigtes Wissen oder bestechende Intelligenz – können kein Bestandteil in der Definition des Berufsstandes sein. Ob sie bzw. in welchem Grad sie im Beruf tatsächlich existieren, ist eine empirische Frage. Die Aussage, Intellektuelle würden „professionell mit Ideen aus zweiter Hand handeln,“646 schließt in die Definition intellektueller Kreativität eine negative Bewertung ein. Wahrhaft kreative Intellektuelle mögen eine seltene Spezies ein, aber empirische Ergebnisse jedweder Art gehören nicht in eine Definition. Vielleicht glauben manche Intellektuellen, dass sie wahres Wissen liefern, aber es gibt keinen Grund zur Annahme, dass 646

Hayek (1967), S. 178.

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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der Großteil dessen, was sie sagen oder schreiben, aus „Wissen“ bestünde – aus Ideen, die im empirischen oder analytischen Sinne hinreichend bestätigt wären. Eine derartige Unterstellung wäre selbst kognitiv haltlos und (als Sozialpolitik) politisch gefährlich. Viele Berufe handeln mit Ideen, auch mit Ideen von komplexer und profunder Art, ohne dass man deren Vertreter als Intellektuelle betrachten müsste. Auch die erbrachte Leistung eines Sporttrainers oder Werbefachmanns besteht aus Ideen. Aber an diese Menschen denkt niemand, wenn die Rede von „Intellektuellen“ ist. Auch an Erfinder von Fernsehgeräten, Bergbauausrüstungen oder Gesellschaftsspielen wie „Monopoly“ denken wir in diesem Zusammenhang seltener als an Professoren, Autoren oder Dozenten. Jenen Berufen, bei denen es um die Umsetzung von Ideen geht, scheint man ungeachtet ihrer oftmals hohen Komplexität weniger Intellektualität zu unterstellen als Berufen, die vornehmlich mit der Übermittlung von Ideen befasst sind. Aber selbst dort, wo die Übermittlung sehr spezifischer Ideen im Vordergrund steht – man denke an einen Boxtrainer, der seinem Schützling sagt, wie man eine linke Führhand pariert, oder an einen Drucker, der die Feinheiten seines Metiers erklärt –, denkt man nicht so sehr an Intellektuelle wie in den Fällen, in denen Personen mit ausgreifenden und allgemeineren Vorstellungen im Felde der politischen Theorie, Ökonomie oder Mathematik hantieren. Ein hochspezialisierter Physiker arbeitet auf der Grundlage von analytischen Verfahren, Symbolen und Operationen, wie sie in der Ökonomie, Chemie und zahlreichen anderen Disziplinen üblich sind. Er ist ein Intellektueller, weil seine Arbeit sich um verallgemeinernde Ideen dreht, so eng umrissen sein Interesse auch sein mag. Umgekehrt gilt die Apothekenhilfe nicht als eine intellektuelle Person. Obwohl sie mit einer breiten Produktpalette und vielen Menschen zu tun hat, verlangt ihre Tätigkeit keine Beherrschung verallgemeinernder Schemen abstrakter Natur. Auch sind Komplexität oder Intelligenz nicht ausschlaggebend. Selbst dann, wenn man (wie dieser Autor) der Meinung ist, dass ein Industriemeister für Fotographie über mehr Intelligenz und überprüftes Wissen verfügen muss als ein Soziologe, ist doch der Soziologe ein Intellektueller und der Industriemeister nicht, weil der eine Verallgemeinerungen vermittelt und der andere Ideen verwendet, die weitaus weniger allgemein sind. Es geht hier nicht darum, eine willkürliche Definition zu veranschaulichen, sondern um den Nachweis, dass die Definition alles andere als willkürlich ist und das wiedergibt, was man einen allgemeinen und üblichen Gebrauch des Wortes nennen kann, ohne dass dieser ausdrücklich beschrieben wäre. Wie wir noch sehen werden, entsprechen diese definitionsgemäßen Unterscheidungen den empirischen Unterscheidungen, welche die genannten Gruppen aus ihrem politischen und sozialen Blickwinkel heraus treffen. Sogar in den Fachbereichen der Universitäten sind diese Unterschiede anzutreffen. Agronomen und Ökonomen haben andere politische Meinungen als Soziologen und Geisteswissenschaftler.647 Der Zweck, den 647

Ladd / Lipset (1975), Kapitel 3.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Beruf des Intellektuellen zu definieren, liegt nicht darin, klar umrissene Grenzen aufzuweisen, sondern darin, eine Kernvorstellung auszumachen und unterschiedliche Annäherungen an dieselbe hinzunehmen. Insofern ist ein Agronom oder Ingenieur mit geringerer Wahrscheinlichkeit als „Intellektueller“ einzuordnen als ein Soziologe oder Literaturkritiker bzw. passt weniger gut oder vollständig in diese Kategorie als Letztere. Die Anreize und Beschränkungen intellektueller Prozesse unterscheiden sich recht deutlich von den Anreizen und Beschränkungen intellektueller Aktivitäten im beruflichen Sinne. So sind beispielsweise intellektuelle Prozesse hinsichtlich der möglicherweise zu erzielenden Schlussfolgerungen sehr restriktiv. Sie erfordern höchste Sorgfalt bei der Formulierung der Theorien, eine strenge Disziplin bei der Gestaltung und Ausführung von Experimenten sowie strikt einzuhaltende Grenzen bei der Schlussfolgerung dessen, was die Evidenz logisch zu schließen erlaubt. Im Gegensatz dazu werden Intellektuelle als soziale Klasse dafür belohnt, in großer Zahl ausschweifende, plausible, populäre und politikrelevante Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Kriminologen dürften sich in einem Bereich höchst verzweifelter Spekulationen bewegen,648 aber der ordnungspolitische Druck, das „Kriminalitätsproblem“ zu „lösen“, bedeutet, dass man jenen Kriminologen viel Geld zur Verfügung stellt, die behaupten, sie wüssten, wie man Kriminelle „rehabilitiert“ oder das „Grundübel“ der Verbrechen entdeckt. Wie viele Kriminologen oder Intellektuelle schlechthin den Anreizen ihrer Klasse und nicht denen ihrer kognitiven Prozesse erliegen, kann hier nicht geklärt werden. Der Punkt ist der, dass die jeweiligen Anreize sehr unterschiedliche sind. Der intellektuelle Prozess Intelligenz kann viele Formen annehmen, von den inkrementell unmerklich und teilweise unbewusst sich über die Jahre hinziehenden Verhaltensänderungen, die wir „Erfahrung“ nennen, bis hin zu den ausgefeilten und wohlformulierten Argumenten und Schlussfolgerungen, die ein Kernbestandteil intellektueller Prozesse sind. Intelligenz und Intellektualität sind zwei unterschiedliche Dinge. Als Ergebnis hofft man, dass letztere sich erstere einverleiben wird. Welche Überlappungen zwischen beiden auch bestehen mögen, eine konzeptuelle Kongruenz zwischen beiden existiert nicht. Eine explizite Artikulierung  – in Form von Worten oder Symbolen  – ist ein wesentlicher Teil des intellektuellen Prozesses. Im Vergleich dazu sind die höchst komplexen Informationen, die das Leben überhaupt erst ermöglichen und unartikuliert sowie systematisch entwickelt im genetischen Code verankert sind, nicht in 648

Rottenberg (1973), S. 13: „In einem neueren Lehrbuch verwendet der Autor 82 Seiten auf das, was er eine kondensierte Zusammenfassung gegenwärtiger Theorien zur Kausalität von Verbrechen nennt.“ Siehe auch Wilson (1976), Kapitel 3.

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tellektueller Natur, obwohl das Bemühen, den genetischen Code in eine sprachliche Form zu übertragen, ein herausfordernder und unabgeschlossener intellektueller Prozess ist. Umgekehrt können die Artikulationsbemühungen sehr ausgefeilt und eindrucksvoll sein, inhaltlich jedoch von ungemein schlichter und trivialer Natur. In der Aussage, dass LIX mal XXXIII gleich MCMXLVII ist, steckt nichts, das intrinsisch schwer oder tiefgründig wäre. Kinder in der 4. Klasse beherrschen diesen Schwierigkeitsgrad der Arithmetik jeden Tag. Allein die Symbole machen die Sache eindrucksvoll. Graphen, lateinische Ausdrücke und mathematische Symbole erzeugen auf gleiche Weise einen Hauch von Komplexität und Tiefgründigkeit als Begleitmusik der Ausarbeitung von Ideen, die vielleicht recht wenig Komplexität oder Substanz und noch weniger Gültigkeit vorzuweisen haben. Eine für sich stehende Idee oder willkürlich zusammengesetzte Ideenkonstellation – eine Vision – wird in eine empirisch bedeutsame Theorie verwandelt, indem ihre Prämissen und die logischen Ableitungen ihrer Implikationen systematisch artikuliert werden. Dies allein schafft weder Wahrheit noch Kreativität. Es hilft aber, Fehler und bedeutungslose Rhetorik freizulegen. Je rigoroser die Begründung formalisiert ist, desto leichter werden verschobene Prämissen oder sonstige interne Inkonsistenzen sichtbar oder eine Unstimmigkeit zwischen den Schlussfolgerungen der Theorie und den beobachtbaren Ereignissen erkennbar. Kurzum, die Artikulation ist für den intellektuellen Prozess entscheidend, so begrenzt dies auch im gesellschaft­ lichen Entscheidungsprozess möglich (und manchmal verwirrend) sein mag. Mit der Artikulation geht Information verloren, wie wir bereits in Kapitel 8 im Zusammenhang mit dem Thema Preisbindung und Zentralplanung festgestellt haben. Die Definition oder Umschreibung von Produktmerkmalen durch Dritte umfasst selten so viele Dimensionen, wie in Marktprozessen unartikuliert und unbewusst koordiniert werden. So verfügt beispielsweise ein wenig umschriebenes Appartement (auf dem privaten Wohnungsmarkt) oft über mehr nützliche Zusatzfunktionen als eine Vergleichswohnung, die (im Reglement des öffentlichen Wohnungsbaus) detailliert beschrieben ist. Die Merkmale von recht einfachen Dingen wie ein Appartement oder eine Dose Erbsen können nicht erschöpfend artikuliert werden. Oft können sie auch nicht genug artikuliert werden, um mit der systemischen Kontrolle der Merkmale im Zuge freiwilliger Transaktionen mit­zuhalten. Und wenn es sich um sehr vertrackte und subtile Dinge handelt, wie z. B. tief empfundene Gefühle, dann erscheint die Artikulation so vollständig unangebracht, dass man sie durch symbolische Gesten, Blicke oder angepasste Tonlagen ersetzt, die weniger explizit sein mögen, aber weitaus mehr Bedeutung vermitteln. Der Rückzug zur Poesie, Musik und Blumensprache, der wir in höchst gefühlsintensiven Momenten suchen, ist Beweis genug für die begrenzte Übermittlungskapazität der Artikulation. Da buchstäblich nichts erschöpfend artikuliert werden kann, ist der Artikulations­ prozess notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad auch ein Abstraktionsprozess. Einige Merkmale sind definiert, andere wiederum, die zwar auch vorhanden sind, aber für die Sache als vergleichsweise unbedeutend angesehen werden, blei-

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2. Teil: Themen und Tendenzen

ben unerwähnt. Diese rein beurteilende Entscheidung mag sich als richtig oder falsch herausstellen. Die Sache ist die, dass abstrakte Modelle des Geistes – Bacon sprach von den „nachgeahmten und fabelhaften Welten“649 – ein Bestandteil der intellektuellen Tätigkeit sind, egal, ob diese Modelle explizit und äußerst formalisiert (wie in den Systematiken mathematischer Gleichungen) oder informell und unausgesprochen daherkommen. In unausgesprochenen Modellen ist es aber möglich, über die Tatsache hinwegzusehen, dass man abstrahiert und theoretisiert. Man kann die Prämissen oder Schlussfolgerungen „gesunden Menschenverstand“ nennen und seine Prämissen hin und her schieben, ohne sich selbst über sie im Klaren zu sein oder andere auf sie aufmerksam zu machen. Man kann z. B. in einem Teil eines informellen und unausgesprochenen Arguments die öffentliche Beiwohnung bei Exekutionen als Beleg für die Immoralität der Todesstrafe verwenden, und einige Seiten später die Nicht-Beiwohnung als zusätzlichen Beleg für ihre Immoralität benutzen. Wenn alle Argumente auf Gleichungen reduziert wären, dann würden die inkonsistenten Prämissen in einer komprimierteren Präsentation immerhin näher beieinanderstehen und könnten so leichter ausgemacht und mithilfe allgemein anerkannter Prinzipien der Mathematik schlüssig nachgewiesen werden. In einer Sternstunde der modernen Wirtschaftstheorie zeigte sich, dass eine Reihe von Anweisungen, die man einem Konstruktionszeichner zur Anfertigung eines Graphen gab, von diesem unmöglich ausgeführt werden konnten. Das führte später zur Entdeckung eines wichtigen Ökonomieprinzips, das Teil dieser Unmöglichkeit ist.650 Hätte man dieselbe Theorie mündlich und informell präsentiert, dann wäre die Ungereimtheit womöglich kaum aufgefallen. Die besagte Ungereimtheit unterläuft einigen „Praktikern“ immer noch, auch wenn sie bereits vor Jahrzehnten analytisch diskreditiert wurde.651 Der enorme Wert der Artikulation, Abstraktion und formalisierten Rationalität im intellektuellen Prozess liegt darin, dass sie Teil des Überprüfungsprozesses sind. Sie sind weder Teil des kreativen Akts noch des empirischen Beweises, der letztlich über die Anwendbarkeit entscheidet. Die ausschließlich negative Rolle artikulierter Rationalität beim Filtern, Modifizieren und Eliminieren von Ideen, die zu Wissen werden, kann man in Schulen lehren, weil sie in formaler Weise nachgewiesen werden kann. Aber die kreative Leistung – der präanalytische Kognitionsakt, wie er einmal genannt wurde652 – kann man nicht lehren. Die bestens geschulten Abgänger der führenden Universitäten sind deshalb besser darauf vorbereitet, Ideen zu zerstören als sie zu generieren. Dies ist ein systemisches Merkmal, das 649

Bacon (1939), S. 19. Viner (1958), S. 79–84. 651 „Praktiker“ verkennen oft, dass die optimale Nutzung einer vorhandenen Ausrüstung (die Herstellung einer Gütermenge mit den geringsten Durchschnittskosten) nicht dasselbe ist wie die Herstellung eines Güterniveaus (auch nicht desselben Niveaus) zu geringstmög­ lichen Kosten. Ein offenkundiges Beispiel ist, dass die meisten Automobile 90 % der Zeit nur herumstehen und dennoch in vielen Fällen die effizienteste Transportmöglichkeit darstellen. 652 Schumpeter (1954), S. 4. 650

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man verstehen muss, und nicht eine vorsätzliche Wahl, die es zu kritisieren gölte. Man muss sich dessen im Klaren sein, wenn man sich diese Leute als potenzielle Schöpfer von „Lösungen“ für „soziale Probleme“ vorstellt. Wenn sie kreativ sind, dann tun sie nicht, was man sie lehrte, sondern sind Profis, die das, was sie tun, als Amateure verrichten. Die Maxime, dass „Experten“ gefälligst „auf der Matte und nicht auf dem Treppchen“ stehen sollten, bringt zum Ausdruck, wofür man sie wertschätzt: ihre negative Rolle bei der Sortierung politischer Alternativen. Die ganze Idee, soziale „Probleme zu lösen“, weitet akademische Praktiken auf einen völlig anderen Prozess aus. Der akademische Prozess ist einer der Vorbereitung, ausgeführt von Personen, die bereits im Besitz von Wissen sind, das sie artikulieren und unilateral vermitteln wollen. Gesellschaftliche Prozesse hingegen sind Verfahren der systematischen Entdeckung von Wissen, das auf vielerlei Arten und meist unartikuliert multilateral kommuniziert wird. Wenn man ein akademisches „Problem“ löst, dann befasst man sich auf eine vorgeschriebene Weise mit zuvor ausgewählten Variablen, um eine vorbereitete Lösung zu erzielen. Wenn man das akademische Paradigma auf die reale Welt anwendet, dann entwirft man willkürlich gesellschaftliche Prozesse – den gesamten Komplex an ökonomischen, sozialen, legalen und sonstigen Aktivitäten – so, als ob sie ein Entscheidungsträger bereits erfasst hätte oder erfassen könnte. In Wirklichkeit aber sind diese Prozesse weitgehend Mechanismen zur Bewältigung tiefgreifender Ungewissheit und zum haushälterischen Umgang mit knappem und fragmentiertem Wissen. Soziale Prozesse können gegensätzliche Wünsche und Vorstellungen auflösen, und zwar durch die Kommunikation und Koordination verstreuten und fragmentierten Wissens. Ihre Lösung ist ihrem Wesen nach eine vollkommen andere als die Lösung, die von oben als die „beste“ verordnet ist und einem vorherrschenden Standard folgt, der im Lichte eines bestimmten Fragments an Wissen zu sehen ist. Was ist ein gesellschaftliches „Problem“? Es ist im Prinzip eine Situation, die jemand für weniger vorzugswürdig hält als eine andere Situation, die zu erreichen inkrementell teurer ist. Wäre die Alternative nicht kostspieliger, dann wäre sie bereits gewählt worden und man hätte kein greifbares „Problem“ mehr übrig. Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis ist ein gesellschaftliches Problem wahrscheinlich eines von höher bewerteten und unerfüllten Wünschen – eines, das die Kosten der Befriedigung beinahe, aber nicht ganz wert ist. Solche Situationen gehören zum inkrementellen Abwägen von Kosten und Nutzen, das wiederum den Bedingungen von Knappheit und Güterabwägung innewohnt. Eine „Lösung“ zu solchen „Problemen“ ist ein Widerspruch in sich selbst. Man kann natürlich immer unerfüllte Wünsche jedweder Art eliminieren. In dem Fall dehnt man die Konsumption eines Vorteils bis zu dem Punkt aus, an dem der inkrementelle Wert null ist. In einem System inhärenter Knappheit (hier unbegrenzt viele mensch­ liche Wünsche) bedeutet das aber noch mehr, andere Vorteile auszuschlagen. Ein Großteil der politischen Erörterung von Problemlösungen besteht aus der ausführlichen Darlegung der Binsenweisheit, dass die Ausdehnung eines gegebenen Vorteils dem zugedachten Zweck zuträglich ist – mehr Flughäfen, Kindertages-

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stätten, staat­licher Wohnungsbau etc. Dass mit ihr der inkrementelle Wert der geopferten Alternativverwendungen steigt, spielt dabei keine Rolle. Eine Variante dieses Thema ist die, dass einige Menschen einen bestimmten Vorteil „brauchen“, der für sie „unerschwinglich“ ist. Das bedeutet, dass der inkrementelle Wert für Gruppe A die inkrementellen Kosten für Gruppe B übersteigt. Dieses Argument bezüglich bestimmter Vorteile und bestimmter Gruppenbeschreibungen mag eine gewisse Plausibilität und vielleicht auch seine Verdienste haben, verliert aber in dem Maße deutlich an Gültigkeit, in dem Gruppe A sich einem Zustand nähert, in dem sie mit Gruppe B identisch ist. Dennoch werden recht ähnliche Argumente vorgebracht, um „Probleme“ zu „lösen“, wenn A und B bereits identisch sind. Dann heißt es z. B., dass die Amerikaner sich nicht die medizinische Versorgung leisten könnten, die sie brauchen. Folglich sollte es eine staatliche Krankenkasse geben (für die die amerikanische Bevölkerung aufzukommen hätte). Ein soziales „Problem“ zu „lösen“, heißt, (1) den Ort der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung von reziproken Interaktionen nach intentionalen Prozessen, die unilateral oder hierarchisch verlaufen, zu verlagern, (2) die Kommunikationsart und Kontrollweise von austauschbaren und mithin inkrementell variablen Medien (emotionale Bindungen, Geld etc.) auf kategorische Prioritäten, die eine Untergruppe stellvertretend für die ganze Bevölkerung ausgewählt hat, umzustellen. Und wegen der Diversität menschlicher Werte, die jedes Sortiment an greifbaren Ergebnissen unterschiedlich wertvoll (finanziell oder moralisch) macht, heißt es (3), dass überall, wo es zu gewaltsam durchgeführten und unkompensierten Änderungen gekommen ist, Widerstand und Vermeidungsmanöver aufkommen werden, die nur durch noch mehr Gewalt beherrscht werden können – will sagen, durch weniger Freiheit. Die ganze Vorstellung von einer „Lösung“ setzt zudem einen bestehenden Standard voraus, nach dem eine Situation als „Lösung“ für eine andere Situation betrachtet werden kann. Dieser Standard kann materieller und / oder moralischer Natur sein, aber es muss einen geben, damit es auch eine „Lösung“ geben kann. Solange es unterschiedliche Menschen gibt, die unterschiedliche Güterabwägungen vornehmen – mögen diese für sie im Ergebnis auch noch so befriedigend sein –, kann es für jemanden, der nach einem einzigen Standard verfährt, nur „Chaos“ oder eine „Problem“ geben, das nach einer „Lösung“ ruft. Die undemokratischen Folgen, die sich durch die Anwendung des akademischen Paradigmas in der Politik einstellen, verschärfen sich noch, und zwar durch die Neigung vieler Intellektueller, Entscheidungsprozesse vorzuziehen – bzw. indirekt auf sie zu bestehen –, die explizit formulierte Ergebnisse hervorbringen. Demnach müssen gesellschaftliche Entscheidungen vorab artikuliert werden, bevor sie an Regierungskommissionen, Verwaltungsbehörden, Gerichte, Bewährungsausschüsse, Schulämter, Beratergremien von Unternehmen, Polizeiabteilungen und sonstige Entscheidungsfinder herangetragen werden. Unartikulierte Entscheidungsfindung wird mit „Irrationalität“ gleichgesetzt. „Warum brauchen wir vier Tankstellen an einer Kreuzung?“, fragt ein Intellektueller, der ein Bild von der „verschwenderischen“ Entscheidungsfindung in Amerika malt, das aus „tausend kleinen Königen“

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besteht, die von „Habgier“ angetrieben sind.653 Die eigentliche Frage ist jedoch: Warum braucht es eine artikulierte Rechtfertigung gegenüber Dritten, damit entschieden werden kann, wo sich ein Unternehmen niederlässt, oder sonst eine Entscheidung in einem anderen Bereich der Gesellschaft gefällt werden kann? Wenn Entscheidungsträger von „Habgier“ anstatt von einem a priori festlegten Verhaltensmuster angetrieben werden, dann werden ihre Entscheidungen durch die Entscheidungen ihrer Mitbewerber beschränkt, die alternative Verwendungen der betroffenen Ressourcen (einschließlich Niederlassungsorten) im Sinn haben. Dass Entscheidungen nicht artikuliert sind, ist kein Beleg dafür, dass sie irrational oder undemokratisch wären. Im Gegenteil! Wenn man sich vor einem Tribunal aus Drittparteien artikulieren muss, die ihre eigenen Standards anlegen, dann beschneidet dies sowohl die Demokratie wie auch die Freiheit. Zudem schwächt es oft die Wissensvermittlung, die mit der Entscheidungsfindung einhergeht, in ihrer Effektivität. Überdies bevorteilt es in der Gesellschaft jene, die bessere Artikulationsfähigkeiten besitzen, selbst wenn ihre Fähigkeiten auf anderen Gebieten mangelhaft sein sollten. Wenn man die Vorteile bedenkt, die in der Spezialisierung liegen, dann gibt es keinen Grund für die Vermutung, dass die Artikulations­ begabten den Spezialisten in ihrem Spezialgebiet an Begabung überlegen sein sollten. Systematische Niederlassungsmuster (Tankstellen und Arztpraxen liegen oft nah beieinander, während Schnapsläden und Schreibwarenhandlungen meist weit voneinander entfernt liegen) lassen vermuten, dass nichts „Irrationales“ oder Zufälliges hinter ihnen steckt – auch kein weitreichender Wunsch nach einer verbesserten wirtschaftlichen Situation, der für das Muster verantwortlich wäre. Dass man Entscheidungen, die man in einer bestimmten Gruppe antrifft, auf „Habgier“ zurückführt, aber die Entscheidungen anderer Gruppen auf „Strebsamkeit“ oder „Bedürftigkeit“, ist eher das zufällige Merkmal einer Modeerscheinung unter Intellektuellen. Die Tugenden des intellektuellen Prozesses sind Tugenden innerhalb des intellektuellen Prozesses, und nicht unbedingt tugendhaft, wenn sie als vorrangige Tugenden in anderen Gesellschaftsprozessen universalisiert werden. Artikulation, formalisierte Rationalität und faktenbasierte Schlüsse sind Kernmerkmale des intellektuellen Prozesses, wenn sie von ihren inneren Anreizen und Begrenzungen bestimmt werden. Inwieweit derlei das Verhalten von Intellektuellen als gesellschaftliche Klasse in der politischen Arena prägt, ist eine andere Frage. Eine andere Frage ist auch, inwieweit diese intellektuellen Tugenden in intellektuellen Angelegenheiten überleben können, wenn die persönlichen oder politischen Lorbeeren, die den Intellektuellen als gesellschaftliche Klasse winken, Anreize zu entgegengesetztem Handeln bieten.

653

Sherman (1972), S. 73.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Intellektuelle als soziale Klasse Intellektuelle – Personen, die mit der Übermittlung verallgemeinerter Ideen ihr Geld verdienen – stehen vor Anreizen und Beschränkungen, die von den Besonderheiten ihrer sozialen Klasse abhängen, aber auch von den Anreizen, die mit der Natur des intellektuellen Prozesses einhergehen. Fragen, die mit der Auflösung von Konflikten unter den beiden Anreizarten verbunden sind – wie bleibt man als Politiker ehrlich, wie als Anwalt ethisch? –, machen nur zu sehr klar, dass es diese beiden unterschiedlichen Bündel an Anreizen und Beschränkungen gibt. Derlei Konflikte werden einfach wegdefiniert, wenn Intellektuelle als Menschen charakterisiert werden, die „für anstatt von Ideen leben.“654 Dies mag zwar das erhoffte Ideal sein, aber was man tatsächlich bei ihnen als Gruppe beobachten kann, ist, dass sie von den Ideen leben. Inwieweit sie diese Tatsache ignorieren und nur die kognitiven Anreize als dominierende ansehen, ist eine empirische Frage, die man untersuchen kann, nachdem man bestimmt hat, welche Anreize von ihrer sozialen Klasse und welche von ihrer kognitiven Aktivität erschaffen werden. Es dient dem Eigeninteresse der Intellektuellen als soziale Klasse wie auch dem jedes einzelnen Intellektuellen, sich ökonomische, politische und seelische Vorteile zu verschaffen. Einer der Wege, auf dem dies geschehen kann, ist die Steigerung der Nachfrage nach ihren Dienstleistungen und die Mehrung des Angebots an Rohmaterial, das Eingang in ihre Arbeit findet. Die Produkte der Intellektuellen – Ideen – werden von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft im Überfluss angeboten. Damit die Nachfrage nach speziell intellektuellen Ideen wächst, muss der Intellektuelle seine Produkte nur noch speziell gestalten. Zeugnisse geprüfter Institutionen (Universitäten, Gelehrtengesellschaften, Forschungsinstitute etc.) helfen zwar, aber der Intellektuelle gestaltet sein Produkt unverkennbar durch die Art, wie er es verpackt – die Wortwahl, Zusammenstellung des Materials sowie Wahrung von erkenntnistheoretischen Grundsätzen und wissenschaftlichem Duktus. Ein Intellektueller, der sich an derlei hält, kann – wie im Fall von John Stuart Mill – ganz ohne akademische Grade auskommen. Der Abschluss kann aber auch nur so dazu gehören – bei Karl Marx war es ein Juraexamen, bei Adam Smith ein Abschluss in Philosophie. Es kann durchaus sein, dass die meisten Intellektuellen von heute einen Hochschulabschluss haben, aber der dürfte wohl kaum ihr wesentliches Kennzeichen sein. Der Konflikt zwischen kognitiven und karrierebezogenen Anreizen zeigt sich vor allem deutlich in der Wahl zwischen bestehendem Wissen und neu ersonnenen Ideen. Ein Intellektueller wird weniger durch das Erreichen der Wahrheit als durch den Nachweis seiner geistigen Fähigkeiten belohnt. Das Rekurrieren auf wohletablierte und weithin akzeptierte Vorstellungen wird die geistige Fähigkeit des Intellektuellen nie unter Beweis stellen. Die Virtuosität des Intellektuellen zeigt sich im Rekurs auf eine neue, esoterische Originalität (wenn möglich die eigene) 654

Coser (1970), S. viii.

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in der Konzeptualisierung und Anwendung von Ideen – egal, ob die Gültigkeit seiner Schlussfolgerungen jene des überlieferten Wissens übertrifft oder nicht. Wie schon Hobbes vor mehr als 300 Jahren festgestellt hat, ist es für die Intellektuellen, „mehr darum zu tun, als gescheit zu gelten, als um den Erfolg der Unternehmungen anderer.“655 Als Teil dieser Produktdifferenzierung ist es wesentlich, dass alternative (konkurrierende) gesellschaftliche Beiträge kognitiv („irrational“) oder moralisch („tendenziös“, „unlauter“) diskreditiert, konkurrierende Eliten verunglimpft („habgierig“, „machthungrig“) und die zur Debatte stehenden Angelegenheiten so dargestellt werden, als wäre dergleichen nie dagewesen, die Analyse mit den vorhandenen Theorien, die Intellektuellen wie Nicht-Intellektuellen gleichermaßen zugänglich sind, nicht machbar und die Zeit so knapp (eine „Krise“), dass man nicht auf eine systemische Lösung, die ja auch zu den Alternativen gehört, die mit der gewollten intellektuellen „Expertise“ konkurrieren, hoffen könne. Allgemeiner gesagt, es muss die Bedeutung von Wissen eingeengt werden, und zwar auf allein jene Sonderformen formalisierter Gemeinplätze, die Intellektuellen zu eigen sind. Behauptungen, wonach die existierenden Institutionen und Ideen völlig ungeeignet seien, mehren ebenfalls die Nachfrage nach Intellektuellen, indem sie die Alternativen verunglimpfen. Die Belohnungen sind sowohl seelischer wie finanzieller Natur. Die Nachfrage nach den Diensten der Intellektuellen steigt auch, weil die Vorliebe für solche politischen und sozialen Prozesse wächst, die mehr von intellektuellen Beiträgen leben – beispielsweise politische Kontrollen und Statuszuweisungen von oben nach unten, „Bildung“ und „mehr Forschung“ als Antwort auf die Übel dieser Welt sowie „Teilhabe“ und institutionelle Vorgaben als Weg zu besseren Entscheidungen. Das karriereorientierte Eigeninteresse der Intellektuellen wird nicht nur durch die Produktdifferenzierung bedient, sondern auch durch die „Relevanz“. Viele der von Intellektuellen kognitiv erschaffenen Produkte sind nicht unmittelbar anwendbar. Warum? Erstens, sie waren noch nicht Gegenstand empirischer Validierung und sind in der realen Welt nicht zu testen. Zweitens, ihre Natur und Stoßrichtung unterscheiden sich von den politischen Diskussionen, in denen man über sie spricht. Drittens, der Zeithorizont des Forschungsprojekts mag weiter hinter dem der Politik liegen. Mithin ist keine erkenntnistheoretisch schlüssige Überprüfung innerhalb des zeitlichen Rahmens, in dem die politische Entscheidung zu fällen ist, gegeben. Und viertens, das artikulierte Wissen, das zur Verfügung steht, kann durchaus dem politisch Erwünschten zuwiderlaufen. Damit ein intellektueller Beitrag „relevant“ wird, müssen solche Dilemmata aufgelöst werden. Kognitive Anreize bedeuten geringere Relevanz und geringere berufliche Entlohnungen, also weniger Geld, Status, Macht, Popularität etc. Karriereanreize bedeuten offensichtlich mehr von derlei Belohnungen und weniger kognitive Authentizität.

655

Hobbes (1966), S. 38.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Die skizzierten Anreize sollen das Verhalten eines Intellektuellen nachzeichnen, der allein durch berufliche Belohnungen motiviert und bereit ist, derlei konkurrierende Anreize, wie erkenntnistheoretische Prinzipien, ethische Standards und demokratische Freiheit, als ausdehnbare Größen gegeneinander abzuwägen. Es geht hier nicht darum, a priori festzulegen, wie viele Intellektuelle sich wie verhalten werden, sondern um die Bereitstellung eines Rahmens, innerhalb dessen das beobachtbare Verhalten von Intellektuellen in verschiedenen Situationen sozialer, politischer und historischer Natur beurteilt werden kann. „Relevanz“ Intellektuelle streben schon sehr lange danach, politisch „relevant“ zu sein. Vor mehr als 300 Jahren drückte Hobbes die Hoffnung aus, sein Leviathan würde eines Tages „in die Hände eines Souveräns fallen,“ der „diese spekulative Wahrheit in praktischen Nutzen verwandelt.“656 Karl Marx drückte die seelische Bedeutung der „Relevanz“ für den Intellektuellen recht wortgewandt aus, als er schrieb, es … „…  muss die Zeit kommen, wo die Philosophie nicht nur innerlich durch ihren Gehalt, sondern auch äußerlich durch ihre Erscheinung mit der wirklichen Welt ihrer Zeit in Berührung und Wechselwirkung tritt. … Die Philosophie wird in die Welt eingeführt von dem Geschrei ihrer Feinde, welche die innere Ansteckung durch den wilden Notruf gegen die Feuersbrunst der Ideen verraten. Dieses Geschrei ihrer Feinde hat für die Philosophie dieselbe Bedeutung, welche der erste Schrei eines Kindes für das ängstlich lauschende Ohr der Mutter hat, es ist der Lebensschrei ihrer Ideen, welche die hieroglyphische regelrechte Hülse des Systems gesprengt und sich in Weltbürger entpuppt haben.“657

Bemerkenswerterweise war dies kein Ausruf der Befriedigung bei der Bewerbung einer bestimmten Doktrin oder eines bestimmten Anliegens. Marx kannte Engels, der ihn zu einem Kommunisten machen sollte, damals noch nicht. Also gab es noch keine marxsche Theorie zu bewerben. Marx brachte lediglich die allgemeine Freude eines Intellektuellen zum Ausdruck, den man zur Kenntnis nimmt und der große Dinge zu berichten hat. Es wird übrigens nicht nur bei politischen Themen nach „Relevanz“ gesucht. In Malthus’ Bevölkerungsgesetz spielte die Demografie eine große politische Rolle; buchstäblich von Anfang an: auf der ersten Seite der Originalausgabe von 1798.658 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war es die Biologie in Gestalt einer intellektuellen Mode namens „Sozialdarwinismus“,659 die den Bodensatz der politischen Theorie bildete. Die Psychologie erfuhr ihre Politisierung in jener Phase langer Kontroversen, die der drastischen Revision der amerikanischen Immigrations­ 656

Hobbes (1966), S. 281. Marx (1983), S. 97 f. 658 Malthus (1959), S. xiii, 1. 659 Hofstadter (1955). 657

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gesetze in den 1920er Jahren vorausging. Während der politischen Krise der Großen Depression versuchten buchstäblich alle sogenannten „Sozialwissenschaften“, politisch „relevant“ und nicht nur im erkenntnismäßigen Sinne gültig zu sein. Der aufkommende Wohlfahrtsstaat institutionalisierte diese unter „Sozialwissenschaftlern“ verbreitete Tendenz zu anwendungsbezogenen intellektuellen Tätigkeiten. In totalitären Ländern ist buchstäblich jeder intellektuelle Bereich politisiert. Damals gewannen in der Sowjetunion die Genetik und die Ökonomie eine ideologische Bedeutung.660 Und in Nazideutschland behauptete man, dass es solche geistigen Entitäten wie die Deutsche Physik, die Deutsche Chemie und die Deut­ sche Mathematik gäbe.661 Unser Anliegen ist hier allerdings nicht die Frage, was Staaten dem intellektuellen Prozess zugefügt haben, sondern, was Intellektuelle auf der Suche nach „Relevanz“ alles unternommen haben. Malthus’ Bevölkerungstheorie richtete sich offen gegen die politischen Theorien zeitgenössischer Revolutionäre wie Godwin und Condorcet. Mit der Zeit verschwanden diese Theorien. Die späteren Ausgaben von Malthus’ Bevölkerungsgesetz warfen sich anderen politischen Themen entgegen. Nun ging es nicht mehr so sehr um politische Lösungen, sondern um die moralische Rechtfertigung der bestehenden Institutionen. „Und es ist klar, daß jeder Angehörige der unteren Gesellschaftsklassen, der diese Wahrheiten kennen lernte, geneigt sein würde, geduldiger zu ertragen, daß er wegen seiner Armut weniger unzufrieden und empört über die Regierung und die höheren Klassen bei allen Gelegenheiten weniger zu Insubordination und Aufruhr aufgelegt wäre … Die bloße Kenntnis dieser Wahrheiten, auch wenn sie nicht wirksam genug wären, um bei den Armen vorsichtigere Gewohnheiten hinsichtlich des Heiratens zu erzeugen, würde dennoch einen höchst wohltätigen Einfluß auf ihr politisches Verhalten ausüben …“662

Stoßrichtung und Applikation einer Doktrin müssen für sich genommen keine Auswirkung auf die erkenntnistheoretische Gültigkeit der Doktrin haben. Aber die vielen intellektuellen Unstimmigkeiten in Malthus’ Theorie hatten einen unmittelbaren Bezug zu den politischen Zielen der Theorie. Wie bei vielen anderen intellektuellen Erzeugnissen von politischer „Relevanz“, lag ihr Grundfehler nicht in einer bestimmten Schlussfolgerung, sondern in der unzureichenden Grundlage für jedwede Schlussfolgerung. Was die rein theoretische Seite betrifft, so verglich Malthus in seiner Doktrin inkonsequenter Weise eine Variable, die er als eine abstrakte Potenzgröße begriff (Bevölkerungswachstum), mit einer anderen Variablen, die er als eine historische Verallgemeinerung verstand (Lebensmittelwachstum).663 Was den empirischen Teil angeht, so war die Beweislage für den Verlauf beider Variablen vollkommen unangemessen. Die vorhergesagte Bevölkerungsverdopplung, die alle 25 Jahre im kolonialen Amerika stattfinden sollte, fußte auf einer 660

Nove (1961), S. 127, 312 f. Shirer (1960), S. 345. 662 Malthus (1924), Band 2, S. 383 f. 663 Sowell (1974b), S. 88 f. 661

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Information aus dritter Hand. Sie gründete auf einer Einschätzung von Benjamin Franklin, die ein britischer Geistlicher namens Price aufgegriffen hatte, bevor sie Malthus erreichte. Die erste amerikanische Volkszählung wurde nach Franklins Tod publiziert, und die erste britische Volkszählung erfolgte drei Jahre, nachdem Malthus sein Buch veröffentlicht hatte. Der theoretische Beweisgang hing an einem wechselhaften Gebrauch des Wortes „Tendenz“. Manchmal meinte er damit (1) das abstrakt Mögliche, (2) das kausal Wahrscheinliche und (3) das historisch Beobachtbare – je nachdem, wie es ihm für seine Polemik passte. Obwohl seine Zeitgenossen diese Mehrdeutigkeit, die zentraler Bestandteil der Doktrin war, kritisierten, ließ sich Malthus nicht auf eine Bedeutung festnageln.664 Hinsichtlich der Empirie haben die Volkszählungen im Anschluss an die Veröffentlichung von Malthus’ Buch die Tatsache offengelegt, dass das Lebensmittelangebot schneller als die Bevölkerung wuchs und ein Großteil des Bevölkerungswachstums nicht auf unvorsichtige Eheschließungen und Kinderzeugungen unter den Armen zurückzuführen war, wie Malthus behauptet hatte, sondern auf schrumpfende Sterblichkeitsraten.665 Malthus’ Theorie läuft auf die Aussage hinaus, dass das Bevölkerungswachstum mit dem Wohlstand komme – eine empirische Relation, die nachweislich falsch ist, wie wir aus Ländervergleichen und Epochenvergleichen wissen. Wenn Länder prosperieren, dann nehmen ihre Geburtenraten und Bevölkerungswachstumsraten gemeinhin ab. In der Regel haben prosperierende Länder kein stärkeres Bevölkerungswachstum als ärmere Länder. Erkenntnistheoretisch besehen dürfte Malthus’ Theorie umfassender widerlegt worden sein als irgendeine andere sozialwissenschaftliche Theorie,666 aber gesellschaftlich und politisch betrachtet verfestigt sich die malthusische Auffassung auch heute noch 200 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung. Was für so viele andere intellektuelle Erzeugnisse gilt, trifft auch auf sie zu: Ihren Triumpf verdankt sie vor allem ihrer ständigen Wiederholdung. Entscheidend für Malthus und seinen Erfolg war, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entstand, Armut und „Überbevölkerung“ seien identisch, und eine Leugnung des Letzteren gleichbedeutend mit einer Leugnung des Ersteren. Was dem öffentlichen Erfolg von Malthus und seiner Doktrin in die Hände gespielt und sich auch bei anderen politisch „relevanten“ Doktrinen als nützlich erwiesen hat, war die Unterbreitung erkenntnistheoretisch irrelevanter Statistiken. Die zweite Ausgabe von Malthus’ Bevölkerungsgesetz war mehr als doppelt so lang wie die erste, weil sie massenhaft Daten enthielt. Diese Daten wurden nie genutzt, um Malthus’ Theorie zu überprüfen, sondern nur, um sie zu illustrieren und anzuwenden. Sie sollten – in Malthus’ eigenen Worten – dazu dienen, „die Art und Weise zu beleuchten,“ mit der die Theorie vorgeht, um „die Wirkungen einer wichtigen Ursache zu untersuchen“, aber nicht, um diese Ursache – das Bevölkerungsprinzip – selbst zu testen. Jede Populationsgröße und Wachstumsrate stünde mit dem Prinzip in Einklang: „Die natürliche Vermehrungstendenz ist überall so groß, 664

Senior (1829), Appendix. Sowell (1972), S. 82. 666 Stigler (1952). 665

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daß es im ganzen leicht sein wird, die gegebene Größe der Bevölkerung irgend eines Landes zu erklären.“667 Egal, was die Daten sagten, er lag immer „richtig“. Die dekorative Zurschaustellung von Zahlen, die keinesfalls die zentrale Prämisse testen, findet man auch – mit mehr Finesse – in modernen Statistikstudien. Eine bekannte Untersuchung zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Rassendiskriminierung beginnt damit, dass „Diskriminierung“ durch alle Intergruppendifferenzen in wirtschaftlicher Hinsicht definiert wird.668 Im Folgenden wird dann diese Prämisse mathematisch und statistisch ausgeleuchtet, aber nie selbst getestet. Alle Intergruppendifferenzen, die sich kulturell hinsichtlich Bildung, Arbeit, Risikoverhalten, Management usw. betrachten ließen, bleiben dank Definition außen vor. Im Definitionsverständnis der Studie wird Diskriminierung zu einem Wort, das statistische Ergebnisse bezeichnet, obwohl der eigentliche Grund für unser Interesse an der Diskriminierung in ihrer herkömmlichen Bedeutung der ist, dass sie auf absichtliches Verhalten mit moralischen, politischen und sozialen Konsequenzen verweist, die uns wichtig sind. Diese soziale und politische Bedeutsamkeit wird stillschweigend statistischen Resultaten zugesprochen, die auch von vielen anderen Faktoren abhängen. Derlei willkürliche Kausalzuordnungen per Definition sind ein Sonderfall eines eher allgemeinen Problems, das die Analyse von Statistiken plagt. Immer dann, wenn Ergebnis A von den Faktoren B und C abhängt, kann man den Residualeffekt von C auf A bestimmen, indem man B konstant hält. Das Problem ist, dass A auch von den Faktoren D, E und F usw. beeinflusst sein kann. Wenn diese aber in der Analyse nicht spezifiziert enthalten sind, dann wird ihr Einfluss fälschlicherweise C zugeschrieben. Zudem kann es auch sein, dass der Versuch, B konstant zu halten, fehlschlägt. Theoretische Variablen kann man nach und nach weiter unterteilen, aber eine Statistik kann man nur mit separierten Kategorien haben. Wenn man zwei Gruppen vergleicht, die sich in einer Hinsicht bzw. Variablen unterscheiden (männlich und weiblich, groß und klein usw.), und man diese Variable konstant halten will, während man Individuen mit identischen Werten dieser Variablen vergleicht (selbe Größe), dann bedeutet das in der Praxis, dass man Individuen vergleicht, die in dieselbe Größenkategorie fallen (sagen wir 1,70–1,80 Meter). Aber Gruppen, bei denen die Verteilungen sich quer über die spezifizierten Intervalle unterscheiden, können sich auch innerhalb dieser Intervalle unterscheiden. Die durchschnittliche Größe von Männern und Frauen, die in das Intervall zwischen 1,70–1,80 Meter fallen, dürfte unterschiedlich ausfallen (weil Männer in dieser Spanne mehrheitlich größer sind als Frauen). Der Versuch, die Variable konstant zu halten, hilft da nicht. Daher wird ein Teil des Effekts, der angeblich von der konstanten Variablen ausgeht, statistisch als Auswirkung der Residualvariablen auftreten. Die in der Analyse verwendeten Residualmethode birgt die Gefahr, die Kausalität falsch auszuweisen, und zwar durch eine entweder absichtliche 667 668

Malthus (1924), Band 1, S. 31, 14, 204. Thurow (1969), S. 2.

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oder unabsichtliche Fehlspezifizierung der zuständigen Variablen. Egal, welche Residualerklärung man vorzieht (Diskriminierung, Genetik, Schulbildung usw.), Unzulänglichkeiten bei der Spezifizierung der alternativen Variablen werden belohnt, und zwar mit einem Plus an augenscheinlichem Effekt, der (vermeintlich) von der bevorzugten Residualvariablen ausgeht. Im Extremfall hält man unter der Hand alle Variablen konstant, indem man willkürlich eine Variable als die Varia­ ble definiert und diese Definition so einsetzt, als ob man mit ihr eine Tatsache der realen Welt beschrieben hätte. Man nutzt einfach dasselbe Wort, mit dem man die Tatsache normalerweise beschreibt – in diesem Fall „Diskriminierung“. Die politischen Vorteile dieses kognitiven Defizits zeigen sich nicht nur darin, dass führende Politiker und Institutionen dem Rat des Ökonomen vertrauen, der diese Technik verwendet, sondern auch im akademischen Erfolg des Ökonomen, wenn er mit einer Schlussfolgerung hausieren geht, die mit der sozialen und politischen Vision der akademischen Welt in Einklang steht – mag sie auch noch so fragwürdig sein. Es ist eine Technik – und eine Folge –, die auch in anderen Bereichen zuhause ist, wie wir noch feststellen werden. In Diskussionen zur „Einkommensverteilung“ verfolgt man die Strategie der Missachtung alternativer Variablen auf eine ähnliche Weise. Dort spricht man von den statistischen Ergebnissen in Bezug auf Personen, die in ihrem Wirtschaftsleben verschiedene Phasen durchlaufen, so, als ob man auf sozioökonomische Klassen im herkömmlichen Sinn verweisen würde; Klassen, die Menschen umfassen, die ihr Leben lang einer bestimmten Schicht angehören. Die „oberen 10 Prozent“ der Wohlstandsskala zaubern ein Bild der Rockefellers und Kennedys hervor, aber in Wirklichkeit sind hauptsächlich ältere Personen gemeint, die ihre Hypotheken abbezahlt haben und in ihrer Jugend statistisch durchaus zu den „Armen“ gehört haben könnten. Es geht hier nicht darum, ob die Einkommens- und Wohlstandsunterschiede größer oder kleiner sein sollten, als es aus der einen oder anderen Sicht wünschenswert erscheint. Die grundlegende Frage ist, ob die Kongruenz zwischen den statistischen Kategorien und den sozialen Realitäten ausreichen, um irgendwelche Schlüsse umsetzen zu können. Zu erklären, dass „trockene Statistiken sich mit Arbeitern, die Einkommen an der Armutsgrenze haben, übersetzen lassen,“669 mag politisch effektiv sein, behauptet aber nur, was doch sehr in Frage steht. Man kann die negativen Erkenntniseffekte der politischen „Relevanz“ auch anhand Darwins Evolutionstheorie illustrieren. Indem man Darwins biologisches Konzept vom „Überleben der Bestangepassten“ politisch anwendete, hat man es nicht nur ausgedehnt, sondern auch verzerrt. Was bei Darwin ein Kausalprinzip der biologischen Evolution war, das die Spezies betraf, wurde in der politischen Anwendung zu einem Bewertungsprinzip, das Individuen betraf. Die systemische Neigung von Organismen, sich ihrer jeweiligen Umgebung anzupassen, wurde zu einem intendierten Erfolg von Individuen, die nicht nur innerhalb ihrer jeweiligen sozialen Umgebung als überlegen eingestuft wurden, sondern auch die politische 669

Sherman (1972), S. 74.

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Rechtfertigung dafür lieferten, ein Arrangement an Umfeldbedingungen anderen Arrangements vorzuziehen.670 Diese politische Anwendung entstellte das darwinsche Prinzip. Amoralische Faulheit dürfte z. B. in einem hinreichend extremen Wohlfahrtsstaat die „bestangepasste“ Strategie sein, um zu überleben. Und in einer hinreichend extremen Laissez-faire-Ökonomie ohne angemessene Rechtsdurchsetzung dürfte es skrupelloser Ehrgeiz sein. Darwin selbst hat die politische Umsetzung und Entstellung namens „Sozialdarwinismus“ nicht vorgenommen. In England war es Herbert Spencer, in Amerika Graham Sumner. Hier wie da verkehrten zahllose ihrer Schüler Darwins Prinzip der biologischen Änderung in ein politisches Prinzip, das den Status quo rechtfertigt. Zumindest konnte der Darwinismus seine Integrität in der Biologie wahren. Weniger von Glück gesegnet war die junge Disziplin der Psychologie, als sie eilig ihren Behauptungen wissenschaftliches Format und politische „Relevanz“ verschaffen wollte. Die ersten Intelligenztests in Frankreich gab es 1905. Sie hatten ein politisches Ziel – man wollte Studenten mit geringer akademischer Eignung speziellen Bildungseinrichtungen zuführen. Der für diesen Zweck von dem Franzosen Alfred Binet entwickelte Test wurde von Lewis Terman an der Stanford Universität übersetzt und für die amerikanische Jugend als Stanford-Binet Intelligenztest übernommen. Er wurde für amerikanische Zwecke auch politisch übernommen – in den Diskussionen über die amerikanische Immigrationspolitik ging es hoch her. Anders als die früheren Einwanderergenerationen waren die Immigrantengruppen, die in 1880er Jahren und danach die Vereinigten Staaten erreicht haben, nordund westeuropäischer Abstammung, sondern weitgehend Ost- und Südeuropäer, die sich kulturell, konfessionell (viele Katholiken und Juden) und genetisch von der amerikanischen Bevölkerung insgesamt und den früheren Immigrantengruppen abhoben. Die beträchtlichen sozialen Strapazen, die mit dem Eintreffen all dieser neuen ethnischen Minderheiten in den urbanen Wirtschaftsräumen verbunden waren, wurden als Eigenheiten der neuen und „nicht-assimilierten“ Einwanderer abgetan. Üppiges Datenmaterial belegt, dass diese „neuen“ Immigrantengruppen häufiger sozialpathologisch auffielen – und niedrigere Intelligenzquotienten hatten. Für die Psychologie, die damals neu war, war der niedrige Intelligenzquotient der Einwanderer eine Gelegenheit, die politische „Relevanz“ des Psychologenberufs und seiner erkenntnistheoretischen („wissenschaftlichen“) Ansprüche zu etablieren. Die führenden „Testexperten“ ihrer Zeit – einschließlich Terman, Goddard und Yerkes – bestanden darauf, „keine Theorie oder Meinungen, sondern Fakten“ zu präsentieren, Fakten, die „vor allem für unsere Gesetzgeber“671 von Bedeutung seien. Sie „maßen einheimische bzw. angeborene Intelligenz.“672 Ihre Ergebnisse

670

Siehe Hofstadter (1955). Brigham (1923), S. viii. 672 Brigham (1923), S. 100. 671

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2. Teil: Themen und Tendenzen

belegten „die fixe Beschaffenheit geistiger Niveaus.“673 Intelligenztests würden „Abertausende von Geistesstörungen“ der „Aufsicht und dem Schutz der Gesellschaft“674 unterstellen. All dies wurde in einer Zeit gesagt, als es die Intelligenztests in den Vereinigten Staaten gerade mal seit 10 Jahren gab. Die führenden „Experten“ auf dem Gebiet der Intelligenzerforschung waren auch Mitglieder eugenischer Gesellschaften, die eine Reproduktion „minderwertiger“ Abstammungen675 verhindern wollten. Da es „gegenwärtig“ politisch unmöglich sei, die „Gesellschaft“ davon zu überzeugen, dass es Gruppen mit niedrigen Intelligenzquotienten „nicht erlaubt sein sollte, sich zu vermehren,“676 sagten die „Experten“ voraus, dass es auf Dauer zu „einem Niedergang der amerikanischen Intelligenz“ komme.677 Im Anschluss an eine Untersuchung, bei der massenhaft Soldaten des 1. Weltkriegs getestet wurden, kam der Testexperte und spätere Gründer des Zulassungstests für Studenten – College Board SAT – Carl Brigham zu dem Schluss, dass der „Staat tätig“ werden müsse und „rechtliche Schritte“ einzuleiten seien, um einen „Niedergang der amerikanischen Intelligenz“ zu verhindern. Derlei Schritte sollten „von der Wissenschaft und nicht von der politischen Zweckmäßigkeit“ diktiert werden und umfassten Einwanderungsgesetze, die nicht nur „restriktiv“ sondern auch „hochselektiv“ sein sollten, sowie zusätzliche Maßnahmen zur „Vorbeugung einer weiteren Ausbreitung von Erregerherden geistiger Schwäche in der jetzigen Bevölkerung.“678 Zu buchstäblich identischen Schlussfolgerungen kam Rudolf Pinter, auch ein führender Experte und Urheber eines wohlbekannten Intelligenztests: „Geistige Fähigkeiten sind angeboren.  …  Das Land kann es sich nicht erlauben, Jahr für Jahr geistig minderwertige Personen in großer Zahl reinzulassen. Sie werden sich vermehren und das Intelligenzniveau der ganzen Nation herabsetzen.“679 Dies waren nicht die Ansichten irgendwelcher Rassisten vom Dorf, sondern die Schlussfolgerungen der obersten 10 Fachautoritäten ihrer Zeit, die auf massenhaftes Datenmaterial zurückgriffen und innerhalb ihrer Berufsgruppe geistig, moralisch und politisch unangefochten waren. Kontroversen entbrannten nur zwischen den „Experten“ und den Nicht-Experten – vor allem Walter Lippman.680 Doch die Schlussfolgerungen der Kritiker wurden verächtlich als „Empfindungen und Meinungen“ abgetan, denen die „quantitativen Methoden“ der neuen Wissenschaft entgegenstünden.681

673

Zitiert nach Kamin (1974), S. 8. Zitiert nach Kamin (1974), S. 6. 675 Zitiert nach Kamin (1974), S. 6. 676 Zitiert nach Kamin (1974), S. 6. 677 Zitiert nach Kamin (1974), S. 21. 678 Brigham (1923), S. 210. 679 Pinter (1923), S. 361. 680 Siehe Block / D workin (1976), S. 4–44. 681 Block / D workin (1976), S. 31. 674

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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Diese Episode veranschaulicht in vielerlei Hinsicht die weitaus allgemeineren Merkmale der politintellektuellen „Relevanz“: (1) Die Intellektuellen forderten geradezu unbekümmert, dass die staatliche Gewalt  – die gegen ihre Mitbürger und Mitmenschen eingesetzt werden sollte, damit ihre intellektuellen Visionen umgesetzt würden – an Umfang und Reichweite auszudehnen sei. (2) Man unterstellte automatisch, dass die unterschiedlichen Sichtweisen der maßgeblichen Intellektuellen („Experten“) einerseits und der übrigen Menschen andererseits nur die irregeleitete Ignoranz Letzterer wiedergäben. Deshalb sei mit Letzteren nicht inhaltlich zu diskutieren. Vielmehr sollte man sie entweder „erziehen“, entlassen oder diskreditieren. (Das heißt, der intellektuelle Prozess bestand hauptsächlich darin, einer Seite so viel Reputation zu verleihen, dass sie sich nicht mit den „Nicht-Experten“ einlassen musste.) (3) Vorhersagen wurden mit großer Zuversicht gemacht, aber ohne Rekurs auf frühere Erfahrungswerte oder korrekte Vorhersagen und auch ohne jeden Kontrollprozess, mit dem die Richtigkeit der aktuellen Vorhersagen in Zukunft hätte überprüft werden können. (4) Man ging davon aus, dass es die moralische und intellektuelle Überlegenheit sei, die stillschweigend mit dem Glauben einhergehe, die aktuellen Ansichten der „Experten“ repräsentierten die objektiven Schlussfolgerungen der wissenschaftlichen Evidenz und der Logik sowie das, was direkt zum allgemeinen Wohl zu tun sei. Eben diese Überlegenheit gehe mit jenem Glauben einher, und nicht etwa die jeweilige Ideenmode oder das berufliche Eigeninteresse der „Experten“. (5) Man konzentrierte sich darauf, die wahrscheinlichste unter den Alternativen auszusuchen, statt danach zu fragen, ob überhaupt irgendeine der Schlussfolgerungen ausreichend viel Substanz biete, um mehr zu erreichen als provisorische Erkenntnisse als Vorgabe für weitreichende politische Maßnahmen. Welche zwingende Evidenz gab es denn, welche die frühen Testexperten zur Schlussfolgerung veranlasst hat, dass Süd- und Osteuropäer – Juden eingeschlossen682 – mit einer niedrigeren Intelligenz als die übrigen europäischen „Rassen“ auf die Welt kämen? Bei den Intelligenztests schnitten sie schlechter ab – der durchschnittliche IQ lag bei 85, derselbe Wert, den Schwarze heute landesweit haben, und etwas über dem der Schwarzen im Norden.683 Was hat man in diesen Tests kontrolliert bzw. konstant gehalten? Praktisch nichts. Die neuen Einwanderer (Juden, Italiener, Slowaken usw.) lebten, wie der Name verrät, im Schnitt noch nicht so lang in den Vereinigten Staaten wie die älteren Immigrantengruppen (Deutsche, Iren, Briten usw.). Entsprechend sprachen sie weniger gut Englisch und lebten unter schlechteren sozioökonomischen Bedingungen. Hielt man die Residenzjahre in den Vereinigten Staaten konstant, dann verschwanden die gemessenen Intelligenzunterschiede.684 Bei vielen Teilfragen des umfangreichen Tests, den man im 1. Weltkrieg durchführt hat, lag der Modalwert für die richtige Antwort bei null –

682

Sowell (1978d), S. 208. Sowell (1978d), S. 207. 684 Handlin (1957). 683

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2. Teil: Themen und Tendenzen

was darauf hinweist, dass die Frage nicht richtig verstanden wurde.685 Wo man sich aber im Test Mühe gegeben hatte, um mithilfe der Anweisungen klar zu machen, was von den Kandidaten erwartet wurde, gab es seltener Nullwerte, auch dann, wenn die Fragen selbst komplexer waren. (Das Ergebnis gilt auch für schwarze Soldaten).686 Bei einigen „Intelligenzfragen“ ging es um kuriose amerikanische Phänomene wie den Namen eines Baseballteams aus Brooklyn, das in der Bundesliga spielte, Lees Kapitulation bei Appomattox oder den Autor von Huckleberry Finn.687 Was die Stichprobenkontrolle betrifft, so variierten die Methoden, nach denen die teilnehmenden Soldaten für die Tests ausgewählt wurden, „von Lager zu Lager, manchmal auch von Woche zu Woche innerhalb eines Lagers.“688 Die „Experten“, die leichtfertig große Teile der menschlichen Rasse als von Geburt aus minderwertig abstempelten, wussten um diese Testmängel. Carl Brigham nennt einen der Gründe, die Ergebnisse dennoch anzuerkennen: „Die Anpassung an die Testbedingungen ist ein Teil des Intelligenztests.  …  Wenn die Tests von einigen mysteriösen Situationstypen Gebrauch gemacht haben, die „typisch amerikanisch“ waren, dann war dies ein glücklicher Umstand, weil dies hier Amerika ist und der Zweck unserer Studie der ist, ein Maß für den Charakter unserer Immigration zu bekommen. Die Unfähigkeit, auf eine „typisch amerikanische“ Situation zu antworten, ist offensichtlich kein erwünschter Wesenszug.“689

Welche Verdienste auch immer dieses Argumentationsmuster haben mag, um die rein empirische Vorhersagekraft eines Teste zu rechtfertigen, es trägt nicht dazu bei, Schlussfolgerungen hinsichtlich der genetisch bedingten Geistesfähigkeiten abzuleiten, denn diese Fähigkeiten müssen sich erst noch in den Generationen der hier in Amerika geborenen Abkömmlinge beweisen – das gilt vor allem vor dem Hintergrund der drakonischen Vorschläge, die Reproduktion dieser Gruppen mit Gewalt unter Kontrolle zu halten. Dass eine Korrelation zwischen den Testergebnissen der Einwanderer und der Anzahl ihrer Residenzjahre in den Vereinigten Staaten besteht, tat man mit dem Nachweis ab, dass Immigranten, die schon fünf Jahren hier wohnten und am schriftlichen Test teilnahmen, immer noch nicht die Resultate erzielten, die gebürtige Amerikaner erreichten.690 Man dachte wohl, dass fünf Jahre reichen sollten, um die kulturellen Verhaltensmuster, die man von Kindesbeinen an hat, zu ändern, und ein nonverbaler Test kulturell wertfrei sei. Für die ominöse Vorhersage, der IQ der Nation würde sinken, – eine Vorhersage, die in der Literatur der Vereinigten Staaten und der anderer Länder gang und gäbe ist – gab es keine empirischen Beweise. Als mit den Jahren die Evidenzlage besser wurde, zeigte sich, dass der nationale IQ in den Vereinigten Staaten und in anderen

685

Sowell (1978d), S. 226 f. Sowell (1978d), S. 227. 687 Brigham (1923), S. 29. 688 Brigham (1923), S. 57. 689 Brigham (1923), S. 90. 690 Brigham (1923), S. 102. 686

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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Ländern konstant blieb oder wuchs, was dazu führte, dass man nach und nach die IQ-Standards nach oben korrigiert hat.691 Es geht hier nicht darum, dass es während einer bestimmten Periode in einem bestimmten Bereich bestimmte Ergebnisse falsch waren. Es geht vielmehr darum, dass ein gewisses allgemeines Verhaltensmuster aufgetreten ist, das später, als die psychologische Mode wechselte und man die Rassengleichheitsthese auf „Evidenz“ gründen wollte, ähnlich wackelig war. Dieses Muster taucht zudem auch in anderen Bereichen auf, in denen es nicht um Themen wie IQ oder Rasse geht. Die dogmatischen Schlussfolgerungen bezüglich rassischer Minderwertigkeit, die unter den „Experten“ der 20er und 30er Jahre vorgeherrscht haben, wurden in den 40er und 50er Jahren durch gleichermaßen entschiedene Positionen ersetzt, mit denen man die wissenschaftlich erwiesene Gleichheit der Rassen vertrat. In den 60er Jahren konnten offizielle Stellen erklären, es sei „nachweislich“ so – ohne allerdings den Nachweis zu liefern –, dass „der Vorrat an Talent in jeder ethnischen Gruppe im Kern genau derselbe ist wie in den übrigen Gruppen.“692 Laut diesem neuen Dogma, „ist das intellektuelle Potential unter Negerkindern im selben Verhältnis und Muster verteilt wie unter isländischen oder chinesischen Kindern.“693 Diese Aussagen mögen sich eines schönen Tages bewahrheiten, doch das ist etwas anderes als die Behauptung, dass man schon heute einen Beleg oder Tests für die These hätte. Sowohl im früheren wie auch im späteren Dogmatismus ist die Erkenntnisfrage keine, die zur Diskussion stünde. Dadurch wird die ideologisch bevorzugte Position zu einem moralischen Probierstein und nicht zu einer Annäherung an Schlussfolgerungen, die man aus Erkenntnissen ziehen könnte. Anders als in früheren Zeiten wird der Dogmatismus von heute hinterfragt – vor allem von Arthur R. Jensen.694 Die Anstrengungen, die man unternommen hat, um, statt seinen Analysen zu begegnen, seine Schlussfolgerungen zu diskreditieren („Rassist“) und ihn hier und da physisch von Vorträgen abzuhalten,695 zeigen, dass das neue Dogma noch weniger als das alte gewillt ist, diese Dinge im Rahmen intellektueller Prozesse abzuhandeln. Es ist, als ob die im Felde der Psychologie vorherrschenden Glaubenssätze zu Intelligenztests Phasen wechselnder Launen eines Frühreifen durchliefen – verbissen eingenommen, wenn sie in Mode sind, und vollkommen aufgeben, wenn die Phase vorbei ist. Zumindest zog einer der führenden Vertreter des alten Dogmatismus – Carl Brigham – später, nachdem die Welle abgeebbt war, die Beweisführung seiner früheren Studien reumütig zurück und erklärte, dass seine damaligen Schlussfolgerungen „ohne Grundlage“696 gewesen seien. Nicht falsch, übertrieben oder in sich nicht schlüssig, sondern ohne Grundlage.

691

Loehlin / Lindzey / Spuhler (1975), Kapitel 5. Jensen (1973), S. 215, Anm. 693 Jensen (1973), S. 215, Anm. 694 Jensen (1969). 695 Jensen (1973), S. 44 ff. 696 Brigham (1930). Myrdal (1964), S. 148, Anm. 692

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Beide Kontroversen um die angeborene Intelligenz veranschaulichen ein allgemeines Merkmal der sozial und politisch „relevanten“ intellektuellen Aktivität – der Unwille oder die Unfähigkeit, „wir wissen es nicht“ zu sagen oder auch nur einzuräumen, dass die Schlussfolgerungen bloß vorläufig sind. Derlei Eingeständnisse stünden mit dem, was intellektuelle Prozesse sind, völlig im Einklang, nicht aber mit den Interessen der Intellektuellen als soziale Klasse. Auf dieser Distinktion muss man bestehen, zum Teil deshalb, weil die ansonsten irdischen Denker oft so tun, als hätten Intellektuelle keine Eigeninteressen und würden nur streng kognitiv vorgehen oder die politischen Interessen der Gesellschaft insgesamt im Auge haben. Sogar Voltaire meinte recht naiv: „Die Philosophen, die ja keine besonderen Interessen zu vertreten haben, können ihre Stimme nur zum Vorteil der Vernunft und des öffentlichen Interesses erheben.“697 Im Schutze der Verfremdung ist dieser Glaube – in ihren eigenen Köpfen und in den Köpfen der anderen – selbst eines der größten Pfunde zum Vorteil ihrer eigenen Interessen. Macht Schon seit Jahrhunderten fordern viele Intellektuelle, die Freiheit des gewöhnlichen Menschen aufzuheben, und fördern damit den romantischen Despotismus. Die schockierende Schar westlicher Intellektueller, die in den 30er Jahren den Stalinismus verherrlicht haben, war kein Einzelfall einer irrlichtenden Gruppe. Religiöse Intellektuelle erschufen in der Spätphase des Römischen Reiches, nachdem dieses christlich geworden war, eine „systematische und aktive Intoleranz“, die „bis dahin im mediterranen Raum unbekannt war.“698 Es hatte zwar „vorübergehend Verfolgungen“699 unter den frühen Christen gegeben, deren doktrinäre Verachtung der „Idolatrie“ sie dazu gebracht hatte, andere Religionen zu schmähen, beleidigen oder gar zu stören.700 Aber erst mit dem Siegeszug des Christentums, vor allem der theologischen Intellektuellen wie Augustinus, setzte sich die Intoleranz und die Verfolgung Andersgläubiger im Römischen Reich durch. Die Heiligen Bücher der Heiden wurden verbrannt,701 heidnische Gebräuche verfolgt702 und dem Römischen Reich, das lange Zeit religiöse Vielfalt und Toleranz als Garanten des politischen Friedens und der politischen Einheit gehegt hatte, die „Christianisierung“ aufgezwungen.703 Der Versuch, allen eine einzige intellektuelle (religiöse) Einheit oder Orthodoxie aufzuerlegen, schuf politische Zwietracht, weil „die Bande der Zivilgesellschaft von der ungestümen Kraft religiöser Eiferer zer 697

Coser (1970), S. 232. Grant (1976), S. 266. 699 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 477. 700 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 448, 465, 474. 701 Grant (1976), S. 257. 702 Grant (1976), S. 257–263. 703 Grant (1976), S. 258. 698

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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rissen wurden.“704 Eine unter christlichen Intellektuellen geführte theologische Kontroverse über die Natur der Trinität „penetrierte zusehends sämtliche Teile der christlichen Welt.“705 Im Zuge dieser Kontroverse und anderer theologischer Dispute kam es unter traditionellen und abtrünnigen Christen zu Gewalt- und Gräueltaten.706 Viele Provinzen, „Städte und Dörfer wurden in Schutt und Asche gelegt.“707 Nach einer kurzen Verschnaufpause unter Kaiser Julian708 wurden die Verfolgungen unter seinen Nachfolgern wieder aufgenommen.709 Die interne Gewalt unter den christlichen Konfessionen forderte bei weitem mehr Opfer als die frühen Verfolgungen der Christen im Römischen Reich.710 Ähnlich den totalitären Verfolgungen des 20. Jahrhunderts, trieben die Verfolgungen durch Christen die „fleißigsten Köpfe“ dazu, das Römische Reich zu verlassen und „die Kunst des Krieges und des Friedens“711 mitzunehmen. Viele Jahrhunderte später brachte die Reformation die Freiheit zurück – nicht absichtlich, sondern systematisch als Folge der neuen Vielfalt an Machtquellen. Die protestantische Reformation war genauso intolerant und blutig wie die katholische Inquisition.712 Freiheit „war die Folge und nicht der Plan der Reformation.“713 Im Römischen Reich waren, wie auch bei späteren Verfolgungen, die abstrusen Angelegenheiten nur für die Intellektuellen von Belang. Gleichwohl waren die konkurrierenden intellektuellen Versuche, die eigene Vision mit Gewalt durchzusetzen, die Ursache für die riesigen Zerstörungen und Spaltungen, die zum Niedergang und Untergang des Römischen Reiches führten.714 Ihnen folgte unmittelbar, dass man den Umfang staatlicher Macht auf einen Bereich ausdehnte (Religion), der einst ein Refugium der Freiheit war. Solche Muster  – Intellektuelle fördern staatliche Macht und intolerante Zerrissenheit – sind weder eine Besonderheit des Römischen Reiches noch eine der westlichen Zivilisation. In den späten Dynastien des Chinesischen Reiches stiegen die Intellektuellen ebenfalls zu Herrschern auf und erstellten ähnliche Muster, wenn auch unter anderen Bedingungen. Den Anfang machte die Sung-Dynastie (960–1127 v. Chr.). „Gelehrte Beamte“, die man nach ihrem Erfolg beim Examen ausgewählt hat, standen an der Spitze der chinesischen Regierung und Gesellschaft.715 Die Herrscher wurden autokratischer. Die Gewalten des Staates wurden stärker zentralisiert und nahmen an Umfang zu. Zu ihnen gehörte eine „staatliche 704

Gibbon (o. J.), Band 1, S. 715. Gibbon (o. J.), Band 1, S. 675. 706 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 710. 707 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 719. 708 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 767. 709 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 841. Siehe auch S. 61, 374, 379, 835–865. 710 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 504. 711 Gibbon (o. J.), Band 2, S. 804. 712 Gibbon (o. J.), Band 2, S. 314. 713 Gibbon (o. J.), Band 3, S. 314. 714 Gibbon (o. J.), Band 3, S. 715, 719; Band 2, S. 8. 715 Hucker (1975), S. 303. 705

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Kontrolle, welche die Wirtschaft großflächig erstickte,“716 und eine „Geheimpolizei, die fast keinerlei Zügelung durch das Gesetz kannte.“717 Die „wiederkehrenden Lagerfehden“ unter den Intellektuellen, die den Staat lenkten, wurden später einer der „Hauptgründe für den Untergang der Ming-Dynastie.“718 Ähnlich wie im alten Rom wurde der Militärberuf in der Spätphase des Chinesischen Reiches abgewertet.719 „Stärke und Kampfbereitschaft [der Armee] sanken.“720 Dies war, wie auch schon im alten Rom, das Vorspiel zu einer späteren Niederlage gegen das Militär fremder Völker, die man zuvor als Barbaren abgestempelt hatte. Vor seinem Verfall und Niedergang war das kaiserliche China eine führende Nation in Technologie, Verwaltung, Wirtschaft und Literatur721 und hatte bis ins 16. Jahrhundert hinein den weltweit höchsten Lebensstandard.722 Am Ende der Ming-Dynastie verließen viele Menschen China. Rom hatte bei seinem Niedergang ein ähnliches Schicksal erfahren.723 Die „Überseechinesen“ waren in vielen Ländern Südostasiens und der Karibik wirtschaftlich erfolgreich, während ihr Heimatland in Armut und Schwäche versank, weil es ihm an den Fertigkeiten und Fähigkeiten jener mangelte, die dank der von den Intellektuellen verantworteten staatlichen Unterdrückung aus dem Land vertrieben worden waren. Besagte Intellektuelle „wendeten die Prinzipien, die sie den alten chinesischen Schriften entnommen hatten, auf das Reich der praktischen Herrschaft an,“724 und redeten „einem sozialen Wohlfahrtsaktivismus“ das Wort, in dem eine „Zentralregierung die Verantwortung für das gesamte Wohlergehen der Chinesen an sich reißt und Regulierungsbehörden einsetzt, die sämtliche Aspekte des chinesischen Alltags regeln.“725 Kurzum, Chinas intellektuelle Machthaber waren von neo-konfuzianischen Idealen angetrieben, die man heute „soziale Gerechtigkeit“ nennen würde. Aber wie auch immer die erhofften Resultate ausgesehen haben mögen, die Prozesse selbst führten zu Despotismus, Verfall und Niederlage. Die Förderung der Despotie durch Intellektuelle blieb nicht auf Situationen beschränkt, wie sie in den Reichen der Römer und Chinesen geherrscht haben und wo die Intellektuellen selbst an der Ausübung der Macht und der Anstiftung zur Gewalt beteiligt waren. Selbst die französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts – im Prinzip glühende Verehrer der Freiheit – bewunderten den russischen

716

Hucker (1975), S. 356. Hucker (1975), S. 304. 718 Hucker (1975), S. 309. 719 Hucker (1975), S. 323 f., 334. 720 Hucker (1975), S. 327. 721 Hucker (1975), S. 324: „Das China des 11. Jahrhunderts war in vielen Bereichen auf einem wirtschaftlichen Niveau angekommen, auf dem sich die europäischen Staaten erst ab dem 18. Jahrhundert bewegt haben.“ Siehe auch S. 336, 349, 351 f. 722 Hucker (1975), S. 356. 723 Hucker (1975), S. 296. 724 Hucker (1975), S. 362. 725 Hucker (1975), S. 365. 717

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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und chinesischen Despotismus ihrer Zeit.726 Darin waren sie ihren Gegenstücken des 20. Jahrhunderts sehr ähnlich. Auch die Gründe ähnelten einander. Den jeweiligen Despotismus sah man als Vehikel, mit dem man der ganzen Gesellschaft die eigenen Vorstellungen aufdrängen konnte. In den Despotien des 18. Jahrhunderts „dienten die Schriftgelehrten an den wichtigen Stellen, dort, wo die Dinge entschieden wurden.“727 Gleichwohl sah man das Eigeninteresse im Interesse aller liegen. Nach D’Alembert „ist das größte Glück einer Nation dann Wirklichkeit, wenn jene, die sie regieren, mit denen übereinstimmen, die sie lehren.“728 Gleiches gilt auch für die freien Nationen des 19. Jahrhunderts, wie John Stuart Mill feststellte: „[U]ngeduldige Reformer, die es für einfacher hielten, die Regierung an sich zu reißen als Geist und Gesinnung des Volkes,“ schlugen vor, „die Macht des Staates“729 auszubauen. Die Französische Revolution bot den Intellektuellen des 18. Jahrhunderts die Gelegenheit, direkt zu herrschen, statt Einfluss auf die vorhandenen Despoten auszuüben. Obgleich Schüler freiheitsliebender Philosophen und vordergründig nur im Interesse des Volkes handelnd, konnte ihr „allmächtiges Komitee für öffentliche Sicherheit so absolut herrschen, wie es kein Monarch je zuvor konnte.“730 Die kurze Herrschaft der Jakobiner-Intellektuellen war nicht nur despotisch und blutrünstig, sondern in ihrer Durchdringung auch totalitär. Man änderte sogar die Namen von Monat und Jahr, damit sie ihrer Ideologie entsprachen. Gleiches gilt für die Namen von Straßen, Menschen, ja auch von Spielkarten.731 Die Vorschriften erstreckten sich auch auf Freundschaften und Eheleben: Jeder Erwachsene hatte öffentlich zu erklären, wer seine Freunde waren, und jedes verheiratete Paar, das in einer vorab festgelegten Zeit keine Kinder bekam oder adoptieren wollte, wurde von Amts wegen wieder getrennt.732 Um alle diese Bevormundungen des Einzelnen handhaben zu können, schufen die Intellektuellenpolitiker eine riesige Bürokratie – die nie mehr demontiert wurde. Sie blieb dauerhaft im Amt, auch noch lange nachdem die Ideologen durch Napoleon und die zahllosen Regierungen, die sich ihm anschlossen, ersetzt worden waren. Sie war eine der frühesten Demonstrationen dessen, was es in der Praxis bedeutet, eine Gesellschaft „gerecht zu gestalten.“ Obwohl auch das 19. Jahrhundert despotische Regierungen kennt, gab es so etwas wie das Komitee für öffentliche Sicherheit erst wieder im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. Noch einmal, es waren Intellektuelle, die denselben schufen – Lenin, Trotski und ihre geistigen Söhne und Enkel, welche die von Marx stammende Vision weitergetragen haben, während Hitler seine eigene Vision aus

726

Coser (1970), S. 227–233. Coser (1970), S. 231. 728 Coser (1970), S. 231. 729 Mill (1909), S. 950. 730 Coser (1970), S. 150. 731 Coser (1970), S. 150 f. 732 Coser (1970), S. 155. 727

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Mein Kampf umgesetzt hat. Ob nun einige dieser politischen Anführer auch Intellektuelle im Sinne kognitiver Qualitäten waren, sei dahingestellt. Sie alle verdankten ihre Macht ihrer Ideenvermittlung und keinem anderen Weg der Machtübertragung, sei es die dynastische Nachfolge, wirtschaftlicher Erfolg, Aufstieg in der Hierarchie oder technisches Expertenwissen. Die Merkmale der modernen totalitären Regimes haben wir bereits erwähnt. Aber man muss auch die Unterstützung, Verteidigung und Glorifizierung ausländischer Totalitarismen erwähnen, die von Intellektuellen demokratischer Nationen stammen. Die Glorifizierung des stalinistischen Regimes durch die demokratisch-fabianischen Sozialisten Sydney und Beatrice Webb ist vielleicht das Paradebeispiel schlechthin.733 Die Eheleute Webb stehen aber nur an der Spitze einer langen Liste von Intellektuellen, zu der auch Jean-Paul Sartre,734 George Bernhard Shaw735 und G. D. H. Cole736 gehören, welche die Werte des stalinistischen Russlands gepriesen haben – gemeinsam mit Magazinen wie Nation, The New Republic und (in England) The New Statesman.737 Zu den Unterstützern des kommunistischen Präsidentschaftskandidaten von 1932 gehörten John Dos Passos, Sherwood Anderson, Edmund Wilson und Granville Hicks.738 Auch dem Faschismus fehlte es nicht an Fürsprechern und Romantikern, denkt man an Irving Babbitt, Charles Beard, George Santayana und Ezra Pound.739 Die meisten amerikanischen Intellektuellen der 30er Jahre begnügten sich jedoch, eine große Ausdehnung der Staatsmacht im eher konventionellen Stil des New Deal zu unterstützen. Die Desillusionierung von Stalin und der Sowjetunion ließ viele Intellektuelle zu den Linksliberalen zurückkehren, hielt aber nicht alle von der Glorifizierung von Mao, Castro und den übrigen Totalitaristen ab. Die intellektuelle Vision So ziemlich jeder hat eine politische Meinung, aber nicht jeder hat eine politische Vision – Kernprämissen, aus denen eine bestimmte Position als Korollarium abgeleitet werden kann. Die Prämissen können religiöser, stammestypischer oder ideologischer Natur sein. Was sie zu einer geschlossenen Vision macht, ist der hohe Grad an Korrelation unter den einzelnen Schlussfolgerungen, die im Hinblick auf höchste unterschiedliche Sachverhalte gezogen werden können. So mag z. B. für einen Rassisten die Hautfarbe eines Menschen ein ganzes Bündel an Fragen in Bezug auf Intellekt, Moral, Ästhetik, Politik oder Benimmregeln des Menschen aufwerfen. 733

Webb / Webb (1936). Beichman (1972), S. 177. 735 Coser (1970), S. 237. 736 Beichman (1972), S. 192. 737 Coser (1970), S. 234 f. 738 Coser (1970), S. 234. 739 Lipset / Dobson (1972). S. 170. 734

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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Eine ideologische Vision ist mehr als der Glaube an ein Prinzip. Sie ist der Glaube, dass das Prinzip entscheidend und vorrangig sei, so dass andere Prinzipien oder gar empirische Tatsachen im Zweifelsfall hintanzustellen seien. Die Inquisition musste Galileos astronomische Entdeckungen im Interesse einer höheren Vision zurückweisen, so wie auch die Nazis Einstein zurückweisen mussten, obgleich sie keine Evidenz hatten, die gegen seine Theorien oder seine individuellen Fähigkeiten gesprochen hätten. Man hat die Ideologie definiert als ein „systematisches und in sich geschlossenes Konvolut an Ideen, die von der Natur der Realität (für gewöhnlich der gesellschaftlichen Realität) oder einem Segment der Realität sowie der Beziehung (Einstellung, Haltung), die der Mensch zu derselben hat, handeln und zu einer Verpflichtung auffordern, die von besonderen Erfahrungen oder Ereignissen unabhängig ist.“740 Der intellektuelle Prozess mag als eine Gegenkraft erscheinen, die verallgemeinernden, ideologischen Visionen entgegensteht, weil seine Regeln von uns fordern, den jeweiligen Folgerungen der kognitiven Prozeduren zu folgen, wohin auch immer diese Schlussfolgerungen (Wahrheit) im Einzelfall führen mögen. In dem Maße, in dem Intellektuelle als soziale Klasse vom intellektuellen Prozess motiviert werden, sollte man erwarten, dass ihre Positionen so unterschiedlich sind wie die verschiedenen Lesarten, die angesichts der Komplexität politischer Themen möglich sind. Kurzum, von Intellektuellen als soziale Klasse wird man weniger erwarten, dass sie im Hinblick auf die Gruppenkonformität einen „Herdeninstinkt“ zeigen. Man wird eher erwarten, dass sie als Individuen die Dinge nach ihren jeweiligen Verdiensten sezieren und dass ihre politischen Haltungen weniger Übereinstimmungen zeigen, als es unter Menschen der Fall ist, die – als Mitstreiter oder Ideologen – immer auf das „Parteiticket“ setzen. Neuere Studien zu den Meinungen, die Akademiker vertreten, zeigen aber eine „ungewöhnlich hohe Korrelation unter den Meinungen, die man zu den verschiedensten Themen haben kann.“741 Dies trifft nicht nur auf die Vereinigten Staaten zu, sondern auf alle Länder.742 Das gilt auch, wenn es um Besonderheiten höchst unterschiedlicher Themen geht, wie z. B. um Auslandspolitik, Marihuana und Rasse. Seit es solche Umfragen gibt, befanden sich die Intellektuellen mit ihren einheitlichen Auffassungen stets links von der Mitte der Gesellschaft.743 Wichtig an dieser Stelle ist allerdings nicht, wo die Intellektuellen politisch stehen, sondern wie bündig die jeweiligen Positionen als Prinzipien, die aus einer zugrundeliegenden Vision ableitbar sind, sich zusammenfügen. Die Kohärenz einer Vision mag aus einer akkuraten Beschreibung einer kohärenten Menge an Beziehungen stammen, die in der realen Welt empirisch beobachtet wurden. Oder sie mag sich aus der Deduktion ergeben, die verschiedene 740

Burnham (1975), S. 104. Ladd / Lipset (1975), S. 39. 742 Ladd / Lipset (1975), Kapitel 1. 743 Ladd / Lipset (1975), S. 123. 741

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Konklusionen aus einer gegebenen Menge von Prämissen erlauben, ohne dass man den beobachteten Tatsachen große Aufmerksamkeit schenken würde. Wie in den vorherigen Kapiteln bereits angemerkt wurde, gründen viele politische Maßnahmen nicht auf harten Fakten, die ursächlich wären. Sie achten auch nicht auf die Folgeereignisse, vor allem nicht auf negative Effekte. Kartellgesetze, Regelungen für gemeinsames Busfahren, Mietpreisbindung und Mindestlohngesetze gründen allesamt auf der Übereinstimmung mit einer allgemeinen Vision des sozialen Prozesses, nicht aber auf empirischen Tests ihrer positiven und negativen Effekte. Dass Kriminalität durch Armut und / oder Diskriminierung verursacht wird, ist auch Teil dieser Vision. Die empirische Evidenz ist aber kaum überwältigend oder gar eindeutig, weil Gewalttaten in den 30er Jahren744 während der größten Depression unserer Geschichte nachließen und während der 60er Jahre in Zeiten des Überflusses steil nach oben stiegen. In England stieg die Verbrechensrate, als die Arbeitslosigkeit praktisch komplett verschwand. Was Earl Warren „unsere gestörte Gesellschaft“745 nannte, kannte eine Mordrate, die seit 20 Jahren nach unten zeigte, bis sie sich in den 60er Jahren binnen eines Jahrzehnts just in der Zeit verdoppelte, als der Warren Court die Regeln des Strafrechts änderte. Der Aufklärungsunterricht in den öffentlichen Schulen war auch ein Teil dieser sozialen Vision und wurde als Mittel angepriesen, das weniger minderjährige Schwangere und weniger Geschlechtskrankheiten verhieß. Eine Neubetrachtung dieser Weisheit und ihrer Wirksamkeit im Lichte der gegenteiligen Entwicklung, die steil nach oben zeigte, wurde aber nicht vorgenommen. Der Prozentsatz der Bürger, die den Aufklärungsunterricht an öffentlichen Schulen ablehnen, hat zugenommen,746 aber unter Intellektuellen führte das Wissen um diese Tatsache zu keinem Umdenken. Die öffentliche Zustimmung zur Todesstrafe, die vor dem Anstieg der Mordrate in den 60er Jahren im Sinken begriffen war, stieg wieder an, als auch die Mordrate erneut zunahm. Dies zeigt wiederum, dass die Öffentlichkeit eher auf empirische Evidenz zu reagieren scheint als die Intellektuellen – soll heißen, sich weniger ideologisch gibt. Ein Kritiker meinte einmal im Hinblick auf die Linksintellektuellen, dass deren Reaktionen auf öffentliche Angelegenheiten „so vorhersagbar sind wie der Speichelfluss des pawlowschen Hundes“ und zwar „mit der gleichen Gewissheit, mit der man erwartet, dass morgen wieder die Sonne aufgeht.“747 Die Daten zeigen, dass dies eine Übertreibung ist, aber ansonsten keine inkorrekte Aussage. Allein die Existenz einer intellektuellen Vision wirft die Frage auf, ob diese ein Produkt intellektueller Prozesse oder ein Resultat des beruflichen Eigeninteresses ist. Die einzelnen Inhalte der vorherrschenden intellektuellen Vision werfen diese Frage erneut, aber stärker zugespitzt auf. Man kann dieselben, leicht vereinfacht, wie folgt zusammenfassen:

744

Armbruster (1972), S. 55, Anm. Warren (1977), S. 317. 746 Armbruster (1972), S. 31 f. 747 Burnham (1975), S. 143. 745

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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(1) Es gibt große Unzufriedenheit („soziale Probleme“), die von Eliten herrühren, die mit der intellektuellen Elite konkurrieren – vor allem Geschäftsleute, Militärkräfte und Politiker. (2) Jene, die empirisch glückloser agieren, sind moralisch und durch die Ursachen „Opfer“ der mit den Intellektuellen konkurrierenden Eliten. Ihre Erlösung liegt in der stärkeren Nutzung der Dienste der Intellektuellen als „Erzieher“ (bildlich oder buchstäblich), die Programme (oder Gesellschaften) entwerfen und als politische Anführer und stellvertretende Entscheidungsträger fungieren. (3) Artikulierte Rationalität – das Berufskennzeichen des Intellektuellen – ist die beste Form der Entscheidungsfindung. (4) Vorhandenes Wissen – egal, ob in Form von Fragmenten über die Gesellschaft verstreut oder in Traditionen, in der Verfassung usw. gebündelt  – ist für die Entscheidungsfindung unangemessen. Folglich hängt das „Lösen“ der gesellschaftlichen „Probleme“ von den Wissensfragmenten ab, welche die Intellektuellen in den Händen halten. Egozentrische Visionen von der Welt sind nicht per se absichtliche Versuche, andere zu täuschen und sich selbst größer zu machen, als man ist. Die Mecha­ nismen menschlicher Rechtfertigungen sind zu komplex, als dass wir auch nur annäherungsweise sagen könnten, wie solche Sichtweisen zustande kommen. Für unsere Zwecke reicht es, dass derlei Auffassungen darüber, wie die Gesellschaft zu verwalten sei, insbesondere bei Intellektuellen anzutreffen sind. Die Frage ist, wie diese Ansichten mit nachweislichen Tatsachen zusammenpassen. Vor kurzem gab es Behauptungen von Intellektuellen, die einen Ausschnitt dessen bilden, was man auch gern „eine Litanei aus Wehklagen und Krisengeschrei“ nennt. Es wurde behauptet, dass die „menschliche Gesellschaft kurz vor dem Zusammenbruch steht.“748 Man meinte auch, dass die Vereinigten Staaten „desintegrieren“749 und die Nation „von Grund auf übel [ist], und das Übel nur ausgetrieben werden kann, indem man das System auf den Kopf stellt.“750 Außerdem hieß es, dass „die Bürgerrechtsgesetzgebung vollkommen bedeutungslos ist und auch so gedacht war,“751 und dass „das Leben in diesem Land zum Stillstand gekommen ist.“752 Obwohl Intellektuelle sich gern als Sprachrohr einer allgemeinen Malaise geben, teilen weder die Öffentlichkeit im Allgemeinen noch die auserkorenen „Opfer“ deren Selbstbild. Von den angeblich verbitterten und ernüchterten Jugendlichen bewerten 90 % ihr bisheriges Leben als glücklich und glauben 93 %, dass ihr Leben in Zukunft so sein wird.753 80 bis 90 % der mutmaßlich entfremde 748

Wattenberg (1974), S. 4. Wattenberg (1974), S. 15. 750 Wattenberg (1974), S. 105. 751 Wattenberg (1974), S. 20. 752 Wattenberg (1974), S. 20. 753 Wattenberg (1974), S. 188. 749

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2. Teil: Themen und Tendenzen

ten Arbeiter, die einen „unmenschlichen“ Arbeitsplatz haben, geben an, mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein.754 Bezeichnenderweise glaubte die Hälfte der Befragten, dass die Anderen mit ihrer Arbeit unzufrieden seien.755 Die Verlautbarungen der Intellektuellen zeigten offensichtlich dort, wo es nicht um direkte Erfahrungen von Menschen ging, ihre Wirkung. Von den Schwarzen waren die meisten bezüglich Arbeit, Zuhause und Bildung eher zufrieden als unzufrieden.756 Was Schwarze glauben, steht im starken Kontrast zur Voreingenommenheit der Intellektuellen hinsichtlich der „Verteilungsgerechtigkeit“. Die Zahl derer, die meinen, begabtere Leute sollten auch mehr verdienen, ist vier Mal so hoch wie die jener, die für weitgehende Einkommensgleichheit sind.757 Was die „Befreiung der Frauen“ angeht, so haben mehr Männer als Frauen mit ihr sympathisiert.758 Von allen Amerikanern wollen nur 12 % in einem anderen Land leben – weniger als in Schweden, Holland, Brasilien oder Griechenland und weniger als halb so viele wie in Westdeutschland und Großbritannien.759 Unter den Ausländern, die lieber in einem anderen als ihrem Land leben, wählten die Schweden, Deutschen, Griechen, Brasilianer, Finnen und Uruguayer die Vereinigten Staaten an erster oder zweiter Stelle.760 Dort, wo die Bevölkerung anders denkt als die Intellektuellen, geht man grundsätzlich davon aus, dass dies die irregeleitete Unwissenheit der Bevölkerung und deren Bedarf an „Erziehung“ belege. Die angebliche „Entfremdung“ der Arbeiter und „Erhebung der Schwarzen“ sowie die Stellung der Frau sind Themen, für welche die betroffenen Gruppen selbst Experten sind. Und immer dort, wo es erhobene Daten zu diesen Themen gibt, stützen diese fast immer die Meinung der Öffentlichkeit und nicht die Visionen der Intellektuellen. Im Zuge der angeblich „bedeutungslosen“ Bürgerrechtsrevolution verdoppelte sich das Einkommen schwarzer Familien in den 60er Jahren, während das der weißen Familien nur um 69 % stieg.761 Die Zahl der schwarzen Studenten verdoppelte sich ebenfalls binnen 10 Jahren.762 Noch mehr als doppelt so groß wie vorher war die Zahl der Schwarzen, die in den 60er Jahren Vorarbeiter oder Polizisten geworden sind.763 Während die Statistiker die allgemeine Armut mit Daten, die nur Geldeinkommen berücksichtigen, am Leben erhielten, wurde diese in Wirklichkeit durch Naturalzuwendungen (Lebensmittelmarken, Mietzuschüsse, kostenfreie medizinische Versorgung usw.) drastisch reduziert.764 Die staatlichen Wohlfahrtsausgaben wurden zwischen 1965 und 1973

754

Wattenberg (1974), S. 189. Wattenberg (1974), S. 198. 756 Wattenberg (1974), S. 192. 757 Ladd (1978), S. 48. 758 Wattenberg (1974), S. 222. 759 Wattenberg (1974), S. 194. 760 Wattenberg (1974), S. 194. 761 Wattenberg (1974), S. 125. 762 Wattenberg (1974), S. 134. 763 Wattenberg (1974), S. 132. 764 Anderson (1978), S. 19–24. 755

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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verdreifacht. Das sorgte dafür, dass die Armen 1973 Ressourcen in einem Wert konsumieren konnten, der „ausreichte, um jeder offiziell armen Familie ein Leben zu ermöglichen, das 30 % über der Armutsgrenze lag.“765 Die Daten der Volkszählung basieren allerdings auf Stichproben, bei deren Erhebung die Menschen „noch nicht einmal gefragt wurden, ob sie Lebensmittelmarken beziehen, im sozialen Wohnungsbau leben oder Zugang zur kostenfreien medizinischen Versorgung haben.“766 Unabhängige Privatforscher, die Naturalzahlungen mitzählen, kommen zu dem Ergebnis, dass nach den staatlichen Standardkriterien nur 3 bis 6 % der amerikanischen Bevölkerung arm sind.767 Eine für sich sprechende Statistik ist wohl, dass 30 % der Familien, deren Jahreseinkommen offiziell bei 3.000 USD liegt, eine Klimaanlage und 29 % einen Farbfernseher besitzen.768 Mangelt es Gruppen an Glück, dann erklären Intellektuelle dies fast automatisch damit, dass bestimmte Eliten, mit denen sie selbst rivalisieren, die Gruppen zu Opfern machten. Indem man Unglück durch die Opferrolle erklärt respektive definiert, werden alle anderen möglichen Erklärungen und mit ihnen die Hoffnung, das Unglück womöglich beseitigen zu können, willkürlich ausrangiert. Der Opferrollenansatz verlangt auch, dass erfolgreiche Initiativen, die inzwischen von den benachteiligten Gruppen oder Untergruppen ergriffen wurden, übersehen, unterdrückt oder heruntergespielt werden. Auf diese Weise wird akkumuliertes Humankapital im Sinne von Know-how und Kampfgeist geschwächt und ein vorteilhaftes Bild der Gruppen, die sonst nur als ein „Problem“ wahrgenommen werden, verspielt. Im Opferrollenansatz werden statistische Unterschiede zwischen Gruppen zu „Ungleichheiten“, obgleich sie in einigen Fällen auch anderen Gruppendifferenzen (Alter, geographische Verteilung oder sonstigen Variablen ohne moralische Implikation) geschuldet sein können. Die Opferrolle als Erklärung von Intergruppendifferenzen findet man auch auf internationaler Ebene: in der Dritten Welt. Bezeichnenderweise waren die Länder arm, bevor sich dort westliche Nationen blicken ließen. Sie blieben auch arm, solange diese da waren, und waren es auch dann noch, als diese sie verließen. Und die Erklärung ihrer Armut? Ausbeutung durch den Westen! Ein Ökonom, der dies als eine überprüfbare Hypothese behandelt hat, stellte fest, dass „überall dort in den Entwicklungsländern, wo der Westen intensivste Kontakte unterhielt, die Regionen am besten gediehen.“ Er verglich diese Regionen mit „der extremen Rückständigkeit der Gesellschaften und Regionen ohne Kontakt nach draußen.“769 Wie auch die sonstigen Opferrollenansätze ist auch der Dritte-Welt-Ansatz nicht wirklich eine Hypothese, sondern ein Axiom, bei dem man mit den auserwählten

765

Anderson (1978), S. 19. Anderson (1978), S. 20. 767 Anderson (1978), S. 22 ff. 768 U. S. Bureau of the Census (1977), S. 466. 769 Bauer (1969), S. 7 f. 766

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Begriffen weniger erklärt als durch regelmäßige Wiederholung insinuiert („das kapitalistische Netz“770 oder „das imperialistische Netzwerk“771). Welche Funktion hat die Opferrolle für Intellektuelle? Sie ergibt sich wohl kaum aus einem rigoros durchgeführten intellektuellen Prozess. Dagegen aber vergrößert sie die Rolle der Intellektuellen als soziale Klasse – als Berater, Planer, Experimentierende, Autoritäten etc. Der Opferrollenansatz zeigt Intellektuelle, die zumindest ihre Freude an der Sache haben772 (auch beim Anschwärzen der Eliten, mit denen sie rivalisieren). Darüber hinaus gibt es auch noch Einfluss, Macht, Aufmerksamkeit und Geld – für die meisten Menschen Anreiz genug. Aus Sicht der Intellektuellen als soziale Klasse ist der Opferrollenansatz zumindest ein rationaler Ansatz, vielleicht auch der optimale, wenn es um soziale Fragen geht. Es spielt da keine Rolle, ob andere dies anders sehen und wie kontraproduktiv der Opferrollenansatz für den Rest der Gesellschaft sein mag. Der besagte Ansatz steht auch mit einem allgemeineren intellektuellen Menschenbild in Einklang, das von greifbaren Differenzen natürlicher oder kultureller Art absieht und Intergruppendifferenzen bei sozioökonomischen Ergebnissen sehr skeptisch begegnet. Letztere sind allerdings unerklärlich, wenn man die zentralen Variablen erst einmal wegdiskutiert hat. Hinter diesen kognitiv sehr fragwürdigen Methoden mag der Wunsch stehen, die Gleichheit der Menschheit zu erschaffen, vielleicht auch ein wenig die Idee, „es hätte auch mich erwischen können.“ Dieser Wunsch mag ein löbliches Anliegen und ein Gegengewicht zur egoistischen Ideologie individueller oder gruppenbezogener „Verdienste“ sein. Aber beide Ansätze verwechseln Ursache und Moralität. Wenn A die Eigenschaft X hat, und B nicht, dann ist es für beide wichtig zu wissen, ob X ein Vorteil oder Nachteil ist, auch wenn keiner sie „verdient“ hat und beide Kinder der Umstände sind, die ihrem Einfluss im Hinblick auf X entzogen sind. Man gewinnt nichts, wenn man so tut, als ob es nichts zur Sache täte, obwohl es dies doch tut, oder wenn man es außer Acht lässt, obwohl man die Unterschiede zwischen A und B erklären will. Geht man dennoch so vor, dann öffnet man damit Mythen über die Ursache der Unterschiede nur Tür und Tor. Grundlage für das Opferrollenaxiom ist kaum mehr als eine Blitzüberprüfung der konkurrierenden Eliten und ein Bericht über deren unzähligen Sünden und Verfehlungen – die man mit ähnlich knapper Überprüfung auch bei anderen Gruppen finden würde, ob nun Eliten oder nicht. Dass multinationale Konzerne hier betrogen und dort bestochen haben, ist weder überraschend noch die Erklärung für

770

Sherman (1972), S. 154. Magdoff (1969), S. 21. 772 Bauer (1969), S. 19: „Die Human- und Sozialreformer brauchen vor allem Leute, die man plausibel als hilflose Opfer von Ursachen und Bedingungen, die jenseits ihrer Kontrolle liegen, klassifizieren kann. Und die Klassifizierung von Gruppen als hilflos fördert dann auch die Hilflosigkeit und dient so den psychologischen und politischen Zielen, womöglich auch den finanziellen Interessen jener, die klassifizieren.“ 771

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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die Armut in der Dritten Welt – man mag dies auch noch so sehr moralisch verurteilen oder rechtlich verfolgen. Wenn der Wohlstand nur von den gemeinsamen Anstrengungen der aufrechten und nobelgesinnten Menschen käme, dann würde die Menschheit immer noch im Elend versinken. Zumindest kurzfristig ist es immer so, dass die Schlechternährten besser genährt wären, wenn die Wohlgenährten ihr Essen mit ihnen teilten. Das ist etwas völlig anderes als die Behauptung, die Menschen in Indien verhungerten, weil überfütterte Amerikaner ihnen irgendwie das Essen wegnähmen. Die Dissonanz zwischen der intellektuellen Vision und der Erfahrung respektive Meinung der Öffentlichkeit hat in den letzten Jahren ein neues Phänomen entstehen lassen, das gelegentlich „totalitäre Demokratie“ genannt wird. Während früher – beispielsweise in der Ära des New Deal – die „Intelligenzia das Volk als Verbündeten im Kampf um die Macht sah,“773 und „eine plebiszitäre Auslegung der Demokratie“774 als Höhepunkt des Liberalismus verstand, sieht sie heute die öffentliche Meinung und den demokratischen Prozess als ein Hindernis, das es zu überwinden gilt. Während die Intellektuellen immer noch im Namen des Volkes sprechen und demokratische Ideale verfechten, „steht ihre endlose Strategie mit ihren Bekenntnissen nicht im Einklang.“775 Derlei Strategie lässt „Regeln [erkennen], die eine Teilhabe der Mehrheit minimieren und dadurch einer kleinen Fraktion erlauben, die Oberhand zu gewinnen.“776 Ob bei Fraktionssitzungen, Umweltverbänden oder anderen Einrichtungen gesellschaftlicher Entscheidungsfindung: komplexe Regeln und ermüdende Prozeduren sind Auslesemittel, die sicherstellen, dass im Entscheidungsprozess das Überleben der Individuen unterschiedlich ausfällt. Diese Prozeduren sind nämlich „die Kopfsteuer, die der Allgemeinheit von der Neuen Elite auferlegt wurde.“777 Der Rückgriff auf die Gerichte und Verwaltungsbehörden als bevorzugte Mechanismen der Entscheidungsfindung erhöht auch die Chancen der Intellektuellen, ihre Vision dem Rest der Gesellschaft aufzuerlegen. Wie einer der führenden Gegner der Todesstrafe feststellte, zog man seinerzeit „zweifellos die Gerichte vor,“ weil eine Reform auf dem Wege demokratischer Gesetzgebung entweder einen „öffentlichen Konsens oder eine mächtige Minderheitenlobby“778 erfordert hätte. Im Vergleich dazu sei es viel leichter gewesen, „neue verfassungsmäßige Absicherungen für die Richter auf den Weg zu bringen.“779 Einen Bogen zur Demokratie schlug man dann wieder durch die Behauptung, dass die neu geschaffenen „Verfassungsrechte“ eine „Antwort auf die tiefsitzenden gesellschaftlichen Konflikte [sind], welche die gewählten Repräsentanten nicht aufgegriffen haben,“ weil „die Interessen, die das Gericht schützt, nicht genug Macht mobilisie 773

Lebedoff (1978), S. 22. Burnham (1975), S. 78. 775 Lebedoff (1978), S. 24. 776 Lebedoff (1978), S. 24. 777 Lebedoff (1978), S. 24. 778 Meltsner (1973), S. 25. 779 Meltsner (1973), S. 26. 774

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2. Teil: Themen und Tendenzen

ren können.“780 Doch diese vagen Andeutungen zu „tiefsitzenden gesellschaftlichen Konflikten“ und „Macht“ sind letzten Endes nichts anderes als die Tatsache, dass eine Mehrheit der Bevölkerung – sogar mit „einem Hoch seit 20 Jahren“ –mitten im Kreuzzug, den die Intellektuellen zur Abschaffung der Todesstrafe führten, die Todesstrafe befürworteten.781 Ansprüche einer höheren Moral – deren Hüter sie axiomatisch sind – rechtfertigen nicht nur, dass der demokratische Wille respektive das verfassungskonforme Vorgehen außer Kraft gesetzt wird, sondern auch, dass man das Ganze „Demokratie“ nennt, weil es das wäre, was die Bevölkerung wollen würde, wenn sie die Vision der Intellektuellen teilen und es somit besser wissen würde. Dieser Ansatz wurde passenderweise „totalitäre Demokratie“ genannt. Noch unverblümter wird die moralische Überlegenheit der Intellektuellen ausgedrückt, wenn man behauptet, dass „eine Gesellschaft mit mehr Gleichheit auch dann die bessere Gesellschaft ist, wenn die Bürger Ungleichheit bevorzugen.“782 Politische Intellektuelle versuchen nicht nur die politischen Prozesse, sondern auch die kognitiven Prozesse zu ersetzen. Gewiss haben auch sie spezielle kognitive Fähigkeiten, aber deren unpersönliche respektive „objektive“ Natur macht sie in kritischen Momenten politisch unzuverlässig. Viel verlässlicher ist es, die gene­ relle Überlegenheit der Intellektuellen in kognitiven Angelegenheiten als Grund dafür zu nehmen, andere Auffassungen zu einer bestimmten Sache vom Tisch zu wischen, statt sie zu diskutieren. Terman argumentierte in keiner Weise inhaltlich mit Walter Lippman, wie es um die rassisch angeborene Intelligenz stehe. Er hat vielmehr seine Position als „Experte“ in dieser Frage dazu genutzt, Lippmanns Ideen als „Gefühle und Meinung“ abzutun, die im Gegensatz zu seinen „quantitativen Methoden“ stünden – auf die er sich bezog, ohne sie darzulegen. In einem Buch, das er dem Vergleich von Kapitalismus und Kommunismus gewidmet hatte, wischte Keynes den Marxismus als eine Doktrin vom Tisch, „von der ich weiß, dass sie nicht nur wissenschaftlich fehlerhaft ist, sondern auch ohne Belang oder Anwendbarkeit für die moderne Welt.“783 Er verriet uns indes nie und gab auch niemals einen Hinweis darauf, warum der Marxismus falsch war. In ähnlicher Weise behauptete James Baldwin, dass die Amerikaner „das ehrloseste und gewalttätigste Volk der Welt“784 seien. Er dachte dabei nicht an andere Völker, die eher ein Anrecht auf diesen Titel haben, weil sie mehr Menschen vernichtet haben, als in den Vereinigten Staaten Personen um die Bürgerrechte gebracht wurden. Überhaupt neigen die persönlichen Vorlieben und Ansichten der Intellektuellen dazu, Axiome zu werden, und nicht Hypothesen. Die Vorstellung, dass Minderheiten nur durch staatliche Eingriffe Fortschritte erzielen können, ist solch ein typisches Axiom – dem einiges entgegensteht: (1) Die schlecht verdienenden indianischen Amerikaner kennen staatliche Mithilfe schon sehr lange, während die finanziell 780

Meltsner (1973), S. 304. Meltsner (1973), S. 308. 782 Ronald Dworkin zitiert nach Kristol (1978), S. 192. 783 Keynes (1926), S. 99. 784 Beichman (1972), S. 46. 781

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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erfolgreicheren Gruppen, wie Orientalen und Juden, auf ihrem Weg aus der Armut zum Wohlstand kaum staatliche Unterstützung erfahren haben. (2) Dass es in den Städten des Nordens schwarze Gemeinden gibt, ist fast ausschließlich marktgesteuerten Transfers von privatem Eigentum zu verdanken. (3) Die Bildung schwarzer Jugendlicher war ursprünglich fast ausschließlich nicht-staatlich (teilweile sogar anti-staatlich, weil sie im Süden am Vorabend des Bürgerkriegs unter Missachtung der geltenden Gesetze stattfand), und erst ab 1916 zog die staatliche Bildung schwarzer Jugendlicher mit der privaten Bildung zahlenmäßig gleich.785 Der Punkt ist nicht der, dass diese Tatsachen bestimmen würden, wie bedeutend heute politische und nicht-politische Alternativen im Vergleich zueinander sind. Der Punkt ist vielmehr, dass willkürlich entgegengesetzte Tatsachen behauptet wurden und stillschweigend davon ausgegangen wurde, dass sie für das heutige Verhältnis politischer und nicht-politischer Alternativen bestimmend wären. Die Versuche von Intellektuellen, die mit weniger Glück Gesegneten als Opfer bestimmter, mit den Intellektuellen rivalisierender Eliten – vor allem Geschäftsleute – darzustellen, werden vergleichsweise selten zum Gegenstand empirischer Überprüfung oder Auslöser alternativer Hypothesen gemacht. Wenn beispielsweise Bezieher niedriger Löhne ausgebeutet würden, dann sollte man doch erwarten, dass ihre Arbeitgeber ungewöhnlich wohlhabend wären und sich nicht herausstellte, wie es in der Regel der Fall ist, dass Firmen mit niedrigen Löhnen hohe Konkursraten verzeichnen. Es geht hier nicht darum, dass genau dieser Test nie zum Thema gemacht wurde, sondern dass man in der ganzen Diskussion jedweden Test vermeidet und sich lieber auf Axiome verlässt. Es ist ein ideologisches und kein kognitives Denken. „Wenn wir feststellen, dass bestimmte Ideen zu Mensch, Geschichte oder Gesellschaft jenen, die an sie glauben, entweder selbstevident oder so unverrückbar korrekt erscheinen, dass ihnen jeglicher Widerspruch wie ein Zeichen von Stupidität oder Bosheit vorkommt, dann können wir ziemlich sicher sein, dass wir es mit einer Ideologie und ideologischem Denken zu tun haben.“786 In der intellektuellen Vision der Opferrolle wird z. B. die Dritte Welt zur Wohlstandsquelle der Industrienationen erklärt, obwohl in Wirklichkeit der Löwenanteil amerikanischer Investitionen in andere Industriestaaten und nicht in arme Länder fließt. Die Parolen von der Opferrolle finden wir auch bei denen, die an den sogenannten „Untergrundpublikationen“, die allerdings überall frei verkäuflich sind – auch in staatlichen Gebäuden, verdienen. Oft camoufliert man auch non-empirische Aussagen als empirische Sätze. Dann verwendet man modifizierte Begriffe, die aber die Aussagekraft mindern. „Unermesslich“, „unabänderlich“, „zutiefst“ usw. meinen einfach, „dass der Autor keine Daten hat, keine Forschung betrieb und einfach nur Wahrnehmungen in ‚Fakten‘ verwandelt hat.“787

785

McPherson (1975), S. 206. Burnham (1975), S. 100. 787 Beichman (1972), S. 127. 786

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Manchmal enthält die Umwandlung von Ideen in „Fakten“ statt einer abschätzigen Bemerkung zu den Fortschritten demokratischer Nationen eine Übertreibung der Fortschritte, die man in totalitären Gesellschaften gemacht hat. Die angeblichen wirtschaftlichen Erfolge der Bolschewiken ruhen beispielsweise oft auf der Annahme, das zaristische Russland hätte sich ungewöhnlich langsam entwickelt, obwohl es in Wirklichkeit zu den am schnellsten wachsenden Wirtschaftsräumen in Europa zählte. Die militärische Macht der UdSSR steht nicht im proportionalen Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Sie geht vielmehr auf das Vermögen des Sowjetstaates zurück, einen vergleichsweise höheren Anteil der inländischen Wirtschaftsleistung für militärische Zwecke zu nutzen. Die artikulierte Rationalität als Prozess und die Delegierung der Entscheidungsfindung an „Experten“ sind zu den Hauptmerkmalen der intellektuellen Vision politischen und sozialen Entscheidens geworden. Von dieser Warte aus gesehen ist dort, wo es keine artikulierte Rationalität gibt, nur Irrationalität. Andere Formen der Legitimierung (erfahrungsbezogene, systemische, traditionsbezogene) werden erst gar nicht erwogen. Folglich „haben die Amerikaner eine irrationale Hingabe an das Privateigentum,“788 sie sind ihm „verfallen.“789 Soziale Ziele sind in die Definition einer „rationalen“ Politik integriert,790 wie dem Ansatz zweier wohlbekannter Gelehrten zu entnehmen ist, die wenig überraschend erklären: „Die Delegierung an Fachleute ist im modernen Leben zu einem unverzichtbaren Instrument des rationalen Kalküls geworden.“791 Für sie ist die Bürokratie „eine Methode, um dem wissenschaftlichen Urteil Gewicht bei politischen Entscheidungen zu verleihen,“792 und ein „Triumph des absichtsvollen, kalkulierten und bewussten Versuchs, in höchst rationaler Weise Mittel für Ziele zu verwenden.“793 Dieses Argument übersieht – ähnlich wie es Max Weber mit seiner Behauptung, die Bürokratie sei „zweifellos technisch überlegen,“794 und Thorsten Veblen mit seiner These von der angeblichen Effizienz der technokratischen Ökonomie795 taten – die Tatsache, dass es so etwas wie eine von Werten unabhängige Effizienz nicht gibt. Prozesse sind beim Erreichen spezifischer Werte effizient oder ineffizient – wie es beispielsweise ein Motor ist, der ein Auto vorwärts bewegt, statt seine Kraft in zufälliges Ruckeln zu lenken. Keine noch so große bürokratische oder technologische Expertise kann für die zahllosen und unterschiedlichen Standards der Individuen „Effizienz“ erzeugen. Da hilft es auch nicht, wenn man den Standards der „Experten“, an die man die Macht delegiert hat, den Weg ebnet.

788

Dahl / Lindblom (1976), S. xxvi. Dahl / Lindblom (1976), S. xxviii. 790 Dahl / Lindblom (1976), S. 19. Siehe auch S. 73. 791 Dahl / Lindblom (1976), S. 73. 792 Dahl / Lindblom (1976), S. 79. 793 Dahl / Lindblom (1976), S. 245. 794 Weber (1958), S. 224. 795 Veblen (1954), S. 142, 144. 789

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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Die vielleicht wichtigste Frage in der Politik ist nicht, wie und warum die Intellektuellen nach Macht strebten, sondern wie und warum andere ihnen diese Macht sowie den Einfluss, der mit ihr einhergeht, zugestanden haben. Nur in seltenen Fällen geschah dies infolge eines demokratischen Erfolgs. Die Verbrechensraten stiegen, als man die Theorien der Kriminologen in die Praxis umsetzte, und die schulischen Leistungen gingen in den Keller, als man neue Unterrichtsmethoden ausprobierte. Es war in der Tat keine geringe Leistung der Intellektuellen, die empirischen Überprüfungsprozesse von der Tagesordnung abzusetzen. Außerdem wurden jene, deren Beruf überwiegend intellektuellen Zuschnitts ist – in erster Linie Ideenproduzenten –, sowohl eifriger als auch im Sinne von Macht stärker bevorzugt als diejenigen, die greifbare Ergebnisse in überprüfbarer Form geliefert haben. Nicht die Agronomen, Ärzte oder Ingenieure kamen an die Macht, sondern die Soziologen, Psychologen und Juristen. Letztere sind es, die als Gruppe die politische und soziale Landschaft in den Vereinigten Staaten und in weiten Teilen Westeuropas verändert haben. Ihre kognitiven Resultate sind nicht nur per se empirisch nicht zu verifizieren. Sie haben auch diverse Definitionen und axiomatische Ergebnisse vorgelegt, die für Überprüfungen nicht so leicht anfällig sind, wie es sein sollte. Allein der Fachjargon in diesen Disziplinen macht den Gehalt der Aussagen für Außenstehende unzugänglich. Alle desaströsen Folgen werden dem Übergang in die Schuhe geschoben – der kurzfristige Preis für den langfristigen Triumph. Mit ihrem Glauben und nicht mit ihren Taten haben die Intellektuellen das Feld erobert. Das dürfte kaum überraschen, wenn man an ähnliche Erfolge denkt, die religiöse Intellektuelle bereits einige Jahrhunderte vor ihnen erzielt haben. Was auch immer die Menschen dazu gebracht hat, denen Gehör zu schenken, die behaupten, die Zukunft zu kennen, es hat für die modernen Intellektuellen genauso gut funktioniert wie für die alten. Das moderne Gegenstück zum antiken Seher, dem die Menschen bereitwillig glaubten, ist der „Experte“. Wenn man auf „Experten“ verweist, dann zieht man einiges nicht in Betracht: (1) Liegt tatsächlich ein Expertenwissen in der fraglichen Angelegenheit vor oder nicht (oft, vor allem in den Sozialwissenschaften, ist dies nicht der Fall)? (2) Verfügen die ausgewählten Personen tatsächlich über das Expertenwissen oder einfach nur über ein Konvolut diverser Informationen? (3) Wenden jene, die eine Expertise haben, diese wirklich an oder setzen sie dieselbe als Mittel ein, um persönliche Vorteile respektive Gruppenwünsche auf Kosten anderer zu erzielen? Vielleicht ziehen Politiker „Experten“ auch dann hinzu, wenn sie die politische Verantwortung für unvorhersehbare oder umstrittene Ausgänge nicht übernehmen wollen. Und schließlich gibt es „Experten“, deren Detailwissen weitgehend in der Kenntnis bestimmter staatlicher Bestimmungen besteht, deren institutionelle Komplexitäten und Fachbegriffe für andere vollkommen unverständlich sind. Die hohen Investitionen an Zeit und Mühe, um sich mit den vertrackten Regulierungen und verschlungenen Verwaltungsvorgängen vertraut zu machen, wird wohl kaum jemand aufbringen wollen, der keine Sympathie für das betroffene staatliche Programm hegt. Dazu reichen weder das philosophische noch das kog-

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2. Teil: Themen und Tendenzen

nitive Interesse aus. Außerdem macht sich die Investition nur für jene bezahlt, die in der betroffenen Bürokratie als Berater oder Angestellte fungieren – und die sind offensichtlich dem fraglichen staatlichen Programm nicht abgeneigt. Sie würden zu Experten von nichts, wenn man die Programme abschaffte, und ihre kostspielige Investition wäre damit zunichte. Angesichts dieser Anreize und Einschränkungen liegt es auf der Hand, dass „alle Experten“ dieses oder jenes Programm gutheißen, aber wie sehr dies im Sinne der Gesellschaft insgesamt liegt, ist damit kaum gesagt. „Experten“ dieses Schlages verstehen es, Kritiker abzukanzeln, indem sie auf deren Missdeutungen in der einen oder anderen Detailfrage hinweisen oder auf Rechtsaspekte aufmerksam machen, von denen keiner für die Sache selbst entscheidend wäre. Doch alle zusammen sorgen für das politisch entscheidende, überlegene Wissen jener, die für die Programme sprechen, und versetzt sie in die Lage, ihre Kritiker als „schlecht informiert“ dastehen zu lassen. Es ist nicht so sehr der Hang der Intellektuellen zum „Experten“, der entscheidend ist, sondern der Unterschied zwischen der von ihnen vertretenen „objektiven“ Expertise und der Realität, der den politischen Prozess für ihren Einfluss empfänglich macht. Die allseits bekannten Interessengruppen – Vermieterverbände, die über Mietpreisbindung streiten, Ölfirmen, die Energiefragen erörtern, usw. – mögen ähnliche Anreize und Beschränkungen haben, sind aber weitaus weniger effektiv darin, wenn es darum geht, dass man ihre gesellschaftlichen Sichtweisen als objektive Wahrheit und soziales Anliegen begreift. Wenn aber ein akademischer Intellektueller als „Experte“ vor einem Kongressausschuss gehört wird, dann fragt niemand, ob er Empfänger großer Forschungszuwendungen ist oder lukrative Beratungshonorare von der Verwaltungsbehörde bezieht, deren Programme er im Interesse der Öffentlichkeit „objektiv“ zu beurteilen hat. Während die Bewerbung spezieller Gruppeninteressen nicht nur explizit ausgewiesen und mit einem Preisschild versehen wird, heißen die Gastgeber von Talkshows mit Vorliebe „Experten“ willkommen, die sich zu den Vorzügen von diesem oder jenem Programm auslassen oder Alarm schlagen und vor den verhängnisvollen Folgen warnen, sollten die Programme beschnitten oder beendet werden. Solchen Experten dankt man dann wärmstens dafür, dass sie „trotz ihrer vielen Verpflichtungen sich die Zeit genommen haben,“ um die Öffentlichkeit zu „informieren“ – also dafür, dass man ihre Sonderinteressen vor einem Millionenpublikum kostenlos bewerben durfte. Die Printmedien sind ebenso gewillt, die Aussagen solcher „Experten“ als Nachricht und nicht als Werbung auszuweisen. Wie in Kapitel 8 bereits festgestellt wurde, können Sonderinteressen einen gesellschaftlich nützlichen Beitrag zur Bekanntmachung von Sachverhalten leisten – vor allem, wenn es rivalisierende Sonderinteressen gibt und sie allesamt für das bekannt sind, was sie vertreten. Die politischen Vorteile der Intellektuellen ergeben sich genau aus dem Umstand, dass sie nicht als Interessenpartei wahrgenommen werden. Dieser Unterschied, der sich in den Kosten niederschlägt, welche die Öffentlichkeit für die Kenntnis dafür aufbringen muss, welche persönlichen Anliegen die jeweiligen Sprecher der Diskussionsrunden aus Geschäftsleuten,

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akademischen Intellektuellen und sonstigen Gesprächspartnern haben, verschafft den Intellektuellen einen entscheidenden Vorteil. In vielen Fällen gibt es keine konkurrierenden Sonderinteressen in organisierter Form, die den Intellektuellen Paroli bieten könnten, z. B. wenn es um die Frage geht, ob man Steuermittel für die Erschaffung und Förderung eines Programms verwenden soll, das Intellektuelle aus ideologischen Gründen oder aus eigennützigen Motiven befürworten. Riesige Forschungsfonds des Staates, die von der Behörde kontrolliert werden, deren Leistungen und Auswirkungen zu beurteilen sind, sorgen dafür, dass jede politisch versierte Behörde ein ganzes Bataillon von „Experten“ auf die Beine stellen kann, das sich aus den Empfängern ihrer Forschungsstipendien und aus ihren Beratern rekrutiert. Nicht alle von ihnen sind „angeheuerte Söldner“. Solange die betroffenen Behörden aus den Drittmittelempfängern auswählen, können sie sich die Leute aussuchen, die sich ihren Auffassungen verschrieben haben, und die außen vorlassen, die andere Ansichten vertreten. Erstere werden mit großen Forschungsergebnissen aufwarten können, die ihre Sichtweise untermauert. Letztere wird man hingegen darauf reduzieren, über die Dinge im Allgemeinen zu reden und methodologische Fragen zur Forschung der anderen aufzuwerfen. Nichts von beidem wird politisch sehr effektiv sein. Im Endeffekt wird man Steuermittel für Kampagnen nutzen, mit denen man mehr Steuermittel einwirbt. Aus Sicht der Freiheit ist eines noch wichtiger: Die zentrale Staatsgewalt wird dazu genutzt, für mehr zentrale Staatsgewalt zu werben – wobei Intellektuelle in diesem Spiel eine treibende Kraft bilden. Ungeachtet ihrer Anerkennung als unabhängige „Experten“, die objektive Urteile abgeben, haben Intellektuelle enorme persönliche Interessen. Zu ihren unmittelbaren persönlichen Vorteilen kommt noch etwas hinzu: Als soziale Klasse sind Intellektuelle davon abhängig, dass die politische Macht ihnen dabei hilft, ihre Visionen der Bevölkerung aufzudrängen. Die Geschichte der Intellektuellen vom Römischen und Chinesischen Reich über die Französische Revolution bis hin zu den modernen Totalitarismen zeigt, wie verlockend dieses Ziel war und ist und wie bereitwillig man stets die Freiheit anderer für derlei Visionen geopfert hat – zugunsten religiöser Erlösung oder „sozialer Gerechtigkeit“. Der Totalitarismus führt nur logisch zu Ende, was die Ansicht verheißt: Die Vision – Ideale, Prinzipien, Religion usw. – steht über allem, Menschen aus Fleisch und Blut aber sind entbehrlich. Ironischerweise rechtfertigen Intellektuelle trotz ihrer machtgeballten Rolle, die sie von der Öffentlichkeit und deren Rückmeldungen abkapselt, ihre Funktion mit der unverantwortlich großen Machtfülle, die andere Entscheidungseliten besäßen. Versuche, nichtintellektuelle Entscheidungsträger als mächtig und sozial unverantwortlich darzustellen, liegen eindeutig im Klasseninteresse der Intellektuellen. Für Intellektuelle ist es auch deshalb leicht, konkurrierenden Eliten unverantwortlich viel Macht vorzuwerfen, weil deren Verantwortlichkeit oft nicht in der Gestalt daherkommt, in der die Verantwortlichkeit der Intellektuellen in erster Linie zum Ausdruck kommt, nämlich in Form artikulierter Rationalität. Die Entscheidungen von Unternehmensleitern mögen wenig artikulierten Einfluss der Öffentlichkeit

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2. Teil: Themen und Tendenzen

widerspiegeln, vielleicht auch wenig von den firmeninternen Gründen, möglichweise auch im Widerspruch zu öffentlichen Bekundungen stehen. Dennoch können sie auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen, manchmal schon fast paranoid, weil man Angst hat, die Kundschaft zu verprellen, zu langweilen oder sonst irgendwie zu verlieren. Die extreme Sensitivität, mit der Fernsehsender auf ihre Zuschaueranteile achten, ist ein klassischer Fall von überzogener Firmenverantwortlichkeit in Situationen, in denen es eigentlich gar keine Interaktion zwischen Produzenten und Konsumenten gibt. Das Automodell Edsel wurde nicht fallen gelassen und die Warenhauskette W. T. Grant nicht aufgelöst, weil es artikulierte Äußerungen in die eine oder andere Richtung gegeben hätte, sondern weil Konsumentenwünsche diese Entscheidungen jeweils notwendig gemacht haben. Kurzum, das Fehlen artikulierter Verantwortlichkeit bedeutet nicht, dass die Verantwortlichkeit als solche fehlen würde. Und umgekehrt impliziert das Vorhandensein von Artikulation und Phrasen wie „das öffentliche Interesse“ oder „die Menschen“ noch keine Verantwortlichkeit. Es ist dabei unerheblich, ob solche Phrasen von Intellektuellen, Politikern oder Unternehmenssprechern stammen, die diesen Stil kopieren, um das modische Image der „Unternehmensverantwortlichkeit“ zu transportieren. Verantwortlichkeit zeigt sich nicht nur in den dramatischen Situationen, wenn berühmte Produkte oder Firmen von der Bildfläche verschwinden, sondern eher schleichend im konstanten Austausch von Produkten, Unternehmenspolitik und Unternehmensmanagement, um dem Wandel von Konsumentenvorlieben, Technologien und Organisationsformen gerecht zu werden. Dass Intellektuelle Verantwortlichkeit ausschließlich im Sinne ihrer eigenen Prozesse artikulierter Rationalität verstehen, sagt mehr über ihre Kurzsichtigkeit und Egozentrik aus als über die Funktionsweise sozialer Prozesse. Ein Geschäftsmann, dessen wirtschaftliche Zukunft daran hängt, wie genau er die Kundenwünsche und technologischen Möglichkeiten einschätzt, wird von Intellektuellen als verantwortungslos angesehen, weil er sich niemandem gegenüber artikuliert. Andererseits werden Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter, deren artikulierte Beurteilungen gefährliche Straftäter auf freien Fuß setzen, nicht wegen unverantwortlichem Handeln angeklagt. Sie haben auch keine Strafen zu erleiden, wenn die auf freien Fuß Gesetzten Raubüberfalle, Anschläge oder Morde begehen – sie müssen sich noch nicht einmal der Verlegenheit aussetzen, eine Liste über die Kriminellen zu führen, die auf ihre Empfehlung hin entlassen wurden. Viele jener Intellektuellen, welche der Öffentlichkeit die Geschäftswelt als unverantwortlich präsentieren, verurteilen solche Dinge wie TV-Abstimmungen und die Mehrung von Produktmodellen, die sich nur durch Nuancen unterscheiden (Automobile, Telefone, unterschiedliche Passagierklassen in Flugzeugen) – und alle Versuche darstellen, es dem Kundengeschmack recht zu machen. Nach den Vorstellungen der Intellektuellen kann man die Verantwortlichkeit der Geschäftswelt nur strärken, indem man mehr Artikulation notwendig macht – bei Aktionärsversammlungen, gegenüber Verwaltungsbehörden und durch öffentliche Enthüllun-

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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gen interner Betriebsabläufe. Artikulationsfreie Rechenschaft durch Ergebnisse – Produktmerkmale und Produktpreise – wird entweder ignoriert oder absichtlich der Artikulation von Prozessen untergeordnet. Das geschieht auch ungeachtet der Tatsache, dass eine Laienöffentlichkeit (schon fast definitionsgemäß) eher in der Lage sein dürfte, greifbare Endergebnisse zu beurteilen als komplexe und spezifische Prozesse zu kontrollieren. Wenn mehr Rechenschaft im Namen der Öffentlichkeit vorgeschlagen wird, dann meint das in der Praxis, Artikulation gegenüber Intellektuellen, die vom Staat (oder unter Androhung staatlicher Einmischung) als Repräsentanten der „Öffentlichkeit“ in die Aufsichtsräte der Unternehmen entsendet werden. Hier ist das Eigeninteresse der Intellektuellen noch deutlicher erkennbar und der Anspruch, den Wünschen der Allgemeinheit zu entsprechen, noch fragwürdiger. Nirgends ist die Bedeutung der Repräsentanz der „Öffentlichkeit“ besser veranschaulicht als bei den sogenannten „öffentlichen“ Fernsehanstalten. Der Geschmack, der dort bedient wird, ist nicht der der Öffentlichkeit, sondern der einer atypischen Elite, die Sportarten favorisiert (Fußball, Tennis), die sich von denen unterscheiden, welche die Öffentlichkeit liebt (Baseball, Football); die britische Seifenopern („Poldark“, „Das Haus am Eaton Place“) amerikanischen Serien vorzieht und Darsteller (Dick Cavett) rettet, die im Vergleich zu ihren Konkurrenten (Johnny Carson) weniger populär sind, aber von Intellektuellen vorgezogen werden. Es geht hier nicht um die künstlerischen Meriten, die den jeweiligen Unterhaltungsproduktionen zukommen, sondern um das, was „öffentliche Verantwortung“ in der Praxis meint, wenn sie in Form von „Artikulation“ gedacht wird, und nicht in Gestalt von alternativen Prozessen zur Vermittlung jener Präferenzen, welche die Öffentlichkeit hegt. Manchmal besteht der angebliche Mangel an „Verantwortlichkeit“ von Unternehmensleitungen gegenüber den Aktionären, nicht gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit. Die „Trennung von Eigentümerschaft und Kontrolle“ wird schon seit langem als ein „Problem“ wahrgenommen, das es zu „lösen“ gelte – nach wie vor durch mehr Artikulation und / oder politische Kontrolle. Die Möglichkeit, dass diese Trennung von den Aktionären selbst gewollt sein könnte, wird geflissentlich übersehen. Viele Investoren hätten genug Investitionsmittel, um ihr eigenes Unternehmen zu gründen und zu führen – wenn sie dies wollten. Ihre Präferenz dafür, dass ein anderer die Geschäftsführungsfunktion übernimmt, zeigt sich darin, dass sie Anteilsscheine kaufen. Als Anteilseigner kontrollieren sie lieber die Endergebnisse – Dividenden –, als zu versuchen, die Geschäftsführungsprozesse zu kontrollieren. Wenn man anderen Anteilseignern oder Repräsentanten der „Öffentlichkeit“ prinzipiell gestattete, die Geschäftsleitungsprozesse zu beaufsichtigen, würde man dadurch Aktionäre generell der Möglichkeit berauben, selbst zu wählen, wem sie ihre Investitionen anvertrauen. Aktionäre, die lieber in die Geschäftsführung einbezogen sein wollen, können dies durch den Kauf entsprechender Anteile von Firmen tun, die derlei Zugeständnisse anbieten, und zwar in einer Weise, die es ihnen nach wie vor erlaubt, mit anderen Unternehmen erfolgreich zu konkurrieren.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Manchmal gründet die wirtschaftliche „Machtkonzentration“, die man angreift, auf den Marktanteilen, mit der eine kleine Zahl von Unternehmen den Markt bedient („kontrolliert“), oder auf dem anteiligen Reichtum an Vermögenswerten oder Land, den einige wenige Firmen, Familien oder Individuen halten. Wie wir bereits an früherer Stelle zum Thema „Einkommensverteilung“ festgestellt haben, geben die Daten zu Familien und Einzelpersonen Auskunft über die jeweiligen Erwerbsphasen eines Leben und nicht über die einzelnen Personen als Mitglieder der einen oder anderen Gesellschaftsschicht – wer heute zu den Besserverdienern gehört, war gestern vielleicht noch schlecht bezahlt, und wer heute in der unteren Einkommensschicht lebt, bekommt Kinder, die später in der gehobenen Einkommensschicht arbeiten. Die Zahlen zur Konzentration wirtschaftlicher Macht sind noch tückischer. Wenn es beispielsweise heißt, dass 568 Firmen 11 % des Landes beherrschen,796 wird einiges insinuiert, aber keine ökonomische Schlussfolgerung oder gar Behauptung vermittelt, weil 568 Firmen weder eine Entscheidungseinheit bilden noch eine Grundlage für eine praktikable Verschwörung abgeben – selbst dann nicht, wenn 11 % des Landes für eine Verschwörung ausreichen würden. Einfach zu behaupten – wie es Ralph Nader tut –, dass 25 Großgrundbesitzer mehr als 61 % des kalifornischen Privatlandes besäßen,797 ist vollkommen irreführend. Nicht nur, dass das Land dort zu einem großen Teil dem Staat Kalifornien und dem Bund gehört – was den wahren Anteil weit unter 61 % drückt; man muss auch wissen, dass die sogenannten 25 „Großgrundbesitzer“ Tausende, ja Millionen von Personen umfassen, weil die landbesitzenden Firmen einer riesigen Zahl von Aktionären gehören. Die wahren Fakten legen also weniger eine Machtkonzentration unter wenigen Landbesitzern offen als vielmehr eine Vorliebe, die viele Menschen hegen, welche ihr Vermögen lieber in Werten anlegen, die professionelle Manager für sie verwalten. Wenn man die Vorteile der Spezialisierung bedenkt, dann kann man sich kaum vorstellen, wie viele Aktivitäten daran scheitern, Macht „anballen“ zu können. Die wirtschaftliche Machtanballung wird einfach willkürlich ausgewählt, um sie detailliert im Exposéstil beäugen und mit Anspielungen überfrachten zu können, allerdings ohne Schlussfolgerungen, die empirisch überprüfbar wären. Die stillschweigende Prämisse ist, dass in den zahlreichen Beziehungen, welche die „Machtkonzentration“ repräsentieren, etwa Befremdendes, Einzigartiges und Unheilvolles steckt, obgleich derlei viele Einzelbeziehungen in Wirklichkeit Banalitäten sind, die man in jeder menschlichen Unternehmung wiederfindet. Jeder, der sich im Profibasketball auskennt, weiß, dass 12 % der Bevölkerung mehr als die Hälfte aller Basketballstars stellen. Nur 3 % der Bevölkerung bauen den Gesamtbestand an Lebensmittel an, und nur je 1 % der Menschen hält die Postämter am Laufen und fährt die Taxis im Land. Und in der Tat sind es weniger als 1 % aller Amerikaner, die all diese Geschichten über den geringen Anteil der Leute schrei 796 797

Meyer (1979), S. 49. Meyer (1979), S. 49.

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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ben, die so große Teile der Aktivitäten kontrollieren. Sämtliche Autoren, Herausgeber und Reporter im Land stellen weniger als 1 % der Bevölkerung – und gut zwanzigmal kleiner ist die Zahl der Eigentümer, Geschäftsführer und Unternehmensvertreter, die angeblich eine gefährliche „Machtkonzentration“ verkörpern.798 Die Vorteile, die der Spezialisierung als schlichte Tatsache zugrunde liegen, kann man so und so sehen. Dazu gehören auch die unheilvollen Anspielungen, für die sich Intellektuelle entscheiden, wenn sie die mit ihnen rivalisierenden Eliten zur Diskussion stellen. In unserer Diskussion zur politischen Rolle der Intellektuellen ging es fast ausschließlich um die Rolle der politisch linksliberalen Intellektuellen, zum einen, weil die dominierende politische Ausrichtung der amerikanischen Intellektuellen entweder linksliberal oder links ist, und zum anderen, weil die kleine und politisch weitaus weniger einflussreiche Gruppe nicht-linksliberaler Intellektueller eine heterogene Gruppe stellt, die sich aus Anhängern bestimmter politischer und gesellschaftlicher Prinzipien zusammensetzt – die „Chicagoer Schule“ der Ökonomen um Milton Friedman, George Stigler usw., die soziologisch ausgerichteten „Neokonservativen“ (Irving Kristol, James Q. Wilson etc.) und Konservative im allgemeineren Sinn, die traditionellen Werten folgen (William F. Buckley, Russell Kirk etc.). Anders als der politische Liberalismus, der auf einen Kern an Werten, Postulaten und Schlussfolgerungen799 reduziert werden kann, hat der „Konservatismus“, so wie man ihn gemeinhin versteht (um beispielsweise all die oben erwähnten Spielarten einzuschließen), keinen bestimmten bzw. wenig Inhalt. Wenn ein Konservativer als jemand verstanden wird, der erhalten will, dann hängt das, was er konservieren will, von dem ab, was existiert. Das kann alles sein: das gesellschaftspolitische System, das im England des 18. Jahrhunderts herrschte, oder das der heutigen Sowjetunion. Kurzum, der breite Begriff „konservativ“ ist praktisch bar jeden Inhalts. Gleichwohl mag jede der einzelnen Untergruppen oder Personen, die unter dem Begriff geführt werden, sehr wohl für spezifische Inhalte stehen. Weil die große Mehrheit der Intellektuellen aus Linksliberalen besteht, sind hauptsächlich sie es, die festlegen, was mit dem Begriff „konservativ“ gemeint ist. Aus linksliberaler Sicht sind Konservative schlicht Menschen, die entweder den Status quo erhalten oder frühere und „einfachere“ Zeiten zurückhaben wollen. Solche Vorstellungen mögen vielleicht politisch effektiv sein, aber wenn man alternative Ansichten ausklammert, dann ergeben sich mit diesen Charakterisierungen große kognitive Schwierigkeiten. Es gibt beispielsweise keinerlei Hinweise darauf, dass es früher tatsächlich „einfacher“ gewesen wäre, obschon unser Wissen von damals zu grob sein mag. Der Status quo, der sich seit einer Generation in den Vereinigten Staaten und in großen Teilen Westeuropas breit gemacht hat, ist liberal bis links geprägt. Alternativen werden absichtlich „rückwärtsgewandt“ genannt, selbst wenn sie gesellschaftliche Arrangements vorsehen, die es zuvor 798 799

U. S. Bureau of Census (1975), S. 140 f. Burnham (1975), Kapitel 7.

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nie gegeben hat (wie beispielsweise die geldpolitischen Vorschläge der Chicagoer Schule). Vorschläge, die auf eine Beibehaltung oder Beschleunigung der bestehenden politökonomischen Trends hinauslaufen, werden hingegen „innovativ“ oder gar „radikal“ genannt. Bewahrer linksliberaler oder sozialistischer Institutionen werden nie mit dem herabsetzenden Begriff „konservativ“ versehen. Gleiches gilt für jene, welche die Ideale der französischen Revolution befürworten bzw. deren Phrasen wiederholen. Im gesamthistorischen Kontext sind die systemischen Vorteile dezentraler Entscheidungsfindung weitaus jüngeren Datums als die Idee, dass die Erlösung darin liege, die Macht ganz und gar in die Hände der richtigen Leute mit den richtigen Ansichten zu legen. Adam Smith tauchte 2.000 Jahre nach Platon auf, aber die zeitgenössischen Versionen der Idee eines Philosophenkönigs werden als neu und revolutionär betrachtet, während die systemischen Dezentralisierungsansätze für „altmodisch“ gehalten werden. Solche Erscheinungen sind selbst Teil einer Vision, in der die Ideen zeitgeistig statt kognitiv beurteilt werden – was für ältere und einfacherer Zeiten gelten mochte, ist für die Komplexitäten des modernen Lebens unangemessen. Die Merkmale der intellektuellen Vision decken sich weitgehend mit denen der totalitären Ideologie – vor allem die Verortung des Bösen und der Weisheit, die mit den Interessen der großen Massen gleichgesetzt werden, deren tatsächliche Präferenzen zugunsten der übergeordneten Präferenzen der Intellektuellen ignoriert werden. Dies verträgt sich nicht damit, dass die Intellektuellen die Bewegung hin zu einer Zentralisierung der politischen Macht in den demokratischen Staaten unterstützt, ja sogar angeführt haben und den Despotismus und Totalitarismus in anderen Ländern, in denen ähnlich denkende Menschen eine wesentliche Rolle spielten, verteidigt haben. Demokratische Traditionen erzeugen entweder intern ideologische Konflikte oder extern die pragmatische Notwendigkeit, den totalitären Tenor der intellektuellen Vision zu klittern. Hier werden intellektuelle Prozesse – definitorische Klarheit, logische Konsistenz, Kanon an Beweismitteln – oft der intellektuellen Vision oder den Eigeninteressen der intellektuellen Klasse geopfert. Antidemokratische Prozesse werden z. B. mittels demokratischer Rhetorik als Ausdruck von „Teilhabe“ oder „öffentlicher“ Repräsentanz beschrieben. Vermutungen treten an die Stelle von Beweisen – aus Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. So geschah es bei den zahllosen Argumenten, denen zufolge der nationale IQ im Niedergang begriffen war. Vorhandene Evidenz hingegen kann auch schon mal resolut übergangen werden, wie beispielsweise bei den Behauptungen, dass die Verbrechensraten die soziale „Wurzel des Übels“ verrieten oder dass „innovative“ Unterrichtsmethoden effektiver seien und dass Sexualkunde die Fallzahlen jugendlicher Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten reduziere. Kurzum, kaum etwas spricht dafür, dass die politische Haltung, die Intellektuelle einnehmen, den intellektuellen Prozess widerspiegelte, viel aber dafür, dass die von ihnen eingenommene Position eine Vision und ein Konvolut an Interessen widerspiegelt, die für die intellektuelle Klasse bezeichnend sind.

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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Zusammenfassung: Die umkämpfte Freiheit Die Freiheit wurde schon immer umkämpft, sofern sie nicht schon völlig zerstört war. Die Sehnsucht nach Freiheit und ihrem Gegenstück, Macht, ist so allgemeingültig, wie es alle menschlichen Eigenschaften sind. Das Atomzeitalter hat diesem Streit eine neue Dimension gegeben. Gleiches gilt für den Aufstieg der Intellektuellen zu einer prominenten sozialen Klasse, deren Ambitionen, Einflussnahme und / oder Dominanz in der Politik im Wachstum begriffen sind. Die Bewegung hin zum Totalitarismus ist schon fast definitionsgemäß eine Einbahnstraße. Noch nie hat sich ein totalitärer Staat dazu entschlossen, frei oder demokratisch zu werden, wohingegen eine freie und demokratische Nation sich sehr wohl entscheiden kann, sich in Richtung Totalitarismus zu bewegen, so wie es Deutschland 1933 getan hat. Wenn die staatliche Entscheidung die einzige Variable wäre, dann wäre der weltweite Siegeszug des Totalitarismus wohl unvermeidlich, weil die Entscheidung in die eine Richtung reversibel ist, die in die andere hingegen nicht. Der Nazi-Totalitarismus wurde durch externe Militärmächte zerschmettert und sein Reich von einmarschierenden Armeen befreit. Aber die Invasion in der Normandie, die zur Befreiung Westeuropas führte, kann im Atomzeitalter wohl kaum ihr Gegenstück finden, wenn es um die Befreiung Osteuropas geht. Das hilflose Zusehen der westlichen Demokratien, als in den 50er Jahren die Panzer der Sowjets die Erhebungen in Osteuropa niederschlugen, war ein bitterer Beweis für die neue Realität einer atomaren Auslöschung. Vielleicht lähmen politische Erosionen langfristig die Vitalität des Totalitarismus oder erfordert die wirtschaftliche Effizienz, dass dieser sich inkrementell ändert (was in der Landwirtschaft bereits geschehen ist), bis er schlussendlich dem gegenwärtigen Model der Zentralisation nicht mehr ähnelt. Aber selbst diese Hoffnungen auf eine ferne Zukunft schwinden dahin, wenn die heute noch vorhandenen Beispiele freier und demokratischer Nationen bis dahin verschwunden sein sollten. Im Atomzeitalter hängt das Überleben der nicht-totalitären Welt von der nuklearen Abschreckung Amerikas ab. Ohne sie wäre die Nuklearmacht Sowjetunion eine unüberwindbare Bedrohung für die internationale Politik der Mächte, egal, ob von ihr Gebrauch gemacht würde oder nicht. Selten lag das Überleben der menschlichen Freiheit in der Hand eines einzigen Staates und das Überleben der Spezies in den Händen von zweien. Die Ausbreitung des Totalitarismus – seit dem 2. Weltkrieg Kommunismus – vollzog sich auf Kosten aller Arten nicht-totalitärer Regierungsformen: Demokratie in der Tschechoslowakei, Monarchie in Laos, lateinamerikanische Autokratie in Kuba. All diese Regierungsformen scheinen, ungeachtet ihrer sonstigen Vor- und Nachteile, änderbar zu sein. Spanien könnte sich nach der Franco-Diktatur wieder liberalisieren und Portugal könnte nach Salazar wieder nach links schwenken. Was ihren jeweiligen Freiheitsgrad angeht, so scheinen diese Staaten sich je nach Phase, in der sie stecken, von kommunistischen Diktaturen kaum zu unterschei-

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den. Aber eine kommunistische Diktatur hat eine Dauerhaftigkeit, an die andere Regierungsformen nicht heranreichen können. Da die meisten Staaten auf diesem Planeten weder demokratisch noch kommunistisch sind, folgt notwendigerweise, dass Amerika die Ausbreitung des Totalitarismus nur eindämmen kann, indem es mit nichtdemokratischen Staaten kooperiert. Manche Amerikaner, aber vor allem Intellektuelle, sehen in einer solchen Zusammenarbeit eine Verletzung des demokratischen Bekenntnisses. Sie meinen, man sollte die Kooperation davon abhängig machen, dass die nicht-demokratischen Staaten demokratische Institutionen übernehmen. Es handelt sich hier um einen Sonderfall der allgemeinen und stillschweigenden Annahme, dass für alle eine einzige Werteskala zu gelten habe. Da die konstitutionelle Demokratie eine Seltenheit und historisch neueren Datums ist, wäre ihre universelle Anwendung besonders egozentrisch und willkürlich gedacht. Wenn man sie zur Vorbedingung einer Kooperation zwecks Eindämmung der Welle eines unumkehrbaren Totalitarismus macht, dann spricht dies wohl entweder für eine Geringschätzung der Bedrohung oder für eine mangelnde Bereitschaft, der historischen Verantwortung ins Auge zu sehen. Die These von der für alle geltenden einheitlichen Werteskala ist eine Größe in der Politik, sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene. Sie hat die Aufbürdung vieler einzelner Gesetze und Maßnahmen erleichtert, die der Bevölkerung übel aufstießen. Noch wichtiger aber ist, dass sie den dauerhaften politischen Rahmen geändert hat, damit solche Zumutungen erst möglich wurden, sei es durch Gerichte, Verwaltungsbehörden oder sonstige Institutionen und Prozesse, die sich der öffentlichen Rückmeldung und der Verantwortung gegenüber kleineren und interessierten Wählerschaften entzogen haben. Auf nationaler wie auf internationaler Ebene lässt es die Freiheit als allgemeiner Bewahrer von Optionen zu, dass die bevorzugte Option einer Gruppe für alle verpflichtend wird. Der Einfluss dieser Gruppe ist weit größer als die Zahl ihrer Mitglieder. Das liegt teilweise daran, dass sie als objektive „Experten“ gelten, teilweise aber auch an der moralischen Natur ihrer Argumente und der scheinbaren moralischen Überlegenheit, die sie ihnen unterstellen (im Gegensatz zu den Argumenten, welche die herkömmlichen Sonderinteressengruppen in diesen Fragen vertreten). Der moralische Ansatz in der Ordnungspolitik bietet nicht nur jenen einen politischen Vorteil, die nach einer größeren Machtkonzentration trachten. Der Moralismus selbst impliziert eine Machtkonzentration. Mehr Gerechtigkeit für alle ist in einer Welt unterschiedlicher Werte und ungleicher Gerechtigkeitsvorstellungen ein Widerspruch in sich. „Mehr“ Gerechtigkeit meint in einer solchen Welt, dass man anderen ein besonderes Gerechtigkeitsverständnis zumutet – soll heißen: weniger Freiheit. Vollkommene Gerechtigkeit meint in diesem Zusammenhang vollkommene Tyrannei. Das ist nicht nur semantisch gemeint, sondern auch theoretisch. Dass die Politik im Lande in jeden Ritz und jede Rille gefunden hat, nahm seinen Anfang mit Kampagnen im Namen größerer „sozialer Gerechtigkeit“. Eltern, die durch das Gesetz dazu gezwungen wurden, ihre Kinder auf entlegene öffentliche Schulen zu schicken, wo andere Kinder sie misshandelt und terrorisiert haben,

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wurde der Verlust der Freiheit schmerzhaft bewusst. Da half es wenig, dass in weiter Ferne die Theoretiker das gewaltsame Zusammenstecken von Kindern Gerechtigkeit nannten und die beruflichen Vorteile der Intellektuellen von der staatlichen Macht verschont blieben. Das zu kurz greifende Verständnis von Freiheit als die Freiheit, die für Intellektuelle wichtig ist oder von der Verfassung formal garantiert wird, vergisst die vielen administrativen und judiziellen Wege, per Dekret Optionen gewaltsam aufzuheben. Dergleichen liegt auch in der Macht des Staates. Er kann die finanziellen und sonstigen Anreize so strukturieren, dass sie entweder hohe Kosten oder hohe Zuwendungen garantieren, je nachdem, ob die Individuen und Organisationen das tun, was der Staat sehen will – ob der Staat das explizite Statut oder die verfassungsgemäße Autorität für derlei Verhaltenskontrollen hat oder nicht. Vor mehr als hundert Jahren erkannte John Stuart Mill die Gefahren, die im Wachstum der außergesetzlichen Macht des Staates liegen: „Jede Funktion über jene hinaus, die der Staat bereits wahrnimmt, führt dazu, dass der Einfluss, den der Staat auf die Hoffnungen und Ängste ausübt, sich stärker ausbreitet und nach und nach den aktiven und ambitionierten Teil der Bevölkerung in Staatsabhängige oder solche, die es werden wollen, verwandelt. Wenn die Straßen, Eisenbahnen, Banken, Versicherungen und großen Aktiengesellschaften, Universitäten und Wohlfahrtseinrichtungen allesamt zu Abteilungen des Staates werden; wenn auch die Gemeindeunternehmen und lokalen Aufsichtsgremien mit allem, was ihnen jetzt zukommt, zu Ressorts einer zentralen Verwaltung werden; wenn die Angestellten all dieser verschiedenen Unternehmen vom Staat angestellt und bezahlt werden und sie in jeder Phase ihres Lebens auf ihn bauen, dann kann weder die Pressefreiheit noch die Gesetzgebung der vom Volke ausgehenden Verfassung das Land wirklich, sondern nur dem Namen nach frei machen.“800

Die Freiheit ist sowohl national wie international in Gefahr. Die internationale Gefahr ist letzten Endes der militärischen Macht zuzuschreiben, und die nationale Gefahr einer Ideologie. Es ist nicht nur so, dass eine Ideologie falsch sein kann – alles Menschliche ist unvollkommen. Es sind der Eifer, die Eile und die moralische Gewissheit hinter ihr, welche die auf Gewaltenteilung basierende konstitutionelle Regierungsform einer besonderen Gefahr aussetzen, weil es oft weniger wichtig erscheint, die konstitutionelle Freiheit zu wahren, als einen Sieg für die „Gerechtigkeit“, wie die Eiferer sie verstehen, zu erzielen. Wenn es einigen dieser Eiferer gelingt, als desinteressierte „Experten“ dazustehen, dann spitzt sich diese Gefahr zu. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein Hauptkriegsschauplatz für beide Gefahrenherde, den nationalen wie den internationalen. Militärisch gesehen ist die ganze westliche Welt von Amerikas atomarer Macht abhängig. Und was die Politik angeht, so haben sich die Zentralisierungskräfte ihrem Ziel in den übrigen Ländern der westlichen Welt sehr viel stärker angenähert als in Amerika, wo verschiedene autonome Kräfte dem Zentralisierungstrend immer noch erheblichen Widerstand leisten. In den Vereinigten Staaten zeigten die Intellektuellen nie so eine große

800

Mill (1939), S. 1037.

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Geschlossenheit wie in den gesellschaftlich homogeneren Ländern.801 Hier wurde die Bevölkerung von ihnen auch nie ernsthaft eingeschüchtert. Ein Symptom dessen ist, dass die sozialistische Bewegung jämmerlich dabei gescheitert ist, in den Vereinigten Staaten Wurzeln zu schlagen – was ihr in Westeuropa gelang. Sozialistische Bewegungen (und kommunistische Bewegungen) waren überall und stets die schöpferischen Produkte von Mittelschichtsintellektuellen, gleichwohl das endlos wiederkehrende Thema „Arbeiterklasse“ in der sozialistischen Rhetorik diese Tatsache rein verbal verschleiern dürfte. Dort, wo sich sozialistische Intellektuelle und Gewerkschaften zusammenschlossen – wie beispielsweise in der britischen Arbeiterpartei – haben die Intellektuellen die Allianz der Linken angeführt, wobei Widerstand und Duldung aus den Reihen der Arbeiterklasse sich in unterschiedlichem Ausmaß abwechselten. Man hat es nach demselben Muster mehrere Male in Amerika probiert, aber die amerikanischen Arbeiter waren stets weit weniger ehrfurchtsvoll gegenüber denen „da oben“ – egal, ob Arbeitgeber oder Intellektuelle – als die europäischen Arbeiter. Hier hat man die Intellektuellen besser in ihre Schranken gewiesen. Wenn der Trend zur Zentralisierung der Macht – und zur entsprechenden Erosion der Freiheit – überhaupt irgendwo aufgehalten werden kann, dann bestimmt in Amerika. Aber im Atomzeitalter muss sogar eine so wichtige Frage wie die der menschlichen Freiheit im Lichte der militärischen Realitäten gesehen werden. Die militärische „Balance“ Nach dem 2. Weltkrieg hatten die Vereinigten Staaten für eine kurze Zeit eine militärische Machtstellung inne, die in der Geschichte der Menschheit ihresgleichen sucht. Selbst das Römische Reich war auf der Höhe seiner Macht nicht unangreifbar. Neben ihrem Monopol als größte Streitmacht der Geschichte hatten die Vereinigten Staaten als einzige Industrienation eine vollständig intakt gebliebene Produktionskapazität. Der Krieg hatte sie unbeschadet gelassen, und man produzierte mehr als die restliche Welt zusammen.802 Das Volk stand vereint hinter seiner Regierung wie selten zuvor und danach. Betrachtet man nur die Machtsituation, dann hätten die Vereinigten Staaten ein amerikanisches Reich oder eine moderne Version der Pax Britannica errichten können, die Europa und den größten Teil der übrigen freien Welt auf lange Zeit vor Kriegen bewahrt hätte. Es geht hier nicht um die Frage, ob man derlei hätte tun sollen oder nicht. Vielmehr geht es darum, die Situation und die Möglichkeiten aufzuzeigen und sie mit dem zu vergleichen, was wirklich geschehen ist. In Wirklichkeit wurden zwei Drittel der amerikanischen Streitkräfte innerhalb eines Jahres demobilisiert – 9 Millionen Männer und Frauen zwischen 1945 und 801 802

Coser (1970), S. 350 ff. Burnham (1975), S. 259.

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1946. Die verbliebenen 3 Millionen Mitarbeiter des Militärs wurden dann bis 1947 auf die Hälfte reduziert.803 1948 war die amerikanische Streitmacht kleiner, als sie es in den Tagen von Pearl Harbour war. Die Souveränität der Nationen, welche die amerikanische Armee von den Nazis befreit hatte, war unverzüglich wiederhergestellt worden. Die amerikanische Besatzungsarmee, die 1945 in Japan gelandet war, hatte Order, Lebensmittel der Japaner weder zu kaufen noch zu stehlen, denn dies hätte die von der japanischen Zivilbevölkerung dringend benötigten Essensreserven arg belastet. Dass die Essensrationen der Eroberungsarmee bis zum Eintreffen von Nachschub aus der Heimat gekürzt wurden, um das eroberte Volk nicht zu berauben, dürfte ein Novum in der Geschichte gewesen sein. Die humane Behandlung unterworfener Feindesländer machte aus Deutschland und Japan die größten proamerikanischen Nationen der Welt, politisch wie auch kulturell. Diese Handlungen sind schon an sich bemerkenswert, aber vor dem historischen Hintergrund anderer Eroberungsnationen sind sie es noch mehr. Sie passen gar nicht zum Bild einer „kranken“ Gesellschaft und stehen vor allem im krassen Gegensatz zu den Taten der Sowjetunion. Mit der Zeit aber ging das militärische Supremat, das die Vereinigten Staaten nach dem 2. Weltkrieg hatten, verloren. An seine Stelle trat das „nukleare Patt“. Sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion haben genug Nuklearwaffen, um die Ballungsgebiete der jeweils anderen Nation mehrmals auszulöschen – man nennt es auch „Übertöten“. Dennoch dürfte das nukleare „Übertöten“ nicht so neuartig sein, wie es zunächst scheint, und auch kein so entscheidender Indikator für vernachlässigbar kleine inkrementelle Erträge einer fortschreitenden militärischen Entwicklung. Es ist gut möglich, dass Frankreich, als es 1940 vor Nazideutschland kapitulierte, genug Kugeln übrighatte, um jeden deutschen Soldaten zweimal zu erschießen, aber solche theoretischen Berechnungen hätten der kapitulierenden Nation wenig gebracht. Würde jemand sagen, dass ein einzelner Polizist, der drei Verbrechern gegenübersteht, die Macht zum „Übertöten“ hat, weil sein Revolver genug Kugeln in der Trommel hält, um sie zweimal zu töten? Im Gegenteil! Je nachdem, wie nah sie ihm sind und welche Waffen sie bei sich tragen, kann seine Lage durchaus brenzlig sein. In einer Zeit hochentwickelter Radarverteidigungs- und Abfangraketensysteme ist wohl der einzige Weg, eine Atomrakete ins Ziel zu bringen, jener, bei dem man das feindliche Verteidigungssystem mit mehr Geschossen bombardiert, als es handhaben kann – das heißt mit einer Anzahl von Geschossen, die rein theoretisch ein extravagantes „Übertöten“ ermöglichten, wenn der Feind wie eine Ente ohne jeglichen Schutz auf dem Boden säße. Da sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion Verteidigungssysteme haben, die sie vor Raketen schützen, sind theoretische Beispiele des „Übertötens“ entweder Ausdruck von Naivität oder von Demagogie, je nachdem, wie sie eingesetzt werden. Solange die Technologie der Angriffs- und Verteidigungssysteme voranschreitet, gibt es keinen Zeitpunkt, zu 803

U. S. Bureau of Census (1975), S. 1141.

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dem wir beruhigt „genug“ sagen können, weil nicht die Größe des Arsenals entscheidet, sondern die Fähigkeit, es durch die gegnerische Verteidigungslinie ins Ziel zu bringen. Militärische Streitkräfte konnten schon immer „übertöten“. Ob die Kugeln, die je in einem Krieg abgefeuert wurden, mehrheitlich ihr Ziel getroffen haben, darf bezweifelt werden. Außerdem gibt es eine beträchtliche Zahl von Soldaten, die nie schießen. Dennoch würde niemand behaupten, es sei nutzlos, Soldaten, die in den Kampf ziehen, zu bewaffnen, oder Verschwendung, mehr Kugeln auszuteilen, als der Feind Soldaten hat. In der Geschichte der militärischen Balance zwischen der Sowjetunion und Amerika ging es aus amerikanischer Sicht stets bergab. Hatten die Vereinigten Staaten 1965 noch einige Hunderte Atomraketen mehr als die Sowjetunion, hatte diese 1975 bereits 1.000 Raketen mehr als die Vereinigten Staaten.804 1965 hatten das amerikanische Militär sowohl im konventionellen Sektor als auch im Bereich des nuklearen Angriffs mehr Personal als der sowjetische Militärapparat, 1975 war das Verhältnis umgekehrt.805 Auch die übrigen Komponenten atomarer Militärmacht hatten sich in diesem Zeitraum zum Nachteil der Vereinigten Staaten entwickelt.806 In Europa waren die Truppen der Warschauer Pakt-Staaten den westlichen Nato-Truppen zahlenmäßig um die Hälfte überlegen. Außerdem hatten sie dreimal so viele Panzer, 40 % mehr Flugzeuge und dreimal so viele Artilleriewaffen. Einen militärischen Vorteil hatten die westlichen Militärs nur bei der Anzahl der taktischen Atomwaffen (doppelt so viele).807 Taktische Nuklearwaffen – der einzige Vorteil des Westens – haben den erheblichen Nachteil, dass die verteidigende Nation Gefahr läuft, die eigene Bevölkerung einer radioaktiven Strahlung auszusetzen, wenn sie die Waffen gegen den Eindringling einsetzt. Der einfallende Angreifer kennt ein vergleichbares Risiko nicht, weil seine taktischen Atomwaffen dort zum Einsatz kommen, wo eine fremde Zivilbevölkerung lebt. Die Versuche des Westens, dieses Ungleichgewicht durch eine Weiterentwicklung taktischer Nuklearwaffen mit geringerer und nur flüchtiger Strahlenbelastung auszugleichen, führten zur sogenannten „Neutronenbombe“ (eigentlich ein Artilleriegeschoss). Sie wurde weltweit von einer massiven Propagandakampagne begleitet, die auf ein Nebenmerkmal dieser Waffe abstellte, nämlich deren Unvermögen, physikalische Strukturen zu zerstören. Dass sie „Menschen und nicht Eigentum zerstört,“ wurde zum Thema der sowjetischen Propaganda, die im Westen ein Echo fand und den Eindruck erweckte, dass die Waffe ein Beweis für die kapitalistische Mentalität sei, sich mehr um Dinge als um Menschen zu scheren. Dass die Sowjets so argumentieren würden, war nicht überraschend. Dass ihr Argument aber einen so großen Nachhall bei der politischen Linken in den westlichen Ländern finden würde – zumal zu einem Sachverhalt des nationalen Überlebens und nicht einem 804

Library of Congress (1978), S. 43. Library of Congress (1978), S. 43, 45. 806 Library of Congress (1978), S. 43 ff. 807 Newsweek (1978), S. 37. 805

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der politischen Ideologie –, sollte politisch die Weichen stellen. Demonstrationen gegen die „Neutronenbombe“ überzogen die westliche Welt, und nach einer elfstündigen Nato-Verhandlungssitzung widerrief der amerikanische Präsident die Pläne für diese taktische Waffe, deren militärisches Hauptmerkmal es war, dass die Schutzmacht mit der Angriffsmacht gleichgezogen hätte, ohne dass die Defensivkräfte genötigt gewesen wären, ihre eigenen Zivilisten zu töten, um die Invasoren zurückzudrängen. Die vorhandenen taktischen Nuklearwaffen würden z. B. allein in Westdeutschland schätzungsweise 5 Millionen Zivilisten töten, wenn man sie zur Vertreibung eines Eindringlings einsetzte.808 Ein Angreifer kann schon vorab die Glaubwürdigkeit einer solchen Waffe als Abschreckungsmittel diskontieren, weil ihm bewusst ist, dass sie die Verteidiger an sich schlimmer verletzt als die Angreifer. Dass emotionale oder ideologische Vorbehalte Entscheidungen von derart grausiger Größe beeinflussen würden, ist ein Zeichen dafür, dass der Westen sowohl politisch als auch militärisch der weitaus Verletzbarere ist. Die politischen Reaktionen bei der politischen Linken in Europa waren weitaus stärker als in den Vereinigten Staaten. Auch die Linke selbst ist in Westeuropa stärker. In Amerika stellte sich der führende Sprecher der Linksliberalen, Hubert Humphrey, hinter die Waffe.809 Die Regierungen des Westens waren offenbar auch für die Waffe, aber wegen des politischen Aufruhrs oft nur im privaten Kreis statt öffentlich.810 Wie kam es angesichts der ursprünglichen Vorherrschaft des Westens zu dem militärischen Ungleichgewicht, das wir jetzt haben? Ganz einfach, durch politische Entscheidungen, die Verteidigungsausgaben den Wohlfahrtsprogrammen zu opfern. 1952 betrugen die Militärausgaben 66 % des Bundeshaushalts. Danach sanken sie bis 1977 auf 24 %, während im gleichen Zeitraum die Ausgaben für die soziale Wohlfahrt von 17 % auf 50 % stiegen.811 Durch die Inflation des Dollars hält sich die politische Illusion, die Verteidigungsausgaben würden steigen. Aber gemessen in absoluter Kaufkraft sanken die Militärausgaben in den Vereinigten Staaten nicht nur relativ, sondern auch absolut. Außerdem ist heute ein großer Ausgabenanteil der besseren Personalbesoldung geschuldet, nicht aber den Waffen – seit 1952 stiegen die Kosten pro Soldat um das Vierfache.812 Mehr als die Hälfte aller amerikanischen Militärausgaben entfällt auf das Personal. Die sowjetische Regierung hat in der Zeit, in der die Vereinigten Staaten ihren Militärhaushalt reduziert haben, ihren Militärsektor beibehalten und ausgebaut. Kurzum, der relative Niedergang der amerikanischen Militärmacht ist weitgehend selbstauferlegt, und das Gerede vom „Wettrüsten“ übersieht ganz einfach, dass die Sowjets ihr Militär aufgebaut haben, während die Verteidigungsmittel der Amerikaner in Sozialprogramme umgeleitet wurden.

808

Newsweek (1978), S. 36. Newsweek (1978), S. 37. 810 Newsweek (1978), S. 37. 811 Freeman (1975), S. 6 f. 812 Freeman (1975), S. 14. 809

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2. Teil: Themen und Tendenzen

Hier zeigt sich eine verblüffende Parallele zum Niedergang und Verfall des Römischen Reiches. In seinen jungen Jahren „wahrten [die Römer] den Frieden durch ständige Kriegsbereitschaft.“813 Ihre Soldaten wurden rigoros gedrillt814 und trugen schwere Rüstungen und Waffen.815 Sie wurden von der römischen Aristokratie befehligt und von Kaisern in die Schlacht geführt.816 Ihre Moral wurde von ihrem Stolz, ein Römer zu sein, getragen.817 Später ließ die Disziplin nach.818 Die Soldaten trugen leichtere Rüstungen und Waffen, weil sie sich über die schweren Lasten beschwert hatten, die ihre Vorgänger tragen mussten.819 Nun wurden sie von den Armeen der Barbaren geschlagen, die kleiner als jene waren, die früher von den Römern besiegt wurden.820 Hinter der Selbstschwächung Roms waren Kräfte am Werk, die jenen gleichen, die wir heute in den Vereinigten Staaten und Westeuropa erleben: innere Zerrissenheit,821 Demoralisierung,822 steigende Wohlfahrtsausgaben,823 eine wachsende wie erstickende Bürokratie824 – und der zunehmende politische Einfluss der Intellektuellen.825 In Rom, wie auch heute in den Ländern des Westens, rissen vor allem jene fanatischen Intellektuellen die Macht an sich, die mit nicht zu verifizierenden Theorien hantierten – im Falle Roms waren es religiöse Theorien, und bei uns heute im Westen sind es Theorien zur „sozialen Gerechtigkeit“. Für einen totalitären Staat mit einer Einheitspartei ist der längere Zeithorizont sowohl ein militärischer als auch ein politischer Vorteil. Die gewählten Vertreter einer Demokratie haben Anreize, die Militärausgaben kurzfristig in Wohlfahrtsausgaben zu verwandeln. Während also Erstere langfristig nationale Interessen verfolgen, zählen bei Letzteren kurzfristig die politischen Güterabwägungen. Das gilt vor allem in Zeiten, in denen die staatlichen Verpflichtungen auf einem hohen Niveau sind und der Widerstand der Wähler gegen hohe Steuern für finanzielle Manöver – abgesehen von Beschneidungen des Wehretats – wenig Raum lassen. Während der letzten 25 Jahre wurde in den Vereinigten Staaten der Anteil der Militärausgaben um mehr als 40 Prozentpunkte reduziert.826 Ein totalitärer Staat 813

Gibbon (o. J.), Band 1, S. 8. Gibbon (o. J.), Band 1, S. 10 f. 815 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 15. 816 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 815; Band 2, S. 317, 793. 817 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 30–33. 818 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 107 f., 133, 203, 539; Band 2, S. 45 f., 100, 203. 819 Grant (1976), S. 70 f. 820 Gibbon (o. J.), Band 2, S. 45 f. 821 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 272, 497, 504, 672, 675, 683, 687, 692, 708, 710, 715, 719 f., 841; Band 2, S. 21, 46, 131, 805–65; Band 3, S. 9, 870, 872; Grant (1976), S. 52 f., 110 f., 158, 252, 257–267, 317. 822 Grant (1976), S. 73 ff., 81 f., 85, 100, 117, 158; Gibbon (o. J.), Band 1, S. 381, 542, 953; Band 2, S. 281, 329, 530. 823 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 518, Band 2, S. 147, 299, 346; Grant (1976), S. 92–95, 103. 824 Grant (1976), Kapitel 6. 825 Gibbon (o. J.), Band 1, S. 490, 692, 715, 719; Band 2, S. 8. 826 Freeman (1975), S. 6. 814

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wie die Sowjetunion muss solche Kürzungen nicht vornehmen – und hat es auch nie getan. Es gibt nicht nur politische Dividenden, wenn man die Verteidigungsaus­gaben – oder „Verteidigungsverschwendung“, wie man auch behauptet bzw. erklärt  – kürzt, um Sozialprogramme zu finanzieren. Es gibt auch eher direkte politische Dividenden, wenn man sich durch militärische Abkommen mit der Sowjetunion dem „Frieden“ annähert, wie auch immer die langfristigen Kosten der einzelnen Abmachungsklauseln aussehen mögen. Die politischen Vorteile solcher Abkommen fallen in die Zeit der gewählten Amtsinhaber, während die späteren Konsequenzen von künftigen Regierungen respektive Generationen ausgebadet werden dürfen. Noch einmal, wir wollen damit nicht behaupten, dass derart zynische Berechnungen aufgestellt würden. Der Punkt ist, dass dies die Tendenz der Anreize ist. Dass der Mensch im Angesicht solcher Versuchungen denselben nachgibt, ist ein bekanntes Phänomen. „Sie müssen“, wie der Kongressabgeordnete Les Aspin einmal bemerkte, „den Verteidigungshaushalt kürzen, wenn Sie genug Geld für Ihre Programme haben wollen.“827 Im Endergebnis hat man ein Ungleichgewicht in den Verhandlungspositionen der USA und der UdSSR. Die gewählten Vertreter Amerikas müssen solche Abkommen eher schließen als die Vertreter der Sowjets. Letztere können auf Klauseln bestehen, die jene Waffen neutralisieren, bei denen die Vereinigten Staaten die Nase vorn haben, und die Aussichten für solche Waffen verbessern, die ihnen mehr Vorteile sichern. Die Ergebnisse müssen nicht bei jeder Gelegenheit ein eklatantes Ungleichgewicht erzeugen. Was zählt, ist der kumulative Effekt, der mit der Zeit entsteht. Die Geschichte des Westens im Allgemeinen und die der Vereinigten Staaten im Besonderen ist im Hinblick auf die militärische Bereitschaft nicht gerade ermutigend. In den 30er Jahren war die amerikanische Armee auf Platz 16 der größten Streitkräfte, hinter Portugal und Griechenland. 1934 war der Etat der US-Streitkräfte trotz der japanischen Aggressionen im Orient und dem Aufstieg Hitlers in Europa um 51 % gekürzt worden, um die Programme des New Deal finanzieren zu können.828 Die gesamten Militärausgaben waren in einem Jahr um 23 % gekürzt worden.829 Die Personalstärke wurde zwischen 1930 und 1934 Jahr für Jahr abgebaut.830 Schließlich waren weniger als 750.000 Personen im aktiven Militärdienst. Der zivile Naturschutzverband junger Männer (CCC  – Civilian Conservation Corps), der in den Wäldern seinen Dienst verrichtete, war größer als die Armee – und zahlte seinen Rekruten mehr Sold.831 Versuche, sie militärisch auszubilden, wurden von einem Pazifistenprotest, den Intellektuelle wie John Dewey und Reinhold Niebuhr anführten, politisch niedergeschlagen.832 Später, als man 827

Freeman (1975), S. 15. Manchester (1978), S. 154. 829 U. S. Bureau of Census (1975), S. 1120. 830 U. S. Bureau of Census (1975), S. 1141. 831 Manchester (1978), S. 156 f. 832 Manchester (1978), S. 157. 828

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2. Teil: Themen und Tendenzen

versuchte, ansatzweise eine militärische Verteidigung für die Philippinen aufzubauen, wurde diese vom Herausgeber der Nation mit der Frage kritisiert, warum man die Inselbevölkerung nicht zu leben lehren wollte, sondern zu töten.833 Vor dem Hintergrund der Geschichte mutet die hochmütige Unterstellung, hierin frei wählen zu können – drei Jahre vor Pearl Harbour –, düster, ja grässlich an, denkt man an die Zerstörung der Philippinen und an die massiven, unsäglichen Gräueltaten, welche die Japaner der dortigen Bevölkerung zugefügt haben. Die amerikanischen Soldaten auf den Philippinen haben vergebens versucht, sich mit veralteten Gewehren zu verteidigen. Ihre Mörser waren mehr als ein Vierteljahrhundert alt, und die Granaten so alt, dass sie in 70 % aller Fälle Blindgänger waren.834 In Bataan explodierten vier von fünf Handgranaten überhaupt nicht.835 Versuche, die japanische Blockade vor den Philippinen zu durchbrechen, unternahm man „mit Bananenbooten, die man von der United Fruit Company gemietet hatte, und mit umgebauten Zerstörern aus dem 1. Weltkrieg.“836 All dies gehörte zu den langfristigen Kosten der „Einsparungen“ bei den Militärausgaben, die man im vorherigen Jahrzehnt vorgenommen hatte. Eigentlich hatte man nichts eingespart, sondern fehlinvestiert – ein gegenwärtiger Konsum künftiger Ressourcen. Das unkontrollierte politische Klima einer freien Nation lässt es zu, dass sich ideologische Strömungen entwickeln, die der nationalen Landesverteidigung feindlich gesinnt sind – die Ära der „Neutronenbombe“ ist nur eines von vielen Beispielen. Es lässt auch zu, dass feindliche Mächte, die offensichtlich ein Interesse an einer schwächeren militärischen Verteidigung des Westens haben, konzertierte Propagandakampagnen führen können. Außerdem bieten die naturgemäß unbestätigten Thesen bezüglich der nuklearen Aussichten – Aussichten, die keine Person, die bei Verstand ist, bestätigt haben möchte – einen politischen Sondervorteil für die Sprachgewandten, also für die Intellektuellen, deren antimilitärische Haltung mindestens bis ins Römische Reich zurückverfolgt werden kann.837 Bekanntlich waren es die britischen Eliteuniversitäten, an denen in den 30er Jahren junge Männer den „Oxford Schwur“ ablegten, ihr Land nie im Krieg zu verteidigen.838 Derlei pazifistische Reaktionen wären nach dem Gemetzel des 1. Weltkriegs verständlich gewesen, so wie man derzeit in Amerika verbittert auf Vietnam reagiert. Aber derlei Haltungen waren ein zentrales Kennzeichen der Westmächte, als sie Hitler zu einer Zeit nachgaben, in der sie militärisch überlegen waren, aber politisch außerstande, ihre Übermacht einzusetzen.839 Als Hitler mit seiner Wiederbewaffnungspolitik, seinen Annexionen und Überfällen die Haltung der Briten endlich geändert hatte, war seine Streitmacht bereits die überlegenere. Als die jungen Männer, die 833

Manchester (1978), S. 174. Manchester (1978), S. 193. 835 Manchester (1978), S. 236. 836 Manchester (1978), S. 243. 837 Grant (1976), S. 297, 307. 838 Taylor (1979), S. 197 ff. 839 Shirer (1960), S. 402 f. 834

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einst den „Oxford Schwur“ abgelegt hatten, sahen, wie Hitler seine Armeen marschieren ließ und seine Bomben auf ihre Häuser herabfielen, da verteidigten sie sich selbst im Himmel über Britannien und später an den Stränden der Normandie. Am Ende entging man nur knapp der Unterwerfung durch einen der größten Barbaren der Menschheitsgeschichte. Hitlers Gräueltaten haben einen pazifistischen Intellektuellen wie Einstein in die ironische Position gedrängt, die Entwicklung der destruktivsten Militärwaffe aller Zeiten zu initiieren. Aber nun haben wir das nukleare Zeitalter. Die Geisteshaltung im Zuge einer Krisenerfahrung zu ändern, ist nicht mehr möglich – zumindest nicht rechtzeitig, um die Politik und die Geschichte zu ändern. Der Zeitplan eines Atomkriegs – oder einer atomaren Erpressung – erlaubt wohl kein Überdenken dessen, was man hätte tun müssen, als man die Chance dazu hatte. Wenn eine Nation, die wohlhabend und technologisch führend ist, zu einer Zeit militärisch zurückfällt, in der ihr Überleben und das der demokratischen Freiheit weltweit auf dem Spiel stehen, dann fordert das schon ein gewisses Maß an Demoralisierung. Niemand sorgt für diese Demoralisierung beständiger und effektiver als die Intellektuellen. Wie bereits gesagt, ist diese Rolle für Intellektuelle nichts Neues. Die intellektuelle Vision hat schon lange das Kommando über die greifbare Realität übernommen. Im Römischen Reich hieß die Vision religiöse Erlösung. Wenn die Einigkeit durch Heidenverfolgungen auf dem Spiel stand und mit ihr eine ganze Zivilisation im Angesicht barbarischer Invasoren geschwächt wurde – dann sollte es eben so sein. Wenn die gesellschaftliche Vision hinter der Französischen Revolution die Hinrichtung zehntausender Menschen erforderte (darunter Revolutionsphilosophen wie Condorcet), dann sollte es auch so sein. Und wenn die Vision des proletarischen Kommunismus oder der deutschen Rassenreinheit das Abschlachten von Millionen Menschen erforderte, dann sollte auch das so sein. Vor diesem Hintergrund muss man sich nicht wundern, dass die gegenwärtigen Visionen „sozialer Gerechtigkeit“ keine große Hilfe dabei sind, das militärisch Notwendige zu tun, oder Kampagnen konkurrierende Eliten wie Geschäftsleute und Militärs so komplett diskreditieren, dass in der Folge eine ganze Zivilisation demoralisiert wird und den Willen verliert, sich zu verteidigen. Vor diesem Hintergrund kann man verstehen, dass ein amerikanischer Funktionsträger über das militärische Wettrüsten sagt, es sei „uns allen hier in Amerika anzulasten,“ wie „die Vereinigten Staaten den Weg zum Wettrüsten geebnet haben,“ und dass „den Löwenanteil der Schuld“ innerhalb der Vereinigten Staaten „der Wirtschaftssektor der Gesellschaft trägt,“ der aus „dem Untergang Profit schlagen“ will.840 Es ist eine bemerkenswerte Aussage von einem offiziellen Vertreter der Vereinigten Staaten bei den Abrüstungsverhandlungen der UN, und vor allem für den Repräsentanten eines Landes, das in drei Jahren fast 90 % seiner Streitkräfte demobilisiert hat und seine militärische Vormachtstellung freiwillig nach und nach aufgegeben hat, indem es die dafür vorgesehenen Ressourcen 840

Willens (1978), Teil IV, S. 2.

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2. Teil: Themen und Tendenzen

kürzte. Vielleicht noch bemerkenswerter ist die Aussage des früheren US-Botschafters Andrew Young, der die umfangreichen Arbeitslager in der Sowjetunion mit gelegentlichen Fehlurteilen amerikanischer Gerichte gleichsetzte und die Opfer gleichermaßen „politische Gefangene“ nannte. Beide Funktionsträger sind Extrembeispiele einer eher allgemeinen Tendenz zur nationalen Demoralisierung, ohne die solche Leute in ihren jeweiligen Positionen nicht überleben können. Die öffentliche Empörung ist ein Zeichen dafür, dass die Schlacht noch nicht zu Ende ist, aber dass amerikanische Amtsträger weiterhin im Amt bleiben können, nachdem sie auf internationaler Bühne antiamerikanische Propaganda betrieben haben, ist auch ein Zeichen für das politische Klima. Die Zukunft der Freiheit Hobbes definierte die Freiheit als Abwesenheit von Widerstand und Hindernissen.841 Freiheit kann von politischer Macht oder informellen Größen eingeschränkt sein. Aber solange verschiedene Menschen die Gesellschaft konstituieren, müssen ihre unterschiedlichen Werte irgendwie versöhnlich gehandhabt werden. Und deshalb muss irgendjemandes – oder jedermanns – Freiheit beschnitten werden. Wenn die gegenseitigen Aussöhnungen durch informelle Kanäle stattfinden, dann kann man die wechselseitigen Vorteile gegeneinander abwägen. Auf diese Weise gestatten die unterschiedlichen Werte der Individuen denselben, inkrementell das, was ihnen am wenigsten wert ist, für das, was sie am meisten schätzen, aufzugeben, obgleich das, was der eine aufgibt und der andere erhält, physikalisch ein und dasselbe ist. Wenn Aussöhnungen durch die Entscheidungen informeller Hierarchien stattfinden, dann wird ein Werteschema angeboten, und wenn die Hierarchie ein Monopol ist – wie beispielsweise der Staat –, dann wird ein Werteschema anderen auferlegt. Die Wahl unter den Hierarchien (Kirchen, Arbeitgeber, Vereinigungen) hat die Freiheit bewahrt, und zwar aufgrund der unvermeidbaren Unterschiede zwischen den Menschen als Individuen oder Gruppen. Dort, wo die Differenzen unter den Menschen am geringsten sind – beispielsweise beim Wunsch, vor Gewalt sicher zu sein und seine Besitztümer gesichert zu haben –, muss man auf wenig Freiheit verzichten, wenn man ein Monopol mit der Macht ausstattet, Einzelne für Gewalttaten und Raub zu bestrafen. Müsste dasselbe Monopol die „beste“ Schuhgröße oder Schuhform festlegen, dann wäre massenhafte Unbequemlichkeit das Ergebnis, und müsste es zudem in weiteren und wichtigeren Angelegenheiten das „Beste“ festlegen, dann wären die Ergebnisse noch unbefriedigender, weil die Werte der Individuen differieren. Es spielt dabei keine Rolle, was aus Sicht der jeweiligen Monopolwerte das „Beste“ wäre. Unsere kurze Zusammenfassung der verschiedenen „Effizienzargumente“, die wir bereits in den vorangegangenen Kapiteln erörtert haben, ist hier im Hinblick 841

Hobbes (1966), S. 163.

Kap. 10: Tendenzen in der Politik

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auf die Freiheit als Wert an sich von großer Bedeutung. Es ist der Unterschied zwischen den bevorzugten und den auferlegten Werten, der die Anwendung von Gewalt verursacht – die Beschneidung (oder Ausrottung) der Freiheit. Vor diesem Hintergrund ist eine Ideologie mit grundsätzlich transzendenten Werten – egal, ob religiöse Erlösung oder „soziale Gerechtigkeit“ – eine Ideologie zerstörerischer Macht. Die Logik der transzendenten Werte treibt selbst den Menschenfreund zur Gewaltanwendung, weil jene, die nicht von denselben Werten erfüllt sind, sich als aufsässig, abtrünnig oder subversiv erweisen. Das provoziert Zorn und Verärgerung und stellt die Entscheidungsträger vor die Frage, ob sie die Niederlage für ihre heilige Sache hinnehmen oder noch mehr Macht ausüben sollen. Es war die systemische Logik und nicht der absichtsvolle Plan, die Robespierre – „ein Mann von überaus holdem Charakter“842 – zu Massenexekutionen an Menschen aus Fleisch und Blut trieb, die sich wiederholt an den Idealen der Französischen Revolution versündigt hatten. „Moralismus ist für die Freiheit fatal,“ schrieb ein ehemaliger Freund Robespierres, während er auf die Guillotine wartete.843 Dieser Grundsatz galt nicht nur für die Französische Revolution. Weitaus glimpflichere Änderungen in der Politik entsprangen einer ähnlichen Logik, in deren Folge mehr Macht ausgeübt wurde, als man ursprünglich zur Umsetzung eines transzendenten Zieles intendiert hatte. Niemand hatte erwartet, dass der Fall Brown v. Board of Education dazu führen würde, dass Bundesrichter das Kommando von örtlichen Schulbehörden übernehmen und das gemeinsame Busfahren von Schulkindern anordnen würden, ohne dabei den anfänglichen Widerstand und die nachfolgenden Konsequenzen zu berücksichtigen. Und wirklich niemand hatte erwartet, dass die menschenfreundlichen Sozialprogramme, die der New Deal angestoßen hatte, zu Verwaltungsimperien führen würden, die ihre eigenen Gesetze erlassen – mehr Gesetze als der Kongress –, und das einseitig, jenseits des verfassungsmäßigen Rahmens und geradezu immun gegen jegliche Korrekturen seitens der Wählerschaft oder einer judiziellen Kontrolle. Wo, wie und ob wir uns ein Dach über den Kopf bauen dürfen, wird von einer anonymen Wohngebietskommission entschieden. Ob wir es wagen sollten, auf den Straßen entlang unserer Häuser spazieren zu gehen wird auch fremdbestimmt, und zwar von den Mitgliedern der Bewährungsausschüsse, die wir auch nicht kennen. Und wie lange wir in unserer Nachbarschaft leben können, hängt von den großen Plänen ab, die man bei der Verwaltung für städtische Neuentwicklung ersinnt. Natürlich sind dies keine Angriffe auf die intellektuelle Freiheit. Es geht ja nur um die kostbarsten Angelegenheiten, die gewöhnliche Menschen jeden Alters umtreiben. Wie weit der kurzsichtige Blick auf die Freiheit reicht, lässt sich anhand des Verhaltens veranschaulichen, das Musiker unter dem Naziregime an den Tag gelegt haben. Während verschiedene ethnische, politische und kulturelle Gruppierungen nach und nach der Naziverfolgung entflohen, blieben Musiker – bemerkenswerter 842 843

Coser (1970), S. 152. Coser (1970), S. 152.

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Weise auch der Dirigent Kurt Furtwängler und der Komponist Richard Strauss – dort, um mit dem Hitlerregime zu kollaborieren, weil sie in ihrer musikalischen Freiheit keinen vergleichbaren Einschränkungen ausgesetzt waren.844 Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass Intellektuelle, die in den besseren Wohnvierteln (oder in städtischen Appartementhäusern mit einem eigenem Sicherheitsdienst) wohnen und ihre Kinder in Privatschulen schicken, angesichts ihrer „progressiven“ politischen Arbeit keinen anderen Grund für den Unmut der Leute aus der Arbeiterschicht sehen als große Unwissenheit, blinde Wut oder übler Rassismus. Evidenz dafür, dass diese nicht die Gesinnung der meisten Arbeiter ausdrücken, wird ignoriert, weil die genannten Gründe die einzigen Erklärungen bieten, die mit der intellektuellen Vision in Einklang stehen. Dass Geschäftsleute – ob große oder kleine – letztlich zwangsverpflichtete und unbezahlte Teilzeitkräfte der Finanzämter, Sozialversicherungsträger und sonstigen Bundesbehörden sind, scheint noch weniger zu beunruhigen. Die vergangenen Aushöhlungen der Freiheit sind weniger entscheidend als die jetzigen Tendenzen, weil diese eine Auswirkung auf die Freiheit in der Zukunft haben. Einige dieser Tendenzen haben nicht weniger zur Folge als die stille, schrittweise Aufhebung der Amerikanischen Revolution. Die Amerikanische Revolution und die der Franzosen unterscheiden sich stark voneinander. Die Französische Revolution wurde auf abstrakten Spekulationen von Intellektuellen über die Natur des Menschen und über die Möglichkeiten der Herrschaft als Mittel zur Verbesserung des Menschen gegründet. Die Amerikanische Revolution gründete auf den historischen Erfahrungen mit dem Menschen, wie er ist und war, und auf den Unzulänglichkeiten und Gefahren von Herrschaft, die man im Alltag beobachten kann. Erfahrung – persönliche wie historische – war die letzte Instanz, auf die sich die Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika beriefen. Ihre stets wiederholte Referenz galt der „Erfahrung, [als] die am wenigsten fehlbare Leitschnur menschlicher Meinungen,“845 „der gesammelten Erfahrung vieler Jahre,“846 „dem einheitlichen Verlauf der menschlichen Ereignisse,“847 „der Geschichte des alten Rom,“848 „der antiken Volksherrschaft“849 und der Geschichte, Ökonomie und Geographie der zeitgenössischen europäischen Nationen.850 Sie lehnten „utopische Spekulationen“851 und die Fehlschlüsse und Extravaganzen jener „unnützen Theorien“ mit ihrem „trügerischen Traum von einem goldenen Zeitalter“852 ausdrücklich ab. Anders als Robespierre, der meinte, das revolutio 844

Shirer (1960), S. 335. Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 157. Siehe auch S. 138. 846 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 54. 847 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 54. 848 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 53. 849 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 100. 850 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 101 f. 851 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 54. 852 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 59. 845

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näre Blutvergießen würde erst enden, „wenn alle Menschen sich gleichermaßen ihrem Land und dessen Gesetzen hingeben,“853 hielten die Föderalisten es zwar für denkbar, dass individuelle Handlungen „von Überlegungen frei sein können, die nicht dem öffentlichen Wohl gelten,“ glaubten aber, dass diese Eventualität, „eher mit Leidenschaft erhofft, als ernsthaft erwartet wird.“854 Sie gründeten eine Herrschaftsform für Menschen aus Fleisch und Blut, wie man sie kennt, und nicht für jene Kreaturen, die sie durch ihr Tun zu erschaffen hofften. Die widerstreitenden Richtungen der beiden Revolutionen – and ihr unterschiedliches historisches Schicksal – hängen eng mit den sehr unterschiedlichen Prämissen bezüglich der Natur von Wissen und Mensch zusammen. Für die Männer, die Amerikas Revolution umsetzten und seine Verfassung niederschrieben, stammt das Wissen aus der Erfahrung – persönliche wie historische –, und nicht aus Spekulationen und rhetorischen Zauberstücken. Ihre vorrevolutionären Erfahrungen hatten sie als Männer der Tat gewonnen. Sie hafteten persönlich für ihre wirtschaftlichen Ergebnisse im Handel und Ackerbau. Die französischen Philosophen hingegen waren in den literarischen Salons zuhause, wo Stil, Witz und Rhetorik zählten.855 Sie lebten ihr Leben unter anderen Umständen. Ihr einziger Überzeugungsprozess bestand darin, ihre Leser und Zuhörer zu beeindrucken. Modern gesprochen, haben sie nie erlebt, was „eine Lohnliste ist“ – oder eine Anzeigetafel, eine Laborexperiment, ein Feldzug oder sonst eine Form von Überzeugungsprozess, dessen empirischen Ergebnisse man nicht einfach zerreden kann. Sie waren Meister in einer Welt der unüberprüften Plausibilitäten. Der Mensch, der in den Schriften der amerikanischen Revolutionäre beschrieben wird, ist ein ganz anderer als der, den die französischen Revolutionäre in ihren Traktaten beschreiben. Anders als die „Vervollkommnung des Menschen“ im französischen Denken jener Zeit, sprachen die Föderalisten von „der Verfasstheit des Menschen“ als einem Hindernis, das der objektiven Entscheidungsfindung oder Verwaltung innewohnt.856 Während die französischen Revolutionäre ihr Schicksal mit der Wahl der hingebungsvollsten Anführer verbunden haben – „der klügsten und besten Köpfe“ würde man heute sagen – und diese mit allerlei Befugnissen ausstatteten, hielten die Amerikaner dagegen, dass der einzige Grund für Herrschaft der sei, „dass [sonst] die Leidenschaften der Menschen nicht dem Diktat von Vernunft und Gerechtigkeit folgen.“857 Außerdem besäßen Herrscher, wie alle anderen auch, Stolz, der „sie natürlich davon enthebt, all ihre Handlungen zu rechtfertigen, und ihrer Kenntnisnahme, Korrektur respektive Behebung eigener Fehler und Verstöße im Wege steht.“858 Obschon es amerikanische Anführer gab, die

853

Coser (1970), S. 151. Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 33. 855 Coser (1970), S. 31, 5. 856 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 111. 857 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 110. 858 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 45. 854

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„in Patriotismus und Sachverstand erprobt waren und sich entsprechend bewiesen hatten,“859 konnte die Zukunft des Landes nicht von solchen Anführern abhängig gemacht werden. „Nicht immer werden aufgeklärte Staatsmänner an der Spitze stehen.“860 Außerdem gibt es „unendlich viele Meinungsverschiedenheiten unter den Menschen.“861 Mithin „ist ein latenter Keim der Spaltung in die Natur des Menschen gelegt“ und hat die Menschheit die Neigung „in gegenseitige Animositäten zu verfallen.“862 Menschen sind „ehrgeizig, rachsüchtig und habgierig.“ Sie haben eine „Vorliebe für Macht und den Wunsch nach Vorherrschaft und Dominanz.“863 Die Frage, die sich den Gründern der amerikanischen Herrschaftsform stellte, war nicht, wie man den Ideen jener, die angeblich moralisch und intellektuell überlegen waren, Gehör verschaffen konnte, sondern wie man die Freiheit vor den Schwächen und destruktiven Eigenschaften, die dem Menschen allgemein innewohnen, schützen konnte. In ihrer Antwort verwiesen sie auf verschiedene Formen der Gewaltenteilung, in denen Ehrgeiz auf Ehrgeiz und Macht auf Macht treffen konnten. Gewalten, die nicht ausdrücklich vergeben waren, verblieben bei den Menschen oder blieben der Verwaltung der einzelnen Staaten und Kommunen vorbehalten. Man war auch nicht bereit, nur fromm auf die Verfassung zu vertrauen – Madison nannte sie „papierne Schranken gegen den schleichenden Machtwillen.“864 Stattdessen vertraute man lieber darauf, die Institutionen so einzurichten, dass sie „das Mittel [werden], das jeden dazu bringt, an seinem Platz zu bleiben.“865 Solche Gewaltenteilungen waren „für den Erhalt der Freiheit wesentlich.“866 Und ihre Verschmelzungen war genau das, was „eine despotische Herrschaft definiert.“867 Sie vertrauten niemandem. Wenn es Freiheit geben sollte, dann musste sie systemisch sein, und nicht gewollt, „gespeist von entgegengesetzten und konkurrierenden Interessen und in Ermangelung besserer Motive.“ Und sie musste die Dinge so arran­ gieren, „dass die Privatinteressen eines jeden Einzelnen die Wächter der öffentlichen Rechte sind.“868 Dass all dies ein negatives Bild vom Menschen zeichnete, konnte die Väter der Verfassung nicht von ihrem Vorhaben abbringen. „Dass solche Hilfsmittel notwendig sein werden, um dem Missbrauch der Herrschaft Einhalt zu gebieten, erschließt sich wohl aus den Betrachtungen über die menschliche Natur. Aber was ist die Herrschaft selbst, wenn nicht die größte aller Betrachtungen zur mensch­ lichen Natur? Wenn die Menschen Engel wären, dann bräuchten wir keine Herrschaft. Wenn Engel die Menschen regieren würden, dann wären weder interne noch externe Herrschaftskontrollen vonnöten. Die größte Schwierigkeit bei der Gestaltung der Herr-

859

Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 41. Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 80. 861 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 150. 862 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 79. 863 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 54. 864 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 308. 865 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 320. 866 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 321. 867 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 310 f. 868 Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 322. 860

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schaftsform, nach der Menschen über Menschen gebieten sollen, liegt in folgendem: Du musst zuerst der Regierung ermöglichen, Gewalt über die Regierten zu haben, und sie im nächsten Schritt dazu verpflichten, sich selbst zu kontrollieren.“869

So wie ein Judomeister die Kraft, mit der sein Widersacher ihm entgegentritt, nutzt, so hofften die Urheber der Verfassung, die starken, wenn auch negativen Beweggründe des Menschen für den Zweck nutzen zu können, der dem Erhalt der politischen Vorteile der Freiheit gilt. Ein moderner Autor schrieb dazu: „Ein System, das auf der Sünde aufbaut, steht in der Tat auf einem soliden Fundament.“870 Dies gilt sowohl für ökonomische als auch für politische Systeme. Weder die konstitutionelle Demokratie noch die Marktwirtschaft vertrauen darauf, dass die Entscheidungsträger mit einer überlegenen Weisheit oder Moral ausgestattet sind. Beide legen es den gewöhnlichen Menschen als Masse in die Hände, die zu sein, die Entscheidungsträger bremsen oder stürzen können. Historisch war es – und ist es – ein revolutionäres Konzept. Es weist Theorien zurück, die Jahrtausende zurückreichen und behaupten, entscheidend sei, welche Personen und welche Lehren regierten, und nicht, dass systemische Anreize und Beschränkungen die Kontrolle ausüben, egal, wer mit welcher Lehre herrscht. In der amerikanischen Verfassung ist wenig Platz für Philosophenkönige und Erlöser. Heutzutage ist der wunde Punkt der Verfassung, dass sie Gruppen im Weg steht, die an Größe, Einfluss und Ungeduld zunehmen. Die auffälligsten und vielleicht wichtigsten unter ihnen sind die Intellektuellen, vor allem die in den politisierten „Sozialwissenschaften“. Heute gehen Politiker, die früher einmal von der Ehrfurcht, welche die Nation (der Wähler) vor der Verfassung hatte, begrenzt waren, viel ungenierter vor. Man lebt in einer Atmosphäre, in der die Intellektuellen jegliche Ehrfurcht beargwöhnen und die „soziale Gerechtigkeit“ für geboten erklären. Der Niedergang der Parteikontrolle („politische Maschinerie“) bietet dem einzelnen Politiker mehr Raum, um in der einen oder anderen Frage Charisma und Unternehmergeist zu beweisen. Politiker, die als Individuen für sich selbst streben, und Intellektuelle, die nach Anerkennung für ihrer Klasse streben, müssen einiges diskreditieren: die vorhandenen sozialen Prozesse, die alternativen Entscheidungseliten und das akkumulierte Humankapital der Erfahrungen und Traditionen ihrer Nation, die mit ihrem eigenen Produkt, der frisch ersonnenen gesellschaftlichen Erlösung, konkurrieren. So sehr sie die Besonderheiten ihrer jeweiligen Vorhaben auch betonen mögen, es lohnt sich aus einem einfachen Grund nicht, sie hier näher zu betrachten: Was immer ihre aktuellen Besonderheiten sein mögen, sie können sicher sein, dass sie in ein paar Jahren von neuen Besonderheiten abgelöst werden, die dann dieselbe politische Funktion wahrnehmen, um die Karriere neuer Politiker und Intellektueller anzukurbeln. Die Gefahr für die Verfassung liegt nicht so sehr in den einzelnen Gesetzen, sondern vielmehr im allgemeinen Meinungsklima, in dem Gesetz und Herrschaft nicht länger als Rahmen verstanden werden, 869 870

Hamilton / Madison / Jay (1961), S. 322. Novak (1976), S. 22.

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innerhalb dessen die Individuen Änderungen inkrementell vornehmen, sondern als Mittel zur direkten Durchführung von Veränderungen, und zwar gemäß der Präferenzen derer, die gerade in den zuständigen Institutionen den Ton angeben. Ein Anzeichen dafür, wie weit man schon gegangen ist, bietet die erste Lohn- und Preiskontrolle der amerikanischen Geschichte nach dem Krieg. Sie wurde 1971 von einer Regierung eingeführt, die weithin als „konservativ“ eingestuft wurde – zu Recht. Dass danach auch die „linksliberalen“ Regierungen derlei Maßnahmen nicht scheuten, ist ein Indiz dafür, wie sehr das politische Klima sich gewandelt hatte. Die Massenmedien haben die „Krisenausrichtung“ der Politiker und Intellektuellen übernommen und verstärkt. Die Nachrichten unserer Tage sind „­Probleme“. Aber man kann weder die langfristigen Implikationen noch die inhärenten Beschränkungen fotographisch festhalten oder in kurzen Reportagen zwischen den Werbepausen erörtern. Und der Umstand, dass die Journalisten der Print- und Funkmedien Teil der intellektuellen Kaste sind, die ihren Ursprung meist in den sogenannten „Sozialwissenschaften“ haben, dürfte ein paar Fragen hinsichtlich der kognitiven Prozesse, die diese an den Tag legen, aufwerfen. Mit dem Aufkommen der zielorientierten Imperative kam es auch zu einer Unterwanderung bzw. Verdrängung des prozessorientierten Konstitutionalismus. Das Gebot der wirtschaftlichen Erholung nach der Großen Depression der 30er Jahre hat zahlreiche Hybridbehörden hervorgebracht, welche die Gewalten, die von der Verfassung mit großer Sorgfalt geteilt wurden, miteinander kombinierten. Militärische Gebote, die mit dem 2. Weltkrieg aufkamen und sich im atomaren Zeitalter fortsetzten, haben einen Zuwachs an präsidentieller Macht sanktioniert. Das ging so weit, dass, wie Vietnam gezeigt hat, der Präsident de facto als Oberster Befehlshaber der Streitkräfte ohne den Kongress einen Krieg erklären kann. Und schließlich haben moralische Gebote, die sich auf die weniger vom Glück gesegneten Teile der Gesellschaft bezogen (in den 30er Jahren Bauern und Fabrikarbeiter, in den 60er Jahren Schwarze und in den 70er Jahren diverse andere Gruppen) den judiziellen Bereich weit über die Grenze hinaus ausgedehnt, die man sich bei der Niederschrift der Verfassung vorstellen konnte. All das hat zu einer Philosophie geführt, der zufolge es nicht nur opportun, sondern auch legitim ist, den demokratischen Prozess im Interesse „höherer“ Ziele zu umgehen – Abschaffung der Todesstrafe, schulische Integration, Einkommensumverteilung und andere Formen der „sozialen Gerechtigkeit“. Da man die neuen Tendenzen im politischen Klima sehr leicht feststellen kann, ist es unnötig, sie als ein unvermeidbares „Zeichen der Zukunft“ zu deuten. Es gibt genug Hinweise darauf, dass die Bevölkerung mehr als genug von ihnen hatte, und auch darauf, dass sich bereits Ernüchterung in den abgeschotteten Gerichtssälen, Behörden und sonstigen Institutionen breit gemacht hat. Der Burger-Gerichtshof ist nicht der Warren-Gerichtshof, allerdings auch nicht jener, der Letzterem vorausging. Bei der zivilen Luftfahrtbehörde hat die Deregulierung Einzug gehalten, in einigen Staaten gibt es strengere Gesetze für Verbrecher, und die Emittierung

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von Schulbonds, die einmal so mir nichts, dir nichts durchgewunken wurde, ist wieder vom Tisch – allesamt Anzeichen dafür, dass nichts unverzichtbar ist. Ob diese Periode nur eine kurze Pause in einem langen Marsch oder die Vorhut einer Neuausrichtung ist, kann uns nur die Zukunft sagen. Es geht hier nicht um irgendwelche Prophezeiungen, sondern darum, inne zu werden über das, was für die menschliche Freiheit auf dem Spiel steht. In der Geschichte war die Freiheit stets etwas Seltenes und Fragiles und tauchte immer dann auf, wenn die Möchtegernunterdrücker schachmatt waren. Die Freiheit hat auf den dunklen Schauplätzen der Geschichte (von Gettysburg bis zum Archipel Gulag) das Blut von Millionen Menschen eingefordert. In Amerika und in den größten Teilen der westlichen Zivilisation ist ein Frontalangriff auf die Freiheit immer noch unmöglich. Vielleicht ist niemand auf der Welt offen gegen sie, wenn auch überall viele bereit stehen, sie für andere Dinge, die für den Moment heller scheinen, fallenzulassen. Dass etwas, das so viele Menschenleben gekostet hat, schrittweise für Visionen oder Phrasen aufgegeben werden sollte, scheint grotesk zu sein. Freiheit ist nicht nur das Recht der Intellektuellen, ihre Ideenware in Umlauf zu bringen. Sie ist vor allem das Recht der einfachen Leute, Platz für die eigenen Ellbogen und einen Zufluchtsort zu finden, an dem sie vor der Randale derer sicher sind, die „über ihnen stehen“.

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Sachverzeichnis 1. Weltkrieg  401, 436 2. Weltkrieg  67, 86, 90, 201, 203, 356, 427, 430, 431, 444 Affirmative action  10, 42, 283 siehe Förder­maßnahmen; Diskriminierung, positive Aktivismus, judizieller  334, 335, 338, 339, 340, 341, 342, 344, 346, 374 Allwissenheit  95, 162, 255, 269, 360, 361, 362 Amtsinhaber  125, 146, 157, 191, 369, 435 Anderson, Sh. 408 Anreize und Zwänge (Beschränkungen)  58, 132, 135, 136, 168, 170, 172, 173, 176, 185, 188, 209, 212, 225, 265, 266, 303, 305, 386, 420, 443 Anteilseigner  81, 84, 85, 233, 423 Antisemitismus 88 Anwälte  226, 227, 242, 260, 261, 304, 322, 324 Appellationsgericht  318, 320, 322 siehe Berufungsgericht Appomattox 402 Arbeitslosigkeit  153, 196, 198, 200, 293, 319, 376, 410 Archipel Gulag  445 Armut  315, 319, 324, 395, 396, 406, 410, 412, 413, 415, 417 Artikuliert  9, 56, 246, 247, 387, 390, 391, 422 Aspin, L. 435 Atomwaffen 432 Atomzeitalter  353, 427, 430 Aufständische 178 siehe Rebellen Ausbeutung  178, 193, 197, 254, 256, 258, 413 Axiom  259, 413, 416 Babbitt, I. 408 Bacon, F.  388, 446, 453

Bakke (Fall Bakke)  289, 290, 291, 292, 338 Baldwin, J. 416 Bankrott  25, 134, 159 Baseball  146, 236, 423 Bataan  370, 436 Beard, Ch.  179, 408 Bedürfnis  75, 136, 168, 341 siehe Nachfrage Behörden  8, 31, 38, 39, 81, 113, 136, 144, 166, 167, 169, 171, 187, 193, 215, 237, 241, 260, 263, 287, 288, 289, 296, 347, 364, 368, 377, 380, 421, 444 siehe Bundesbehörden, Verwaltungsbehörden Belohnung  31, 32, 33, 38, 94, 95, 96, 125, 126, 146, 174, 384, 393, 394 Berle, A.  136, 447 Berufslizenz  226, 227 Berufungsgericht  102, 139, 263, 299, 322, 335, 350 Bestrafung  31, 33, 114, 126, 195, 264, 266, 313, 319, 322, 324, 325, 329, 337, 359 Beweislast  155, 234, 238, 240, 242, 264, 266, 268, 285, 286, 287, 301, 350, 374 Bickel, A.  333, 334, 335, 336, 338, 339, 341, 342, 447 Bildung  20, 26, 35, 78, 144, 164, 167, 188, 198, 244, 286, 288, 296, 308, 393, 397, 412, 417 Bill of Rights  155, 259, 343 Binet, A. 399 Blackmun, H. 291 Bouillon, H.  5, 12 Brady, M. 26 Brennan, W.  291, 352, 448 Brigham, C.  399, 400, 402, 403, 448 Brown (Fall Brown)  36, 42, 124, 237, 279, 283, 297, 298, 299, 300, 302, 333, 334, 337, 348, 439, 448, 451, 453 Buckley, W. 425 Bundesanzeiger  263, 368

460

Sachverzeichnis

Bundesbehörden  263, 264, 265, 267, 288, 296, 299, 303, 346, 348, 349, 350, 367, 368, 376, 440 siehe Verwaltungsbehörden, Behörden Bundesgericht  264, 317, 318 Burger-Gerichtshof 444 Bürgerkrieg  33, 126, 139, 182, 280, 306, 307, 356, 367, 375 Bürgerrechtsgesetz  282, 284, 285, 287, 291, 299 siehe Civil Rights Act Bürgerrechtskommission 299 Burke, E.  122, 123, 138, 180, 181, 365, 448 Bürokratie  137, 168, 169, 182, 339, 407, 418, 420, 434 Burton (Fall Burton)  281, 282, 283 Busfahren, gemeinsames  347, 371, 372, 410, 439 Busing  446, 452 siehe Busfahren, gemeinsames Carson, J. 423 Castro, F. 408 Cavett, D. 423 CCC – Civilian Conservation Corps  435 Chamberlain, N.  36, 370 Chicagoer Schule  425, 426 Christentum  178, 355, 365 Chrysler 90 Civil Aeronautics Board siehe Luftfahrt­ behörde, zivile Civil Rights Act  457 siehe Bürgerrechtsgesetz Clark, J. 285 Clark, K.  124, 304 Clayton Act  229 Clorox 234 Codex Hammurabi  259 Cole, G. D. H.  327, 408, 446 Coleman Report  302 College Board SAT (Zulassungstest für ­Studenten)  400 Condorcet, Marquis de  395, 437 Dahl, R. 449 D’Alembert 407 Darwin, Ch.  22, 118, 121, 124, 398, 399 Davis, J. 100 Demokraten, Demokratische Partei  281, 289

Demokratie  137, 138, 139, 142, 143, 144, 162, 168, 176, 177, 189, 305, 363, 364, 365, 367, 372, 377, 378, 391, 415, 427, 434, 443 Depression, große  188, 189, 375, 376, 378, 395, 410, 444 Diktatur  356, 427 Diokletian 259 Diskriminierung, positive  10, 42 siehe affirmative action, Fördermaßnahmen Disney, W.  90, 91, 449 Diversität  104, 132, 390 siehe Vielfalt Dos Passos, J. 408 Douglas, W.  345, 374, 453 Dred Scott (Fall Dred Scott)  333, 334, 343, 344 Dritte Welt  413, 417 Drittparteien  52, 54, 191, 194, 196, 207, 234, 260, 261, 391 Duplizierung 170 DuPont  230, 237 Edison, Th.  91, 282 Edsel  192, 422 EEOC – Equal Employment Opportunity Commission siehe Kommission für Chancengleichheit am Arbeitsplatz Effizienz  5, 44, 63, 70, 72, 85, 94, 149, 172, 246, 254, 333, 371, 372, 380, 418, 427 Ehrlich, I.  326, 446, 448, 449 Eigeninteresse  85, 112, 129, 136, 392, 393, 401, 407, 423 Eigentum  49, 56, 57, 59, 79, 146, 147, 148, 149, 150, 171, 218, 243, 274, 276, 277, 280, 324, 343, 344, 345, 350, 417, 432 Eigentumsrechte  48, 56, 131, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 178, 212, 216, 218, 219, 252, 270, 345 Eingriffe, staatliche  188, 245, 280, 383, 416 Einkommen  52, 86, 95, 96, 97, 109, 114, 116, 188, 200, 203, 217, 227, 286, 288, 293, 294, 296, 308, 315, 369, 376, 381, 382, 398, 412 Einkommensverteilung  96, 97, 99, 180, 398, 424 Einordnung 109 Einstein, A.  361, 384, 409, 437

Sachverzeichnis Eisenbahn  193, 225 Elitismus 21 Engels, F.  119, 139, 181, 248, 249, 356, 358, 359, 360, 394, 449, 453 Entscheidung, inkrementelle  162, 247, 272 Entscheidung, kategorische  9, 264, 272 Entscheidungseinheit  28, 29, 35, 113, 132, 135, 137, 146, 148, 170, 171, 206, 242, 247, 366, 424 Entscheidungsfindung  5, 8, 27, 33, 35, 36, 37, 39, 40, 43, 44, 46, 47, 51, 54, 55, 56, 57, 58, 60, 62, 75, 101, 102, 103, 105, 115, 121, 122, 123, 126, 132, 135, 136, 137, 138, 141, 142, 143, 144, 145, 153, 156, 159, 161, 163, 166, 170, 175, 186, 188, 192, 194, 195, 202, 210, 240, 242, 254, 259, 260, 263, 264, 272, 277, 282, 305, 341, 352, 364, 369, 370, 375, 377, 379, 390, 391, 411, 415, 418, 426, 441 Entscheidungsfindung, inkrementelle  310 Entscheidungsfindung, kategorische  169, 170, 264 Entscheidungsträger  31, 35, 37, 40, 54, 69, 70, 72, 75, 76, 78, 80, 99, 132, 133, 135, 144, 148, 154, 156, 159, 162, 182, 183, 187, 189, 208, 218, 220, 241, 261, 269, 289, 323, 351, 362, 371, 379, 382, 389, 391, 421, 439, 443 Entscheidungsträger, stellvertretende  411 Ergebnisbeurteilung 56 Ergebnisse, erhoffte  84, 142, 173, 178, 190, 196, 261, 304, 318 Erkenntniskosten  30, 158, 160, 161, 162, 169, 176, 182, 202, 207, 216, 219, 222, 234, 269, 270, 309, 312, 361, 362, 368, 370 Erträge, abnehmende  74, 75, 76  siehe Erträge, nachlassende Erträge, nachlassende  57, 102, 129, 130, 131, 132, 145, 155, 166, 167, 322  siehe Erträge, abnehmende Erträge, negative  129, 155, 304, 381 Ethnizität 284 siehe Rasse Etikettierung  104, 108, 109, 209, 255, 379 siehe Sortierung Evidenz  25, 26, 123, 172, 196, 232, 233, 240, 255, 301, 315, 321, 331, 332, 386, 401, 403, 409, 410, 426, 440

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Evolution  19, 124, 176, 179, 398 Existenzminimum 92 Experten  31, 50, 65, 70, 80, 105, 124, 215, 232, 246, 249, 253, 327, 328, 332, 348, 350, 351, 389, 400, 401, 402, 403, 412, 418, 419, 420, 421, 428, 429 Fair Trade  379 Faschismus  69, 127, 189, 355, 408 FCC – Federal Communications Com­ mission)  221, 225 Federal Register siehe Bundesanzeiger Fehlschluss, animistischer  117, 118, 119, 120, 121, 179, 196 Fehlschluss, demokratischer  142, 143, 330 Fehlschluss, physikalischer  86, 87, 88, 89, 90, 91, 99, 375 Finanzamt 374 FMC – Federal Maritime Commission  226 Föderalismus 375 Ford  45, 66, 192 Ford, G.  289, 372 Ford, H. 130 Fördermaßnahmen  10, 264, 265, 279, 283, 284, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 294, 295, 296, 303, 304, 331, 347, 348, 349, 350, 371, 372 siehe affirmative action; Diskriminierung, positive Fotographie  11, 50, 385 Franco, F. 427 Frankfurter, F.  298, 338, 341 Franklin, B. 396 Frauen  27, 151, 178, 266, 267, 285, 287, 288, 296, 305, 332, 347, 380, 397, 412, 430 Freiheit  5, 57, 59, 61, 122, 127, 129, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 144, 147, 153, 168, 176, 189, 270, 277, 280, 333, 337, 342, 343, 353, 364, 365, 366, 367, 371, 373, 382, 383, 390, 391, 394, 404, 405, 406, 421, 427, 428, 429, 430, 437, 438, 439, 440, 442, 443, 445, 451 Freiheit, individuelle  127, 187, 372 Freiheit, intellektuelle  439 Freiheit, persönliche  382 Freiheit, politische  278 Friedman, M.  13, 22, 196, 425, 449, 450 FTC – Federal Trade Commission  229, 234, 238, 239, 266, 454

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Sachverzeichnis

Galileo, G. 409 Gallup  288, 307 Gefängnis  93, 147, 190, 244, 320, 330 Geld  8, 25, 38, 41, 48, 52, 54, 56, 64, 75, 76, 77, 79, 83, 86, 88, 93, 98, 99, 105, 114, 115, 116, 125, 133, 134, 152, 155, 166, 181, 182, 205, 228, 233, 241, 248, 258, 260, 267, 273, 288, 307, 309, 330, 367, 368, 370, 374, 381, 382, 386, 390, 392, 393, 414, 435 General Motors  45 Gerber 166 Gerechtigkeit  32, 111, 114, 126, 130, 131, 140, 178, 236, 269, 307, 309, 320, 322, 331, 344, 382, 383, 406, 421, 428, 429, 434, 437, 439, 441, 443, 444 Gerechtigkeit, soziale  382, 428 Geschworenengericht 267 siehe Geschworenenjury Geschworenenjury 332 siehe Geschworenengericht Gettysburg 445 Gewalt  39, 93, 97, 107, 113, 127, 129, 137, 138, 141, 143, 144, 145, 149, 150, 177, 182, 183, 190, 191, 194, 195, 198, 199, 206, 207, 210, 217, 218, 219, 256, 264, 274, 301, 308, 310, 319, 325, 329, 332, 334, 367, 383, 390, 401, 402, 405, 406, 438, 439, 443 Gewalten  264, 366, 405, 442, 444 siehe Gewaltenteilung Gewaltenteilung  136, 263, 365, 366, 367, 374, 429, 442 Gewerkschaften  51, 93, 197, 198, 199, 210, 211, 224, 226, 229, 378, 430 Gewinn  44, 46, 48, 54, 74, 78, 80, 83, 84, 85, 95, 96, 99, 104, 111, 149, 159, 168, 176, 184, 190, 197, 211, 212, 223, 237, 240, 245, 256, 347, 382 siehe Profit Glaube  25, 86, 89, 101, 246, 284, 404, 409 Gleichheit  150, 151, 235, 320, 321, 322, 331, 377, 403, 414, 416 Gleichheit, intrakriminelle  320, 321, 322, 331 Goddard, H. 399 Godwin, W. 395 Gott  22, 58, 60, 107, 118, 180, 195, 305, 307, 326, 332 Graflex  90, 232, 235

Grant, W.  90, 422 Green (Fall Green)  300, 302, 450, 453 Güterabwägung  9, 62, 98, 99, 100, 101, 102, 112, 114, 115, 123, 127, 128, 133, 135, 137, 138, 139, 140, 142, 143, 144, 145, 147, 149, 153, 162, 163, 165, 167, 175, 176, 177, 189, 190, 200, 201, 217, 228, 245, 246, 247, 248, 249, 269, 312, 313, 314, 330, 347, 389, 390, 434 Habermann, G. 5 Hamilton, A.  343, 450 Handeln, staatliches  136, 172, 276, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 291 Hautfarbe  198, 279, 284, 285, 299, 408 Hayek, F. A.  5, 12, 13, 43, 123, 125, 137, 146, 371, 384, 447, 451, 456 Hegel, G. W. F. 124 Heiden  29, 404 Herkunft  111, 284, 285, 299, 308 HEW – Health, Education, and Welfare Department  354, 369 Hicks, G. 408 Hierarchie  29, 110, 408, 438 Hiroshima 370 Hitler, A.  36, 355, 356, 358, 360, 363, 364, 365, 370, 377, 378, 407, 435, 436, 437 Hobbes, Th.  181, 393, 394, 438, 451 Holiday Inn  104 Holmes, W.  269, 270 Huckleberry Finn 402 Humankapital  78, 218, 294, 413, 443 Hume, D. 118 Humphrey, H.  246, 247, 284, 433, 451 ICC – Interstate Commerce Commission ​ 158, 193, 221, 263 Ideologie  8, 149, 150, 170, 245, 259, 355, 356, 357, 358, 363, 377, 407, 409, 414, 417, 426, 429, 433, 439 Igbos 186 Imperialismus 258 Implizit  31, 61, 95, 142, 176, 251, 301 Individualismus  61, 121, 127, 128 Inflation  77, 79, 143, 198, 433 Inkrementell  9, 57, 67, 76, 98, 101, 104, 105, 130, 132, 133, 140, 145, 146, 155, 170, 175, 176, 180, 245, 255, 273, 297,

Sachverzeichnis 298, 310, 311, 325, 335, 386, 389, 390, 427, 438, 444 Innovation 369 Institutionen  19, 20, 30, 36, 37, 39, 40, 43, 49, 53, 54, 59, 62, 71, 72, 75, 80, 86, 90, 92, 95, 100, 111, 127, 132, 135, 139, 159, 161, 164, 172, 173, 174, 181, 183, 184, 186, 242, 253, 259, 260, 261, 266, 272, 274, 275, 298, 299, 301, 305, 307, 322, 325, 335, 346, 347, 348, 349, 351, 352, 357, 362, 372, 374, 376, 378, 392, 393, 395, 398, 426, 428, 442, 444 Institutionen, gesellschaftliche  47, 68, 77, 100, 189, 320 Integration  297, 303, 347, 444, 447 Intellektuelle  9, 26, 37, 188, 319, 341, 349, 351, 353, 358, 371, 372, 377, 384, 385, 386, 391, 392, 393, 394, 401, 404, 405, 406, 407, 408, 409, 410, 411, 412, 414, 415, 416, 417, 419, 420, 421, 422, 423, 425, 426, 427, 429, 430, 434, 436, 437, 440, 443, 444, 445 Interesse, öffentliches  84, 171, 178, 221, 226, 246, 261, 304, 305, 320, 369, 422 Interessengruppe  8, 157, 158, 159, 377 Investition  40, 54, 78, 79, 80, 82, 98, 213, 257, 358, 420 IQ  302, 401, 402, 403, 426, 447, 451, 456 Irrationalität  114, 210, 211, 215, 235, 390, 418 Jefferson, Th.  343, 365 Jensen, A.  302, 374, 403, 451 Jitneys  209, 210, 211, 221 Johnson, L.  212, 224, 284, 289, 446 Juden  29, 88, 112, 121, 186, 285, 287, 293, 302, 339, 357, 399, 401, 417 Kaiser Corporation  290, 291 Kapital  78, 94, 122, 179, 254, 258, 453 Kapitalismus  62, 92, 100, 129, 146, 173, 174, 179, 181, 188, 243, 249, 254, 258, 376, 416 Kartellgesetze  191, 194, 229, 241, 242, 410 siehe Kartellrecht Kartellrecht  193, 228, 229, 237, 260 siehe Kartellgesetze Kategorisch  9, 43, 54, 57, 67, 117, 123, 132, 140, 145, 152, 155, 170, 176, 180, 186,

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251, 272, 275, 297, 304, 310, 311, 325, 335, 383 Kennedy, J. F.  214, 284, 289 Kennedy-Flughafen 214 Keynes, J. M.  123, 416, 451 Kirk, R. 425 Klasse, gesellschaftliche  21, 37, 371, 384, 391 siehe Klasse, soziale Klasse, soziale  386, 392, 404, 409, 414, 421, 427 siehe Klasse, gesellschaftliche Knappheit  64, 66, 202, 226, 229, 389 Kodak  166, 235 Kolonialamerika 366 Kommission für Chancengleichheit am Arbeitsplatz  266, 286 Kommunismus  69, 189, 416, 427, 437 Kompensation  38, 74, 189, 306, 307 Kongress  263, 266, 267, 271, 289, 291, 300, 333, 338, 339, 340, 344, 369, 439, 444, 447 Konservative  119, 425 Konsumenten  52, 56, 65, 66, 69, 78, 84, 86, 87, 89, 94, 95, 98, 100, 105, 132, 141, 143, 152, 164, 167, 168, 175, 181, 190, 192, 193, 194, 206, 231, 234, 235, 236, 239, 243, 245, 247, 254, 255, 256, 277, 422 Kontinuitätsgebot  siehe Rechtsprechung Kontrolle  29, 31, 49, 60, 85, 111, 112, 113, 115, 130, 136, 167, 168, 188, 190, 204, 220, 221, 223, 227, 230, 231, 232, 237, 243, 253, 265, 267, 273, 279, 289, 290, 304, 347, 350, 355, 356, 360, 362, 371, 372, 373, 381, 387, 402, 406, 414, 423, 439, 443 Kontrolle, staatliche  11, 55, 194, 355 Korruption  160, 164, 382 Kosten  9, 11, 24, 29, 36, 37, 38, 39, 41, 43, 45, 46, 47, 50, 51, 52, 54, 55, 56, 57, 58, 60, 61, 62, 66, 68, 69, 71, 72, 74, 75, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 84, 86, 87, 89, 90, 96, 97, 98, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 110, 111, 113, 114, 115, 116, 121, 122, 126, 129, 130, 131, 135, 137, 139, 145, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 159, 160, 161, 163, 164, 165, 168, 170, 173, 174, 175, 176, 182, 183, 189, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 202, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 213, 214, 215, 216,

464

Sachverzeichnis

217, 218, 219, 220, 222, 223, 224, 226, 229, 233, 234, 235, 236, 238, 241, 245, 251, 255, 256, 260, 261, 264, 267, 269, 272, 273, 274, 275, 278, 280, 286, 287, 288, 296, 304, 305, 306, 307, 309, 310, 312, 313, 318, 320, 326, 340, 348, 357, 360, 365, 368, 369, 370, 375, 378, 379, 382, 388, 389, 419, 420, 427, 429, 433, 435, 436 Kosten, externe  52, 92, 113, 154, 156, 254, 274 Kosten, inkrementelle  9, 58, 71, 72, 105, 169, 193, 195, 204, 206, 214, 217, 236, 358, 360, 365, 390 Kreuz, rotes  87, 173, 276 Kriminalität  25, 112, 113, 127, 309, 310, 314, 315, 319, 324, 325, 332, 333, 410 Kristol, I.  381, 416, 425, 452 Kulaken 186 Lee, R. 402 Lenin, W.  88, 258, 356, 407, 452 Leontief, W.  246, 247, 452 Lester, R.  42, 125, 179, 196, 284, 452 Liberalismus  5, 415, 425 Liberals siehe Linksliberale Life Magazin  90, 232 Lincoln, A.  100, 101, 137, 307, 345 Lindbergh, Ch. 40 Lindblom, Ch.  125, 136, 168, 169, 172, 195, 196, 418, 449 Linksliberale  108, 344, 371, 408, 425, 433 Lippmann, W. 416 Locke, J. 181 „Lösung“  60, 88, 155, 180, 210, 389, 390 Lösung siehe „Lösung“ Luftfahrtbehörde, zivile  159, 444 Lysenko, T. 384 Machlup, F.  179, 196, 452 Macht, politische  346, 354, 363, 381, 382, 384, 421, 426, 438 Macht, staatliche  145, 162, 167, 177, 277, 278, 379, 405, 429 Machtanballung  258, 424 siehe Macht­ konzentration Machtkonzentration  367, 374, 375, 377, 378, 382, 424, 428

Madison, J.  333, 366, 442, 450 Magna Carta  343, 364 Mallory (Fall Mallory)  311 Malthus, T.  394, 395, 396, 397, 453 Mandat  134, 167, 237, 336 Mao Tse-tung 408 Marburg (Fall Marburg)  333 March of Dimes  167 Marsh (Fall Marsh)  272, 273, 276, 277, 282, 283 Marshall, Th.  42, 291, 302, 304, 448 Marx, K.  13, 119, 121, 124, 129, 130, 179, 181, 248, 249, 256, 257, 356, 358, 359, 360, 392, 394, 407, 449, 453, 455 Marxismus  89, 178, 356, 416 Massenkommunikation 60 McCarthy Ära  373 Megalopolis  228, 450 Mehrheit  28, 61, 139, 142, 143, 239, 267, 274, 278, 290, 291, 303, 338, 342, 367, 415, 425 Mehrwert  152, 257 Meinung, öffentliche  304, 372, 374, 415, 422 Metapher  28, 177 Mietpreisbindung  199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 214, 219, 259, 410, 420 Miliken (Fall Miliken)  301 Militär  5, 37, 142, 368, 370, 406, 432, 433 Militärdiktatur 355 Mill, J. St.  78, 118, 361, 373, 392, 407, 429, 446, 453 Minderheit  88, 139, 290 siehe Minorität Mindestlohn 198 Ming-Dynastie 406 Minorität  139, 167, 177 siehe Minderheit Mitstreiter  321, 333, 334, 338, 409 Mittelalter  27, 86 Mittelsmann  53, 88, 227, 254, 255, 256, 295 Monarchie  131, 137, 427 Monopol  46, 92, 141, 207, 221, 229, 230, 231, 278, 430, 438 Moralität  47, 129, 130, 131, 132, 139, 149, 179, 180, 197, 222, 329, 333, 414 Mord  29, 49, 138, 154, 155, 176, 310, 327, 329, 331, 336, 382 Mörder  151, 316, 317, 327, 329, 330, 332 Mordrate  138, 310, 316, 410 Mussolini, B. 355

Sachverzeichnis Mythen  20, 21, 414 NAACP – National Association for the Advancement of Colored People  167, 261, 302, 303, 304 Nachfrage  68, 72, 94, 104, 110, 168, 188, 195, 200, 209, 213, 221, 222, 226, 236, 245, 248, 269, 273, 275, 348, 392, 393 siehe Bedürfnis Nader, R. 424 Nagasaki 370 Napoleon  191, 192, 407 Nation (Journal)  408 Nato  432, 433 Nazis  101, 182, 189, 267, 356, 378, 409, 431 Neigung  119, 144, 266, 351, 390, 398, 442 Neokonservative 425 New Deal  263, 354, 377, 379, 408, 415, 435, 439 New York Times  205, 350, 450, 455 Nixon, R.  281, 289, 340, 372 Nuklearwaffen  431, 432 Nullsummenspiel  110, 169, 202, 203 Nutzen  51, 52, 55, 57, 58, 62, 70, 88, 89, 98, 102, 103, 117, 122, 125, 148, 149, 150, 154, 159, 160, 163, 168, 169, 175, 176, 183, 189, 194, 224, 261, 272, 275, 310, 337, 347, 362, 389, 394 Oberste Gericht, das  10, 237, 276, 342 siehe Oberste Gerichtshof, der Oberste Gerichtshof, der  10, 36, 102, 193, 232, 234 f., 238, 241, 261 f., 262, 266, 269, 271 f., 275, 278 ff., 289 ff., 297 f., 300 ff., 312, 316 f., 319, 321, 328 f., 333 f., 336 ff., 340, 342 ff., 349 f., 352, 367, 372, 374 f. Objektivität  114, 384 OFCCP – Office of Federal Contract Compliance Programs  290, 291, 292 Optionen  42, 59, 73, 74, 133, 139, 141, 142, 143, 145, 152, 177, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 195, 196, 199, 217, 218, 312, 332, 345, 428, 429 Oxford Schwur  436 Pabst 237 Paradigma, akademisches  244, 389 Paretooptimalität 92

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Pearl Harbor  20, 36 Phillips, U.  177, 337, 454 Pinter, R.  400, 454 Planung  5, 54, 118, 176, 220, 242, 243, 248, 251, 252, 254, 259 Planwirtschaft  190, 200, 247, 249, 254, 255, 259 Platon 426 Pluralismus  37, 61, 128 Polizei  93, 113, 117, 138, 145, 271, 299, 311, 312, 315, 318, 320, 382 Post  35, 193, 207, 208, 213, 214 Pound, E. 408 Powell, L.  290, 291 Präferenzen  31, 67, 69, 70, 82, 94, 96, 99, 104, 177, 196, 273, 275, 348, 351, 383, 423, 426, 444 siehe Vorlieben Präzisionsfehlschluss  11, 336, 337, 338, 375 Preisbindung  190, 243, 387 Preisdiskriminierung  207, 208, 229, 237, 241, 266 Preisminimum 223 Prioritäten  67, 68, 163, 167, 174, 245, 246, 357, 390 Privilegien  131, 146 „Problem“  60, 180, 357, 389, 390, 411, 413, 423, 444 Problem siehe „Problem“ Problem, soziales  389, 411 Profit  38, 54, 75, 83, 85, 90, 166, 197, 213, 214, 224, 254, 256, 307, 437 siehe Gewinn Prospecitve overruling  siehe Recht­ sprechungsänderung Prospektiv  7, 9, 84, 191, 230, 264 Proudhon, P. 248 Prozess, intellektueller  9, 384, 386, 387, 388, 395, 401, 409, 414, 426 Prozessbeurteilung 56 Prozesse, gesellschaftliche  97, 121, 178, 182, 183, 276, 333, 363, 389 siehe Prozesse, soziale Prozesse, informelle  48, 49, 52 Prozesse, soziale  102, 103, 121, 177, 178, 183, 383, 393, 422, 443 siehe Prozesse, gesellschaftliche Puritaner 366 Qualitätskontrolle  164, 190, 234

466

Sachverzeichnis

Quoten  33, 284, 287, 291, 292, 296, 297, 307, 328, 347, 351, 372 Rasse  198, 224, 262, 265, 279, 284, 285, 288, 289, 299, 300, 301, 305, 308, 367, 379, 402, 403, 409 siehe Ethnizität Rassenintegration  60, 279, 297 siehe Integration Rassentrennung  36, 103, 108, 124, 281, 297, 298, 299, 300, 301, 303, 315, 334, 346, 374 Rassenunterschiede  293, 305 Rassistisch 372 Rationalismus  123, 124, 128 Rationalität  9, 63, 117, 124, 134, 175, 176, 179, 241, 388, 391, 411, 418, 421, 422 Rawls, J.  140, 383, 454 Realismus 374 Rebellen 363 siehe Aufständische Recht  10, 13, 33, 39, 53, 57, 77, 123, 129, 130, 139, 143, 144, 145, 146, 147, 150, 151, 155, 165, 171, 211, 218, 220, 221, 222, 239, 262, 264, 265, 267, 270, 272, 273, 275, 277, 278, 292, 298, 300, 313, 316, 320, 322, 324, 337, 341, 343, 346, 362, 365, 371, 372, 381, 444, 445, 451 Recht, angelsächsisches  264, 311, 343 Recht, gleiches  289 Rechte  53, 57, 137, 142, 145, 147, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 177, 180, 188, 212, 222, 267, 280, 281, 296, 317, 364, 366, 367, 375, 442 Redefreiheit  262, 269, 270, 271, 273, 283 Reformation 405 Reformer  165, 173, 407 Regeln  38, 39, 43, 44, 49, 77, 111, 122, 123, 133, 134, 137, 152, 162, 163, 167, 171, 183, 260, 272, 275, 309, 311, 312, 320, 333, 336, 338, 342, 352, 362, 409, 410, 415 Regierung  8, 10, 34, 58, 61, 68, 71, 77, 79, 127, 130, 136, 137, 148, 156, 170, 181, 252, 253, 263, 265, 291, 312, 353, 365, 367, 368, 369, 370, 377, 380, 395, 405, 407, 430, 433, 443, 444 Regulierung  31, 136, 159, 191, 192, 212, 221, 223, 224, 225, 226, 241, 263, 344 Regulierungsbehörden  31, 174, 178, 193, 194, 221, 222, 225, 406

Rehabilitierung 318 Rehnquist, W. 291 Reich, römisches  146, 178, 259, 355, 365, 373, 404, 405, 421, 430, 434, 436, 437 Reitman (Fall Reitman)  281 Religion  88, 115, 118, 232, 237, 284, 285, 299, 355, 366, 405, 421 Repräsentantenhaus 368 Repräsentation  284, 285, 287, 292, 294 Republikaner 365 Residualanspruch  83, 84, 85, 95 Retrospektiv  7, 9, 48, 85, 131, 146, 230, 242, 301 siehe rückblickend Revolution, amerikanische  28, 440 Revolution, französische  407, 421, 439, 440 Richter  102, 111, 123, 125, 139, 217, 232, 241, 260, 263, 267, 269, 273, 276, 278, 290, 291, 292, 297, 298, 300, 303, 318, 321, 324, 330, 337, 338, 340, 341, 343, 345, 348, 350, 352, 374, 415 Rigiditäten  48, 53, 57, 145, 184 Risiko  48, 79, 80, 81, 82, 84, 96, 152, 187, 197, 205, 327, 432 Robespierre, M.  439, 440 Robinson-Patman-Gesetz  229, 237, 238, 239, 240, 241, 256, 266, 378 Rodbertus, K. 248 Rogers, W. 19 Rolls Royce  142, 273 Roosevelt, F. D. 379 Rowan, C. 304 Rückblickend  141, 165, 256, 264, 284 siehe retrospektiv Rückmeldung  56, 70, 125, 135, 160, 168, 182, 184, 187, 202, 274, 428 Rundfunk  191, 193, 263 Salazar, A. 427 Santayana, G. 408 Sartre, J.-P. 408 Schulbehörde 298 Schwarze  167, 197, 199, 280, 288, 293, 294, 301, 304, 305, 306, 308, 329, 331, 351, 401, 412, 444 Sellin, Th.  327, 446, 455 Senat  284, 368 Senator  215, 216, 265, 284, 304, 368 Shaw, G. B.  254, 408

Sachverzeichnis Sherman Antitrust Act  193, 228 siehe Kartellgesetz, Kartellrecht Sierra Club  227, 448 Silberman, Ch.  321, 455 Sklaverei  29, 43, 101, 176, 180, 250, 279, 305, 306, 337, 344, 367 Smiles, S. 179 Smith, A.  78, 89, 119, 121, 124, 129, 130, 140, 179, 230, 270, 281, 392, 426, 455, 456 Solschenizyn, A. 359 Sonderinteressen  157, 171, 420 Sonderinteressengruppen  202, 207, 216, 222, 267, 288, 428 siehe Interessen­ gruppen Sortierung  104, 108, 109, 110, 111, 164, 204, 209, 255, 379, 389 siehe Etikettierung Sowjets  33, 175, 177, 249, 251, 252, 362, 427, 432, 433, 435 Sowjetunion  157, 182, 251, 363, 395, 408, 425, 427, 431, 432, 435, 438 Sozialdarwinismus  394, 399 Sozialismus  62, 88, 92, 129, 146, 173, 174, 178, 181, 243, 249, 349 Sozialversicherung 219 Sozialwissenschaft 172 Spencer, H.  8, 399, 456 Staatsgewalt  146, 183, 199, 217, 227, 281, 377, 421 Stadterneuerung  216, 217, 218 Stalin, J.  244, 364, 378, 384, 408 Standard Oil  239, 453 Statistik  30, 232, 245, 285, 321, 331, 381, 397, 413 Status  21, 83, 180, 306, 363, 377, 379, 380, 381, 393, 399, 425 Stevens, Th. 334 Stewart, P. 291 Stigler, G. 425 Strauss, R. 440 Substitution  66, 67, 68, 69 Subventionen  206, 207, 208, 220, 226, 253, 264, 265, 369, 379 Subventionierung  166, 225, 265 Sumner, G. 399 Sung-Dynastie 405 Systemisch  179, 365, 442 Teapot Dome  160

467

Teilhabe  144, 393, 415, 426 Terman, L.  399, 416 The New Republic (Journal)  408 The New Statesman (Journal)  408 Thornhill (Fall Thornhill)  271 Thurow, L.  397, 456 Time (Time Magazine)  456 Tocqueville, A. de  138, 377, 456 Todesstrafe  126, 310, 319, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 337, 339, 349, 372, 388, 410, 415, 444 Tojo, H. 370 Totalitarismus  101, 354, 355, 356, 357, 358, 359, 360, 361, 365, 384, 407, 421, 426, 427 Transaktionen  45, 50, 52, 54, 59, 81, 87, 92, 93, 96, 99, 150, 151, 153, 154, 177, 190, 192, 195, 196, 201, 203, 206, 207, 212, 238, 247, 269, 287, 382, 383, 387 Transaktionskosten  51, 52, 53, 54, 55, 60, 151, 154, 155, 171 Transportwesen  160, 191, 209, 210, 211 Trotzki, L. 364 TVA – Tennessee Valley Authority  215 Überlegenheit, moralische  202, 416 Übernahmeversuch 158 Überprüfung  8, 21, 22, 123, 128, 137, 162, 257, 270, 302, 309, 325, 327, 341, 358, 393, 414, 417 Übertöten (overkill)  431 Überwachung  74, 148, 204 Umwelt  118, 176, 227, 268 United Fruit Company  436 United Parcel Service  213 United States Steel  90 Urban League  112 Väter der Verfasser  343 Veblen, Th.  122, 418, 457 Verantwortlichkeit  152, 184, 421, 422, 423 Verantwortung  53, 112, 134, 168, 182, 307, 346, 374, 406, 419, 423, 428 Verbrechen  93, 116, 126, 262, 321, 323, 324, 325, 331, 347, 386 Verbrechen, organisiertes  113 Verdienst  96, 135, 147, 180 Vereinigte Staaten (von Amerika)  61, 146, 163, 187, 188, 258, 259, 261, 279, 285,

468

Sachverzeichnis

295, 307, 308, 313, 314, 315, 316, 318, 319, 321, 323, 328, 332, 333, 343, 353, 363, 365, 366, 380, 399, 400, 401, 402, 409, 411, 412, 416, 419, 425, 429, 430, 431, 432, 433, 434, 435, 437, 440 Verfahren, ordentliches  10, 344, 345, 346, 350 Verfassung  11, 61, 79, 146, 182, 259, 262, 264, 266, 267, 270, 271, 274, 276, 279, 291, 300, 313, 317, 322, 328, 329, 333, 334, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 345, 346, 347, 352, 362, 365, 366, 367, 374, 411, 429, 441, 442, 443, 444, 451 Verfassung, Auslegung der  191, 317, 333, 335, 415 Vergewaltigung  311, 329 Verhalten  32, 33, 43, 48, 51, 55, 57, 58, 67, 81, 84, 85, 105, 107, 108, 111, 113, 119, 120, 126, 128, 129, 151, 154, 165, 170, 174, 182, 209, 218, 219, 229, 230, 231, 232, 261, 265, 281, 287, 301, 310, 362, 371, 380, 381, 391, 394, 395, 397 Verknappung  200, 205 Vermieter  38, 151, 153, 201, 203, 204 Verschwendung  46, 61, 70, 169, 176, 218, 432 Verstädterung 319 Verteidigungsministerium 173 Vertrag  48, 128, 183, 210, 218, 219, 256, 281, 353 Verwaltungsbehörden  238, 241, 263, 264, 267, 279, 284, 285, 287, 288, 289, 292, 350, 368, 372, 390, 415, 422, 428 siehe Bundesbehörden, Behörden Vielfalt  34, 46, 50, 59, 60, 80, 99, 135, 151, 175, 176, 186, 203, 275, 295, 351, 365, 404 Vietnam  33, 436, 444 Voltaire, F. 404 Vorlieben  59, 110, 121, 124, 133, 190, 245, 249, 260, 327, 416 siehe Präferenzen

Warren, E.  261, 262, 298, 324, 337, 348, 410, 457 Warren-Gerichtshof  317, 321, 339, 342, 344, 444 Warschauer Pakt  432 Washington  13, 20, 135, 223, 302, 353, 375, 447, 448, 449, 450, 451, 452, 454, 455, 456, 457 Watergate  340, 342 Webb, B. und S.  408, 457 Weber (Fall Weber)  290, 291, 292, 418, 457 Weber, M.  418, 457 Wechsel, institutioneller  174, 175, 186 Weede, E. 5 Weimarer Republik  101, 365 Weiße Haus, das  156, 289 Weltkrieg siehe 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg Wettbewerb  32, 40, 51, 52, 56, 93, 114, 117, 141, 149, 159, 170, 175, 191, 193, 197, 207, 209, 211, 217, 220, 222, 225, 227, 229, 235, 236, 238, 239, 241, 242, 250, 256, 269, 278, 289, 294, 320 Wettbewerb, politischer  56 White, B.  291, 446, 457 Williams, R.  199, 285, 366 Williams, W.  152, 196, 198, 227, 458 Wilson, E. 408 Wilson, J.  314, 315, 318, 319, 323, 325, 328, 331, 369, 386, 425, 458 Wissen, effektives  142, 189, 264, 312 Wissenskosten  95, 106, 107, 111, 113, 125, 161, 234, 256, 340 Wissensverzerrung  198, 250, 269 Wohlstand  64, 100, 131, 174, 179, 180, 254, 307, 382, 396, 415, 417 Wohnsiedlung  272, 274, 275 Wurzel des Übels  319, 426

Wachstumsrate  161, 396 Wagner-Gesetz  283, 378 Wählen  157, 275 Wahrscheinlichkeit  25, 40, 46, 80, 81, 82, 101, 107, 122, 149, 167, 171, 311, 314, 320, 331, 386

Zeithorizont  54, 115, 116, 148, 149, 156, 157, 159, 194, 242, 253, 393, 434 Zensus  197, 294 Zentralplanung  248, 249, 250, 251, 255, 387 Zivilisation  23, 24, 139, 186, 405, 437, 445

Yerkes, R. 399 Young, A. 438