Mensch versus Staat: Hrsg. und übersetzt von Hardy Bouillon [1 ed.] 9783428556670, 9783428156672

$aMensch versus Staat$z ist die Erstübersetzung von Herbert Spencers Aufsatzsammlung $aThe Man versus the State$z von 18

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Mensch versus Staat: Hrsg. und übersetzt von Hardy Bouillon [1 ed.]
 9783428556670, 9783428156672

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Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 3

Herbert Spencer

Mensch versus Staat

Duncker & Humblot · Berlin

HERBERT SPENCER

Mensch versus Staat

Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 3

Herbert Spencer

Mensch versus Staat

Herausgegeben und übersetzt von

Hardy Bouillon

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISSN 2510-2893 ISBN 978-3-428-15667-2 (Print) ISBN 978-3-428-55667-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85667-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber Mit der Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus sollen einschlägige Schriften, die in der Tradition des Klassischen Liberalismus und in geistiger Nähe zu Friedrich August von Hayek stehen, einer deutschsprachigen Leserschaft nähergebracht werden. Zu diesem Zweck werden Schlüsselwerke bedeutender Autoren übersetzt und in deutscher Erstausgabe herausgegeben. Gleichwohl ist die Schriftenreihe nicht auf Übersetzungen beschränkt, sondern auch offen für Arbeiten gegenwärtiger Autoren, die sich der Schule des Klassischen Liberalismus und dem freiheitlichen Denken Hayeks eng verbunden fühlen. Dass Herbert Spencer zu eben jenen bedeutenden Autoren gehört, steht ganz außer Frage. Und zweifelsfrei ist auch, dass Mensch versus Staat ein Schlüsselwerk des Autors ist. Das Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, die Herbert Spencer – bis auf zwei Ausnahmen – 1884 für eine breite Leserschaft geschrieben hat. Die Essays tragen plakative Titel (z. B. Die Sünden der Gesetzgeber, Der große politische Aberglaube) und bieten provokante Thesen. Es sind die Thesen eines streitbaren Autors, der die Zukunft des zeitgenössischen Utilitarismus in einem strengen Bekenntnis zum Klassischen Liberalismus sieht. Herbert Spencer (1820 – 1903) zählt zu den wichtigsten englischen Philosophen des 19. Jahrhunderts. Vielen gilt er als Begründer der angelsächsischen Soziologie. Sein 16 Bände umspannendes System der synthetischen Philosophie und andere seiner zentralen Schriften hat man noch zu seinen Lebzeiten ins Deutsche übertragen. The Man versus the State wurde jedoch bis heute von Übersetzern gemieden. Dieser Umstand lässt erstaunen, vor allem wenn man bedenkt, dass Spencer den umstrittenen Begriff vom „Überleben der Bestangepassten“ („survival of the fittest“) – 20 Jahre nachdem er den Terminus in seinen Prinzipien der Biologie eingeführt hatte – hier in einen soziologischen Kontext einbettet und einer breiten Leserschaft vorstellt. Wie auch immer, in Mensch versus Staat geht es Spencer – wie auch in seinen stärker theoretisch ausgerichteten Traktaten – um die Erklärung gesellschaftlicher Veränderungen mithilfe eines eigenen evolutionstheoretischen Ansatzes. Nach Der ökonomische Blickwinkel von Israel Kirzner und Der Staat von Anthony de Jasay ist Mensch versus Staat der dritte Band der Reihe. Weitere Bände anderer Autoren sind bereits in Planung und sollen im Jahresrhythmus erscheinen, darunter Die Theorie der dynamischen Effizienz von Jesús Huerta de Soto. Die Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus wird unterstützt von der Friedrich August von Hayek-Stiftung, Berlin. Prof. Dr. Hardy Bouillon

Prof. Dr. Gerd Habermann

Prof. Dr. Erich Weede

Einleitung des Herausgebers und Übersetzers Einleitung Einleitung

The Man versus the State erschien 1884 bei Williams und Norgate in London und Edinburgh und umfasste jene vier Aufsätze, die Herbert Spencer zwischen Februar und Juli 1884 in Contemporary Review einzeln veröffentlicht hatte. Die Neuauflage von 1892 enthielt außerdem einige, auch hier bedachte Nachträge, in denen Spencer die Kritik seiner Rezensenten aufgriff. Für die vorliegende Ausgabe wurden neben diesen aktualisierten Essays auch die zwei Aufsätze Over-Legislation (1853) und From Freedom to Bondage (1891) übersetzt. Wir haben damit die Idee von Albert Jay Nock aufgegriffen, der 1940 eine um diese beiden Aufsätze erweiterte Edition von The Man versus the State herausgegeben hat. Leider erwähnt Nock nicht, was ihn dazu bewog, die beiden ergänzenden Essays schlicht anzufügen, statt – unter Wahrung der Annuität – den ersten vor und den letzten im Anschluss an die klassischen vier Aufsätze zu platzieren. Wie dem auch sei, es erschien uns, schon allein aus Annuitätsgründen, angemessener, die beiden Zusatzaufsätze chronologisch zu ordnen. Auf diese Weise liest der Leser mit der Zeit und erhält einen sich über nahezu 40 Jahre erstreckenden Querschnitt Spencerschen Denkens. Ansonsten haben wir uns an die 6. Auflage der Nockschen Ausgabe von 1960 gehalten, verzichteten allerdings auf Nocks einleitenden Bemerkungen, die vornehmlich Querbezüge zu den amerikanischen Verhältnissen von 1939/40 enthalten.1 Zu seiner Zeit war Herbert Spencer ein weit- und hochgeschätzter Philosoph.2 Heute ist er umstritten. Bei manchen Kritikern steht er im Ruf, mit dem Begriff des Sozialdarwinismus Unheilvolles heraufbeschworen zu haben.3 Es ist vor allem den Arbeiten von John Offer4 zu verdanken, dass inzwischen ein detailreicheres Bild entstanden ist, das Spencer, seiner Zeit und seinem Selbstanspruch stärker gerecht wird als die teils plakativen Urteile im Anschluss an Moore, Hofstadter u.a.5 1 

Spencer (1960). Man denke nur an Darwins Geständnis, nachzulesen in Darwin (1972), S. 159. Darwin schrieb Spencer am 10. Juni 1872: „Lieber Spencer … alle, die Augen haben, um zu sehen, und Ohren, um zu hören (derer, wie ich fürchte, nicht viele sind), sollten vor ihnen niederknien. Ich für meinen Teil tue es.“ „Every one with eyes to see and ears to hear (the number, I fear, are not many) ought to bow their knee to you, and I for one do.“ 3  Vgl. dazu Weinstein (2018). Was dem späteren Ruf Spencers ebenfalls abträglich gewesen sein mag, ist eine Eigenschaft, die zu spalten vermag. Spencer nannte die Dinge beim Namen und nahm Ehrverletzungen Fremder in Kauf, etwa wenn er von „einer großen Zahl an Idioten, Schwachköpfen, Säufern, Verrückten, Sozialhilfeempfängern und Prostituierten“ sprach und damit zumindest beim heutigen Leser wissenschaftliche Distanz vermissen lässt. 4 Vgl. Offer (1994, 2000, 2010). 5 Vgl. Weinstein (2018). 2 

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Wie auch immer, eine Übersetzung ist nicht der richtige Ort, um mit den Sichtweisen der Sekundärliteratur ins Gericht zu gehen. Sie ist vielmehr eine Gelegenheit für den Leser, der das Original bislang gescheut oder nur oberflächlich gelesen hat, ein eigenes Bild über den Autor und seine Absicht zu gewinnen, am Text zu prüfen, inwieweit die These vom „Sozialdarwinisten“ Spencer zutrifft oder nicht. Wollte Spencer tatsächlich eine Ausmerzung der Armen und derer, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können? Seine Worte lassen anderes vermuten. So schrieb er über die Gesellschaft in ihrer Eigenschaft als Genossenschaft, die in das Spiel jener beiden entgegengesetzten Prinzipien eingreift, nach denen jede Spezies die Fitness für ihre Lebensform erwirbt und anschließend bewahrt: „Ich sage absichtlich, eine Gesellschaft in ihrer Eigenschaft als Genossenschaft, weil ich nicht die Hilfe ausschließen oder verurteilen will, die die Überlegenen den Unterlegenen in ihrer Eigenschaft als Individuen erweisen. Wenn aber so unterschiedslos gegeben wird, dass die Unterlegenen sich vermehren können, dann führt diese Hilfe ins Verderben. Fehlte indes die Unterstützung seitens der Gesellschaft, dann würde die erteilte individuelle Hilfe, die dann mehr als momentan nachgefragt würde und auch mit einem größeren Sinn für Verantwortung verknüpft wäre, im allgemeinen bewirken, dass die glücklos Wertvollen gefördert würden, und nicht die von Haus aus Unwerten.“ Spencer wurmte wohl, dass unterschiedsloses Geben vor allem jene hart trifft, die selbst zu den Ärmsten gehören. „Die verschämten Armen gehören zu denen, die herangezogen werden, um jene Armen zu unterstützen, die es nicht verdient haben“, schrieb er. Natürlich wusste er, dass die Reichen den größten Teil des Wohlfahrtsstaats zahlten. Aber ihm lag an der relativ harschen Verschlechterung derer, denen es trotz ehrlicher Arbeit nicht gut ging. So heißt es an anderer Stelle bei ihm: „Es ist aber zweifellos so, dass der größte Teil des eingetriebenen Geldes von denen kommt, die recht wohlhabend sind. Doch das ist kein Trost für jene, die arm dran sind und von denen der Rest kommt. Wenn man den Druck, der auf den beiden Klassen lastet, vergleicht, dann wird nämlich offenbar, dass der Fall schlimmer liegt, als zunächst vermutet. Für die Wohlhabenden bedeutet das Eintreiben der Mittel nur eine Einbuße an Luxus, für die Niedrigverdiener hingegen den Verlust am Notwendigsten.“ In Spencer einen kaltherzigen Sozialdarwinisten zu sehen, lässt die genaue Lektüre seiner Aufsatzsammlung also nicht zu. Spencer ist nicht teilnahmslos. Im Gegenteil: „Das Los der großen Mehrheit war schon immer und ist zweifellos immer noch so schwer, dass der Gedanke daran allein schon schmerzt.“ Zudem sah sich Spencer, wie schon in Social Statics, stets auf der Seite der Arbeiter. „Der Gentleman, der unter dem Pseudonym ,Frank Fairman‘ schreibt, wirft mir vor, ich hätte mich von der wohlwollenden Verteidigung der Arbeiterklassen, die er in Social Statics vorgefunden habe, distanziert. Aber ich bin mir keiner derlei gemutmaßter Positionsänderung bewusst. Wenn man nachsichtig mit den Unzulänglichkeiten derer ist, die ein hartes Leben haben, heißt das keineswegs, dass man auch Taugenichtse duldet.“ So ist auch seine Aussage zu verstehen: „Dass dem Sozialismus die

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Stirn geboten wird, liegt also nicht vornehmlich im Interesse der Arbeitgeberklasse, sondern viel mehr im Interesse der Arbeiterklasse.“ Eingedenk all dessen wollte Spencer wohl etwas Bestimmtes verhindern, nämlich die Unterstützung des Wohlfahrtsstaates für jene Leistungsempfänger, die nicht aus Unvermögen in der Armut verharren, sondern aus Unwillen. Was er – ähnlich wie Humboldt auf deutscher Seite – zudem befürchtete, war die langfristige charakterliche Verformung des Wohlfahrtsempfängers. „Daraus folgt ganz zweifellos, dass jedes Gesetz, das – durch Zwang, Einschränkung, Beihilfe oder sonst wie – die Veränderung menschlicher Handlungsweisen bezweckt, die Menschen auf die Dauer dazu bringt, ihre Natur neu auszurichten. Neben jedem unmittelbar bewirkten Effekt gibt es einen langfristigen Effekt, der von den meisten übersehen wird: eine Umformung des allgemeinen Charakters; eine Umformung, die in ihrer Art erwünscht oder unerwünscht sein mag, die aber in jedem Fall unter allen bemerkenswerten Resultaten das wichtigste Ergebnis darstellt.“ Man geht wohl nicht ganz fehl in der Vermutung, dass es Spencer darum ging, den Utilitarismus seiner Zeit mittels der gemachten Erfahrungen an die Erfordernisse jener Strömung anzupassen, welcher der Utilitarismus seine Existenz verdankt: dem Klassischen Liberalismus. „Indes richtig verstanden, impliziert der Utilitarismus die Anleitung durch die allgemeinen Schlussfolgerungen, zu denen man mittels einer Analyse der Erfahrungen gelangt.“ „Die Nützlichkeit also, nicht gemäß empirischer Schätzung, sondern nach dem Gebot der Vernunft, mahnt eindringlich dazu, die individuellen Rechte aufrechtzuerhalten.“ „Und das Recht auf Eigentum“, ist man versucht, hinzuzufügen. Denn genau dieses war durch Mills Idee, die Gesellschaft lege autonom fest, wem was gehöre, ins Wanken gekommen. Rhetorisch fragt Spencer: „Was ist denn die stillschweigende Annahme, von denen all diese Gesetze ausgehen? Es ist die Annahme, dass niemand einen Anspruch auf sein Eigentum hat, nicht einmal auf das, was er im Schweiße seines Angesichts verdient hat; es sei denn mit Erlaubnis der Gemeinschaft, wobei die Gemeinschaft den Anspruch auf jedes Niveau zurückschrauben kann, das sie für angemessen hält.“ Spencer erwies sich mehrfach als ein äußerst hellsichtiger Kritiker des im Utilitarismus heranwachsenden Wohlfahrtsstaats, der die moralische Korrumpierung durch zunehmende Regulierung und Bürokratisierung analysiert und moniert; ganz im Stile Humboldts. Spencer stellt den Wohlfahrtsstaat als spontane Ordnung dar. „Und überall helfen Ränkeschmiede mit, wobei jeder nur an seinen Lieblingsplan denkt und keineswegs an die allgemeine Umstrukturierung, die sein Plan zusammen mit anderen dieser Art herbeiführt.“ Insbesondere der 4. Aufsatz (Von der Freiheit zur Fesselung) zeigt Spencers Sichtweise. „Somit ist in den sozialen Arrangements, wie auch in allen anderen Dingen, der Wechsel unvermeidbar. Es ist töricht, anzunehmen, dass neu eingesetzte Institutionen den Charakter, der ihnen von ihren Urhebern verliehen wurde, lange beibehalten werden. Früher oder später werden

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sie in Institutionen verwandelt, die anders sind als die ursprünglich beabsichtigten Institutionen; und zwar so sehr, dass selbst ihre Erfinder sie nicht mehr erkennen werden.“ Spencer stellt die Verwandlung als Metamorphose dar, verwendet den Begriff explizit. Spencer erkannte auch, dass die Familienmoral, angewendet auf die Gesellschaft, zu verheerenden Folgen führen würde. „Keiner kann verkennen, dass einer Gesellschaft alsbald fatale Konsequenzen ins Haus stehen, wenn sie das Familienprinzip annimmt und im Gesellschaftsleben anwendet, wenn die Belohnung immer groß ausfällt, obwohl der Verdienst klein ist.“ Überdies beweist sich unser Autor auch als ein hellsichtiger Vorläufer der Public Choice These, der zufolge auch jener, der im Interesse der Öffentlichkeit handelt, seinen privaten Interessen nachgeht. „Wenn wir also ausschließen, dass die Natur des Menschen sich nicht plötzlich verändert, dann müssen wir schlussfolgern, dass die Verfolgung privater Interessen das Handeln aller Teilklassen der sozialistischen Gesellschaft beeinflusst“, schrieb Spencer. Bei aller Kritik am Wohlfahrtsstaat: Ihn selbst gab es damals noch nicht, jedenfalls nicht in einer so stark ausgeprägten Weise, dass Spencer ihm einen Namen gegeben und zum Hauptziel seiner Kritik erklärt hätte. Seine Hauptkritik galt dem Sozialismus. Wie hellsichtig waren doch seine Prophezeiungen über den wuchernden Verwaltungsapparat des kommenden Sozialismus, lange bevor die Bürokratie im kommunistischen Ostblock genau diese Entwicklung nahm. Ein besonders beredtes Beispiel für Spencers seherische Fähigkeiten in Bezug auf den Sozialismus sind seine Ausführungen im Aufsatz Von der Freiheit zur Fesselung. Spencer stellt sich nicht gegen den Sozialismus, weil dieser für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse eintritt, sondern weil dieser sein Ziel mit untauglichen Mitteln anstrebt. Nicht die Revolutionierung der Gesellschaft könne die Verhältnisse auf Dauer verbessern, sondern die Änderungen der menschlichen Natur, die allerdings nur langsam daherkämen. „Wie Social Statics, aber auch The Study of Sociology und Political Institutions belegen, gibt es den Wunsch nach einer Gesellschaft, die dem Glück der Menschen zuträglicher ist als die gegenwärtige. Mein Widerstand gegen den Sozialismus nährt sich aus dem Glauben, dass er das Voranschreiten zu einem besseren Zustand bremsen und einen schlechteren Zustand zurückbringen würde. Nichts außer der langsamen Modifizierung der menschlichen Natur kann auf Dauer vorteilhafte Veränderungen hervorbringen.“ Für Spencer führt der Sozialismus nicht zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern in die Knechtschaft. „Jeder Sozialismus“, schreibt er, „bedeutet Sklaverei. Was ist die Idee eines Sklaven ihrem Kern nach? … Was den Sklaven grundsätzlich auszeichnet ist, dass er unter Zwang arbeitet, um die Wünsche eines anderen zu befriedigen.“ Vom Staat und seinen Organen erhofft Spencer keine Abhilfe, weder gegen den Wohlfahrtsstaat, noch gegen den Sozialismus. Im Gegenteil! Für Spencer sorgt der Staat mit all seinen Maßnahmen stets dafür, dass die Übel an Zahl und Gravität zunehmen und nicht abnehmen. „Wenn staatliche Maßnahmen – in einer großen Fülle von Fällen, wie wir gesehen haben – nicht die gewünschten Übel beseitigen;

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wenn sie – wie in einer anderen großen Anzahl von Fällen – diese Übel verschlimmern, statt sie abzustellen; und wenn sie – wie in einer dritten großen Gruppe von Fällen – zwar einige Übel lindern, aber dabei neue, oft größere Missstände heraufbeschwören; falls – wie wir schließlich sahen – öffentliches Handeln andauernd von privatem Handeln an Effizienz überboten wird; und falls – wie eben gezeigt – privates Handeln verpflichtend gemacht wird, um die Unzulänglichkeiten öffentlichen Handelns auszugleichen – u.a. damit der Staat seine Vitalfunktionen aufrechterhalten kann –, aus welchem Grund sollte man sich dann mehr öffentliche Verwaltung wünschen?“ Aus Sicht Spencers ist es nicht nur der Staat allein, der die Verhältnisse verschlimmbessert, sondern das Zusammenspiel vieler Faktoren bzw. die wechselseitige Verstärkung und Verquickung der Einflussfaktoren wie Präzedenzfälle, Ideale, politische Entscheidungen, politische Führer, Bewegungen, Journalisten. Diese Faktoren begünstigten sich nicht nur linear, sondern progressiv – wie ein anwachsender Strom. Auch das Common Law trug in Spencers Augen Mitschuld an dieser Entwicklung. Liest man, was Spencer zur englischen und deutschen Rechtstradition schreibt, dann scheint es so zu sein, als ob er im deutschen Naturrecht ein Gegenmittel gegen das anspruchsfördernde englische Common Law vermutet hätte. Spencer schrieb: „Wie gesagt, unser Gerechtigkeitssystem, das zur Wiedergutmachung der Unzulänglichkeiten des Common Law eingeführt und weiterentwickelt wurde, fußt gänzlich darauf, dass man den Menschen Ansprüche zugesteht, von denen man glaubt, dass sie über die sonstigen legalen Berechtigungen hinaus bestünden.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Ich las auch neulich in einem hoch angesehenen Wochenjournal, dass ,es eine philosophische Verschwendung ist, erneut zu erklären, warum es so etwas wie ein ›natürliches Recht‹ nicht gibt.‘ Die in diesen Auszügen ausgedrückten Ansichten werden in der Regel von Politikern und Anwälten in einer Weise nachgeplappert, die nahelegt, dass nur die gedankenlosen Massen anderer Meinung wären. Man hätte vielleicht erwartet, dass Äußerungen in diesem Sinne weniger dogmatisch dargebracht würden, wissend, dass eine ganze Schule von Rechtsgelehrten auf dem Festland eine Meinung vertritt, die der von der englischen Schule vertretenen diametral entgegengesetzt ist. Die Idee des Naturrechts bildet die Wurzel der deutschen Rechtslehre. Was man auch immer über die deutsche Philosophie im allgemeinen denken mag, man kann sie wohl kaum oberflächlich nennen.“ Wie auch immer, ob Spencer tatsächlich glaubte, dass etwas Staatsimmanentes – sei es nun der eigenen oder einer fremden Tradition entnommen – das Ruder herumreißen und die unheilvolle Entwicklung des Staates aufhalten könnte, darf man bezweifeln, heißt es doch bei ihm: „Die politischen Erfahrungen und Denkweisen der antiken Gesellschaften, weitergegeben von Philosophen, die annahmen, dass der Krieg der Normalzustand sei, und die Sklaverei demnach nötig und gerecht, und dass die Frauen permanent zu bevormunden seien, helfen ihnen kaum dabei, über Parlamentsgesetze zu befinden, die in den großen Nationen der modernen Art funktionieren können.“

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Wenn in Spencers Augen irgendetwas Abhilfe zu versprechen schien, dann doch eher die Erforschung der Systematik jener kausalen Verwobenheit, mit der die von Spencer skizzierten gesellschaftlichen Abläufe ihren Gang nehmen. „Worauf es wirklich ankommt, ist ein systematisches Erforschen der natürlichen Kausalität, die unter menschlichen Lebewesen auftritt, die sich gesellschaftlich zusammenfinden. Obwohl ein spezifisches Kausalitätsbewusstsein das letzte Merkmal ist, das der geistige Fortschritt hervorbringt – … –, und obwohl von allen gesellschaft­lichen Phänomenen die komplexesten, nämlich die Kausalbeziehungen, wahrscheinlich am längsten unerkannt bleiben, so ist uns doch die Existenz solcher Kausalbeziehungen mittlerweile so klar geworden, dass keiner, der über sie nachdenkt, sich der Einsicht verschließen kann, dass man sie sorgfältig studieren muss, bevor man sich in sie einmischt.“ Kein Einmischen in komplexe Systeme, deren Kausalität unbekannt ist. So lautet Spencers Botschaft in aller Kürze. Was Spencer trotz all der Fatalität der Staatsentwicklung blieb, die seine Analyse des Staates und dessen Diener verhieß, war eine gute Portion schwarzer Humor. „Zweifellos würde vieles für die Bürokratie sprechen, wenn man sicherstellen könnte, dass die Beamten gut sind. Genau so würde vieles für die Despotie sprechen, wenn man die Gewähr hätte, dass der Despot gut ist.“ Wie fasst man nun all das Gesagte zusammen? The Man versus the State ist keine Abrechnung mit dem Wohlfahrtsstaat, auch keine mit dem Sozialismus, sondern mit dem Staat an sich. Spencer ist ein Klassischer Liberaler, einer von der libertären Sorte. Er sieht den Staat (und dessen Staatsdiener) in Opposition zu allen Bürgern, Kapitalisten wie Arbeiter. Schon allein der Titel seiner Aufsatzsammlung bringt die Geisteshaltung des Autors zum Ausdruck. The Man versus the State erinnert an den Titel einer Klageschrift, die verrät, wer gegen wen vor Gericht zieht: Mensch versus Staat. Soviel zum Inhalt des Buches. Zu dessen Form muss nicht viel ergänzt werden. Sie folgt den Vorgaben des Autors und der Reihe, in der das Buch erscheint. Die Kursivsetzung französischer Begriffe wurde beibehalten, obwohl der Autor damit meistens keine Akzentsetzung verband, sondern lediglich damit andeuten wollte, ein Lehnwort zu verwenden, z. B. hauteur für Hochmut. Beibehalten wurde auch die Zitierweise des Autors. Da Spencer an vielen Stellen auf Personen, Sachverhalte und Begriffe Bezug nimmt, die dem Zeitgenossen vertraut waren, dem heutigen Leser jedoch oft unbekannt sein dürften, wurden die wichtigsten dieser Bezüge in den vorgegebenen oder in eigens gesetzten Fußnoten erläutert und mit dem Vermerk „d. Hrsg.“ versehen. Ansonsten wurde – wie auch schon bei den vorangegangenen Bänden der vorliegenden Reihe – im Allgemeinen davon Abstand genommen, wohlmeinend von der Vorlage abzuweichen. Gleichwohl galt es, die verlegerischen Standards der Reihe zu wahren. Im Hinblick darauf wurden die bibliographischen Angaben, die ursprünglich in die Anmerkungen eingebunden waren, in ein eigens dafür erstell-

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tes Literaturverzeichnis übertragen und notfalls ergänzt. Die in den Anmerkungen hier und da eingesetzten Kürzel aus Autor und Jahr beziehen sich auf die im Literaturapparat gemachten Angaben zu den von Spencer und mir verwendeten Ausgaben der zitierten Werke. Was mir noch bleibt, ist Dank zu sagen: zum einen der Friedrich August von Hayek-Stiftung für ihre großzügige Unterstützung bei der Übersetzung und Herausgabe dieses Buches, zum anderen dem Mises Institute in Auburn, Alabama, für die freundliche Genehmigung, eine deutsche Ausgabe herausbringen zu dürfen, und zwar nach jener 1960 bei Caxton in Caldwell, Idaho, erschienenen Auflage von The Man vs. the State, die das Mises Institute als PDF allgemein zugänglich gemacht hat. Hardy Bouillon

Inhaltsverzeichnis Überregulierung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Der neue Toryismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die Sklaverei von morgen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Von der Freiheit zur Fesselung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Sünden der Gesetzgeber  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Der große politische Aberglaube  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Register  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

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Von Zeit zu Zeit deucht es den umsichtigen Denker, dass schon allein aus Gründen der Wahrscheinlichkeit seine Auffassung, zu welchem Thema auch immer, kaum korrekt sein kann. Dann denkt er: „Hier sind Tausende um mich herum, die hierzu und dazu anders denken als ich – manchmal ganz anders, meistens aber nur teilweise anders. Jeder vertraut darauf, wie ich, dass die eigenen Überzeugungen wahr sind. Viele von ihnen verfügen über eine große Intelligenz. Ich mag große Stücke auf mich halten, muss aber zugestehen, dass mir einige Paroli bieten können – oder mich gar überragen. Wenn auch jeder von uns denkt, er habe recht, müssen doch fraglos die meisten irren. Warum sollte ich nicht einer jener sein, die fehlgehen? Aber das beweist nichts. Auch wenn die meisten von uns notwendigerweise irren müssen, ist es uns doch trotz allen Bemühens unmöglich anzunehmen, wir seien im Irrtum. Ist es also nicht töricht, mir dennoch selbst zu trauen? Überall in der Welt sind die Menschen sich ihrer Sache sicher, aber in neun von zehn Fällen erweist sich das Gefühl als Täuschung. Ist es also nicht absurd von mir, wenn ich so sehr auf mein eigenes Urteil vertraue?“ Auf den ersten Blick mag diese Überlegung bar jeglicher praktischer Resultate sein, aber sie dürfte und sollte einige unserer wichtigsten Tagesabläufe beeinflussen. Obwohl wir im Alltag ständig gehalten sind, nach unseren Schlussfolgerungen zu handeln, so unzuverlässig diese auch sein mögen; obwohl zuhause, im Büro und auf der Straße sich Stunde um Stunde Gelegenheiten bieten, die wir nicht ausschlagen sollten – wissend, dass handeln zwar Gefahren bergen mag, nicht handeln jedoch fatal sein kann; und obwohl, so gesehen, der abstrakte Zweifel hinsichtlich des Wertes unserer Urteile auf unser privates Verhalten unanwendbar bleibt, sollten wir ihm doch für unser öffentliches Handeln eine gewisse Bedeutung beimessen. Unmittelbares Entscheiden ist hier nicht zwingend geboten, weil die Schwierigkeit, richtig zu entscheiden, ungleich größer ist. So klar es unseres Erachtens auch sein mag, dass eine bestimmte Maßnahme funktioniert, die Schlüsse, die wir aus den oben genannten Alltagserfahrungen ziehen dürfen, sollten uns nahelegen, dass die Chancen für das Gegenteil unserer Annahmen nicht schlecht stehen. Ob es in den meisten Fällen nicht weiser sei, nichts zu tun, wird nun zu einer vernünftigen Frage. Der selbstkritische und umsichtige Denker wird also überlegen: „Wenn ich schon in diesen persönlichen Angelegenheiten, in denen mir alle Umstände bekannt sind, so oft daneben lag, wie oft muss ich mich dann erst in den politischen Angelegenheiten verkalkulieren, in denen die Umstände zu zahlreich, weitverzweigt, komplex und unklar sind, um überhaupt verstanden zu werden. Hier gibt es zweifellos ein gesellschaftliches Übel und ein entsprechendes Bedürfnis. Und wäre ich sicher, keinen Unfug anzurichten, dann würde ich unverzüglich versuchen, das Übel zu beseitigen und dem Bedürfnis Rechnung zu tragen. Wenn ich aber daran denke,

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wie viele meiner privaten Pläne fehlschlugen; wie meine Mutmaßungen in die Irre gingen, Beauftragte sich als unehrlich erwiesen haben und die Ehe zur Enttäuschung wurde; wie ich den Verwandten, dem ich helfen wollte, zum armen Mann machte; wie mein wohlbehüteter Sohn zum schwarzen Schaf der Familie wurde; wie die Sache, gegen deren Unheil ich mich mit Händen und Füßen wehrte, sich als großer Glücksfall entpuppte; wie die Ziele, die ich mit Leidenschaft verfolgte, mir nur ein kleines Glück bescherten, und die größten Freuden aus Ecken kamen, in denen man sie am wenigsten erwartet hätte; wenn ich all dies und ähnliche Tatsachen bedenke, dann wird mir schlagartig klar, dass mein Intellekt unfähig ist, der Gesellschaft Vorgaben zu machen. Angesichts dessen, dass das gesellschaftliche Übel nicht nur die Gesellschaft plagt, sondern auch in ihr gedeiht, während das entsprechende Bedürfnis spontan und, wie die meisten anderen Bedürfnisse, auf unvorhergesehene Weise eintritt, bezweifle ich, dass Einmischen angemessen ist.“

II. Es gibt ein großes Bedürfnis nach praktischer Demut in unserem politischen Verhalten. Obwohl wir weniger Selbstvertrauen haben als unsere Vorfahren, die ihre Urteile zu allem und jedem ohne Zögern in Gesetze gossen, haben wir dennoch viel zu viel davon. Obwohl wir nicht länger unsere Gottesvorstellungen durchsetzen und deren Unfehlbarkeit voraussetzen, helfen wir doch weiterhin anderen, gleichwohl ähnlich zweifelhaften Glaubensüberzeugungen bei ihrer Durchsetzung. Obwohl wir uns nicht mehr anmaßen, den Menschen zu seinem Seelenheil zu zwingen, glauben wir, ihn zu einem materiellen Heil zwingen zu müssen, ohne zu erkennen, dass das eine genauso unnütz und unverantwortlich ist wie das andere. Auch unzählige Fehlversuche können uns offensichtlich nicht belehren. Schlagen Sie eine beliebige Tageszeitung auf, und schon erfahren Sie, dass in irgendeinem Ministerium ein führender Politiker sich der Korruption, Fahrlässigkeit oder der Misswirtschaft schuldig gemacht hat. Doch schon in der nächsten Spalte erspäht ihr Auge einen neuen Vorschlag, die staatliche Überwachung auszudehnen. Gestern war es eine Anklage gegen die Kolonialbehörde wegen grober Fahrlässigkeit, heute reißt man Possen über Pfusch bei der Admiralität, und morgen wird man fragen: „Brauchen wir nicht mehr Bergwerksinspektoren?“ Mal moniert man die Nutzlosigkeit der Gesundheitsbehörde, und mal fordert man lauthals mehr Regulierung für den Schienenverkehr. Während die Vorwürfe über den Missbrauch im Kanzleigericht noch in unseren Ohren klingen oder unsere Wangen vor Scham über irgendeinen gut sichtbaren Frevel beim Kirchengericht glühen, stolpern wir plötzlich über Vorschläge zur Errichtung einer „Priesterkaste der Wissenschaft“. Eben noch lesen wir, dass man der Polizei lauthals vorwirft, sie erlaube den Touristen irrwitzigerweise, sich gegenseitig zu Tode zu trampeln. Doch während Sie vergeblich nach der logischen Folgerung Ausschau halten, nämlich, dass man staatlicher Regulierung nicht trauen kann, lesen Sie stattdessen in einem Beitrag über Schiffbruch, man brauche dringend mehr staatliche Inspektoren, die darauf

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achten, dass die Rettungsboote auf den Schiffen stets startklar sind. Während also täglich über das Versagen berichtet wird, begegnet man auf Schritt und Tritt der Überzeugung, es brauche einen Gesetzesakt und ein Heer von Staatsdienern, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Nirgendwo sonst ist der ewige Glaube der Menschheit besser sichtbar. Seit es die Gesellschaft gibt, predigt die Enttäuschung: „Traue nicht der Gesetzgebung.“ Und dennoch ist der Glaube an die Gesetzgebung immer noch ungebrochen. Wenn der Staat seine Aufgaben, die er zweifellos hat, effizient erfüllen würde, dann könnte man noch entschuldigen, dass es manchen gelüstet, ihm mehr Aufgaben zu übertragen. Gäbe es nicht die Beschwerden über die Unzulänglichkeiten der Justiz, deren endlosen Verfahren und unbeschreiblichen Kosten; darüber, dass die Justiz Ruin statt Restitution bringt und den Tyrannen spielt, wo sie der Schutzherr sein sollte; hätten wir nie von ihren vertrackten Dummheiten gehört; ihren 20. 000 Statuten, die die Engländer alle kennen sollen, von denen aber keiner auch nur eines kennt; ihren vielfältigen Ausfertigungen, die allen Eventualitäten gerecht werden sollen, aber weit mehr Schlupflöcher öffnen, als sie verschließen; wüssten wir nicht um den Aberwitz im System, jeder winzigen Veränderung mit einem neuen Gesetz zu begegnen, das wiederum auf unzählige vorherige Gesetze in unterschiedlicher Weise rückwirkt; wüssten wir nicht um die Ansammlung der Regeln beim Kanzleigericht, die sich in einer Weise gegenseitig modifizieren, beschränken, ausweiten und abschaffen, dass kein Anwalt am Kanzleigericht weiß, was letztlich die Regeln sind; wären wir nicht über solche Tatsachen erstaunt wie die, dass man im Rahmen des irischen Landkatasterwesens £ 6. 000 für eine „Negativsuche“ ausgegeben hat, um ein Anrecht auf einen Grundbesitz zu etablieren; wüssten wir nicht von den schrecklichen Unverhältnismäßigkeiten, die die Justiz zeigt, wenn sie einen hungrigen Vagabunden, der eine Rübe stiehlt, ins Gefängnis steckt, während sie den Eisenbahndirektor trotz seiner gigantischen Unterschlagungen laufen lässt; könnten wir, um es kurz zu machen, belegen, dass die Justiz eine wirksame Richterin und Verteidigerin ist, statt erkennen zu müssen, dass sie heimtückisch, grausam ist und am besten gemieden werden sollte, dann gäbe es Grund zur Hoffnung, dass Gutes von ihr zu erwarten sei. Oder wenn der Staat, trotz seines Versagens bei den richterlichen Funktionen, sich in anderen Ressorts – zum Beispiel im Militärwesen – als ein fähiger Akteur bewiesen hätte, dann gäbe es einen Anlass dafür, seine Zuständigkeiten auszudehnen. Angenommen, er hätte seine Truppen vernünftig ausgerüstet und ihnen nicht unhandliche und wirkungslose Musketen, fürchterliche Infanteriemützen, unsinnig schwere Tornister und Kartuschenschachteln verpasst, und farbenfrohe Uniformen, die wunderbare Zielscheiben für die gegnerischen Scharfschützen abgeben; angenommen, die Truppen wären gut und wirtschaftlich organisiert, ohne all die Saläre für ein Heer an überflüssigen Offizieren, die jährlich £ 4. 000 an Pfründen für die Obristen verursachen, wobei die Verdienstvollen außen vor bleiben und die Unfähigen befördert werden; angenommen, dass die Soldaten stets gut untergebracht wären, statt in Barracken gepfercht, die sie, wie im Fall von Aden, zu Hun-

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derten dienstunfähig machen oder über ihren Bewohnern zusammenbrechen, wie im Fall Loodianah, wo so 95 Männer umkamen; angenommen, der Staat hätte im gegenwärtigen Krieg seine administrativen Fähigkeiten unter Beweis gestellt, statt seine Regimenter zuweilen barfuß und zerlumpt marschieren zu lassen, sowie ihre Waffen selbst erobern und mit leerem Magen kämpfen zu lassen, wie es während der Halbinsel-Offensive der Fall war; wenn man all das annähme, dann hätte der Wunsch nach mehr staatlicher Kontrolle vielleicht noch seine Berechtigung. Hätte der Staat nur in einem Fall eine gute Leistung gezeigt, und sonst alles vermasselt; hätte er zumindest ein effizientes Flottenmanagement auf die Beine gestellt, dann könnte der Leichtgläubige einen Grund dafür vorschützen, dass er ihm auch in anderen Bereichen etwas zutraut. Unterstellt, dass die Berichte über marode Schiffe – Schiffe, die nicht segeln können, vergrößert werden müssen, ungeeignete Maschinen haben, ihre Kanonen nicht tragen können, über keinen Stauraum verfügen, abgewrackt werden müssen – alle nicht wahr wären; angenommen, es wären nur Ehrabschneider, die sagen, dass die Megoera zweimal so lange brauchte, um das Kap zu erreichen, wie ein Handelsdampfschiff, dass während derselben Reise die Hydra dreimal in Flammen stand und ihre Pumpen Tag und Nacht in Betrieb waren, dass das Truppenschiff Charlotte mit Proviant für 75 Tage in See stach und erst nach drei Monaten sein Ziel erreichte und dass die Harpy unter größter Lebensgefahr 110 Tage von Rio bis nachhause brauchte; tun wir es als Verleumdung ab, was über 70-jährige Admirale gesagt wird, über dilettantische Schiffsbauer und „frisierte“ Werftkonten; stempeln wir die Büchsenfleischaffäre um Goldner1 als Mythos ab, und glauben wir nicht dem Bericht von Professor Barlow, in dem es heißt, dass die von der Admiralität vorgehaltenen Kompasse „mindestens zur Hälfte nichts als Gerümpel sind“; wenn wir all dies, sagen wir, haltlose Unterstellungen sein ließen, dann würden die Befürworter eines starken Staates, trotz dessen Misswirtschaft im Militär und Rechtswesen, eine Grundlage für ihre politischen Luftschlösser haben. Aber, so wie es aussieht, haben sie die Parabel von den Talenten rückwärts gelesen. Nicht dem nachweislich effizienten Sachverwalter wollen sie weitere Aufgaben übertragen, sondern dem nachlässigen und tölpelhaften. Die Privatwirtschaft hat viel getan, und sie hat es gut getan. Die Privatwirtschaft hat Wald und Flur gerodet und trockengelegt, das Land urbar gemacht und die Städte errichtet; sie hat Bergwerke und Straßen angelegt, Kanäle ausgehoben und Schienen verlegt; was hat sich nicht alles erfunden und perfektioniert: den Pflug, den Webstuhl, die Dampfmaschine, die Druckerpresse und zahllose andere Maschinen; sie hat unsere Schiffe gebaut, unsere großen Fabriken, unsere Häfen; sie hat Banken gegründet, aber auch Versicherungsgesellschaften, die Tageszeitungen; sie hat die Meere mit 1  Stephan Goldner war einer der Pioniere der Fleischkonservierung. Mitte des 19. Jahrhunderts löste sein vorzeitig verfallendes Büchsenfleisch in England einen großen Lebensmittelskandal aus. Vermutlich starb die Mannschaft der Franklin-Expedition, die 1845 über die Nordwestpassage nach Asien aufgebrochen war, an unsachgemäß konserviertem bzw. zubereitetem Büchsenfleisch, d. Hrsg.

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Dampfschifffahrtslinien überzogen, und das Land mit elektrischen Telegrafen. Die Privatwirtschaft führte die Landwirtschaft, die Industrie und die Wirtschaft dorthin, wo sie jetzt stehen, und lässt sie heute schneller wachsen denn je. Deshalb: Vertrauen Sie nicht auf die Privatwirtschaft. Auf der anderen Seite erfüllt der Staat seine Aufgaben so, dass er viele ruiniert, andere irreführt und die verschreckt, die am meisten Hilfe brauchen. Seine Landesverteidigung betreibt er so extravagant und doch so wirkungslos, dass er fast täglich Beschwerden, Proteste oder Hohn auf den Plan ruft. Und als Wahrer der nationalen Interessen erzielt er mit einem Großteil unserer öffentlichen Grundstücke nur Verluste. Deshalb: Vertrauen Sie auf den Staat. Vernachlässigen Sie den guten und treuen Diener und fördern sie den unnützen, damit der sich verzehnfacht. Ernsthaft, der Vergleich mag zwar in mancher Hinsicht nicht ganz passen, aber in einer Hinsicht liegen die Dinge noch schlimmer, weil die neue Arbeit nicht ganz der alten entspricht, sondern diffiziler ist als jene. So schlecht der Staat seine eigentlichen Aufgaben auch erfüllt, jeder weiteren Aufgabe, die man ihm anvertraut, wird er wahrscheinlich noch schlechter gerecht werden. Seine Untertanen, einzeln oder als Nation, vor Angriffen zu schützen, ist eine eindeutige und ziemlich einfache Angelegenheit. Deren persönliche Handlungen direkt oder indirekt zu reglementieren, ist eine ungleich kompliziertere Angelegenheit. Es ist eine Sache, für jeden Menschen sicherzustellen, dass er seine Macht ungehindert zur Verwirklichung seiner Ziele einsetzen kann. Und es ist eine völlig andere Sache, dieses Ziel für ihn zu verwirklichen. Um das Erste wirksam zu tun, muss der Staat nur dabei zusehen, während die Bürger handeln; Unfairness untersagen; Recht sprechen, wenn man ihn danach ersucht; und im Fall von Verletzungen Wiedergutmachung erwirken. Um Letzteres wirksam zu tun, muss er ein allgegenwärtiger Arbeiter werden; jedes Mannes Bedürfnisse besser kennen als dieser selbst; und muss er, kurz gesagt, eine übermenschliche Kraft und Intelligenz besitzen. Auch deshalb gibt es keinen Grund, des Staates Machtbereich auszuweiten, selbst wenn der Staat in seinem eigentlichen Zuständigkeitsbereich seine Sache gut gemacht hätte. Wenn man aber sieht, wie schlecht er selbst jene einfachen Aufgaben, die wir ihm notgedrungen übertragen müssen, erledigt, dann ist die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering, dass er die Aufgaben, die ihrer Natur nach komplizierter sind, gut bewältigen wird. Ganz gleich, von welcher Warte aus wir die Sache betrachten, die Schlussfolgerung bleibt stets dieselbe. Wenn wir die Hauptaufgabe des Staates im gegenseitigen Schutz der Individuen voreinander sehen, dann muss jede andere Aufgabe des Staates darin liegen, jeden vor sich selbst zu schützen, vor seiner Dummheit, seiner Trägheit, seinem Leichtsinn, seiner Voreiligkeit und seinen sonstigen Schwächen – seinem Unvermögen, dieses oder jenes zu tun, das gemacht werden sollte. Diese Klassifizierung steht ganz außer Frage, da offenkundig alle Hindernisse, die zwischen dem liegen, was der Mensch begehrt und wie er es umsetzt, entweder aus den entgegengesetzten Wünschen anderer Menschen oder dem eigenen Unvermögen entspringen. Sofern die entgegengesetzten Wünsche der Anderen rechtens sind, ist ihr Anspruch auf Erfüllung gleichberechtigt und kann daher nicht vereitelt werden. Jene aber, die nicht rechtens sind, hat der Staat in Schach zu halten. Der einzig mög-

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liche Bereich, der dem Staat also noch verbleibt, ist der Schutz des Individuums vor den Folgen der eigenen Natur oder, wie wir sagen, der Schutz vor sich selbst. Für den Moment wollen wir diese Strategie nicht weiter kommentieren, sondern uns nur auf deren Praktikabilität beschränken und untersuchen, wie der Vorschlag in seiner schlichtesten Form aussähe. Nun, die Menschen werden von ihren Instinkten, Gefühlen und Eindrücken bestimmt, die alle auf Selbsterhalt angelegt sind. Führen sie geboten zur Tat, dann bringen sie jeweils ihr Quantum an Freude hervor. Der Tatenlosigkeit indes folgt mehr oder weniger Leid. Wem die entsprechenden Fähigkeiten im rechten Maß vergönnt sind, der gedeiht und vermehrt sich, wer schlecht ausgestattet ist, stirbt tendenziell aus. Der allgemeine Erfolg der menschlichen Verfasstheit wird in dem Umstand gesehen, dass sie zur Bevölkerung der Erde führte und die Entwicklung komplizierter Gerätschaften und Strukturen innerhalb der Gesellschaft möglich machte. Gleichwohl wird beklagt, dass es gewisse Hinsichten gebe, in denen dieser Antriebsapparat nur unvollkommen funktioniere. Einerseits gesteht man zu, dass er den Menschen gebührend dazu anhalte, sich selbst zu erhalten, sich Kleidung und Schutz zu verschaffen, zu heiraten und den Nachwuchs zu versorgen, und bedeutende wirtschaftliche und industrielle Einrichtungen auf die Beine zu stellen. Andererseits führt man an, dass es viele Desiderata gebe, wie z. B. reine Luft, mehr Wissen, sauberes Wasser, sicheres Reisen etc., die nicht in gebotener Weise erzielt würden. Weil diese Defizite als Dauermängel empfunden werden, sagt man, dass zusätzliche Mittel eingesetzt werden müssten. Man schlägt daher vor, dass aus der Masse der Menschen eine bestimmte Anzahl von ihnen, die den Gesetzgeber stellen, entsprechende Instruktionen erhalten sollten, damit diese zusätzlichen Ziele erreicht würden. Die so angewiesenen Gesetzgeber (deren Antriebsapparate in der Regel dieselben Mängel aufweisen wie die der anderen Menschen) sind zwar als Personen nicht in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen, müssen es aber in ihrer Eigenschaft als Stellvertreter, müssen Kommissionen ernennen, Vorstände, Beratungsgremien und Stäbe von Beamten. Und sie müssen Ihre Verwaltungsapparate aus eben jener mangelhaften Menschheit formen, die so schlecht handelt. Warum nur sollte dieses komplexe Stellvertretersystem glücken, wo doch schon das einfache Stellvertretersystem misslingt? Die Agenturen im Bereich der Industrie, Wirtschaft und Wohltätigkeit, welche die Bürger spontan bilden, sind direkte Stellvertretungsagenturen. Die staatlichen Agenturen, die mittels der Wahl von Gesetzgebern, die Beamte beauftragen, entstehen, sind hingegen indirekte Stellvertretungsagenturen. Man hofft, dass mithilfe dieses Prozesses doppelter Stellvertretung Dinge erreicht werden könnten, die der Prozess einfacher Stellvertretung nicht schafft. Worauf gründet diese Hoffnung? Vielleicht darauf, dass die Gesetzgeber und ihre Angestellten die Übel, die sie beseitigen sollen, und die Bedürfnisse, die sie befriedigen sollen, intensiver empfinden können als der Rest der Menschheit? Wohl kaum, denn dank ihrer Lage sind ihnen solche Übel und Bedürfnisse meistens fremd. Liegt es vielleicht daran, dass ihr primäres Motiv durch ein sekundäres ersetzt wird – die Angst vor dem öffentlichen Unmut, der sie letztlich das Amt kosten könnte? Eher nicht, weil die kleinen Vorteile, deren Bereitstellung die Bürger nicht auf direkte Weise organisieren werden, von ihnen auch nicht auf

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indirekte Weise organisiert werden, indem sie erfolglose Diener hinauswerfen; vor allem dann nicht, wenn sie nicht ohne weiteres bessere finden können. Liegt es womöglich daran, dass die staatlichen Vertreter aus einem Pflichtgefühl heraus tun, wofür sie sonst keinen Beweggrund hätten? Offenbar ist das die letzte verbleibende Möglichkeit. Die Annahme, auf die man als Befürworter von mehr Staat zurückgreifen muss, ist, dass ein Ding, das die Menschen nicht zusammenführt, damit diese es um des eigenen Vorteils willen erwirken, einen durch das Gesetz berufenen kleinen Teil der Menschen vereint, damit diese es zum Wohl aller anderen erwirken. Funktionäre und staatliche Vertreter lieben ihre Nachbarn mehr als sich selbst! Die Menschenliebe der Staatsmänner ist stärker als die Eigenliebe der Bürger! Kein Wunder also, dass jeder Tag die Liste der legislativen Fehlgeburten länger werden lässt. Wenn die Zahl der Explosionen in den Gruben ungeachtet der Bestellung von Bergwerksinspektoren zunimmt, dann als natürliche Folge dieser abwegigen Methoden. Wenn die Reeder von Sunderland sich darüber beschweren, dass das bis dahin umgesetzte „Handelsmarinegesetz sich als totaler Fehlschlag erwiesen hat“, und die davon betroffene Gegenseite – die Seeleute – ihren Unmut durch ausgedehnte Streiks bekundet, dann zeigt das nur, wie aberwitzig es ist, einem theoretischen Wohlwollen statt dem gelebten Selbstinteresse zu vertrauen. Derlei Sachverhalte können wir überall erwarten, und wir finden sie auch überall. Der Staat wird zum Ingenieur und bestellt seine Offiziere, die Abwasserkommission, um London zu entwässern. Momentan schickt Lambeth 2 Abordnungen, die sagen sollen, dass man hohe Abgaben zahle, ohne Gegenleistungen zu erhalten. Bethnal Green, der Warterei überdrüssig, beruft Versammlungen ein, um über „die wirksamsten Maßnahmen zur Ausweitung des Abwassersystems im Stadtteil“ zu beraten. Aus Wandsworth kommen Drohungen, man werde erst dann wieder zahlen, wenn etwas unternommen worden sei. In Camberwell will man einen Mitgliederbeitrag erheben und die Arbeit selbst erledigen. Derweil gibt es bei der Reinigung der Themse keinen Fortschritt. Anhand der wöchentlichen Meldungen sieht man, dass die Sterblichkeitsrate steigt. Im Parlament sind die Freunde der Kommission nichts willens, außer darauf zu drängen, dass die Kritik nachlässt. Und die verzweifelten Minister sind schließlich froh darüber, einen Grund zu haben, die Kommission mitsamt ihren Plänen still und leise auf Eis legen zu können. Als oberster Baumeister hat der Staat sich kaum besser hervorgetan, als er es als Ingenieur getan hat. Das städtische Baugesetz (Metropolitan Buildings’ Act) legt darüber beredtes Zeugnis ab. Von Zeit zu Zeit stürzen neue Häuser ein. Vor ein paar Monaten fielen in Bayswater zwei in sich zusammen, ein anderes neulich in der Nähe des Pentonville-Gefängnisses; selbstverständlich hatten alle die vorgeschriebene Mauerstärke, Bandeisenbindung und Inspektoren. Es kam jenen, die für diese trügerischen Sicherheiten zuständig waren, nie in den Sinn, dass es möglich war, die Wände auch ohne die Eisenbinder auf der Oberseite zu bauen, so dass man im Anschluss an die Bauabnahme des Inspektors die innere Steinlage entwenden 2  Lambeth ist, wie auch Bethnal Green, Wandsworth, Camberwell und Bayswater, ein Stadtteil von London, d. Hrsg.

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konnte. Sie sahen auch nicht voraus, dass sie, indem sie eine größere Quantität an Ziegelsteinen anordneten, als erfahrungsgemäß nötig war, schlicht und einfach sicherstellten, dass langsam eine Verschlechterung der Qualität im entsprechenden Ausmaß einsetzte. Die staatliche Garantie für sicherere Passagierschiffe steht der staatlichen Garantie für sicherere Häuser in nichts nach. Die Ursache für das Niederbrennen der Amazon mögen Konstruktionsmängel oder eine schlechte Verladung gewesen sein, jedenfalls hatte sie von der Admiralität ihr Zertifikat erhalten, bevor sie in See stach. Ungeachtet der staatlichen Freigabe merkte man auf der Jungfernfahrt der Adelaide, dass das Schiff schlecht zu steuern war und nutzlose Pumpen hatte. Die Türen ließen Unmengen von Wasser in die Kabinen eindringen, und die Kohlen lagen so nah an den Heizöfen, dass sie zweimal Feuer fingen. Die T.W. Lindsay, die sich als segeluntauglich erwies, hatte das Siegel des staatlichen Prüfers. Wäre sie aufs offene Meer hinausgefahren, dann hätte sie den Eigentümer wohl in Lebensgefahr gebracht. Die Melbourne – ursprünglich ein vom Staat gebautes Schiff und ordnungsgemäß inspiziert – brauchte 24 Tage, um Lissabon zu erreichen, und musste dort anlegen, weil sie eine komplette Überholung brauchte. Und dann, die berüchtigte Australian: Vor ihrem dritten vergeblichen Versuch, die große Reise anzutreten, hatte sie, wie uns ihre Eigner versichern, „vom staatlichen Inspektor die volle Approbation“ erhalten. Aber auch bei Reisen zu Land ist man trotz der entsprechenden Dienstaufsicht nicht sicher. Die Eisenbahnbrücke bei Chester, deren Zusammenbruch einen Zug in den Dee stürzen ließ, war zuvor von offizieller Seite genehmigt worden. Die Aufsicht verhinderte auch nicht, dass eine Säule der South-Eastern-Bahn so platziert war, dass sie einen Mann tötete, der seinen Kopf aus dem Abteilfenster streckte. Die Lokomotive, die kürzlich in Brighton explodierte, tat dies trotz der staatlichen Zulassung, die sie 10 Tage zuvor erhalten hatte. Insgesamt besehen, hat das besagte Aufsichtssystem die Zunahme an Eisenbahnunfällen nicht verhindert. Man sollte nicht vergessen, dass deren Zahl ab dem Moment gestiegen ist, als das System eingeführt wurde.

III. „Nun, lassen Sie den Staat doch scheitern. Er kann ja nicht mehr, als sein Bestes geben. Falls er Erfolg hat, umso besser. Falls nicht, wem schadet es? Es ist bestimmt klüger, zu handeln und seine Chance auf Erfolg zu wahren, als gar nichts zu tun.“ Auf diesen Einwand ist zu erwidern, dass die Resultate legislativer Interventionen dummerweise nicht nur im negativen Sinne schlecht sind, sondern oftmals auch im positiven Sinne. D. h., die Parlamentsbeschlüsse scheitern nicht nur, sondern machen die Dinge meistens auch schlimmer. Die uns allen vertraute Erkenntnis, dass die Verfolgung einer verbotenen Doktrin dieser eher hilft, als ihr zu schaden – eine Erkenntnis, die sich im Fall der verbotenen Schriften von Gervinus3 mal wieder bestätigt hat –, ist Teil der allgemeineren Erkenntnis, dass die Gesetzge3  Georg Gottfried Gervinus (1805 – 1971), neben den Brüdern Grimm, Friedrich Christoph Dahlmann u.a. einer der Göttinger Sieben, die 1837 gegen die Aufhebung der Verfas-

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bung oft auf indirektem Weg das Gegenteil von dem erreicht, was sie unmittelbar angestrebt hat. So war es z. B. im Fall des städtischen Baugesetzes (Metropolitan Buildings’ Act). Wie erst jüngst die Delegierten aller Londoner Gemeinden einhellig befanden und dies Sir William Molesworth vortrugen, hat dieses Gesetz zu „schlechtem Bauen ermuntert und war der Grund dafür, dass die Vorstädte der Metropole mit Tausenden von elenden Bruchbuden überzogen sind, die eine Schande für jedes zivilisierte Land darstellen.“ In den Städten der Provinz war es das Gleiche. Aufgrund des Nottinghamer Gebäudegesetzes von 1845, das die Bauweise für Neubauten sowie die Mindestgröße des Grundstückes einschließlich Garten vorschrieb, wurde es unmöglich, Arbeitersiedlungen zu Mietpreisen zu bauen, die mit jenen der bestehenden Häuser hätten konkurrieren können. Man schätzt, dass so 10. 000 der dort lebenden Menschen der Einzug in neuen Wohnraum verwehrt blieb, der ihnen anderenfalls zur Verfügung gestanden hätte. Stattdessen mussten sie dicht gedrängt auf engstem Raum in Gebäuden leben, der für menschliches Wohnen an sich ungeeignet ist. Und so bewirkte das Gesetz, das aus Sorge um die Handwerker denselben gesunden Wohnraum gewähren sollte, dass deren Wohnverhältnisse schlimmer wurden als je zuvor. Auch mit dem Fahrgastgesetz (Passengers’ Act) verhielt es sich so. Das schreckliche Fieber, das vor ein paar Monaten in den australischen Emigrantenschiffen wütete und dem in der Buorneuf 83, in der Wanota 39, in der Marco Polo 53 und in der Ticonderoga 104 Menschen zum Opfer fielen, brach in Schiffen aus, die vom Staat auf die Reise geschickt wurden, verursacht durch die Frachtdichte, die laut Fahrgastgesetz zulässig war. Außerdem gilt Gleiches für die Sicherheitsvorkehrungen, die das Handelsschiffsgesetz mit sich brachte. Die Prüfungen, die man ersann, um die Tüchtigkeit der Kapitäne zu testen, führten dazu, dass man den gewitzten und unerfahrenen Kandidaten die Zertifikate verlieh, die man, wie uns ein Reeder versicherte, vielen erfahrenen und vertrauenswürdigen Kapitänen versagte. Das führte im Ergebnis dazu, dass die Zahl der Schiffbrüche stieg. Ähnlich ging es bei den Gesundheitsbehörden zu, die in allerlei Fällen die zu beseitigenden Übel noch verschlimmerten. So kam es z. B. in Croydon4 im Rahmen der Maßnahmen, die die örtliche Gesundheitsbehörde ergriff, nach offiziellen Angaben zu einer Epidemie, die 1. 600 Personen befiel, von denen 70 starben. Gleiches lässt sich auch über das Gesetz zur Regis­ trierung von Aktiengesellschaften (Joint Stock Companies Registration Act) sagen. Wie Herr James Wilson in seinem Antrag auf Einsetzung eines Auswahlkomitees für die Vereinigung der Lebensversicherer ausführt, hat dieses Gesetz, das 1844 zum Schutz der Öffentlichkeit vor einer Versicherungsblase verabschiedet wurde, tatsächlich den Schweinereien in den Jahren ab 1845 den Weg geebnet. Gewitzte Abenteurer erfüllten selbst mit den wertlosesten Projekten problemlos die gesetzlichen Auflagen, die erdacht waren, um Echtheit zu garantieren, was die Menschen auch glaubten. Dank der Zulassung konnten sie ein Maß an öffentlichem Vertrauen sung des Königreichs Hannover aufbegehrten. Gervinus war Historiker und habilitierte 1830 mit einer Abhandlung über die Geschichte der Angelsachsen im Überblick, d. Hrsg. 4  Stadtteil von London, d. Hrsg.

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genießen, das sie sonst nie und nimmer gewonnen hätten. Auf diese Art wurden buchstäblich Hunderte von Scheinunternehmen ins Leben befördert, die sonst nie das Licht der Welt erblickt hätten. Das hat Tausende von Familien ruiniert, denen es ohne das Gesetz, das ihnen Sicherheit geben sollte, nie so ergangen wäre. Wenn diese aktuellen, von den Politikern eingesetzten Hausmittel die zu beseitigenden Übel schon nicht verschlimmern, dann sorgen sie zumindest für Kollateralschäden. Und die sind oft gravierender als die ursprünglichen Übel. Es ist das Verhängnis dieser Sorte von erfahrenen Politikern, dass sie nie über die nächstliegenden Ursachen und unmittelbaren Folgen hinausschauen. Wie die ungebildeten Massen auch, glauben sie in der Regel, dass es für jedes Phänomen ein Antezedens und ein Sukzedens gebe. Sie bedenken nicht, dass jedes Phänomen ein Glied in einer unendlichen Kette ist – das Ergebnis von Myriaden vorausgegangener Phänomene – und Anteil an der Erzeugung von Myriaden nachfolgender Phänomene hat. Sie übersehen dabei den Umstand, dass sie durch die Zerstörung der natürlichen Folgenkette nicht nur das Ergebnis der nächsten Folge verändern, sondern alle künftigen Ergebnisse, denen das Ergebnis als Teilursache dient. Die serielle Genese der Phänomene und die Interaktion aller Folgen untereinander bringen eine Komplexität zutage, die ganz und gar jenseits unserer Vorstellungskraft liegt. Das gilt auch für die einfachsten Fälle. Ein Diener, der Kohlen ins Feuer gibt, erkennt nur wenige Auswirkungen des brennenden Kohlehaufens. Der Wissenschaftler indes weiß, dass es sehr viele Effekte gibt. Er weiß, dass die Verbrennung zahllose atmosphärische Ströme erzeugt, die Tausende Kubikfuß Luft im Haus und draußen in Bewegung setzen. Er weiß, dass die sich verteilende Hitze bei allen Körpern in ihrer Umgebung Ausdehnung und anschließend Kontraktion verursacht. Er weiß, dass die der Hitze ausgesetzten Personen im Hinblick auf das Maß, in dem sie schwitzen und Handtücher brauchen, beeinflusst werden, und dass diese physiologischen Veränderungen ein paar sekundäre Effekte haben müssen. Er weiß, dass dann, wenn er deren weitverzweigten Konsequenzen auf die ausgelösten mechanischen, chemischen, thermalen und elektrischen Kräfte zurückverfolgen und alle Folgeeffekte der bewirkten Verdunstung, generierten Gase, des erzeugten Lichts und der ausgestrahlten Hitze angeben könnte, ein Buchband alleine kaum ausreichen würde, um alles aufzulisten. Wenn schon in einem einfachen Fall anorganischer Veränderung derart viele und komplexe Folgen auftreten, wie unendlich vielfältig und verstrickt müssen dann die ultimativen Folgen all jener Kräfte sein, die sich auf die Gesellschaft auswirken. So wunderbar der gesellschaftliche Organismus mit der mutuellen Abhängigkeit seiner Mitglieder zur Befriedigung ihrer Wünsche auch geschaffen ist und jedes seiner Teile von deren Mitgliedern hinsichtlich Sicherheit, Wohlstand, Gesundheit, Gemüt und Kultur beeinträchtigt wird, kann man unmöglich auf einen seiner Teile einwirken, ohne zugleich alle seine übrigen Teile in einer Weise zu beeinflussen, die unvorhersehbar ist. Man braucht nur eine Abgabe auf Papier zu erheben und schon hat man nach einer Weile über den Weg der beim Weben eingesetzten Jacquardkarten5 unvermeidbar Seidengewebe 5 

Jacquardkarten dienten zur Programmierung von Webstühlen, d. Hrsg.

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besteuert, manchmal sogar mit mehreren Schillingen pro Stück. Wenn man die Abgabe auf Backsteine streicht, dann entdeckt man plötzlich, dass ihre vorherige Existenz die Gefahr in den Bergwerken erhöht hat, weil sie davon abhielt, die Stollen doppelwandig zu bauen und die Schächte mit Tunneln zu versehen. Besteuert man die Seife, dann fördert man die Verwendung ätzenden Waschpulvers im großen Stil und bewirkt so unbeabsichtigt einen immensen Verschleiß an Kleidung. In jedem Fall stellt man nach sorgfältiger Untersuchung fest, dass man nicht nur auf dasjenige eine Wirkung nahm, das man beeinträchtigen wollte, sondern auch auf viele andere Dinge, die wiederum auf viele weitere Dinge sich auswirken. Und so hat man in jedwede Richtung eine Vielzahl an Veränderungen in Gang gesetzt. Wir dürfen uns dann nicht wundern, dass der Gesetzgeber in seinen Bestrebungen, spezifische Übel zu beseitigen, nach und nach Kollateralschaden verursacht, an den er nie gedacht hat. Selbst die weisesten Männer vom Format eines Carlyle6 oder eine Gruppe solcher Männer könnten sie nicht vermeiden. Auch wenn ihre Entstehung nach ihrem Auftreten hinlänglich erklärt werden kann, vorhergesehen wird sie nie. Als das neue Armenrecht Vorkehrungen zur Unterbringung von Landstreichern in Gewerkschaftsunterkünften7 schuf, nahm kaum einer an, dass man mengenweise Vagabunden ins Leben rufen würde, die ihre Zeit damit zubrachten, im ganzen Königreich von Gewerkschaftsunterkunft zu Gewerkschaftsunterkunft zu wandern. Jene, die zur Zeit unserer Väter beschlossen, dass die Pfarrei für illegitime Kinder aufkommen sollte, bedachten nicht, dass Familien mit solchen Kindern es zu einem bescheidenen Wohlstand bringen und deren Mütter zu begehrten Frauen werden würden. Dieselben Staatslenker sahen auch nicht, dass sie mit dem Siedlungsgesetz eine verheerende Ungleichheit unter den Löhnen in den Bezirken schaffen und den Abbruch von Hütten im großen Stil bewirken würden, was zur Überbelegung der Schlafstätten und zum Verfall der Sitten und der Gesundheit führte. Das englische Tonnagegesetz wurde seinerzeit in der Absicht eingesetzt, die Bemessungsart festzulegen. Seine Urheber übersahen dabei die Tatsache, dass sie so dafür sorgten, dass man „de facto gezwungen war, nur noch schlechte Schiffe zu bauen“ und dass es fortan für „den englischen Reeder das Höchste war, das Gesetz auszuhebeln, indem es ihm trotz desselben gelang, noch akzeptable Schiffe zu bauen.“ Das Gesetz für Personengesellschaften sollte für größere wirtschaftliche Sicherheit sorgen. In der unbegrenzten Haftung, die es zur Pflicht macht, liegt aber, wie wir nun merken, eine ernsthafte Bedrohung des Fortschritts. In der Praxis verbietet es die Vereinigung kleinerer Kapitalisten; es stellt sich als großes Hindernis für die Errichtung von Neubaugebieten heraus; es unterbindet ein besseres Verhältnis zwischen Handwerkern und Arbeitgebern; außerdem bremst es vorsorgliches Verhalten und ermuntert zur Trunksucht, indem es die Arbeiterklasse von einer guten Anlagemöglichkeit ihrer Ersparnisse abhält. Es gibt also überall gutgemeinte Maßnahmen, die unvorhergesehene Übel schaffen: ein Lizenzgesetz, 6 

Thomas Carlyle (1795 – 1880), bedeutender Schriftsteller und Historiker, d. Hrsg. Arbeiterhäuser wurden von den Gemeindeverbänden unterstützt. In Schottland nannte man sie „Kombinations-Armenhäuser“ („combination poorhouses“). 7  Die

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das die Fälschung von Bier fördert; eine Regelung für Freigängerscheine, die zur Begehung von Straftaten ermuntert; eine polizeiliche Anordnung, die Rumtreiber ins Armenhaus zwingt. Und dann gibt es neben den offensichtlichen und naheliegenden Übeln noch die entfernten und weniger gut erkennbaren Übel, die wir wohl für noch bedrohlicher halten würden, wenn wir das Ergebnis ihres Zusammenwirkens richtig einschätzen könnten.

IV. Worüber man reden muss, ist allerdings weniger, ob es einer Regierung, die ein gewisses Maß an Intelligenz besitzt, möglich ist, die verschiedenen Aufgaben, die ihr übertragen wurden, zu bewältigen, sondern, ob diese Bewältigung wahrscheinlich ist. Es ist weniger eine Frage des Könnens als des Wollens. Überlegen wir einmal, inwiefern wir auf eine zufriedenstellende Leistung hoffen dürfen, wenn wir dem Staat die absolute Macht überlassen. Schauen wir dazu auf die Antriebskraft, mit der die legislative Maschine in Gang gesetzt wird, und überlegen wir dann, ob diese Kraft dabei genauso wirksam zu Werke geht, wie sie es sonst täte. So wie irgendeine Art von Verlangen der unveränderliche Stimulus für das Handeln des Einzelnen ist, so muss offenkundig auch jede gesellschaftliche Instanz, ganz gleich welcher Natur, irgendein aggregiertes Verlangen als Antriebskraft haben. Die Menschen können in ihrer Eigenschaft als Kollektiv nichts bewirken, das nicht irgendeinem gemeinsamen Appetit, Empfinden oder Geschmack entspränge. Wenn sie kein Fleisch mögen würden, dann gäbe es keine Viehzüchter, kein Smithfield8, keine Fleischerinnung. Opernhäuser, Philharmonien, Gesangsbücher, Straßenchöre: sie alle verdanken ihre Existenz unserer Liebe zur Musik. Schauen Sie ins Handelsregister, nehmen Sie einen Stadtplan mit Londons Sehenswürdigkeiten zur Hand; studieren Sie das Verzeichnis im Zeitplan von Bradshaw;9 die Berichte der Gelehrtengesellschaften oder die Ankündigungen neuer Bücher: und schon entdecken Sie in der Publikation selbst und in den Dingen, die sie beschreibt, überall Produkte menschlicher Aktivitäten, die von menschlichen Sehnsüchten herrühren. Aus diesen Impulsen gehen gleichermaßen die größten und unbedeutendsten wie auch die kompliziertesten und schlichtesten Behörden hervor – das Verteidigungsministerium und das Straßenreinigungsamt; das Postverteilungszentrum und die Sammelstelle für Kohlestückchen aus dem Themseschlamm; Einrichtungen, die allen möglichen Zielen dienen: vom Predigen des Christentums bis hin zum Schutz misshandelter Tiere; von der Brotherstellung für ein ganzes Volk bis hin zur Bereitstellung von Kreuzkraut für die Singvögel in den Volieren. Die akkumulierten Bedürfnisse der Individuen sind also die Antriebskraft, die jeden gesellschaftlichen Verbund in Gang hält. Die Frage, die dabei im Raum steht, ist: Welche Form von Organisation ist die wirtschaftlichste? Die Einrichtung selbst hat keine eigene 8 

Sitz des großen Fleischmarkts in London, d. Hrsg. Bradshaw’s Guide, Standardwerk mit den Abfahrts- und Ankunftszeiten der britischen Eisenbahnen, d. Hrsg. 9 

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Kraft, sie dient nur als Werkzeug. Daher müssen wir fragen, welches Werkzeug am effizientesten ist; welches Werkzeug am günstigsten ist und am wenigsten Antriebskraft braucht; welches am verlässlichsten funktioniert und sich am schnellsten korrigiert, wenn es Fehler macht. Welcher der zwei oben erläuterten gesellschaftlichen Mechanismen ist der beste Mechanismus? Der spontane oder der staatliche? Die Form der Frage lässt bereits erkennen, wie die Antwort wohl lauten muss: Der beste Mechanismus ist der mit den wenigsten Teilen. Die Wahrheit, die in dem Sprichwort „Wenn Du willst, das etwas gut getan wird, dann musst Du es selbst machen“ steckt, gilt für das politische Leben genauso wie für das private Leben. Oft führt der Gutsverwalter das Gut mit Verlusten, während die Verpachtung eines Guts sich bezahlt macht. Diese Erfahrung spiegelt sich in der Geschichte eines Landes viel besser wider als in den Büchern des Gutsbesitzers. Die Machtübertragung vom Wahlkreis an die Abgeordneten im Parlament, von dort an die Exekutive, von dieser an ein Aufsichtsgremium, von diesem an die Kontrolleure, und von diesen an deren Untergebene bis hin zum eigentlichen Arbeiter: dieser Ablauf über mehrere Umlenkrollen, von denen jede aufgrund von Reibung und Schwerkraft einen Teil der Antriebskraft aufbraucht, eignet sich aufgrund seiner Komplexität in dem Maße schlecht, wie sich die direkte Verpflichtung von Individuen, privaten Unternehmen und spontan entstandenen Organisationen für gesellschaftliche Aufgaben aufgrund ihrer Simplizität gut eignet. Um den Gegensatz voll erfassen zu können, müssen wir die Wirkungsweisen der beiden Systeme im Detail vergleichen. Die Bürokratie ist in der Regel langsam. Wenn nicht-staatliche Einrichtungen saumselig sind, dann weiß die Öffentlichkeit Rat: Sie beendet das Auftragsverhältnis und sucht umgehend Ersatz. Solche disziplinarische Maßnahmen lehren die privaten Anbieter, pünktlich zu sein. Gegen den Schlendrian in den staat­lichen Einrichtungen gibt es jedoch nicht so ein einfaches Heilmittel. Lebenslange Verfahren vor dem Kanzleigericht müssen geduldig ertragen werden. Auf Museumskataloge muss man endlos lange warten. Während die Menschen selbst einen Kristallpalast innerhalb weniger Monate planen, bauen und bewohnen, braucht der Gesetzgeber 20 Jahre, um ein neues Gebäude für sich zu errichten. Während Privatpersonen jeden Tag die ausgetragenen Debatten drucken und in Windeseile über das ganze Land verteilen, erscheinen die Berichte der Handelskammer in der Regel erst nach einem Monat oder noch später. Und so ist es überall. Da wäre z. B. das Gesundheits­amt, das seit 1849 dabei ist, den städtischen Friedhof zu schließen, es aber immer noch nicht geschafft hat, und nun schon so lange seine Zeit mit Friedhofsprojekten vertrödelt hat, dass die Londoner Nekropolis Gesellschaft die Dinge in die Hand genommen hat. Da wäre z. B. auch der Patentanmelder, der 14 Jahre lang mit der Reitergarde korrespondieren musste, bis er eine definitive Antwort bezüglich der Verwendung seines verbesserten Armeestiefels erhielt. Oder da wäre der Hafenadmiral von Plymouth, der erst 10 Tage, nachdem die Amazon gesunken war, nach deren vermissten Booten suchen ließ. Wie gesagt, Bürokratie ist dumm. Lässt man den Dingen ihren natürlichen Lauf, dann tendiert jeder Bürger dazu, die Aufgabe zu übernehmen, für die er am besten

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geeignet ist. Jene, die ihre Kompetenz bei dem, was sie tun, unter Beweis stellen, haben Erfolg und kommen in den meisten Fällen entsprechend ihrer Effizienz voran. Die Gesellschaft merkt schnell, wer inkompetent ist, beendet das Arbeitsverhältnis zu ihm und zwingt ihn, einfachere Aufgaben zu übernehmen, bis er zu etwas zu gebrauchen ist. In staatlichen Einrichtungen laufen die Dinge andersherum. Hier bestimmen, wie jeder weiß, Geburt, Alter, Ränkespiele und Kriecherei, und nicht das Verdienst, über die Auswahl. Der „Depp der Familie“ findet einen Platz im Kirchendienst, wenn „die Familie“ gute Verbindungen hat. Der junge Mann, dessen Schulbildung für keinen ordentlichen Beruf taugt, taugt allemal zum Offizier in der Armee. Graues Haar oder ein Titel bringen einen bei der Marine weiter als eine geniale Begabung. Der begabte Mann merkt in der Tat oft, dass seine Überlegenheit ihm den Weg zu öffentlichen Ämtern versperrt, dass seine Vorgesetzten es hassen, wenn er sie mit seinen Verbesserungsvorschlägen behelligt, und sie sich durch die implizite Kritik angegriffen fühlen. Die legislative Maschinerie ist demnach nicht nur komplex, sondern auch noch aus drittklassigem Material. So lesen wir täglich über Pfusch hier und da: von Werften, denen untaugliches Bauholz aus den königlichen Wäldern geliefert wird; vom Abzug der Arbeiter von den Feldern zur Linderung der irischen Hungersnot, was die Folgeernte um ein Viertel schrumpfen ließ; von drei verschiedenen Ämtern, die Patente archivieren, wobei keines einen Index führt. Diese Schildbürgerstreiche findet man überall, von der kunstreich gescheiterten Belüftungsanlage im Unterhaus bis hin zur Herausgabe der London Gazette10, die nach wie vor falsch gefaltet aus der Druckerei kommt. Ein weiteres Merkmal der Bürokratie ist deren Extravaganz. In den wichtigsten Amtsstuben, dem des Militärs, der Marine und der Kirche, sind weit mehr Angestellte im Dienst, als nötig wären, wobei einige der überflüssigen Beamten exorbitant gut bezahlt werden. Wie wir durch Sir B. Hall wissen, liegen die Kosten für die von der Abwasserbehörde durchgeführten Arbeiten 300 bis 400 Prozent über den geschätzten Kosten, wobei der Anteil der Verwaltungskosten an den Gesamtausgaben erst 35, dann 40 und nun 45 Prozent beträgt. Die Kuratoren des Ramsgate Hafens11 – zu dessen Fertigstellung, nebenbei bemerkt, 100 Jahre nötig waren – geben pro Jahr £ 18. 000 für Dinge aus, die nachweislich für £ 5. 000 zu haben wären. Das Gesundheitsamt hat veranlasst, dass in allen Städten, die unter seine Aufsicht fallen, neue Erhebungen gemacht werden. Dabei ist dieses Unterfangen für Abwasserfragen, wie uns Herr Stephenson versichert und wie jeder frisch gebackene Ingenieur weiß, eine völlig unnütze Ausgabe. Diese öffentlichen Einrichtungen sind keineswegs dem Gebot der Effizienz unterstellt, wie private Unternehmen es sind. Kaufleute und Handelsgesellschaften haben dann Erfolg, wenn sie der Gesellschaft zu günstigen Konditionen dienen. Die, die das auf Dauer nicht können, werden durch jene ersetzt, die es können. Sie können der Nation nicht das Ergebnis ihrer Verschwendungssucht aufbürden. Das hält sie davon ab, verschwenderisch zu sein. Für Arbeiten, die einen Gewinn abwerfen sollen, kann man nicht 10  11 

The London Gazette, eines der drei offiziellen britischen Gesetzesblätter, d. Hrsg. Hafen im Südosten Englands, d. Hrsg.

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46 Prozent des Kapitals für Kontrollen aufwenden, wie es beim Verkehrsministerium der indischen Regierung der Fall ist. Die indischen Eisenbahngesellschaften wissen das und schaffen es, ihre Inspektionskosten unter 8 Prozent zu halten. Ein Kleinhändler würde nie so unachtsam mit einem Betrag umgehen, der jenen £ 6. 000. 000 aus den Staatseinnahmen entspricht, die das Parlament dem Fiskus einzutreiben erlaubt. Gehen Sie einmal durch eine Fabrik und Sie werden sehen, dass die strenge Regel „Sorgfalt oder Ruin“ einem vorschreibt, auf jeden Penny zu achten. Besuchen Sie dann einmal einen der staatlichen Häfen und Sie werden angesichts der allseitig eklatanten Verschwendung jedes Mal denken: „Hauptsache Väterchen Staat12 zahlt.“ Mangelnde Anpassungsfähigkeit gehört ebenfalls zu den Lastern der Bürokratie. Anders als ein Privatunternehmen, das seine Handlungen schnell umstellt, um auf Notfälle zu reagieren; anders als der Ladenbesitzer, der umgehend die Mittel findet, um eine plötzliche Nachfrage zu bedienen; anders als eine Eisenbahngesellschaft, die ihre Züge verdoppelt, um einem besonderen Ansturm an Fahrgästen zu begegnen, hält der staatliche Apparat betulich und unter allen Umständen an seiner vorgeschriebenen Routine und seinem gewohnten Rhythmus fest. Seine ureigene Natur macht ihn nur für durchschnittliche Situationen geeignet. Unter ungewohnten Anforderungen muss er notgedrungen scheitern. Auf der Straße begegnet man diesem Gegensatz auf Schritt und Tritt. Wenn es Sommer ist, dann sieht man die Wasserkarren ihre vorgeschriebenen Runden drehen, wie sie ohne Rücksicht auf die Wetteranforderungen des Tages die ohnehin schon feuchtsatten Straßen besprenkeln. Sind tags darauf die Straßen trocken und staubig, dann werden sie mit keinem Tropfen extra besprüht. Und im Winter? Die Zahl und Emsigkeit der Straßenkehrer ändert sich angesichts der Menge an Schmutz nicht. Kommt es plötzlich zu heftigen Schneefällen, dann kann man die Verkehrswege die ganze Woche über kaum oder nur unter größten Mühen nutzen; nicht mal im Herzen von London bemüht man sich um eine Notlösung. Der letzte Schneesturm führte den Gegensatz der beiden Organisationsformen wunderbar vor Augen, und zwar im Hinblick auf ihre jeweiligen Auswirkungen auf Busse und Kutschen. Die Omnibusse, die nicht einem gesetzlich fixierten Fahrtarif unterliegen, spannten ein weiteres Pferd ein und erhöhten die Fahrpreise. Die Kutscher, die im Gegensatz dazu aufgrund eines kurzsichtigen Parlamentsgesetzes, das solche Eventualfälle nicht bedacht hatte, nicht unbeschränkt berechnen dürfen, was sie wollen, legten die Arbeit nieder, verließen die Taxistände und Bahnhöfe und ließen die unglücklichen Reisenden mit ihrem Gepäck auf sich gestellt nach Hause stapfen, und wurden so just dann nutzlos, als man sie am meisten brauchte! Durch ihr mangelndes Gespür für Anpassung verursacht die Bürokratie jedoch nicht nur ernsthafte Unannehmlichkeiten, sondern auch große Ungerechtigkeiten. Im Falle der Kutschen führte die letzte Gesetzesänderung z. B dazu, dass alte Kutschen, die zuvor noch für £ 10 oder 12 Spencer verwendet den Begriff „Nunky“ und erklärt dazu in einer nicht nummerierten Fußnote, dass der Begriff eine Verniedlichung von Onkel sei, so wie bei „Uncle Sam“, d. Hrsg.

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£ 12 verkauft werden konnten, jetzt unverkäuflich sind und abgewrackt werden müssen. Auf diese Weise hat die Gesetzgebung die Kutschenbesitzer um einen Teil ihres Kapitals gebracht. Oder nehmen wir das Londoner Kaminschlotgesetz. Es gilt nur für bestimmte Regionen, was zur Folge hat, dass ein Hersteller besteuert wird, während sein Konkurrent, der eine Viertelmeile weiter weg produziert, von der Steuer befreit ist. Auf diese Weise, so wissen wir aus zuverlässiger Quelle, steht der eine gegenüber dem anderen jährlich um £ 1. 500 besser da: ein typisches Beispiel für die endlosen Schandtaten, die unterschiedlich hart ausfallen und den gesetzlichen Regulierungen notwendigerweise folgen. Umgeben von all den Apparaten aus toten, rigiden und mechanischen Formeln, kann die Gesellschaft, als lebender und wachsender Organismus, den Behinderungen und Beschädigungen nicht entrinnen. Die einzigen Einrichtungen, die ihr wirksam dienen können, sind solche, die jeden ihrer Pulsschläge mitbekommen und sich dann verändern, wenn auch sie sich verändert. Dass die Bürokratie unweigerlich korrupt wird, weiß ein jeder. Weil sie keinerlei Antiseptikum, wie dem des freien Wettbewerbs, ausgesetzt ist und ihre Existenz nicht, wie es bei den privaten, nicht abgesicherten Einrichtungen der Fall ist, von der Beibehaltung einer kraftvollen Vitalität abhängt, fallen alle per Gesetz beschlossenen Einrichtungen in einen Zustand der Trägheit und Überfütterung. Von dort bis zur Krankheit ist es nur ein kleiner Schritt. Die Gehälter fließen unabhängig vom Eifer, mit dem der Pflicht nachgegangen wird; fließen auch dann weiter, wenn die Pflicht endet; werden zur Auszeichnung für wohlgeborene Müßiggänger; und verleiten zu Meineid, Bestechung und Ämterhandel. Die Direktoren der East India13 wählt man nicht aufgrund irgendwelcher Verwaltungsfähigkeiten aus, die sie besäßen. Vielmehr kaufen sie sich ihre Stimmen durch vetternwirtschaftliche Zusagen, wobei die Vetternwirtschaft gleichermaßen gewünscht und gewährt wird, ungeachtet des Wohlstands von Hunderten von Millionen Menschen. Testamentsnotare verdienen nicht nur viele Tausende im Jahr für eine Arbeit, die ihre schlecht bezahlten Gehilfen zur Hälfte unerledigt liegen lassen. Manchmal unterschlagen sie auch die Einkünfte, und das trotz mehrfacher Verweise. Bei der Hafenverwaltung kommt man nicht durch effizientes Dienen voran, sondern durch politische Begünstigung. Um ihren üppigen Lebensstil wahren zu können, predigen Kirchenmänner das, woran sie nicht glauben. Bischöfe machen falsche Angaben zu ihren Einkünften, und wohlhabende Priester geloben bei ihrer Einwahl ins Kollegium hoch und heilig Armut, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Vom örtlichen Inspektor, der beim Anblick eines Geschenks ein Auge zudrückt, wenn der Auftragnehmer gegen die Regeln verstößt, bis hin zum Premierminister, der für seine Verwandten lukrative Anlegeplätze findet, zeigt sich diese Bestechlichkeit Tag für Tag – und das trotz öffentlicher Missbilligung und wiederholter Versuche, dergleichen zu unterbinden. Wie sagte doch ein hoher Staatsbeamter, der auf 25 Jahre Erfahrung zurückblickte, einmal so treffend: „Überall, wo es den Staat gibt, da gibt es auch Schurkereien.“ Es ist das unvermeidbare Ergebnis, wenn man die direkte Verbindung zwischen 13 

East India Company, ostindische Handelsgesellschaft, d. Hrsg.

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dem erzielten Profit und der geleisteten Arbeit kappt. Keine unfähige Person würde je hoffen, eine Dauerstellung in einem Handelsunternehmen zu bekommen, indem sie in der Times ein Bonbon anbietet. Wo aber, wie im Staat, es keinen Arbeitgeber gibt, dessen Selbstinteresse dagegenstünde, und wo die Festanstellung von jemandem vorgenommen wird, für den die Ineffizienz keinen persönlichen Verlust bedeutete, funktioniert so ein Bonbon sehr wohl. In Krankenhäusern, öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen, staatlichen Schulen, in allen gesellschaftlichen Einrichtungen, in denen die getane Pflicht und das bezogene Gehalt nicht Hand in Hand gehen, findet man ähnliche Fälle von Korruption, wobei diese umso größer ist, je geringer das Einkommen von der Pflicht abhängt. In staatlichen Einrichtungen ist die Korruption mithin unvermeidbar. In wirtschaftlichen Unternehmen gibt es sie kaum, und wenn doch, dann sorgt der Selbsterhaltungsinstinkt bald für Abhilfe. Zu allem, was im krassen Gegensatz zueinander steht, ist folgendes hinzufügen: Während private Körperschaften unternehmerisch und fortschrittlich sind, sind öffentliche Körperschaften einförmig, ja sogar hinderlich. Niemand erwartet, dass die Bürokratie erfinderisch ist. Kein Mensch nimmt an, dass sie von ihrer schlichten mechanischen Routine ablässt, um Verbesserungen einzuführen, und das unter Aufbietung großer geistiger und körperlicher Anstrengung und ohne Aussicht auf Profit. Aber die Bürokratie ist nicht nur einfach starr. Sie widersteht jeder Verbesserung ihrer selbst als auch dessen, womit sie befasst ist. Bislang haben die Bezirksgerichte an ihren Gebräuchen festgehalten und die Rechtsvertreter jeglicher Rechtsreform erbittert Widerstand geleistet. Die Universitäten halten seit Jahrhunderten am alten Curriculum fest, obgleich es schon lange nicht mehr passt, und setzen alles daran, eine drohende Umstrukturierung zu vermeiden. Jeder Verbesserung im Postwesen stand stets der Protest der höheren Postbeamten entgegen. Herr Whiston14 konnte ein Lied davon singen, wie hartnäckig der Konservatismus in den kirchlichen Grundschulen ist. Auch dann, wenn schwerstwiegende Konsequenzen zu befürchten sind, stellt man sich von offizieller Seite gegen Veränderungen. Man denke nur an die bereits erwähnte und von Professor Barlow 1820 in einem Bericht festgehaltene Tatsache, dass die von der Admiralität vorgehaltenen Kompasse „mindestens zur Hälfte nichts als Gerümpel sind.“ Obwohl seither das permanente Risiko eines Schiffbruchs stieg, „hat es offensichtlich diesbezüglich zwischen 1838 und 1840 nur geringfügige Maßnahmen zur Verbesserung der Lage gegeben.“ Selbst eine starke öffentliche Meinung kann der Zersetzung durch den Staat nichts anhaben. Man denke nur daran, dass seit Generationen 9 von 10 das kirchliche System, das die Drohnen in Watte wickelt und die Arbeiter darben lässt, ablehnen, es aber immer noch im Kern unverändert ist, obwohl man Kommissionen zu seiner Korrektur eingesetzt hat. Oder man denke daran, dass trotz einer erklecklichen Anzahl von Versuchen, die es seit 1818 gegeben hat, um die skandalöse Misswirtschaft der karitativen Fonds abzustellen, und obwohl in 10 14  Möglicherweise ist William Whiston (1667 – 1752) gemeint, ein englischer Physiker und Theologe, der sich öffentlich gegen die damals geltende Athanasische Trinitätslehre stellte und deswegen seiner Professur enthoben wurde, d. Hrsg.

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aufeinanderfolgenden Jahren 10-mal über Abhilfemaßnahmen im Parlament debattiert wurde, der Missstand in all seiner Ungeheuerlichkeit weiterhin besteht. Diese legalen Machenschaften trotzen nicht nur jeder internen Reform, sondern verhindern auch, dass es anderswo zu Reformen kommt. Zur Wahrung seiner persönlichen Interessen zögert der Klerus die Schließung der städtischen Friedhöfe hinaus. Wie Herr Lindsay belegen kann, kontrollieren staatliche Auswanderungsinspektoren den Gebrauch von Eisen für Segelschiffe. Zollbeamte verhindern Verbesserungen in jenen Bereichen, die in ihre Zuständigkeit fallen. Der organische Konservatismus, den man täglich im Verhalten des Menschen beobachten kann, ist ein Hemmnis, das im Privatleben durch das Selbstinteresse langsam überwunden wird. Die Aussicht auf Profit lehrt die Bauern letzten Endes, dass tiefe Entwässerungsgräben gut sind, auch wenn ihre Herstellung lange Zeit braucht. Und auch die Fabrikanten lernen schließlich, mit welcher Geschwindigkeit ihre Dampfmaschinen am wirtschaftlichsten arbeiten, auch wenn frühere Erfahrungen sie lange Zeit in die Irre führten. Aber im öffentlichen Dienst, in dem es kein Eigeninteresse zur Überwindung dieses Konservatismus gibt, entfaltet derselbe seine ganze Kraft und produziert entsprechend desaströse und absurde Ergebnisse. Auch nachdem die Buchhaltung schon seit vielen Generationen allseits verbreitet war, führte man die Konten beim Finanzamt immer noch mithilfe von Kerben, die man ins Holz schnitzte. In den Schätzkosten für das laufende Jahr taucht ein Posten für die „Pflege der Öl­lampen der Leibgarde“ auf. Vom Gesetz bestimmte Einrichtungen oder spontan entstehende Einrichtungen: was gibt es da noch zu überlegen? Die eine Sorte ist langsam, dumm, extrava­ gant, anpassungsunfähig, korrupt und obstruktiv. Kann irgendjemand Schwächen bei der anderen Sorte aufzeigen, die all das aufwiegen? Es stimmt, auch im Geschäftsleben gibt es Unaufrichtigkeit und sind manche Spekulationen töricht. Die bestehenden Unzulänglichkeiten der Menschheit bringen diese Missstände unvermeidlich mit sich. Es ist aber auch wahr, dass die staatlichen Funktionsträger diese menschlichen Unzulänglichkeiten teilen und dass sie sich zu weit schlimmeren Resultaten auswachsen, wenn sie nicht derselben unnachgiebigen Disziplin unterworfen werden. Weil die menschliche Rasse nun mal einen gewissen Hang zum Fehlverhalten hat, stellt sich die Frage, ob eine Gesellschaft aus solchen Menschen so organisiert werden soll, dass Fehlverhalten direkt zur Bestrafung führt, oder so, dass die Bestrafung nur sehr lose den Verfehlungen folgt. Welche Gesellschaft ist wohl die gesündeste: jene, in der die Funktionsträger, die ihre Aufgaben nur leidlich wahrnehmen, unmittelbar leiden, indem die Öffentlichkeit ihnen ihr Wohlwollen entzieht, oder jene, in der jene Funktionsträger allein unter einem System aus Tagungen, Petitionen, Wahlkabinen, Parlamentsausschüssen, Kabinettssitzungen und amtlichen Dokumenten leiden müssen? Ist es nicht eine absurde, utopische Hoffnung, dass der Mensch sich eher bessert, wenn die Verbesserung in weiter Ferne liegt und ungewiss ist, als dann, wenn sie in Reichweite liegt und unvermeidbar ist? Und dennoch ist das die Hoffnung, der die meisten politischen Planer unbewusst anhängen. Man lausche nur ihren Plänen, und schon bemerkt man, dass sie glauben, die Beauftragten würden genau das tun, was sie zu tun vorgeschlagen

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haben. Ihr erstes Postulat ist, dass man den Funktionsträgern trauen kann. Zweifellos würde vieles für die Bürokratie sprechen, wenn man sicherstellen könnte, dass die Beamten gut sind. Genau so würde vieles für die Despotie sprechen, wenn man die Gewähr hätte, dass der Despot gut ist. Wenn wir aber den Gegensatz zwischen den künstlichen und natürlichen Arten angemessen würdigen wollen, auf die man gesellschaftliche Desiderata herbeiführen kann, dann dürfen wir nicht nur die Laster der einen und die Tugenden der anderen betrachten. Von Letzteren gibt es viele und bedeutende. Man bedenke zunächst einmal, wie sehr jedes Privatunternehmen von seiner Nachfrage abhängt. Gäbe es keine Nachfrage nach ihm, dann könnte es unmöglich weiter bestehen. Täglich sprießen neue Geschäfte und Gesellschaften aus dem Boden. Wenn sie irgendeiner öffentlichen Nachfrage zweckdienlich sind, dann schlagen sie Wurzeln und gedeihen. Wenn sie es nicht tun, dann sterben sie an Entkräftung. Es braucht keine Agitation und kein Gesetz des Parlaments, um sie kaltzustellen. Wie bei allen natürlichen Einrichtungen gilt auch hier: wenn es keine Funktion für sie gibt, dann gibt es für sie auch keine Nahrungsgrundlage, und sie sterben ab. Abgesehen davon, dass die neuen Einrichtungen verschwinden, falls sie überflüssig sind, enden die alten, sobald sie ihre Arbeit getan haben. Anders als öffentliche Einrichtungen; anders als die Heroldsämter, die, nachdem die Wappen längst ihren Wert verloren haben, noch über Jahre hinaus bestehen; anders als die Kirchengerichte, die trotz ihrer Abscheulichkeit noch viele Generationen lang prächtig gedeihen, lösen sich die privaten Einrichtungen auf, sobald sie nutzlos geworden sind. Ein weitverzweigtes Kutschennetzwerk wird eingestellt, sobald ein effizienteres Eisenbahnnetz auf den Plan tritt. Aber es endet nicht einfach nur so und verschlingt seine Einlagen. Vielmehr wird ihm das Material, aus dem es bestand, entzogen und einer neuen Nutzung zugeführt. Die Kutscher, Wachmänner und alle anderen werden sonst wo angestellt, um dort profitablen Nutzen zu stiften. Sie bleiben nicht für weitere 20 Jahre eine Last, wie abgefundene Beamte einer staatlichen Behörde nach deren Schließung. Man bedenke dabei auch, dass diese nicht ordinierten Einrichtungen sich zwangsläufig ihrer Aufgabe anpassen. Alle organisierten Dinge folgen dem Gesetz, dass der Tüchtigkeit die Lehre vorausgeht. Es gilt nicht nur für den jungen Kaufmann, dass er damit anfängt, die Briefe zur Post zu bringen, dass der Weg zum erfolgreichen Wirt mit der Kellnerei beginnt. Und ist es nicht so, dass die Entwicklung des Geistes mit der Wahrnehmung der Identität und der Realität beginnt, und dann mit der der Zahlen; und dass ohne diese die Arithmetik, die Algebra und die Infinitesimalrechnung undurchführbar wären? Aber es stimmt auch, dass jeder Teil eines Organismus als einfache Form mit unbedeutenden Aufgaben beginnt und schrittweise durch komplexere Phasen zu seiner Endstufe heranreift. Jedes Herz ist zunächst nur ein pulsierender Beutel. Jedes Gehirn beginnt als kleine Vergrößerung des Rückenmarks. Dieses Gesetz gilt in gleicher Weise für den gesellschaftlichen Organismus. Eine gut funktionierende Einrichtung muss nicht von Gesetzgebern entworfen und kurzerhand zusammengefügt sein, sondern muss Schritt für Schritt aus einem Keim heraus wachsen. Jede folgende Ergänzung muss ausprobiert und durch Erfahrung für gut befunden werden, bevor eine

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andere Ergänzung vorgenommen wird. Nur durch diesen Prozess des Vorantastens kann eine effiziente Einrichtung geschaffen werden. Aus einem vertrauenswürdigen Mann, dem Geldeinlagen anvertraut werden, entsteht so unbemerkt ein großes Banksystem mit Banknoten, Schecks, Wechsel, komplexen Transaktionen und Verrechnungsstellen. Zuerst Packesel, dann Planwagen, Kutschen, Dampfzüge auf gewöhnlichen Straßen und schließlich Dampfzüge auf eigens verlegten Schienen: so entstanden langsam unsere modernen Verkehrsmittel. Im ganzen Handelsregister gibt es nur Branchen, deren Gesamtheit aus Herstellern, Maklern, Handelsreisenden und Einzelhändlern sich schrittweise herausgebildet hat, so dass man jeden dieser einzelnen Schritte zurückverfolgen kann. Mit den Einrichtungen in anderen Bereichen sieht es genauso aus. Die Zoologischen Gärten nahmen ihren Anfang als Privatsammlungen einiger weniger Naturalisten. Die beste aller Arbeiterschulen, von der wir wissen – nämlich die nahe der Price-Fabrik –, begann mit einem halben Dutzend Jungen, die stundenlang inmitten von Kerzenkisten saßen und sich selbst mit abgenutzten Stiften das Schreiben beibrachten. Man bedenke auch, dass diese spontan entstandenen Einrichtungen, als Folge ihrer Art zu wachsen, jedes erforderliche Ausmaß annehmen konnten. Derselbe Stimulus, der ihnen das Leben eingehaucht hat, lässt sie auch ihre Verzweigungen dorthin wuchern, wo sie gebraucht werden. Aber bei staatlichen Einrichtungen folgt das Angebot der Nachfrage nicht so flugs. Bestellen Sie einen Vorstand, stellen Sie das Personal ein und legen Sie deren Gehälter fest. Dann lassen sie dem ganzen Apparat ein bis zwei Generationen Zeit, um sich zu festigen. Aber auch dann wird man keine großen Leistungen erwarten dürfen, ohne dass ein Parlamentsbeschluss ergeht, der allerdings nur mit viel Mühe und mit gehöriger Verzögerung zustande kommt. Hätten wir hier mehr Raum, dann wäre noch vieles zur Überlegenheit der exogenen Ordnung über die endogene Ordnung zu sagen, um es in der Sprache der Naturalisten auszudrücken. Was den Gegensatz zwischen den jeweiligen Eigenschaften angeht, so ist vieles aus dem bereits angedeuteten Blickwinkel heraus sichtbar. Da wäre z. B. die Tatsache, dass die eine Ordnung von Maßnahmen stets scheitert, die Lage verschlimmert und mehr Übel schafft, als sie beseitigt, während die andere Ordnung von Maßnahmen immer Erfolg hat und stets besser wird. So kraftvoll staatliche Agenturen zu Beginn auch wirken mögen, so sehr enttäuschen sie überall und jedermann. Und so mickrig die privaten Anstrengungen zu Beginn auch ausschauen mögen, so sehr versetzen ihre Ergebnisse die Welt Tag für Tag in Erstaunen. Nicht, dass nur Aktiengesellschaften so viel auszurichten vermögen; nicht nur, dass sie nicht mehr Zeit brauchen, um ein ganzes Königreich mit einem Eisenbahnnetz zu überziehen, als die Admiralität, um ein Schiff mit 100 Kanonen zu bauen. Manche Individuen schaffen es sogar alleine, öffentliche Einrichtungen in den Schatten zu stellen. Hier wird gern ein Beispiel angeführt, das ganz für sich alleine steht, nämlich der Kontrast zwischen dem französischen Diction­naire, an dem die 40 Mitglieder der französischen Akademie 56 Jahre saßen, um es zu erstellen, während Dr. Johnson ganz allein das englische Gegenstück in nur 8 Jahren schuf – wobei der Gegensatz auch dann noch deutlich für sich

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spricht, wenn man Unterschiede in den jeweiligen Werken in Rechnung stellt. Die große Hygieneaufgabe – die Umlenkung des Neuen Flusses nach London –, an der die reichste Aktiengesellschaft der Welt sich erfolglos versucht hat, bewältigte Sir Hugh Myddleton15 ganz allein. Der erste Kanalbau in England – ein Projekt, von dem man meinen könnte, dass der Staat der passende Verantwortliche und der einzige kompetente Ausführer wäre – wurde als privates Unternehmen eines Mannes, des Duke of Bridgewater, begonnen und zu Ende gebracht.16 William Smith brachte ohne jegliche Hilfe eine große Errungenschaft zustande: die geologische Karte von Großbritannien. Am Artillerieverzeichnis – ein in der Tat sehr genaues und ausführliches Werk – arbeitet man indes schon seit zwei Generationen, und es wird noch eine weitere brauchen, bis es abgeschlossen ist. Howard17 und die Gefängnisse in Europa, Bianconi18 und das Reisen in Irland, Waghorn19 und die Overland Route, Dargan 20 und die Dublin Exhibition: bieten sie nicht Gegenbeispiele, die wachrütteln? Während private Ehrenmänner, wie Herr Denison, musterhaft Mietshäuser errichten, in denen die Sterberate weit unter dem Durchschnitt liegt, baut der Staat Baracken, in denen die Zahl der Todesfälle überdurchschnittlich hoch ist, auch bei der von allen so bemitleideten Stadtbevölkerung. Obwohl in diesen Baracken nur ausgewählte Personen unter ärztlicher Überwachung leben, liegt deren Mortalitätsrate pro tausend Personen bei 13,6, 17,9 und teils sogar bei 20,4. Während der Staat in Parkhurst riesige Summen für Bestrebungen aufgewendet hat, jugendliche Kriminelle zu bessern, die aber nicht verbessert wurden, nimmt Herr Ellis 15 der übelsten jungen Diebe Londons – die laut Londoner Polizei unbelehrbar sind – unter seine Fittiche und macht aus allen bessere Menschen. Neben der Emigrationsbehörde, unter deren Obhut Hunderte infolge von Fieber oder Leben auf zu engem Raum sterben und mit deren Genehmigung Dampfschiffe wie die Washington in See stechen, auf der Betrug, Brutalität, Tyrannei und Obszönität zuhause sind, steht Frau Chisholms Gesellschaft, die Kredite an Siedlerfamilien vergibt (Family Colonization Loan Society) und nicht für schlechtere, sondern für bessere Unterbringung denn je sorgt; die nicht durch leichtfertiges Zusammenlegen von Männlein und Weiblein Verderbtheit fördert, sondern die Leute durch 15  Hugh Myddleton (1560 – 1631) war die treibende Kraft hinter dem Kanalbau New River, der seit seiner Vollendung 1613 Frischwasser des Flusses Lea nach London führt, d. Hrsg. 16 Der Bridgewaterkanal, eröffnet 1761, verbindet Runcorn und Manchester. Er wurde von Francis Egerton, 3. Duke of Bridgewater (1736 – 1803), finanziert und erbaut, d. Hrsg. 17  John Howard (1726 – 1790), englischer Gefängnisreformer, d. Hrsg. 18  Charles Bianconi (1786 – 1875) gründete den öffentlichen Personenverkehr in Irland, d. Hrsg. 19  Thomas Fletcher Waghorn (1800 – 1850) war der Begründer der Overland Route, die Großbritannien mit Afrika und Asien verband, wobei große Teile der Wegstrecke über Land führten, d. Hrsg. 20  William Dargan (1799 – 1867) war nicht nur der Gründer des irischen Eisenbahnnetzes, sondern auch Initiator der großen Dublin Exhibition von 1853, aus der später die Dubliner National Gallery hervorging, d. Hrsg.

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sanfte Disziplin bessert; die nicht durch Almosen arm macht, sondern zur Vorsorge ermuntert; die nicht unsere Steuern erhöht, sondern sich selbst trägt. Hier können die Freunde der Gesetzgebung etwas lernen. Der Staat, überboten von einem gewöhnlichen Schumacher! Der Staat, geschlagen von einer Frau! Der Gegensatz zwischen den Resultaten staatlichen und privaten Handelns wird noch stärker sichtbar, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die einen ständig durch die anderen erkämpft werden; auch dort, wo die Dinge gezwungenermaßen an den Privaten hängenbleiben. Das reicht von den Ressorts für Militär und Marine, in denen vieles von Auftragnehmern erledigt wird, und nicht von den Männern, die staatliche Gehälter beziehen, über die Kirche, die ständig durch freiwilligen Einsatz, und nicht per Gesetz größer wird, bis hin zu den Universitäten, wo effiziente Lehre nicht durch das berufene Lehrpersonal erfolgt, sondern durch private Tutoren. Aber schauen wir auf die Art und Weise, in der unser Rechtssystem funktioniert. Die Anwälte erklären uns ständig, dass Kodifikation unmöglich sei. Einige sind schlicht genug, ihnen zu glauben. Nebenbei bemerkt, das, was die Regierung mit all ihren Angestellten in Bezug auf die Gesetze des Parlaments prinzipiell nicht tun kann, konnte 1825 in Bezug auf 1. 500 Zollgesetze durch die Energie eines einzigen Mannes bewältigt werden, die von Herrn Deacon Hume21. Schauen wir nun, wie die Abwesenheit eines durchdachten Rechtssystems wettgemacht wird. Um sich auf das Gericht und schließlich auf die Richterbank vorzubereiten, müssen die Jurastudenten im Verlauf ihres Studiums sich mit jener riesigen Menge an ungeordneter Gesetzgebung vertraut machen, deren Strukturierung vom Staat angeblich nicht geleistet werden kann, jedem Studenten aber angeblich möglich sein soll. (Wie sarkastisch vom Staat!) Jeder Richter kann privat kodifizieren, aber die „vereinte Weisheit“ kann es nicht. Aber wie wird ein Richter in die Lage versetzt, zu kodifizieren? Durch private Unternehmen von Männern, die ihm den Weg bereitet haben; durch die partiellen Kodifikationen von Blackstone, Coke22 und anderen; durch die Gesetzessammlungen zum Personengesellschaftsrecht, Konkursrecht, Patentrecht, zu frauenbezogenen Gesetzen, und zum Rest dessen, was Tag für Tag der Presse entsteigt: Kurzfassungen von Fällen und Berichtbände – allesamt nichtamtliche Erzeugnisse. Man wische all diese ausschnitthaften, von Individuen vorgelegten Kodifikationen vom Tisch und der Staat wäre gegenüber seinen eigenen Gesetzen völlig ignorant! Wenn nicht private Unternehmungen den Pfusch der Gesetzgeber wettgemacht hätten, dann wäre die Verwaltung des Rechts unmöglich! Wo liegt dann also die Zuversicht in die andauernd geforderte Ausdehnung legislativen Handelns? Wenn staatliche Maßnahmen – in einer großen Fülle von Fällen, wie wir gesehen haben – nicht die gewünschten Übel beseitigen; wenn sie – wie in einer anderen großen Anzahl von Fällen – diese Übel verschlimmern, 21  Deacon Hume (1774 – 1842), ein hoher Zollbeamter und Befürworter des Freihandels, reduzierte in nur drei Jahren (1823 – 25) 1. 500 Zollstatuten auf 10, d. Hrsg. 22  Gemeint sind die Gesetzeskommentare von William Blackstone (1723 – 1780) und Edward Coke (1552 – 1634).

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statt sie abzustellen; und wenn sie – wie in einer dritten großen Gruppe von Fällen – zwar einige Übel lindern, aber dabei neue, oft größere Missstände heraufbeschwören; falls – wie wir schließlich sahen – öffentliches Handeln andauernd von privatem Handeln an Effizienz überboten wird; und falls – wie eben gezeigt – privates Handeln verpflichtend gemacht wird, um die Unzulänglichkeiten öffentlichen Handelns auszugleichen – u.a. damit der Staat seine Vitalfunktionen aufrechterhalten kann –, aus welchem Grund sollte man sich dann mehr öffentliche Verwaltung wünschen? Die Fürsprecher solcher Wünsche mögen sich auf die Philanthropie berufen, aber nicht auf die Weisheit; es sei denn, die Weisheit würde sich in der Missachtung der Erfahrung zeigen.

V. „Dieses Argument geht größtenteils an der Sache vorbei“, würde der Einspruch unserer Widersacher lauten. „In Wahrheit geht es doch nicht darum, ob Einzelne oder Unternehmen dem Staat überlegen sind, wenn sie zu ihm in Konkurrenz treten, sondern ob es nicht bestimmte gesellschaftliche Bedürfnisse gibt, die nur der Staat befriedigen kann. Auch wenn man zugesteht, dass private Unternehmen vieles tun und auch gut tun, so drängen sich uns doch täglich Desiderata auf, die sie nicht erfüllt haben und nicht erfüllen. In diesen Fällen offenbaren sie ihr Unvermögen, und es obliegt dem Staat, diese Mängel auszugleichen. Und wenn er dies tut, dann vielleicht nicht gut, aber doch so gut, wie er kann.“ Ohne auf die bereits genannten, zahlreichen Erfahrungen zurückzugreifen, die zeigen, dass der Staat eher mehr Schaden anrichtet, als er Gutes tut, wenn er obiges versucht; und ohne auf der Tatsache herumzureiten, dass in den meisten der gemutmaßten Fälle man schlüssig zeigen kann, dass die offenbare Unzulänglichkeit der Privatwirtschaft ein Resultat vorheriger Staatseingriffe ist, wollen wir uns mit der Behauptung selbst befassen. Es hätte an sich keines Handelsmarinegesetzes bedurft, um der Seeuntauglichkeit von Schiffen und der Misshandlung von Seemännern vorzubeugen, hätte es erst gar keine Navigationsgesetze gegeben, die eben jene verursacht haben. Würde man alle ähnlich gelagerten Missstände und Defizite, die direkt oder indirekt vom Gesetz verursacht werden, hier von der Betrachtung ausschließen, dann würde der oben eingelegte Einspruch wahrscheinlich dennoch nur auf einer sehr dünnen Grundlage stehen. Aber einmal angenommen, alle künstlichen Hindernisse wären beseitigt und es würden immer noch viele Wünsche offenbleiben, ohne dass erkennbar wäre, wie sie durch spontane Bemühungen erfüllt werden könnten. Wie gesagt, all das wollen wir einmal als gegeben annehmen. Nun können wir die Frage nach der Angemessenheit legislativer Handlungen richtig stellen. Der besagte Einspruch beruht allerdings auf der unhaltbaren Annahme, dass die gesellschaftlichen Einrichtungen auch weiterhin so agieren würden, wie sie es jetzt tun, und keine anderen Resultate produzieren würden, als jene, die wahrscheinlich sind. Die Vertreter dieser Geistestradition pflegen einen begrenzten menschlichen

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Verstand Phänomene erfassen zu lassen, die zu begreifen einen allwissenden Geist erfordert. Wessen Zustandekommen er nicht erfasst, von dem glaubt er nicht, dass er stattfindet. Obwohl die Gesellschaft von Generation zu Generation unvorhergesehene Entwicklungen mitgemacht hat, gibt es in der Praxis keinen Glauben an unvorhergesehene Entwicklungen in der Zukunft. Die Parlamentsdebatten spiegeln ein aufwändiges Balancieren von Wahrscheinlichkeiten wider, wobei als Daten die Dinge herhalten, wie sie sind. Gleichwohl fügt jeder Tag den Dingen, wie sie sind, neue Elemente hinzu, und offenkundig treten unentwegt unwahrscheinliche Ergebnisse ein. Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass ein Flüchtling vom Leicester Square alsbald Kaiser von Frankreich werden würde.23 Wer hielt von seinem Gutsherrenamtssitz aus Ausschau nach Freihandel?24 Wer hätte sich je erträumt, dass die irische Bevölkerung sich spontan selbst kurieren würde, so, wie sie es momentan tut? Was die bisherigen gesellschaftlichen Veränderungen angeht, die ähnlich verlaufen sind, so gilt, dass sie für gewöhnlich auf eine Art entstehen, die dem gesunden Menschenverstand ungewöhnlich vorkommt. Ein Friseurladen erschien damals nicht als die geeignete Keimzelle der Baumwollmanufaktur.25 Niemand erwartete, dass bedeutende landwirtschaftliche Verbesserungen von einem Kaufmann aus der Leadenhall Street kommen würden.26 Ein Bauer wäre der letzte Mensch gewesen, dem man zugetraut hätte, die Bedeutung des Schraubenantriebs für Dampfschiffe zu erkennen.27 Die Erfindung eines neuen Architekturstils hätte man wohl von jedem erhofft, außer von einem Gärtner.28 Obwohl die meisten der unerwarteten Veränderungen tag täglich auf den seltsamsten Wegen daherkommen, geht die Gesetzgebung jeden Tag davon aus, dass die Dinge sich so entwickeln werden, wie es der Mensch in seiner Vorausschau mutmaßt. In der abgedroschenen Redensart „Was 23 

Die Annahme liegt nahe, dass Spencer auf Napoleon III. anspielt, d. Hrsg. eine Anspielung auf Robert Peel (1788 – 1850), der, ungewöhnlich für einen begüterten Tory, als britischer Premierminister den Freihandel wiederbelebte, indem er die Abschaffung der Getreidezollgesetze (Corn Laws) durchsetzte – eine Maßnahme, die ihn letztlich das Amt kostete, d. Hrsg. 25 Spencer spielt hier vermutlich auf Richard Arkwright (1732 – 1792) an, den Erfinder des ersten wasserbetriebenen Spinnrads. Arkwright war zunächst Barbier und avancierte später zu einem erfolgreichen Großindustriellen der Textilbranche. Vgl. auch Fishwick (1894), S. 265, d. Hrsg. 26  Die Beschreibung passt auf John Joseph Mechi (1802 – 1880), der zunächst Scheren in der Londoner Leadenhall Street verkaufte, bevor er sich der Landwirtschaft zuwandte und mit Verbesserungen der Anbaumethoden europaweit von sich hören machte. Zu diesem Thema verfasste er zahlreiche kleinere Schriften, darunter How to Farm Profitably (1857). Vgl. dazu Boase (o.J.), S. 200, d. Hrsg. 27  Gemeint ist wohl Francis Pettit Smith (1808 – 1874), der Erfinder des Schraubenantriebs, den er auf dem Teich seiner Farm in Hendon testete und 1836 zum Patent anmeldete, d. Hrsg. 28 Spencer könnte Horace Walpole (1717 – 1797) gemeint haben, der vielen als Gründer des englischen Landschaftsgartens gilt und durch die Umwandlung seines Landhauses Strawberry Hill in ein Schloss die Neogotik in England einführte, d. Hrsg. 24  Vermutlich

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hätten unsere Vorväter wohl dazu gesagt“ zeigt sich zwar die wiederholt gewonnene Erkenntnis, dass wunderbare Resultate oft auf gänzlich unvorhergesehene Weise erzielt werden. Dennoch scheint niemand daran zu glauben, dass dies künftig erneut der Fall sein wird. Wäre es nicht klug, der Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse in unserer Politik Rechnung zu tragen? Wäre es nicht rational zu schließen, dass es in Zukunft auch so sein wird, wie es in der Vergangenheit war? Wie auch immer, der starke Glaube an staatliche Einrichtungen geht mit einer äußerst geringen Zuversicht in natürliche Einrichtungen einher (die das Gegenstück zu den staatlichen Einrichtungen bilden), sodass trotz der Erfahrungen in der Vergangenheit viele es für absurd halten, davon überzeugt zu sein, dass bestehende gesellschaftliche Bedürfnisse spontan befriedigt werden, obwohl wir noch nicht sagen können, wie das geschehen wird. Nichtsdestotrotz spielen sich unmittelbar vor unseren Augen illustre Beispiele genau zu diesem Phänomen ab. Denken wir nur an das nahezu unglaubliche Phänomen, das wir kürzlich in den Bezirken Mittelenglands erleben durften. Jedermann kennt die Not der Strumpfhersteller. Seit ein, zwei Generationen gibt es dieses chronische Elend schon. Wiederholt hat man mit Petitionen das Parlament angefleht, Abhilfe zu schaffen, und die Gesetzgeber haben mehrere Anläufe genommen, doch immer ohne Erfolg. Die missliche Lage schien unabwendbar. Dann aber wurde vor zwei, drei Jahren die Rundstrickmaschine eingeführt. Diese Maschine überflügelt den alten Strumpfwirkerstuhl an Produktivität um Längen, kann aber nur die Beinteile, nicht die Fußteile des Strumpfes herstellen. Diese neue Maschine versetzte die Handwerker in Leicester und Nottingham zweifelsohne in höchste Alarmbereitschaft, sah es doch so aus, als ob sie deren Elend noch vergrößern würde. Aber das Gegenteil trat ein, die Armut verschwand völlig. Durch die günstigere Produktion wuchs der Konsum jedoch derart an, dass die alten Strumpfwirkerstühle, von denen es zuvor für die damals halb so große Produktion zu viele gab, jetzt allesamt im Einsatz sind, um die Fußteile zu jenen Beinteilen zu fertigen, die von den neuen Maschinen produziert werden. Wie verrückt wäre einem derjenige vorgekommen, der von einer solchen Ursache Abhilfe erwartet hätte? Wenn wir von der unvorhergesehenen Beseitigung von Übeln zu den unvorhergesehenen Erfolgen bei Erwünschtem übergehen, dann finden wir dort ähnliche Fälle. Niemand erkannte, dass in Oersteds29 elektromagnetischer Entdeckung der Schlüssel für eine neue Methode lag, Kriminelle aufzuspüren und den Handel zu erleichtern. Niemand erwartete, dass die Eisenbahnen zum Werkzeug für die Verteilung von Trivialliteratur werden würden, was sie inzwischen sind. Als die Kunstgesellschaft begann, eine internationale Herstellerausstellung im Hyde Park zu planen, ahnte niemand, dass am Ende ein beliebtes Naherholungs- und Kulturzentrum in Sydenham das Ergebnis sein würde. Aber es gibt noch eine tieferreichende Antwort auf die Appelle ungeduldiger Philanthropen. Es ist nicht nur, dass man der gesellschaftlichen Vitalität zutrauen 29  Hans Christian Ørsted (1777 – 1851), dänischer Physiker und Chemiker, der die mag­ netische Wirkung des elektrischen Stroms entdeckte und damit die Voraussetzung für die Entwicklung von Telegraphie, Suchscheinwerfern und Elektromotoren schuf, d. Hrsg.

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muss, dass sie nach einer Weile auf ruhige und spontane Art jene Wünsche erfüllt, die überzogen stark geäußert werden; es ist nicht nur, dass diese Wünsche, wenn sie natürlich erfüllt werden, effizient verwirklicht werden, statt stümperhaft, wie bei künstlichen Versuchen; es ist vielmehr, dass sie – sollten sie nicht natürlich erfüllt werden – überhaupt nicht erfüllt werden sollten. Für manche mag das ein überraschendes Paradox sein, aber es ist, wie wir nun zeigen zu können glauben, eines, das berechtigt ist. An anderer Stelle haben wir darauf hingewiesen, dass jene Kraft, die jeden sozialen Mechanismus schafft – sei es im Staat, in der Wirtschaft oder sonst wo –, aus der Ansammlung persönlicher Begierden besteht. So, wie es keine individuellen Handlungen ohne Verlangen geben kann, so kann es, das sagten wir, auch keine gesellschaftliche Handlung ohne Ansammlung von Begierden geben. Dem ist an dieser Stelle hinzuzufügen, dass hier für das Individuum wie für die Gesellschaft das gleiche allgemeine Gesetz gilt: die höherrangigen Begierden – die den wesentlichen Funktionen entsprechen – sind zuerst zu befriedigen, und wenn es sein muss, dann auch auf Kosten der schwächeren und nicht so bedeutenden Begierden. Dementsprechend gilt für die Gesellschaft, dass man in der natürlichen Ordnung der Dinge den Haupterfordernissen des gesellschaftlichen Lebens – jenen, welche für die Existenz der Bevölkerung und deren Vermehrung notwendig sind – entsprechen muss, bevor man sich den weniger dringlichen Erfordernissen zuwendet. So wie der Privatmann sich zunächst selbst mit Essen versorgt, dann mit Kleidung und einer Behausung, und wenn dies sichergestellt ist, sich eine Frau nimmt und, sofern er es sich leisten kann, seine Räume mit Teppichen auslegt, ein Piano und Wein anschafft, Diener einstellt und Abendgesellschaften gibt, so gibt es in sich entwickelnden Gesellschaften zuerst Zusammenschlüsse zur Verteidigung gegen Feinde und zum Streben nach Gewinn. Nach einer Weile gibt es dann politische Arrangements, soweit dies zur Aufrechterhaltung dieser Zusammenschlüsse notwendig ist. Danach, im Zuge der Nachfrage nach Essen, Kleidung und Behausung, entsteht die Arbeitsteilung. Und nachdem für die Befriedigung der animalischen Bedürfnisse gesorgt ist, wachsen langsam Literatur, Wissenschaft und Kunst. Ist es nicht offensichtlich, dass diese schrittweisen Entwicklungen in der Reihenfolge ihrer Bedeutung einsetzen müssen, als wäre es ein Gesetz des Individuums, dass die stärksten Verlangen den wichtigsten Handlungen entsprechen? Ist es eigentlich nicht offenkundig, dass die Ordnung der relativen Bedeutung in den gesellschaftlichen Handlungen einheitlicher eingehalten wird als in den individuellen Handlungen, wobei auffällt, dass die persönlichen Eigenarten, die diese Ordnung im letzten Fall stören, im ersten Fall anteilsmäßig verteilt sind? Wer dies nicht erkennt, der sollte ein Buch, welches das Leben der Goldgräber beschreibt, zur Hand nehmen. Dort wird er den ganzen Prozess im Kleinen veranschaulicht finden. Er wird lesen, dass es lohnender ist, einen Laden zu haben, als nach Gold zu graben, weil die Goldgräber, die ja essen müssen, gezwungen sind, die Lebensmittelpreise zu bezahlen. Und weil die Ladeninhaber Nachschub brauchen, müssen sie große Summen für die Anlieferung aus der nächsten Stadt aufwenden. Einige Männer, die rasch begreifen, dass sie dadurch reich werden

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können, machen das Beliefern zu ihrem Geschäft. Das führt zu einer Nachfrage an Kutschen und Pferden. Die hohen Preise locken sie von überall an. Danach kommen die Radmacher und Pferdegeschirrmacher. Schmiede, die Spitzhacken schleifen, und Doktoren, die Fieber senken, werden, weil man sie braucht, unverschämt gut bezahlt, und kommen so scharenweise an. Plötzlich werden die Waren knapp, mehr muss von weit her herangeschafft werden. Den Seemännern muss mehr Lohn gezahlt werden, damit sie sich nicht abheuern lassen und in den Bergwerken anfangen. Das verlangt nach höheren Frachtpreisen. Mehr Fracht bedeutet wiederum mehr Schiffe. Und so entsteht geschwind eine Gesellschaft, die für den Güternachschub aus allen Teilen der Welt sorgt. Jede dieser Entwicklungsphasen setzt in der Reihenfolge ihrer Notwendigkeit ein, oder, wie wir sagen, in der Reihenfolge der Intensität der zu bedienenden Wünsche. Jeder Mensch macht das, wofür man ihn am besten bezahlt. Was die höchsten Preise erzielt, ist das, wofür die anderen Menschen am meisten hergeben. Und sie geben das meiste für dasjenige, was sie unter den gegebenen Umständen am meisten begehren. Die Abfolge muss also immer von den wichtigsten zu den weniger wichtigen verlaufen. Wird ein Bedürfnis einmal nicht befriedigt, dann muss es derart sein, dass der Mensch für seine Befriedigung nicht so viel zahlen will, dass es die Zeit lohnt, die ein anderer zur Befriedigung des Bedarfs braucht. D. h., es muss ein Bedürfnis sein, das weniger bedeutend ist als alle anderen Bedürfnisse, für deren Befriedigung der Mensch mehr zahlt, und muss so lange warten, bis die notwendigeren Dinge getan sind. Ist es denn nicht klar, dass dasselbe Gesetz auch für jede Gemeinschaft gilt? Gilt nicht auch für die späteren Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, so wie für die früheren, dass die kleineren Begierden den größeren nachgeordnet werden, wenn man den Dingen ihren Lauf lässt? Daher auch die Rechtfertigung des scheinbaren Paradoxons, dass ein öffentliches Verlangen nicht erfüllt werden sollte, wenn es nicht spontan erfüllt wird. Im Durchschnitt ergibt es sich in unserem komplexen Staat, wie auch in einfacheren Staaten, dass die Dinge, die unverrichtet bleiben, dann, wenn sie doch getan werden, den Bürgern weniger einbringen als andere Dinge. Insofern will die Gesellschaft diese Dinge genau so sehr nicht tun, wie sie die anderen Dinge tun will. Daraus können wir etwas schlussfolgern: Wenn man eine vernachlässigte Sache erwirkt, indem man Bürger künstlich dazu einsetzt, dann bleiben wichtigere Dinge liegen, welche die Bürger sonst tun würden. D. h., man opfert das bedeutendere Bedürfnis einem weniger bedeutenden. „Aber“, so mag man hier einwenden, „wenn das, was eine Regierung – zumindest eine repräsentative Regierung – tut, unter Beachtung eines aggregierten Wunsches geschieht, warum können wir dann nicht auch dort jene normale Anordnung erwarten, die das Notwendigere dem weniger Notwendigen vorordnet?“ Die Antwort lautet: Obwohl auch sie eine gewisse Tendenz hat, dieser Ordnung zu folgen; obwohl jene primären Verlangen nach staatlicher Verteidigung und persönlichem Schutz, aus denen der Staat hervorging, durch dessen Einrichtungen in angemessener Reihenfolge befriedigt wurden; obwohl dasselbe auch für einige der anderen frühen und einfachen Bedürfnisse gelten mag, kann man dem Urteil

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des Staates nicht länger trauen, wenn die Wünsche nicht klein an Zahl, allgemein und wichtig sind, sondern wie jene, die zu späteren Phasen der Zivilisation zur Befriedigung übrig blieben, zahlreich, einseitig und unwichtig. Aus einer immensen Zahl von eher unbedeutenden Wünschen körperlicher, geistiger und moralischer Natur – über die man in unterschiedlichen „Klassen“ unterschiedlich urteilt und die allesamt grundverschieden sind – den dringlichsten Wunsch auszuwählen, ist für jeden Gesetzgeber eine unlösbare Aufgabe. Kein Mensch und keine Gruppe kann durch Überprüfung erkennen, was die Gesellschaft am meisten braucht; man muss es der Gesellschaft überlassen, selbst zu spüren, was sie am dringendsten braucht. Die Methode, das herauszufinden, muss eine experimentelle sein, keine theoretische. Wenn die Bürger Tag für Tag erfahren, dass ihnen Übel und Unzufriedenheit nach Art und Grad unterschiedlich zusetzen, dann entwickeln sie nach und nach einen Widerwillen gegen dieselben (im Verhältnis zu deren Größe) und dementsprechend den Wunsch, sie loszuwerden. Wird der Widerwille weiterhin spontan genährt, dann neigen die Abhilfeeinrichtungen dazu, ihm ein Ende zu setzen, indem sie die größte Unannehmlichkeit zuerst abstellen. So ungewöhnlich dieser Vorgang auch sein mag (und wir räumen ein, dass die Gewohnheiten und Vorurteile des Menschen viele tatsächliche oder scheinbare Anomalien in diesem Prozess produzieren), er ist ein Vorgang, der weitaus vertrauenswürdiger ist, als es die Urteile des Gesetzgebers sind. Für jene, die das in Frage stellen, gibt es Beispiele. Und damit die Entsprechung noch schlüssiger erscheint, wählen wir einen Fall, in dem die herrschende Macht besonders geeignet zu sein scheint, die Entscheidungen zu treffen. Wir nehmen nämlich Bezug auf unsere Verkehrsmittel. Glauben jene, die der Meinung sind, dass die Bahngleise besser von der Regierung geplant und gelegt worden wären, dass der Staat sich genau so strikt daran gehalten hätte, die Gleise in der Reihenfolge ihrer Bedeutung zu verlegen, wie es die Privatunternehmen getan haben? Angereizt durch ein enormes Verkehrsaufkommen – dessen Bewältigung für die vorhandenen Verkehrsmittel zu groß war – schoss als erste die Linie Liverpool-Manchester aus dem Boden. Dann folgten die Grand Junction und die Linie London-Birmingham (die inzwischen zur London und Northwestern fusionierten), danach die Great Western, die Southwestern, die Southeastern, die Eastern Counties und die Midland. Seitdem nehmen Nebenlinien und Tochtergesellschaften unsere Kapitalisten in Anspruch. So, wie es sich gehörte, haben die Firmen zuerst die am meisten benötigten Linien, die sich am meisten bezahlt machten, gebaut. Sie folgten dabei demselben Impuls, dem auch der Arbeiter folgt, wenn er hohe Löhne niedrigeren Löhnen vorzieht. Dass der Staat einer besseren Regel gefolgt wäre, kann schwerlich der Fall sein, weil ja der besten Regel gefolgt worden ist. Dass der Staat aber einer schlechteren Regel gefolgt wäre, dafür spricht alles, was wir haben. In Ermangelung eines direkten Parallelbeispiels sei es uns gestattet, Fälle unsinnigen Straßenbaus aus Indien und den Kolonien heranzuziehen. Oder, um Beispiele staatlichen Bemühens um Verkehrserleichterungen zu nennen, dürfen wir darauf verweisen, dass unsere Regierung Hunderte von Leben und Unsummen von Geld der Suche nach einer Nordwestpassage geopfert hat, deren Entdeckung ohnehin nutzlos gewesen wäre, während sie die Erforschung des

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Isthmus von Panama und den dortigen Bau von Eisenbahnen und Kanälen Privatunternehmen überlassen hat. Aber wir wollen dieser indirekten Evidenz keine große Aufmerksamkeit schenken, sondern uns auf das einzige Beispiel staatlichen Kanalbaus zu kommerziellen Zwecken beschränken, das wir hierzulande haben, den Kaledonischen Kanal.30 Bis heute (1853) hat diese öffentliche Baumaßnahme £ 1. 100. 000 gekostet. Seit mehreren Jahren ist er nun in Betrieb, und immer noch werben festangestellte, alimentierte Sendboten für Verkehr. Im 47. Jahresbericht von 1852 lesen wir das Ergebnis: Jahreseinnahmen £ 7. 909, Jahresausgaben £ 9. 261, Verluste £ 1. 352. Hat es je eine so große Investition mit einem derart erbärmlichen Ergebnis von einem privaten Kanalbauunternehmen gegeben? Wenn der Staat schon hinsichtlich der relativen Bedeutsamkeit gesellschaft­ licher Bedürfnisse in den Fällen, in denen die Bedürfnisse von derselben Art sind, so schlecht urteilt, wie wertlos ist dann erst sein Urteil, wenn es um die Beurteilung von Bedürfnissen unterschiedlicher Art geht. Wenn die Gesetzgeber und ihre Beamten schon dann daneben liegen, wenn es nur ein bescheidenes Maß an Intelligenz erfordert, den rechten Weg zu erkennen, wie sehr liegen sie dann erst vollkommen daneben, wo keine auch noch so große Intelligenz ihnen helfen könnte; wo sie zwischen unzähligen Bedürfnissen körperlicher, geistiger und moralischer Art entscheiden müssen, die keinerlei direkten Vergleich erlauben? Und wie desaströs müssen die Ergebnisse sein, wenn sie auf der Grundlage ihrer abwegigen Entscheidungen handeln? Wenn jemand zum besseren Verständnis noch eine Illustrierung braucht, möge er den folgenden Auszug aus einem der letzten, im Morning Chronicle veröffentlichten Leserbriefe zur Lage der Landwirtschaft in Frankreich lesen. Nachdem der Autor dargelegt hat, dass seiner Meinung nach die französische Landwirtschaft der englischen um Jahrhunderte hinterherhinkt, führt er weiter aus: „Im Wesentlichen sind zwei Gründe dafür verantwortlich. Erstens und obwohl dies für ein Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind, merkwürdig klingen mag: Der Beruf des Landwirts steht nicht hoch im Kurs. Entwickle die geistigen Kräfte eines Franzosen nur ein wenig, und er wird sich so sicher in die Stadt aufmachen, wie Eisenspäne einen Magneten anfliegen. Er hat kein Gespür für das Land, keinen Gefallen an den ländlichen Gepflogenheiten. Ein französischer Hobbybauer wäre in der Tat eine Sehenswürdigkeit. Diese Neigung der Nation wird durch das zentralistische Regierungssystem, die Vielzahl seiner Beamten und die Bezahlung aller Funktionäre unmittelbar gefördert. Von überall her strömen Männer voller Tatkraft und Talent nach Paris und mühen sich dort ab. Sie versuchen, bedeutende Funktionäre zu werden. Und in allen 48 Departements bahnen sich Männer mit weniger Tatkraft und Talent ihren Weg zum Sitz der jeweiligen Präfektur. Dort versuchen sie, kleine Funktionäre zu werden.

30  Der Kaledonische Kanal verbindet die Ost- und Westküste Schottlands zwischen Inverness und Firth of Lorne, d. Hrsg.

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Man steige eine Stufe hinab und schaue sich dort um: Das Resultat ist dasselbe. Was das Departement für Frankreich ist, ist das Arrondissement für das Department und die Kommune für das Arrondissement. Jeder, der einen Kopf zwischen seinen Schultern trägt oder zu tragen meint, drängt in die Stadt, um dort einen Posten zu ergattern. Jeder, der nach eigener oder fremder Meinung zu nichts anderem taugt, bleibt zuhause, um das Feld zu bestellen, das Vieh zu züchten und die Hecken zu schneiden, wie es seine Vorfahren vor ihm taten. Insofern ist keine Intelligenz auf dem Land zurückgeblieben. Alles Wissen, alle Tatkraft und alle Ressourcen des Landes sind in die Städte abgewandert. Wer eine Stadt verlässt, der findet oft keinen einzigen gebildeten oder kultivierten Menschen, bevor er in die nächste Stadt kommt. Dazwischen liegt absolutes intellektuelles Brachland.“ Wozu führt nun dieser dauernde Abzug fähiger Männer aus den ländlichen Bezirken? Dazu, dass es nun vielleicht genug Funktionäre gibt, um die Bedürfnisse zu befriedigen, die aus Sicht der französischen Regierung gestillt werden sollten: Unterhaltungen anzubieten, Bergwerke zu verwalten, Straßen und Brücken zu bauen, Gebäude in großer Zahl zu errichten, Bücher zu drucken, die schönen Künste zu fördern, den Handel zu kontrollieren, die Fabriken zu inspizieren; all die hunderterlei Dinge zu tun, die der Staat in Frankreich tut? Damit das dazu notwendige Heer von Beamten groß genug ist, muss die Landwirtschaft ganz unverbeamtet bleiben. Damit bestimmte gesellschaftliche Annehmlichkeiten sichergestellt sind, muss die wichtigste gesellschaftliche Notwendigkeit auf der Strecke bleiben. Das Leben einer ganzen Nation wird seiner eigentlichen Grundlage beraubt, um ein paar unwesentliche Vorteile zu ergattern. Sagten wir nicht doch, dass ein Bedürfnis nicht gestillt werden sollte, wenn es nicht spontan befriedigt werden kann?

VI. Gerade hier erkennen wir die enge Verwandtschaft zwischen dem grundlegenden Irrtum, der hinter allen staatlichen Eingriffen steckt, und dem Denkfehler der jüngsten Angriffe, die gegen den Freihandel gerichtet wurden. All die verschiedenen Gesetzesinstrumente zur Herbeiführung von Zielen, die sonst nicht erwirkt würden, verkörpern eine subtilere Form der protektionistischen Grundannahme. Die Subventionen und Beschränkungen, die man in Bezug auf den Handel eingeführt hat, und all die vielfältigen Verwaltungen, die mit Blick auf die gesellschaftlichen Angelegenheiten im allgemeinen eingesetzt wurden, sind genauso kurzsichtig wie ihre Vorgängermaßnahmen und unterliegen derselben Kritik. War denn nicht der Fehler, der jedes Gesetz zur künstlichen Erhaltung einer Branche zum Scheitern brachte, im Kern der, mit dem wir uns just befasst haben; nämlich der, die Tatsache zu übersehen, dass dann, wenn man Menschen anhält, eine Sache zu tun, eine andere Sache zwangsläufig ungetan bleiben muss? Die Politiker, die es für weise hielten, selbstgemachte Seidenwaren vor französischen Seidenwaren zu schützen, taten dies in der Annahme, dass die so geschützte Industrie für die ganze Nation ein reiner Gewinn sei. Sie haben nicht daran gedacht, dass die in dieser

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Branche beschäftigten Menschen sonst etwas anderes hergestellt hätten; etwas, das sie, weil ohne Gesetzeshilfe, profitabel hätten produzieren können. Jene Grundbesitzer, die aus Furcht verhinderten, dass ausländischer Weizen ihren eigenen Weizen verdrängt, haben nie wirklich zur Kenntnis genommen, dass ihre Felder dann, wenn ihr Weizen nicht so wirtschaftlich angebaut werden kann, um die befürchtete Verdrängung zu verhindern, einfach nur den Beweis dafür liefern, dass sie untauglichen statt tauglichen Weizen anbauen und somit ihr Land mit Verlust bestellen. In allen Fällen, in denen ein Gewerbe, das sonst keinen Bestand hätte, mithilfe restriktiver Auflagen am Leben erhalten wird, leitet man Kapital in Kanäle, die weniger produktiv sind als jene, in die es auf natürliche Weise geflossen wäre. Auf die gleiche Weise werden Menschen von einträglichen Berufen ferngehalten und in Berufe gelenkt, die der Staat hätschelt. Wie oben angenommen, zeigt sich ganz klar, dass all diese Einmischungen demselben Kontrolldenken folgen; sei es im kommerziellen Bereich oder irgendeinem anderen Sektor. Die Gesetzgeber merken nicht, dass sie die Verwirklichung anderer Desiderata unterbinden, indem sie Menschen zur Umsetzung dieses oder jenes Ziels einstellen. Sie gehen für gewöhnlich davon aus, dass jedes vorgeschlagene Gut, einmal bereitgestellt, nur ein Gut wäre, und nicht ein Gut auf Kosten eines Übels, das sonst beseitigt worden wäre. Indem sie diesen Fehler begehen, haben sie die Arbeit des Menschen auf schädliche Weise fehlgeleitet. Im Wirtschaftsleben wie auch in anderen Bereichen findet die Arbeit spontan und besser, als es jede Regierung an ihrer Stelle könnte, die Dinge heraus, derer sie sich annehmen sollte. Strenggenommen sind die beiden Aussagen identisch. Die Einteilung in kommerzielle und nichtkommerzielle Angelegenheiten ist eine sehr oberflächliche. Für alle Handlungen innerhalb der Gesellschaft gilt ganz allgemein: Das Bemühen der Menschen gilt ihren Wünschen. Ob dies mittels eines Vorgangs aus Kauf und Verkauf geschieht oder auf irgendeine andere Weise, ist, was das allgemeine Gesetz betrifft, unerheblich. In allen Fällen gilt, dass die stärkeren Verlangen vor den schwächeren befriedigt werden. Außerdem gilt in allen Fällen, dass die Befriedigung der schwächeren Verlangen vor ihrem natürlichen Zeitpunkt gleichbedeutend damit ist, den stärkeren Begierden die Befriedigung zu versagen.

VII. Den immensen eindeutigen (positiven) Übeln, welche die Überregulierung mit sich bringt, muss man die gleichgroßen befundlosen (negativen) Übel hinzufügen; Übel, die trotz ihrer Größe kaum erkennbar sind, auch nicht für die Vorausschauenden. Weil der Staat Dinge tut, die er nicht tun sollte, bleiben bei ihm zwangsläufig solche Dinge liegen, die er tun sollte. Weil der Zeit und den Aktivitäten Grenzen gesetzt sind, folgt zwangsläufig, dass die Auftragssünden des Gesetzgebers auch Unterlassungssünden mit sich führen. Mutwillige Eingriffe bedeuten auch verhängnisvolle Versäumnisse. Solange die Politiker überall und übermächtig sind, muss das auch so sein. Lässt man den Dingen ihren freien Lauf, dann kann

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eine Einrichtung, die zwei Herren gleichzeitig dienen soll, weder dem einen, noch dem anderen gerecht werden. Das ist teils deshalb so, weil sie dem einen nicht dienen kann, während sie dem anderen dient, und teils deshalb der Fall, weil die Anpassung an beide Ziele impliziert, dass die Einrichtung keinem Ziel richtig angepasst ist. In Bezug darauf wurde einmal sehr treffend gesagt: „Eine Klinge, die zum Rasieren und Tranchieren gemacht ist, wird bestimmt nicht so gut rasieren wie ein Rasiermesser und nicht so gut tranchieren wie ein Tranchiermesser. Eine Kunstakademie, die zugleich eine Bank sein soll, würde höchst wahrscheinlich sehr schlechte Bilder und sehr schlechte Rechnungen ausstellen. Eine Gasgesellschaft, die zugleich eine Vorschule betreiben soll, würde, so ist zu befürchten, die Straßen leidlich beleuchten und die Kinder kläglich unterrichten.“ Und wenn eine Institution nicht zwei Aufgaben übernimmt, sondern eine Menge von Aufgaben; wenn eine Regierung, deren Aufgabe es ist, die Bürger vor inneren und äußeren Feinden zu schützen, sich auch anschickt, das Christentum zu verbreiten, Nächstenliebe zu organisieren, Kindern Unterricht zu erteilen, die Lebensmittelpreise zu diktieren, Kohlebergwerke zu inspizieren, Eisenbahnen zu regulieren, den Bau von Häusern zu beaufsichtigen, die Tarife der Kutschen festzulegen, in die Sickergruben der Leute zu schauen und deren Kinder zu impfen, Emigranten auszuweisen, Arbeitszeiten vorzuschreiben, Mietshäuser zu überprüfen, das Wissen der Handelsschiffskapitäne zu testen, öffentliche Büchereien zum Lesen und Schreiben von Dramen bereitzustellen, Passagierschiffe zu inspizieren, danach zu schauen, dass kleine Wohnsiedlungen eine Wasserversorgung haben, endlos viele Dinge zu regulieren, von Bankangelegenheiten bis hin zu den Bootstarifen auf dem Serpentine31, ist es dann nicht offensichtlich, dass sie ihre primäre Pflicht eher schlecht als recht erfüllen wird, angesichts der Vielfalt an Angelegenheiten, mit denen sie sich selbst befrachtet? Werden nicht ihre Zeit und Energie zwischen all den Plänen, Untersuchungen, Verbesserungen und in den Diskussionen und Ausschüssen aufgerieben und ihre eigentlichen Aufgaben darüber vernachlässigt? Und reicht nicht bereits ein flüchtiger Blick auf die Debatten, um zu sehen, dass dem so sein muss und dass das einzig Notwendige nahezu unerledigt bleibt, während das Parlament und der Staat gleichermaßen mit den mutwilligen Einmischungen und den utopischen Erwartungen befasst sind? Die Ursache für unsere Gesetzesgräuel ist also folgende: Wir verlieren das Wesentliche aus dem Blick, weil wir uns bemühen, den Schatten nachzujagen. Während wir am Kamin, in den Clubs und Gasthäusern nur über Themen wie Korngesetze, Kirche, Schule und Armenrecht reden – allesamt Themen, die wir der Überregulierung verdanken –, erfährt die Gerechtigkeitsfrage keinerlei Aufmerksamkeit, obwohl wir täglich Unterdrückung, Betrug und Raub erleiden müssen. Diese Institution, die dem Menschen, der unter die Diebe fällt, beistehen sollte, verweist ihn an Anwälte und Verteidiger und eine Legion von Rechtsbeamten, leert mittels Schriftstücken, Mandaten, eidesstattlichen Erklärungen, Vorladungen, allerlei Gebühren und Auslagen seine Brieftasche, überlässt ihn den Launen der ein31 

See in London, größtenteils im Hydepark gelegen, d. Hrsg.

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fachen Gerichte und Kanzleigerichte, der Klagen, Gegenklagen und Berufungen, und ruiniert oft den, den sie schützen sollte. Derweil werden Sitzungen einberufen, Leitartikel verfasst, Abstimmungen abgehalten, Gesellschaften gegründet und Agitationen betrieben, aber nicht um diese gigantischen Übel wiedergutzumachen, sondern um einen Teil der schädlichen Eingriffe unserer Vorfahren abzuschaffen und gegen eigene Einmischungen auszutauschen. Ist es nicht offensichtlich, dass dieses fatale Versäumnis ein Ergebnis jener irreführenden Bürokratie ist? Angenommen, der Schutz nach innen und außen wäre die einzige anerkannte Aufgabe der herrschenden Mächte. Wäre es unter dieser Maßgabe denkbar, dass unsere Justizverwaltung genauso korrupt wäre wie jetzt? Glaubt irgendjemand, dass unser Rechtssystem immer noch das wäre, was Sir John Romilly32 „ein technisches System, das zur Schaffung von Kosten erfunden wurde“, nennt, wenn bei unseren Parlamentswahlen regelmäßig Fragen zur Rechtsreform zur Debatte gestanden hätten? Wer meint denn wirklich, dass ein Kanzleigericht – das derzeit 200 Millionen an Eigentumswert in seinen Fängen hält und Klagen über 50 Jahre unbeurteilt lässt, bis die Vermögenswerte für Gebühren drauf gegangen sind – auf uns lauern würde, wenn die effiziente Verteidigung von Person und Eigentum das Dauerthema wäre? Wer traut sich denn zu behaupten, dass die geistlichen Gerichte sich über Jahrhunderte an den Gütern von Witwen und Waisen hätten schadlos halten können, wenn die Wahlbezirke ständig über die Prinzipien von Rechtsreform versus Rechtskonservatismus zu befinden gehabt hätten? Die Fragen sind nahezu absurd? Die Menschen wissen im allgemeinen über die Korruption durch das Gesetz Bescheid und sie verabscheuen Gesetzesgräuel. Deshalb wären dieselben auch schon lange abgestellt, wenn die Justizverwaltung das politische Dauerthema wäre. Das weiß doch jedes Kind. Wäre die Öffentlichkeit nicht andauernd abgelenkt gewesen, würde sie nie hingenommen haben, dass ein Mann, der es versäumt, auf eine Klageschrift rechtzeitig zu reagieren, wegen Missachtung des Gerichts für 15 Jahre ins Gefängnis muss, wie es bei James Taylor der Fall war. Es wäre auch unmöglich gewesen, dass die vereidigten Beamten beim Kanzleigericht nach Abschaffung ihres Amtes für ihre Einnahmeverluste nicht nur bis an ihr Lebensende, sondern darüber hinaus für weitere 7 Jahre kompensiert worden wären, und zwar in Höhe von insgesamt £ 700. 000. Wäre der Staat auf seine Verteidigungs- und Rechtsaufgaben beschränkt, dann würden nicht nur die Menschen, sondern auch die Gesetzgeber gegen den Missbrauch vorgehen. Wenn das Feld der Betätigungen und die Möglichkeiten zum Hervortun eingegrenzt wären, dann würde alles Denken, Reden und Tun, das die Parlamentsmitglieder jetzt auf undurchführbare Pläne und künstliche Missstände richten, allein darauf zielen, für eine reine, sichere, prompte und billige Gerechtigkeit zu sorgen. Die vertrackten Verrücktheiten des gesetzlichen Geschwafels, die der Uneingeweihte nicht verstehen kann und die Eingeweihten ganz unterschiedlich auslegen, wären ihrem Ende nahe. Und wir würden dann kaum noch Parlamentsgesetze hören, die so stümperhaft erstellt sind, dass man ein 32  John Romilly (1802 – 1874) war ein britischer Politiker der Liberal Party, Abgeordneter im Unterhaus und kurze Zeit (1850 – 1851) Generalstaatsanwalt, d. Hrsg.

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halbes Duzend Klagen und Richterurteile braucht, bevor irgendein Anwalt überhaupt sagen kann, wie sie anzuwenden sind. So dumm entworfene Statuten wie das Eisenbahnabwicklungsgesetz (Railway Winding-up Act) gäbe es erst gar nicht. Obwohl es 1846 verabschiedet wurde, um die Konten der irrsinnigen Luftschlösser zu schließen, ließ es dieselben bis 1854 ungeklärt. Obwohl man Zugriff auf die Einlagen hatte, wurden den Gläubigern, deren Ansprüche bereits seit Jahren anerkannt waren, die Zahlungen verwehrt. Man würde die Anwälte nicht länger damit quälen, am gegenwärtigen absurden Grundbuchsystem festzuhalten und es zu verkomplizieren. Dieses System verursacht nicht nur unentwegt Rechtsstreite und Kosten, sondern mindert auch den Wert von Ländereien. Es behindert auch die vorhandenen Möglichkeiten zu deren Kapitalisierung und bremst die landwirtschaftliche Entwicklung, wodurch es die Lageverbesserung der Bauernschaft und den Wohlstand auf dem Land hemmt. Kurz: Korruption, Torheit und Terror des Gesetzes hätten ein Ende. Und das, vor dem die Menschen derzeit als Feind zurückschrecken, würde bald als das angesehen werden, was es eigentlich sein soll: ein Freund. Doch wie groß ist das negative Übel, das die Einmischungspolitik, neben den oben aufgeführten positiven Übeln, für uns bereithält? Wieviel Kummer und Leid muss der Mensch noch ertragen, von denen er sonst frei wäre? Wer hat nicht schon mal lieber Ungerechtigkeiten in Kauf genommen, statt das Risiko hoher Gerichtskosten zu tragen? Wer hat noch nicht auf berechtigte Ansprüche verzichtet, statt „gutes Geld schlechtem Geld hinterherzuwerfen“? Wer hat noch nie ungerechtfertigte Forderungen bezahlt, um der Gefahr einer Klage zu entgehen? Jeder, der das schon einmal getan hat, kann auf Eigentum hinweisen, um das seine Familie gebracht wurde, weil die Mittel oder der Mut fehlten, darum zu kämpfen. Und er kann uns viele seiner Verwandten nennen, die durch einen Prozess in den Ruin getrieben wurden. Hier ist ein Anwalt, der durch den harterarbeiteten Lohn von Bedürftigen und die Ersparnisse von Unterdrückten reich geworden ist. Und dort ist ein ehemals wohlhabender Händler, der durch legale Ungerechtigkeiten im Armen- oder gar im Irrenhaus gelandet ist. Die Schlechtigkeit unseres Rechtssystems verdirbt unser Gesellschaftsleben völlig, macht fast jede Familie ärmer, als sie es sonst wäre, hemmt nahezu jede geschäftliche Transaktion, lässt jeden Händler Tag für Tag Schlimmes befürchten. Und all diesen Verlust an Eigentum, Zeit, Laune und Komfort ertragen die Menschen still und leise, während sie von der Umsetzung von Plänen aufgesaugt werden, die ihnen überdies noch weitere Missstände bescheren. Die Dinge liegen sogar noch schlimmer. Es ist eindeutig nachweisbar, dass unser erbärmliches Rechtssystem viele dieser Übel, die zu Aufschreien führen und zu deren Beseitigung lauthals spezielle Parlamentsgesetze gefordert werden, selbst erschaffen hat. So weiß man z. B., dass die Gräuel, aus denen unsere Gesundheitsapostel ihr politisches Kapital schlagen, am meisten auf den Liegenschaften lasten, die seit der Zeit unserer Väter dem Kanzleigericht treuhänderisch obliegen. Sie gründen auf dem so verursachten Ruin und würden nicht existieren, wenn es die

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unrühmliche Korruption des Gesetzes nicht gäbe. Wie bereits gesagt, es hat sich gezeigt, dass das lang währende Elend in Irland, das Gegenstand einer endlosen Gesetzgebung ist, hauptsächlich aus ungerechtem Landbesitz und einem komplizierten Nießbrauchrecht hervorgegangen ist, das u.a. zur Folge hatte, dass der Landverkauf erschwert wurde, was in der Praxis jegliche Verbesserung ausschloss, Grundbesitzer ins Armenhaus brachte und ein Gesetz für hypothekenbelasteten Grundbesitz (Incumbered Estates Act) erforderlich machte, um den gordischen Knoten zu zerschlagen und eine angemessene Kultivierung der Äcker zu ermöglichen. Justizielle Fahrlässigkeit ist auch der Hauptgrund für Eisenbahnunfälle. Wenn der Staat seinen eigentlichen Aufgaben nachkäme und den Fahrgästen ein einfaches Rechtsmittel für Vertragsbruch an die Hand gäbe, wenn sich Züge verspäten, dann würde er mehr Unfälle verhindern, als dies durch minutiöseste Inspektionen oder bis ins Kleinste ausgeklügelte Regulierungen erwirkt werden kann, weil, wie allseits bekannt, die Unfälle hauptsächlich durch Fahrplanabweichungen zustande kommen. Im Fall von Pfusch am Bau ist es ebenso offensichtlich, dass eine billige, rigorose und zuverlässige Handhabung der Justiz Baugesetze überflüssig machte. Ist denn nicht der Mensch, der ein Haus aus schlechtem Material und mangelhaft zusammenbaut, sein Tun mit Putz und Tapete verkleistert und dann als standfestes Gebäude veräußert, des Betrugs schuldig? Sollte das Recht diesen Betrug nicht genau so behandeln wie den Verkauf eines lahmen Pferdes? Würden die Baufirmen nicht damit aufhören, gegen geltendes Recht zu verstoßen, wenn die Rechtsmittel einfach, prompt und sicher greifen würden? Genauso verhält es sich auch in anderen Fällen: Die Missstände, für deren Abschaffung die Menschen andauernd den Staat als Oberaufseher bemühen, entstehen dadurch, dass der Staat seiner eigentlichen Pflicht nicht nachkommt. Und man kann sehen, wie diese üble Politik es sich selbst noch schwerer macht. Es ist ja nicht nur so, dass die einmischende Gesetzgebung am Beseitigen der anvisierten Missstände scheitert; dass sie viele Übel noch vergrößert; dass sie neue Übel schafft, die größer sind als die alten, sondern auch so, dass sie, indem sie dies tut, den Menschen Raub, Ruin und Unterdrückung zumutet, die eine untätige Justiz mit sich bringt. Aber es ist auch nicht nur so, dass zu den positiven Übeln eben jene riesigen negativen Übel hinzukommen. Vielmehr schaffen diese negativen Übel, indem sie viel gesellschaftlichen Missstand begünstigen, den es sonst nicht gäbe, neue Möglichkeiten für mehr Einmischungen, die auf dieselbe Weise Aktionen und Reaktionen auslösen. Wie auch sonst, gilt hier: „Dinge, die schlecht begonnen wurden, werden mit der Zeit immer schlechter.“

VIII. Nachdem wir die grundlegenden Gründe dafür genannt haben, alles staatliche Handeln zu verurteilen, das nicht, wie uns die Erfahrung gelehrt hat, absolut notwendig ist, ist es offenbar überflüssig, nachgeordnete Gründe ebenfalls aufzunehmen. Würde indes jemand nach ihnen fragen, könnten wir, unter Berufung

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auf Herrn Lindsays Buch Navigation and Mercantile Marine Law33, viel über die Komplexität sagen, zu dem jener Vorgang letztlich führt, bei dem eine Regulierung an die andere gehängt wird und jede durch die vorangehende erzwungen wird. Diese Komplexität hemmt nämlich das gesellschaftliche Leben aufgrund der Missverständnisse, Verzögerungen und Meinungsdifferenzen, die mit ihr einhergehen. Man sollte auch etwas zu dem verstörenden Effekt jenes „großen Irrglaubens“ sagen, den Herr Guizot34 den „Glauben an die souveräne Macht der politischen Maschinerie“ nennt – ein Irrglaube, den er teilweise auf die letzte Revolution in Frankreich zurückführt und der durch jeden neuen Eingriff gestärkt wird. Doch lassen wir diese einmal beiseite und verweilen wir kurz bei der nationalen Schwäche, die jene staatliche Oberaufsicht bewirkt. Der begeisterte Menschenfreund, der das Parlament darauf drängt, per Gesetz hier ein Übel abzustellen und da ein Gut bereitzustellen, glaubt, es sei trivial und weit hergeholt, falls man einwendete, dass die Menschen moralisch Schaden nähmen, wenn man für sie bestimmte Dinge erledigte, statt es ihn zu überlassen, die Dinge selbst zu tun. Er beschreibt die Vorteile, die er zu erzielen hofft, sehr plastisch als eine positive und leicht vorstellbare Sache. Er denkt nicht an die diffusen, unsichtbaren und sich langsam akkumulierenden Effekte, die sich in den Köpfen des Volkes niederschlagen. Er glaubt auch nicht an diese Effekte, und wenn doch, dann hält er sie nicht für erwägenswert. Wenn er indes daran dächte, dass der gesamte nationale Charakter aus den täglichen, situationsbedingten Handlungen hervorgeht, wobei das Resultat eines Tages so unbedeutend zu sein scheint, dass es nicht der Erwähnung wert ist, dann würde er erkennen, dass jenes, das in Teilen betrachtet unscheinbar ist, als Ganzes gesehen höchst beachtlich ist. Oder wenn er in einen Kindergarten ginge und sähe, wie wiederholte Handlungen – von denen jede einzelne offenkundig unbedeutend ist – letztlich eine Gewohnheit schaffen, die das ganze künftige Leben bestimmt, dann fiele ihm wieder ein, dass jede Beeinflussung, der man die menschliche Natur aussetzt, zählt und, sofern fortgesetzt, erheblich zählt. Die unbedachte Mutter, die ständig allen Aufforderungen nachkommt – „Mama, richte mir das Schürzchen. Mama, schnüre mir die Schuh“ usw. – kann man nicht davon überzeugen, dass jedes ihrer Zugeständnisse der Sache abträglich ist. Aber der weise Beobachter erkennt, dass diese Politik, wenn sie lange befolgt und auf andere Dinge ausgedehnt wird, das Kind letzten Endes unfähig macht. Der Lehrer alter Schule, der seinem Schüler immer den Ausweg aus einer Schwierigkeit zeigt, begreift nicht, dass er eine Geisteshaltung fördert, die sehr dagegen spricht, dass der Schüler sein Leben je meistern wird. Der moderne Lehrer veranlasst seinen Schüler stattdessen, Schwierigkeiten selbst zu lösen. Er glaubt, dass er ihn so in die Lage versetzt, mit jenen Problemen umzugehen, die ihn drau33  Gemeint ist William Schaw Lindsay (1816 – 1877), Autor des Buches Our Navigation and Mercantile Marine Law, London 1852, d. Hrsg. 34  Francois Guizot (1787 – 1847) war ein französischer Staatsmann und Historiker, zudem Autor der Popular History of France, New Haven 1883, auf die sich Spencer bezieht, d. Hrsg.

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ßen in der Welt erwarten, wo es niemanden gibt, der ihm helfen könnte. Und er findet sich in seinem Glauben durch die Tatsache bestätigt, dass die erfolgreichsten Männer es zum großen Teil aus eigener Kraft geschafft haben. Ist es denn nicht offensichtlich, dass dieses Verhältnis zwischen Disziplin und Erfolg der ganzen Nation zugutekommt? Bestehen Nationen denn nicht aus Menschen? Und folgen die Menschen im Alter nicht denselben Änderungsgesetzen, denen sie schon in ihrer Jugend folgten? Stimmt es denn nicht, dass die Schulden des Trunkenboldes mit jedem weiteren Zechgelage zunehmen? Und will nicht der Geschäftsmann nach jeder Firmenübernahme mehr Firmen übernehmen; der Arme mit jeder Hilfe, die er erfährt, mehr Hilfe? Und kann nicht der Vielbeschäftigte mehr tun, je mehr er zu tun hat? Und muss nicht folgerichtig für die Nation als Ganzes gelten, was auch für das Individuum gilt, nämlich Teil eines Adaptionsprozesses an die bestehenden Bedingungen zu sein; und dass in dem Maß, in dem die Mitglieder keine externe Hilfe erfahren, sie dahin kommen, sich selbst zu helfen, und in dem Maße hilflos werden, in dem ihnen geholfen wird? Wie töricht ist es, diese Folgen nur deshalb zu ignorieren, weil sie nicht direkt und unmittelbar sichtbar sind. Auch wenn sie langsam entstehen, so sind sie doch unvermeidbar. Wir können den Gesetzen der menschlichen Entwicklung ebenso wenig entrinnen wie dem Gesetz der Schwerkraft. Solange sie gelten, treten auch ihre Effekte auf. Wenn man uns fragt, in welche Richtung diese mutmaßliche Hilflosigkeit als Folge der umfangreichen staatlichen Beaufsichtigung führt, dann antworten wir, dass sie sich in der Verlangsamung des gesellschaftlichen Wachstums, das Menschen mit Selbstvertrauen erfordert, zeigt; in Kleinmut, der einen alle Schwierigkeiten fürchten lässt, die man noch nicht kennt; in unbekümmerter Zufriedenheit mit den Dingen, wie sie sind. Schicken wir doch den, der die rapide Entwicklung sorgfältig beobachtet hat, die sich in England, wo den Menschen verhältnismäßig wenig vom Staat geholfen wird, vollzieht; oder besser noch, schicken wir den, der den unvergleichlichen Fortschritt der Vereinigten Staaten kennt, wo es nur so vor Selfmade-Männern der 1. und 2. Generation wimmelt, z. B. aufs Festland. Dort möge er sich klar machen, wie vergleichsweise zögerlich die Dinge voranschreiten und wohl noch langsamer vorankämen, gäbe es keine englischen Firmen. Soll er doch nach Holland gehen und mit seinen eigenen Augen sehen, dass Amsterdam erst seit kurzem, nachdem eine englische Firma ihre Arbeit aufgenommen hat, dabei ist, eine richtige Wasserversorgung zu bekommen, die es dort vorher nicht gab, obwohl die Niederländer schon sehr früh bewiesen haben, dass sie gute Mechaniker sind und genug Erfahrung in Hydraulik besitzen. Soll er doch nach Berlin gehen und sich dort sagen lassen, dass es für eine Wasserversorgung, wie sie London schon seit vielen Generationen hat, eine englische Firma braucht, eine Verwirklichung mithilfe englischen Kapitals und eine englische Oberaufsicht. Lassen wir ihn doch nach Wien ziehen und dort lernen, dass die Stadt, wie es auch in anderen Städten auf dem Festland üblich ist, von einer englischen Gasgesellschaft erleuchtet wird. Oder er möge an die Rhone reisen, an die Loire, oder an die Donau, um zu entdecken, dass es Engländer waren, die auf eben jenen Flüssen die Dampfschifffahrt etablierten. Er kann sich auch bei den Eisenbahnen in Italien,

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Spanien, Frankreich, Schweden oder Dänemark danach erkundigen, wie viele von ihnen englische Projekte sind, mithilfe von englischem Kapital finanziert und von englischen Bauunternehmen und englischen Ingenieuren gebaut wurden. Soll er doch herausfinden, was er eh wird, dass dort, wo die Eisenbahnen vom Staat gebaut wurden, wie z. B. in Russland, man die Tatkraft, die Beharrlichkeit und das praktische Vermögen, das in England und in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde, zu Hilfe rufen musste. Und falls ihm diese Beispiele der Fortschrittlichkeit eines selbstständigen Menschenschlags und des Stillstands eines paternalistisch regierten Menschenschlags nicht genügen, dann möge er Herrn Laings35 erfolgreiche Bände über das Reisen in Europa lesen, um den Gegensatz im Detail studieren zu können. Was ist nun die Ursache für diesen Gegensatz? In der natürlichen Ordnung muss das Vermögen zur Selbsthilfe in jedem Fall durch die Praktizierung von Selbsthilfe entstehen. Außerdem, und bei sonst gleichen Bedingungen, muss das Fehlen dieses Vermögens in jedem Fall von einer fehlenden Nachfrage nach ihm herrühren. Stimmt, was in diesen beiden Fällen jeweils vorausgeht und dann folgt, nicht mit den just genannten Dingen in England und Europa überein? Waren nicht die Einwohner der beiden Regionen noch vor ein paar Jahrhunderten mit Blick auf das Unternehmertum auf gleicher Höhe? Hinkten die Engländer nicht sogar mit ihren Manufakturen, ihren Kolonien und ihrem Handel hinterher? Fiel nicht der vergleichsweise immense Wechsel, den die Engländer in dieser Hinsicht durchgemacht haben, mit der vergleichsweise großen Eigenständigkeit, die sie sich seither angeeignet haben, zusammen? Und wurde nicht das eine durch das andere verursacht? Wer auch immer hier Zweifel anmeldet, ist aufgefordert, einen wahrscheinlicheren Grund zu nennen. Wer aber zustimmt, der muss auch zugestehen, dass die Entkräftung eines Volkes durch andauernde staatliche Hilfe kein geringfügiges Bedenken darstellt, sondern ein sehr schwerwiegendes, und er wird einsehen, dass das Wachstum einer ganzen Nation in Geiselhaft zu nehmen, ein so großes Übel ist, dass keinerlei Sondervorteile es wettmachen können. Wenn er nun, nachdem er diese bedeutende Tatsache, nämlich das Ausbreiten der Engländer über die ganze Welt, überdacht haben wird, feststellt, dass keine kontinentaleuropäische Nation eine vergleichbare Leistung vorweisen kann, und wenn er darüber sinniert, inwiefern dieser Unterschied vor allem in Wesensunterschieden begründet ist und diese wiederum von Unterschieden in der Diszipliniertheit herrühren, dann wird er erkennen, dass die Politik, die in dieser Angelegenheit verfolgt wird, letztlich zu großen Teilen über das Schicksals einer Nation entscheidet.

IX. Wir vertrauen indes nicht darauf, dass dieses Argument diejenigen umstimmen wird, die ihre Hoffnungen in die Gesetzgebung legen. Für Menschen mit einer 35  Samuel Laing (1780 – 1868), Autor der achtbändigen Notes of a Traveller on the Social and Political State of France, Russia, Switzerland, Italy, and other parts of Europe during the Present Century, London 1842, d. Hrsg.

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gewissen Geisteshaltung werden die vorgenannten Gründe schon Gewicht haben. Für die, die anders denken, ist das indes nicht oder kaum der Fall. Auch mehrere dieser Gründe zusammengenommen würden sie kaum beeindrucken. Dass die Erfahrung den Menschen lehrt, gilt nur in Grenzen. Nur Erfahrungen, die gewürdigt werden, können auch lehren. Erfahrungen, die einen gewissen Grad an Komplexität übersteigen, können von der Mehrheit der Menschen nicht gewürdigt werden. Das gilt z. B. für die meisten gesellschaftlichen Phänomene. Bedenkt man, dass die Menschheit seit 2. 000 Jahren oder noch länger der Wirtschaft Regulierungen auferlegt, die stets einige Branchen abgewürgt und andere in ihrer Güte umgebracht haben, und dass die Beweise dafür andauernd vor ihr lagen, sie aber erst jetzt entdeckt, dass sie durchweg Unheil angerichtet hat; und bedenkt man, dass auch jetzt nur ein kleiner Teil der Menschheit dies erkennt, dann lehrt uns das, dass immer wiederkehrende und sich anhäufende Erfahrungen solange nichts lehren, bis die geistigen Voraussetzungen existieren, um sie zu verinnerlichen. Aber auch wenn sie verinnerlicht sind, sind sie es nur unzureichend. Die Wahrheit, die sie uns lehren, wird nur halb verstanden, auch von denen, die sie eigentlich am besten verstehen sollten. So sagt z. B. Sir Robert Peel36 in einer seiner letzten Ansprachen, nachdem er den immensen Konsumanstieg infolge des Freihandels beschrieben hat: „Man kann diesen Konsum also nur ausdehnen. Wenn Sie mithilfe der Gesetzgebung, und mit der Gnade der Weitsicht, die Nachfrage nach Arbeit aufrechterhalten können und es schaffen, dass der Handel und die Fabriken florieren, dann mehren Sie in der Summe nicht nur das Glück der Menschen, sondern ermöglichen auch für die Bauern in diesem Land das Bestmögliche, weil die zunehmende Nachfrage ihr Wohlergehen fördert.“ Times, 22. Februar 1850.

Der Wohlstand, der eigentlich auf die Abschaffung aller Gesetze zurückzuführen ist, wird hier also einer besonderen Form der Gesetzgebung zugeschrieben. „Sie können die Nachfrage aufrechterhalten“, sagt er, „Sie können es schaffen, dass der Handel und die Fabriken florieren“. Indes zeigen die Tatsachen, die er zitiert, dass sie dies nur tun können, indem sie nichts tun. Der entscheidende Punkt in dieser Sache, dass nämlich das Gesetz enormen Schaden angerichtet hat und der Wohlstand nicht durch das Gesetz zustande kam, sondern durch dessen Abwesenheit, fehlt hier. Peels Glaube an die Gesetzgebung an sich, der durch diese Erfahrung in seinen Grundfesten erschüttert sein sollte, scheint ungebrochen stark wie immer. Das Oberhaus scheint an das Verhältnis von Angebot und Nachfrage noch nicht so recht zu glauben, wenn man bedenkt, was sie in nur wenigen Wochen als dauerhafte Anordnung festgesetzt hat, nämlich: „Vor der ersten Lesung eines Antrags, Bauarbeiten durchzuführen, die in einem Bezirk oder an einem Ort die Zwangsräumung von 30 oder mehr Häusern verlangen, die von Menschen aus der Arbeiterklasse bewohnt werden, müssen die Betreiber beim Sekre36  Robert Peel (1788 – 1850), britischer Staatsmann und zweimal englischer Premierminister. In seiner 2. Amtszeit (1841 – 1845) hob er die Korngesetze auf, d. Hrsg.

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tär des Abgeordnetenhauses eine Erklärung zu Anzahl, Art und Zustand der besagten Häuser abgeben, sowie zur Anzahl der (soweit schätzbar) umzusiedelnden Personen und dazu, ob und, falls ja, welche Vorkehrungen im Antrag getroffen wurden, um die bei der Umsiedlung wahrscheinlich auftretenden Unannehmlichkeiten auszuräumen.“

Wenn also die vergleichsweise einfachen Handelsbeziehungen und die Lehren der Erfahrung solange unerkannt bleiben und, sobald man sie wahrnimmt, so unzureichend begriffen werden, dann kann man für den Fall, dass alle gesellschaftlichen Phänomene – moralische, geistige und physische – zum Tragen kommen, kaum hoffen, dass sich irgendeine angemessene Würdigung der Wahrheit alsbald sichtbar einstellen wird. Die Tatsachen sind als solche einfach noch nicht erkennbar. So wie der Alchemist seine ständigen Enttäuschungen dem Missverhältnis unter den Zutaten, fehlender Reinheit oder zu großer Hitze zuschreibt, nie aber der Sinnlosigkeit seiner Methode oder der Unmöglichkeit, sein Ziel zu erreichen, so erklärt jeder Gesetzesanbeter das Scheitern staatlicher Regulierungen mit der ungenügenden Kontrolle oder einem geringfügigen Fehler und versichert, dass man in Zukunft von derlei Unzulänglichkeiten verschont bliebe. Indem er so den Tatsachen aus dem Weg geht, verpufft ein Versuch nach dem anderen ohne jeglichen Effekt. Dieser Glaube an die Staatsführung ist in einem gewissen Sinne organisch und kann nur schwinden, wenn man ihn überwindet. Seit jener Zeit, als man begann, die Machthaber für Halbgötter zu halten, schrumpfte das Zutrauen der Menschen in ihre eigene Macht. Dieser Niedergang hält immer noch an und hat noch einen weiten Weg vor sich. Gewiss, jede Zunahme an Evidenz treibt ihn in gewissem Maße voran, wenn auch nicht in dem Maße, in dem es zunächst der Fall zu sein scheint. Nur insofern dabei der Charakter verändert wird, entsteht ein dauerhafter Effekt. Auch wenn der geistige Typus derselbe bleibt, so folgt doch jeder Beseitigung eines speziellen Fehlers unweigerlich eine Zunahme an anderen Fehlern derselben Art. Aberglaube ist nicht totzukriegen, und wir fürchten, dass der Glaube in die Allmacht des Staates dabei keine Ausnahme machen wird.

Der neue Toryismus Der neue Toryismus

Die meisten, die zur Zeit als Liberale durchgehen, sind Tories einer neuen Sorte. Das ist ein Paradox, das ich gerne begründen will. Damit ich es begründen kann, muss ich zunächst darlegen, was die beiden politischen Parteien ursprünglich einmal waren. Und dabei muss ich den Leser um Nachsicht dafür bitten, dass ich ihm all die Fakten in Erinnerung rufe, die er bereits kennt, und ihm zu bedenken gebe, was Toryismus und was Liberalismus ihrer wahren Natur nach eigentlich bedeuten. Noch bevor sie ihre Namen hatten, standen diese beiden Parteien für zwei unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Organisation, die man grob in die militärische und die industrielle Form unterteilen könnte. Charakteristisch für die eine ist das Regime des Status, wie es früher fast überall galt, und für die andere das Regime des Vertrags, das heutzutage allgemein gilt, hauptsächlich in den westlichen Nationen und vor allem bei uns und bei den Amerikanern. Wenn wir das Wort „Kooperation“ nicht im engen, sondern im weitesten Sinne gebrauchen, um die gemeinsamen Aktivitäten der Bürger unter jedem beliebigen Regelsystem zu bezeichnen, dann können wir die beiden Regimes unterscheiden, indem wir das eine das System der erzwungenen Kooperation und das andere das System der freiwilligen Kooperation nennen. Die typische Struktur des einen Systems findet man z. B. in einer Armee aus Wehrpflichtigen, die in allen Einheiten und Rängen unter Todesandrohung Befehle befolgen müssen und Essen, Uniform und Sold willkürlich bemessen erhalten. Die Struktur des anderen Systems finden wir hingegen z. B. in einer geschäftlichen Vereinigung, in der sich die Produzenten und Vertragshändler streng an die vereinbarten Zahlungen als Gegenleistung für die erbrachten Dienstleistungen halten und die Vereinigung bei Missfallen nach Aufkündigung des Verhältnisses wieder verlassen dürfen. Im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in England vollzog, zeigte sich der Unterschied zwischen diesen fundamental entgegengesetzten Formen der Kooperation erst nach und nach. Doch die Spuren der beiden Parteien lassen sich weit zurückverfolgen und auch ihre Verbindungen zum Militärischen bzw. zum Industrialismus zeigten sich schon recht deutlich, lange bevor die Namen Tory und Whig in Gebrauch kamen. Wie man weiß, regte sich der Widerstand gegen die Zwangsregel, die für die ständische Kooperation typisch war, in der Regel erst in der städtischen Bevölkerung, die aus Arbeitern und Händlern bestand, die es gewohnt waren, unter Vertragsabmachungen zu kooperieren. Umgekehrt entsprang und gedieh die ständische Kooperation, die an das permanente Kriegswesen angepasst war, in den ländlichen Regionen, die ursprünglich von den Kriegsherren und deren Angehörigen bevölkert waren und wo die primitiven Ideen und Traditionen Bestand hatten. Der Gegensatz der politischen Neigungen, der sich schon abzeichnete, bevor die Grundsätze der Tories und Whigs in ihrer Unterschiedlich-

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keit klar ersichtlich wurden, blieb auch danach gut erkennbar erhalten. Zur Zeit der Revolution, „als die Dörfer und Kleinstädte von den Tories monopolisiert wurden, bildeten die größeren Städte, Industriegebiete und Handelszentren die Hochburgen der Whigs.“ Dass dieses allgemeine Verhältnis entgegen aller Erwartungen nach wie vor besteht, bedarf keines weiteren Nachweises. Die beiden Parteien waren ihrer Natur nach so, wie es ihre Ursprünge verrieten. Schauen wir uns also einmal an, wie ihre Naturen in ihren frühen Doktrinen und Taten sichtbar wurden. Der Whiggismus begann als Widerstandsbewegung gegen Karl II. und dessen Intrigen, mit denen er die Wiedereinführung der absoluten Monarchie betrieb. Die Whigs „sahen die Monarchie als eine bürgerliche Institution an, die von der Nation zum Wohlstand all ihrer Mitglieder eingerichtet wurde.“ Die Tories hingegen sahen in dem „Monarchen den Abgesandten des Himmels.“ Gemäß diesen Doktrinen glaubte man im einen Fall daran, dass die Unterordnung des Bürgers unter den Herrscher bedingt war, und im anderen Fall, dass er unbedingt war. Bolingbroke1 charakterisierte die Whigs und die Tories, wie sie gegen Ende des 17. Jahrhunderts wahrgenommen wurden, in seiner rund 50 Jahre zuvor verfassten Dissertation über die Parteien so: „Macht und Hoheit liegen beim Volk, Gemeinschaftsvertrag, Autorität und Unabhängigkeit des Parlaments, Freiheit, Widerstand, Ausschluss, Abdankung: das waren die Ideen, an die man dachte, wenn man sich seinerzeit einen Whig vorstellte. Und jeder Whig ging davon aus, dass diese Ideen mit den Vorstellungen eines Tories nicht in Einklang zu bringen sind.“ „Göttlich, vererbt, unveräußerliches Recht, Erbfolge, passiver Gehorsam, Prärogative, Widerstandslosigkeit, Sklaverei, Verbote, manchmal sogar auch Papismus: all das verbanden viele mit den Vorstellungen eines Tories und glaubten ebenfalls, dass derlei Ideen mit denen eines Whigs nicht in Einklang zu bringen sind.“2

Wenn wir diese Beschreibungen miteinander vergleichen, dann sehen wir, dass in der einen Partei der Wunsch bestand, der Zwangsgewalt des Herrschers über seine Untertanen entgegenzuwirken und sie zu beschneiden, und in der anderen Partei, jene Gewalt zu erhalten und auszubauen. Dieser Unterschied in der Zielsetzung – ein Unterschied der an Bedeutung und Tragweite alle anderen politischen Unterschiede überragte – dokumentierte sich in den jeweiligen Aktivitäten schon sehr früh. Die Grundsätze der Whigs zeigen sich z. B. in der Habeas Corpus Akte und in den Maßnahmen, mit denen die Richter von der Krone unabhängig gemacht wurden; in der Niederschlagung der Non-Resisting Test Bill, die für Gesetzgeber und Amtsträger einen verbindlichen Eid vorsah, sich nie mit Waffen dem König zu widersetzen; und in der späteren Bill of Rights zum Schutze der Untertanen gegen Angriffe seitens des Monarchen. Diese Gesetze hatten ihrem Wesen nach dieselbe Natur. Der Grundsatz der erzwungenen Kooperation im Gesellschaftsleben wurde 1  Henry Saint John Bolingbroke (1678 – 1751), britischer Philosoph und Politiker der Tories. Seine Dissertation on Parties verfasste er 1733, d. Hrsg. 2  Bolingbroke, Dissertation on Parties, S. 5.

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durch sie geschwächt und das Prinzip der freiwilligen Kooperation gestärkt. Dass diese allgemeine Tendenz auch später noch die Parteipolitik bestimmte, geht klar aus einer Bemerkung hervor, die Herr Green hinsichtlich der Zeit nach dem Tode Annes machte, in der die Whigs am Ruder waren: „Noch ehe ihre 50-jährige Regentschaft vorüber war, hatten die Engländer bereits vergessen, dass man jemanden wegen seiner religiösen Auffassungen verfolgen, die Pressefreiheit abschaffen oder ohne das Parlament regieren konnte.“3

Blicken wir nun zurück auf die Zeit nach dem Kriege, mit der das letzte Jahrhundert endete und unseres begann. In ihr ging das zuvor erkämpfte Ausmaß an individueller Freiheit verloren und die Rückwärtsbewegung zum wahrlich militärischen Gesellschaftstyp zeigte sich in allerlei Zwangsmaßnahmen, sei es, dass man sich zu Kriegszwecken Personen und bürgerlichem Eigentum bemächtigte, öffentliche Versammlungen unterband oder die Presse zu knebeln versuchte. Diese Maßnahmen bringen uns den allgemeinen Charakter der Reformen in Erinnerung, die von den Whigs und den Liberalen erwirkt wurden, nachdem der Frieden die Erneuerung des industriellen Regimes und die Rückkehr zum entsprechenden Strukturtypus erlaubte. Unter dem wachsenden Einfluss der Whigs wurden jene Gesetze wieder aufgehoben, die das Vereinigungsrecht und die Freizügigkeit der Handwerker eingeschränkt hatten. Auf Druck der Whigs durften Glaubensabtrünnige wieder glauben, was sie wollten, ohne zivilrechtliche Strafen erleiden zu müssen. Und die Whigs ordneten gegen den Willen der Tories an, dass die Katholiken ihren Glauben bekennen durften, ohne Teile ihrer Freiheit einbüßen zu müssen. Gesetze, die den Kauf von Negern und deren Leibeigenschaft verboten, dehnten den Bereich der Freiheit aus. Das Monopol der East India Company wurde abgeschafft und jedem der Handel mit Indien erlaubt. Die politische Knechtschaft der Nichtrepräsentierten wurde in Teilen gelockert, sowohl durch das Reformgesetz (Reform Bill) als auch durch das Gesetz zur Gemeindereform (Municipal Reform Bill), sodass auf allgemeiner wie auf lokaler Ebene die Vielen weniger unter dem Zwang der Wenigen standen. Glaubensabtrünnige waren nicht mehr länger verpflichtet, sich der kirchlichen Heirat zu unterwerfen, sondern frei, rein zivil zu heiraten. Anschließend wurden Beschränkungen gelockert und aufgehoben, die den Kauf ausländischer Güter und das Anheuern ausländischer Schiffe und Seeleute betraf; ja sogar die Unterdrückung der Presse, die man ursprünglich eingeführt hatte, um die Verbreitung von Meinungen zu verhindern, wurde abgeschafft. Egal ob sie nun von den Liberalen selbst gemacht wurden oder nicht, für all diese Veränderungen gilt fraglos, dass sie im Einklang mit den Prinzipien stehen, zu denen die Liberalen standen und auf die sie drängten. Aber warum zähle ich all diese wohlbekannten Fakten auf? Ganz einfach deshalb, weil es, wie eingangs erwähnt, notwendig zu sein scheint, alle daran zu erinnern, was der Liberalismus früher einmal war, damit sie seine Unähnlichkeit mit 3  Green, Short History, S. 705. (John Richard Green (1837 – 1883), englischer Historiker, dessen Short History of the English People 1874 erschien, d. Hrsg.)

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dem Liberalismus der Gegenwart erkennen. Eigentlich könnte man auf die Nennung all dieser Maßnahmen verzichten, um deren gemeinsamen Nenner hervorzuheben, doch die Menschen wissen inzwischen nicht mehr, was diese Maßnahmen gemeinsam haben. Sie wissen nicht mehr, dass alle diese wahrhaft liberalen Änderungen in der einen oder anderen Weise die erzwungenen Kooperationen im gesellschaftlichen Leben vermindert und die freiwilligen Kooperationen vermehrt haben. Sie haben vergessen, dass sie in der einen oder anderen Form die Reichweite der staatlichen Autorität verkleinert und den Bereich, in dem die Bürger unbehelligt agieren dürfen, vergrößert haben. Sie haben die Wahrheit aus dem Blick verloren, nämlich dass früher der Liberalismus normalerweise für die individuelle Freiheit und gegen den staatlichen Zwang stand. Und nun kommt die Frage: Wie kommt es, dass die Liberalen das aus dem Blick verloren haben? Wie kommt es, dass der Liberalismus, je mächtiger er wird, umso mehr mit seiner Gesetzgebung die Menschen zwingt? Wie kommt es, dass der Liberalismus entweder direkt durch eigene Mehrheiten oder indirekt durch die fallweise Unterstützung oppositioneller Mehrheiten sich der Politik verschrieben hat, die Handlungen der Bürger zu diktieren und, als Folge dessen, den Bereich einzuengen, in dem sie nach wie vor frei handeln dürfen? Wie können wir die Ausbreitung des geistigen Wirrwarrs erklären, der sie dazu führte, in Verfolgung des vermeintlich öffentlichen Wohls die Methoden zu verkehren, mit denen sie früher das öffentliche Wohl erwirkten? So unverantwortlich der unbewusste Wechsel in der Politik auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so entstand er doch, wie wir sehen werden, ganz natürlich. Angesichts dessen, dass man die politischen Angelegenheiten in der Regel nicht sonderlich klar durchdenkt, und eingedenk der gegenwärtigen Lage war nichts anderes zu erwarten. Um das zu erhellen, sind einige erläuternde Einschübe vonnöten. Von den niedersten bis zu den höchsten Kreaturen schreitet die Intelligenz durch Akte der Differenzierung voran; so auch unter den Menschen von den unwissendsten zu den kultiviertesten. Richtig klassifizieren – Dinge derselben Natur derselben Gruppe zuzuordnen und Dinge anderer Natur anderen Gruppen – ist die grundlegende Bedingung für die rechte Handlungsorientierung. Es beginnt mit dem groben Erkennen, das uns davor warnt, dass ein großer dunkler Körper naht (so wie geschlossene, auf das Fenster gerichtete Augen den Schatten wahrnehmen, der vors Gesicht gehalten wird, und uns sagen, dass sich vor uns etwas bewegt). Der nächste Schritt ist dann fortgeschrittenes Sehen, bei dem durch exakt wahrgenommene Form-, Farb- und Bewegungskombinationen entfernte Objekte als Beute oder Feind identifiziert werden und so die Verbesserung der Verhaltensanpassung ermöglicht wird, um Nahrung zu sichern und Tod zu vermeiden. Dass die zunehmende Wahrnehmung von Unterschieden und die daraus folgende größere Exaktheit beim Klassifizieren eine Zunahme an Intelligenz bewirkt (einer ihrer wichtigsten Aspekte), kann man auch dann sehen, wenn man von der vergleichsweise einfa-

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chen physischen Sehkraft zur vergleichsweise komplexen geistigen Vorstellungskraft übergeht. Bei ihrer Anwendung werden Dinge, die zuvor durch bestimmte äußere Ähnlichkeiten oder gewisse äußere Umstände eingruppiert wurden, in Übereinstimmung mit ihrer intrinsischen Struktur oder Natur wahrheitsgemäßer eingruppiert. Die unterentwickelte geistige Vorstellungskraft ist in ihren Klassifizierungen genauso unkritisch und fehlerhaft wie die unterentwickelte Sehkraft. Z. B. war bei der frühen Einteilung der Pflanzen in Familien wie Bäume, Büsche und Kräuter die Größe als das auffälligste Merkmal der Einteilungsgrund, und die gebildeten Ansammlungen einten viele Pflanzen, die höchst ungleich waren, und separierte andere, die eng verwandt waren. Oder besser noch, man nehme die beliebten Klassifikationen, die Fische (fish) und Muscheltiere (shell-fish) unter den gleichen allgemeinen Namen fassen und unter Muscheltiere Krebse und Weichtiere einen, ja mehr noch, Meeressäuger als Fische betrachten. Hier werden Kreaturen, die ihrem natürlichen Wesen nach weiter voneinander entfernt sind als ein Fisch von einem Vogel in derselben Klasse und Unterklasse miteinander verbunden, teils wegen Ähnlichkeiten in ihrer Lebensweise als Meeresbewohner, teils wegen ihrer allgemeinen Ähnlichkeit im Geschmack. Nun, die allgemeine Wahrheit, die sich in diesen Beispielen zeigt, gilt auch für die höheren Bereiche der geistigen Vorstellungskraft, die mit Dingen befasst ist, die sich nicht den Sinnen erschließen, darunter unter anderem Dinge wie politische Institutionen und politische Instrumente. Wenn man an sie denkt, dann gilt auch hier, dass die Ergebnisse unzureichender geistiger Fähigkeiten oder unzureichender Kultivierung derselben (oder beides) fehlerhafte Klassifizierungen und, daraus folgend, fehlerhafter Schlüsse sind. Die Neigung, zu irren, ist hier viel größer, weil die Dinge, mit denen der Geist befasst ist, sich nicht in der gleichen einfachen Art überprüfen lassen. Man kann eine politische Einrichtung nicht sehen oder anfassen. Man kann sie nur erkennen, wenn man versucht, sie sich konstruktiv vorzustellen. Genau so wenig kann man eine politische Maßnahme durch physische Wahrnehmung erfassen. Auch hier ist ein Prozess geistiger Repräsentation erforderlich, bei dem man die Elemente der Maßnahme im Geiste zusammenfügt und sich die eigentliche Natur der Kombination vorstellt. Daher zeigt sich hier noch viel mehr als in den vorherigen Fällen die fehlerhafte geistige Vorstellung in der Gruppierung gemäß äußerer Eigenschaften oder äußerer Umstände. Dass Institutionen aus diesem Grund falsch klassifiziert werden, können wir an der gängigen Auffassung sehen, die Römische Republik sei eine beliebte Staatsform gewesen. Schaut man auf die frühen Ideen der Französischen Revolution, die einen idealen Zustand der Freiheit anstrebten, dann entdeckt man, dass ihnen die politischen Formen und Taten der Römer als Vorbild dienten. Und auch heute noch findet man Historiker, die uns anhand der Korruption in der Römischen Republik beispielhaft zeigen, wozu eine Volksherrschaft führen kann. Aber die Ähnlichkeit zwischen den Institutionen der Römer und den zurecht frei genannten Institutionen sind nicht größer als die zwischen einem Hai und einem Delphin – eine generelle Ähnlichkeit in der äußeren Form, die mit weitgehend unterschiedlichen internen Strukturen einhergeht. Der römische Staat war nämlich eine kleine Oligarchie innerhalb einer

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größeren Oligarchie, deren Mitglieder allesamt unkontrollierte Autokraten waren. Jene Gesellschaft, in der die vergleichsweise wenigen Männer, die politische Macht hatten und insofern frei waren, kleine spießige Despoten abgaben, die nicht nur Sklaven und Angehörige, sondern auch Kinder wie Vieh unter Verschluss hielten, war ihrer inneren Natur gemäß eher mit dem gewöhnlichen Despotismus verwandt als mit einer Gesellschaft politisch gleichberechtigter Bürger. Wenn wir nun zu unserer Ausgangsfrage zurückkehren, dann verstehen wir die Art von Verwirrung, in der sich der Liberalismus verloren hatte, und den Ursprung jener verfehlten Klassifizierungen politischer Instrumente, die ihn irreführten – Klassifizierungen aufgrund äußerer Auffälligkeiten, statt aufgrund der inneren Natur. Wozu wurden die Veränderungen der Liberalen in der Vergangenheit gemacht? Welchen Befürchtungen in der Bevölkerung und unter denen, welche die Veränderungen durchgesetzt haben, galten sie? Nun, sie schafften die Missstände ab, unter denen das Volk oder ein Teil von ihm litt. Das war ihr gemeinsames Merkmal, das sich tief in die Köpfe der Menschen einbrannte. Sie linderten die Übel, unter denen große Teile der Bürgerschaft direkt oder indirekt litten, sei es infolge des Elends oder als Hindernis zum Glück. Und weil die meisten Menschen glauben, ein korrigiertes Übel entspräche einem erreichten Gut, hielt man diese Maßnahmen für viele kleine Güter. Und so wurde das Wohlergehen der Vielen von liberalen Staatsmännern und liberalen Wählern gleichermaßen als Ziel des Liberalismus verstanden. Daher die Verwirrung. Und so kam es, dass mit dem Gewinn eines allgemeinen Gutes, das nach außen hin den Gütern früherer liberaler Maßnahmen (die früher jedes Mal durch die Lockerung von Beschränkungen erzielt wurden) glich, die Liberalen nach dem allgemeinen Gut zu trachten begannen, nicht als einem Ziel, das man indirekt infolge von Beschränkungserleichterungen erreichen kann, sondern als ein Ziel, das direkt erreichbar ist. Und bei dem Versuch, es direkt zu erreichen, haben sie Methoden benutzt, die ihrem Wesen nach den ursprünglich verwendeten Methoden entgegengesetzt waren. Nachdem wir nun gesehen haben, wie es zur Kursänderung in der Politik kam (oder zur partiellen Wende, sollte ich sagen, weil das kürzlich verabschiedete Beisetzungsgesetz (Burials Act) und die Bemühungen, alle verbliebenen religiösen Ungleichheiten abzuschaffen, in mancherlei Hinsicht eine Fortsetzung der ursprünglichen Politik bezeugen), sollten wir dazu übergehen, über das Ausmaß nachzudenken, in dem sie in der Vergangenheit vollzogen wurde, und das noch größere Ausmaß, in dem sie künftig vollzogen wird, sollten die gegenwärtigen Ideen und Empfindungen weiterhin vorherrschen. Bevor wir fortfahren, sollte man erwähnen, dass wir nicht beabsichtigen, über die Absichten zu reflektieren, die zu den diversen Beschränkungen und Vorschriften geführt haben. Die Absichten dürften wohl in fast allen Fällen gute gewesen sein. Man muss zugestehen, dass die 1870 gesetzlich verordneten Beschränkungen hinsichtlich der Beschäftigung von Frauen und Kindern in Färbereien für türkisch­ rote Produkte nicht von weniger menschenfreundlichen Absichten getragen waren

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als die Gesetze unter Edward VI., die für Gesellen eine Mindestzeit vorschrieben. Der irische Seed Supply Act von 1880, der den Schutzherrn ermächtigte, anstelle seines armen Pächters Samen zu kaufen und dessen ordnungsgemäße Aussaat zu überwachen, erwuchs dem Wunsch nach öffentlichem Wohl nicht weniger als die Gesetze von 1533, die dem Pächter das Maximum an zu haltenden Schafen vorschrieben, oder jene von 1597, die anordneten, dass verfallene Bauernhöfe wieder aufzubauen seien. Keiner stellt in Frage, dass die diversen Maßnahmen der letzten Jahre, die den Verkauf berauschenden Schnapses einschränkten, genau so sehr mit Blick auf die öffentliche Moral ergriffen wurden wie die Maßnahmen, die die Alten einführten, um die Übel des Luxus einzudämmen, wie z. B. im 14. Jahrhundert, als es Auflagen für Kost und Kleidung gab. Jedermann gesteht zu, dass die Edikte, die einst Heinrich VIII. erließ, um die niederen Klassen vor dem Spiel mit Würfeln, Karten und Kugeln zu bewahren, nicht mehr von dem Wunsch nach öffentlichem Wohl beseelt waren als die jüngst beschlossenen Gesetze zur Glückspielkontrolle. Ich habe auch nicht vor, die Weisheit dieser modernen Eingriffe, bei deren Ausweitung die Konservativen und Liberalen sich gegenseitig übertreffen wollen, in Frage zu stellen, genauso wenig wie die Weisheit der älteren Eingriffe, die den neuen in vielen Fällen ähneln. Wir wollen auch nicht erörtern, ob die jüngsten Gesetzes­entwürfe zur Lebensrettung von Seeleuten mehr oder weniger vernünftig sind als es die weitreichende schottische Maßnahme in der Mitte des 15. Jahrhunderts war, die es den Kapitänen untersagte, den Hafen im Winter zu verlassen. Wir wollen es für den Moment auf sich beruhen lassen, was die bessere Ermächtigung ist: jene für Lebensmittelkontrolleure, die Geschäftsräume nach ungenießbaren Lebensmitteln durchstöbern dürfen, oder jene für Hafenkneipiers, die unter Edward III. per Gesetz beeiden mussten, ihre Gäste zu kontrollieren, um die Ausfuhr von Geld und Tafelsilber zu verhindern. Wir gehen davon aus, dass die Klausel im Canal-Boat Act, die es dem Schiffseigentümer untersagt, seine Kinder kostenlos mitfahren zu lassen, genau so sinnlos ist, wie es jene im bis 1824 gültigen Spitalfields Act 4 war, die es zum Wohle der Handwerker den Fabrikanten verbot, ihre Fabriken in mehr als 10 Meilen Entfernung zur Royal Exchange anzusiedeln. Was das menschenfreundliche Motiv und das weise Urteil angeht, die wir beide unterstellen wollen, so klammern wir diese aus und befassen uns nur mit dem Zwang, der jenen Maßnahmen innewohnt, die in Zeiten liberaler Vorherrschaft in Kraft gesetzt wurden, sei es nun zum Guten oder zum Bösen. Um die Illustrierungen im Rahmen zu halten, wollen wir mit dem Jahr 1860 und der zweiten Amtszeit unter Lord Palmerston beginnen. In jenem Jahr wurden die Beschränkungen im Fabrikgesetz auf die Bleich- und Färberbetriebe ausgedehnt. Man durfte nun Lebensmittel- und Getränkekontrolleure einsetzen, die aus den Kommunalabgaben zu bezahlen waren, und es gab ein Gesetz zur Kontrolle von Gaswerken und zur Festlegung von Gasqualitätsstandards und Preisobergrenzen. Es gab zudem das Gesetz, das zusätzliche Bergwerkskontrollen vorsah und die Beschäftigung 4 Von 1773 bis 1824 geltendes Gesetz, das zum Schutze der Weber in Spitalsfield Löhne und Tuchpreise festlegte.

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von Jungen unter 12 Jahren, die keine Schulbildung besaßen und nicht lesen und schreiben konnten, unter Strafe stellte. 1861 kam es dann zu einer Ausdehnung der Zwangsmaßnahmen des Fabrikgesetzes auf die Klöppelindustrie. Man übertrug den Hütern des Armenrechts und anderen die Macht, die Zwangsimpfung durchzusetzen. Die Gemeinderäte erhielten das Recht, Mietraten für Pferde, Ponies, Mulis, Esel und Boote festzusetzen, und bestimmte örtliche Behörden übertrugen ihnen die Macht, die Gemeinde für die Be- und Entwässerung sowie für die Viehtränken zu besteuern. 1862 wurde ein Gesetz erlassen, das die Beschäftigung von Frauen und Kindern in Färbereien, bei denen im Freien gearbeitet wurde, regelte, und ein Gesetz, das Kohlebergwerke mit nur einem Schacht bzw. mit Schächten ohne normierten Zwischenabstand für unrechtmäßig erklärte. Außerdem wurde ein Gesetz verabschiedet, das dem Rat für medizinische Erziehung das Exklusivrecht zugestand, ein Arzneibuch zu veröffentlichen, dessen Preis vom Schatzmeister festlegt wurde. 1863 wurde die Zwangsimpfung auch auf Schottland und Irland ausgedehnt. Bestimmte Gremien wurden ermächtigt, Kredite aufzunehmen, die aus den Kommunalabgaben bedient wurden. Mit diesen Krediten wurden Arbeitslose eingestellt und bezahlt. Die örtlichen Autoritäten erhielten das Recht, brachliegende Flächen in Besitz zu nehmen und die Ortsansässigen für deren Unterhalt in die Pflicht zu nehmen. Dann gab es den Bakehouses Regulation Act, der nicht nur festlegte, wie alt die zu bestimmten Tageszeiten tätigen Angestellten sein mussten, sondern auch, in welchem Turnus die Backstube zu kalken war, und zwar mit drei Kalkschichten, und dass sie mit heißem Wasser und Seife zu waschen war, mindestens alle sechs Monate. Und es kam zu einem Gesetz, wonach der Stadtrat über die Bekömmlichkeit bzw. Unbekömmlichkeit zu entscheiden hatte, wenn ein Kontrolleur ihm Lebensmittel zur Überprüfung vorlegte. Was die Zwangsgesetze von 1864 angeht, so könnte man die Ausdehnung des Fabrikgesetzes auf verschiedene andere Gewerbe nennen, einschließlich der Regulierungen bezüglich Reinigung und Belüftung sowie Anordnungen für bestimmte Angestellte in Zündholzfabriken, nämlich dass sie ihre Mahlzeiten nicht auf dem Betriebsgelände, sondern nur dort, wo das zugeschnittene Holz gelagert war, einzunehmen hätten. Zudem erließ man ein Schornsteinfegergesetz, ein Gesetz, das den Verkauf von Bier in Irland noch stärker regelte als vorher, ein Gesetz, das für Drähte und Anker Zwangstests vorsah, eine Novelle, die das Gesetz für öffentliche Bauarbeiten von 1863 erweiterte, und das Gesetz gegen ansteckende Krankheiten, das jüngst der Polizei für bestimmte Plätze und in Bezug auf eine bestimmte Sorte von Damen Kompetenzen eingeräumt hat, welche die Schutzzäune der individuellen Freiheit, die in früheren Tagen errichtet worden sind, in großer Zahl niederreißen. Das Jahr 1865 erlebte weitere zeitweise gewährte Wohltaten für Wanderer auf Kosten der Steuerzahler, ein zusätzliches Sperrstundengesetz für Gasthäuser und ein Gesetz zur Brandschutzregulierung in London. Dann, stellvertretend für die Amtszeit von Lord John Russell, sollte das schottische Viehstallgesetz von 1866 genannt werden, das den lokalen Behörden die Macht gab, die sanitären Bedingungen zu kontrollieren und die Stückzahl der Tiere festzulegen; ein Gesetz, das die Hopfenbauern zwang, ihre Säcke mit Jahreszahlen und Gewichtsangaben zu versehen, und der Polizei Durchsuchungsrechte

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gab; ein Gesetz, das in Irland die Errichtung von Herbergen erleichterte und neue Vorschriften für Häftlinge vorsah; ein Gesetz im Gesundheitswesen, wonach Herbergen registriert und ihre Belegungszahlen begrenzt sein müssen und das Kalken vorgeschrieben und zu inspizieren ist; und ein Gesetz, das den örtlichen Behörden erlaubt, für öffentliche Bibliotheken Steuern zu erheben, wodurch die Mehrheit eine Minderheit dazu bringen kann, für ihre Bücher zu zahlen. Wenn wir nun zur Gesetzgebung in der Amtszeit von Herrn Gladstone kommen, dann haben wir da das 1869 eingerichtete staatliche Telegrafenamt und das gleichzeitig ergangene Verbot, von anderen Stellen aus zu telegraphieren; wir haben die Ermächtigung des Ministers, das Miettransportwesen in London zu regulieren; wir haben außerdem eine zusätzliche und striktere Regulierung zur Eindämmung von Tierseuchen, eine zusätzliche Vorschrift für Bierschänken und ein Schutzgesetz für Seevögel (das eine höhere Fischsterberate sicherstellte). 1870 erhielten wir ein Gesetz, das die Bauaufsichtsbehörde autorisierte, Verbesserungen seitens der Vermieter und den Kauf durch Mieter fortschrittlicher zu gestalten; dazu kam das Gesetz, das dem Bildungsministerium ermöglicht, Schulträger einzusetzen, die Schulgelände erwerben und für freie Schulen sorgen können, finanziert aus lokalen Steuern, wobei die Schulträger die Schulgebühren zahlen und die Eltern zwingen dürfen, ihre Kinder in die Schule zu schicken, usw. usw. Zu nennen ist hier das neue Werkhallen- und Betriebswerkstättengesetz, das neben einigen anderen Vorschriften auch solche für Frauen und Mädchen bereithält, die in der Konservierungsindustrie für Obst und Fisch arbeiten. Seit 1871 kennen wir ein verbessertes Gesetz für Handelsschiffe (Mercantile Marine Act), das den Leitern des Handelsamts vorschreibt, den Tiefgang der auslaufenden Schiffe aufzuzeichnen; außerdem gibt es ein neues Werkhallen- und Betriebswerkstättengesetz mit zusätzlichen neuen Vorschriften; es gibt ein Gesetz für fliegende Händler, das Straßengeschäft ohne Lizenz verbietet, die Gültigkeit der Lizenz räumlich begrenzt und der Polizei erlaubt, das Gepäck der Händler zu durchsuchen; und es gibt neue Vorschriften zur Zwangsimpfung. Nach einem der vielen Gesetze des Jahres 1872 ist es illegal, mehr als eine Betreuerin pro Kind einzustellen, außer in Häusern, die öffentlich registriert sind und deren Belegzahlen ebenfalls vom Amt festgelegt sind; es gibt ein Lizenzvergabegesetz, das den Verkauf von Alkoholika an Personen unter 16 Jahren untersagt; und es gibt ein neues Gesetz für Handelsschiffe, das eine jährliche Erfassung der Passagierschiffe vorsieht. 1873 verabschiedete man ein Gesetz für Kinder in der Landwirtschaft, das Bauern unter Strafe verbot, ihre Kinder arbeiten zu lassen, wenn diese weder eine Grundschulausbildung noch eine bestimmte Anzahl von Schultagen nachweisen konnten; und es wurde ein Gesetz für die Handelsschifffahrt erlassen, das für jedes Schiff einen Tiefganganzeiger vorschrieb und dem Handelsamt die Macht gab, die Zahl der Rettungsboote und die Lebensrettungsausrüstung an Bord festzulegen. Kommen wir nun zur liberalen Gesetzgebung der gegenwärtigen Regierung. Seit 1880 gibt es das Gesetz, das vorbehaltliche Lohnvorauszahlungen an Seemänner untersagt; zudem ein Gesetz, das für den sicheren Transport von Getreidela-

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dungen bestimmte Auflagen vorsieht; und ein Gesetz, das den Zwang auf Eltern erhöht, ihre Kinder zur Schule zu schicken. 1881 kamen dann Gesetze, die das Abfischen von Muschelgründen und Köderfischgründen mit Schleppnetzen unterbanden und es unmöglich machten, in Wales an Sonntagen ein Glas Bier zu bekommen. Seit 1872 darf das Handelsamt Lizenzen für die Herstellung und den Verkauf von Elektrizität vergeben, und die örtlichen Behörden dürfen Steuern für elektrisches Licht erheben; des Weiteren darf man nun beim Steuerzahler auch Geld für den leichteren Zugang zu öffentlichen Bädern und Waschhäusern eintreiben; außerdem dürfen die örtlichen Behörden Vorschriften für die angemessene Unterkunft saisonaler Erntekräfte im Obst- und Gemüseanbau erlassen. Von derlei Gesetzgebung im Jahre 1883 wäre das Cheap Train Gesetz zu nennen, das teils über die jährliche Besteuerung der Nation in Höhe von £ 400. 000 und teils auf Kosten des Bahneigentümers die Reisekosten für Arbeiter (in Form von Fahrpreisnachlässen) verbilligte. Dem Handelsamt, hier den Bahnbeauftragten, oblag es, für ausreichend gute und häufige Fahrmöglichkeiten zu sorgen. Und dann gab es noch ein Gesetz, das unter Androhung einer £ 10-Strafe die Lohnauszahlung an Arbeiter in Wirtshäusern untersagte, und ein weiteres Gesetz für Werkhallen- und Betriebswerkstätten, das die Überprüfung der Arbeiten mit Bleiweiß anordnete (es war zu kontrollieren, ob genug Overalls, Atemmasken, Bäder und kohlensäurehaltige Getränke etc. vorhanden waren) und die Arbeitszeiten festlegte, auch die für Bäckereien, wobei letztere zudem noch detaillierte Bauvorschriften beachten mussten und in einem Zustand zu halten waren, der den Ansprüchen der Inspektoren genügte. Allerdings sind wir weit davon entfernt, uns ein angemessenes Bild von der Lage zu machen, wenn wir nur auf die verpflichtende Gesetzgebung schauen, die in den letzten Jahren geschaffen wurde. Wir müssen auch auf jene achten, die derzeit vorbereitet wird und in der Sache wesentlich strenger und im Ausmaß weitaus dramatischer zu werden droht als die momentan geltende. Erst jüngst hat ein Kabinettsminister, der zu den sogenannten fortschrittlichsten unter den Liberalen zählt, die Pläne der letzten Regierung zur Verbesserung der Werkssiedlungen als „Flickschusterei“ abgekanzelt und sich für effektive Zwangsmaßnahmen für Eigentümer kleiner Häuser, Landbesitzer und Steuerzahler ausgesprochen. Ein anderer Kabinettsminister äußerte sich in einer Ansprache an seine Wählerschaft verächtlich über die Taten der philanthropischen Gesellschaften und Kirchengemeinden zum Wohl der Armen und meinte, dass „alle Menschen dieses Landes dieses Werk als ihr Werk betrachten sollen“, womit er meint, dass es an der Zeit für eine umfangreiche Staatsaufgabe sei. Außerdem haben wir ein radikales Mitglied im Parlament, das eine große und mächtige Gruppe anführt, die mit jährlich steigenden Aussichten auf Erfolg nach Mäßigkeit verlangt und den örtlichen Mehrheiten die Macht geben will, für bestimmte Güter die Tauschfreiheit einzuschränken. Arbeitszeitregulierungen für bestimmte Klassen, die durch eine Ausweitung des Werkhallen- und Betriebswerkstättengesetzes allgemein um sich greifen, werden jetzt wahrscheinlich noch weiter um sich greifen. Es wurde ein Gesetz vorgeschlagen, mit dem man alle Warenhausangestellten einer solchen Regulierung unter-

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werfen will. Und es gibt auch eine steigende Nachfrage nach einer freien (d. h. steuerfinanzierten) Schulbildung für alle. Die Zahlung von Schulgebühren steht im Ruf, ein Unrecht zu sein: der Staat müsse die gesamte Last tragen. Außerdem fordern viele, dass der Staat als zweifellos kompetenter Schiedsrichter in der Frage, was eine gute Erziehung der Armen auszeichnet, auch der Mittelklasse eine gute Erziehung vorschreiben solle. Er solle auch deren Kindern nach staatlichem Muster eine gute Erziehung geben, wobei man deren Güte nicht minder anzweifelt, als es die Chinesen seinerzeit in Bezug auf die ihre taten, als sie diese festzulegen hatten. Dann gibt es noch die „Forschungsstiftung“, nach der man in letzter Zeit so laut ruft. Der Staat stellt dazu bereits jetzt jährlich £ 4. 000 bereit, die von der Royal Society verteilt werden; und weil es an denen mangelt, die Grund genug hätten, sich gegen den Druck der Interessierten zu wehren, und weil die Interessierten wiederum von jenen Rückendeckung haben, die sie bereits überzeugen konnten, wird sich aus alledem nach und nach jene bezahlte „Priesterkaste der Wissenschaft“ formen, die von Sir David Brewster5 schon seit langem gefordert wird. Und wieder einmal fordert man mit plausiblen Argumenten, ein System der Pflichtversicherung einzurichten, in das man die Menschen von jung auf hineinzwingt, um für die Zeit der Erwerbslosigkeit vorzusorgen. Die Aufzählung all dieser zusätzlichen Zwangsmaßnahmen, die uns früher oder später erwarten werden, macht die Rechnung jedoch keineswegs komplett. Auf den Zwang, der mit diesen Maßnahmen in Form zunehmender Besteuerung auf nationaler und lokaler Ebene einhergeht, wurde bislang nur nebenbei hingewiesen. Die kommunalen Steuern steigen Jahr für Jahr, teils um die Kosten zu tragen, die mit der Umsetzung der sich immer mehr vervielfältigenden Regulierungskataloge verbunden sind (wobei jeder Katalog neue Beamte erfordert), und teils um die Auslagen der neuen öffentlichen Einrichtungen zu begleichen, z. B. der Volksschulen, der Bibliotheken, Museen, Bäder und Waschhäuser, Erholungsparks, usw. usw. Und die allgemeinen Steuern steigen durch die Stipendiengelder und die Fakultäten für Wissenschaft und Künste usw. Jedes dieser Dinge bedingt mehr Zwang, beschränkt die Freiheit der Bürger immer mehr. Denn jedes von ihnen ist in Begleitung weiterer Geldeintreibungen, für die gilt: „Bislang warst Du frei, diesen Teil Deiner Einkünfte nach Deinem Gutdünken zu verwenden; von nun an bist Du nicht mehr frei, ihn auszugeben, sondern wir werden ihnen zum Wohl aller ausgeben.“ Der Bürger ist also, ob direkt oder indirekt, in den meisten Fällen beides zugleich, auf jeder weiteren Stufe der wachsenden Zwangsgesetzgebung um weitere Freiheiten beraubt, die er vorher gehabt hat. So sind die Taten der Partei, die dafür den Namen liberal beansprucht und sich selbst liberal schimpft, als wäre sie der Anwalt einer wachsenden Freiheit!

5  David Brewster (1781 – 1868), ein schottischer Physiker, war wesentlich an der Herausgabe der 30-bändigen Edinburgh Encyclopedia beteiligt, d. Hrsg.

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Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass viele in der Partei den vorangegangenen Abschnitt mit Ungeduld gelesen haben und auf das Übersehene hinweisen wollen, das ihrer Meinung nach die Gültigkeit des Argumentes entkräftet. „Sie vergessen“, will man sagen, „den grundlegenden Unterschied zwischen der Macht, die in der Vergangenheit jene Beschränkungen verursacht hat, die von den Liberalen abgeschafft wurden, und der gegenwärtigen Macht, welche die Beschränkungen eingeführt hat, die Sie anti-liberal nennen. Sie vergessen, dass die eine Macht verantwortungslos war, während die andere verantwortungsvoll ist. Sie vergessen, dass im Falle der jüngsten Gesetzgebung durch die Liberalen die Menschen, wenn sie verschiedentlich reguliert werden, von einem Organ reguliert werden, das sie selbst geschaffen haben und ihre Zustimmung findet.“ Meine Antwort ist, dass ich diesen Unterschied nicht vergessen habe, aber ich denke behaupten zu können, dass dieser Unterschied im Hinblick auf die Sache weitgehend irrelevant ist. Zunächst kommt es eigentlich darauf an, ob in das Leben der Bürger mehr hineinregiert wird als vorher, und nicht, welcher Natur die Behörde ist, die hineinregiert. Nehmen wir einen einfachen Fall. Ein Mitglied einer Handelsvereinigung hat sich mit anderen zusammengeschlossen, um eine Organisation rein repräsentativer Art zu gründen. Durch sie wird er zum Streik gezwungen, wenn die Mehrheit es so will. Ihm ist die Annahme von Arbeit verboten, dank der Vorgaben, die sie diktiert. Er kann nicht von seiner außergewöhnlichen Fähigkeit oder Energie in dem von ihm gewollten Maße profitieren, wenn sie es untersagt. Er kann nicht die Regeln missachten, ohne die pekuniären Vorteile der Organisation einzubüßen, der er beigetreten ist, und ohne die Verfolgung bzw. Gewalt seiner Kollegen auf sich zu ziehen. Ist er denn weniger gezwungen, weil die Körperschaft, die ihn zwingt, eine ist, die er mit anderen gleichberechtigt geschaffen hat? Zweitens, wenn man entgegenhält, dass die Analogie fehlerhaft sei, weil die nationale Staatsgewalt als Beschützerin des Lebens und der Interessen einer Nation, der sich alle unterwerfen müssen, um nicht den gesellschaftlichen Zerfall zu riskieren, weit größere Herrschaft über die Bürger habe als die Leitung irgendeiner privaten Organisation, dann antworte ich: Auch eingedenk dieses Unterschiedes behält die gemachte Antwort ihre Gültigkeit. Wenn die Menschen ihre Freiheit so nutzen, dass sie sie aufgeben, sind sie dann anschließend weniger Sklaven? Wenn ein Volk durch ein Plebiszit einen Despoten zum Herrscher wählt, bleibt es dann frei, weil es den Despotismus selbst erschaffen hat? Sind die Zwangsedikte, die der Despot erlässt, als legitim anzusehen, weil sie letztlich aus ihren eigenen Stimmen hervorgegangen sind? Genauso gut kann man sagen, dass ein Ostafrikaner, der seinen Speer in Gegenwart eines anderen zerbricht und somit zu dessen Leibeigenem wird, seine Freiheit behält, weil er seinen Herrn frei wählt. Wenn letztlich dennoch jemand, nicht ganz ohne Anzeichen von Verärgerung, wie ich mir denken kann, das Argument zurückweist und sagt, es bestünde nicht wirklich eine Parallele zwischen der Beziehung eines Volks zu einem Staat, in dem ein verantwortungsloser Herrscher auf Dauer gewählt ist, und jener, in der eine verantwortungsvolle Körperschaft aufrechterhalten wird und von Zeit zu Zeit

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neu gewählt wird, dann gibt es auch darauf eine Antwort – eine insgesamt sehr heterodoxe Antwort, welche die meisten in großes Erstaunen setzen wird. Diese Antwort lautet: Jene vielfältigen Akte der Einschränkung kann man nicht damit rechtfertigen, dass sie durch eine vom Volk gewählte Körperschaft erfolgen, weil die Autorität einer vom Volk gewählten Körperschaft um nichts weniger unbeschränkt ist als die Autorität eines Monarchen. Und so wahr wie der Liberalismus in der Vergangenheit die Voraussetzungen der unbeschränkten Autorität des Monarchen in Frage gestellt hat, so wahr wird der Liberalismus der Gegenwart die Voraussetzungen der unbeschränkten parlamentarischen Autorität in Frage stellen. Dazu bald noch mehr. Hier verweise ich nur darauf, dass dies die eigentliche Lösung des Problems aufweist. Derweil muss der Hinweis genügen, dass bis vor kurzem der wahre Liberalismus, so wie der alte, durch seine Taten bewies, dass er der Idee einer beschränkten parlamentarischen Autorität folgte. All die abgeschafften Beschränkungen der Religionen, der Bräuche, des Tausches und Verkehrs, der Geschäftsfusionen und Freizügigkeit der Gewerke, der Meinungsäußerungen zu Theologie und Politik usw. usw. waren stillschweigende Belege dafür, dass eine Begrenzung der politischen Macht wünschenswert ist. So wie der Verzicht auf Luxusgesetze, Gesetze, die diesen oder jenen Zeitvertreib verboten, Gesetze, die bestimmte Anbauformen vorschrieben, und viele andere Gesetze von einmischender Natur, die es früher einmal gab, das Zugeständnis implizierte, dass der Staat in solche Angelegenheiten nicht hineinreden sollte, so war auch die Abschaffung dieser und jener Art der Behinderung individueller Aktivitäten, welche der Liberalismus früherer Tage hervorbrachte, praktisch ein Bekenntnis dazu, die Reichweite staatlichen Handelns einzuengen. Die Erkenntnis, dass die Einschränkung staatlichen Handelns angemessen ist, war das Vorspiel dazu, diese Einschränkung mittels der Theorie zu untermauern. Eine der bekanntesten Einsichten in der Politik ist, dass im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung die Gewohnheit dem Gesetz vorausgeht; und dass die Gewohnheit, sobald sie sich eingebürgert hat, Gesetz wird, indem man es verbindlich gutheißt und ihm eine bestimmte Gestalt verleiht. So ist es denn offenbar, dass der Liberalismus in der Vergangenheit durch seine Handhabung der Begrenzung dem Prinzip der Begrenzung den Weg bereitete. Ich betone, und damit kehre ich von jenen eher allgemeinen Betrachtungen zu unserer speziellen Frage und deren Beantwortung zurück, dass die Freiheit, die ein Bürger genießt, nicht an der Natur der staatlichen Maschinerie (ob nun repräsentativ oder nicht), unter der er lebt, zu messen ist, sondern an der Geringfügigkeit, mit der sie ihm Beschränkungen auferlegt; und dass, egal ob diese Maschinerie mit oder ohne sein Zutun entstand, die staatlichen Handlungen dem Liberalismus unangemessen sind, wenn sie die Beschränkungen über das Maß hinaus erweitern, das nötig ist, um den Bürger davon abzuhalten, seine Mitbürger direkt oder indirekt anzugreifen, soll heißen nötig, um die Freiheit seiner Mitbürger vor seinem Eindringen zu bewahren. In diesem Sinne sollen die Beschränkungen negativ zwingend sein und nicht positiv zwingend.

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Dennoch wird der Liberale wohl weiter protestieren; und noch mehr sein Ableger, der Radikale, der in jüngster Zeit mehr als jeder andere unter dem Eindruck zu stehen scheint, dass er berechtigt sei, andere mit dem ihm möglichen Zwang zu belegen, solange er nur ein gutes Ziel im Auge habe. Wissend, dass sein Ziel irgendwie zum Nutzen der Allgemeinheit ist und irgendwie erreicht werden muss, und glaubend, dass der Tory umgekehrt von Klasseninteressen geleitet ist und die Klassenmacht erhalten will, wird er es offenbar für absurd halten, sich als Gleichgesinnter dazuzugesellen, und die Argumentation verschmähen, mit der man gerne nachweist, dass er dazu gehört. Vielleicht hilft ihm eine Analogie, deren Gültigkeit zu erkennen. Wenn er irgendwo im Fernen Osten, wo die persönliche Regierung die einzige bekannte Regierungsform ist, von den Einwohnern von einem Kampf hört, in dessen Verlauf sie einen grausamen und teuflischen Despoten abgesetzt und an seiner statt jemanden eingesetzt haben, dessen Handlungen belegen, dass er um ihr Wohlergehen besorgt ist, und wenn er, nachdem er von all ihren Selbstregulierungen gehört hat, ihnen sagt, dass sie im Grunde nicht die Natur der Regierung geändert hätten, dann würde er sie in großes Erstaunen versetzen. Und wahrscheinlich hätte er Schwierigkeiten, ihnen klarzumachen, dass auch nach Austausch eines übelwollenden Despoten durch einen wohlwollenden Despoten die Regierungsform immer noch eine Despotie sei. Gleiches gilt für den Toryismus, richtig verstanden. Betrachtet man den Zwang des Staates gegen die Freiheit des Individuums, dann bleibt Toryismus Toryismus, egal ob er seinen Zwang aus eigennützigen oder uneigennützigen Gründen ausweitet. So gewiss der Despot ein Despot bleibt, egal ob seine Motive seiner willkürlichen Herrschaft gute oder schlechte sein mögen, so gewiss ist der Tory ein Tory, egal ob er egoistische oder altruistische Motive hat, die Staatsmacht zu nutzen, um die Freiheit der Bürger über jenen Grad hinaus einzuschränken, der zur Wahrung der Freiheit aller Bürger nötig ist. Der altruistische Tory gehört genauso zur Gattung der Tories wie der egoistische Tory, auch wenn er eine neue Art der Gattung bildet. Beide stehen direkt im Kontrast zu den Liberalen, wie man sie damals definierte, als man den Liberalen noch zu Recht so nannte und die Definition von ihm lautete – „einer, der größere Freiheit von den Zwängen befürwortet, vor allem von denen der politischen Institutionen.“ Das löst dann auch das Paradox auf, mit dem ich begann. Wie wir sahen, lagen die Ursprünge des Toryismus im Militarismus und die des Liberalismus im Industrialismus. Der eine stand für die Herrschaft des Status und der andere für die Herrschaft des Vertrags. Der eine steht für das System der erzwungenen Kooperation, die mit der legalen Ungleichheit der Klassen einhergeht, und der andere für die freiwillige Kooperation, die mit der legalen Gleichheit der Klassen einhergeht. Zweifellos standen die ersten Handlungen der beiden Parteien dementsprechend entweder für die Beibehaltung der Einrichtungen, welche die Zwangskooperation zur Folge hatten, oder für deren Schwächung beziehungsweise Drosselung. Daraus folgt ganz offensichtlich, dass der heutige Liberalismus, insofern er das Zwangssystem ausdehnt, eine neue Form des Toryismus ist.

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Wie sehr das der Fall ist, werden wir noch klarer erkennen, wenn wir die Tatsachen von der umgekehrten Seite und in die andere Richtung betrachten. Genau das werden wir jetzt tun.

Nachtrag Folgt man diversen Zeitungen, die von diesem Aufsatz Notiz genommen haben, dann sollte mit den oben genannten Abschnitten gemeint sein, dass die Liberalen und die Tories die Plätze getauscht hätten. Das aber ist auf keinen Fall mit ihnen gemeint. Eine neue Art von Toryismus kann entstehen, ohne dass die ursprüngliche Art verschwände. Wenn ich, wie an anderer Stelle sage, dass heutzutage, wenn es um die Ausweitung von Eingriffen geht, „die Konservativen und Liberalen sich gegenseitig übertreffen wollen“, dann habe ich damit deutlich meine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass die Liberalen sich der Zwangsgesetzgebung zwar inzwischen hingegeben haben, dass aber auch die Tories weiterhin an ihr festhalten. Gleichwohl stimmt es, dass die Gesetze, die unter den Liberalen gemacht wurden, die den Bürgern auferlegten Zwänge und Beschränkungen so sehr ausgeweitet haben, dass unter den Konservativen, die unter dieser Aggressivität leiden, sich mehr und mehr Widerstand regt. Das beweist die Tatsache, dass die „Liga zur Verteidigung von Freiheit und Eigentum“ (Liberty and Property Defense League), die weitgehend aus Konservativen besteht, „Individualismus statt Sozialismus“ zum Motto gewählt hat. Wenn der jetzige Trend weiter anhält, dann kann es irgendwann passieren, dass die Tories die Verteidiger jener Freiheiten werden, welche die ­Liberalen auf der Suche dessen, was sie für das öffentliche Wohl halten, mit Füßen treten.

Die Sklaverei von morgen Die Sklaverei von morgen

Die Verwandtschaft zwischen Mitleid und Liebe zeigt sich unter anderem darin, dass beide das Objekt idealisieren. Das Mitgefühl mit dem, der leidet, unterdrückt vorübergehend die Erinnerung an dessen Verfehlungen. Das Gefühl, das in „armer Kerl“ zum Ausdruck kommt, wenn man jemanden leiden sieht, schließt den Gedanken „übler Kerl“, der bei anderer Gelegenheit aufkommen mag, aus. Wenn man die Liederlichen nicht oder kaum kennt, dann werden natürlich alle ihre Schwächen, die sie haben dürften, übersehen. So kommt es, dass man dann, wenn das Elend der Armen sich ausbreitet, meint, es gehe um das Elend der unverschuldet Armen, und nicht glaubt, das Elend sei selbstverschuldet, was es aber zum großen Teil sein dürfte. Jene, deren Mühsal in Pamphleten ausgebreitet und in Predigten und Ansprachen so laut verkündet wird, dass es durch die ganze Gesellschaft hallt, sind angeblich allesamt verdiente Seelen, denen übel mitgespielt wurde, und von keinem nimmt man an, dass er nur die Strafe für seine Missetaten verbüßt. Wenn man in London ein Taxi heranruft, dann wird die Tür erstaunlich oft ganz übereifrig von jemandem geöffnet, der ein Trinkgeld für die Mühe erwartet, die er sich macht. Das Staunen lässt aber schnell nach, wenn man die vielen Müßiggänger vor dem Kneipeneingang zählt oder beobachtet, wie rasch eine Straßenaufführung oder Prozession scharenweise die Faulenzer aus den Elendsvierteln und Hütten der Umgebung anzieht. Wenn man sieht, wie zahlreich sie an jedem noch so kleinen Fleckchen sind, dann wird klar, dass sie zu Zehntausenden durch London ziehen müssen. „Sie haben keine Arbeit“, sagen Sie. Sagen Sie lieber, dass sie die Arbeit ablehnen oder flugs wieder hinlegen. Sie sind einfach Taugenichtse, die auf Kosten derer leben, die was taugen – Landstreicher und Säufer, Kriminelle und solche auf dem Weg dorthin; Jugendliche, die ihren hart arbeitenden Eltern zur Last fallen; Männer, die ihren Frauen den Lohn wegnehmen; Zuhälter, die sich mit den Prostituierten den Gewinn teilen; und dann gibt es noch, weniger auffällig und zahlreich, eine bestimmte Sorte von Frauen. Ist es natürlich, dass das Glück das Los jener sein soll? Oder ist es natürlich, dass sie Unglück über sich und jene bringen, mit denen sie verbunden sind? Ist es nicht offensichtlich, dass es in unserer Mitte eine riesige Menge an Elend gibt, das ganz gewöhnlich aus Missverhalten resultiert und nicht von ihm losgelöst gesehen werden sollte? Es gibt eine Meinung, die immer mehr um sich greift und lauthals verkündet wird. Ihr zufolge soll alles gesellschaftliche Leid beseitigt werden und ist es die Pflicht der anderen, es zu beseitigen. Beide Auffassungen sind falsch. Wenn man Leid von Fehlverhalten trennt, dann lehnt man sich dagegen auf, wie die Dinge beschaffen sind, was noch mehr Leid zur Folge hat. Bewahrt man den Menschen vor den natürlichen Strafen zügellosen Lebens, dann ist es am Ende des Tages nötig, künstliche Strafen zu verhängen, wie Einzelhaft,

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Rädern oder Peitschenhiebe. Ich schlage vor, dass man nach folgendem Diktum verfahren sollte, denn in ihm sind sich Glaube und Wissenschaft einig. Das Gebot „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“, ist nichts weiter als eine christliche Formulierung des allgemeinen Naturgesetzes, unter dem das Leben seinen gegenwärtigen Stand erreicht hat – das Gesetz, dass eine Kreatur, die nicht stark genug ist, sich selbst zu erhalten, sterben muss. Der einzige Unterschied ist, dass das Gesetz in dem einen Fall künstlich durchzusetzen ist und in dem anderen Fall eine natürliche Notwendigkeit ist. Und doch ist dieser besondere Grundsatz, welchen die Wissenschaft so offenkundig begründet, genau jener, den die Christen am wenigsten anzunehmen bereit zu sein scheinen. Zur Zeit nimmt man an, dass es gar kein Leiden geben soll und dass die Gesellschaft Schuld an jenem Leid trägt, das es gibt. „Aber haben wir nicht auch dann eine Verantwortung, wenn es um das Leiden der Unwürdigen geht?“

Wenn die Bedeutung des Wortes „wir“ so weit reicht, dass sie neben uns auch unsere Vorfahren, vor allem auch unsere gesetzgebenden Vorfahren, einschließt, dann stimme ich zu. Ich räume ein, dass jene, die das alte Armenrecht verändert und umgesetzt haben, das Entstehen jenes erschreckenden Ausmaßes an Demoralisierung zu verantworten haben, das abzubauen sicherlich mehrere Generationen brauchen wird. Ich räume auch eine Teilverantwortung früherer und jetziger Gesetzgeber für die Regulierungen ein, die ein Dauerheer an Landstreichern hervorgebracht haben, die von Gewerkschaft zu Gewerkschaft ziehen, und gestehe überdies deren Verantwortung für den stetigen Nachschub an Verbrechern, weil die Straftäter unter Bedingungen in die Gesellschaft entlassen werden, die sie schon fast zwingen, rückfällig zu werden. Ich räume außerdem ein, dass die Menschenfreunde auch einen Teil der Verantwortung tragen, weil sie dem Nachwuchs der Unwürdigen helfen und den Nachwuchs der Würdigen benachteiligen, indem sie deren Eltern mit höheren Kommunalsteuern belasten. Ja, ich räume sogar ein, dass die Scharen von Taugenichtsen, durch öffentliche und private Einrichtungen gepäppelt und größer geworden, dank allerlei mutwilliger Einmischungen mehr leiden müssen, als sie es sonst müssten. Ist das die gemeinte Verantwortung? Ich glaube nicht. Aber lassen wir die Frage nach den Verantwortlichkeiten, und wie diese zu verstehen sind, beiseite, und betrachten wir nur das Übel selbst. Was sollen wir zum Umgang mit demselben sagen? Lassen Sie mich mit einer Tatsache beginnen. Ein früherer Onkel von mir, Reverend Thomas Spencer, der mehr als 20 Jahre für Hinton Charterhouse, bei Bath, zuständig war, hatte just den Dienst in seiner Pfarrei angetreten, da zeigte er auch schon, wie sehr er um das Wohl der Armen besorgt war, indem er eine Schule, eine Bibliothek und eine Kleiderkammer einrichtete, Grundparzellen zuteilte und Musterhütten errichtete. Bis 1833 war er ein Freund der Armen – immer auf der Seite der Armen und gegen deren Aufpasser.

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Dann kamen plötzlich die Debatten über das Armenrecht auf. Durch sie sollten die Übel des herrschenden Systems einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Obwohl er ein leidenschaftlicher Menschenfreund war, war er kein verschüchterter Gefühlsmensch. Jedenfalls setzte er das neue Armenrecht in seiner Pfarrei umgehend um, nachdem es verabschiedet war. Nun erfuhr er Widerstand von allen Seiten. Nicht nur die Armen wendeten sich gegen ihn, sondern auch die Bauern, auf die nun heftige Armenabgaben zukamen. Man kann ja wohl kaum sagen, dass deren Interessen mit der Aufrechterhaltung jenes Systems gleichzusetzen gewesen wären, das sie so heftig besteuerte. Der Grund liegt darin, dass es gängige Praxis war, die Löhne der Bauernknechte teils direkt aus einem Teil der Abgaben zu bezahlen – „Lohnaufstocker“ („make-wages“), so nannte man die Summe. Obgleich die Bauern den größten Teil des Fonds beitrugen, aus dem der „Lohnaufstocker“ bezahlt wurde, schienen die Bauern von diesem Arrangement zu profitieren, weil auch alle anderen Abgabepflichtigen zahlten. Mein Onkel, den so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte, nahm allen Widerstand hin und setzte das Recht um. Das Ergebnis war, dass die Abgaben von jährlich £ 700 auf £ 200 fielen, während sich die Lage in der Pfarrei erheblich verbesserte. „Jene, die sich bisher in den Straßen oder am Eingang zur Kneipe herumgetrieben haben, hatten nun etwas anderes zu tun, und nach und nach fand jeder eine Arbeit“, so dass von den 800 Einwohnern nur 15 als arbeitsunfähige Arme zur Bath Union geschickt wurden (als diese gegründet wurde), statt jener 100, die noch kurze Zeit vorher Fürsorge außer Haus empfingen. Wenn man nun sagt, dass das £ 25-Teleskop, das die Gemeindemitglieder meinem Onkel ein paar Jahre später überreichten, letztlich zeige, wie dankbar die Abgabepflichtigen waren, dann verweise ich als Antwort nur auf die Tatsache, dass Jahre später, nachdem mein Onkel durch seinen Einsatz um das öffentliche Wohl an Überarbeitung gestorben war, keiner der Wohlhabenden sich der Beerdigungsprozession anschloss, sondern nur die Armen. Diese kurze Erzählung entspringt verschiedenen Motiven. Eines davon ist der Wunsch zu beweisen, dass Mitleid mit anderen und selbstaufopfernde Anstrengungen in deren Namen nicht notwendigerweise bedeuten, dass großzügige Hilfen Beifall finden. Ein anderer liegt in dem Anliegen nachzuweisen, dass ein Vorteil statt aus der Vervielfältigung künstlicher Hilfsmittel, um Elend zu lindern, umgekehrt aus deren Verringerung hervorgehen kann. Was ich dabei außerdem noch im Auge habe, ist die Vorbereitung einer Analogie. In einer anderen Form und in einem anderen Bereich weiten wir derzeit Jahr für Jahr ein System aus, das dem System der „Lohnaufstocker“ im alten Armenrecht in dessen Natur entspricht. Die Politiker nehmen die Tatsache zwar wenig zur Kenntnis, aber es lässt sich dennoch zeigen, dass die verschiedenen öffentlichen Vorkehrungen zum Wohle der Arbeiterklasse, die sie auf Kosten der Steuerzahler bereitstellen, dieselbe intrinsische Natur haben wie jene, die in früheren Zeiten das Gesinde der Bauern halb als Arbeiter und halb als Arme behandelt haben. In beiden Fällen erhält der Arbeiter Geld für das, was er tut, um sich einige der Dinge zu kaufen, die er will, während zur Besorgung der restlichen Dinge das Geld für ihn

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aus einem gemeinsamen Fonds genommen wird, für den Steuern erhoben werden. Welchen Unterschied macht es da, ob die Dinge so oder so erworben werden, ob sie umsonst vom Steuerzahler bereitgestellt werden oder vom Geld des Arbeitgebers? Das Prinzip ist dasselbe. Lasst uns die erhaltenen Summen durch die erworbenen Güter und Leistungen ersetzen und dann schauen, wie die Dinge stehen. Zu Zeiten des alten Armenrechts gab der Bauer dem Knecht als Gegenleistung für dessen Arbeit Wohnung, Lohn, Brot und Kleidung und sorgte für Feuer im Ofen, während die Steuerzahler den Mann und seine Familie quasi mit Schuhen, Tee, Zucker, Kerzen und ein bisschen Speck etc. versorgten. Die Einteilung ist natürlich willkürlich, aber für die Besorgung dieser Dinge kamen zweifellos nur die Bauern und Steuerzahler auf. Heute erhält der Handwerker von seinem Arbeitgeber an Lohn in etwa das, was er für seine gewünschten Konsumgüter braucht, während die Mittel zur Befriedigung seiner anderen Bedürfnisse und Begierden aus den öffentlichen Kassen kommen. Auf Steuerzahlerkosten hat er in einigen Fällen (und demnächst noch in einigen Fällen mehr) ein Haus unter Marktwert. Wenn nämlich, wie in Liverpool, eine Gemeinde fast £ 200. 000 ausgibt, um Armensiedlungen niederzureißen und neu aufzubauen, und dabei ist, noch einmal genau so viel auszugeben, dann folgt daraus, dass die Steuerzahler in gewisser Weise den Armen mehr an Unterkunft bieten, als deren Miete, die sie sonst gezahlt hätten, ermöglicht hätte. Der Handwerker erhält von ihnen außerdem an Schulbildung für seine Kinder viel mehr, als er für diese bezahlt. Und momentan ist es mehr als wahrscheinlich, dass er sie gar gratis erhalten wird. Die Steuerzahler stehen auch für die Wünsche gerade, die er im Hinblick auf Bücher und Zeitungen haben mag, sowie für die Orte, an denen er sie bequem lesen kann. In einigen Fällen, wie in Manchester, werden getrennte Turnhallen für beide Geschlechter und Spielplätze bereitgestellt. Mit anderen Worten, aus einem Fonds, gespeist aus kommunalen Steuern, erhält er bestimmte Leistungen, die über jene hinausgehen, die er von dem Geld, das er für seine Arbeit erhält, bezahlen könnte. Der einzige Unterschied zwischen diesem System und dem alten System der „Lohnaufstocker“ besteht nur in der Art der erhaltenen Befriedigung. Und dieser Unterschied betrifft die Natur des Arrangements nicht im geringsten. Zudem sind beide im Kern von ein und derselben Illusion durchzogen. Im einen wie im anderen Fall ist das, was wie eine Gratisleistung aussieht, gar keine Gratisleistung. Die Summe, die der halbverarmte Arbeiter unter dem alten Armenrecht von der Gemeinde bekam, um sein wöchentliches Einkommen aufzubessern, war entgegen allem Anschein kein Bonus, sondern wurde von einer entsprechend beträchtlichen Lohnsenkung begleitet, wie sich schnell herausstellte, als man das System abschaffte und die Löhne stiegen. Genauso verhält es sich mit jenen vermeintlichen Wohltaten, die man den arbeitenden Menschen in den Städten erweist. Ich meine damit nicht nur die Tatsache, dass sie (sofern sie selbst keine Steuerzahler sind) von den erhöhten Mieten ihrer Behausungen überrumpelt werden und so teilweise für die Wohltaten zahlen. Ich meine damit auch die Tatsache, dass die Löhne, die sie erhalten, so wie die Löhne der Landarbeiter, um die öffentlichen Abgaben vermindert werden, die auf den Arbeitgebern lasten. Lesen Sie nur die jüngsten Berichte aus Lancashire zum Baumwollstreik.

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Darin findet man den von den Handwerkern selbst ausgestellten Beleg dafür, dass die Profitrate so schmal ist, dass die weniger geschickten Fabrikanten und jene mit unzureichendem Kapital pleitegehen, und dass selbst die mit ihnen konkurrierenden Genossenschaftsbetriebe sich kaum halten können. Und nun überlegen Sie einmal, was das für die Löhne bedeutet. Zu den Produktionskosten muss man die allgemeinen und lokalen Steuern rechnen. Wenn, wie in den großen Städten, die Kommunalsteuern ein Drittel der Miete ausmachen, oder mehr; und wenn der Arbeitgeber sie zu zahlen hat, nicht nur auf seine Privatbehausung, sondern auch auf die Geschäftsgebäude, Fabriken, Warenhäuser und dergleichen, dann muss der Zins seines Kapitals um diesen Betrag fallen oder der Betrag aus dem Lohnfonds genommen werden oder teils aus jener, teils aus dieser Quelle entnommen werden. Wenn nun der Wettbewerb unter den Kapitalisten in der eigenen und in den anderen Branchen einen so niedrigen Zins gerade bewirkt, dass einige dabei gewinnen und andere dabei verlieren, ja sogar oft in den Ruin geraten; und wenn das Kapital, weil es nicht genug Zins bekommt, woanders hinfließt und die Arbeiter unbeschäftigt bleiben, dann ist es offensichtlich, dass die Wahl des Handwerkers unter diesen Bedingungen zwischen einer reduzierten Menge an Arbeit oder einer reduzierten Menge an Lohn für seine Arbeit liegt. Darüber hinaus treiben die lokalen Abgabelasten die Preise für die Dinge, die der Handwerker konsumiert, in die Höhe. Die Preise, die von den Zwischenhändlern verlangt werden, sind in der Regel von den aktuellen Zinsraten bestimmt, welche die Unternehmen für das ihnen bereitgestellte Kapital zahlen. Und für die Zusatzkosten, die es zur Fortführung des Unternehmens braucht, fallen zusätzliche Preise an. Dem Arbeiter in der Stadt geht es heute also genau so wie dem Landarbeiter von gestern, der das, was er auf der einen Seite gewann, auf der anderen Seite verlor. Das heißt, in beiden Fällen bedeuten die Verwaltungsaufwendungen und die mit ihnen einhergehende Verschwendung für den Arbeiter einen Verlust. „Aber was hat das alles mit der ‚Sklaverei von morgen‘ zu tun?“ wird vielleicht jemand fragen. Direkt nicht, indirekt aber sehr viel, wie wir gleich nach einem weiteren vorauszuschickenden Abschnitt sehen. Man sagt, dass damals, als es die ersten Eisenbahnen in Spanien gab, die Bauern, wenn sie auf den Schienen standen, oft überrollt wurden, und dass man den Lokführer dafür verantwortlich machte, nicht rechtzeitig genug gebremst zu haben. Trotz der Erfahrungen auf dem Land kann man sich keine Vorstellung von dem Impuls machen, der von einer mit großer Geschwindigkeit sich bewegenden schweren Masse ausgeht. Besagte Vorfälle fielen mir wieder ein, als ich über die Ideen der sogenannten „erfahrenen“ Politiker nachdachte, in deren Köpfen der Gedanke an so etwas wie einen politischen Impuls gar nicht aufkommt, ganz zu schweigen von jenem politischen Impuls, der, statt zu schwinden oder gleich zu bleiben, anschwillt. Der erfahrene Politiker verfährt Tag für Tag nach der Theorie, dass der Wandel, den seine Maßnahme verursacht, dort ende, wo er will. Er konzentriert sein Denken auf die Dinge, die sein Handeln bewirken werden, und denkt nur wenig an die entlegeneren Probleme, die er mit seinen Handlungen in Gang setzt,

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und noch weniger an die kollateralen Probleme. Im Krieg rief man die Bevölkerung dazu auf, „Kanonenfutter“ zu liefern – und Herr Pitt sagte: „Dort, wo es viele Kinder gibt, sollten wir nachsichtiger sein. Sie sind eher einen Zeichen von Recht und Ehre als ein Grund für Schmach und Schande.“1 Man nahm damals nicht an, dass die Armenquote sich in 50 Jahren vervierfachen würde und dass Frauen mit vielen Bastarden den sittsameren Frauenzimmern als Ehefrauen vorgezogen würden, und zwar wegen ihres Einkommens durch die Gemeinde; und dass Heerscharen von Steuerzahlern auf Armenniveau heruntergerissen würden. Die Gesetzgeber, die 1833 dafür stimmten, den Bau öffentlicher Schulen jährlich mit £ 30. 000 zu fördern, haben nie geglaubt, dass ihr damaliger Schritt zu staatlichen und kommunalen Zwangsabgaben führen würde, die sich inzwischen auf £ 6. 000. 000 belaufen.2 Sie haben nicht die Absicht gehabt, den Grundsatz einzuführen, dass A für die Bildung von B’s Nachwuchs verantwortlich gemacht werden sollte; sie haben nicht im Traum an eine Zwangsmaßnahme gedacht, mit der arme Witwen um die Hilfe ihrer älteren Kinder gebracht würden; und noch weniger daran, dass ihre Nachfolger zu Urhebern der Verarmung würden. Aber die Verpflichtung verarmter Eltern, bei der Aufsichtsbehörde die Übernahme der Schulgebühren zu beantragen, auf die das Schulamt keinen Nachlass gewährte, war der Startschuss für die dann einsetzende Gewohnheit, einen Antrag bei der Aufsichtsbehörde zu stellen, und damit der Urheber der Verarmung.3 Auch jene, die 1834 das Gesetz zur Regulierung von Frauen- und Kinderarbeit in bestimmten Fabriken beschlossen, haben sich damals nicht ausgemalt, dass das von ihnen neu eingeführte System einmal in der Beschränkung und Kontrolle aller Arten von Arbeit in Herstellungsbetrieben mit mehr als 50 Arbeitern enden würde; genau so wenig haben sie sich vorgestellt, dass die eingeführte Kontrolle so weit ausufern würde, dass man nun vor der Einstellung einer „jungen Person“ in einer Fabrik den Nachweis eines zertifizierten Chirurgen verlangt, der sich durch eine persönliche Untersuchung (deren Umfang unbegrenzt ist) davon überzeugt hat, dass keine mit der Arbeit unverträgliche Krankheit oder körperliche Unzulänglichkeit vorliegt, und dessen Urteil darüber entscheidet, ob die „junge Person“ Lohn verdienen darf oder nicht.4 Noch weniger, sage ich, bedenkt der Politiker, der sich gern mit der Praxisnähe seiner Ziele schmückt, die indirekten Folgen, die sich aus den direkten Resultaten seiner Handlungen ergeben. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, das dem oben genannten sehr nahe kommt, nämlich das Modell „Bezahlung nach Ergebnis“. Dieses Modell hatte keinen anderen Zweck als den, Lehrern einen wirksamen Arbeitsanreiz zu bieten. Man wollte nicht, dass, wie es dann in vielen Fällen geschah, deren Gesundheit unter dem Anreiz leiden würde. Man erwartete nicht, dass die Lehrer dazu verleitet würden, die Grundidee in ein Mastsystem zu verwandeln und träge und schwache Schüler unangemessenem 1 Hansard’s

Parliamentary History, 32, S. 710. Inzwischen, d.h. 1890, ist die Summe auf £ 10. 000. 000 angewachsen. 3  Fortnightly Review, Januar 1884, S. 17. 4  Werkhallen- und Betriebswerkstättengesetz, 41 und 42 Victoria, Kap. 16. 2 

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Druck auszusetzen, der ihnen oftmals zum Schaden gereichte. Man sah nicht voraus, dass man so in vielen Fällen eine körperliche Entkräftung verursachte, die keine noch so großen Grammatik- und Geographiekenntnisse wettmachen konnten.5 Die Lizenzvergabe für Gasthäuser: sie war ausschließlich zur Wahrung der öffentlichen Ordnung vorgesehen. Jene, die sie ersannen, haben nie daran gedacht, dass sie zu einem mächtigen organisierten Interesse führen würde, das auf Wahlen einen unheilvollen Einfluss nähme. Noch kam es jenen „erfahrenen“ Politikern, die eine verbindliche Beladungsobergrenze für Handelsschiffe einführten, in den Sinn, dass man unter dem Druck der Interessen der Schiffseigner in der Regel die Beladungsobergrenze stets so hoch wie möglich setzen würde, und dass man, nach und nach die Beladungsobergrenze in den besseren Schiffsklassen immer höher setzen würde; von gut unterrichteter Quelle weiß ich, dass man das bereits getan hat. Die Gesetzgeber, die vor mehr als 40 Jahren durch Parlamentsbeschluss die Eisenbahngesellschaften gezwungen haben, billige Bahnverbindungen anzubieten, hätten darüber gelacht, wenn man ihnen gesagt hätte, dass ihr Gesetz die Gesellschaften, die ihr Angebot verbesserten, bestrafen würde. Und dennoch war dies das Ergebnis für jene Gesellschaften, die begannen, in ihren Schnellzügen Fahrgäste in der 3. Klasse zu befördern, weil sie für jeden Fahrgast, der 3. Klasse fuhr, im Endeffekt eine Strafe in Höhe des Fahrtarifs entrichten mussten. Diesem Beispiel, das die Eisenbahnen betrifft, kann man noch ein viel besseres Exempel hinzufügen. Es erschließt sich einem dann, wenn man die Eisenbahnpolitik von England und Frankreich vergleicht. Die Gesetzgeber, die dafür sorgten, dass die französischen Eisenbahnen an den Staat fielen, haben nie die Möglichkeit bedacht, dass ihre Maßnahme die Beförderungsqualität auf Dauer verschlechtern würde. Sie haben verkannt, dass niemand gern Wertverluste hinnimmt, die entstehen, wenn sein Eigentum am Ende doch in die Hand des Staates fällt, und dass dieser Unwille der Schaffung neuer konkurrierender Linien abträglich ist. Die Abwesenheit konkurrierender Linien lässt indes die Eisenbahn verhältnismäßig teuer, langsam und unregelmäßig werden. Wie erst jüngst Sir Thomas Farrer6 gezeigt hat, genießt der Reisende in England gegenüber dem französischen Reisenden viele Vorteile hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit, Schnelligkeit und Regelmäßigkeit, mit der er reisen kann. Aber der „erfahrene“ Politiker, der trotz solcher Erfahrungen, die sich von Generation zu Generation wiederholen, weiterhin nur die unmittelbaren Ergebnisse im Sinn hat, denkt natürlich nie an die Folgen, die viel weiter weg, allgemeiner und wichtiger sind als jene, die wir gerade als Beispiele betrachtet haben. Um die oben genannte Metapher erneut zu bemühen: Er fragt nie, ob der politische Impuls, den er mit seiner Maßnahme freisetzt und der in einigen Fällen abnimmt, in 5  Diese Missstände sind inzwischen als solche erkannt worden, und die Anordnung ist derweil abgeschafft worden. Aber kein Wort wurde über das immense Unheil verloren, das die Regierung bei Millionen von Kindern in den letzten 20 Jahren angerichtet hat! 6  Thomas Henry Farrer (1819 – 1899), hoher englischer Staatsbeamter und Befürworter des Freihandels, d. Hrsg.

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anderen Fällen aber enorm zunimmt, dieselbe Richtung einschlagen wird wie die anderen Impulse seiner Art, und ob er mit diesen zusammenschwingen wird, um eine aggregierte Energie zu erzeugen, die ungeahnte Änderungen hervorbringt. Wer sich nur mit den Effekten befasst, die der eigenen Gesetzgebungspraxis entströmen, und außer acht lässt, inwieweit all die anderen bereits vorhandenen Ströme und jene, die der eigenen Initiative noch folgen werden, in dieselbe Richtung wirken, dem wird es nie in den Sinn kommen, dass sie zusammengenommen womöglich zu einer Überschwemmung führen, die die ganze Landschaft verändert. Oder, um es weniger bildhaft und mehr prosaisch auszudrücken: Ihm ist gar nicht bewusst, dass er in Wahrheit mithilft, einen bestimmten Typus von gesellschaftlicher Organisation zu formen, und dass ähnliche Maßnahmen, die ähnliche Veränderungen in der Organisation bewirken, dazu führen, dass dieser Typus mittels immer größerer Krafteinwirkung zum allgemeinen Typus verfestigt wird. Ab einem bestimmten Punkt ist diese Tendenz dann unaufhaltsam. So wie jede Gesellschaft danach trachtet, in anderen Gesellschaften wenn möglich eine Struktur zu schaffen, die der eigenen ähnelt – so wie bei den Griechen die Spartaner und Athener darum rangen, dass ihre jeweiligen politischen Institutionen sich ausbreiten konnten, oder wie zu Zeiten der Französischen Revolution die europäischen absoluten Monarchien versuchten, in Frankreich die absolute Monarchie wieder einzuführen, während die Republik zur Bildung neuer Republiken ermunterte –, so tendiert in jeder Gesellschaft jede Spezies mit einer eigenen Struktur dazu, sich selbst zu verbreiten. So wie sich das System der freiwilligen Kooperation in Firmen, Vereinigungen und Gewerkschaften, in denen geschäftliche und andere Ziele verfolgt werden, innerhalb des Gemeinwesens ausbreitet, so dehnt sich auch das antagonistische System der erzwungenen Kooperation innerhalb staatlicher Einrichtungen aus. Je größer die Ausdehnung, desto größer das Vermögen, sich auszubreiten. Die Frage aller Fragen für den Politiker sollte immer sein: „Zur Herstellung welcher Art gesellschaftlicher Struktur neige ich?“ Aber das ist die Frage, die er sich nie stellt. Hier stellen wir sie an seiner statt. Lassen Sie uns nun den allgemeinen Kurs der jüngsten Veränderungen und die mit ihm einhergehende Denkweise betrachten und schauen, wohin sie uns führen. Das Motto, nach dem man tagtäglich verfährt, ist wohl: „Wenn wir jenes schon getan haben, warum sollten wir dann nicht auch dieses tun?“ Und mit Blick auf das Vorangegangene drängt sich einem auf, die regulative Gesetzgebung immer weiter voranzutreiben. Nachdem man den Geltungsbereich der Gesetze auf immer mehr Branchen ausgedehnt hat, werden fürderhin die Gesetze, in denen die Arbeitszeiten und der Umgang mit den Arbeitern verbindlich geregelt sind, auch noch auf den Kaufhandel ausgedehnt. Nachdem zunächst nur die Gästezahlen und sanitären Einrichtungen der Gästehäuser inspiziert wurden und dann die Überprüfung auf alle Niedrigmietshäuser mit mehr als einer Partei ausgeweitet wurde, sind wir inzwischen bei einer artverwandten Prüfpflicht für alle kleinen Häuser

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angelangt.7 Der staatliche Erwerb und Betrieb von Telegrafenanlagen diente als Grund dazu, darauf zu drängen, der Staat solle den Schienenverkehr erwerben und betreiben. Dass man Kinder durch öffentliche Einrichtungen mit geistiger Nahrung versorgt, hat hier und da dazu geführt, dass man auch für ihr leibliches Wohl sorgt. Und nachdem die Praxis mehr und mehr um sich greift, können wir jetzt schon vorwegnehmen, dass die Versorgung, die in dem einen Fall gratis geschieht, auch bald in dem anderen Fall gratis erfolgen wird. Gemäß der Logik, dass ein tüchtiger Bürger nur der ist, der auch körperlich und geistig tüchtig ist, wird man einen guten Grund haben, auf derlei Ausweitung zu drängen.8 Und dann, offenbar als Fortentwicklung der Präzedenzfälle, für die die Kirche gesorgt hat, und all der öffentlichen Schulen und Büchereien, hat man sich dafür ausgesprochen, dass „Vergnügungen bzw. das, was man heute unter ihnen versteht, mindestens genauso gesetzlich geregelt und organisiert werden müssen wie die Arbeit.“9 Nicht nur Präzedenzfälle sorgen für diese Verbreitung, sondern auch die Notwendigkeit zur Ergänzung unzureichender Maßnahmen und zur Handhabung der künstlichen Übel, die unentwegt verursacht werden. Fehlschläge zerstören nicht das Vertrauen in die beauftragten Behörden, sondern legen lediglich den Wunsch nahe, solche Einrichtungen mögen schärfer durchgreifen oder weitere Befugnisse erhalten. Da die Gesetze gegen die Unmäßigkeit, die es schon früh gab und bis heute gibt, nicht bewirkt haben, was man von ihnen erwartet hat, fordert man nun Gesetze, die stärker durchgreifen und mancherorts alle käuflichen Güter betreffen. Bei uns, sowie in Amerika, wird man zweifellos bald auch noch fordern, das Präventionsprinzip überall anzuwenden. Alle Maßnahmen zur „Ausrottung“ epidemischer Krankheiten, die den Ausbruch von Pocken, Fieber und ähnlichen Epidemien nicht aufhalten konnten, werden um einen weiteren Behelf ergänzt, und zwar in Form polizeilicher Befugnisse, die es gestatten, dass Häuser nach erkrankten Personen durchsucht werden können, und medizinische Bedienstete autorisieren, jeden nach Gutdünken zu untersuchen, um herauszufinden, ob er oder sie unter einer ansteckenden oder übertragbaren Krankheit leidet. Die Leichtsinnigkeit, die durch das Armengesetz über Generationen hinweg kultiviert wurde und den Leichtsinnigen in die Lage versetzte, sich zu vermehren, sowie die Übel der erzwungenen Caritas will man nun durch eine Pflichtversicherung honorieren. Die Ausweitung dieser Politik, die eine Ausbreitung entsprechender Ideen verursacht, fördert überall die stillschweigende Annahme, dass der Staat überall 7  Siehe den Brief der lokalen Regierungsbehörde (Local Government Board), Times, 2. Januar 1884. 8  Die Bestätigung meiner Vermutung kam früher als erwartet. Dieser Aufsatz ging am 30. Januar in die Setzerei und wurde am 1. April gedruckt. In der Zwischenzeit, nämlich am 13. März, beschloss die Londoner Schulbehörde, man möge lokale karitative Gelder nutzen, um bedürftige Kinder kostenlos mit Lebensmitteln und Kleidern zu versorgen. Derzeit wird die Definition von „bedürftig“ ausgeweitet. Es werden mehr Kinder bedacht und mehr Geld verlangt werden. 9  Fortnightly Review, Januar 1884, S. 21.

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eingreifen sollte, wo immer etwas nicht richtig läuft. „Sie wollen doch bestimmt nicht, dass dieses Elend anhält!“ ruft da jemand, wenn man einen Einwand aus dem heraushört, was heutzutage gesagt oder getan wird. Bedenken Sie, was dieser Ausruf impliziert. Erstens, er setzt es als gegeben voraus, dass alles Leid vermieden werden sollte; was nicht stimmt, weil leiden auch heilt, und Vermeidung von Leid Vermeidung von Heilung ist. Zweitens, er setzt es als gegeben voraus, dass man Übel vermeiden kann. Die Wahrheit aber ist, dass aufgrund der bestehenden Defekte in der menschlichen Natur viele Übel nur verdrängt oder verformt werden können und durch die Veränderung oft nur größer werden. Der Ausruf impliziert auch die – für unsere Zwecke besonders wichtige – undurchdachte Vermutung, dass der Staat sich um alle erdenklichen Übel kümmern sollte. Dabei kommt der Gedanke erst gar nicht auf, ob nicht auch andere tätige Einrichtungen es mit den Übeln aufnehmen könnten und ob nicht die besagten Übel am besten bei eben jenen anderen Einrichtungen aufgehoben wären. Klar, je zahlreicher die staatlichen Interventionen, desto stärker wächst die Gewohnheit, so zu denken, und desto lauter und öfter erklingt der Ruf nach Intervention. Jede Ausweitung regulativer Politik bedeutet mehr regulierende Bürokraten, mehr Bürokratie und mehr Macht für die organisierte Bürokratie. Nimm zwei Waagschalen mit vielen Schrotkugeln in der einen und wenigen in der anderen Schale. Und nun nimm ein Schrotkorn nach dem anderen aus der einen Schale und gib es in die andere. Irgendwann wirst Du eine Balance herstellen, und wenn Du dann weitermachst, werden die Waagschalen ihre Positionen tauschen. Angenommen, der Waagebalken ist ungleich aufgeteilt und die nur wenig beladene Waagschale am Ende des langen Arms. Weil dann der Wechsel eines jeden Schrotkorns einen viel größeren Effekt bewirkt, wird der Umschlageffekt auch viel früher eintreten. Mit dem Bild will ich zeigen, was passiert, wenn man ein Individuum nach dem anderen aus der regulierten Masse der Gemeinschaft in das regulierende System überführt. Der Transfer schwächt die eine Seite und stärkt die andere Seite in einem weitaus stärkeren Maße, als es das veränderte Zahlenverhältnis vermuten lässt. Ein vergleichsweise kleiner Apparat an Bürokraten, die geschlossen und mit gemeinsamen Interessen unter einer zentralen Autorität agieren, hat einen immensen Vorteil gegenüber einer losen Öffentlichkeit, die keine klare Politik hat und nur dann gemeinsam handeln kann, wenn man sie vor große Herausforderungen stellt. Eine Organisation aus Bürokraten wird also, nachdem sie eine bestimmte Größe erreicht hat, schwerer und schwerer zu stoppen sein, wie wir an den Bürokratien auf dem europäischen Festland sehen können. Nicht nur, dass mit dem Wachstum des regulierten Teils die Widerstandskraft gegen denselben in geometrischer Proportionalität abnimmt. Es sind auch die privaten Interessen von vielen Menschen im regulierten Teil selbst, die die Veränderung dieses Verhältnisses beschleunigen. Überall, wo das Thema auf den Tisch kommt, hört man, dass die jungen Menschen jetzt, da sie bereits nach dem bestandenen Examen in den öffentlichen Dienst berufen werden können, so erzogen werden, dass sie das Examen bestehen, um eine Beschäftigung im Staatsdienst zu finden.

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Eine Folge davon ist, dass selbst die Menschen, die ansonsten das zusätzliche Wachstum an Bürokratie eher für verwerflich halten, dazu verführt werden, es zu dulden, wenn nicht gar zu begrüßen, weil es eine Karrieremöglichkeit für jene bietet, die von ihnen abhängen oder ihnen nahestehen. Wer um die vielen Familien aus der Ober- und Mittelschicht weiß, die darum besorgt sind, ihre Kinder gut unterzubringen, erkennt nun, dass jene, die gesetzlichen Kontrollen eher feindlich gegenüberstehen, die Ausdehnung derselben sogar befürworten, und zwar nicht zu knapp, weil dies ihren persönlichen Interessen entgegenkommt. Der akute Wunsch nach Karriere wird durch die Vorliebe für vermeintlich respektable Karrieren bestärkt. „Auch wenn sein Gehalt klein sein sollte, sein Beruf ist der eines Gentleman“, denkt der Vater, der für seinen Sohn die Beamtenlaufbahn will. Und das relativ hohe Ansehen, das Staatsbedienstete im Vergleich zu jenen genießen, die in der Wirtschaft tätig sind, wächst mit dem Verwaltungsdienst, dem eine immer größere und mächtigere Aufgabe in der Gesellschaft zukommt und mehr und mehr zum Standard des Ehrbaren wird. Das vorrangige Ziel des jungen Franzosen ist es, einen kleinen offiziellen Posten in seiner Gemeinde zu ergattern, danach in der regionalen Verwaltung aufzusteigen und schließlich eine Leitungsfunktion in Paris zu übernehmen. Und in Russland, wo man die Allgegenwart der staatlichen Regulierung, die für den militärischen Typ der Gesellschaft typisch ist, am weitesten forciert hat, treibt man diesen Ehrgeiz auf die Spitze. Wie Herr Wallace in Anspielung auf ein Zitat aus einem Stück schreibt: „Jedermann, sogar der Verkäufer und der Schuster wollen Staatsdiener werden, und wer sein Leben ohne offizielles Amt zubringt, ist offenbar kein Mensch.“10 All diese verschiedenen Einflüsse, die von oben nach unten wirken, treffen zunehmend auf Erwartungen und Ersuchen, die von unten kommen. Die hart Arbeitenden und Überlasteten, welche die große Mehrheit bilden, und vor allem die andauernd umsorgten Arbeitsunfähigen, die stetig dazu gebracht werden, noch mehr Hilfe zu ersuchen, sind willige Befürworter jener Programme, die ihnen diesen und jenen Vorteil vom Staat versprechen, und auch willige Zuhörer von jenen, die ihnen sagen, dass der Staat solche Leistungen verteilen kann und sollte. Eifrig und gutgläubig hören sie auf Erbauer politischer Luftschlösser, seien es Oxford-Absolventen oder unversöhnliche Iren. Und jedes zusätzliche steuerfinanzierte Instrument, das ihrer Wohlfahrt dient, lässt sie auf weitere Hilfsmittel hoffen. Gewiss, je mehr es an öffentlichen Einrichtungen gibt, desto mehr wird in den Bürgern die Vorstellung geweckt, dass alles für sie getan werde, und nichts durch sie. Jede Generation entfremdet sich ein Stück mehr davon, ersehnte Ziele durch individuelle Handlungen oder private Vereinbarungen zu erstreben, und gewöhnt sich mehr und mehr daran, die Verwirklichung seiner Ziele den staatlichen Stellen zu überlassen; bis man eines Tages glaubt, die staatlichen Behörden seien dazu die einzig möglichen Einrichtungen. Dieses Ergebnis zeigte sich sehr deutlich beim letzten Gewerkschaftskongress in Paris. Die englischen Delegierten berichteten 10 Russia, I, 422. (Donald Mackenzie Wallace (1841 – 1919) war Korrespondent der Times und Autor des zweibändigen Werkes Russia, erschienen 1877 in London, d. Hrsg.)

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ihren Wählern, dass zwischen ihnen und ihren ausländischen Kollegen „Dissens darüber bestand, wie weit der Staat die Arbeit schützen sollte.“ Recht auffällig war dabei in den Sitzungsprotokollen, dass die französischen Delegierten stets darauf schworen, dass die Macht des Staates das einzige Mittel zur Befriedigung ihrer Wünsche sei. Die Ausweitung der Erziehung hat funktioniert und wird auch weiterhin funktionieren, und zwar in dieselbe Richtung. „Wir müssen unsere Lehrmeister erziehen“, lautet die wohlbekannte Formel eines Liberalen, der gegen die letzte Ausweitung des Wahlrechts opponierte. Ja, wenn die Erziehung ihren Namen verdient hätte und für die notwendige politische Aufklärung wichtig wäre, dann könnte man viel von ihr erhoffen. Aber wenn man die Regeln der Syntax kennt, eins und eins zusammenrechnen kann, über geographische Kenntnisse verfügt und die Krönung der Könige und die Siege der Generäle im Kopf hat, dann muss man deshalb noch lange nicht in der Lage sein, richtige politische Schlüsse zu ziehen. Genauso wenig nutzt es einem, Experte im Telegrafieren zu sein, wenn man zeichnerische Fähigkeiten erwerben will, oder ein tüchtiger Geiger zu sein, wenn man gerne Cricket spielen können will. „Aber“, wird da mancher sagen, „die Fähigkeit zu lesen ebnet doch gewiss den Weg zur politischen Bildung.“ Zweifellos, aber wird man den Weg auch weiter gehen? Wie uns die Gespräche bei Tisch lehren, lesen neun von zehn Personen, was sie amüsiert, und nicht, was sie klüger macht; sie lehren uns auch, dass die Menschen schon gar nicht etwas lesen, das ihnen unangenehme Wahrheiten vermittelt oder ihre unbegründeten Hoffnungen zerstört. Dass die staatliche Erziehung dazu führt, vornehmlich Gedrucktes zu lesen, das die angenehmen Illusionen aufrechterhält, und weniger das, was die harte Realität wiedergibt, steht außer Frage. Wie „Ein Mechaniker“ in der Pall Mall Gazette vom 3. Dezember 1883 schreibt: „Eine bessere Erziehung weckt das Verlangen nach Kultur. Und die Kultur weckt den Wunsch nach vielen Dingen, die bislang außerhalb der Reichweite des Arbeiters lagen. … Im entfesselten Wettbewerb, dem unser Zeitalter erlegen ist, sind diese Dinge für die ärmeren Klassen schier unerreichbar. Daher sind sie mit den Dingen, wie sie sind, unzufrieden. Und je gebildeter sie sind, desto unzufriedener sind sie. Auch deshalb halten viele von uns Herrn Ruskin und Herrn Morris für wahre Propheten.“11

Dass der hier unterstellte Konnex zwischen Ursache und Wirkung tatsächlich vorhanden ist, sehen wir nur allzu deutlich im gegenwärtigen Deutschland. Ergriffen von der durch die Wähler verliehenen Macht (wie es derzeit die meisten sind, welche die Zuversicht auf ausstehende Leistungen nähren, die der gesellschaftlichen Reorganisation zu verdanken sind), muss jeder, der nach den Stimmen 11  Der britische Kunsthistoriker und Sozialphilosoph John Ruskin (1819 – 1900) und der Architekt William Morris (1834 – 1896) sind Mitbegründer der Arts and Crafts Move­ ment, eine Bewegung, die das Verhältnis von Kunst, Arbeit und Gesellschaft thematisierte und Impulse zu Sozialreformen lieferte, d. Hrsg.

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der Wähler trachtet, darauf verzichten, deren irrigen Ansichten zu entlarven; auch dann, wenn er der Versuchung widersteht, ihre Auffassungen nach außen hin zu teilen. Jeder, der für das Parlament kandidiert, ist gehalten, eine neue Gesetzesvorlage vorzuschlagen oder zu unterstützen, mit der er sich beim Volk beliebt macht (ad captandum). Viele der Parteioberen – die einen, die ihr Amt behalten wollen, und die anderen, die es ihnen abjagen wollen – versuchen Anhänger zu gewinnen, indem sie sich gegenseitig überbieten. Wie wir erst neulich wieder gesehen haben, versucht jeder seine Popularität dadurch zu steigern, dass er mehr verspricht, als es sein Gegenspieler tut. Und wie uns die Gruppenverteilung im Parlament lehrt, wiegt die übliche Loyalität gegenüber dem Parteiführer mehr als die Frage, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen an sich richtig sind. Die Abgeordneten sind gewissenlos genug, um mit Rücksicht auf Parteiinteressen und die nächsten Wahlen auch dann für Gesetze zu stimmen, wenn sie diese für grundsätzlich falsch halten. Und so wird die verwerfliche Politik von denen gestärkt, die ihre Verwerflichkeit erkannt haben. Derweil wird draußen aktiv eine Propaganda betrieben, der all diese Einflüsse zuträglich sind. Mehr und mehr werden die kommunistischen Theorien, die inzwischen in fast allen parlamentarischen Beschlüssen gutgeheißen werden und versteckt, wenn nicht gar unverhohlen, von unzähligen Personen des öffentlichen Lebens, die Gefolgsleute suchen, propagiert werden, von den populären Meinungsführern lauthals begrüßt und von den organsierten Gesellschaften gefordert. Es gibt eine Bewegung zur Verstaatlichung von Grund und Boden, die rein theoretisch ein gerechtes System der Landverpachtung anstrebt. Sie wird, wie alle Welt weiß, von Herrn George12 und seinen Freunden vorangetrieben und nimmt ganz offensichtlich keine Rücksicht auf die berechtigten Ansprüche der vorhandenen Landeigentümer. Sie bildet die Grundlage für ein Vorhaben, das mehr als nur halbwegs zum Staatssozialismus führt. Und dann wäre da noch die extreme Demokratische Föderation13 von Herrn Hyndman und seinen Anhängern, die uns sagen, dass „die Handvoll von Marodeuren, die jetzt das Land in ihrem Besitz haben, kein Recht darauf haben und haben können. Ihr Besitz ist nichts außer der nackten Gewalt gegen die zig Millionen, denen Unrecht geschieht.“ Lauthals wenden sie sich gegen die „Anteilseigner, denen man erlaubt hat, sich an unserem großen Eisenbahnnetz zu vergreifen (!).“ Vor allem verdammen sie „die aktive Kapitalistenklasse, die Darlehnsvermittler, die Bauern, die Minenausbeuter, die Unternehmer, die Mittelsmänner, die Fabrikbarone – die modernen Sklaventreiber“, die „unaufhörlich mehr Mehrwert von den Lohnsklaven, die sie beschäftigen“, abverlangen. Und sie

12  Henry George (1839 – 1897), amerikanischer Ökonom, der sowohl den Freihandel befürwortete als auch eine neue Landordnung, die eine Einheitssteuer auf Landbesitz vorsah, d. Hrsg. 13  Gemeint ist die 1884 in Social Democratic Federation (SDF) umbenannte Partei des englischen Politikers Henry Hyndman (1842 – 1921), d. Hrsg.

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glauben, es sei „höchste Zeit“, dass der Handel „der Gier der einzelnen entzogen wird.“14 Zu nennen wäre da noch, dass all diese sich unterschiedlich ausdrückenden Tendenzen durch Zustimmung seitens der Presse Tag für Tag und mit Nachdruck bestärkt werden. Viele Journalisten, die sich immer mit dem zurückhalten, das ihren Lesern missfällt, schwimmen mit dem Strom und lassen ihn dadurch anschwellen. Einmischungen per Gesetz, die sie früher einmal verurteilt haben, lassen sie jetzt stillschweigend durchgehen, wenn sie dieselben nicht sogar befürworten. Und sie reden vom Laissez-Faire als einer zerplatzten Doktrin. „Die Menschen fürchten sich nicht mehr vor der Idee des Sozialismus.“ So wird es eines Tages heißen. Und irgendwann wird man die Stadt, die keine gesetzlich vorgeschriebene öffentliche Bücherei unterhält, damit verspotten, dass sie sich über eine so bescheidene kommunistische Maßnahme aufregt. Und dann, begleitet von den Behauptungen der Leitartikel, dass die Zeit für diese volkswirtschaftliche Entwicklung gekommen sei und diese angenommen werden müsse, wird man den Beiträgen der Befürworter viel Platz einräumen. Währenddessen sind all jene, welche die jüngste Entwicklung der Gesetzgebung für desaströs halten und sehen, dass die künftige Entwicklung wahrscheinlich noch desaströser sein wird, zum Schweigen verdammt, weil sie glauben, es sei sinnlos, mit Menschen zu diskutieren, die sich im Zustand politischer Vergiftung befinden. Man bedenke auch die vielen ineinandergreifenden Gründe, von denen man dauernd befürchten muss, dass sie die zur Zeit stattfindende Transformation noch beschleunigen. Da ist die Ausbreitung der Regulierung im Anschluss an Präzedenzfälle: Je weiter die politische Maßnahme reicht, desto größer die gebieterische Auswirkung der Regulierung. Und es gibt das wachsende Bedürfnis nach administrativen Auflagen und Beschränkungen infolge der unvorhergesehenen Übel und Defizite früherer Auflagen und Beschränkungen. Außerdem stärkt jeder zusätzliche staatliche Eingriff die stillschweigende Annahme, es sei Aufgabe des Staates, sich um alle Übel zu kümmern und alle Leistungen bereitzustellen. Während die Macht des wachsenden Verwaltungsapparates zunimmt, schwindet die Kraft im Rest der Gesellschaft, der Zunahme an Größe und Kontrolle die Stirn zu bieten. Die sich entwickelnde Bürokratie multipliziert die Karrieremöglichkeiten. Dadurch haben die Mitglieder jener Klasse, die von ihr reguliert wird, den Anreiz, die Ausweitung zu begrüßen, weil sie neue Chancen bietet, ihren Verwandten sichere und respektable Positionen zu verschaffen. Im Großen und Ganzen setzen die Menschen, die man dazu gebracht hat, die Leistungen der öffentlichen Hand als Gratisleistungen anzusehen, immer größere Hoffnungen in die Aussicht auf mehr. Mit der Ausweitung der Bildung, die der Streuung gefälliger Irrtümer mehr Vorschub leistet als der Verbreitung bitterer Wahrheiten, werden derlei Hoffnungen zunehmend gefestigt und gebräuchlich. Schlimmer noch, die öffentlichen Entscheidungs14  Socialism made Plain, Reeves, 185, Fleet Street. (Gemeint ist das 1888 in London bei Reeves erschienene Buch von Frank Fairman, Principles of Socialism Made Plain, d. Hrsg.)

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träger in spe schüren diese Hoffnungen, um ihre eigenen Erfolgsaussichten zu verbessern. Und die führenden Staatsmänner überbieten sich, im Dienste der Partei, mit Wahlgeschenken, womit sie die Hoffnungen noch mehr nähren. Immer wieder durch neue Gesetze gestärkt, die mit den eigenen Doktrinen in Einklang stehen, treiben politische Enthusiasten und törichte Philanthropen ihre Unternehmungen mit wachsender Zuversicht und Erfolg voran. Der Journalismus, der immer auf die öffentliche Meinung reagiert, stärkt diese Tag für Tag, indem er ihr seine Stimme leiht. Weil es an Mut für Widerworte immer mehr gebricht, erheben nur wenige Ihre Stimme, um Gegenmeinungen zu äußern. Das heißt, verschiedene Gründe wirken so zusammen, dass gemeinsames Handeln zunimmt und individuelles Handeln abnimmt. Und überall helfen Ränkeschmiede mit, wobei jeder nur an seinen Lieblingsplan denkt und keineswegs an die allgemeine Umstrukturierung, die sein Plan zusammen mit anderen Plänen dieser Art herbeiführt. Man sagt, die Französische Revolution habe ihre eigenen Kinder verschlungen. Eine ähnliche Katastrophe scheint auch hier nicht unwahrscheinlich zu sein. Die zahllosen sozialistischen Änderungen, die per Parlaments­ entscheid zustande gekommen sind, werden mit den zahllosen anderen, die derzeit anstehen, nach und nach im Staatssozialismus verschmelzen – verschluckt von der riesigen Welle, zu der sie Zug um Zug angewachsen sind. „Aber warum heißt dieser Wandel ,Sklaverei von morgen‘?“ Das werden sich immer noch viele fragen. Die Antwort ist einfach. Jeder Sozialismus bedeutet Sklaverei. Was ist die Idee eines Sklaven ihrem Kern nach? Vor allem denken wir, dass ein Sklave jemand ist, den ein anderer sein eigen nennt. Um nicht nur wortwörtlich zu sein: Die Eigentümerschaft muss sich in der Kontrolle über die Handlungen des Sklaven zeigen – eine Kontrolle, die in der Regel zum Vorteil des Kontrolleurs ist. Was den Sklaven grundsätzlich auszeichnet ist, dass er unter Zwang arbeitet, um die Wünsche eines anderen zu befriedigen. Diese Beziehung lässt allerlei Abstufungen zu. Wenn man bedenkt, dass der Sklave ursprünglich ein Gefangener ist, der sein Leben der Gnade seines Halters verdankt, dann reicht hier der Hinweis, dass es eine brutale Form von Sklaverei gibt, in der der Sklave wie ein Tier seine ganzen Bemühungen zum Vorteil seines Eigentümers aufwenden muss. In einem weniger harschen System darf er, obwohl er hauptsächlich damit beschäftigt ist, für seinen Herrn zu arbeiten, kurze Zeit für sich selbst arbeiten und etwas Boden besitzen, um ein paar Nahrungsmittel extra anzubauen. Etwas erträglicher wird es für ihn, wenn er die Produkte seiner Parzelle verkaufen und den Erlös behalten darf. Dann gibt es eine noch gemäßigtere Form der Sklaverei. Sie entsteht gemeinhin dort, wo die Eroberung einen freien Mann, der sein eigenes Land bestellt hat, zu dem macht, was wir einen Leibeigenen nennen. Jener muss an seinen Leibherrn jährlich einen bestimmten Teil seiner Arbeit oder Erzeugnisse oder Teile von beiden abtreten und darf den Rest für sich behalten. In einigen Fällen schließlich, wie z. B. in Russland vor Abschaffung der Leibeigenschaft, darf er den Grund seines

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Leibherrn verlassen und für ihn woanders arbeiten oder handeln, vorausgesetzt er zahlt dafür alljährlich einen Betrag. Was lässt uns nun für all diese Fälle von Sklaverei sagen, sie seien mehr oder weniger schwerwiegend? Offensichtlich die Größe des Ausmaßes an Bemühungen, die zum Vorteil eines anderen anstatt zum eigenen Vorteil aufgewendet werden müssen. Wenn alle Arbeit des Sklaven für dessen Halter ist, wiegt die Sklaverei schwer, und leicht, wenn es nur ein kleiner Teil der Arbeit ist. Gehen wir nun einen Schritt weiter. Angenommen, der Sklavenhalter stirbt und der Grundbesitz mitsamt Sklaven wird Treuhändern anvertraut. Oder angenommen, der Grundbesitz und alles, was sich auf ihm befindet, wird an eine Firma verkauft. Ist die Situation des Sklaven dann, obwohl die Menge an Zwangsarbeit gleich bleibt, irgendwie besser? Angenommen, wir ersetzen die Firma durch die Gemeinschaft. Macht es nun für den Sklaven einen Unterschied, wenn die Zeit, die er für andere arbeiten muss, gleich groß, und die Zeit, die für ihn selbst bleibt, gleich klein bleibt? Die entscheidende Frage ist: Wieviel muss er zum Vorteil anderer arbeiten, und wieviel darf er zum eigenen Vorteil arbeiten? Der Grad seiner Versklavung variiert entsprechend dem Verhältnis zwischen dem, was er abgeben muss, und dem, was er behalten darf. Dabei spielt es keine Rolle, ob sein Herr eine Einzelperson oder die Gesellschaft ist. Wenn ihm nichts übrig bleibt, als für die Gesellschaft zu arbeiten, und er aus dem Gemeinvermögen nur den Anteil erhält, den ihm die Gesellschaft zugesteht, dann wird er zum Sklaven der Gesellschaft. Sozialistische Arrangements bedingen eine Versklavung dieser Art. Viele der jüngsten Maßnahmen und noch mehr jene, die derzeit befürwortet werden, nähern uns dieser Versklavung an. Lassen Sie uns dazu zuerst die nächstliegenden Effekte betrachten, und erst dann die entfernteren Effekte. Die Politik, die mit den Gesetzen für den Wohnungsbau in Industrievierteln (Industrial Dwellings Acts) einhergeht, hat nicht nur ein Entwicklungspotential, sondern wird sich auch weiter entwickeln. Dort, wo die kommunalen Träger zu Wohnungsbauern werden, senken sie unwillkürlich den Wert der anderweitig errichteten Häuser und kontrollieren sie die Nachfrage nach mehr Wohnraum. Jede Vorschrift hinsichtlich der Bauart und der bereitzustellenden Annehmlichkeiten verringert den Profit des Bauträgers und nötigt ihn, sein Kapital dort einzusetzen, wo die Profite nicht derart verringert werden. Aber auch der Hauseigentümer, der ohnehin weiß, dass kleine Häuser viel Arbeit und viel Verlust bedeuten – schließlich sind auch sie Objekt umständlicher Überprüfungen und Eingriffe mit entsprechenden Folgekosten, so dass sein Eigentum Tag für Tag zu einem für ihn weniger wünschenswerten Investment wird –, wird genötigt zu verkaufen. Und weil die Käufer aus den gleichen Gründen abgeschreckt werden, muss er mit Verlust verkaufen. Und nun gipfeln all diese sich weiter vermehrenden Regulierungen, wie Lord Grey erklärt hat, womöglich noch in der Vorschrift, die den Eigentümer nötigt, für einen guten Zustand seiner Mietshäuser zu sorgen und schmutzigen Mietern zu kündigen. Und so wird dem Eigentümer auch noch aufgebürdet, als Belästigungsinspekteur zu fungieren, was zu weiteren Verkäufen veranlasst und noch mehr Käufer abschreckt. Das wiederum zieht zusätzliche Wertminderungen nach sich. Was muss geschehen? Aufgrund der vielen Neubauten und der vielen Kontrol-

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len, vor allem von kleinen Häusern, wird man notwendigerweise immer öfter von den lokalen Behörden fordern, Ersatz für das unzureichende Angebot zu besorgen. Die Gemeinden oder ähnliche Körperschaften werden mehr und mehr Häuser zu bauen haben oder Häuser aufzukaufen haben, die aus besagten Gründen nicht mehr an Privatpersonen zu verkaufen sind – Häuser, deren erheblicher Wertverlust unumgänglich ist und deren Aufkäufe in vielen Fällen mehr lohnen als Neubauten. Dieser Vorgang wirkt sogar in zweifacher Weise, weil jede damit einhergehende Anhebung der lokalen Steuern privates Eigentum zusätzlich entwertet.15 Und wenn dieser Prozess in den Städten erst einmal so weit ist, dass die lokalen Behörden die Haupteigentümer der Wohnstätten sein werden, dann hat man einen guten Präzedenzfall geschaffen, um auch auf dem Land Wohnraum öffentlich bereitzustellen, wie die Radikalen in ihrem Programm16 vorschlagen und wie es die Demokratische Föderation einfordert. Diese besteht auf „der obligatorischen Erstellung gesunder Wohnungen für Handwerker und Landarbeiter gemäß deren Anteil an der Bevölkerung.“ Offenbar soll sich die Tendenz dessen, was bereits getan wurde, zur Zeit getan wird und nun noch zu tun ist, dem sozialistischen Ideal nähern, in dem die Gemeinschaft der einzige Hauseigentümer ist. Das täglich dichter werdende Regelwerk bezüglich Pacht und landwirtschaftlicher Nutzung wird denselben Effekt haben. Die zahlreichen öffentlichen Leistungen, die durch mehr öffentliche Einrichtungen erbracht werden, und zwar auf Kosten einer stärker belasteten Öffentlichkeit, müssen vermehrt aus den Gewinnen von Grund und Boden gespeist werden – bis mit dem Ansteigen des Wertverlusts der Widerstand gegen Änderungen des Pachtsystems mehr und mehr schwindet. Wie inzwischen jeder weiß, ist es mancherorts schwierig, Mieter zu finden, selbst zu stark reduzierten Mieten. Land mit geringer Fruchtbarkeit liegt oft brach oder wird vom Besitzer nur mit Verlust bestellt. Der Gewinn des in Land investierten Kapitals ist so niedrig, dass die erzielbaren allgemeinen und lokalen Steuern nicht ausreichen, um zur Finanzierung der gestiegenen öffentlichen Verwaltungsaufgaben beizutragen. Weil Auffangmöglichkeiten fehlen, werden die Eigentümer genötigt, zu verkaufen und das Beste aus dem verminderten Preis, den sie erzielen können, zu machen: sie emigrieren und kaufen Land dort, wo es nicht unter so großen Lasten leidet. Tatsächlich machen das bereits einige. Treibt man diesen Ver15  Wer glaubt, solche Befürchtungen seien grundlos, der bedenke die Tatsache, dass die jährlichen Inlandsausgaben im Vereinigten Königreich zwischen 1867/68 und 1880/81 von £ 36. 132. 834 auf £ 63. 276. 283 gestiegen sind und dass in derselben Zeit allein in England und Wales die Kommunalausgaben von 13 auf 30 Millionen pro Jahr! angewachsen sind. Wie das Wachstum an öffentlichen Belastungen, zusammen mit anderen Gründen, staatliches Eigentum hervorbringt, zeigt eine Äußerung des Abgeordneten W. Rathbone, auf die ich erst aufmerksam wurde, nachdem obiger Abschnitt bereits in Druck gegangen war. Er sagte: „Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die lokale Kapitalsteuer der Bürger in New York von 12 Schilling und 6 Pence auf 2 Pfund, 12 Schilling und 6 Pence gestiegen ist – eine Belastung, die das durchschnittliche Einkommen eines englischen Gutsherrn komplett verschlingen würde.“ Nineteenth Century, Februar 1883. 16  Fortnightly Review, November 1883, S. 619 – 620.

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lauf weiter, dann muss dies dazu führen, dass man minderwertiges Land aus dem Anbau ausrangiert. Dann wir man sich allgemein der Forderung anschließen, die Herr Arch kürzlich vor der Radical Association in Brighton erhoben hat. Nachdem er dort ausgeführt hatte, dass die jetzigen Grundbesitzer ihr Land nicht ertragreich zum Vorteil der Öffentlichkeit bestellen würden, sagte er, „er wolle, dass die derzeitige Regierung ein Gesetz zur Anbaupflicht verabschiede.“ Er rechtfertigte seinen allseits mit Applaus bedachten Vorschlag, indem er zum Vergleich auf die Zwangsimpfung der Nutztiere verwies (womit er auch zeigte, wie einflussreich jene neugeschaffene Tatsache ist). Seine Forderung wird man durchsetzen, nicht nur, weil es einen Bedarf an anbaufähigem Land gibt, sondern auch wegen des Bedarfs an Arbeitsplätzen für die Landbevölkerung. Eine Zeit lang wird der Staat Arbeitslose anstellen, um unfruchtbare Landstriche oder solche, die zu Nominalpreisen erworben wurden, zu kultivieren. Danach wird man ein Stadium erreicht haben, von dem aus es nur noch ein kleiner Schritt zu jenem Arrangement ist, das – wie im Programm der Demokratischen Föderation vorgesehen – einer Verstaatlichung von Grund und Boden entspricht, nämlich in Form der „Organisation landwirtschaftlicher und industrieller Armeen unter staatlicher Kontrolle und gemäß kooperativer Prinzipien“. Dem, der daran zweifelt, dass eine derartige Revolution so zustande kommt, möge man einige Fakten vorhalten, die das Wahrscheinliche untermauern. Als das Römische Reich unterging, „waren in Gallien die Leistungsempfänger im Vergleich zu den Leistungszahlern so zahlreich und die Steuerlast so enorm, dass der Arbeiter zusammenbrach, die Täler zu Wüsten wurden und die Wälder dort wuchsen, wo vorher der Pflug war.“17 Ähnlich war es, als die Französische Revolution aufzog. Die öffentliche Last war so hoch, dass das Land vieler Gehöfte unbestellt blieb und verwüstete. Ein Viertel des Ackerlands lag völlig brach und in einigen Provinzen war die Hälfte Heideland.18 Aber auch bei uns zuhause fehlt es nicht an Beispielen von derlei Natur. Abgesehen davon, dass unter dem alten Armenrecht die Abgaberaten in einigen Gemeinden fast die Hälfte der Miete ausmachten und vielerorts die Höfe brachlagen, waren die Abgaben in einem Fall so hoch, dass sie den gesamten Ertrag des Anbaus verschlangen. „1832 wurde in Cholesbury, Buckinghamshire, die Armenabgabe “plötzlich eingestellt, weil es unmöglich geworden war, sie weiterhin einzutreiben. Die Grundbesitzer hatten ihre Verpachtungen aufgekündigt, die Bauern ihre Pachten und die Geistlichen ihr Pfarrland und ihren Zehnten. Herr Jones, seines Zeichens Pfarrer, berichtet, dass im Oktober 1832 die Pfarrverwalter ihre Bücher schlossen und die Armen, als er noch schlief, sich vor seiner Tür versammelten und um Rat und Lebensmittel baten. Dank 17 

Laktanz, De Mortibus Persecutorum, cc. 7, 23. Taine, L’Ancien Regime, S. 337 – 338 (in der englischen Übersetzung). (Das französische Original L’Ancien Régime veröffentlichte Hippolyte Taine (1828 – 1893) 1875, d. Hrsg.) 18 

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seiner eigenen bescheidenen Mittel, milden Gaben aus der Nachbarschaft sowie einer Hilfsabgabe, die man den Nachbargemeinden auferlegte, konnte ihnen für einige Zeit geholfen werden.“19

Die Beamten fügten hinzu, dass „der wohlwollende Pfarrer empfiehlt, das ganze Land unter den arbeitsfähigen Armen aufzuteilen“, in der Hoffnung, dass sie mit einer zweijährigen Überbrückungshilfe in die Lage kämen, sich selbst zu ernähren. Tatsachen wie diese sprechen für die im Parlament gemachte Prophezeiung, die Fortsetzung des alten Armenrechts für weitere dreißig Jahre heiße, dass das Land nicht mehr länger zu bewirtschaften sei, und zeigen deutlich, dass die Zunahme öffentlicher Lasten im erzwungenen Anbau unter staatlicher Kontrolle enden dürfte. Das führt uns wieder zu den staatlichen Eisenbahnen. Auf dem europäischen Festland sind sie bereits weit verbreitet. Auch hierzulande gibt es schon seit einigen Jahren laute Rufe nach ihnen. Und nun wird die Forderung, die von allerlei Politikern und Publizisten verlautbart wurde, durch die Demokratische Föderation erneut erhoben. Sie rät zur „Verstaatlichung von Eisenbahnen, mit oder ohne Entschädigung.“ Wie es scheint, führt wohl der Druck von oben, begleitet von einem Druck von unten, zu diesem Ergebnis, das die überall sprießende Politik verlangt. Zusammen mit ihm, wird es noch viele andere Änderungen geben. Die Inhaber der Eisenbahngesellschaften, die zunächst nur Eisenbahnen besaßen und für die Eisenbahn arbeiteten, sind ja inzwischen Meister zahlloser Geschäftsbranchen, die direkt oder indirekt mit der Eisenbahn verbunden sind. Diese müssen auch vom Staat aufgekauft werden, wenn man die Eisenbahnen erwirbt. Der Staat, der ja bereits ein exklusiver Briefzusteller ist, sowie exklusiver Telegrafierer und bald auch exklusiver Paketzusteller, wird dann nicht nur auch exklusiv Fahrgäste, Waren und Erze transportieren, sondern auch noch viele Handelsgeschäfte zu seinen bereits bestehenden Gewerben hinzugesellen. Schon jetzt erbaut er nicht nur Marine- und Militäreinrichtungen, Häfen, Docks, Wellenbrecher etc., sondern stellt auch Schiffe, Kanonen, Handfeuerwaffen, Munition, Armeebekleidung und Stiefel her. Und wenn die Eisenbahnen „mit oder ohne Entschädigung“, wie die Leute von der Demokratischen Föderation sagen, verstaatlicht sein werden, wird er auch noch zum Hersteller von Lokomotiven, Waggons, Wagenplanen und Schmierfett und zum Eigentümer von Frachtschiffen, Kohleminen, Steinbrüchen, Busunternehmen etc. Bis dahin werden seine Adjutanten vor Ort, d. h. die Kommunalverwaltungen, die schon vielerorts als Wasser- und Gasversorger auftreten, die Straßenbahnen bauen und besitzen, und die Bäder betreiben, zweifellos in vielen anderen Geschäftsbranchen Fuß gefasst haben. Und wenn der Staat, direkt oder stellvertretend, erst einmal die Produktion und den Vertrieb von diversen Großhandelsgütern übernommen oder etabliert hat, dann wird man einen guten Präzedenzfall dafür geschaffen haben, dass der Staat auch im Einzelhandel tätig werden kann. Dabei kann man dem Beispiel des französischen Staats folgen, der schon seit langem Einzelhändler für Tabak ist. 19  Untersuchungsbericht der zuständigen Beamten für die Verwaltung und praktische Durchführung des Armenrechts, S. 37, 20. Februar 1834.

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Die bereits vorgenommenen Änderungen, jene, die im Werden sind, und jene, die man fordert, werden uns nicht nur Staatseigentum an Grund und Boden bescheren – sowie an Siedlungen und Beförderungsmitteln, allesamt verwaltet und betrieben von Staatsangestellten –, sondern letztlich zur staatlichen Vereinnahmung aller Industrien führen. Die privaten Betriebsformen, die im Wettbewerb mit dem Staat, der alles in seinem Sinne arrangieren kann, mehr und mehr benachteiligt werden, werden nach und nach wegsterben; so wie die vielen freiwilligen Schulen durch das Aufkommen der Schulheime. Auf diese Weise wird das Wunschbild der Sozialisten Wirklichkeit. Und ist das gewünschte Ideal – bei dessen Verwirklichung die „erfahrenen“ Politiker den Sozialisten kräftig unter die Arme greifen und dessen Schokoladenseite, mit der die Sozialisten stets liebäugeln, so verführerisch ist – erst einmal wahr geworden, wie muss dann seine Kehrseite aussehen, der die Sozialisten keinen Gedanken schenken? Man sagt oft, meist im Zusammenhang mit einer bevorstehenden Hochzeit, dass für jene, die große Hoffnungen hegen, der Himmel voller Geigen hänge, und dass sie nicht an die Leiden dächten, die auch kommen werden. Jene politischen Enthusiasten und fanatischen Revolutionäre liefern ein weiteres Beispiel dafür, wie wahr dieses Sprichwort ist. Unter dem Eindruck des Elends, das gegenwärtig im sozialen Gefüge herrscht, und ohne zu sehen, dass dieses Elend durch eine fehlerhaft arbeitende menschliche Natur bewirkt wurde und sich teilweise an die sozialen Umstände angepasst hat, stellen sie sich vor, dass man das Elend sogleich mit dieser oder jener Umstellung abstellen könnte. Aber auch dann, wenn ihre Pläne erfolgreich wären, hieße dies lediglich, ein Übel durch ein anderes zu ersetzen. Wenn man nur etwas nachdenkt, dann zeigt sich, dass unter der von ihnen vorgeschlagenen Umstellung die Freiheiten in dem Maße geopfert werden müssen, wie man sich um das materielle Wohlergehen sorgt. Keine Form der Kooperation, sei sie groß oder klein, kann ohne Regulierung durchgeführt werden. Jede Kooperationsform impliziert, dass man sich den regulierenden Behörden unterwirft. Sogar ihre eigenen Organisationen zur Verwirklichung gesellschaftlicher Veränderungen belegen das. Jede muss einen Beirat haben, außerdem Bedienstete in der Zentrale und vor Ort und weisungsbefugtes Führungspersonal, dem man Folge zu leisten hat, wobei bei Versagen und Fehlleistungen Strafe droht. Und die Erfahrung jener, die am lautesten nach der neuen sozialen Ordnung unter staatlicher Kontrolle rufen, zeigt, dass sogar in privaten, freiwillig geschaffenen Gesellschaften die Macht der regulierenden Organisation erheblich ist, wenn nicht gar unüberwindbar. Oft jedoch verursacht sie unter den Kontrollierten Unruhe und Murren. Die Gewerkschaften, die eine Art Wirtschaftskrieg führen, um die Interessen der Arbeiter gegen die der Arbeitgeber zu wahren, erkennen, dass eine beinahe militärisch strikte Unterwerfung nötig ist, um wirksame Aktionen zum Erfolg zu führen. Zerstrittene Beiräte sind für den Erfolg fatal. Auch in den kooperativen Körperschaften, die zur Führung von Produktionsund Vertriebsfirmen gebildet werden und eigentlich auf jenen Führungsgehorsam verzichten könnten, der nur dort von Nöten ist, wo man Angriffs- oder Verteidigungsziele hat, nimmt der administrative Part derart eine immer größere Vor-

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machtstellung ein, dass man sich über die „Tyrannei der Organisation“ beschwert. Und nun urteilen Sie selbst: Was muss geschehen, wenn wir statt relativ kleiner Verbände, denen sich die Menschen nach Gusto anschließen oder nicht, einen nationalen Verband haben, dem sich jeder Bürger einverleibt sieht und dem er nicht entkommen kann, es sei denn, er verließe das Land? Welcher Despotismus muss unter solchen Bedingungen einer abgestuften und zentralistischen Bürokratie entstehen, welche über die Ressourcen der Gemeinschaft verfügt und über alle Macht, die sie braucht, um ihre Dekrete auszuführen und jenes aufrechtzuerhalten, was sie Ordnung nennt? Fürst Bismarck mag schon durchaus solche Tendenzen zum Staatssozialismus zeigen. Und nachdem die Fürsprecher des neuen Sozialsystems die Macht der regulierenden Bürokratie innerhalb des so verführerisch ausgemalten Systems erkannt haben – und das müssen sie, wenn sie sich ihre Pläne ausdenken –, sollten sie sich selbst fragen, zu welchem Zweck diese Macht verwendet werden darf. Sie sollten dann nicht nur, wie sie es für gewöhnlich tun, über das materielle Wohlergehen und die geistigen Freuden nachsinnen, die ihnen eine wohlmeinende Verwaltung beschert, sondern auch über den Preis, der dafür zu zahlen ist. Die Beamten können nicht die nützlichen Dinge bereitstellen. Sie können unter Individuen nur dasjenige verteilen, zu dessen Herstellung sich Individuen zusammengeschlossen haben. Wenn eine öffentliche Stelle ihnen etwas bereitstellen soll, dann muss sie von ihnen auch umgekehrt die dazu nötigen Mittel verlangen. Es kann in dieser Anordnung, anders als in unserem bestehenden System, kein Übereinkommen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geben – die Anordnung schließt das aus. An seine Stelle tritt das Kommando lokaler Autoritäten über die Arbeiter und die Einwilligung der Arbeiter in das, was ihnen die Obrigkeit auferlegt. Genau dies ist das – nur scheinbar unbeabsichtigte – Arrangement, worauf die Mitglieder der Demokratischen Föderation hingewiesen haben. Sie schlagen nämlich vor, dass die Produktion von „landwirtschaftlichen und industriellen Armeen unter staatlicher Kontrolle“ betrieben werden soll. Offenbar ist ihnen entgangen, dass Armeen Offiziere unterschiedlicher Dienstgrade voraussetzen, die auf die Einhaltung von Gehorsam bestehen, da sonst weder Ordnung noch effiziente Arbeit gewährleistet sind. So stünde dann jeder Mensch gegenüber den staatlichen Behörden in der Beziehung, in der der Sklave zu seinem Halter steht. „Aber die staatlichen Behörden wären wie ein Gebieter, den er und die anderen geschaffen haben und andauernd im Zaum halten, und der somit ihn und andere nicht mehr kontrolliert, als zum Wohle aller und jedes Einzelnen nötig ist.“

Darauf wäre zunächst zu entgegnen, dass, sollte dem so sein, jedes Mitglied der Gemeinschaft als Individuum ein Sklave der Gemeinschaft als Ganzes wäre. Eine solche Beziehung bestand normalerweise in militärischen Gemeinschaften, auch in solchen, die quasi Volksherrschaften sind. Im alten Griechenland galt der Grundsatz, dass kein Bürger sich selbst oder seiner Familie gehörte, sondern dem Stadtstaat, wobei der Stadtstaat das griechische Pendant zur Gemeinschaft bildete. Und diese Doktrin, die für einen Staat, der permanent zum Krieg gerüstet war,

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angemessen ist, ist ein Glaubenssatz, den der Sozialismus nichts ahnend wieder eingeführt hat, und zwar in einem Staat, der ein rein industrieller sein sollte. Die Leistungen des Einzelnen tragen zum Gesamtvermögen aller bei. Und für derlei Leistungen werden Bezüge zurückgezahlt, wie es die Obrigkeit für angemessen hält. Also auch dann, wenn die Verwaltung so wohlwollend ist, wie sie sein sollte, muss ein solches Arrangement im Ergebnis Sklaverei bedeuten, in welch milder Form auch immer. Zum Zweiten könnte man darauf entgegnen, dass die Verwaltung gar nicht die Form annehmen wird, die ihr zugedacht ist, und die Sklaverei gar nicht mild sein wird. Die sozialistische Spekulation beruht auf einer Annahme, die auch die Spekulationen der „erfahrenen“ Politiker durchzieht. Man geht davon aus, dass die Bürokratie so arbeiten wird, wie sie soll, was sie aber nie tut. Die Maschinerie des Kommunismus, wie auch die bestehende Sozialmaschinerie, kann nur auf der menschlichen Natur aufbauen, wie diese ist, und die Defekte dieser menschlichen Natur werden in der einen wie in der anderen Maschinerie dieselben Übel hervorbringen. Die Liebe zur Macht, die Eigennützigkeit, die Ungerechtigkeit und die Unaufrichtigkeit, die private Einrichtungen oft in kürzester Zeit ins Unglück stürzen, werden dort, wo ihre Effekte sich von Generation zu Generation anreichern, unweigerlich größere und schwerer behebbare Übel zuwege bringen, weil die Verwaltungsorganisation, groß und komplex, wie sie ist, und versehen mit allen Ressourcen, einmal entwickelt und gefestigt, unüberwindbar werden muss. Und wenn es Beweise dafür braucht, dass die periodische Ausübung der Wahlmacht daran scheitert, dies zu vermeiden, dann reicht es, die französische Regierung als Beispiel heranzuziehen, die – ursprünglich aus dem Volk hervorgegangen und in kurzen Intervallen immer wieder dem Urteil des Volkes anheim gegeben – nichtsdestotrotz in einem Maße auf der Freiheit ihrer Bürger herumtrampelt, dass die englischen Delegierten beim letzten Gewerkschaftskongress sagten, es sei „für eine republikanische Nation eine Schande und ohne Beispiel.“ Das Endergebnis wäre dann die Wiedergeburt des Despotismus. Eine disziplinierte Armee aus Zivilbeamten gibt – wie eine Armee aus lauter Militärs – ihrem Kopf die höchste Macht; ein Macht, die oft zur Usurpation geführt hat, wie z. B. im mittelalterlichen Europa und, mehr noch, in Japan – ja sogar auch derzeit bei unseren Nachbarn. Die jüngsten Bekenntnisse von Herrn de Maupas20 haben gezeigt, wie einfach jemand, der verfassungsgemäß gewählt wurde und das Vertrauen der ganzen Bevölkerung genoss, mithilfe weniger skrupelloser Verbündeter das Vertretungsorgan lahmlegen und sich selbst zum Alleinherrscher aufschwingen kann. Wir haben gute Gründe, daraus zu schließen, dass jene, die in einer sozialistischen Organisation an die Macht kämen, nicht davor zurückschrecken würden, ihre Ziele zu verwirklichen, koste es, was es wolle. Wenn wir bedenken, dass der Rat der Demokratischen Föderation über die Anteilseigner, die – manchmal mit Gewinnen, aber auch oft mit Verlusten – das Eisenbahnsystem schufen, mit dessen 20  Charlemagne Emile de Maupas (1818 – 1888), französischer Politiker, war als Chef der Pariser Polizei maßgeblich an Napoleons III. Staatsstreich von 1851 beteiligt, d. Hrsg.

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Hilfe der nationale Wohlstand so enorm gewachsen ist, sagt, sie hätten sich an den Verkehrsmitteln „vergriffen“, dann dürfen wir daraus schließen, dass jene, die einer sozialistischen Verwaltung vorstünden, die Ansprüche der von ihnen kontrollierten Individuen und Klassen höchst pervers auslegen würden. Und wenn wir dann feststellen, dass die Mitglieder eben dieses Rates darauf drängen, der Staat solle die Eisenbahnen in Besitz nehmen, „mit oder ohne Entschädigung“, dann dürfen wir wohl Zweifel daran anmelden, dass die Köpfe der herbeigesehnten Idealgesellschaft sich an Gerechtigkeitsüberlegungen stoßen würden, wenn es darum ginge, die aus ihrer Sicht nötige Politik umzusetzen; nämlich eine Politik, die stets im Einklang mit ihrer Vorherrschaft steht. Es braucht schon einen Krieg mit einem Nachbarland oder innere Unruhen, die nach Unterdrückung verlangen, damit sich eine sozialistische Verwaltung in eine zermürbende Tyrannei wie die im alten Peru verwandelt; in eine Tyrannei, in der die Menschen als Masse im privaten wie im öffentlichen Leben von allerlei Offizieren überwacht werden und nach strikten Regeln für den Erhalt der Organisation schuften müssen, wobei ihnen außer dem Notwendigsten zum Überleben nichts weiter bleibt. Und dann würde, wenn auch in einer anderen Form, die Herrschaft des Status wiederauferstehen, das System der Zwangskooperation – jene veraltete Tradition, für die der alte Toryismus steht und zu der uns der neue Toryismus zurückführt. „Aber wir werden gegen all das auf der Hut sein – wir werden Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um derlei Desaster abzuwehren“, werden die Enthusiasten bestimmt sagen. Egal, ob es „erfahrene“ Politiker mit ihren neuen regulativen Maßnahmen sind oder Kommunisten mit ihren Plänen zur Reorganisation der Arbeit, ihre Antwort ist immer dieselbe: „Stimmt, es hat Pläne ähnlicher Art gegeben, die durch unvorhergesehene Gründe, unglückliche Umstände oder Missgriffe seitens der Verantwortlichen scheiterten. Aber diesmal werden wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und erfolgreich sein.“ Die Menschen scheinen sich nicht mit der Wahrheit abfinden zu wollen, was verdächtig genug ist. Die Wahrheit ist, dass das Wohlergehen einer Gesellschaft und die Gerechtigkeit ihres Arrangements im Grunde vom Charakter ihrer Mitglieder abhängen, und dass keines von beiden sich zum Besseren wendet, wenn der Charakter nicht gestärkt wird. Und dessen Stärkung ergibt sich nur, wenn man in den Schranken eines geordneten Gesellschaftslebens friedlich seiner Arbeit nachgehen kann. Der Glaube, dem nicht nur Sozialisten anhängen, sondern auch jene sogenannten Liberalen, die ihnen willfährig den Weg bereiten, besagt, dass bei entsprechenden Fähigkeiten eine schlecht funktionierende Menschheit in gut funktionierende Institutionen umgeformt werden kann. Das ist ein Irrglaube. Die Mängel in der Natur der Bürger zeigt sich im schlechten Funktionieren der gesellschaftlichen Struktur, in die sie eingebunden sind, egal welche es ist. Es gibt keine politische Alchemie, die aus bleiernen Instinkten goldene Verhaltensweisen machte.

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Nachtrag Zu dem oben stehenden Aufsatz hat es seit dessen Erscheinen zwar Repliken gegeben: Sozialismus und Sklaverei von H.M. Hyndman und Herbert Spencer on Socialism von Frank Fairman. An dieser Stelle können wir dazu nur sagen, dass die Autoren, wie es bei Antagonisten so üblich ist, mir Auffassungen zuschreiben, die ich gar nicht habe. Den Sozialismus abzulehnen bedeutet nicht, wie Herr Hyndman annimmt, den bestehenden Verhältnissen zuzustimmen. Vieles, das er verurteilt, verurteile ich genau so sehr. Aber ich distanziere mich von dem, womit er Abhilfe schaffen will. Der Gentleman, der unter dem Pseudonym „Frank Fairman“ schreibt, wirft mir vor, ich hätte mich von der wohlwollenden Verteidigung der Arbeiterklassen, die er in Social Statics vorgefunden habe, distanziert. Aber ich bin mir keiner derlei gemutmaßter Positionsänderung bewusst. Wenn man nachsichtig mit den Unzulänglichkeiten derer ist, die ein hartes Leben haben, heißt das keineswegs, dass man auch Taugenichtse duldet.

Von der Freiheit zur Fesselung Von der Freiheit zur Fesselung

Es gibt viele Arten und Weisen, auf die die gesellschaftliche Realität sich radikal anders entwickelt, als man nach den Regeln der Vernunft zunächst schlussfolgern würde – etwa dann, wenn Maßnahmen zur Unterdrückung eines Buches dazu führen, dass es plötzlich mehr Interesse erfährt; oder wenn Versuche, Wucherzinsen vorzubeugen, die Bedingungen für den Kreditnehmer verschärfen; oder wenn Schwierigkeiten, ein Produkt zu erwerben, nirgends so groß sind wie dort, wo es hergestellt wird. Besonders kurios unter all diesen Arten und Weisen ist dabei der Fall, in dem Dinge, die immer besser werden, zunehmend als schlecht verschrien werden. Zu jener Zeit, als die Menschen noch keine politische Macht hatten, wurde ihre Unterwerfung kaum beklagt. Als dann aber bei uns in England die freiheitlichen Institutionen so weit entwickelt waren, dass die Völker auf dem Festland uns um unsere politische Situation beneideten, wurden die Verunglimpfungen der aristokratischen Herrschaft immer lauter. Und als dann das Wahlrecht weiter ausgedehnt wurde, hagelte es noch mehr Beschwerden und es wurde noch mehr Wahlrecht gefordert. Wenn wir zurückverfolgen, wie man bislang mit den Frauen umgegangen ist, angefangen mit der Zeit der Barbaren, als die Frauen alle Lasten tragen mussten und nach den Männern das zu essen hatten, was von deren Mahl übriggeblieben war, über das Mittelalter, als sie ihre Männer beim gemeinsamen Mal bedienten, bis auf den heutigen Tag, da bei allen gesellschaftlichen Anlässen die Ansprüche der Frauen an erster Stelle stehen, dann sehen wir, dass dann, wenn die Behandlung am schlechtesten ist, das Bewusstsein dafür, wie schlecht sie ist, am schwächsten ausgeprägt ist. Jetzt aber, da sie besser behandelt werden als je zuvor, werden die Beschwerden über ihren Missstand Tag für Tag lauter. Die lautesten Aufschreie kommen aus „dem Paradies für Frauen“, aus Amerika. Noch vor hundert Jahren, als man kaum einen Mann finden konnte, der nicht ab und an betrunken war, und jeder in Verruf geriet, der weniger als ein bis zwei Flaschen Wein vertragen konnte, regte sich niemand gegen das Laster der Trunksucht auf. Aber jetzt, da in nur 50 Jahren die freiwilligen Bemühungen der Abstinenzgesellschaften, zusammen mit einigen anderen Faktoren, ein hohes Maß an Enthaltsamkeit hervorgebracht haben, gibt es lauthals Forderungen nach Gesetzen, die den verderblichen Auswüchsen des Spirituosenhandels Einhalt gebieten sollen. Ähnliches gilt für die Erziehung. Noch zu Zeiten unserer Großväter waren Lesen und Schreiben praktisch den oberen Klassen vorbehalten und niemand schlug je vor, die Grundlagen der Kultur an die Arbeiter weiterzugeben; und wenn, dann wurde er ausgelacht. Aber als zu Zeiten unserer Großväter das System der Sonntagsschulen, initiiert von ein paar Philanthropen, sich auszudehnen begann und ihm bald die Gründung von Tagesschulen folgte (mit dem Ergebnis, dass in der großen Masse jene, die lesen und

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schreiben konnten, nicht mehr die Ausnahme waren), und als die Forderung nach günstigen Büchern immer mehr zunahm, da begann man aufzuschreien, dass die Menschen umkämen, weil sie kein Wissen hätten, und dass der Staat sie nicht nur zu bilden habe, sondern ihnen die Bildung auch aufzwingen müsse. Und so ist es auch, wenn man schaut, wie es in der Bevölkerung generell um Lebensmittel, Kleidung, Unterkunft und die sonstige Ausstattung bestellt ist. Wenn man einmal die frühen barbarischen Gesellschaften ausklammert, dann hat es seit den Tagen, in denen man auf dem Land hauptsächlich von Gersten- und Roggenbrot sowie Haferflocken lebte, bis zu unserer Zeit, in denen der Verzehr von Weizenbrot der Standard ist, einen auffallenden Fortschritt gegeben. Seit jenen Tagen, in denen man in knielangen rauen Gewändern umherlief, bis in unsere Zeit, in der die Arbeiter, wie ihre Arbeitgeber auch, die Körper komplett mit einer zweilagigen Kleidung bedeckt halten, und von jener Zeit an, in der es nur Einraumhütten mit Schornstein gab, oder vom 15. Jahrhundert an, als sogar die Häuser des einfachen Landedelmannes noch ohne Vertäfelung und Außenputz waren, bis zu unserem Jahrhundert, in dem es in jeder Hütte mehr als ein Zimmer gibt – in den Häusern der Handwerker für gewöhnlich sogar mehrere –, und überall Kaminöfen, Schornsteine und verglaste Fenster, wobei die Räume tapeziert und die Türen gestrichen sind, haben sich, so meine ich, die Lebensbedingungen der Menschen beachtlich verbessert. Und dieser Fortschritt ist in unserer Zeit noch deutlicher ausgeprägt als vorher. Jeder, der 60 Jahre zurückblicken kann, in eine Zeit, in der die Verarmung weitaus größer war als heute und es Bettler zuhauf gab, staunt über die vergleichsweise großen und hochwertigen neuen Behausungen, die im Besitz der Genossenschaften sind; er staunt auch über die bessere Kleidung der Arbeiterinnen, die sonntags feines Tuch tragen, über die Serviererinnen, die mit ihren Herrinnen konkurrieren, und über den höheren Lebensstandard, der unter den Arbeitern die Nachfrage nach Lebensmitteln bester Qualität hat ansteigen lassen. All das resultiert aus den gestiegenen Löhnen einerseits und den billiger gewordenen Gütern andererseits sowie aus der Umverteilung der Steuern, die zu einer Entlastung der unteren Klassen auf Kosten der oberen Klassen geführt hat. Wer zurückblickt, der staunt auch über den Kontrast zwischen dem geringen Raum, den die öffentliche Wohlfahrt in der öffentlichen Wahrnehmung damals einnahm, und dem großen Raum, den sie jetzt einnimmt – mit dem Ergebnis, dass innerhalb wie außerhalb des Parlaments Pläne zur Begünstigung der Massen das bestimmende Thema sind, und dass man von jedem, der die Mittel hat, erwartet, dass er sich philanthropisch engagiert. Und während die Massen sich geistig und physisch schneller erholen als je zuvor, und die Senkung der Sterberate belegt, dass das Leben heute im Durchschnitt weniger anstrengend ist als früher, tönt der Ruf lauter und lauter, dass die Übel so groß seien, dass es zumindest eine gesellschaftliche Revolution erfordere, um sie zu beheben. Im Angesicht der offenkundigen Verbesserungen und der längeren Lebenserwartung, die für sich genommen zu genüge beweisen, dass es im allgemeinen besser geworden ist, wird mit zunehmender Vehemenz behauptet, dass die Dinge so schlecht stünden, dass man die Gesellschaft zerschlagen und auf einer anderen Grundlage neu organisie-

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ren müsse. In diesem Fall, wie auch in den vorgenannten Beispielen, wächst die Verunglimpfung in dem Maße, in dem die Übel schwinden. Und je schneller die natürlichen Ursachen ihre Wirkung entfalten, desto rascher wächst der Glaube, dass sie nichts bewirken. Nicht, dass die zu beseitigenden Übel klein wären. Niemand soll glauben, dass ich durch den Hinweis auf das obige Paradox die Schwere der Leiden, welche die meisten Menschen ertragen müssen, verharmlosen will. Das Los der großen Mehrheit war schon immer und ist zweifellos immer noch so schwer, dass der Gedanke daran allein schon schmerzt. Die Form, in der die Gesellschaft sich gegenwärtig organisiert hat, ist fraglos keine, mit der man zufrieden sein kann, wenn einem die Menschheit am Herzen liegt. Und auch die menschlichen Handlungen, die in ihr zutage treten, sind fraglos weit davon entfernt, unsere Bewunderung zu finden. Die starre Einteilung nach sozialem Stand und die immensen Unterschiede beim Vermögen stehen im Widerspruch zum idealen Verhältnis der Menschen untereinander, dem man in der Vorstellung gerne nachhängt. Und das allgemein übliche Verhalten, wie man es heute unter dem Druck und der Betriebsamkeit des gesellschaftlichen Lebens an den Tag legt, ist in vielerlei Hinsicht abscheulich. Obwohl jene, die den Wettbewerb verunglimpfen, in großer Zahl seine enormen Vorteile übersehen; obwohl sie vergessen, dass die meisten Gerätschaften und Produkte, durch die sich die Zivilisation von den Urvölkern unterscheidet und die das Überleben einer großen Population auf engem Raum erst möglich machen, im täglichen Kampf ums Überleben entwickelt wurden; obwohl sie die Tatsache übersehen, dass jeder, der als Produzent unter dem Unterbieten der Konkurrenz leidet, als Konsument durch die Verbilligung all dessen, was er kauft, immense Vorteile hat; und obwohl sie darauf bestehen, auf den Übeln des Wettbewerbs herumzureiten, und nichts über dessen Vorteile sagen, kann man doch nicht bestreiten, dass die Übel groß sind und gegen die Vorteile aufgerechnet werden müssen. Das System, unter dem wir derzeit leben, fördert Unaufrichtigkeit und Lügen. Es verleitet zu allerlei Betrügereien. An ihm liegt es, dass, wie so oft, billige Imitate die echten Artikel am Ende aus dem Markt drängen. Es führt dazu, dass zu kleine Gewichte auf die Waage gelegt und falsche Maße verwendet werden. Es lädt zu Bestechungen ein, welche die meisten Geschäftsbeziehungen verderben – egal wer diese unterhält; Hersteller und Käufer genauso wie Krämer und Dienstboten. Es ermutigt so sehr zu Betrügereien, dass man einen Gehilfen schräg ansieht, der nicht ohne roten Kopf lügen kann. Und oft stellt es den gewissenhaften Kaufmann vor die Wahl, entweder die üblen Praktiken seiner Konkurrenten zu übernehmen oder seine Gläubiger durch seinen Bankrott ernsthaft zu schädigen. Außerdem sind die umfangreichen Betrugsfälle, die in der Geschäftswelt an der Tagesordnung sind und täglich in den Gerichtssälen und Zeitungen zur Schau gestellt werden, weitgehend dem Druck zuzuschreiben, den der Wettbewerb auf die gehobenen Kreise der industriellen Klasse ausübt, und ansonsten den üppigen Ausgaben geschuldet, die, weil sie im Kampf der Kommerzwelt Erfolg bedeuten, Ehre einbringen. Diese kleineren Übel müssen zusammen mit dem größeren Übel gesehen werden, nämlich dem, dass die durch das System erzielte Verteilung jenen, die regulieren und beaufsichtigen,

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einen Anteil am Gesamtprodukt beschert, der unverhältnismäßig hoch zu dem ist, den die Arbeiter erhalten. Durch das, was ich hier sage, soll aber niemand denken, dass ich die Laster jenes Wettbewerbssystems unterschätzen würde, das ich vor 30 Jahren beschrieben und dargelegt habe. Hier geht es jedoch nicht um absolute Übel, sondern um relative Übel, nämlich darum, ob die Übel, unter denen wir zur Zeit leiden, größere oder kleinere Übel sind als jene, die unter einem anderen System zu erleiden wären, und ob die Bemühungen zu deren Behebung im Rahmen des bisher beschrittenen Weges mehr Erfolg versprechen als Bemühungen mit ganz anderer Ausrichtung. Um diese Frage geht es hier. Daher mag man mir nachsehen, dass ich zunächst eine Reihe von Fakten darlegen muss, die einigen recht bekannt sein dürften, bevor ich daraus einige Schlüsse ziehen werde, die weniger Bekanntheit genießen dürften.

II. Ganz allgemein kann man sagen, dass jeder Mensch arbeitet, um Leid zu vermeiden. Ihn mag die Erinnerung an den quälenden Hunger dazu veranlassen, oder der Anblick der Peitsche in der Hand des Sklaventreibers. Ihm mag vor der Bestrafung grauen, die ihm die physikalischen Umstände zufügen, oder vor der Bestrafung, die ihm durch menschliches Wirken droht. Er muss einen Herrn haben. Aber dieser Herr kann die Natur sein oder ein Mitmensch. Wenn er unter den unpersönlichen Zwängen der Natur steht, dann sagen wir, er sei frei. Und wenn er unter dem persönlichen Zwang eines anderen steht, der ihm über ist, dann nennen wir ihn je nach Grad seiner Abhängigkeit einen Sklaven, Knecht oder Vasallen. Natürlich lasse ich die kleine Minderheit, die ihre Mittel durch Erbschaft erhalten, außen vor. Sie sind eine zufällige, und nicht ein notwendige gesellschaftliche Teilgruppe. Ich spreche nur von der großen Mehrheit, der kultivierten wie der unkultivierten, die sich durch geistige oder körperliche Arbeit am Leben erhält und sich dabei entweder ihres eigenen ungezügelten Willens bedienen kann und nur auf die natürlich bedingten Vor- und Nachteile Rücksicht nehmen muss oder sich nur eines eingeschränkten Willens erfreuen kann und dabei künstlich bedingte Vor- und Nachteile zu bedenken hat. Die Zusammenarbeit der Menschen in einer Gesellschaft kann unter jeder dieser Steuerungsformen stattfinden, die, wenn sie auch oft miteinander vermischt auftreten, eigentlich gegensätzlich sind. Wenn wir das Wort Kooperation im weitesten Sinne verwenden – und nicht in dem eingeschränkten Sinne, dem man ihm heutzutage beilegt – dann können wir sagen, dass das gesellschaftliche Leben entweder auf dem Wege freiwilliger Kooperation oder dem der Zwangskooperation voranschreitet. Oder, um es mit den Worten von Sir Henry Maine zu sagen: Das System beruht entweder auf Vertrag oder Status, also entweder darauf, dass man es dem Einzelnen überlässt, unter Aufbietung seiner spontanen Bemühungen sein Bestes zu tun, wobei Erfolg oder Misserfolg von seiner Tüchtigkeit abhängen, oder

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darauf, dass man ihm einen Platz zuweist, wo er unter Zwangsherrschaft arbeitet und er an Essen, Kleidung und Behausung das erhält, was man ihm zuteilt. Das System der freiwilligen Kooperation ist in den zivilisierten Gesellschaften dasjenige, nach dem die Wirtschaft zur Zeit überall betrieben wird. In einer vereinfachten Form finden wir es auf jedem Hof vor, wo die Arbeiter direkt vom Bauern bezahlt und angewiesen werden und frei sind, nach Belieben dazubleiben oder fortzugehen. Als Beispiel für eine etwas komplexere Form mag jeder Herstellungsbetrieb herhalten, in dem nach den Geschäftspartnern die Manager und Büroangestellten kommen, dann die Zeitkontrolleure und Aufseher und schließlich die Arbeiter gemäß ihrer Lohngruppen. In jedem der beiden Fälle gibt es offenbar ein Zusammenarbeiten oder eine Kooperation zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, hier die Ernte und da der produzierte Warenbestand. Und dann gibt es gleichzeitig eine viel ausgedehntere, gleichwohl unbewusste Kooperation unter allen Arbeitern aller Lohngruppen durch die gesamte Gesellschaft hinweg. Während nämlich die einen Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch ihre Sondertätigkeit in Anspruch genommen werden, stellen wiederum andere Arbeitgeber und Arbeitnehmer Dinge her, die jene zum Leben brauchen, die aber auch andere zum Leben benötigen. Für diese freiwillige Kooperation, von ihrer einfachsten bis zu ihrer komplexesten Form, ist es charakteristisch, dass die Beteiligten einvernehmlich zusammenarbeiten. Es gibt niemanden, der Bedingungen oder Einwilligungen erzwingen könnte. Gewiss, in vielen Fällen kann es sein, dass ein Firmenchef oder ein Arbeitnehmer nur widerstrebend einwilligt, weil ihn, wie er meint, die Umstände dazu zwingen. Aber welche Umstände sind das? In dem einen Fall sind Güter bestellt oder ist ein Vertrag geschlossen worden, die der Unternehmer nicht mit Gewinn liefern bzw. den er nicht mit Gewinn erfüllen kann. Und in dem anderen Fall lässt der Arbeiter sich auf einen Lohn ein, der unter dem liegt, den er gern hätte, ohne den er aber kein Geld für Nahrung und Brennholz besäße. Hier heißt es also nicht: „Mache es oder ich werde Dich dazu zwingen“, sondern: „Mache es oder gehe Deines Weges und trage die Konsequenzen.“ Im Vergleich dazu ist das Paradebeispiel für die Zwangskooperation die Armee, wobei ich eigentlich nicht an unsere Armee denke, in welcher der Dienst für eine vereinbarte Zeitspanne geleistet wird, sondern an die Armeen auf dem Festland, die mittels Wehrpflicht entstehen. Dort werden in Friedenszeiten die täglichen Pflichten – Reinemachen, Parade, Drill, Wachdienst usw. – und im Krieg die verschiedenen Handlungen im Lager und auf dem Schlachtfeld auf Befehl verrichtet, ohne dass man irgendeine Wahl hätte. Für den gemeinen Soldaten, über den Unteroffizier bis hin zu dem halben Dutzend an Offiziersrängen gilt ein und dasselbe Gesetz: absoluter Gehorsam des niederen gegenüber dem höheren Dienstgrad. Der individuelle Wille reicht nur soweit, wie es der Wille des Vorgesetzten erlaubt. Verstöße gegen die Unterordnung werden, je nach Schwere, mit Freiheitsentzug, Sonderdrill, Gefängnis, Auspeitschen und – im äußersten Fall – mit Erschießen geahndet. Anstatt es so zu sehen, dass es wegen der besonderen Pflichten Gehorsam geben muss und dass sonst Entlassung droht, herrscht hier die Auffassung: „Folge jedem Befehl, sonst wird Dir Leid zugefügt oder gar das Leben genommen.“

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Diese Form der Kooperation, die es immer noch beim Militär gibt, ist inzwischen auch die gängige Kooperationsform in der Zivilbevölkerung. Überall und zu allen Zeiten schafft der chronische Krieg nicht nur unter Soldaten einen militärischen Strukturtypus, sondern auch in der Gesellschaft überhaupt. Solange der Konflikt zwischen den Gesellschaften andauert und das Kämpfen als der letzte männliche Beruf gilt, ist die Gesellschaft praktisch die ruhende Armee und die Armee die mobilisierte Gesellschaft. Jener Teil, der nicht am Gefecht teilnimmt und sich aus Sklaven, Dienern, Frauen etc. zusammensetzt, stellt die Intendantur dar. Daher herrscht unter all den niederen Individuen, welche die Intendantur bilden, natürlich genauso ein System der Disziplin, wenn auch nicht so ausgefeilt. Unter diesen Bedingungen ist der kämpfende Teil der herrschende Teil und der Rest der Gemeinschaft nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. Daher werden jene, die den kämpfenden Teil befehligen, auch den nicht-kämpfenden Teil unter Befehl nehmen, und die Zwangsherrschaft wird auch hier Anwendung finden und nur soweit modifiziert werden, wie es die Umstände verlangen. Kriegsgefangene werden Sklaven. Jene, die vor der Eroberung ihres Landes freie Bauern waren, werden Knechte, Gefangene der Krume. Feldwebel hören nun auf Oberfeldwebel. Aus den kleinen Herren werden die Lehnsleute der Oberherrn. Das zieht sich so vom untersten Rang bis zum höchsten Rang durch. Die gesellschaftlichen Ränge und Kräfte ähneln in ihrem Wesen denen, die es in der militärischen Ordnung gibt. Während für die Sklaven die Zwangskooperation als System uneingeschränkt gilt, gilt für all die oben genannten Ränge das System der partiellen Zwangskooperation. Jeder, der auf seinen Oberherrn den Treueeid ablegt, schwört: „Ich gehorche Dir.“ In ganz Europa, vor allem in unserem Land, hat dieses System der Zwangskooperation in seiner Strenge graduell nachgelassen, während das System der freiwilligen Kooperation nach und nach an seine Stelle trat. Als der Krieg nicht mehr das Wichtigste im Leben war, wandelte sich die gesellschaftliche Struktur, die vom Kriegswesen geprägt und ihm angepasst war, langsam und passender Weise zu jener sozialen Struktur, die das industrielle Zeitalter hervorbrachte. In dem Maße, in dem jener Teil der Gemeinschaft, der mit Angriff und Verteidigung befasst war, schwand, wuchs jener, der sich um die Produktion und Verteilung der Güter kümmerte. Größer an Zahl und Macht geworden, suchte die industrielle Bevölkerung Zuflucht in den Städten, wo sie dem Einfluss der militärischen Klasse entzogen war, und führte dort ihr Leben im System der freiwilligen Kooperation. Obwohl die kommunale Verwaltung und die Vorschriften der Innungen zum Teil deutliche Spuren der Vorstellungen und Praktiken aufwiesen, die im militärischen Teil der Gesellschaft zuhause waren, und ein gewisses Maß an Zwang mit sich führten, wurden Produktion und Verteilung weitgehend durch Abkommen geregelt, die z. B. zwischen Käufer und Verkäufer oder zwischen Meister und Geselle getroffen wurden. Rasch griffen diese gesellschaftlichen Verbindungs- und Handlungsformen bei den Menschen in den Städten um sich und drückten der Gemeinschaft ihren Stempel auf. Die Zwangskooperation verschwand mehr und mehr. An ihre Stelle trat Geld gegen Leistung, im militärischen wie im zivilen Bereich. Die starre Rangordnung wurde weniger rigide gehandhabt und die Bedeutung der Klasse schwand. Als

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dann die Beschränkungen, die man in den Handelsgesellschaften gepflegt hatte, ebenso in Vergessenheit gerieten wie das Prinzip, stets dem höheren Dienstgrad Folge zu leisten, wurde schließlich die freiwillige Kooperation zum allgemeinen Grundprinzip. Kaufen und verkaufen wurde zu jenem Gesetz, das für alle Arten von Dienstleistungen und Gütern galt.

III. Die Bedingungen des Lebens üben immerzu Druck auf uns aus, machen uns rastlos und wecken in uns den Wunsch, Neues zu erproben. Jedermann weiß, dass allzu langes Verweilen in einer Haltung ermüdet. Jeder kennt das: Selbst der bequemste Sessel, über den man zunächst frohlockt, ist nach einer Weile nicht mehr zu ertragen, und der Wechsel auf einen harten Stuhl, auf dem man vorher saß und den man nicht wollte, scheint einem für eine gewisse Zeit eine wahre Wohltat zu sein. Mit der Menschheit als solcher ist es dasselbe. Nachdem sie sich in langen Kämpfen von dem harten Regiment des alten Regimes emanzipiert und entdeckt hat, dass das neue Regime, in das sie derweil hineingewachsen ist, trotz aller Bequemlichkeiten, nicht ohne Spannungen und Macken ist, hat die Ungeduld mit denselben in ihr den Wunsch geweckt, ein anderes System auszuprobieren; wobei dieses andere System im Grunde, wenn auch nicht in seiner äußeren Erscheinung, dasselbe ist, dem frühere Generationen mit großem Frohlocken entflohen sind. So schnell, wie man die Herrschaft des Vertrags abschüttelt, so rasch hat man sich notgedrungen der Herrschaft des Status unterworfen. Schafft man die freiwillige Kooperation ab, tritt im Handumdrehen die Zwangskooperation an ihre Stelle. Irgendeine Form der Organisation muss die Arbeit haben. Und wenn es nicht die ist, die durch Abkommen im freien Wettbewerb entsteht, dann muss es jene sein, die von einer Autoritätsperson auferlegt wird. So unterschiedlich in Aufmachung und Name die neue Lieblingsordnung auch im Vergleich zur alten Ordnung der Sklaven und Knechte – die unter ihren Herren gearbeitet haben und von Baronen geknechtet wurden, die selbst Vasallen der Herzöge und Könige waren – auch sein mag, so muss sie – die sie aus Arbeitern besteht, die Rottenführern unterstehen, welche wiederum von Oberaufsehern kontrolliert werden, die selbst Untergebene der Geschäftsstellenleiter sind, die den Distriktleitern unterstehen, und die wiederum der staatlichen Zentrale – im Grunde doch eigentlich die selbe sein. Im einen wie im anderen Fall müssen Rangstufen etabliert und die Unterordnung eines jeden Ranges unter den nächsthöheren Rang durchgesetzt werden. Das ist die Wahrheit, über die der Kommunist oder Sozialist nicht gerne nachdenkt. Verärgert über das bestehende System, in dem jeder sich um sich selbst kümmert, während alle darauf achten, dass es nach fairen Regeln zugeht, denkt er, dass es doch für uns alle viel besser wäre, wenn wir uns um jeden kümmern würden. Über die Apparatur, die man braucht, um das dann so zu tun, denkt er lieber nicht nach. Wenn alle sich um jeden kümmern müssen, dann müssen notwendigerweise auch alle, die betroffen sind, die notwendigen Mittel erhalten, die Mittel des täglichen Bedarfs. Was jedem

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gegeben wird, muss den akkumulierten Beiträgen entnommen werden. Daher muss von jedem ein Beitrag verlangt werden, muss jedem gesagt werden, wieviel er zum allgemeinen Vorrat in Form von Produktionsleistung beizusteuern hat und wieviel er zum Selbsterhalt zurückhalten darf. D. h., bevor er etwas erhalten kann, muss er sich selbst den Anordnungen unterwerfen und jenen gehorchen, die ihm sagen, was er wo und zu welcher Zeit tun soll, und ihm seine Rationen an Essen, Kleidung und Behausung zuteilen. Wenn der Wettbewerb ausgeschaltet ist, und mit ihm Kauf und Verkauf, dann kann es keinen freiwilligen Tausch geben, bei dem so und so viel Arbeit so und so viel einbringt. Stattdessen muss es Verteilungen von einem zum anderen geben, und zwar durch dafür eingestellte Beamte. Diese Verteilung muss durchgesetzt werden. Zur Arbeit gibt es keine Alternative und sie muss getan werden. Auch zur Zuteilung, wie immer sie auch ausfallen mag, gibt es keine Alternative und sie muss akzeptiert werden. Schließlich darf der Arbeiter nicht einfach seinen Platz verlassen und sich sonst wo verdingen. Unter einem derartigen System kann er nirgendwo anders eingestellt werden, kraft der Anordnung von oben. Es versteht sich von selbst, dass die vorhandene Ordnung es verbieten würde, jemanden zu beschäftigen, der sich an anderer Stelle nicht untergeordnet hat. Das System könnte unmöglich funktionieren, wenn es jedem Arbeiter frei stünde, zu kommen und gehen, wie es ihm gefällt. Mit Korporalen und Feldwebeln als Befehlsempfänger müssen die Hauptmänner die Befehle ihrer Obristen erfüllen, und diese die Befehle ihrer Generäle, bis hin zum Rat der Oberkommandierenden. Gehorsam ist dabei in der industriellen Armee genauso und durchgängig gefordert wie in einer Kriegsarmee. „Erfülle Deine befohlenen Pflichten und nimm Deine zugeteilten Rationen.“ So muss die Regel lauten, im einen wie im anderen Fall. „Und wenn schon“, wird der Sozialist antworten. „Die Arbeiter stellen ihre eigenen Offiziere ein, und diese werden immer der Kritik der regulierten Massen ausgesetzt sein. Aus Furcht vor der öffentlichen Meinung werden sie darauf achten, gerecht und fair zu handeln. Und wenn sie das nicht tun, dann werden sie in einer lokalen oder überregionalen öffentlichen Abstimmung abgewählt. Was ist denn schlecht daran, Vorgesetzte zu haben, wenn die Vorgesetzten selbst unter demokratischer Kontrolle stehen?“ Der Sozialist hat volles Vertrauen in diese attraktive Vorstellung.

IV. Eisen und Blech sind einfachere Dinge als Fleisch und Blut, und totes Holz ist einfacher als lebende Nervenzellen. Eine Maschine, die aus ersterem gebaut ist, funktioniert in mehr festgelegten Arten als ein Organismus, der aus letzteren besteht. Das gilt vor allem dann, wenn die Maschine von anorganischen Kräften wie Dampf oder Wasser angetrieben wird und der Organismus von den Kräften lebendiger Nervenzentren. Es ist klar, dass die Art, auf der die Maschine funktioniert, viel leichter kalkulierbar ist als die Art, auf welcher der Organismus funk­ tioniert. Doch in wie vielen Fällen wird der Erfinder überhaupt richtig vorhersehen,

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was sein neuer Apparat herstellen wird? Wenn man die Patentliste durchsieht, wird man feststellen, dass höchstens ein Patent unter fünfzig überhaupt etwas taugt. So plausibel dem Erfinder der eigene Plan auch vorkommen mag, der eine oder andere Haken an der Sache hindert den Plan daran, zu funktionieren, und bringt ein Ergebnis hervor, das vom gewollten weit entfernt ist. Was sollen wir dann erst von den Plänen halten, die nichts mit toter Materie und Kräften zu tun haben, sondern mit komplexen, lebenden Organismen, die in weit weniger vorhersehbarer Weise handeln und die Kooperationen unzähliger solcher Organismen voraussetzen? Sogar die einzelnen Einheiten, aus denen der umstrukturierte politische Körper zu gestalten ist, werden oft kaum begriffen. Jeder ist ab und an vom Verhalten anderer überrascht, sogar von den Taten seiner Verwandten, die er ja am besten kennt. Wenn er erkennt, dass er die Handlungen eines Individuums nur mit großer Ungewissheit vorhersehen kann, wie soll er dann überhaupt die Abläufe einer gesellschaftlichen Struktur mit Sicherheit vorhersehen können? Das geht nur, wenn er annimmt, dass alle Betroffenen richtig und fair handeln werden, so denken, wie sie denken sollen, und so handeln, wie sie handeln sollen. Das muss er annehmen, und zwar trotz all seiner täglich gemachten Erfahrungen, die ihm zeigen, dass die Menschen weder das eine noch das andere tun. Er muss darüber hinwegsehen, dass die Vorwürfe, die er gegen das bestehende System erhebt, seine These erhärten, der zufolge die Menschen weder die Weisheit noch das Rückgrat haben, die sein Bild von ihnen verlangt. Die zu Papier gebrachten Verfassungen zaubern ein Lächeln auf dem Gesicht derer, die wissen, wohin diese führen. Und die Gesellschaftssysteme auf Papier lösen dasselbe bei denen aus, die sich mit der zugänglichen Evidenz befasst haben. Wer unter jenen Männern, welche die Französische Revolution ausgearbeitet und alles daran gesetzt haben, den neuen Regierungsapparat zu schaffen, hätte im Traum daran gedacht, dass eine der ersten Handlungen, welche die neue Regierung vollziehen würde, ihrer Enthauptung galt? Wer unter jenen Männern, welche die amerikanische Unabhängigkeitserklärung aufgesetzt und der Republik Gestalt verliehen haben, hätte je gedacht, dass nach nur wenigen Generationen die Gesetzgebung in die Hände von Drahtziehern fallen und zum reinen Wettbewerb unter Postenjägern ausarten würde; dass die politischen Handlungen überall durch die Einwirkung fremder Elemente, die für das Gleichgewicht zwischen den Parteien sorgen, verfälscht würden; dass die Wähler, statt nur für sich zu stimmen, in der Regel zu Tausenden von ihren „Bossen“ zu den Urnen geführt würden; und dass ehrwürdige Männer durch Beleidigungen und Verunglimpfungen professioneller Politiker aus dem öffentlichen Leben vertrieben würden. Aber auch in den Konstitutionen der anderen neuen Staaten gab es keine besseren Vorkehrungen. Dort haben die ungezählten Revolutionen mit erstaunlicher Beharrlichkeit den Gegensatz zwischen den erwarteten Ergebnissen eines politischen Systems und dessen tatsächlich erreichten Resultaten deutlich gemacht. Um das vorgeschlagene System der sozialen Umgestaltung und um das, was dazu bisher getan wurde, ist es nicht besser gestellt. Ihre Geschichte war die eines einzigen Desasters, sieht man einmal

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von den Gelegenheiten ab, bei denen man auf Enthaltsamkeit bestand. Das letzte Kapitel in dieser Geschichte bildet Cabets Kolonie Ikarien,1 über das uns neulich eines der Mitglieder, Frau Fleury Robinson, in The Open Court berichtet hat. Es ist die Geschichte von Spaltungen, Neuspaltungen, Neu-Neuspaltungen, unzähligen individuellen Abspaltungen und abschließender Auflösung. Für das Scheitern solcher sozialen Entwürfe, wie auch für das Scheitern der politischen Pläne, gibt es einen generellen Grund. Metamorphose heißt das Universalgesetz, das im Himmel wie auch auf Erden gilt, besonders in der organischen Welt, und dort vor allem im Tierreich. Keine Kreatur, mit Ausnahme der einfachsten und kleinsten, beginnt ihre Existenz in der Form, die sie später einmal annimmt. In den meisten Fällen ist die Ungleichheit groß; so groß, dass die Verwandtschaft zwischen den Formen unglaubhaft erscheinen würde, stieße man nicht täglich in den Gärten und Hühnerhöfen auf sie. Ja, mehr noch: Oft gibt es mehrere Formveränderungen. Jede von ihnen beginnt als eine offensichtlich vollständige Umwandlung, z. B. Eier, Larve, Puppe, Imago2. Und diese universale Metamorphose, die sich in den Entwicklungen eines Planeten und der auf seiner Oberfläche sprießenden Samenkörner gleichermaßen zeigt, gilt auch für Gesellschaften, sei es als Ganze oder im Hinblick auf ihre einzelnen Institutionen. Sie alle enden nicht so, wie sie beginnen. Und der Unterschied zwischen der ursprünglichen Struktur und der letztendlichen Struktur ist derart, dass am Anfang der Wechsel von der einen zur anderen unglaubhaft erscheinen muss. Auch in der primitivsten Sippe verliert der Anführer, dem man im Kampf folgt, seine Sonderstellung, sobald der Kampf vorüber ist. Und selbst dort, wo das Kriegswesen dauernde Führerschaft hervorgebracht hat, musste der Häuptling seine Hütte selbst bauen, seinen Zaun selbst errichten und seine Werkzeuge selbst herstellen, und er unterschied sich von den anderen nur dadurch, dass er den Ton angab. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass mit der Zeit durch Eroberungen, Vereinigungen von Stämmen und Zusammenschlüssen von Verbänden und schließlich der Herausbildung einer Nation aus einem der ursprünglich einfachen Anführer einer hervorgehen wird, der als Zar oder Kaiser, umgeben von Pomp und Zeremoniell, despotische Macht über zig Millionen haben wird, die er mithilfe von Hunderttausenden von Soldaten und Offizieren ausüben wird. Als die ersten christlichen Missionare, die ihr Leben entsagungsreich und bescheiden zubrachten, sich im heidnischen Europa ausbreiteten und die Vergebung der Sünden predigten und auch, dass man Böses mit Gutem vergelten solle, dachte niemand im Traum daran, dass mit der Zeit ihre Nachfolger eine gewaltige Hierarchie aufbauen und überall große Teile des Landes in Besitz nehmen würden und mit ihrem Rang auch der Hochmut wüchse – mit Militärbischöfen, die das Kommando übernehmen und ihr Gefolge in den Krieg führen, und einem Papst an der Spitze, der über Könige herrscht. So war es auch mit dem industriellen System, das viele jetzt so gerne ersetzen würden. Zu Be1  Kleine Kolonie in Nauvoo am Mississippi, benannt nach einem Roman ihres Gründers Étienne Cabet (1788 – 1856), d. Hrsg. 2  Fertiges Insekt, d. Hrsg.

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ginn konnte man das Fabrikwesen oder die entsprechenden Arbeiterorganisationen nicht voraussehen. Der Meister unterschied sich von seinen Lehrlingen und ein oder zwei Wandergesellen nur dadurch, dass er der Hausvorstand war. Er teilte mit ihnen den Tisch und das Dach überm Kopf und verkaufte das gemeinsam Angebaute. Mit dem industriellen Wachstum stieg dann die Zahl der Mitarbeiter und der Meister gab alle Tätigkeiten bis auf die Oberaufsicht auf. Aber erst seit kurzem haben sich Organisationen herausgebildet, in denen die Arbeit von Hunderten und Tausenden lohnempfangenden Arbeitern von den diversen Anordnungen bezahlter Funktionäre geregelt wird, an deren Spitze eine oder mehrere Personen stehen. Diesen ursprünglich kleinen halbsozialistischen Produktionsverbänden ging es ähnlich wie den Zweckfamilien oder Hausgemeinschaften früherer Tage: Sie lösten sich auf, weil sie sich nicht behaupten konnten. Die größeren Niederlassungen mit ihrer verbesserten Arbeitsteilung obsiegten, weil sie die Wünsche der Gesellschaft effektiver bedienten. Wir müssen aber nicht in frühere Jahrhunderte zurückgehen, um hinreichend große und unerwartete Umwandlungen zu entdecken. Zu der Zeit, als man probehalber mit £ 30. 000 pro Jahr für den Bildungssektor begann, hätte man den einen Idioten genannt, der prophezeit hätte, dass binnen fünfzig Jahren die dafür aufgewendete Summe mittels königlicher Steuern und kommunaler Abgaben auf £ 10. 000. 000 pro Jahr anwachsen würde, oder der gesagt hätte, dass der Bildungsbeihilfe bald die Ernährungsbeihilfe und Kleidungsbeihilfe folgen würde, oder der gemeint hätte, dass Eltern und Kinder, die jeder anderen Möglichkeit beraubt sind, auch dann, wenn sie am Verhungern sind, unter Androhung von Geldstrafe oder Gefängnis das über sich ergehen lassen müssen, was der Staat, mit dem Segen der Kirche, Bildung nennt. Niemand, sage ich, hätte sich träumen lassen, dass aus einem so unschuldig aussehenden Keim sich dieses tyrannische System so schnell entwickeln würde, und dass ein Volk, das glaubt, frei zu sein, sich ihm willfährig ergäbe. Somit ist in den sozialen Arrangements, wie auch in allen anderen Dingen, der Wechsel unvermeidbar. Es ist töricht, anzunehmen, dass neu eingesetzte Institutionen den Charakter, der ihnen von ihren Urhebern verliehen wurde, lange beibehalten werden. Früher oder später werden sie in Institutionen verwandelt, die anders sind als die ursprünglich beabsichtigten Institutionen; und zwar so sehr, dass selbst ihre Erfinder sie nicht mehr erkennen werden. Und worin besteht nun in dem vor uns liegenden Fall die Metamorphose? Die oben genannten Einzelfälle deuten die Richtung der Antwort offensichtlich schon an. Und Bestätigung erfährt sie durch die verschiedenen Analogien. Ein Hauptmerkmal aller voranschreitenden Organisationen ist die Entwicklung eines regulativen Apparates. Wenn die Teile eines Ganzen zusammenwirken sollen, dann muss es Vorrichtungen geben, die ihre Handlungen steuern. Und je größer und komplexer das Ganze ist und je zahlreicher die Anforderungen sind, denen die vielen Ämter genügen müssen, desto umfassender, ausgetüftelter und mächtiger muss der Steuerungsapparat sein. Dass es sich mit individuellen Organismen genauso verhält, versteht sich von selbst. Und dass es mit sozialen Organismen auch so sein muss, ist offensichtlich. Über den regulativen Apparat hinaus, den

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man in unserer Gesellschaft braucht, um für die nationale Sicherheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die persönliche Sicherheit zu sorgen, muss es unter dem Regime des Sozialismus einen Regulierungsapparat geben, der überall jede Art von Produktion und Verteilung kontrolliert und jeder Gemeinde, jeder Arbeitsstätte und jedem Individuum stets und überall ihren jeweiligen Anteil an den Produkten zuweist. Im Rahmen unserer bestehenden freiwilligen Kooperation, mit ihren freien Verträgen und ihrem Wettbewerb, braucht es keine Aufsicht von offizieller Seite. Angebot und Nachfrage und das Bestreben eines jeden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, indem er die Bedürfnisse seiner Mitmenschen befriedigt, lassen das wundervolle System entstehen, durch das in einer großen Stadt das tägliche Brot bis an die Türschwelle gebracht oder in den Läden in der Nachbarschaft aufbewahrt wird; durch das es für die Bürger überall Kleidung in allen Variationen gibt; durch das in jeder Ortschaft Häuser, Möbel und Heizstoffe fix und fertig und auf Vorrat vorhanden sind; und durch das es geistige Nahrung gibt, sei es in einer der Groschenzeitungen, die sich im Halbstundentakt abwechseln, oder in einem der wöchentlichen Groschenromane, die es scharenweise gibt, oder in einem der weniger überflüssigen Lehrbücher, die es auch schon für kleines Geld gibt. Und im ganzen Königreich wird die Herstellung und Verteilung in ähnlicher Weise durchgeführt, und nur mit dem geringsten Kontrollaufwand, der für eine effiziente Abwicklung notwendig ist. Zugleich werden die Mengen der zahllosen Handelsgüter, die überall täglich gebraucht werden, von keiner anderen Instanz angepasst als dem Streben nach Profit. Nehmen wir einmal an, dass dieses industrielle Regime der Bereitwilligkeit, das spontan agiert, vom Regime des industriellen Gehorsams ersetzt würde, durchgesetzt durch öffentliche Bedienstete. Stellen wir uns die riesige Verwaltung vor, die zur Verteilung aller Handelsgüter unter all die Menschen in den Städten, Gemeinden und Dörfern nötig wäre und die derzeit von Großhändlern erbracht wird. Stellen wir uns außerdem die noch viel größere Verwaltung vor, die nötig wäre, um all das zu tun, was derzeit die Bauern, Handwerker und Kaufleute erledigen. In diesem Fall gäbe es nicht nur die vielen Anordnungen der örtlichen Oberaufseher, sondern es gäbe auch Unterzentren und Hauptzentren für die Zuteilung der Quantitäten all der Dinge, die allerorts gebraucht werden, sowie deren Anpassung an die jeweils richtigen Zeiten. Hinzu käme dann auch das Personal zum Betrieb der Bergwerke, Eisenbahnen, Straßen und Kanäle; auch das Personal, das die Im- und Exportbetriebe leitete, die Verwaltung der Handelsschiffe, und das Personal zur Versorgung der Gemeinden mit Wasser und Gas, das auch dafür sorgte, dass die Straßenbahnen, Busse und andere Verkehrsmittel in Bewegung bleiben und Strom, Energie und sonstiges verteilt würden. Fügen wir das nun zusammen mit der bestehenden Verwaltung von Post, Telegrafie- und Telefonwesen und schließlich jener von Polizei und Militär, mit deren Hilfe die Anordnungen dieses immensen und umfassenden Regulierungssystems überall durchgesetzt werden. Stellen wir uns all das vor und fragen uns dann, wie es dabei um die Arbeiter bestellt sein würde. Auf dem Festland, wo die Regierungsorganisationen ausgereifter sind und mehr Zwang ausüben als hier, gibt es schon seit langem andauernd Beschwerden über die Tyrannei der Bürokratie und über den Hochmut und die Un-

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menschlichkeit der Bürokraten. Was wird aus denen noch werden, wenn nicht nur die Handlungen der Bürger in der Öffentlichkeit kontrolliert werden, sondern auch deren übrigen Pflichten, denen sie täglich nachgehen? Was wird erst geschehen, wenn die diversen Divisionen dieses riesigen Beamtenheers, die das gemeinsame Interesse des Bürokratismus (also die Interessen der Regulierer versus jene der Regulierten) eint, das Kommando über die Gewalt haben, die man braucht, um Unterwerfung zu erzwingen und sich als „Erlöser der Gesellschaft“ zu gebärden? Wo werden die jetzigen Kumpels in den Zechen und Gruben, den Schmelzereien und Webereien sein, wenn jene, die herumkommandieren und beaufsichtigen, überall schön hierarchisch geordnet, nach ein paar Generationen sich untereinander mit Leuten ihres Ranges vermählt haben werden, die den gleichen Dünkel kennen, den man derzeit in ihren Kreisen pflegt? Und wenn auf diese Weise reihenweise immer mächtigere Kasten entstanden sein werden und diese alles in ihrer Gewalt und zu ihrem eigenen Vorteil eingerichtet haben werden, werden sie dann nicht irgendwann eine neue Aristokratie geschaffen haben, die weit besser ausgereift und organisiert ist als die alte? Wie wird es dem einzelnen Arbeiter gehen, wenn er mit seiner Behandlung unzufrieden ist, wenn er glaubt, keinen angemessenen Anteil an den Erzeugnissen zu haben oder mehr tun zu müssen, als zu Recht gefordert werden kann, oder eine Funktion einnehmen will, für die er sich selbst geeignet glaubt, für die er aber aus Sicht seiner Vorgesetzten ungeeignet ist, oder wenn er eine berufliche Karriere einschlagen will, bei der er ganz allein auf sich gestellt ist? Diesem unzufriedenen Teil in der immensen Maschinerie wird man sagen, dass er sich unterwerfen oder gehen müsse. Die mildeste Strafe für Ungehorsam wird die industrielle Exkommunikation sein. Und wenn es – wie vorgeschlagen – eine internationale Organisation der Arbeit geben wird, dann meint Ausschluss in einem Land auch Ausschluss in allen anderen Ländern. Industrielle Exkommunikation wird Verhungern bedeuten. Dass die Dinge so kommen müssen, erschließt sich nicht nur durch Deduktion, oder allein mittels Induktion aus den Erfahrungen der Vergangenheit, die oben beispielhaft angeführt wurden; auch nicht allein, wenn man die Analogien betrachtet, die uns die Organismen jeglicher Provenienz vor Augen führen, sondern auch durch die Beobachtung jener Begebenheiten, die sich täglich vor unseren Augen abspielen. Dass die regulative Struktur wirklich dazu tendiert, an Macht hinzuzugewinnen, wird durch jedes Gebilde veranschaulicht, das der Mensch erschafft. Die Geschichte jeder Gelehrtengesellschaft und jeder anderen zweckdienlichen Gesellschaft belegt, dass das Personal andauernd oder fast andauernd Einfluss auf den Fortgang nimmt und die Geschicke der Gesellschaft ohne allzu großen Widerstand lenkt, auch dann, wenn die meisten Mitglieder der Gesellschaft damit nicht einverstanden sind. Der Widerwille gegen alles, das wie ein revolutionärer Schritt aussieht, ist in der Regel ein wirksames Abschreckungsmittel. So verhält es sich auch mit den Aktiengesellschaften, z. B. denen, die Eisenbahnen besitzen. Für gewöhnlich werden die Pläne des Vorstands mehr oder weniger diskussionslos genehmigt. Und wenn es beträchtlichen Widerstand gibt, dann wird er unverzüglich von einer überwältigenden Zahl an Bevollmächtigten gebrochen, die von

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denen geschickt werden, die stets die amtierende Geschäftsleitung unterstützen. Nur bei extremer Misswirtschaft reicht der Widerstand der Aktionäre aus, um die Geschäftsführung abzulösen. Mit den Gesellschaften, die von Arbeitern gebildet werden und denen die Arbeiterinteressen besonders am Herzen liegen, nämlich den Gewerkschaften, verhält es sich nicht anders. Auch dort wird die regulative Instanz allmächtig. Die Mitglieder halten auch dann zu den von ihnen eingesetzten Autoritäten, wenn sie eine abweichende Meinung von deren Politik haben. Sie können nicht ausscheren, ohne sich mit ihren Genossen zu verkrachen, und weil sie alle Möglichkeiten auf Beschäftigung verlören, geben sie nach. Der letzte Kongress hat uns auch neulich wieder gezeigt, dass es jetzt schon in den erst jüngst entstandenen Gewerkschaften Beschwerden über „Drahtzieher“, „Bosse“ und „Langzeitfunktionäre“ in der Organisation gibt. Wenn die Vorherrschaft der Regulierer sich schon in den Körperschaften jüngeren Datums zeigt, die von Menschen geschaffen wurden, die oftmals über unbeschränkte Macht zur Behauptung ihrer Unabhängigkeit verfügen, wie wird dann erst die Vorherrschaft der Regulierer in den althergebrachten Körperschaften aussehen, in Körperschaften, die riesig und hochorganisiert sind, und in Körperschaften, die, statt nur einen kleinen Teil des Lebens ihrer Mitglieder zu bestimmen, deren ganzes Leben kontrollieren? Hier wird man mir entgegenhalten: „Wir werden uns gegen all dies wappnen. Jeder wird geschult werden; und alle, die ihre Augen stets offen halten, wenn es um Machtmissbrauch geht, werden auf der Hut sein, um ihm vorzubeugen.“ Diese Erwartungen werden nicht viel weiterhelfen, auch wenn uns die Gründe für die Ernüchterung, die ihnen folgen wird, unbekannt wären, und zwar deshalb, weil im Falle menschlicher Angelegenheiten selbst die verheißungsvollsten Pläne aus Gründen scheitern, die nicht vorhersehbar sind. Aber in diesem Falle wird der Irrweg aus Gründen beschritten, die einem bekannt vorkommen. Das Funktionieren von Institutionen wird durch die Eigenarten der Menschen bestimmt. Die Defekte in ihren Charakteren fördern unweigerlich die oben angegebenen Ergebnisse zutage. In seiner Ausstattung mangelt es dem Menschen an Wahrnehmungen, die notwendig sind, um das Wachstum einer despotischen Bürokratie zu verhindern. Sollte es nötig sein, indirekte Beweise vorzulegen, dann würde man bei dem, was die sogenannte Liberale Partei an Verhalten zeigt, fündig werden. Sie ist eine Partei, die ihren ursprünglichen Führungsanspruch als Sprachrohr einer weitverbreiteten und allgemein anerkannten Politik aufgegeben hat und glaubt, einer Politik folgen zu müssen, die ihr Vorsitzender ohne Abstimmung und Vorwarnung hervorgezaubert hat; eine Partei, die gänzlich ohne jedes Gefühl und ohne jede Idee von dem ist, was dem Liberalismus innewohnt, so dass man es ihr übel nehmen muss, wie auf jenem Recht auf eigene Meinung, das den Liberalismus in seiner Wurzel ausmacht, herumgetrampelt wird; ja, eine Partei, die ihre eigenen Mitglieder, die ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben wollen, als abtrünnige Liberale schmäht! Aber anstatt sich hier breit über indirekte Beweise dafür auszulassen, dass die meisten Menschen von Natur aus nicht so sind, dass sie der Entwicklung der tyrannischen Bürokratie Einhalt geböten, reicht es über jene direkten Beweise zu sinnieren, die man zuhauf bei jenen Klassen antrifft, bei denen das sozialis-

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tische Ideal am meisten dominiert und die sich an der Propagierung dieser Idee höchst interessiert zeigen: die operativen Klassen. Sie stellen den größten Anteil an der sozialistischen Organisation, und ihr Charakter bestimmt deren Natur. Was aber sind diese Charaktereigenschaften, die sich in solchen Organisationen zeigen und sich bereits im Vorfeld geformt haben? Statt auf den Eigennutz der Arbeitgeberklassen und des Wettbewerbs sollten wir auf die Uneigennützigkeit setzen, die im System der gegenseitigen Hilfe liegt. Wie sehr zeigt sich nun diese Selbstlosigkeit im Verhältnis der arbeitenden Menschen untereinander? Was sollen wir zu den Regeln sagen, die festlegen, wie hoch die Zahl der Neuzugänge in den einzelnen Märkten sein darf, oder zu den Regeln, die den Aufstieg aus den niederen Arbeiterklassen in die höheren Arbeiterklassen verhindern? In solchen Regulierungen sieht man nichts von all dem Altruismus, der den Sozialismus angeblich durchzieht. Im Gegenteil, man erkennt in ihnen die Verfolgung eigener Interessen, die keineswegs leidenschaftsloser erfolgt, als es bei Geschäftsleuten der Fall ist. Wenn wir also ausschließen, dass die Natur des Menschen sich nicht plötzlich verändert, dann müssen wir schlussfolgern, dass die Verfolgung privater Interessen das Handeln aller Teilklassen der sozialistischen Gesellschaft beeinflusst. Mit der passiven Außerachtlassung der Interessen anderer geht eine aktive Beeinträchtigung derselben einher. „Sei einer von uns, oder Du wirst kürzer treten müssen.“ So lautet die übliche Drohung der Gewerkschaften an die Außenseiter in der eigenen Branche. Während ihre Mitglieder auf ihrer Freiheit bestehen, die Löhne, zu denen sie arbeiten wollen, zu vereinheitlichen und festzulegen (was zweifelsohne ihr gutes Recht ist), wird denen, die nicht mitziehen wollen, diese Freiheit abgesprochen. Mehr noch: wenn sie auf ihrer Freiheit bestehen, werden sie wie Kriminelle behandelt. Der Einzelne, der auf seinem Recht beharrt, seine Verträge selbst abzuschließen, wird als „Streikbrecher“ und „Verräter“ verunglimpft, und ist Opfer von Gewalttätigkeiten, die noch gnadenloser ausfielen, gäbe es da keine Strafen und keine Polizei. Nicht nur, dass man auf der Freiheit jener Menschen herumtrampelt, die zum selben Stand gehören. Man schreibt auch den Arbeitgebern kategorisch vor, ausschließlich den vorgegebenen Klauseln und Arbeitsverträgen zuzustimmen und zudem nur Gewerkschaftsmitglieder einzustellen. In einigen Fällen wäre mit Streik zu rechnen, falls der Arbeitgeber weiterhin mit Firmen Geschäfte machen sollte, die Nicht-Gewerkschaftsmitglieder beschäftigen. Wir sehen also hier in vielfältiger Weise, dass die Gewerkschaften, zumindest die neueren unter ihnen, entschlossen sind, ihre Regulierungen ohne Rücksicht auf die Rechte derer, die genötigt werden, durchzusetzen. Die Verkehrung der Ideen und Ansichten ist so vollkommen, dass das Beharren auf diesen Rechten als lasterhaft und deren Beeinträchtigung als tugendhaft gilt.3 3  Wenn die Menschen das einfache Prinzip, dass jeder Mensch seine eigenen Ziele verfolgen darf und dabei nur die Grenzen zu beachten hat, die ihm andere setzen, die in gleicher Weise ihre Ziele verfolgen, erst einmal aufgegeben haben, dann gelangen sie zu ganz phantastischen Schlussfolgerungen. Zur Zeit unserer Väter verkündete man laut die

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Während die Aggressivität auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist, kommt von dort Unterwürfigkeit zurück. Die Nötigung der Außenseiter durch die Gewerkschaften wird nur noch von der Abhängigkeit übertroffen, in der die Mitglieder zu den Gewerkschaftsführern stehen. Um im Kampf zu obsiegen, geben sie ihre individuellen Freiheiten und Entscheidungsmacht auf und zeigen keinen Groll, so herrisch das über sie verhängte Kommando auch sein mag. Diese Unterwerfung sehen wir überall, wo Scharen von Arbeitern auf Geheiß der Obrigkeit geschlossen in den Feierabend gehen und gemeinsam wieder zu ihrer Arbeit zurückkehren. Und sie rebellieren auch dann nicht, wenn sie allesamt ihren Obolus für irgendwelche Streiker entrichten sollen, deren Handlungen sie vielleicht oder auch nicht zustimmen. Stattdessen setzen sie den störrischen Mitgliedern ihrer Gewerkschaft, die nicht mitmachen wollen, übel zu. Die hier sichtbaren Mechanismen sind in jeder neuen gesellschaftlichen Organisation am Werk. Und die Frage ist: Was wird erst geschehen, wenn sie von allen Schranken befreit sein werden? Derzeit sind die einzelnen Gewerkschaften, die sich so gerieren, inmitten einer Gesellschaft, die ihnen teils passiv, teils feindlich gegenübersteht. Sie stehen in der Kritik einer unabhängigen Presse, die sie missbilligt, und unter der Aufsicht des Gesetzes, das die Polizei durchsetzt. Wenn es selbst unter diesen Bedingungen für die besagten Gewerkschaften schon gang und gäbe ist, sich über die individuelle Freiheit hinwegzusetzen, was wird dann erst geschehen, wenn sie nicht mehr nur hier und da unter der Leitung ihrer jeweiligen Regulierungsteams auftauchen, sondern die ganze Gemeinschaft konstituieren, mit Regulierern im Verbund an ihrer Spitze; wenn Funktionäre aller Sparten, einschließlich solcher, die die Presse verwalten, einen Teil der Regulierungsorganisation bilden und wenn das Gesetz von der Regulierungsorganisation verabschiedet und verwaltet wird? Die fanatischen Anhänger der Sozialtheoretiker können jede noch so extreme Maßnahme ergreifen, um ihre Ansichten durchzusetzen – ganz im Stile der unbarmherzigen Priester vergangener Tage, die meinten, dass das Ziel die Mittel heilige. Und wenn die allgemeine sozialistische Organisation erschaffen sein wird, dann wird der große, weit verzweigte Verbund jener, welche die AktiviForderung nach einem „Recht auf Arbeit“, soll heißen, das Recht auf einen zur Verfügung gestellten Arbeitsplatz. Nach wie vor denken nicht wenige, dass die Gemeinschaft verpflichtet sei, für jedermann Arbeit zu finden. Man vergleiche dies mit der Doktrin, die auf dem Höhepunkt der Monarchie in Frankreich galt, nämlich: „Das Recht, zu arbeiten, ist ein königliches Recht, das der Regent an seine Untergebenen verkaufen kann und diese erwerben müssen.“ Der Gegensatz spricht für sich. Aber noch verblüffender ist ein anderer Gegensatz, den man für uns bereithält. Wir erleben jetzt eine Wiederbelebung der despotischen Doktrin, die sich nur darin unterscheidet, dass an die Stelle der Könige die Gewerkschaften getreten sind. Jetzt, da überall Gewerkschaften entstehen und jeder Handwerker in irgendeine der Gewerkschaftskassen seinen vorgeschriebenen Beitrag einzahlen muss, wobei er alternativ Nicht-Gewerkschaftsmitglied bleiben kann und damit keine Arbeit bekommt, ist es inzwischen so weit, dass das Recht auf Arbeit ein Gewerkschaftsrecht geworden ist, das die Gewerkschaft an den einzelnen Arbeiter verkaufen kann und dieser erwerben muss!

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täten der Organisation steuern, ohne vorherige Prüfung jeden Zwang ausüben, der im Interesse des Systems (was letztlich in ihrem Interesse sein wird) notwendig zu sein scheint, und ohne zu zögern das gesamte Leben aller Arbeiter seiner rigorosen Herrschaft unterwerfen; bis irgendwann eine offizielle Oligarchie, mit diversen Rangstufen, eine gigantische und schreckliche Tyrannei an den Tag legen wird, welche die Welt so noch nie gesehen hat.

V. Lassen Sie mich noch einmal einen Fehlschluss klarstellen. Jeder, der annimmt, das vorangegangene Argument impliziere, dass man mit den Dingen, so wie sie sind, zufrieden sei, liegt grundlegend falsch. Die gegenwärtige soziale Lage ist vorübergehend, so wie es auch die sozialen Lagen in der Vergangenheit waren. Ich hoffe und glaube, dass die künftigen gesellschaftlichen Verhältnisse sich von den heutigen unterscheiden werden, und zwar genau so sehr wie die gegenwärtigen von den früheren, mit ihren bewehrten Baronen und wehrlosen Knechten. Wie Social Statics, aber auch The Study of Sociology und Political Institutions belegen, gibt es den Wunsch nach einer Gesellschaft, die dem Glück der Menschen zuträglicher ist als die gegenwärtige. Mein Widerstand gegen den Sozialismus nährt sich aus dem Glauben, dass er das Voranschreiten zu einem besseren Zustand bremsen und einen schlechteren Zustand zurückbringen würde. Nichts außer der langsamen Modifizierung der menschlichen Natur kann auf Dauer vorteilhafte Veränderungen hervorbringen. Fast alle Parteien, politische wie gesellschaftliche, unterliegen dem fundamentalen Irrtum, dass man alle Übel unmittelbar und von Grund auf beseitigen könne. „Wenn Sie das tun, dann wird der Missstand vermieden.“ „Übernehmt meinen Plan und das Leiden wird ein Ende haben.“ „Die Korruption wird zweifellos ausgeräuchert werden, wenn man diese Maßnahme befolgt.“ Überall trifft man auf solche Überzeugungen, die im Stillen gehegt oder laut ausgesprochen werden. Sie alle entbehren der Grundlage. Man kann zwar die Ursachen beheben, welche die Übel intensivieren; man kann auch die Übel so ändern, dass sie eine andere Gestalt annehmen; und man kann sogar, was oft der Fall ist, die Übel durch Maßnahmen zu ihrer Vorbeugung verschlimmern. Aber so etwas wie die direkte Abschaffung der Übel ist unmöglich. Die Menschheit wurde im Verlauf der Jahrtausende durch ihre Vermehrung dazu gezwungen, ihren primitiven Urzustand, in dem man sich in kleinen Gruppen gegenseitig mit dem, was die Natur bot, am Leben erhielt, für jenen der zivilisierten Gesellschaft aufzugeben, in der man für eine große Zahl von Menschen nur durch dauerndes Arbeiten die Nahrung sicherstellen kann. Die für diese Lebensform notwendige Natur unterscheidet sich sehr stark von jener der vorangegangenen Lebensform. Und man musste eine lange, schmerzvolle Zeit über sich ergehen lassen, bis die eine in die andere übergegangen war. Elend entsteht immer dann, wenn eine Verfassung nicht mehr mit ihren Bedingungen harmoniert. Und die Verfassung, die uns die unzivilisierten Menschen hinterließen,

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harmoniert nicht mehr mit den Bedingungen, vor denen der Mensch heute steht. Daher ist es nicht mehr möglich, eine befriedigende soziale Lage zu schaffen. Aus einer menschlichen Natur, die Europa Millionen von Soldaten beschert hat, mal zur Eroberung, mal zur Revanche; die die christlichen Nationen dazu brachte, in endlos langen Expeditionen durch alle Herren Länder miteinander zu wetteifern – und zwar ohne Rücksicht auf die Ansprüche der Ureinwohner und unter den wohlwollenden Blicken von Heerscharen Nächstenliebe predigender Priester; die im Umgang mit den unterlegenen Rassen über die primitive Regel, ein Leben für ein Leben, hinausgeht und viele Leben für ein Leben nimmt; aus einer solchen menschlichen Natur, so sage ich, kann man auf keine Art der Welt eine harmonische Gemeinschaft formen. Die Wurzel jedes wohlgeordneten gesellschaftlichen Handelns ist ein Sinn für Gerechtigkeit, der zugleich auf persönlicher Freiheit besteht und sich dafür einsetzt, dass alle anderen die gleiche Freiheit genießen. Derzeit gibt es diesen Sinn nur in einem unzureichenden Ausmaß. Daher auch die Notwendigkeit zur weiteren Fortsetzung der gesellschaftlichen Disziplin, die von jedem Menschen verlangt, seinen Aktivitäten mit Rücksicht auf die gleichberechtigten Ansprüche anderer bei der Verfolgung ihrer Aktivitäten nachzugehen, und die zudem fordert, dass dem Menschen alle Vorteile, die sein Handeln auf natürliche Weise hervorbringt, zufallen, und er die Nachteile, die sich auf natürlichem Wege aus seinem Handeln ergeben, anderen nicht aufbürden darf, es sei denn, sie stimmten der Aufbürdung freiwillig zu. Daher also auch der Glaube, dass Versuche, diese Disziplin zu umgehen, nicht nur scheitern müssen, sondern auch größere Übel hervorbringen müssen als jene, denen man entkommen will. Dass dem Sozialismus die Stirn geboten wird, liegt also nicht vornehmlich im Interesse der Arbeitgeberklasse, sondern viel mehr im Interesse der Arbeiterklasse. Die Produktion muss so oder so reguliert werden. Und die Regulierer – das liegt in der Natur der Sache – müssen im Vergleich zu denen, die tatsächlich etwas produzieren, eine kleine Klasse darstellen. Unter der derzeit praktizierten freiwilligen Kooperation nehmen die Regulierer in Verfolgung ihres eigenen Interesses so viel von den Erzeugnissen für sich weg, wie sie können. Doch wie die Erfolge der Gewerkschaften Tag für Tag zeigen, unterliegen sie bei der eigennützigen Verfolgung ihrer Ziele Grenzen. Unter der Zwangskooperation, welche die Sozialisten fordern, sind die Regulierer nicht weniger selbstsüchtig, aber nicht dem gemeinsamen Widerstand der Arbeiter ausgesetzt. Wegen ihrer Weigerung, jemanden anders als unter den diktierten Bedingungen arbeiten zu lassen, ist ihre Macht unkontrolliert und wird so weiter wachsen, wuchern und sich zusammenziehen, bis sie unaufhaltsam ist. Schließlich muss sich, wie ich zuvor ausgeführt habe, eine Gesellschaft wie die im alten Peru ergeben. Schrecklich, wenn man sich das vorstellt, wie dann die Menschen massenhaft – in Gruppen von zehn, fünfzig, hundert, fünfhundert und tausend Personen straff organisiert, unter dem Befehl von Offizieren mit entsprechenden Dienstgraden stehend und in ihren Distrikten zusammengepfercht – in ihrem Privat- und Berufsleben überwacht werden und sich heillos quälen müssen, damit der Regierungsapparat unterstützt wird.

Die Sünden der Gesetzgeber Die Sünden der Gesetzgeber

Der Mensch mag nun Schuld auf sich geladen haben und ein Kind der Sünde sein oder nicht. Auf jeden Fall stimmt es, dass der Staat eine Ausgeburt und Brutstätte der Aggression ist. In den kleinen unterentwickelten Gesellschaften, die von Anfang an völlig friedlich lebten, gibt es nichts dergleichen, was wir den Staat nennen: keine behördlichen Zwänge, sondern nur ehrenamtliche Führung, wenn es überhaupt eine Führung gibt. In diesen außergewöhnlichen Gemeinschaften, die von Aggressionen frei sind und auch nie dergleichen erfahren haben, weicht man so selten von den Tugenden der Aufrichtigkeit, Ehre, Gerechtigkeit und Großzügigkeit ab, dass kaum mehr nötig ist als der gelegentliche öffentliche Meinungsaustausch im Rahmen der informellen Versammlungen der Ältesten.1 Im Gegenteil, es gibt Belege dafür, dass die permanente Autorität eines Anführers dadurch entsteht, dass der Krieg zum Dauerzustand wird, und wächst, wenn ein erfolgreicher Krieg mit der Unterwerfung angrenzender Stämme endet. Die vielen Beispiele, für welche die Urvölker seither gesorgt haben, lassen keinen Zweifel mehr daran, dass die Zwangsgewalt eines Häuptlings, der zum König wird oder zum König der Könige (ein im alten Osten gebräuchlicher Titel), in dem Maße zunimmt, wie die Eroberung zum Normalfall wird und die Gruppe der unterworfenen Nationen an Umfang zunimmt.2 Vergleiche fördern noch eine weitere Wahrheit zutage, die uns allgegenwärtig bleiben sollte: Die Streitsucht der herrschenden Macht in einer Gesellschaft wächst mit ihrer Streitsucht außerhalb der Gesellschaft. So, wie eine Armee wirksamer wird, wenn man die Soldaten dem Kommandanten unterstellt, wird eine Kampfgemeinschaft wirkungsvoller, wenn die Bürger der Regierung untertan sind. Sie müssen die Rekruten stellen, so weit wie nötig, und ihr Eigentum hergeben, so weit wie erforderlich. Dies impliziert offensichtlich, dass die politische Ethik der Ethik des Krieges, mit der sie ursprünglich identisch war, lange Zeit ähnlich bleiben muss und nur insofern von ihr abweichen kann, als kriegerische Unternehmen und Vorbereitungen abnehmen. Was wir derzeit sehen, belegt dies. Momentan ist der Bürger auf dem europäischen Festland nur frei, wenn seine Dienste als Soldat nicht gefragt sind. Für den Rest seines Lebens ist er weitgehend zur Unterstützung des militärischen Apparates versklavt. Auch bei uns würde ein ernsthafter Krieg wegen der erforderlichen Wehrpflicht die Freiheit vieler außer Kraft setzen und die Freiheit der übrigen aushebeln, indem man ihnen Steuern für die notwendigen Anschaffungen auferlegte. D. h., man würde sie zwingen, entsprechend mehr Tage für den Staat zu 1  Spencer, Political Institutions, §§ 437, 573. (Political Institutions bilden Teil 5 der ab 1876 von Spencer publizierten Principles of Sociology, d. Hrsg.) 2  Spencer, Political Institutions, §§ 471 – 473.

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arbeiten. Der etablierte Verhaltenskodex für den Umgang des Staates mit den Bürgern muss zwangsläufig dem ähneln, den die Staaten im gegenseitigen Umgang miteinander pflegen. In diesem Aufsatz werde ich nicht die Grenzbrüche und deren Vergeltungsmaßnahmen, von denen die Geschichte voll ist, thematisieren. Ich werde auch nicht die Ungerechtigkeiten im Innern behandeln, die seit jeher mit den Ungerechtigkeiten in den Außenbeziehungen einhergehen. Mir geht es hier zudem nicht darum, die Verbrechen verantwortungsloser Gesetzgeber aufzulisten, angefangen mit denen von König Cheop, dessen riesiges Grab auf Steinen ruht, getränkt im Blut und Schweiß Hunderttausender Sklaven, die jahrelang unter der Knute schuften mussten; gefolgt von jenen, die von den Eroberern verübt wurden, von den Ägyptern, Assyrern, Persern, Mazedoniern, Römern und all den anderen; und endend mit denen Napoleons, dessen Ansinnen, die zivilisierte Welt Staub fressen zu lassen, nicht weniger als 2 Millionen Menschen das Leben gekostet hat.3 Ich beabsichtige auch nicht, jene Sünden der verantwortungsvollen Gesetzgeber aufzuzählen, die in jener langen Liste der Gesetze zu finden sind, die im Interesse der vorherrschenden Klasse beschlossen wurden. In unserem Land reicht die Liste von der Sklaverei und vom Sklavenhandel – die jedes Jahr für knapp 40. 000 Neger Tortur und Quälerei und für viele von ihnen den Tod bedeuteten, weil sie auf dem Weg durch die Tropen zu viel Gepäck schleppen mussten – bis zu den Getreidezollgesetzen, mit denen, wie Sir Erskine May sagt, „verfügt wurde, dass Heerscharen hungern mussten, um hohe Renditen zu erzielen.“4 Nicht, dass eine Darstellung der offenkundigen Missetaten der verantwortungsvollen sowie der verantwortungslosen Gesetzgeber nutzlos wäre. Sie wäre in vielerlei Hinsicht nutzbringend, z. B. im Hinblick auf die oben genannte Wahrheit. Eine solche Darstellung würde verdeutlichen, inwiefern die Übereinstimmung der politischen Moral mit der militärischen Moral – die es früher notwendigerweise bei den Urvölkern gab, als die Armee schlicht die mobilisierte Gesellschaft war und die Gesellschaft die schlafende Armee – über lange Phasen andauert und auch jetzt in großem Maße unsere Gesetzgebungsverfahren und unser Alltagsleben prägt. Nachdem ich z. B. dargelegt habe, dass in zahllosen urzeitlichen Stämmen der Anführer kaum eine oder gar keine rechtsprechende Funktion hatte und der Mensch während der Frühphase der europäischen Zivilisation im allgemeinen sich selbst verteidigen und das, was ihm misslang, nach Kräften selbst in Ordnung bringen musste; nachdem ich zudem dargelegt habe, dass im Mittelalter das Recht auf Privatkrieg zwischen Angehörigen des Militärs erloschen ist – und zwar nicht, weil der oberste Militär es für seine Pflicht hielt, zu schlichten, sondern weil Privatkrie3  Landfrey. Siehe auch Spencer, Study of Sociology, S. 42, und Appendix. (Spencers Study of Sociology erschien 1873, d. Hrsg.) 4  May (1866), S. 617. (Thomas Erskine May (oder Lord Farnborough, 1815 – 1886) ist u.a. Autor von A Treatise upon the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament (kurz: Parliamentary Practice), ein Standardwerk im englischen Verfassungsrecht; d. Hrsg.)

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ge die Effizienz seiner Armee bei zwischenstaatlichen Kriegen durchkreuzt haben; und nachdem ich gezeigt habe, dass die Handhabung der Gerechtigkeit seit damals viel von ihrer primitiven Natur offenbart hat – etwa in gerichtlichen Zweikämpfen vor dem König oder dessen Abgesandten als Schiedsrichter (wobei der Gerichtskampf bei uns bis 1819 eine gangbare Alternative zum jetzigen Gerichtsverfahren war) –, sei darauf verwiesen, dass sogar noch heute der gerichtliche Zweikampf in einer anderen Form weiterlebt: nur sind heute die Ratgeber die Kämpfer und die Geldbeutel die Waffen. In Zivilfällen kümmert sich die Obrigkeit kaum mehr als früher darum, dass die Vergehen an den Verletzten wieder gutgemacht werden. Ihr Repräsentant macht eigentlich nicht viel mehr, als die Regeln des Kampfes durchzusetzen. Das Ergebnis ist weniger eine Frage der Gerechtigkeit als eine Frage der pekuniären Möglichkeiten und der Redekünste. Wie gering das Interesse der Obrigkeit an der Handhabung der Gerechtigkeit ist, zeigt sich in folgendem: Sollte ein Rechtsstreit in Gegenwart des amtierenden Richters ausgetragen werden, bei dem die Kontrahenten pekuniär bis zum Umfallen ausbluten, und sollte dann, wenn einer der beiden in Berufung geht, die Entscheidung revidiert werden, dann muss der unterlegene Kontrahent für den Pfusch des Richters bzw. seines Vorgängers in der ersten Verhandlung bezahlen. Nicht selten verlässt der Geschädigte, der Schutz oder Wiedergutmachung gesucht hat, den Gerichtssaal als finanziell gebrochener Mann. Ein sachgerechtes Portrait jener Missetaten, die der Staat in Auftrag gibt oder durch Unterlassung bewirkt, das zeigt, dass der zum Teil noch intakte ethische Code, der dem Kriegszustand entspringt und entspricht, die Handlungen des Staates moralisch verdirbt, dürfte die Hoffnungen jener, die darauf erpicht sind, die staatliche Kontrolle weiter auszudehnen, arg dämpfen. Wenn die Reformer und Menschenfreunde erst einmal erkannt haben werden, dass die nach wie vor offenkundigen Merkmale der politischen Struktur der Urzeit, die aus einer chronischen Militanz hervorgegangen sind, mit dem ebenfalls nach wie vor offenkundigen Überleben ihrer primitiven Prinzipien Hand in Hand gehen, dann werden sie womöglich in ihrem Glauben an das Gute der alles durchdringenden Verwaltung weniger zuversichtlich sein und mehr dazu neigen, den Agenturen der nicht-staatlichen Art zu trauen. Gleichwohl schlage ich vor, den größeren Teil des umfassenden Themas, das unter den Titel dieses Aufsatzes fällt, auszulassen und hier nur den vergleichsweisen kleinen Teil abzuhandeln, nämlich jene Sünden der Gesetzgeber, die nicht von deren persönlichen Ambitionen oder Klasseninteressen hervorgebracht werden, sondern dem Mangel an jenem Studium geschuldet sind, mit dessen Hilfe sich vorzubereiten, eigentlich ihre moralische Pflicht ist. Wenn der Apothekenhelfer sich vom Patienten die Beschwerden beschreiben lässt und hinter ihnen eine Kolik vermutet, obwohl sie von einer Blinddarmentzündung herrühren, und er ein stark abführendes Mittel verschreibt, an dem der Patient stirbt, dann wird er wegen Totschlags schuldig gesprochen. Er kann sich nicht

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damit herausreden, dass er nichts Böses beabsichtigt hätte und nur Gutes wollte. Seine Verteidigung, dass ihm bei seiner Diagnose einfach ein Fehler unterlaufen sei, reicht nicht aus. Man wird ihm sagen, dass er kein Recht dazu gehabt hätte, sich in eine Sache einzumischen, von der er nicht genug versteht, und damit verhängnisvolle Konsequenzen zu riskieren. Die Tatsache, dass er unwissend war und wie sehr, wird vor Gericht nicht berücksichtigt. Man setzt stillschweigend voraus, dass die allgemeine Erfahrung ihn hätte lehren sollen, dass selbst der Fachkundige, und der Unkundige erst recht, bei der Interpretation von Störungen und deren sachgemäßen Behebung manchmal einen Fehler begeht und dass die Missachtung der aus der allgemeinen Erfahrung ableitbaren Warnung ihn für die Konsequenzen haftbar macht. Geht es aber um die Verantwortung der Schäden, die der Gesetzgeber anrichtet, dann legen wir weitaus mildere Maßstäbe an. In den meisten Fällen sind wir weit davon entfernt zu glauben, dass sie für das Unheil durch die Gesetze, die sie aus Unwissenheit in Kraft gesetzt haben, bestraft werden sollten. Wir denken meistens nicht einmal, dass man sie überhaupt verurteilen sollte. Wir meinen, dass die allgemeine Erfahrung den Apothekenhelfer, ungeübt wie er ist, hätte lehren sollen, sich nicht einzumischen. Aber wir meinen nicht, dass die allgemeine Erfahrung den Gesetzgeber lehren sollte, sich solange nicht einzumischen, bis er sich genug weitergebildet hat. Da er in der wohldokumentierten Gesetzgebung unseres Landes wie auch der anderer Länder unzählige Beispiele für immense, durch Fehlentscheidungen verursachte Schäden findet und diese bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen sollten, dürfte es ihm ein Leichtes sein, diese Warnungen gegen unüberlegte Einmischungen nicht in den Wind zu schlagen. Doch man rechnet es ihm als Verdienst an, wenn er – frisch von der Universität oder allseits als junger Hundezüchter im Land bekannt oder als Junge aus der Provinz, der dort zu Geld gekommen ist, oder als Jurist, der sich als Verteidiger einen Namen gemacht hat – jung ins Parlament einzieht und sich völlig unbeschwert ans Werk macht, ganz im Sinne des Gemeinwesens dieses oder jenes zu erleichtern oder zu erschweren. In diesem Fall kann man ihm noch nicht einmal vorwerfen, dass er nicht weiß, wie wenig er weiß, weil die Öffentlichkeit mehrheitlich mit ihm der Meinung ist, dass er gar nicht mehr wissen müsse, als das, was er durch die Debatten im Parlament erfährt. Und doch sticht der Schaden, der durch unsachgemäße Gesetzgebung angerichtet wird und ungleich größer ist als jener, der durch unsachgemäße Behandlung mit Medikamenten verursacht wird, all jenen in die Augen, die einen flüchtigen Blick in die Rechtsgeschichte werfen. Der Leser mag es mir nachsehen, dass ich ihm ein paar bekannte Fälle in Erinnerung rufe. Jahrhundertelang haben die Staatslenker Zinswuchergesetze verhängt und damit die Lage der Schuldner verschlimmert. Die Zinsrate stieg dann „von fünf auf sechs Prozent, wenn eine Senkung auf vier beabsichtigt war“5, wie unter Ludwig XV., und bewirkte ungeahnte Übel verschie5  Lecky, History of Rationalism, II, S. 293 – 294. (William Edward Hartpole Lecky (1838 – 1903) war ein irischer Historiker, d. Hrsg.)

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denster Art, wie z. B. dass Kapitalreserven nicht wiederverwendet werden konnten und „Kleineigentümer mit einer Vielzahl wiederkehrender Auflagen behelligt“6 wurden. Gleiches gilt hinsichtlich der Bestrebungen, mit denen man in England seit 500 Jahren erfolgreich Aufkäufe verhindert und die in Frankreich, wie Arthur Young bezeugen kann, jeden daran hindern, „mehr als zwei Scheffel Weizen auf dem Markt“7 zu kaufen. Generation für Generation mehren sie das Elend und sorgen für hohe Sterberaten infolge von Hungersnöten. Denn, wie schließlich jeder weiß, ist der Großhändler, der in der Bäckersatzung „De Pistoribus“ als „erklärter Unterdrücker der Armen“8 geschmäht wird, einfach nur jemand, dessen Aufgabe es ist, das Angebot von Gütern auszugleichen, indem er deren übermäßig schnelle Konsumption in Schach hält. Von derselben Sorte war auch die Maßnahme, mit der man 1315 durch Festsetzung der Lebensmittelpreise die Hungersnöte eindämmen wollte, die man aber hastig wieder zurücknahm, nachdem sie dazu geführt hatte, dass etliche Lebensmittel vom Markt komplett verschwanden. Gleiches gilt für die Maßnahmen, die von längerer Dauer sind, wie jene, welche die „vernünftigen Gewinne“9 von Lieferanten behördlich festlegen. Die vielen Lohnfestsetzungsversuche, die mit dem Arbeitsmarktgesetz (Statute of Labourers10) unter Edward III. begonnen und erst vor 60 Jahren ihr Ende gefunden haben, sind alle Kinder desselben Geistes und der Ursprung von allerlei Unfug. Sie haben lange Zeit für Spitalfields industriellen Verfall gesorgt und Elend über die dortige Bevölkerung gebracht, bevor Ober- und Unterhaus schließlich davon abrückten, die Löhne der Seidenweber durch den Magistrat festlegen zu lassen. Ich kann mir vorstellen, dass man hier ungeduldig einwerfen wird: „Das wissen wir alles. Die Geschichte ist alt. Mit den unheilvollen Eingriffen ins Wirtschaftsleben liegt man uns schon lange in den Ohren. Wir können es nicht mehr hören. Man muss uns die Lektion nicht schon wieder beibringen.“ Darauf erwidere ich zunächst einmal, dass die große Mehrheit diese Lektion nie richtig gelernt hat und viele, die sie gelernt haben, sie wieder vergessen haben. Dieselben alten Einwände, mit denen man bereits damals diesen Erlass befürwortete, werden schon wieder vorgebracht. In Statut 35 der Gesetze unter Edward III. – das die Heringspreise niedrig halten sollte, bald aber wieder aufgegeben wurde, weil es sie in die Höhe trieb – beschwerte man sich, dass die Menschen, „die zum Markt gehen … um den Heringspreis feilschen und jeder von ihnen versucht, den anderen aus Bosheit und Neid zu übertreffen. Bietet der eine 40 Schillinge, dann bietet der nächste 10 Schillinge mehr, und ein dritter bietet 60 Schillinge. So überbietet einer den ande6 

Tocqueville (1856) , S. 421. Young, Travels, S. 128 – 129. (Arthur Young (1741 – 1820) war ein weitgereister britischer Agrarwissenschaftler, d. Hrsg.) 8  Craik, History of British Commerce, S. 134. (George Lillie Craik (1798 – 1866) war ein schottischer Literaturwissenschaftler, d. Hrsg.) 9  Craik, History of British Commerce, S. 136 – 137. 10  1351, d. Hrsg. 7 

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ren beim Handel.“11 Und nun wird das „Marktgefeilsche“, das hier verurteilt und „Bosheit und Neid“ zugeschrieben wird, schon wieder verdammt. Die Übel des Wettbewerbs sind die alte Leier der Sozialisten. Und der Rat der Demokratischen Föderation wirft der Börse vor, sie würde vom „Profit des Einzelnen und der Gier kontrolliert.“ Ferner gebe ich auf den Einwurf zurück, dass Eingriffe in das Gesetz von Angebot und Nachfrage, von denen noch unserer Väter wussten, dass sie in der Regel schädlich sind, durch Parlamentsbeschlüsse in den berüchtigten neuen Bereichen an der Tagesordnung sind. Hinzu kommt, dass sie, wie ich nun zeigen will, in diesen neuen Bereichen die zu beseitigenden Übel mehren und neue hinzufügen, so wie man es früher in den Bereichen tat, aus denen man sich heute heraushält. Nach diesem Einschub sei noch einmal betont, dass ich die oben genannten Gesetze deshalb angeführt habe, um den Leser daran zu erinnern, dass der unwissende Gesetzgeber in der Vergangenheit das menschliche Leiden durch seine Bemühungen ständig verschärft hat, statt es zu verringern. Und nun habe ich darzulegen, dass dann, wenn diese nachweislich legislativ intensivierten oder produzierten Übel sich mehr als verzehnfacht haben werden, aus den aggregierten Übeln, die infolge der Gesetzgebung und ohne sozialwissenschaftliche Anleitung entstanden sind, eine neue Idee hervorgehen wird. In einem Vortrag, den Herr Janson, seines Zeichens Vizepräsident der Anwaltskammer, im Mai 1873 vor der Statistischen Gesellschaft gehalten hat, führte derselbe aus, dass seit dem Statut von Merton (das im 20. Regierungsjahr von Heinrich III. erlassen wurde12) bis Ende 1872 18. 110 öffentliche Gesetze verabschiedet worden waren, von denen nach seiner Schätzung 4/5 ganz oder teilweise aufgehoben worden sind. Er führte außerdem aus, dass allein in den Jahren 1870 – 1872 die Zahl jener öffentlichen Gesetze, die teilweise oder ganz widerrufen worden sind, bei 3. 532 lag. Allein davon wurden 2. 759 ganz aufgehoben. Um zu sehen, ob dieser Außerkraftsetzungstrend anhält, habe ich in den jährlich herausgegebenen Bänden der allgemeinen öffentlichen Gesetze (The Public General Statutes) die letzten drei Legislaturperioden nachgeschlagen. Die zahllosen novellierten Gesetze gar nicht mitgezählt, ergeben sich für die letzten drei Legislaturperioden insgesamt 650 Gesetze, die in die Zeit der gegenwärtigen Regentschaft fallen und einzeln oder in Gruppen aufgehoben wurden. Dazu kommen noch viele andere aus früheren Regentschaften. Natürlich liegt diese Zahl weit über dem Durchschnittswert, weil es erst kürzlich eine gründliche Reinigung des Gesetzbuches gab. Aber auch bei allen Zugeständnissen müssen wir zu dem Schluss kommen, dass in unserer Zeit die Zahl der Aufhebungen in die Tausende geht. Gewiss waren darunter auch zahlreiche Gesetze, die obsolet geworden waren. Andere sind den sich ändernden Zeiten geschuldet. (Aber angesichts der Tatsache, dass meistens recht junge Gesetze betroffen sind, gilt das nur für einen kleinen Teil.) Andere Gesetze wurden aufgehoben, weil sie schlicht nicht umsetzbar waren; und wieder andere infolge der Zusammenlegung mit anderen Einzelgesetzen in ein gemeinsames Gesetz. Aber zweifellos wurden die Gesetze in vielen Fällen annul11  12 

Craik, History of British Commerce, S. 137. 1235, d. Hrsg.

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liert, weil sie sich als schädlich erwiesen hatten. Wir gehen schnell über solche Änderungen hinweg. Annullierten Gesetzen begegnen wir mit Gleichgültigkeit. Wir vergessen, dass die abgeschafften Gesetze vorher im allgemeinen mehr oder weniger große Übel bewirkt haben; einige davon nur für ein paar Jahre, andere für 10, und wieder andere für mehrere Hundert Jahre. Verwandeln Sie Ihre vage Idee von einem schlechten Gesetz in ein klares Bild davon, dass aus ihm eine Behörde wird, die in das Leben anderer Menschen eingreift. Dann erkennen Sie, dass es jede Menge an Schmerz, Krankheit und Tod bedeutet. Ein schlecht gemachtes Rechtsverfahren, egal ob angeordnet oder hingenommen, hat Auswirkungen, bringt für den Kläger Kosten, Verzögerungen oder gar Niederlagen. Worin bestehen diese? Verlust von Geld, oft vom Munde abgespart; große, langwierige Sorgen, oft gefolgt von Gesundheitsverschlechterungen; unglückliche Familien und Angehörige; Kinder, zerlumpt und von Hunger geplagt – all diese Miseren, die dann vielfach andere, ungleich entferntere Miseren nach sich ziehen. Hinzu kommen noch die weitaus zahlreicheren Fälle jener, die, da sie weder das Geld noch den Mut haben, einen Rechtsstreit auszutragen und somit allerlei Schwindlern aufsitzen, verarmen und ebenfalls an Leib und Seele den Schmerz erfahren müssen, der folgt. Wer sagt, ein Gesetz sei schlicht ein Hindernis gewesen, der sagt auch, dass es unnütz viel Zeit gekostet und zusätzliche Schwierigkeiten und Sorgen gebracht habe. Bei überlasteten Menschen bedeuten extra Sorgen und Nöte hier und da physische und geistige Erschöpfung und die damit einhergehenden direkten und indirekten Leiden. Urteilen Sie selbst: Angesichts all der Beeinträchtigungen, die eine schlechte Gesetzgebung für das Leben der Menschen bedeutet, wie groß muss im Ganzen die Seelenpein, der körperliche Schmerz und die steigende Sterblichkeit sein, die von all den Tausenden zurückgenommenen Parlamentsgesetzen verkörpert werden? Um Sie vollends davon zu überzeugen, dass das Machen der Gesetze ohne entsprechendes Wissen enorme Schäden verursacht, lassen Sie mich als ein Beispiel eine Frage anführen, die heute aktueller ist denn je. Ich habe ja bereits darauf hingewiesen, dass die Eingriffe in das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, die man in vielen Bereichen wieder zurückgenommen hat, nachdem sie dort jahrhundertelang enormen Schaden angerichtet hatten, jetzt in anderen Feldern vorgenommen werden. Das besagte Zusammenspiel gilt angeblich nur dort, wo die Schäden durch Nichtbeachtung bewiesen haben, dass es gilt: so schwach ist der Glaube des Menschen an dieses Zusammenspiel. Es kommt erst gar nicht der Verdacht auf, dass dort, wo es zu scheitern scheint, künstliche Hindernisse den natürlichen Ursachen nachgeholfen haben könnten. In dem Fall aber, zu dem ich jetzt komme – nämlich dem des Wohnungsangebots für die Armen –, muss man aber danach fragen, was die Gesetze in der Vergangenheit gemacht haben, um überhaupt erkennen zu können, dass die beklagten schrecklichen Übel meistens durch die Gesetze gemacht wurden.

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Unsere Väter stritten noch darüber, ob Industriesiedlungen unangebracht und schlecht seien oder nicht. Damals hatte ich die Gelegenheit, mich mit der Frage zu befassen. Hier eine Passage aus dem, was ich damals geschrieben habe: „Ein Architekt und Gutachter beschreibt seine Funktionsweise [die des Baugesetzes] wie folgt. In den Bezirken Londons, in denen minderwertige Behausungen in jener weniger stabilen Ausfertigung stehen, für die das neue Baugesetz Abhilfe schaffen soll, erzielt der Vermieter im Schnitt eine Miete, die ihm für die vor dem neuen Gesetz errichteten Häuser genug einbringt. Dieser Mittelwert bestimmt nun auch den Mietpreis, der für gleichgeartete Neubauten verlangt werden darf – also für Neubauten mit der gleichen Anzahl von Zimmern; mit der Begründung, jene Leute, für die sie gebaut werden, legten keinen gesonderten Wert auf den zusätzlichen Schutz, den Mauern mit Bandeisenbindung mit sich bringen. Nun stellt sich aber nach ersten Anläufen heraus, dass die Häuser, die dort in Einklang mit den jetzigen Vorschriften gebaut und zum üblichen Mietzins vermietet werden, keinen vernünftigen Erlös einbringen. Folglich haben die Baugesellschaften sich darauf beschränkt, ihre Mietshäuser in den besseren Vierteln zu bauen (wo die Möglichkeit eines profitablen Wettbewerbs mit den bereits bestehenden Häusern zeigt, dass der existierende Baubestand noch von ausreichender Qualität ist), und die Errichtung von Mietshäusern für die Massen eingestellt, außer in den Vororten, wo es keine dringenden sanitären Übel gibt. In den oben beschriebenen minderwertigen Stadtteilen gibt es inzwischen immer mehr überbelegte Mietshäuser mit mehr als sechs Familien und zwanzig Schlafplätzen pro Zimmer. Das ist nicht die einzige Folge. Dieser Zustand elender Verwahrlosung, dem die Unterkünfte der Armen anheimgefallen sind, ist das Ergebnis fehlenden Wettbewerbs durch neue Häuser. Die Vermieter merken, dass ihre Mieter nicht durch bessere Unterbringungsangebote weggelockt werden. Reparaturen unterbleiben, weil mit ihnen kein größerer Profit erzielt werden kann. … Für einen Großteil dieser schrecklichen sanitären Zustände, die unsere Gesundheitsapostel per Gesetz beseitigen wollen, haben wir in der Tat den Vorgängeragitatoren zu danken, die derselben Schule entstammen!“ (Social Statics, S. 384; Ausgabe von 1851)

Das sind nicht die einzigen Fälle von gesetzgemachten Übeln. Wie folgender Absatz zeigt, haben sich vielerlei andere Übel zu erkennen gegeben: „Der Builder schrieb kurz vor der Aufhebung der Ziegelpflicht: ,Man schätzt, dass ein Viertel der Baukosten, was 2 Schillingen 6 Pence oder 3 Schillingen pro Woche entspricht, für die Hinterlegung der Eigentumsurkunden und die anfallende Holz- und Ziegelsteuer aufgewendet werden. Natürlich muss auch der Eigentümer des Baumaterials bezahlt werden. Er berechnet für seine Mühen 7,5 bis 9 Pence pro Woche.‘ Herr C. Gatliff, Sekretär der Gesellschaft zur Wohnraumverbesserung der Arbeiterklassen, beschreibt die Auswirkung der Fenstersteuer mit folgenden Worten: ,Für die Gebäude in St. Pancras beträgt die Fenstersteuer jetzt insgesamt 162 Pfund und 16 Schillinge, bzw. 1 % der ursprünglichen Auslagen pro Jahr. Die Mieter unserer Gesellschaft zahlen im Schnitt 5 Schillinge und 6 Pence pro Woche; die davon abgezogene Fenstersteuer beträgt 7 1/4 Pence pro Woche.‘“ Times, 31. Januar 1850, Social Statics, S. 385 (Ausgabe von 1851)

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Doch das ist noch nicht alles an Nachweisen, welche die Presse damals ans Licht brachte. In der Times vom 7. Dezember 1850 (zu spät, um in dem o.g. Buch, das ich in der letzten Woche des Jahres 1850 veröffentlichen ließ, noch berücksichtigt werden zu können) wurde ein Brief, Absender Reform Club, publiziert. Er war unterschrieben mit „Architekt“ und enthielt folgende Passagen: „Lord Kinnaird empfiehlt in der gestrigen Ausgabe Ihrer Zeitung, Mustermietshäuser im Stile von ,Aus drei mach eins‘ zu bauen. Gestatten Sie, dass ich seiner Lordschaft und dessen Freund Lord Ashley, auf den er sich bezieht, folgendes vorzuschlage. Wenn man 1) die Fenstersteuer aufhebt, 2) das Baugesetz aufhebt (mit Ausnahme der Klauseln, dass die Trenn- und Außenmauern feuerfest sein müssen), 3) die Bauholzabgabe entweder angeglichen oder ganz aufgegeben wird, und 4) ein Gesetz verabschiedet wird, das den Transfer von Eigentum erleichtert, dann wäre es nicht mehr nötig, Mustermietshäuser zu bauen; genau so wenig wie Musterschiffe, Musterbaumwollfabriken oder Musterdampfmaschinen. Das Erste legt für die Häuser der Armen maximal 7 Fenster fest. Das Zweite begrenzt die Häusergröße der Armen auf 25 mal 18 Fuß (was der Größe des Esszimmers eines Edelmannes entspricht). Darin hat die Baufirma ein Treppenhaus, einen Eingang, eine Stube und eine Küche unterzubringen (Außen- und Trennwände eingeschlossen). Das Dritte verleitet den Bauunternehmer, das Haus des armen Mannes aus für den Hausbau ungeeignetem Holz zu erstellen, weil die Abgabe auf gutes (baltisches) Baumaterial 15 mal so hoch ist wie auf schlechteres oder minderwertiges Material (aus Kanada). Der Staat untersagt dem Bauunternehmer sogar, das bessere Material in seine Vereinbarungen aufzunehmen. Das Vierte hätte einen beträchtlichen Einfluss auf den derzeit miserablen Zustand der Armensiedlungen. Freier Grundbesitz könnte dann genau so leicht wie Leasingobjekte überschrieben werden. Die Auswirkung des Erbbaurechts war eine unmittelbare Verführung zum schlechten Bauen.“

Um irreführende Aussagen oder Übertreibungen zu vermeiden, habe ich vorsichtshalber einen großen Bauunternehmer im Ostviertel gefragt, der auf 40 Jahre Erfahrung zurückblickt: Herr C. Forrest, Museum Works, 11, Victoria Park S ­ quare, Bethnal Green. Als Kirchenvorsteher und als Mitglied im Pfarrgemeinderat und Aufsichtsrat13 hat er umfangreiche Kenntnisse von den öffentlichen Angelegenheiten und einen großen Erfahrungsschatz im Baugewerbe. Herr Forrest, der mir erlaubte, hier seinen Namen zu erwähnen, bestätigt die vorgenannten Aussagen, mit einer Ausnahme, die er noch zuspitzt. Er meint, dass der „Architekt“ das Übel, das mit einem definitionsgemäß „viertklassigen Haus“ einhergeht, untertreibt, weil die Ausmaße weit unter denen liegen, die er angibt (womöglich in Übereinstimmung mit den Bedingungen einer neueren Fassung des Baugesetzes). Herr Forrest hat aber noch mehr getan. Nicht nur hat er die üblen Folgen des steilen Anstiegs der Grundrenten (in 60 Jahren von 1 Pfund auf 8 Pfund und 10 Schillingen für 13 

Örtlicher Aufsichtsrat zur Durchsetzung des Armenrechts, d. Hrsg.

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ein viertklassiges Haus) illustriert, die ihn, zusammen mit anderen Gründen, dazu zwangen, seine ursprünglichen Pläne, Armensiedlungen zu bauen, aufzugeben; nicht nur stimmte er dem „Architekten“ darin zu, dass dieses Übel vor allem durch jene Schwierigkeiten bei der Landüberschreibung überhandgenommen hat, die mit dem vom Gesetz vorgeschriebenen System von Treuhandgesellschaften und Fideikommissen zusammenhängen; nein, er verwies auch darauf, dass der Bau kleiner Häuser aufgrund weiterer lokaler Auflagen (die er „Vorbeugeabgaben“ nennt) noch zusätzlich bestraft wird. Als ein Beispiel nannte er die Kosten, die bei jedem Hausbau für den Gehsteig, die Straße und das Abwassersystem anfallen, und zwar in Relation zur Länge der Hausfront. D. h., dass im Verhältnis zum Wert eines Hauses diese Kosten für ein kleines Haus weitaus höher sind als für ein großes Haus. Lassen Sie uns von diesem gesetzgemachten Unfug, der schon zu Zeiten unserer Väter groß war und seither stets weiter wuchs, zu dem neueren gesetzgemachten Unfug übergehen. Das Elend, die Krankheiten und die Sterblichkeit in den „Elendsvierteln“ werden durch die künstlichen Barrieren zur Eindämmung viertklassiger Häuser immer schlimmer. Bedingt durch die noch größere Dichte an bestehenden Barrieren, sind sie inzwischen skandalös geworden und ein Aufruf an den Staat, das Übel zu beseitigen. Dessen Antwort ist das Gesetz für Handwerkerund Arbeitersiedlungen14; es gibt den lokalen Behörden die Macht, marode Häuser niederzureißen und für den Bau neuer Häuser zu sorgen. Mit welchem Ergebnis? Wie eine Zusammenfassung der Vorgänge durch die städtische Bauaufsicht mit Datum vom 21. Dezember 1883 zeigt, hatten deshalb Ende September 21. 000 Personen ihr Dach über dem Kopf verloren. Gleichzeitig wurde auf Kosten der Steuerzahler für 1 1/4 Million 12. 000 Personen neuer Wohnraum zur Verfügung gestellt. Für die übrigen 9. 000 muss noch gesorgt werden; sie sind derweil obdachlos. Das ist noch nicht alles. Ein weiterer Arm des Staates vor Ort, die Abwasserbehörde der Stadt, agierte hier ganz ähnlich. Gesetzlich angeordnet, riss sie an der Golden Lane und am Petticoat Square Massen von abbruchreifen, kleinen Häusern nieder, die zusammen 1. 734 arme Menschen beherbergt hatten. Eines der vor fünf Jahren planierten Gelände wurde auf staatliches Geheiß hin für eine Eisenbahnstation verkauft, und auf dem anderen stehen inzwischen Arbeitersiedlungen, in denen irgendwann einmal die Hälfte der dort vertriebenen Bevölkerung unterkommen wird. Im Ergebnis sind damit bis zum heutigen Tag – die von der städtischen Bauaufsicht vertriebenen Menschen und die vor fünf Jahren vertriebenen 1. 734 Personen zusammengerechnet – insgesamt fast 11. 000 Menschen heimatlos geworden. Sie müssen sich irgendwo ein Plätzchen an einem miserablen und ohnehin schon überfüllten Ort suchen! Und nun schauen Sie einmal, was der Gesetzgeber gemacht hat. Durch fehlerhobene Steuern, die zu Preissteigerungen bei den Ziegelsteinen und beim Bauholz führten, stiegen die Kosten für Häuser und die Anreize, aus Wirtschaftlichkeitsgründen weniger und schlechteres Material zu verwenden. Um den daraus resultierenden Pfusch am Siedlungsbau eindämmen zu können, führte der Gesetzgeber 14 

Artisan Dwellings Act von 1875, d. Hrsg.

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Regulierungen ein, die in mittelalterlicher Manier die Qualität der produzierten Güter vorschrieben. Man hatte kein Gespür dafür, dass das Bestehen auf besserer Qualität die Preise in die Höhe treiben, die Nachfrage damit senken und schließlich das Angebot verknappen würde. Durch zusätzliche kommunale Auflagen hat die Gesetzgebung in letzter Zeit den Bau kleiner Häuser weiter behindert. Nachdem der Gesetzgeber durch seine Maßnahmen nach und nach zunächst für miserable Häuser und dann für einen Mangel an besseren Häusern gesorgt hat, hat er im großen Stil einen künstlich erhöhten Überbestand an Armen produziert, indem er die Wohnungskapazitäten verminderte, die für ihre Bewohner ohnehin nicht ausreichten. Bei wem liegt nun der schwarze Peter für das Elend im Ostviertel? An wen soll sich nun „Der bittere Aufschrei der Vertriebenen aus London“15 richten?16 15  Anspielung auf das seinerzeit allseits bekannte Pamphlet The Bitter Cry of Outcast London, das 1883 von Reverend Andrew Mearns veröffentlicht wurde und eine zeitgenössische Schilderung der in bitterer Armut lebenden Menschen im London des späten 19. Jahrhunderts enthält, d. Hrsg. 16  Erst kürzlich hat Glasgow ein gigantisches Beispiel für die Desaster geliefert, die aus den sozialistischen Einmischungen der kommunalen Körperschaften resultieren. Die Einzelheiten dazu findet man in den Sitzungsprotokollen des Glasgower Stadtrats, über die der Glasgow Herald vom 11. September 1891 berichtet hat. Im Verlauf der Sitzung wurde gesagt, dass der Verbesserungsfonds der Stadt (Glasgow Improvement Trust) seit Jahren einen „tölpelhaften Kurs“ verfolge und die Gemeinde jetzt „im Morast“ feststecke. Von den £ 2. 000. 000, die man vom Steuerzahler genommen habe, um 88 Morgen Land mit maroder Bausubstanz zu kaufen und zu planieren, seien £ 1. 000. 000 durch den Verkauf planierter Flächen zurückgeflossen. Das Land jedoch, das in den Händen der Gemeinde blieb, zumeist freie Flächen, hat gemäß sukzessiver Bewertungen in den Jahren 1880, 1884 und 1891 kontinuierlich an Wert verloren – offiziell £ 320. 000. Man glaubt aber, dass der tatsächliche Wertverlust noch größer ist. Die Musterwohnblöcke, die der Verbesserungsfonds gebaut hat, haben sich zudem nicht nur als finanzielle Fehlschläge herausgestellt, sondern gelten auch als philanthropische Fehlgriffe. Einer von ihnen, der £ 10. 000 gekostet hat, brachte im ersten Jahr 5 % Rendite, im zweiten Jahr 4 % und im dritten Jahr 2 %! Ein anderer, der £ 11. 000 kostete, bringt nur 3 % ein. Dies wiederum impliziert, dass diese Wohnblöcke statt einer großen Nachfrage zunehmend weniger Mieter haben – und das trotz der Tatsache, dass die im großen Stil betriebene Niederreißung minderwertiger Mietskasernen den Druck unter der arbeitenden Bevölkerung und die Übervölkerung in anderen Stadtteilen erhöht und die sanitären Zustände, die es zu lindern galt, noch verschärft hat. Herr Honeyman, Präsident der Sektion Sozialökonomie der Glasgower Philosophischen Gesellschaft sagte in seinen Bemerkungen zu diesen Ergebnissen, die sich Ende 1888 abzeichneten, dass „kein Bauunternehmer, der noch bei Trost ist, auf die Idee käme“, die Mustersiedlung, die der Verbesserungsfonds errichtet hat, „nachzubauen, weil sie sich nicht bezahlt machte“, und dass das, was die Fondsgesellschaft getan habe, „nichts mehr mit fairem Wettbewerb zu tun habe und jeden gewöhnlichen Bauunternehmer verschrecke.“ Er wies auch darauf hin, dass die vom Verbesserungsfonds auferlegten Bauvorschriften und Baubeschränkungen zur Folge hätten, „dass das Land um die Gesellschaft herum vakant bleibt und die Errichtung von Wohnblöcken einfachen Standards unmöglich wird.“ Ins gleiche Horn blies auch der Bürgermeister bei einem Treffen der Kyrle Society (eine nach dem Philanthropen John Kyrle (1637 – 1724) benannte, 1876 gegründete und zu Zeiten Spencers sehr einflussreiche Gesellschaft, die sozialreformerische Ziele verfolgte,

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Der deutsche Anthropologe Bastian berichtet uns: „Der Kranke, der in Guinea den Fetisch Lügen straft, indem er nicht verheißungsgemäß genest, wird erdrosselt.“17 Wir dürfen getrost annehmen, dass jeder Guineer, der dreist genug wäre, die Kraft des Fetischs in Frage zu stellen, umgehend geopfert würde. In den Zeiten, in denen man die Staatsautorität noch mithilfe strenger Maßnahmen durchgesetzt hat, lief man große Gefahr, wenn man respektlos über den politischen Fetisch sprach. Wer heute hingegen dessen Allmacht in Frage stellt, muss schlimmstenfalls befürchten, als Reaktionär verschrien zu werden, der Laissez-Faire predigt. Dass irgendwelche Fakten, die er vorlegt, den etablierten Glauben wohltuend schwächen könnten, ist nicht zu erwarten. Vielmehr erleben wir täglich, dass dieser Glaube gegen alle anderslautende Evidenz immun ist. Verweilen wir ein wenig bei einem kleinen Teil all dessen, was unbeachtet bleibt. „Eine Regierungsstelle ist wie ein umgekehrter Filter: Man schickt saubere Konten dort hin und sie kommen verdreckt zurück.“ So lautete der Vergleich, den der verstorbene Sir Charles Fox vor vielen Jahren einmal angestellt hat. Er hatte bei der Führung seiner Geschäfte reichlich Erfahrung mit öffentlichen Stellen gemacht. Dass er mit seiner Meinung nicht allein dastand, wenn auch mit seinem Vergleich, wissen alle. Dank der Enthüllungen in der Presse und der kritischen Stimmen im Parlament weiß jeder von den Lastern des Amtsschimmels. Für seine Verspätungen, über die man sich andauernd beschwert und die zu Zeiten von Herrn Fox Maule sich so weit hinzogen, dass „die Armeeoffiziere ihre Provisionen“ im allgemeinen erst „mit 2 Jahren Rückstand“ erhielten, gibt es jüngst ein neues Beispiel, und zwar das Erscheinen des ersten Bandes des detailreichen Zensus von 1881, mehr als zwei Jahre, nachdem die Informationen erhoben wurden. Wenn wir nach Erklärungen für solche Verzögerungen suchen, dann nennt man uns einen wenig glaubhaften und irritierenden Grund. Im Fall der Zensuserhebungen erzählt uns der oberste Standesbeamte, dass „die Schwierigkeit nicht nur in der Vielzahl der verschiedenen zu berücksichtigenden Bereiche liegt, sondern vor allem in der verwirrenden Komplexität ihrer Grenzen.“ Für die 39. 000 behördlichen Bereiche gibt es 22 unterschiedliche Arten, die sich teilweise überlappen, Hunderte von Pfarreien, Bezirke, d. Hrsg.). Er verwies darauf, dass dann, wenn man aus philanthropischen Beweggründen für Arbeiter Häuser bauen würde, und zwar zu Preisen, die sich für den gewöhnlichen Bauunternehmer nicht bezahlt machten, „all diese Baugesellschaften, die bisher die Wünsche der Arbeiterklassen bedient hätten, sofort aufhörten und die Philanthropie es nötig machen würde, die ganze Last der Bereitstellung auf sich zu nehmen.“ Damit all diese Fehler begangen und all diese Übel produziert werden konnten, wurden Tausende von hart arbeitenden Steuerzahlern, die es schwer haben, über die Runden zu kommen, besteuert, ausgequetscht und gequält. Man bedenke dabei die enormen Schäden der Mehrheitsregel, d. h. des erbärmlichen Aberglaubens, dass eine Körperschaft, die von der größten Zahl der Bürger gewählt wurde, das Recht hat, zu jedem Zweck, der ihr beliebt, den Bürgern im Großen und Ganzen so tief in die Tasche zu greifen, wie sie will. 17  Bastian, Mensch, S. 225. (Gemeint ist das Buch von Adolf Bastian, Der Mensch in der Geschichte: Zur Begründung einer Psychologischen Weltanschauung, Leipzig 1860, d. Hrsg.)

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Wahlkreise, Gerichtsbezirke, Bürgermeisteramtsbereiche, ländliche und städtische Gesundheitsbezirke, Diözesen, Meldeämter etc. Und wie der Parlamentsabgeordnete Rathbone hervorhebt18, haben diese sich überlagernden bzw. überschneidenden Bereiche jeweils ihre Leitungen, wobei auch deren Zuständigkeiten sich teils überschneiden. Stellt irgendjemand einmal die Frage, warum das Parlament für jede zusätzliche Verwaltung eine neue Bezirksunterteilung vornimmt? Die Antwort, die sich von selbst ergibt, lautet: Zur Wahrung der Konsistenz in der Vorgehensweise. Diese organisierte Verwirrung entspricht nämlich vollkommen der organisierten Verwirrung, zu der das Parlament jedes Jahr beiträgt, indem es auf dem Berg der alten Gesetze hundert neue Gesetze auftürmt. Deren Bereitstellung entspricht auf allerlei Arten jener der zahlreichen Gesetze, denen sie aufgepfropft werden. Die Last, herauszufinden, was davon Recht ist, trägt der Privatmann, der sein ganzes Vermögen daransetzt, um ein richterliches Urteil zu bekommen. Dieses systematische Überspannen von Netzwerken mit anderen Netzwerken passt gleichwohl sehr gut zu der Methode, mit welcher man den Leser des Gesetzes zur öffentlichen Gesundheit von 1872 – der nur gerne wüsste, wie über ihn verfügt wird – auf 26 vorhergehende und anderweitige Gesetze unterschiedlichen Datums verwiesen wird.19 Weiter geht es mit der verwaltungstechnischen Schwerkraft. Es gibt immer wieder Fälle von Widerstand der Behörden gegen Verbesserungen; wie z. B. durch die Admiralität, als die Nutzung elektrischer Telegrafen vorgeschlagen wurde und die Antwort lautete: „Wir haben ein sehr gutes Flügelsignalsystem.“ Oder z. B. durch das Postamt, das, wie der verstorbene Sir Carl Siemens Jahre später sagte, die Einführung einer verbesserten Telegrafietechnik behinderte und seither dem Gebrauch des Telefons im Weg stand. Es gibt andere Fälle, die jenen der Arbeitersiedlungen ähneln und ab und an zeigen, wie der Staat mit der einen Hand die Übel mehrt, die er mit der anderen beseitigen will; wenn er z. B. eine Feuerversicherungspflicht einführt und dann Vorschriften diktiert, wie man am besten Feuer löscht, und zudem Bauanweisungen erteilt, die, wie Captain Shaw zeigt, zusätzliche Gefahren bergen.20 Wie gesagt, die Absurditäten des Amtsschimmels – rigide, wo es unnötig ist, und lax, wo sie streng sein sollten – sind manchmal offenkundig genug, um einen Skandal zu verursachen: Wenn man z. B. ein bedeutendes Staatspapier einer schlecht bezahlten Schreibkraft, die im Staatsdienst noch nicht einmal festangestellt ist, zum Kopieren überlässt, und die es dann veröffentlicht; oder wenn die Herstellung des Moorsomschen Aufschlagzünders, die man sogar vor den höchsten Artillerieoffizieren geheim hielt, plötzlich denselben von den Russen erklärt wurde, denen das Erlernen der Herstellung erlaubt war; oder wenn man das Wissen über ein Diagramm, das zeigt, „auf 18 

The Nineteenth Century, Februar 1883. „Die Statistik der Gesetzgebung“, Vortrag des wohlgeborenen F. H. Janson, Mitglied der Linnean Society und Vizepräsident der eingetragenen Anwaltskammer, vor der Statistikgesellschaft im Mai 1878. 20  Fire Surveys; or, a Summary of the Principles to be observed in Estimating the Risk of Buildings. (Gemeint ist die Abhandlung zu Gebäudebrandrisiken, die Sir Eyre Massey Shaw (1832 – 1908) 1872 publizierte. Shaw war Gründer und erster Leiter der Londoner Berufsfeuerwehr (London Metropolitan Fire Brigade). Vgl. dazu Vibart (1912), S. 302f. 19 

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welche Distanz britische und ausländische Panzerschiffe mit unseren Geschützen durchbohrt werden können“, und das ein geschäftstüchtiger Attaché seiner Regierung zugespielt hatte, so dass es bald bei „allen Staatregierungen Europas“ bekannt war, den englischen Offizieren vorenthalten bleibt.21 Weiter geht es mit der staatlichen Überwachung. Die Qualitätskontrolle hat sich, wie der Feingehaltsstempel für Silber zeigt, als überflüssig erwiesen. Den Silberhandel hat sie indes vermindert.22 In anderen Fällen hat sie die Qualität vermindert, indem sie einen Standard etablierte, den zu überschreiten nutzlos ist. Das gilt z. B. für den Buttermarkt in Cork, wo die besseren Marken trotz ihrer höheren Reputation nicht entsprechend genug Profit abwerfen und so benachteiligt sind;23 oder für den Fall der Markenheringe (inzwischen optional), in dem die vielen mäßigen Heringsräucherer, die mit Ach und Krach die amtliche Zulassung schaffen, auf eine Stufe mit den wenigen besseren Räucherern gestellt werden und diesen so den Mut nehmen. Aber solche Lektionen bleiben nicht hängen. Auch dort, wo die Kontrolle höchst offenkundig scheitert, nimmt man davon keine Notiz, wie z. B. anlässlich der schrecklichen Katastrophe, bei der ein Zug voller Menschen zusammen mit der Tay-Brücke zerstört wurde. Ingenieur und Bauunternehmer wurden laut und schonungslos mit zahllosen Denunziationen überzogen. Über die Regierungsbeamten, die der Brücke den staatlichen Segen erteilt hatten, wurde kaum etwas gesagt, wenn überhaupt. Weiter geht es mit der Seuchenprävention. Es macht nichts, dass unter der Leitung oder auf Geheiß von Staatsbeamten einige der schlimmsten Übel eintreten; z. B. als das Leben von 87 Kriegswitwen und deren Kindern auf dem Schiff Accrington24 geopfert wurde; oder als sich in Edinburgh 25 das Typhusfieber und die Diphterie durch ein staatlich verordnetes Abwassersystem ausgebreitet hat; oder wenn permanent die sanitären Einrichtungen, die von offizieller Seite vorgeschrieben sind, außer Kontrolle geraten und die Übel mehren, die sie mindern sollten.26 Trotz derlei massenhafter Evidenz ist das Vertrauen in die Gesundheitskontrolle und deren Durchführung ungebro21 Siehe

The Times vom 6. Oktober 1874, wo noch andere Beispiele genannt werden. Farrer, The State in its Relation to Trade, S. 147. (Sir Thomas Farrer (1819 – 1899) war ein bedeutender Statistiker seiner Zeit. Sein Hauptwerk The State in its Relation to Trade erschien 1883 in London, d. Hrsg.) 23  Farrer, The State in its Relation to Trade, S. 149. 24  Hansard, Band 156, S. 718, und Band 158, S. 4464. (Hansard ist der Titel der offiziellen Sitzungsprotokolle des britischen Parlaments, benannt nach deren Herausgeber Thomas Curson Hansard, d. Hrsg.) 25  Brief eines Arztes aus Edinburgh in The Times vom 17. Januar 1876, der andere Zeugenaussagen bestätigt. Einen von diesen habe ich an anderer Stelle mit Blick auf Windsor zitiert, wo, wie in Edinburgh, in den Stadtteilen ohne Abwassersystem kein Fall von Typhus auftrat, während der Typhus in den anderen Stadtteilen verheerend war. – Spencer, Study of Sociology, Kap. I, Anmerkungen. 26  Ich sage dies hier zum Teil aus persönlicher Erfahrung. Vor mir liegen Aufzeichnungen, die ich vor 25 Jahren bezüglich derlei Resultate angefertigt habe und die sich vor meinen eigenen Augen abgespielt haben. Sir Richard Cross hat im Nineteenth Century vom Januar 1884 auf S. 155 Tatsachen vorgelegt, die meine Eindrücke bestätigen. 22 

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chen; sogar mehr denn je, wie der jüngste Vorschlag, alle öffentlichen Schulen unter die Aufsicht der Gesundheitsbehörde zu stellen, zeigt. Ja sogar dann, wenn der Staat den Schaden, über den man sich beschwert, selbst verursacht hat, schmälert dies das Vertrauen in sein segensreiches Handeln in keiner Weise. Das sehen wir z. B. an der Tatsache, dass er zur Zeit unserer Väter die Städte dazu autorisierte bzw. drängte, Abwassersysteme einzuführen, die das Abwasser in die Flüsse leiteten und dadurch diese als Quelle des Nutzwassers verunreinigten. Wegen des verunreinigten Wassers gab es dann einen Aufschrei gegen die Wasserversorgungsgesellschaften. Der Aufschrei verhallte auch dann nicht, als man die Städte dazu gezwungen hatte, ihre Abwassersysteme kostspielig von Grund auf zu erneuern. Und nun fordert man als Allheilmittel, dass der Staat durch seine örtlichen Organe das Projekt schon wieder im Alleingang abwickeln soll. Die Fehlleistungen des Staates werden, wie im Falle der Arbeitersiedlungen, zum Grund dafür, den Staat zu bitten, mehr zu tun. Dieser Götzenkult der Gesetzgebung ist in einer Hinsicht sogar weniger entschuldbar als der Fetischkult, mit dem ich ihn vorhin stillschweigend verglichen habe. Der Wilde kann sich damit herausreden, dass sein Fetisch stumm ist und seine Unfähigkeit nicht eingesteht. Aber der zivilisierte Mensch beharrt auf den Kräften, die er seinem Idol, das er selbst erschaffen hat, zuschreibt, obwohl dieses Idol in der einen oder anderen Art eingesteht, diese Kräfte nicht zu haben. Ich denke dabei nicht nur an die Debatten, die uns täglich von jenen legislativen Maßnahmen erzählen, die Böses statt Gutem bewirkt haben. Ich denke auch nicht nur an all die Parlamentsbeschlüsse, die zu Tausenden die alten Gesetze außer Kraft gesetzt haben und in großer Zahl stumme Zeugen des Scheiterns sind. Und ich beziehe mich auch nicht ausschließlich auf jene quasi-staatlichen Geständnisse, wie sie im Bericht des Kommissars der Armengesetze enthalten sind, der sagte: „Während wir zum einen kaum einen Fall kennen, in dem eine gesetzliche Bestimmung im Zusammenspiel mit den Wohlfahrtsämtern zu genau dem Effekt geführt hat, zu dem das Gesetz gedacht war, hat die Mehrheit der Vorschriften neue Übel geschaffen und jene verschlimmert, die sie abstellen sollte.“27 Ich beziehe mich vielmehr auf die Geständnisse, die von einzelnen Staatsmännern und den Ministerien gemacht worden sind. Hier lese ich z. B. in einer Gedenkrede für Herrn Gladstone, die bei einem sehr einflussreichen Treffen unter dem Vorsitz des verstorbenen Lord Lyttelton gehalten wurde, folgendes: „Wir, die unterzeichnenden Lordschaften, Mitglieder des Unterhauses, Steuerzahler und Einwohner der Hauptstadt, glauben fest an die Wahrheit und Kraft Ihrer Ausführungen im Unterhaus von 1866, wonach “unsere gesamten Vorkehrungen hinsichtlich der öffentlichen Leistungen in einem beklagenswerten und erbärmlichen Zustand sind. Unentschlossenheit, Unsicherheit, Kostspieligkeit, Extravaganz, niedere Gesinnung und all die zwiespältigen Laster, die man hier aufzählen könnte, sind in unserem gegenwärtigen System vereint.“ usw. usw.28 27 

Nicholl, History of the English Poor Law, II, S. 252. The Times vom 31. März 1873.

28 Siehe

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Und hier gibt es noch ein anderes Beispiel, das einem der Protokolle der Handelskammer vom November 1883 entstammt. Darin heißt es, dass es seit Einführung „des Komitees für Schiffbruch kaum ein Sitzung gegeben hat, ohne dass man einen Beschluss gefasst hätte oder von Regierungsseite eine gesetzliche Maßnahme hinsichtlich des Ziels (Vorbeugung von Schiffbruch) ergriffen worden wäre“, und dass „die Vielzahl der Statuten, die 1854 alle in einem Gesetz zusammengefasst worden sind, wieder einen Skandal und eine Rüge ausgelöst haben.“ Jede der Maßnahmen wurde beschlossen, weil die vorherige gescheitert war. Und dann hören wir just das Bekenntnis, dass „die Verluste an Menschenleben und Schiffen seit 1876 größer sind als je zuvor.“ Inzwischen sind die Verwaltungskosten von jährlich £ 17. 000 auf £ 73. 000 gestiegen.29 Es ist schon verwunderlich, wie die Vorstellungskraft trotz besseren Wissens durch künstliche Maßnahmen der einen oder anderen Art angeregt wird. Die ganze Menschheitsgeschichte ist voller Beispiele, angefangen von der Kriegsbemalung, mit welcher der Wilde seinen Widersacher erschreckt hat, über die religiösen Zeremonien und königlichen Prozessionen, bis hin zur Robe des Unterhauspräsidenten und dem Stab des Gerichtsdieners im vollen Wichs. Ich kann mich an ein Kind entsinnen, das eine schreckliche Leichenmaske recht gefasst in der Hand halten und betrachten konnte, aber schreiend loslief, als sein Vater die Maske aufsetzte. Ein ähnliches Gefühl befällt die Wählerschaft in den Stadt- und Landkreisen, wenn sie ihre Vertreter in das Parlament einziehen sieht. Vorher jedoch werden die Kandidaten, egal welcher Partei sie angehören, verspottet, verhöhnt, „in die Zange genommen“ und auf jedwede Art zutiefst respektlos behandelt. Aber sobald sie sich in Westminster versammeln, genießen jene, die angepöbelt und geschmäht und von Presse und Podium mit Unfähigkeits- und Torheitsbezichtigungen überzogen wurden, uneingeschränktes Vertrauen. Angesichts der Andacht, mit der man ihnen huldigt, scheint man anzunehmen, dass nichts ihrer Weisheit und Macht widerstehen könnte. Zweifellos ist die Antwort auf all das, dass es nichts Besseres als das Geleit der „kollektiven Weisheit“ gibt; dass die ausgewählten Männer der Nation unter Leitung jener wenigen, die wiedergewählt wurden, erleuchtet vom Wissen ihrer Zeit ihr Bestes geben, um die vor ihnen liegenden Aufgaben zu bewältigen. „Was können Sie mehr verlangen?“, werden die meisten wohl fragen. Meine Antwort darauf lautet, dass jenes beste Wissen seiner Zeit, das die Gesetzgeber angeblich zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben mitbringen, in Wirklichkeit zum größten Teil irrelevant ist, und dass sie sich der Tatsache schuldig gemacht haben, das wirklich relevante Wissen nicht zu erkennen. Das hohe Maß an Wortge29  Diese Abschnitte enthalten nur einige wenige zusätzliche Beispiele. Weitere Fälle, die ich in früheren Büchern und Aufsätzen von mir angeführt habe, finden sich in Social Statics (1851); „Over-Legislation“ (1853); „Representative Government“ (1857); „Specializ­ed Administration“ (1871); Study of Sociology (1873) und in einem Nachtrag zu letzterem (1880); außerdem findet man ein paar Fälle in kleineren Aufsätzen von mir.

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wandtheit, das viele von ihnen auszeichnet, hilft ihnen bei ihren zu fällenden Urteilen nicht im geringsten. Auch das entsprechende Schrifttum, das ihnen dank ihrer Gewandtheit zugänglich ist, hilft ihnen nicht weiter. Die politischen Erfahrungen und Denkweisen der antiken Gesellschaften, weitergegeben von Philosophen, die annahmen, dass der Krieg der Normalzustand sei, und die Sklaverei demnach nötig und gerecht, und dass die Frauen permanent zu bevormunden seien, helfen ihnen kaum dabei, über Parlamentsgesetze zu befinden, die in den großen Nationen der modernen Art funktionieren können. Sie mögen den Taten großer Männer nachhängen, die, folgt man der Theorie von Carlyle, der Gesellschaft ihre Gestalt geben, und sie mögen Jahre mit den Darlegungen von internationalen Konflikten, von Verrat, Intrigen und Verträgen zubringen, welche die Geschichtsbücher füllen, ohne das Wie und Warum sozialer Strukturen und Handlungen sowie die Art, in der das Gesetz dieselben beeinflusst, jemals besser zu verstehen. Auch die Informationen, die sie bei der Herstellung und Änderung von Gesetzen oder im Gerichtssaal aufschnappen, bringen sie in der gebotenen Vorbereitung nicht voran. Worauf es wirklich ankommt, ist ein systematisches Erforschen der natürlichen Kausalität, die unter menschlichen Lebewesen auftritt, die sich gesellschaftlich zusammenfinden. Obwohl ein spezifisches Kausalitätsbewusstsein das letzte Merkmal ist, das der geistige Fortschritt hervorbringt – ähnlich wie dem Wilden einfache mechanische Ursachen als solche fremd waren und die Griechen glaubten, dass der Flug des Speers von einem Gott gelenkt würde, und man noch bis vor kurzem meinte, Epidemien seien übernatürlichen Ursprungs –, und obwohl von allen gesellschaftlichen Phänomenen die komplexesten, nämlich die Kausalbeziehungen, wahrscheinlich am längsten unerkannt bleiben, so ist uns doch die Existenz solcher Kausalbeziehungen mittlerweile so klar geworden, dass keiner, der über sie nachdenkt, sich der Einsicht verschließen kann, dass man sie sorgfältig studieren muss, bevor man sich in sie einmischt. Einfache, inzwischen bekannte Sachverhalte, wie etwa der Zusammenhang zwischen der Zahl der Hochzeiten und dem Preis für Getreide oder der, dass im Verlaufe einer Generation das in der Gesellschaft herrschende Verhältnis von Kriminalität und Bevölkerungszahl nur sehr geringfügig variiert, dürften ausreichen, um alle erkennen zu lassen, dass des Menschen Wünsche unter Anleitung des sie begleitenden Verstandes fast gleichförmig zum Ausdruck kommen. Daraus sollte man den Schluss ziehen, dass unter den gesellschaftlichen Ursachen jene, die von den Gesetzen ausgehen und die in der Regel in ähnlicher Weise wirken, nicht nur die Handlungen der Menschen, sondern infolgedessen auch deren Natur ändern dürften – und zwar in einer Weise, die wohl kaum intendiert war. Man sollte der Tatsache ins Auge sehen, dass die soziale Kausalität, mehr als alle anderen Ursächlichkeiten, eine befruchtende Kausalität ist. Zudem sollte man einsehen, dass die indirekten und fernen Effekte genauso unvermeidbar sind wie die naheliegenden. Ich glaube, dass man diese Feststellungen und Schlussfolgerungen nicht abstreiten kann. Aber es gibt solche Glauben und solche Glauben: einige, an denen man offiziell festhält; einige, die das Verhalten geringfügig beeinflussen; und einige, denen man unter keinen Umständen widerstehen kann. Unglücklicherweise ist der Glaube der Gesetzgeber an die Kausalität

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gesellschaftlicher Angelegenheiten einer von der oberflächlichen Sorte. Schauen wir uns einige Wahrheiten an, die alle Menschen stillschweigend teilen, von denen aber in der Gesetzgebung kaum Notiz genommen wird. So steht z. B. außer Frage, dass jeder Mensch bis zu einem gewissen Grad formbar ist, sowohl körperlich als auch geistig. Jeder Erziehungstheorie, jeder Disziplin – von der Arithmetik bis zum Preisboxen – und jeder Belohnung der Tugend und Bestrafung der Laster liegt dieser Glaube zugrunde, der sich in allerlei Sprichwörtern wiederfindet, nämlich dass jedem Gebrauch oder Missbrauch geistiger und körperlicher Fähigkeiten eine anpassende Veränderung folgt; je nach Anforderung entweder ein Zugewinn oder ein Verlust an Macht. Zudem gibt die vielfach ausgeprägte und weithin anerkannte Tatsache, dass die wie auch immer zustande kommenden Änderungen der Struktur vererbbar sind. Niemand wird leugnen, dass die Gestalt sich an die Bedingungen anpasst, und zwar durch kleine, sich von Generation zu Generation anhäufende Veränderungen. Auf diese Weise ist das Klima, das für alle anderen Stämme fatal ist, für die angepasste Rasse harmlos. Niemand wird bestreiten, dass die Völker, die ein- und denselben Ursprung haben, aber über verschiedene Landstriche verstreut sind, wo sie verschiedene Lebensformen ausprobieren konnten, im Laufe der Zeit unterschiedliche Neigungen und Tendenzen entwickelt haben. Und niemand streitet ab, dass auch heutzutage unter neuen Bedingungen neue nationale Charaktere geformt werden, wie die Amerikaner belegen. Und wenn die Adaption überall und jederzeit am Werk ist, dann müssen jeder Änderung der gesellschaftlichen Umstände adaptive Modifizierungen folgen. Daraus folgt ganz zweifellos, dass jedes Gesetz, das – durch Zwang, Einschränkung, Beihilfe oder sonst wie – die Veränderung menschlicher Handlungsweisen bezweckt, die Menschen auf die Dauer dazu bringt, ihre Natur neu auszurichten. Neben jedem unmittelbar bewirkten Effekt gibt es einen langfristigen Effekt, der von den meisten übersehen wird: eine Umformung des allgemeinen Charakters; eine Umformung, die in ihrer Art erwünscht oder unerwünscht sein mag, die aber in jedem Fall unter allen bemerkenswerten Resultaten das wichtigste Ergebnis darstellt. Es gibt noch andere allgemeine Wahrheiten, die der Bürger, und vor allem der Gesetzgeber, bedenken sollte, bevor sie sich in seiner geistigen Struktur festsetzen. Sie treten zutage, wenn wir danach fragen, wie es zu gesellschaftlichen Aktivitäten kommt, und wenn wir darauf die offenkundige Antwort erkennen, dass sie das aggregierte Ergebnis der Wünsche von Individuen sind, die gesondert nach deren Befriedigung suchen und dabei für gewöhnlich jene Wege einschlagen, die ihnen – im Einklang mit ihren bestehenden Gewohnheiten und Denkweisen – die einfachsten zu sein scheinen, gemäß der Idee des geringsten Widerstands. Die Einsichten der politischen Ökonomie zeigen sich in so vielem, das logisch aus einander folgt. Man braucht keinen Nachweis dafür, dass die sozialen Strukturen und Handlungen in der einen oder anderen Weise das Ergebnis menschlicher Emotionen unter Anleitung jener Vorstellungen sind, die von unseren Vorfahren oder Zeitgenossen

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stammen. Aus alledem folgt unweigerlich, dass die richtige Deutung der gesellschaftlichen Phänomene in der generationenübergreifenden Kooperation dieser Faktoren zu suchen ist. Diese Sichtweise bringt uns alsbald zu dem Schluss, dass von den Wünschen des Menschen, die nach Befriedigung suchen, jene, die sie zu privaten Aktivitäten und spontanen Kooperationen veranlasst haben, weit mehr zur gesellschaftlichen Entwicklung beigetragen haben als jene, die durch staatliche Einrichtungen zustande kamen. Das jetzt reichlich Korn wächst, wo man früher nur wilde Beeren pflücken konnte, ist dem jahrhundertelangen Verfolgen individueller Befriedigungen zu verdanken. Der Übergang vom Zelt zum stabilen Haus ergab sich aus dem vielfachen Wunsch nach mehr persönlichem Wohlstand. Und die Städte entstanden aus ähnlichen Antrieben. Die inzwischen sehr groß und komplex gewordenen Handelsgesellschaften, die ihren Ursprung in den Versammlungen anlässlich religiöser Festivitäten haben, sind ganz allein das Ergebnis menschlichen Bestrebens, eigene, private Ziele zu erreichen. Der Staat hat immer wieder deren Wachstum behindert und gestört, aber nie irgendwie befördert, wenn man einmal davon absieht, dass er seine eigentliche Aufgabe teilweise erfüllt und die Ordnung aufrechterhalten hat. Das Gleiche gilt für jene Erkenntnisfortschritte und technische Verbesserungen, dank derer diese strukturellen Veränderungen und zunehmenden Staatsaktivitäten erst möglich wurden. Nicht dem Staat verdanken wir die zahlreichen nützlichen Erfindungen vom Spaten bis zum Telefon. Es war nicht der Staat, der mittels einer fortentwickelten Astronomie eine weit umspannende Navigation möglich machte; es war nicht der Staat, der die physikalischen, chemischen und sonstigen Entdeckungen machte, die in den modernen Industriebetrieben den Ton angeben; und es war auch nicht der Staat, der all die Maschinen erfand, um Stoffe jeder Art zu produzieren, Menschen und Güter von einem zum anderen Ort zu transportieren und für all die tausend Möglichkeiten sorgte, die unser Leben angenehmer gestalten. Die weltweiten Transaktionen, die in den Geschäftsräumen der Händler vorgenommen werden, der Verkehrsstrom, der unsere Straßen erfüllt, das System des Einzelhandels, das uns alles bequem zugänglich macht und unseren täglichen Bedarf an Gütern bis zu Haustür bringt: sie alle sind nicht staatlichen Ursprungs. Sie alle sind das Ergebnis spontaner Aktivitäten der Bürger, ob einzeln oder in Gruppen. Überhaupt verdankt der Staat diesen spontanen Aktivitäten die Mittel, um seine Pflichten erfüllen zu können. Entziehen Sie der politischen Maschinerie all diese Hilfen, die Wissenschaft und Kunst hervorgebracht haben, und lassen Sie dieselbe nur mit dem zurück, was die Staatsdiener erfunden haben. Sofort kommt sie zum Stillstand. Eben jene Sprache, in der die Gesetze niedergeschrieben sind und den Staatsdienern Befehle erteilt werden, ist ein Hilfsmittel, das nicht im geringsten dem Gesetzgeber zu verdanken ist, sondern unversehens aus den Interaktionen von Menschen erwuchs, die ihren eigenen persönlichen Befriedigungen nachgingen. Und dann gibt es noch eine Wahrheit, zu der uns die vorangegangene führt. Diese spontan formierte gesellschaftliche Organisation ist so miteinander verflochten, dass man nicht auf einen Teil einwirken kann, ohne auch auf alle anderen mehr

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oder weniger einzuwirken. Eine Wollknappheit zeigt das auf ganz unmissverständliche Weise. Zunächst lähmt sie die Distrikte der Wollindustrie und greift dann im ganzen Königreich auf den Vertrieb im Groß- und Einzelhandel über; auch auf die Menschen, die vom Handel beliefert werden. Und außerdem wirkt sie sich dann noch auf die Hersteller, Händler und Kunden anderer Wollstoffe, wie Leinen u. a., aus. Wir sehen es aber auch, wenn der Preis für Kohle steigt. Er beeinträchtigt dann nicht nur das Leben im Inland überall, sondern behindert auch viele Indus­ triezweige, treibt die Warenpreise in die Höhe, verändert deren Konsumption und ändert das Verhalten der Konsumenten. Was wir in den besagten Fällen sehen, gilt für jeden Fall, manchmal spürbar, manchmal unmerklich. Die Gesetze des Parlaments gehören offenkundig zu jenen Faktoren, die über die direkt produzierten Effekte hinaus zahllose andere Effekte vielfältigster Art haben. Wie einmal ein angesehener Professor, dessen Forschungsarbeiten allerlei Schlüsse zulassen, in meiner Gegenwart sagte: „Wenn man erst einmal beginnt, in die natürliche Ordnung einzugreifen, dann weiß man nie, wohin das führen wird.“ So sehr das auf den subhumanen Teil der natürlichen Ordnung zutrifft, auf den er es münzte, es gilt noch weit mehr für jene natürliche Ordnung, die in den sozialen Arrangements unter den Menschen herrscht. Um nun zu dem Schluss zu gelangen, dass der Gesetzgeber sich jene besagten und weitere Wahrheiten bezüglich der Gesellschaft, auf die er gerne einwirken möchte, klar vor Augen halten sollte, lassen Sie mich eine dieser Wahrheiten, die bislang noch keine Erwähnung gefunden hat, etwas ausführlicher darlegen. Der Fortbestand jeder höheren Spezies hängt davon ab, wie sie sich zu zwei radikal entgegengesetzten Prinzipien verhält; und zwar erst zu dem einen, dann zu dem anderen. Man muss die Frühphase im Leben einer Spezies anders betrachten als die Spätphase. Wir wollen sie hier im Sinne ihrer natürlichen Reihenfolge betrachten. Wie man sehr wohl weiß, sind die höherentwickelten Tierarten, die vergleichsweise langsam heranwachsen, im ausgewachsenen Zustand in der Lage, besser für ihren Nachwuchs zu sorgen als die niederentwickelten Tierarten. Die Alttiere hegen ihre Jungen recht lange, während die Jungtiere außerstande sind, für sich selbst zu sorgen. Es ist offenkundig, dass die Bewahrung der Spezies nur durch die elterliche Obhut gewährleistet werden kann. Es braucht keinen besonderen Nachweis dafür, dass der blinde, ungefiederte Heckensperling oder der Hundewelpe, selbst dann, wenn er schon sehen kann, zugrunde ginge, falls er sich selbst wärmen und sein Futter selbst jagen müsste. Die selbstlose Hilfe muss verhältnismäßig groß sein, bedenkt man, dass das Junge weder für sich noch für andere eine große Hilfe darstellt. Im Verlauf der Zeit nimmt sie dann mit dem Heranwachsen ab, weil das Jungtier an Wert gewinnt, zum einen für die Selbsterhaltung und zum anderen irgendwann auch für die Erhaltung der anderen. D. h., während der Unreife stehen die erhaltenen Vorteile im inversen Verhältnis zu den Möglichkeiten und Fähigkeiten des Empfängers. Wenn im ersten Teil des Lebens die gewährten Vorteile

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im proportionalen Verhältnis zu den Meriten stünden, und die Belohnungen proportional zu den Verdiensten, dann würde die Spezies binnen einer Generation verschwinden. Nach dem Regime der Familiengruppe wollen wir uns nun dem Regime jener größeren Gruppe zuwenden, die aus erwachsenen Mitgliedern der Spezies besteht. Hier ist zu fragen, was geschieht, wenn ein neues Individuum, das der elterlichen Fürsorge entschlüpft ist, erstmals im Vollbesitz seiner Kräfte auf sich selbst gestellt ist. Jetzt kommt das Prinzip zum Zug, das dem oben beschriebenen Grundsatz entgegengesetzt ist. Für den Rest seines Lebens erhält jeder Erwachsene seine Fürsorge im Verhältnis zu seinem Verdienst – und seine Entlohnung im Verhältnis zu dem, was ihm zusteht. Das Verdienst und der Verdienst: in beiden Fällen ist damit die Fähigkeit verbunden, den Erfordernissen des Lebens gerecht zu werden, um Nahrung, Unterschlupf und Schutz vor Feinden zu finden. Da der Einzelne zu den Mitgliedern der eigenen Spezies im Wettbewerb und zu den Mitgliedern anderer Spezies auf dem Kriegsfuß steht, schwindet dieses Vermögen dahin und stirbt ab, oder es gedeiht und verbreitet sich, je nachdem, ob man damit gut oder schlecht ausgestattet ist. Ein entgegengesetztes Regime wäre, falls es aufrechterhalten werden könnte, natürlich mit der Zeit fatal. Wenn die Fürsorge, die jeder Einzelne erhält, mit dessen Minderwertigkeit wüchse, und wenn folglich die Vermehrung der Minderwertigen gefördert und die Vermehrung der Wertvolleren behindert würde, dann käme es zu einer progressiven Verschlechterung. Irgendwann würde die degenerierte Spezies angesichts antagonistischer und rivalisierender Spezies ihren Platz nicht mehr halten können. Hervorzuheben ist hierbei die Tatsache, dass die natürliche Art des Umgangs innerhalb des Familienverbandes der Umgangsart außerhalb des Familienverbandes diametral entgegengesetzt ist, und dass jede Einwirkung der einen Art in die Sphäre der anderen Art unmittelbar oder auf Dauer abträglich wäre. Gibt es irgendjemanden, der glaubt, dass Gleiches nicht für die menschliche Spezies gilt? Man kann nicht bestreiten, dass es innerhalb der menschlichen Familie genauso wie bei Familien auf niedrigerer Entwicklungsstufe fatal wäre, Fürsorge ins Verhältnis zu den Verdiensten zu setzen. Aber kann man durchsetzen, dass es außerhalb der Familie unter Erwachsenen keine Verhältnismäßigkeit zwischen Fürsorge und Verdienst gibt, wie es überall im Tierreich der Fall ist? Kann man behaupten, dass es keinen Schaden anrichten wird, wenn die Minderbegabten in die Lage versetzt werden, gleichviel oder mehr zu gedeihen und sich zu vermehren als die Begabteren? Eine Gesellschaft von Menschen, die mit anderen im Wettbewerb oder auf Kriegsfuß steht, kann man als eine Spezies ansehen, oder genauer noch als eine Unterart einer Spezies. Für sie wie für andere Spezies oder Unterarten einer Spezies gilt, dass sie im Kampf mit anderen Gesellschaften nicht bestehen kann, wenn sie ihre überlegenen Einheiten benachteiligt und ihrer unterlegenen Einheiten bevorteilt. Keiner kann verkennen, dass einer Gesellschaft alsbald fatale Konsequenzen ins Haus stehen, wenn sie das Familienprinzip annimmt und im Gesellschaftsleben anwendet, wenn die Belohnung immer groß ausfällt, obwohl

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der Verdienst klein ist. Und weil dem so ist, stellen sich auch dann schnell fatale Konsequenzen ein, wenn das Regime der Familie auch nur teilweise in das Regime des Staats Einzug hält. Früher oder später kommt es zur Katastrophe, wenn die Gesellschaft in ihrer Eigenschaft als Genossenschaft in das Spiel jener beiden entgegengesetzten Prinzipien eingreift, nach denen jede Spezies die Fitness für ihre Lebensform erwirbt und anschließend bewahrt. Ich sage absichtlich, eine Gesellschaft in ihrer Eigenschaft als Genossenschaft, weil ich nicht die Hilfe ausschließen oder verurteilen will, die die Überlegenen den Unterlegenen in ihrer Eigenschaft als Individuen erweisen. Wenn aber so unterschiedslos gegeben wird, dass die Unterlegenen sich vermehren können, dann führt diese Hilfe ins Verderben. Fehlte indes die Unterstützung seitens der Gesellschaft, dann würde die erteilte individuelle Hilfe, die dann mehr als momentan nachgefragt würde und auch mit einem größeren Sinn für Verantwortung verknüpft wäre, im allgemeinen bewirken, dass die glücklos Wertvollen gefördert würden, und nicht die von Haus aus Unwerten. Gleichwohl wird es immer auch gleichzeitig soziale Vorteile geben, die der Kultur des Mitgefühls entspringen. Mag man all dies auch zugestehen, so ist doch festzuhalten, dass die radikale Trennung zwischen der Familienethik und der Staatsethik aufrechterhalten werden muss. Und während die Generosität das wesentliche Prinzip der einen Ethik ist, muss die Gerechtigkeit das wesentliche Prinzip der anderen Ethik sein – soll heißen, eine entschiedene Beibehaltung jener gewöhnlichen Beziehungen unter den Bürgern, so dass jeder für seine Arbeit – sei sie erlernt oder nicht, geistig oder körperlich – so viel erhält, wie sie, gemessen an ihrer Nachfrage, wert ist. Dieser Ertrag wird ihn dann in die Lage versetzen, im Verhältnis zu seinen Stärken, die ihn für sich und andere wertvoll machen, zu gedeihen und Nachwuchs in die Welt zu setzen. Obwohl diese Wahrheiten jedem ins Auge springen sollten, der seine Lexika, Gesetzeswerke und Anlagebücher beiseitelegt und über sie hinweg in die natürliche Ordnung der Dinge sieht, innerhalb derer sie existieren und der wir zu entsprechen haben, wird dem paternalistischen Staat weiterhin das Wort geredet. Das Eindringen der Familienethik in die Staatsethik wird jedoch nicht als gesellschaftsschädigend betrachtet, sondern immer mehr als das einzig wirksame Mittel für die gesellschaftliche Fürsorge gefordert. Dieser Irrglaube greift inzwischen derart um sich, dass er auch die Überzeugungen jener zersetzt, von denen man annahm, sie seien, mehr als andere, davor gefeit. In jenem Aufsatz, dem der Cobden Club 1880 seinen Preis zuerkannte, wird die Behauptung aufgestellt, dass „über der Wahrhaftigkeit des Freihandels die Wolken des Laissez Faire-Fehlschlusses aufziehen.“ Und man belehrt uns, dass „wir sehr viel mehr an staatlicher Fürsorge brauchen – jenes Schreckgespinst der alten Ökonomen.“30 Die weiter oben bekräftigte Wahrheit ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil mit ihrer Annahme bzw. Ablehnung das gesamte Geflecht an politischen 30 

Cumming (1881), S. 47f.

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Schlussfolgerungen steht und fällt. Daher mag man mir nachsehen, dass ich sie hier betone, indem ich bestimmte Abschnitte zitiere, die in einem Buch enthalten sind, das ich 1851 veröffentlicht habe. Ich setze dabei voraus, dass der Leser mir nicht die darin enthaltenen teleologischen Implikationen zur Last legt. Nachdem ich „jenen Zustand des allgemeinen Bekriegens, der in der Frühzeit der Geschichte herrschte“ beschrieben und gezeigt hatte, dass er durchwegs vorteilhaft war, führte ich wie folgt fort: „Ferner ist festzuhalten, dass die feindlichen Fleischfresser nicht nur jene Individuen aus den Herden der Pflanzenfresser entfernen, die ihre beste Zeit hinter sich haben, sondern auch ihre Kranken und Missgebildeten, sowie die Langsamsten und Schwächsten aussortieren. Dank dieses reinigenden Prozesses und der Kämpfe, die in der Paarungszeit üblich sind, wird der Verschlechterung der Rasse durch die Vermehrung minderwertiger Vertreter vorgebeugt und eine Konstitution sichergestellt, die den herrschenden Umweltbedingungen angepasst und dem Glück höchst zuträglich ist. Die Entwicklung höherer Lebewesen ist ein Prozess, der zu einer Lebensform führt, die ein Glück ohne diese Nachteile ermöglicht. Es ist der menschlichen Rasse vergönnt, die Vollendung zu besiegeln. Die Zivilisation bildet die letzte Stufe der Vollendung. Und der ideale Mensch ist jener Mensch, der alle Bedingungen für diese Vollendung erfüllt. In der Zwischenzeit sind das Wohlergehen der bestehenden Menschheit und deren weitere Entwicklung zur schlussendlichen Perfektion durch dieselbe wohltuende, gleichwohl mühevolle Disziplin, der die Entstehung aller Lebewesen letztlich unterworfen ist, sichergestellt – eine Disziplin, die bei der Herausbildung des Guten gnadenlos ist; ein nach Glück strebendes Gesetz, das nie vom Kurs abweicht, um kleinere und vorübergehende Leiden zu vermeiden. Das Elend der Unfähigen, die Nöte, die über die Leichtsinnigen hereinbrechen, der Hunger der Müßigen und das beiseite Stoßen der Schwachen durch die Starken, das so viele in Furcht und Elend stürzt: sie sind das Urteil eines großen, vorausschauenden Wohlwollens. … Damit er zur Gesellschaft taugt, muss der Mensch nicht nur seine Barbarei ablegen, sondern auch die Fähigkeiten erwerben, die das Leben in Zivilisation verlangt. Das Anwendungsvermögen muss entwickelt und der Intellekt so modifiziert werden, dass er für die neuen Aufgaben, die auf ihn zukommen, gerüstet ist. Vor allem aber muss die Fähigkeit erworben werden, auf kleinere, unmittelbare Belohnungen zugunsten größerer Belohnungen in der Zukunft zu verzichten. Die Übergangsphase wird natürlich eine unglückliche Zeit sein. Die fehlende Übereinstimmung von Verfasstheit und Bedingungen wird zwangsläufig Elend hervorrufen. All diese uns betreffenden Übel, die aus Sicht des Laien offenkundig aus dieser oder jener behebbaren Ursache folgen, sind unvermeidbare Begleiter der nun in Gang befindlichen Anpassung. Die Menschheit steht unter dem Druck der unerbittlichen Zwänge ihrer neuen Lage, ist ihnen harmonisch eingepasst und muss das daraus resultierende Unglück ertragen, so gut sie kann. Der Prozess muss erduldet werden, und die Leiden müssen ertragen werden. Keine Macht der Welt, kein noch so schlau ausgedachtes Gesetz der Staatsmänner, kein Weltverbesserungsplan der Barmherzigkeit, kein kommunistisches Wundermittel und

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keine Reform, die von Menschen angestoßen wurde oder je angestoßen wird, kann an Ihnen auch nur ein Jota ändern. Sie können sich schon mal zuspitzen und tun es auch, und beim Verhindern ihrer Zuspitzung findet der Menschenfreund ein großes Feld für seine Kraftübungen. Aber mit dem Wechsel ist ein normales Maß an Leid verbunden, das nicht verringert werden kann, es sei denn, man könnte die Gesetze des Lebens ändern. … Gewiss, insoweit das spontane Mitgefühl der Menschen für einander diesem Prozess die Härte nehmen kann, ist es nur billig, dass dies geschieht. Gleichwohl wird zweifellos Schaden angerichtet, wenn man Mitgefühl erweist, ohne auf die langfristigen Folgen zu schauen. Aber die so entstehenden Nachteile haben nicht die Ausmaße wie die ansonsten erwiesenen Vorteile. Nur wenn dieses Mitgefühl mit der Gerechtigkeit bricht; nur wenn es die Ursache für einen Eingriff bildet, den das Gesetz gleicher Freiheit verbietet; nur wenn es auf diese Weise in einem bestimmten Bereich des Lebens das Verhältnis zwischen der Verfasstheit und den Bedingungen außer Kraft setzt, wirkt es ausschließlich schädlich. Dann jedenfalls durchkreuzt es sein eigenes Ziel. Anstatt Leiden zu mindern, vermehrt es plötzlich dieselben. Dann begünstigt es die Vermehrung jener, die dem Leben am schlechtesten angepasst sind, und behindert folglich die Vermehrung jener, die dem Leben am besten angepasst sind, weil es ihnen durch sein Tun weniger Raum lässt. Es neigt dazu, die Welt mit jenen zu bevölkern, denen das Leben das größte Leid beschert, und jene fernzuhalten, denen das Leben die meiste Freude bereitet. Es bewirkt ein bestimmtes Leid und unterbindet ein bestimmtes Glück.“31

Auch ein Dritteljahrhundert nach Veröffentlichung dieser Passagen habe ich noch keinen Grund dafür gefunden, von meiner darin eingenommenen Position abzurücken. Ganz im Gegenteil, die seither verstrichene Zeit hat eine riesige Menge an Nachweisen erbracht, die meine Position stärken. Die nützlichen Vorteile, die mit dem Überleben der Bestangepassten verbunden sind, erweisen sich als unvergleichlich größer als die oben angesprochenen Vorteile. Der Prozess der „natürlichen Selektion“, wie Herr Darwin ihn nennt, der mit einer Tendenz zur Variation und Vererbung von Variationen einhergeht, ist, wie er gezeigt hat, der Hauptgrund (wenn auch nicht der einzige Grund, wie ich meine) jener Evolution, durch die alle Lebewesen ihren gegenwärtigen Grad der Organisation und Anpassung an ihre Lebensform erreicht haben. Das gilt für die einfachsten Lebewesen und alle anderen, die ihnen durch Weiterentwicklung gefolgt sind. Diese Tatsache ist inzwischen so sehr bekannt, dass man sich für ihre Erwähnung fast entschuldigen muss. Und obwohl inzwischen alle kultivierten Menschen diese Tatsache anerkennen und ihnen der segensreiche Vorgang des Überlebens der Bestangepassten klar geworden ist und man meinen sollte, dass sie mehr als die Menschen früherer Tage davor zurückschrecken würden, diese Auswirkung zu neutralisieren, muss man sagen – so befremdlich es auch ist –, dass die Menschen heute mehr denn je alles daran setzen, um das Überleben der Schlechtestangepassten zu fördern. 31 

Spencer, Social Statics, S. 322 – 325 und S.  380 – 381.

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Das Postulat vom rationalen Menschen führt einen doch immer wieder zu Schlussfolgerungen, mit denen man weit daneben liegt.32 „Sie haben Ihr Prinzip wahrlich aus dem Leben der Unmenschen hergeleitet. Es ist auch ein unmenschliches Prinzip. Sie werden mich nicht davon überzeugen, dass die Menschen sich benehmen wie die Tiere. Ich gebe nichts auf Ihre naturgeschichtlichen Argumente. Mein Gewissen sagt mir, dass den Schwachen und Leidenden geholfen werden muss. Und wenn eigensüchtige Menschen ihnen nicht helfen wollen, dann muss ihre Hilfe durch das Gesetz erzwungen werden. Erzählen Sie mir nicht, dass die Milch der menschlichen Neigung nur für die Beziehungen zwischen Individuen bestimmt ist und der Staat nichts zu verwalten hat außer der strengen Gerechtigkeit. Jeder Mensch mit Mitgefühl muss doch spüren, dass man Hunger, Qual und Elend vorbeugen muss und dass man öffentliche Einrichtungen schaffen muss, wenn die privaten Einrichtungen nicht ausreichen.“

Diese Art von Antwort erwarte ich in neun von zehn Fällen. In einigen davon wird der Mensch so heftig von seinem menschlichen Mitgefühl getragen werden, dass er beim Sinnieren über das menschliche Elend so ungeduldig wird, dass er überhaupt keinen Gedanken an die langfristigen Folgen verschwenden kann. Was die Empfindsamkeit der Übrigen angeht, so dürfen wir wohl etwas skeptischer sein. Wer sich darüber ärgert, wenn ein Befehlshaber zur Wahrung unserer vermeintlichen nationalen „Interessen“ bzw. unseres nationalen Ansehens nicht gleich Tausende Männer aussendet, von denen die meisten ihr Leben dabei lassen, wenn sie Tausende andere Männer nur deshalb töten, weil wir deren Absichten mit Argwohn betrachten oder ihre Institutionen nicht mögen oder ihr Gebiet wollen, ist kaum so zartfühlend, dass er das Ausmalen des Ungemachs der Armen nicht ertragen könnte. Dem angeblichen Mitgefühl jener, die auf eine Politik drängen, die jede fortschrittliche Gesellschaft spaltet, und die dem chaotischen Wirrwarr mit all seinen Leidtragenden und Toten, das es zurücklässt, nur mit zynischer Gleichgültigkeit begegnen, muss man keine allzu große Bewunderung zollen. Damals, als die Buren auf ihre Unabhängigkeit pochten und uns erfolgreich die Stirn boten, 32  Emersons Diktum, dass die meisten Menschen ein Prinzip nur verstehen können, wenn es ein Licht auf eine Tatsache wirft, lässt mich eine Tatsache erwähnen, die das oben genannte Prinzip jenen nahe bringt, bei denen es in seiner abstrakten Form nichts auslöst. Es passiert selten, dass das Maß an Übel, das durch die Förderung der Liederlichen und Taugenichtse verursacht wird, geschätzt werden kann. Aber im Dezember 1884 legte Dr. Harris anlässlich einer Versammlung des Wohlfahrtsverbandes der US-Staaten (States Charities Aid Association) ein im Detail erschreckendes Beispiel vor. Es stammt aus einem Distrikt in Upper Hudson, der für sein Verhältnis von Verbrechen und Armut bekannt ist. Zu Zeiten unserer Großväter gab es dort eine gewisse „Gossengöre“, wie man sie hier nennen würde, namens „Margaret“, die sich als gebärfreudige Mutter eines gebärfreudigen Geschlechts entpuppte. Außer einer großen Zahl an Idioten, Schwachköpfen, Säufern, Verrückten, Sozialhilfeempfängern und Prostituierten „finden sich in den Archiven 200 von ihren Nachfahren, die Kriminelle waren. War es Güte oder Grausamkeit, die sie von einer Generation zur nächsten sich vermehren ließ und zu einem Fluch für die Gesellschaft machte, in der sie lebten? (Einzelheiten dazu in Dugdale, The Jukes).

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war so mancher darüber erbost, dass man die britische „Ehre“ nicht verteidigte und versuchte, die Schlappe auf Kosten unserer eigenen Soldaten und der des Gegners auszumerzen. Jene, die das waren, können nicht so viel „Enthusiasmus für die Humanität“ aufbringen, wie es die oben angesprochenen Proteste vermuten lassen. Bei dem Feingefühl, das sie vermutlich haben, werden sie für den „Kampf des Überlebens“, der sich im Stillen vollzieht, wohl nicht allzu viel Verständnis zeigen. Sie scheinen ein dickes Fell zu haben und die Leiden des herkömmlichen Kampfes nicht nur gleichmütig, sondern auch mit Freude zu betrachten, was man daran sieht, dass bebilderte Hefte mit Massakern sich einer hohen Nachfrage erfreuen und die detaillierten Schilderungen blutiger Auseinandersetzungen begierig gelesen werden. Wir dürfen wohl zurecht unsere Zweifel haben, was die Gefühle jener Menschen angeht, die den Gedanken an die Härten, welche die Faulen und Unbedachten erdulden müssen, nicht ertragen können, aber nichtsdestotrotz die 31 Ausgaben der Fifteen Decisive Battles of the World bestellt haben, um sich an den Schilderungen der Schlachten weiden zu können. Noch weitaus bemerkenswerter ist indes der Gegensatz zwischen der vorgeblichen Feinfühligkeit und der tatsächlichen Hartherzigkeit jener, die den normalen Ablauf der Dinge umkehren würden, um unmittelbares Leid selbst dann zu umgehen, wenn es zu Lasten größerer, durch die Umkehr erst entstehender Übel ginge. Bei anderen Gelegenheiten hört man sie dann, vom Blutvergießen und Tod höchst unbeeindruckt, behaupten, dass es im Interesse der Menschheit insgesamt gut sei, dass die unterlegenen Rassen ausgelöscht und ihre Plätze von den überlegenen Rassen eingenommen würden. Es ist also ganz erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie einerseits den Gedanken an jene Übel nicht verwinden können, die mit dem Existenzkampf einhergehen, welcher unter den Individuen in unserer Gesellschaft ohne jegliche Gewalt ausgetragen wird, und dass sie andererseits den schlimmsten und verheerendsten Übeln, die Feuer und Schwert über ein ganzes Volk bringen können, nur mit Gleichmut begegnen. Also, aus meiner Sicht, verdient diese Großzügigkeit, die den Unterlegenen zuhause zuteilwird und die mit der bedenkenlosen Opferung der Unterlegenen außer Landes einhergeht, keinen großen Respekt. Diese extreme Sorge, die denen gilt, die unser eigen Fleisch und Blut sind, und die mit einem enormen Desinteresse für jene einhergeht, die fremdes Blut haben, verdient erst recht keinen Respekt, wenn man bedenkt, wie sie geäußert wird. Würde sie persönlichen Einsatz beim Entlasten der Leidenden auslösen, dann würde sie zu Recht anerkennende Billigung erfahren. Wären die Vielen, die ihr billiges Mitleid zum Ausdruck bringen, so wie die Wenigen, die einen großen Teil ihrer Zeit darauf verwenden, jene zu unterstützen und zu ermutigen, ja auch mal zu erheitern, die aus Pech oder Unvermögen die Härten des Lebens erleiden müssen, dann hätten sie uneingeschränkt Bewunderung verdient. Je mehr Männer und Frauen es gibt, die den Armen helfen, sich selbst zu helfen, und je mehr es von denen gibt, die ihr Mitleid direkt zum Ausdruck bringen, statt durch andere, desto mehr dürfen wir frohlocken. Aber die überwältigende Mehrheit jener Menschen, die das Elend der Glücklosen und Glücksritter per Gesetz lindern möchten, wollen dies nur zu einem geringen Teil auf eigene Kosten und hauptsächlich auf Kosten anderer –

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manchmal mit deren Zustimmung, aber meistens ohne. Darüber hinaus haben jene, die zwangsweise für die Notleidenden etwas tun sollen, es mindestens genauso oder gar noch mehr verdient, dass etwas für sie getan wird. Die verschämten Armen gehören zu denen, die herangezogen werden, um jene Armen zu unterstützen, die es nicht verdient haben. Unter dem alten Armenrecht mussten die fleißigen und sparsamen Arbeiter oft so lange dafür zahlen, dass die Taugenichtse nicht darben mussten, bis sie selbst unter der Zusatzlast pleitegingen und Zuflucht in einem der Arbeiterhäuser suchen mussten. Heute ist es kaum anders: Die Gesamtabgaben, die in den großen Städten für die öffentlichen Aufgaben erhoben werden, haben inzwischen eine Höhe erreicht, dass man sie „nicht mehr erhöhen kann, ohne dem Kleinkrämer und Handwerker große Härten zuzumuten, obschon diese schwer genug damit zu kämpfen haben, der Armut zu entrinnen.“33 In all diesen Fällen verschärft die Politik die Mühen derer, die das Mitgefühl am meisten verdient haben, damit die Mühen von denen abfallen, die das Mitgefühl am wenigsten verdient haben. Die Menschen, die so mitfühlend sind, dass sie den Unwürdigen im Kampf ums Überleben nicht zumuten können, die Leiden ihres eigenen Unvermögens und Fehlverhaltens zu ertragen, sind zugleich so gefühllos, dass sie mit Absicht den Überlebenskampf der Würdigen verschärfen und ihnen und deren Kindern zu den natürlichen Unbilden, die sie zu meistern haben, noch künstliche Übel obendrein aufhalsen. Und damit wären wir wieder bei unserem eigentlichen Thema angekommen, den Sünden des Gesetzgebers. Hier begegnet uns der gemeinste aller Fehltritte, den die Herrschenden begehen – ein Fehltritt, der so gewöhnlich ist und wegen seiner Gewöhnlichkeit schon so sehr geduldet ist, dass niemand mehr eine Verfehlung hinter ihm vermutet. An ihm erkennen wir, wie anfangs angedeutet wurde, dass der Staat, der aus Angriffen hervorging und Angriffe hervorbringt, stets darin fortschreitet, seine ursprüngliche Natur durch Aggressivität zu verraten, und dass er, der auf den ersten Blick voller Güte zu sein scheint, auch auf den zweiten Blick kein bisschen Schädlichkeit zeigt – eine Güte auf Kosten von Grausamkeit. Ist es etwa nicht grausam, die Leiden der Guten zu mehren, damit die Leiden der Üblen abnehmen mögen? Es ist fürwahr fantastisch, wie bereitwillig wir uns von Worten und Phrasen blenden lassen, die eine Seite der Tatsachen ansprechen, die andere Seite jedoch unerwähnt lassen. Ein gutes und zu unserer Frage gut passendes Beispiel dafür bildet der bei den Gegnern des Freihandels übliche Gebrauch der Wörter „Protektion“ und „protektionistisch“, der von den Freihändlern ohne Widerrede als passend hingenommen wird. Während die einen die Wahrheit für gewöhnlich ignorieren, versagen die anderen darin, zu betonen, dass der sogenannte Schutz in Wahrheit immer Aggression einschließt und dass man, statt von Protektionisten zu reden, von Aggressoren sprechen sollte. Denn nichts ist so gewiss wie die Tatsache, dass 33 

Herr J. Chamberlain in Fortnightly Review, Dezember 1883, S. 772.

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man B angreift, um A zu „schützen“, wenn man B untersagt, bei C zu kaufen, damit A seinen Profit wahren kann, oder wenn man ihm ein Bußgeld in Höhe des Zolls auferlegt, wenn er bei C kauft. Ja, „Aggressoren“ passt als Name doppelt so gut zu den Freihandelsgegnern als der euphemistische Begriff „Protektionisten“, weil zehn Konsumenten geschröpft werden, damit ein Produzent dabei verdienen kann. Nun kann man die gleiche Art verwirrter Ideen, die entstehen, wenn man nur eine Seite eines Vorgangs betrachtet, überall in der Gesetzgebung finden, mit deren Hilfe man das Eigentum des einen Mannes gewaltsam wegnehmen kann, um es einem anderen Mann als Gratisvorteil zu geben. Wenn man eine dieser so gearteten Maßnahmen diskutiert, dann dreht sich in der Regel alles um den bedauernswerten Müller, der vor gewissen Übeln bewahrt werden soll, während niemand an den hart arbeitenden Meier denkt, dem man zu Leibe rückt, obwohl er meistens viel mehr Mitleid verdient. Man knöpft den Menschen das Geld direkt ab, oder durch höhere Steuern: dem Krämer, der nur zahlen kann, weil er auf den Pfennig schaut; dem Maurer, der durch einen Streik aus dem Geschäft gedrängt wird; der Mechaniker, dessen Ersparnisse durch Krankheit dahinschmelzen; der Witwe, die von morgens früh bis abends spät wäscht oder näht, um ihren vaterlosen Nachwuchs durchzubringen. Und all das, damit die Verlotterten vor dem Hunger bewahrt werden; die Kinder der weniger verarmten Nachbarn kostenlosen Unterricht bekommen können; und damit diverse Leute, die meistens besser dran sind, kostenlos Zeitungen und Romane lesen können! Der Fehler in der Nomenklatur führt hier in einer Hinsicht noch mehr in die Irre als jener, der es zulässt, dass man Aggressoren Protektionisten nennt. Wie gezeigt, bedeutet der Schutz der lasterhaften Armen einen Angriff auf die tugendhaften Armen. Es ist aber zweifellos so, dass der größte Teil des eingetriebenen Geldes von denen kommt, die recht wohlhabend sind. Doch das ist kein Trost für jene, die arm dran sind und von denen der Rest kommt. Wenn man den Druck, der auf den beiden Klassen lastet, vergleicht, dann wird nämlich offenbar, dass der Fall schlimmer liegt, als zunächst vermutet. Für die Wohlhabenden bedeutet das Eintreiben der Mittel nur eine Einbuße an Luxus, für die Niedrigverdiener hingegen den Verlust am Notwendigsten. Und nun erkennt man ihr Verderben, das durch die chronischen Sünden des Gesetzgebers zu folgen droht. Sie und ihre Klasse, zusammen mit allen, die Eigentum haben, drohen unter der umfassenden Anwendung jenes allgemeinen Prinzips zu leiden, das durch jedes einzelne der konfiskatorischen Parlamentsgesetze bekräftigt wird. Was ist denn die stillschweigende Annahme, von denen all diese Gesetze ausgehen? Es ist die Annahme, dass niemand einen Anspruch auf sein Eigentum hat, nicht einmal auf das, was er im Schweiße seines Angesichts verdient hat; es sei denn mit Erlaubnis der Gemeinschaft, wobei die Gemeinschaft den Anspruch auf jedes Niveau zurückschrauben kann, das sie für angemessen hält. Gegen die Aneignung dessen, was A gehört, um es B zu geben, gibt es keine Verteidigung, außer der, die mit dem Postulat bricht, dass die Gesellschaft als Ganzes ein absolutes Recht auf den Besitz all seiner Mitglieder hat. Und nun wird diese Doktrin,

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die man stillschweigend unterstellt hat, in aller Öffentlichkeit proklamiert. Herr George und seine Freunde sowie Herr Hyndman und seine Mentoren bringen die Theorie auf ihren logischen Punkt. Die jährlich mehr werdenden Beispiele haben sie gelehrt, dass das Individuum keine Rechte hat, welche die Gemeinschaft nicht rechtens außer Kraft setzen könnte. „Nun geht es hart zur Sache, und wir werden Klartext reden“, sagen sie jetzt und schaffen die individuellen Rechte allesamt ab. Legislative Verfehlungen der oben genannten Arten lassen sich leichter und mit einer gewissen Nachsicht erklären, wenn wir die Sache aus der Ferne betrachten. Sie haben ihre Wurzeln in der irrigen Annahme, die Gesellschaft sei eine Fabrik. In Wirklichkeit ist sie jedoch eine Wucherung. Weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart hat die Kultur einer Gruppe von Menschen eine wissenschaftliche Konzeption der Gesellschaft an die Hand gegeben – eine Konzeption, die eine Gesellschaft mit ihrer natürlichen Struktur angibt, in der all ihre Institutionen, staatliche, religiöse, industrielle, wirtschaftliche, etc., interdependent miteinander verbunden sind, und zwar in einer Art organischer Struktur. Sofern aber eine derartige Konzeption erdacht wird, dann nicht so, dass sie in Bezug auf unser Verhalten funktionieren würde. Andererseits stellt man sich die gesamte Menschheit oft als einen Teig vor, den der Bäcker nach Belieben als Pastete, Torte oder Blätterteig formen kann. Der Kommunist macht uns unmissverständlich klar, dass er das Gemeinwesen als etwas begreift, das nach Belieben so oder so geformt werden kann. Und vielen der Parlamentsgesetze liegt die implizite Annahme zugrunde, dass eine Menschenmenge, die man in dieses oder jenes Korsett gesteckt hat, so bleibt, wie beabsichtigt. Selbst ungeachtet der irreführenden Vorstellung, die Gesellschaft sei kein organisiertes Gemeinwesen, sondern eine plastische Masse, sollte man angesichts der Tatsachen, die uns Stunde um Stunde begegnen, stutzig werden, wenn es heißt, man könne die Handlungen eines Volkes auf diesem oder jenem Weg erfolgreich verändern. Für den Bürger wie für den Gesetzgeber zeigen die täglichen Erfahrungen zuhause, dass das Verhalten des Menschen sich der Berechenbarkeit entzieht. Der Mann hat die Idee, seiner Frau Vorschriften zu machen, aufgegeben, und lässt sie ihm Vorschriften machen. Seine Kinder, bei denen er es mal mit Tadel, mal mit Strafe, mal mit gutem Zureden und mal mit Belohnung probiert hat, sprechen auf keine der Methoden richtig an; und auch sein Protest hält deren Mutter nicht davon ab, sie in einer Weise zu behandeln, die er für verderblich hält. Beim Umgang mit seinen Dienern sieht es nicht anders aus. Weder Argumentieren noch Schimpfen zeigen lange Wirkung. Mangelnde Aufmerksamkeit, Pünktlichkeit, Reinlichkeit oder Nüchternheit führen dauernd zu Veränderungen. Obwohl er also Schwierigkeiten beim Umgang mit Teilen der Menschheit hat, vertraut er darauf, mit der vereinten Menschheit als solcher gut umgehen zu können. Obwohl er unter tausend Bürgern höchstens einen kennt, von hundert Bürgern höchstens einen je gesehen hat und diese zum großen Teil zu Klassen gehören, von deren Gewohnheiten und Denkweisen er nicht den geringsten Schimmer hat, ist er sicher, dass sie auf eine

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Weise handeln werden, die er vorhersehen kann, und Ziele erfüllen werden, die er sich wünscht. Ist das nicht ein irrwitziges Missverhältnis zwischen Prämissen und Konklusion? Ob nun die Bürger ihre Schlüsse aus dem häuslichen Scheitern ziehen oder ob ihnen über der Lektüre der Tageszeitung klar wird, dass das gesellschaftliche Leben zu schnell, unterschiedlich und zu verwickelt verläuft, um auch nur eine vage Vorstellung von ihm zu haben: in dem einen wie in dem anderen Fall sollte man erwarten, dass sie bei der Gesetzgebung äußerst zurückhaltend wären. In dieser Sache zeigen sie jedoch mehr als irgendwo sonst, dass sie zuversichtlich und bereit sind. Nirgends ist der Gegensatz zwischen der Schwierigkeit einer Aufgabe und dem laienhaften Verhalten derer, die sich ihr annehmen, so frappant. Unter allen abstrusen Glaubenssätzen ragt einer besonders hervor, nämlich der, dass man zwar für ein einfaches Handwerk, wie das des Schumachers, eine lange Lehrzeit brauche, allein für das Machen nationaler Gesetze sei keine Lehrzeit erforderlich! Wenn wir das bisher Erörterte zusammenfassen wollen, haben wir dann nicht guten Grund, zu sagen, dass vor dem Gesetzgeber so viele Geheimnisse offen daliegen, so offen, dass sie nicht länger für den ein Geheimnis bleiben können, der sich anschickt und die erschreckend große Verantwortung auf sich nimmt, Millionen Menschen und deren Handlungen mit Maßnahmen zu begegnen, die nicht ins Glück führen, sondern in größeres Elend und in einen früheren Tod? Erstens, da ist die unbestreitbare und auffallende, aber zugleich vollkommen übersehene Tatsache, dass alle Phänomene, die in einer Gesellschaft auftreten, ihren Ursprung in Phänomenen des individuellen Lebens haben, und die wiederum in den Phänomenen des organischen Lebens schlechthin. Dies wiederum impliziert notwendigerweise, dass aus diesen Phänomenen – den körperlichen wie den geistigen – Phänomene resultieren müssen, die nicht ganz chaotisch sein können, es sei denn, die körperlichen und geistigen Phänomene würden in einem chaotischen Verhältnis zueinander stehen (was jedoch angesichts des Fortbestands des Lebens auszuschließen ist). Wenn also miteinander verbundene Menschen interagieren, dann muss in den dabei aus den individuellen Phänomenen hervorgehenden Erscheinungen irgendeine Form von Ordnung stecken. So gesehen ist es ganz klar, dass derjenige, der die sich ergebenden Phänomene der gesellschaftlichen Ordnung nie studiert hat und sich anschickt, die Gesellschaft zu regulieren, mit größter Sicherheit Unfug anstellen wird. Zweitens, der Gesetzgeber sollte auch ungeachtet dieser Apriori-Überlegungen allein durch das Vergleichen von Gesellschaften zu dieser Schlussfolgerung gelangen. Es dürfte hinreichend klar sein, dass man zuerst untersuchen sollte, ob eine gesellschaftliche Organisation eine natürliche Geschichte hat, bevor man sich in die Details der gesellschaftlichen Organisation einmischt, und dass man diese Untersuchung am besten durchführt, indem man mit den einfachsten Gesellschaften anfängt und schaut, worin die sozialen Strukturen übereinstimmen. Eine derartige, in bescheidenem Umfang betriebene vergleichende Soziologie bringt eine

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Entstehungsgeschichte zum Vorschein, die in ihrer Gleichförmigkeit beträchtlich ist. Dass es im Krieg für gewöhnlich zu einem Führungsprinzip kommt und Anführer eingesetzt werden; dass überall Medizinmänner und Priester aufkommen; dass es einen Kult gibt, der überall die gleichen Grundmerkmale trägt; dass es frühzeitig Spuren der Arbeitsteilung gibt, die sich mehr und mehr abzeichnen; und dass es viele Komplikationen politischer, kirchlicher und wirtschaftlicher Art gibt, die auftreten, wenn Gruppen infolge von Kriegen neu zusammengesetzt werden: all das beweist jedem, der die Gesellschaften vergleicht, dass dieselben, sieht man einmal von ihren Besonderheiten ab, sich im Hinblick auf ihren Ursprung und ihre Entwicklung im allgemeinen gleichen. Sie geben Strukturmerkmale wieder und zeigen dadurch, dass der gesellschaftliche Verband Gesetzen folgt, die den individuellen Willen mit Füßen treten und deren Nichtbefolgung desaströse Folgen hat. Drittens gibt es noch jene massenhaften und informationsträchtigen Hinweise, die aus den Protokollen zur Gesetzgebung hervorgehen, die es hier und in anderen Ländern gibt. Sie erfordern unsere Aufmerksamkeit erst recht. Hier wie da scheiterten die Könige und Staatsmänner mit ihren diversen Versuchen, Gutes zu tun, und bewirkten ungewollt Übles. Jahrhundertelang haben neue wie alte und auch flankierende Maßnahmen die Hoffnungen enttäuscht und Unheil gebracht. Aber weder die Gewählten noch die Wähler kamen je auf die Idee, dass eine systematische Erforschung der Gesetzgebung Not tut. Dabei verursachte gerade sie in der Vergangenheit mit ihren Versuchen, das Gute für das Volk zu bewirken, dass es dem Volk immer schlechter ging. Ohne profunde Kenntnis der legislativen Erfahrungen der Vergangenheit kann man die legislativen Aufgaben gewiss nicht anpassen. Wenn wir nun wieder zu unserer anfänglichen Analogie zurückkehren, dann müssen wir zunächst festhalten, dass der Gesetzgeber entweder moralisch tadellos oder tadelnswert ist, je nachdem, ob er sich mit diesen unterschiedlich gearteten Tatsachen vertraut gemacht hat oder nicht. Ein Arzt, der nach jahrelangem Studium eine profunde Kenntnis der Physiologie, Pathologie und Therapie erworben hat, macht sich keiner kriminellen Machenschaften schuldig, wenn ein Mensch infolge seiner Behandlung stirbt. Er hat sich, so gut es ging, vorbereitet und hat nach bestem Wissen gehandelt. Ganz ähnlich ist es beim Gesetzgeber. Wenn seine Maßnahmen trotz umfangreicher und methodischer Untersuchungen, die ihm bei der Entscheidungsfindung halfen, Schaden statt Gutes anrichten, dann kann man ihm nicht mehr vorwerfen, als dass er sich geirrt hat. Andererseits, wenn ein Gesetzgeber ohne oder mit nur geringer Kenntnis der vielen Tatsachen, die er bedacht haben muss, damit seine Meinung zu einem vorgeschlagenen Gesetz überhaupt einen Wert hat, dabei hilft, das Gesetz durchzuwinken, dann kann man ihn genau so wenig von der Mitschuld am daraus resultierenden Elend und Tod anderer freisprechen wie den Wanderapotheker, dessen unbedacht verschriebene Medizin einem Mensch den Tod bringt.

Der große politische Aberglaube Der große politische Aberglaube

Der große politische Aberglaube der Vergangenheit war das göttliche Recht der Könige. Der große politische Aberglaube der Gegenwart aber ist das göttliche Recht der Parlamente. Das Öl des Gesalbten scheint unbemerkt vom Haupt des Einen auf die Häupter der Vielen getropft zu sein und sie und ihre Dekrete dabei gesegnet zu haben. So unvernünftig uns der frühere Glaube auch erscheinen mag, wir müssen doch zugestehen, dass er den gegenwärtigen an Stimmigkeit überragt. Ob wir nun bis zu jener Zeit zurückgehen, als der König noch Gott war, oder zu jener, als er ein Abkömmling Gottes war, oder zu jener, als er Gottes Gesandter war, in jedem Fall gab es damals gute Gründe, seinem Willen zu gehorchen. Als damals unter Ludwig XIV. Theologen wie Bossuet1 lehrten, dass Könige „Götter und in ihrem Auftreten Teil der göttlichen Unabhängigkeit sind“, oder als man, wie unsere Tory Partei es früher einmal tat, dachte, dass der „Monarch ein Gesandter des Himmels ist“, war klar, dass man unter der gegebenen Prämisse unweigerlich zu dem Schluss kommen musste, dass den Befehlen der Regierung keine Grenzen gesetzt sind. Aber für den modernen Glauben existiert eine solche Ermächtigung nicht. Eine gesetzgebende Körperschaft, die keinerlei göttliche Abstammung oder Bestimmung für sich behauptet, kann keine übernatürliche Rechtfertigung für einen Anspruch auf unbegrenzte Autorität vorweisen. Und eine natürliche Rechtfertigung wurde bislang nie versucht. Dem Glauben an unbegrenzte Autorität des Parlaments fehlt also jene innere Stimmigkeit, die den Glauben an die unbegrenzte Autorität des Monarchen kennzeichnete. Es ist eigenartig, dass die Menschen in der Regel am Kern einer Lehrmeinung festhalten, auch nachdem sie diese auf dem Papier und rein formal abgelegt haben. In der Theologie bietet uns Carlyle2 dafür ein Beispiel. Er glaubte, als Student den Glauben seiner Vorväter aufgegeben zu haben, lehnte aber nur die Hülle ab und hielt am Inhalt fest. Seine Vorstellungen von der Welt sowie vom Menschen und dessen Verhalten belegen, dass er immer ein strammer schottischer Calvinist war. Auch die Wissenschaft bietet ähnliche Beispiele, z. B. Sir Charles Lyell. Er 1  Jacques Bénigne Bossuet (1627 – 1704), bedeutender französischer Theologe und Bischof von Meaux, 40 km östlich von Paris, d. Hrsg. 2  Gemeint ist wahrscheinlich nicht der schottische Essayist und Historiker Thomas Carlyle (1795 – 1881), der u.a. wegen seiner Biographien zu Schiller und Cromwell bekannt ist, sondern der gleichnamige „Apostel“ Carlyle (1803 – 1851), der früh zum katholisch-apostolischen Glauben konvertierte, auch in Norddeutschland wirkte und u.a. Heinrich Geyer (1818 – 1896), den späteren Gründer der Neuapostolischen Kirche, taufte, d. Hrsg.

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verband den geologischen Naturalismus mit einem biologischen Supernaturalismus. Als führender Vertreter einer einheitlichen Theorie in der Geologie lehnte er die mosaische Schöpfungslehre ab, verteidigte sie aber lange Zeit für besondere organische Schöpfungsarten, für deren Erklärung nur die mosaische Schöpfungslehre in Frage kam. Erst am Ende seines Lebens schloss er sich den Argumenten von Herrn Darwin an. In der Politik gibt es dazu passend, wie oben angenommen, einen analogen Fall. Die stillschweigend vorausgesetzte Doktrin, die alle Tories, Whigs und Radikale teilen, nämlich dass die staatliche Autorität unbegrenzt ist, reicht bis zu der Zeit zurück, als man im Gesetzgeber einen Vertreter Gottes auf Erden sah. Diese Auffassung lebt auch heute noch, obwohl der Glaube, der Gesetzgeber vertrete Gottes Wort, ausgestorben ist. „Oh, das Parlament kann alles Mögliche beschließen“ heißt es, wenn ein Bürger die Legitimität eines staatlichen Eingriffs in Frage stellt. Der Bürger bleibt dann wie gelähmt zurück. Es kommt ihm nicht in den Sinn, zu fragen, wie, warum und wieso die angebliche Allmacht nur von der Natur begrenzt sein soll. Wir wollen das hier nicht weiter hinterfragen. In Ermangelung der einst logisch gültigen Rechtfertigung – der zufolge der Herrscher auf Erden ein Gesandter des Herrschers im Himmel ist, weshalb es Pflicht ist, sich ihm in jedem Fall zu unterwerfen – wollen wir fragen, worauf denn die Behauptung gründen könne, es sei Pflicht, sich in allen Dingen der herrschenden Macht, egal ob verfassungsstaatlich oder republikanisch, zu unterwerfen, gleichwohl ihr das himmlisch abgeleitete Supremat fehlt. Diese Frage führt uns offensichtlich dazu, alte und neue Theorien zur politischen Autorität zu hinterfragen. Fragen neu aufzuwerfen, die seit langem für beantwortet gelten, dürfte indes als erklärungsbedürftig angesehen werden. Doch es gibt, wie sich aus Obigem schließen lässt, in diesem Fall einen triftigen Grund: Die allgemein akzeptierte Theorie ist schlecht oder gar nicht fundiert. Der Begriff der Souveränität ist der, der sich als erster aufdrängt. Eine kritische Würdigung dieses Begriffs, wie er von denen verstanden wird, die nicht von einem übernatürlichen Ursprung der Souveränität ausgehen, führt uns zu den Argumenten von Hobbes zurück. Nehmen wir einmal mit Hobbes an, dass die Menschen „während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden;“3 auch wenn dies so nicht stimmt, weil es einige unzivilisierte Gesellschaften gibt, in denen die Menschen ohne jegliche „allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht“ besser in Frieden und Harmonie leben als in Gesellschaften, in denen eine solche Macht existiert. Nehmen wir auch einmal an, er habe in der Annahme recht, dass es deshalb einen Herrscher über vereint lebende Menschen gibt, weil diese den Wunsch hegten, ihre Ordnung aufrechtzuerhalten, obwohl in Wahrheit für gewöhnlich die Unterordnung unter einen Anführer in Zeiten 3 

Hobbes (1968), S. 96.

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des Krieges – sei es eines Angriffs- oder Verteidigungskrieges – einen Herrscher nötig macht. Mit der Wahrung der Ordnung unter vereinten Individuen hat dies ursprünglich weder grundsätzlich noch faktisch etwas zu tun. Wollen wir ferner der unhaltbaren Annahme zustimmen, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft den Übeln des chronischen Konflikts, der sonst unter ihnen weiter schwelen muss, nur durch Einwilligung in einen „Pakt oder (ein) Übereinkommen“ entgehen können, in dem sie erklären, auf ihre ureigene Handlungsmacht zu verzichten und sich dem Willen eines gemeinsam auserkorenen Alleinherrschers zu unterwerfen; wobei die Einwilligung impliziert, dass auch ihre Nachfahren dem Pakt auf ewig verpflichtet sind, den ihre entfernten Vorfahren für sie geschlossen haben.4 Wie gesagt, mit diesen Einwänden wollen wir uns hier nicht aufhalten, sondern auf die Schlüsse schauen, die Hobbes daraus zieht. Er schreibt: „Denn wo kein Vertrag vorausging, wurde auch kein Recht übertragen, und jedermann hat ein Recht auf alles; folglich kann keine Handlung ungerecht sein. Wurde aber ein Vertrag abgeschlossen, so ist es ungerecht, ihn zu brechen, und die Definition der Ungerechtigkeit lautet nicht anders als die Nichterfüllung eines Vertrages. Und alles, was nicht ungerecht ist, ist gerecht. … Bevor man deshalb von gerecht und ungerecht reden kann, muß es eine Zwangsgewalt geben, um die Menschen gleichermaßen durch die Angst vor einer Bestrafung zur Erfüllung ihrer Verträge zu zwingen, die gewichtiger ist als ihr Vorteil, den sie vom Bruch ihres Vertrags erhoffen.“5

Waren die Menschen zu Hobbes’ Zeiten charakterlich so verdorben, dass man ihm darin beipflichten muss, keiner hielte in Abwesenheit einer Zwangsmacht und ohne Androhung von Strafen seine Verträge ein? Heutzutage kann man „von gerecht und ungerecht reden“, auch ohne Anerkennung einer Zwangsgewalt. Ich könnte viele meiner Freunde nennen, denen ich vorbehaltlos darin vertraue, dass sie ihre Verträge ohne „Androhung von Strafen“ einhalten, und denen die Forderungen der Gerechtigkeit immer geboten erscheinen, und zwar sowohl in Anwesenheit wie auch in Abwesenheit einer Zwangsmacht. Es gilt aber festzuhalten, dass diese ungerechtfertigte Annahme Hobbes’ Argument für die Autorität des Staates schadet und dass zwei bedeutende Implikationen auftreten, wenn man sowohl die Prämissen als auch die Konklusionen teilt. Die eine ist, dass die so abgeleitete Autorität des Staates ein Mittel zum Zweck ist und nur Gültigkeit besitzt, wenn sie dem Zweck dient. Wenn sie dem Zweck nicht dient, dann besteht die Autorität gemäß besagter Hypothese nicht. Die andere ist, dass der Zweck, zu dem die ihm gemäße Autorität besteht, die Gerechtigkeit ist, die Wahrung gerechter Verhältnisse. Das Argument bietet keine Rechtfertigung für irgendeine andere Zwangsausübung an Bürgern als die, welche die Abwendung direkter Aggressionen erfordert, sowie jener indirekten Aggressionen, die durch Vertragsbruch entstehen. Wenn wir dem noch den Schutz gegen äußere Feinde hinzufügen, dann haben wir die Aufgaben des Alleinherrschers vollständig erfasst, die sich aus Hobbes’ Ableitung der Autorität des Souveräns ergeben. 4  5 

Hobbes (1968), S. 156. Hobbes (1968), S. 110 (mit den Hervorhebungen von Spencer, d. Hrsg.)

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Hobbes argumentierte im Sinne der absoluten Monarchie. Austin, einer seiner modernen Bewunderer,6 musste für seine Zwecke die Autorität des Gesetzes aus der uneingeschränkten Souveränität eines einzelnen oder einer Zahl von Menschen ableiten, egal ob deren Anzahl im Vergleich zur ganzen Gemeinschaft groß oder klein war. Austin diente ursprünglich in der Armee, und man hat wohl zu Recht angemerkt, dass dies „bleibende Spuren“ in seinem Province of Jurisprudence hinterlassen habe. Wenn wir uns von den ärgerlichen Pedanterien (endlose Unterscheidungen, Definitionen und Wiederholungen, die nur dazu dienten, Austins eigentliche Auffassungen zu verkleistern) nicht abschrecken lassen, um zu ermitteln, welche Spuren diese sind, dann wird klar, dass er bürgerliche Autorität und militärische Autorität gleichsetzt und voraussetzt, dass Ursprung und Reichweite von beiden außer Frage stehen. Um das positive Recht zu rechtfertigen, führt er uns zu der absoluten Souveränität jener Macht zurück, die es verhängt, sei es ein Monarch, eine Aristokratie oder eine größere Körperschaft von Menschen, die in einer Demokratie das Sagen hat. Auch eine solche Körperschaft nennt er Souverän, im Gegensatz zum verbleibenden Rest der Gemeinschaft, der aus Unvermögen oder anderen Gründen untertan bleibt. Und nachdem er die uneingeschränkte Autorität der Körperschaft (die, ob einfach oder zusammengesetzt, klein oder groß, den Souverän ausmacht) für bestätigt, oder vielmehr für selbstverständlich hält, bereitet es ihm natürlich keine Schwierigkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Dekrete abzuleiten, die er positives Recht nennt. Aber das Problem ist einfach nur nach hinten verschoben und nicht gelöst. Die eigentliche Frage bleibt: Woher kommt die Souveränität? Was befugt uns, der unqualifizierten Vorherrschaft einer einzelnen Person, einiger oder gar vieler Personen über die übrigen Menschen zuzustimmen? Zu Recht könnte man auch einwenden: „Wir verzichten auf Ihr Verfahren, positives Recht aus der uneingeschränkten Souveränität abzuleiten: die Abfolge ist offensichtlich genug. Aber beweisen Sie uns erstmal Ihre uneingeschränkte Souveränität.“ Auf diese Forderung gibt es keine passende Antwort. Analysieren Sie Austins Annahme. Dann zeigt sich, dass seine Doktrin auf keiner besseren Grundlage steht als die von Hobbes. In Abwesenheit einer zugestandenen göttlichen Abstammung oder Mission kann weder die Herrschaft eines Einzelnen noch die mehrerer Personen den nötigen Nachweis dafür liefern, dass die uneingeschränkte Souveränität berechtigt ist. „Aber gewiss“, wird man hier mit ohrenbetäubendem Lärm im Chor einfallen, „gibt es doch das unbezweifelbare Recht der Mehrheit, welche das unbezweifelbare Recht an das von ihr gewählte Parlament weitergibt.“ So, nun kommen wir der Sache langsam auf den Grund. Das göttliche Recht des Parlaments bedeutet letztlich das göttliche Recht der Majorität. Die Grundthese, 6 John Austin (1790  – 1859), bedeutender englischer Rechtsphilosoph, der eine an ­Hobbes angelehnte rechtpositivistische Position einnahm. Sein bekanntestes Werk, Province of Jurisprudence Determined, erschien 1832 in London, d. Hrsg.

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von der alle Gesetzgeber und Menschen gleichermaßen ausgehen, ist die, dass die Majorität über eine Macht verfügt, die ohne Grenzen ist. Das ist derzeit die Theorie, die alle ohne Beweis als selbstverständlich wahr akzeptieren. Nichtsdestotrotz wird ein kritischer Blick, so glaube ich, zeigen, dass diese gängige Auffassung nach einer radikalen Änderung ruft. Im Rahmen eines Aufsatzes über die Moral und Politik der Eisenbahnen („Railway Morals and Railway Policy“), der im Oktober 1854 in der Edinburgh Review erschien, hatte ich die Gelegenheit, am Beispiel des Gebarens staatlicher Gesellschaften das Thema „Macht der Mehrheit“ zu erörtern. Ich zitiere hier eine Passage aus diesem Aufsatz. Das ist die beste Art, zu den Schlussfolgerungen zu gelangen, die hier zu ziehen sind. „Wenn mehrere Menschen kooperieren – egal unter welchen Umständen und zu welchem Ziel –, dann hält man es im Fall auftretender Meinungsdifferenzen für gerecht, dass der Wille der Mehrheit und nicht jener der Minderheit befolgt wird. Diese Regel, so glaubt man, ist überall anzuwenden, was auch immer zu entscheiden sein mag. An dieser Überzeugung hält man so sehr fest und stellt ihre Moral auch so gut wie nie in Frage, dass allein die Anmeldung leisester Zweifel bei den meisten schon für Erstaunen sorgt. Dabei reicht bereits eine kurze Beleuchtung der Sache für den Nachweis, dass besagte Meinung nicht mehr als ein politischer Aberglaube ist. Man hat schnell ein paar Beispiele bei der Hand, die mittels einer reductio ad absurdum zeigen, dass das Recht einer Majorität ein rein bedingtes Recht ist, das nur innerhalb enger Grenzen gilt. Schauen wir uns einige dieser Beispiele an. Nehmen wir an, dass auf der Hauptversammlung einer philanthropischen Gesellschaft beschlossen wird, nicht nur Elend zu beseitigen, sondern auch Missionare einzustellen, die von Haus zu Haus ziehen, um gegen das Papsttum zu predigen. Ist es rechtmäßig, die Abonnementgelder der Katholiken, die der Gesellschaft wegen ihrer karitativen Ansichten beitraten, zu diesem Zweck zu verwenden? Nehmen wir an, dass der größte Teil der Mitglieder eines Buchclubs denkt, dass angesichts der herrschenden Umstände die Übung an der Waffe wichtiger sei als das Lesen von Büchern, und beschließt, den Zweck der Vereinigung zu ändern und die verfügbaren Einlagen zum Kauf von Schießpulver, Kugeln und Zielscheiben zu verwenden. Müsste der Rest sich an diese Entscheidung halten? Nehmen wir an, dass die Mehrheit einer Grundeigentümergesellschaft, begeistert von den Neuigkeiten aus Australien, beschließen würde, nicht nur einen Neuanfang als Goldgräber zu wagen, sondern auch das angehäufte Kapital für Ausrüstungen zu verwenden. Wäre diese Aneignung von Eigentum gegenüber der Minderheit gerecht, und muss diese an der Expedition teilnehmen? Selbst auf die erste Frage würde wohl kaum jemand mit ja antworten, und auf die anderen noch weniger. Und warum? Weil jeder erkennen muss, dass niemand durch die Vereinigung mit anderen zu Handlungen missbraucht werden kann, die dem Vereinigungszweck entgegenstehen. Jede der angenommenen Minderheiten täte gut daran, jenen, die sie zwingen wollen, entgegenzuhalten: ,Wir haben uns mit Euch zu einem bestimmten Zweck vereinigt. Wir haben Zeit und Geld in die Förderung dieses Zwecks investiert, und wir haben stillschweigend zugestimmt, dass wir in allen daraus folgenden Fragen dem Willen der Mehrheit folgen wollen. Aber wir haben nicht darin zugestimmt, dass wir uns in irgendeiner anderen Frage anpassen

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werden. Wenn Sie uns dazu bewegt haben, uns Ihnen für einen erklärten Zweck anzuschließen, und dann einem anderen Zweck nachgehen, über den man uns nichts sagte, dann haben Sie unsere Unterstützung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erhalten. Sie sind über das ausdrückliche bzw. einvernehmliche Abkommen, zu dem wir uns verpflichtet haben, hinausgegangen, weshalb wir nicht länger an ihre Entscheidungen gebunden sind.‘ Das ist eindeutig die einzige vernünftige Auslegung in dieser Sache. Das Grundprinzip, nach dem jede vereinigte Körperschaft angemessen geführt wird, ist, dass deren Mitglieder untereinander vereinbaren, dass jeder dem Willen der Mehrheit in allen Angelegenheiten zu folgen hat, die dem Erreichen jenes Zieles dienen, zu dessen Zweck man sich zusammengeschlossen hat, in allen anderen Angelegenheiten jedoch nicht. Weiter kann der Vertrag nicht reichen. Schließlich liegt es in der Natur des Vertrags, dass jene, die ihn eingehen, wissen müssen, was sie vertraglich vereinbaren. Jener, der sich mit anderen wegen einer bestimmten Sache zusammenschließt, hat dabei nicht alle sonstigen unbestimmten Dinge im Auge, die von der Vereinigung rein hypothetisch auch getan werden könnten. Daraus folgt, dass der eingegangene Vertrag nicht auf diese unbestimmten Dinge ausgedehnt werden kann. Und falls zwischen einer Vereinigung und ihren Mitgliedern kein ausdrückliches bzw. einvernehmliches Abkommen hinsichtlich unbestimmter Dinge besteht, dann ist es nichts anderes als ein grober Akt der Tyrannei, wenn die Mehrheit die Minderheit zwingt, eben diese Dinge zu tun.“

Wenn schon ein gedankliches Wirrwarr hinsichtlich der Macht der Mehrheit in dem Fall eintritt, in dem der Akt der Vereinigung die besagte Macht der Mehrheit stillschweigend einschränkt, dann muss die Verwirrung natürlich noch größer für den Fall sein, dass es einen solchen Akt der Vereinigung nicht gegeben hat. Nichtsdestotrotz gilt auch hier dasselbe Prinzip. Ich betone noch einmal die Aussage, dass die Mitglieder einer Vereinigung samt und sonders verpflichtet sind, „dass jeder dem Willen der Mehrheit in allen Angelegenheiten zu folgen hat, die dem Erreichen jenes Zieles dienen, zu dessen Zweck man sich zusammengeschlossen hat, in allen anderen Angelegenheiten jedoch nicht.“ Und ich meine damit, dass das für eine eingetragene Nation genau so gilt wie für eine eingetragene Gesellschaft. „Ja, aber“, wird man hier bestimmt einwenden, „es gab und gibt genau so wenig einen Akt, durch den sich die Mitglieder einer Nation zusammengeschlossen haben, wie eine Spezifizierung des Zwecks, zu dem die Vereinigung gebildet wurde. Also gibt es zu ihm auch keine Grenzen und mithin ist die Macht der Mehrheit unbegrenzt.“ Offensichtlich muss man zugestehen, dass die Hypothese vom Gesellschaftsvertrag in der Form, wie sie von Hobbes oder Rousseau gedacht war, keine Grundlage hat. Ja mehr noch, man muss zugestehen, dass ein solcher Vertrag, selbst wenn er einmal so zustande gekommen sein sollte, für die Nachkommen der Vertragsunterzeichner nicht bindend sein könnte. Wenn zudem jemand sagt, dass in Abwesenheit der besagten Machtbegrenzungen, die mit der Vereinigung einhergehen mögen, nichts die Mehrheit davon abhalten kann, ihren Willen der Minderheit mit Gewalt aufzuzwingen, dann muss man auch dem beipflichten – nicht aber ohne

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anzumerken, dass, wenn dies mit der höheren Gewalt der Mehrheit gerechtfertigt wird, auch die höhere Gewalt eines Despoten, dem eine Armee den Rücken stärkt, gerechtfertigt ist. Damit erübrigt sich das Problem. Wonach wir hier suchen, ist eine Art höhere Berechtigung für die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit als jene, die aus der Unfähigkeit entsteht, dem Zwang physischen Widerstand entgegenzusetzen. Sogar Austin, der sehr behutsam dabei ist, die unbezweifelbare Autorität des positiven Rechts ins Leben zu rufen, und einen absoluten Souverän – sei er monarchisch, aristokratisch, verfassungsgemäß oder vom Volk ausgehend – voraussetzt, muss letztlich zugestehen, dass dem Souverän bei seinen die Gemeinschaft betreffenden Entscheidungen moralische Grenzen gesetzt sind. Während er mit Blick auf seine rigide Souveränitätstheorie bekräftigt, dass eine aus dem Volk hervorgehende souveräne Körperschaft „legal die Freiheit hat, die politische Freiheit der Menschen nach eigenem Gusto und Gutdünken zu schmälern“, hält er es für statthaft, dass „die positive Sittlichkeit eine Regierung davon abhalten darf, die politische Freiheit, die sie ihren Untertanen lässt oder gewährt, zu schmälern.“7 Wir haben also mit Blick auf die angeblich absolute Macht der Mehrheit nicht nach einer physischen Rechtfertigung Ausschau zu halten, sondern nach einer moralischen Rechtfertigung. Gleichzeitig wird aber auch das eine Erwiderung auf den Plan rufen: „Natürlich ist die Macht der Mehrheit angesichts eines fehlenden Übereinkommens mit den entsprechenden Einschränkungen unbegrenzt, weil es gerechter ist, dass es nach dem Willen der Mehrheit geht als nach dem der Minderheit.“ Das scheint eine sehr vernünftige Erwiderung zu sein, doch nur solange, bis man die Widerrede darauf hört. Man kann nämlich hier die ebenfalls vertretbare Position entgegnen, dass angesichts eines fehlenden Übereinkommens die Vorherrschaft der Mehrheit über die Minderheit gar nicht existiert. Macht und Verpflichtung von Mehrheit und Minderheit gehen aus einer Form von Kooperation hervor. Gibt es zu dieser Kooperation kein Abkommen, dann gibt es auch keine entsprechende Macht und Verpflichtung. Das Argument mündet also offensichtlich in eine Sackgasse. So wie die Dinge liegen, kann man weder die Souveränität der Majorität, noch deren Begrenzung auf einen moralischen Ursprung zurückführen. Betrachtet man die Sache aber etwas genauer, dann zeichnet sich eine Lösung des Problems ab. Wenn man nämlich den Gedanken an eine hypothetische Abmachung zur künftigen Kooperation aufgibt und stattdessen fragt, welcher Vereinbarung die Bürger wohl jetzt einmütig zustimmten, dann erhalten wir eine hinreichend klare Antwort, und damit auch ein hinreichend klare Rechtfertigung der Majoritätsregel innerhalb einer bestimmten Sphäre und nicht außerhalb derselben. Zunächst wollen wir einige Begrenzungen betrachten, die sofort offenkundig werden. Würden jetzt alle Engländer gefragt werden, ob sie zum Zweck des Religionsunterrichts kooperierten und der Mehrheit die Macht gäben, die Religion und die Form der Huldigung festzulegen, dann würden die meisten mit einem entschiede7 

Austin, The Province of Jurisprudence Determined, S. 241.

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nen „Nein“ antworten. Wenn man vorschlüge, die Luxusgesetze wiederzubeleben, und fragte, ob sie sich verpflichteten, dem Willen der Mehrheit hinsichtlich Mode und Qualität der Kleidung zu folgen, dann würden wohl alle dieses Ansinnen ablehnen. Oder nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Wenn man die Menschen befragen würde, ob sie in Bezug auf die Getränke, die sie zu sich nehmen, die Entscheidung der größten Zahl akzeptieren würden, dann würde in ähnlicher Weise bestimmt die Hälfte der Befragten, wenn nicht gar mehr, dazu nicht bereit sein. Das Gleiche gilt mit Blick auf viele andere Handlungen, welche die meisten Menschen heutzutage als reine Privatsache ansehen. Wie auch immer der Wunsch nach Kooperation aussehen mag, um solche Handlungen wie gewohnt ausüben zu können oder sie zu regulieren, er dürfte alles andere als einstimmig sein. Wenn die gesellschaftliche Kooperation von uns selbst fortgesetzt und ihr Ziel spezifiziert werden müsste, bevor der Konsens zur Kooperation herbeigeführt wird, dann würde für viele Bereiche des menschlichen Handelns die Kooperation abgelehnt werden. Folglich könnte in diesen Bereichen die Autorität der Mehrheit über die Minderheit nicht greifen. Und nun kommen wir zur umgekehrten Frage: Für welche Ziele würden alle Menschen der Kooperation zustimmen? Niemand wird bestreiten, dass die Abstimmung praktisch einmütig wäre, wenn es um den Widerstand gegen eine Invasion ginge. Mit Ausnahme der Quäker, die zu ihrer Zeit eine nützliche Aufgabe verrichtet haben und nun am Aussterben sind, würden sich alle für einen Verteidigungskrieg zusammenfinden (gleichwohl nicht für einen Angriffskrieg) und dabei stillschweigend dazu verpflichten, dem Willen der Mehrheit in Bezug auf die zielführenden Maßnahmen zu folgen. Praktisch einmütig würde man auch dann Kooperation vereinbaren, wenn es darum ginge, interne Feinde genauso abzuwehren wie externe Feinde. Abgesehen von Kriminellen, wünschen doch alle, dass ihre Person und ihr Eigentum angemessen geschützt sind. Jeder Bürger sehnt sich danach, sein Leben und die Dinge zu schützen, die dazu führen, dass das Leben und die Freude an ihm erhalten bleiben. Und er will seine Freiheit, diese Dinge zu nutzen und sie zu mehren, schützen. Ihm ist klar, dass er all dies nicht bewirken kann, wenn er nur auf sich gestellt handelt. Gegen äußere Eindringlinge ist er machtlos, wenn er sich nicht mit seinen Mitmenschen verbündet. Das Unterfangen, sich vor inneren Feinden zu schützen, wäre gleichermaßen mühsam, gefährlich und ineffizient, wenn er sich nicht in ähnlicher Weise mit anderen zusammentäte. Darüber hinaus sind alle noch an einer anderen Kooperation interessiert, nämlich der Nutzung des Landes, das sie bewohnen. Hätte das ursprüngliche Gemeinschaftseigentum in seiner Form überlebt, dann hätte auch die ursprüngliche Form der gemeinschaftlichen Kontrolle bezüglich der Landnutzung durch Einzelne oder Gruppen die Zeit überstanden. Außerdem würden die Entscheidungen der Mehrheit hinsichtlich der Modalitäten, nach denen die einzelnen Landstriche für den Anbau von Nahrungsmitteln, das Anlegen von Verkehrswegen und zu sonstigen Zwecken genutzt werden, zu Recht weiterhin maßgeblich sein. Auch heute noch und obwohl die Sache wegen der Zunahme an privatem Grundbesitz komplizierter geworden ist, ist der Staat immer noch der Haupteigentümer (da jeder Grundbesitzer rechtlich ein Mieter der Krone ist) und in der Lage, den Besitz wieder an sich zu reißen oder einen Zwangserwerb

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zu einem fairen Preis zu autorisieren. Das impliziert, dass der Wille der Mehrheit immer noch gilt, und zwar hinsichtlich der Art und der Bedingungen, nach denen Teile der Erdoberfläche und deren obere Schichten genutzt werden dürfen, was wiederum bestimmte Arrangements erfordert, die im Auftrag der Öffentlichkeit mit privaten Personen und Gesellschaften getroffen werden. Auf die Details können wir hier verzichten; auch auf die Erörterung des Grenzbereiches, der zwischen diesen zwei Klassen von Fällen liegt; und auf große Worte dazu, was die erste Fallklasse noch einschließt und die zweite Fallklasse schon ausschließt. Für unsere Zwecke ist es ausreichend, zu erkennen, dass es zweifellos viele Handlungsarten gibt, bei denen die Menschen, wenn sie gefragt würden, auch nicht annäherungsweise einhellig darin übereinstimmten, dem Willen der Mehrheit verpflichtet sein zu wollen, während sie im Hinblick auf andere Handlungsarten nahezu einstimmig übereinkämen, sie sollten derart verpflichtet sein. Hierin finden wir also eine definitive Berechtigung dazu, den Willen der Majorität innerhalb bestimmter Grenzen durchzusetzen, und eine Berechtigung dazu, diesem Willen jenseits dieser Grenzen die Autorität abzusprechen. Bei näherer Betrachtung wirft diese Frage allerdings eine andere Frage auf: Was sind die jeweiligen Ansprüche des Ganzen und die seiner Teile? Stehen die Gemeinschaftsrechte generell über denen des Individuums? Oder hat das Individuum einige Rechte, die Vorrang vor denen der Gemeinschaft genießen? Das Urteil in dieser Frage ist grundlegend für das Gesamtgefüge an politischen Überzeugungen und insbesondere für die Überzeugungen hinsichtlich dessen, was der Sache nach zum Staat gehören sollte. An dieser Stelle nun schlage ich vor, eine in Vergessenheit geratene Kontroverse wiederzubeleben, in der Hoffnung, zu einer anderen Schlussfolgerung zu gelangen als zu jener, die gerade schick ist. Professor Jevons8 schreibt in seinem Buch The State in Relation to Labour: „Als erstes müssen wir uns von der Vorstellung befreien, dass es in gesellschaftlichen Angelegenheiten so etwas wie abstrakte Rechte gäbe.“ Der Glaube, den Matthew Arnold in seinem Aufsatz über das Urheberrecht zum Ausdruck bringt, ist aus dem gleichen Holz geschnitzt: „Ein Autor hat kein natürliches Recht an seinen Erzeugnissen. Aber er hat auch kein natürliches Recht an irgendetwas, das er herstellt oder erwirbt.“9 Ich las auch neulich in einem hoch angesehenen Wochenjournal, dass „es eine philosophische Verschwendung ist, erneut zu erklären, warum es so etwas wie ein ‚natürliches Recht‘ nicht gibt.“ Die in diesen Auszügen ausgedrückten Ansichten werden in der Regel von Politikern und Anwälten in einer Weise nachgeplappert, die nahelegt, dass nur die gedankenlosen Massen anderer Meinung wären. 8  William Stanley Jevons (1835 – 1882), englischer Ökonom und ein führender Pro­ tagonist der Grenznutzentheorie. Sein Buch The State in Relation to Labour erschien 1882 in London, d. Hrsg. 9  Fortnightly Review, 1880, Band XXVII, S. 322. (Matthew Arnold (1822 – 1888), seinerzeit ein berühmter englischer Dichter, lehrte Dichtung in Oxford, d. Hrsg.)

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Man hätte vielleicht erwartet, dass Äußerungen in diesem Sinne weniger dogmatisch dargebracht würden, wissend, dass eine ganze Schule von Rechtsgelehrten auf dem Festland eine Meinung vertritt, die der von der englischen Schule vertretenen diametral entgegengesetzt ist. Die Idee des Naturrechts bildet die Wurzel der deutschen Rechtslehre. Was man auch immer über die deutsche Philosophie im allgemeinen denken mag, man kann sie wohl kaum oberflächlich nennen. Die zeitgenössische Lehrmeinung eines Volkes, das sich gegenüber allen anderen als das Volk von unermüdlichen Nachfragern auszeichnet und bestimmt nicht mit oberflächlichen Denkern in einen Topf zu werfen ist, sollte nicht einfach als etwas abgetan werden, das nichts weiter ist als ein populärer Irrtum. Das aber nur am Rande. Mit der These, die in den oben genannten Zitaten verneint wird, geht eine bejahte Gegenthese einher. Schauen wir, was sie besagt und was ihr folgt, wenn wir sie hinterfragen und nach ihrer Berechtigung suchen. Wenn wir uns Bentham zuwenden, dann finden wir bei ihm diese Gegenthese offen ausgesprochen. Bentham sagt, dass der Staat seine Aufgabe wahrnehme, „indem er Rechte schafft, die er den Individuen überträgt; persönliche Schutzrechte, Rechte zum Schutz der Ehre, Eigentumsrechte, usw.“10 Wenn diese Doktrin so aufgestellt würde wie die folgende vom göttlichen Recht der Könige, dann wäre nichts offenkundig Ungereimtes an ihr. Käme sie aus dem alten Peru zu uns, wo der Inka „die Quelle war, aus der alles fließt“11, oder aus Shoa (Abessinien), wo „er (der König) der absolute Herrscher über die Menschen und die weltlichen Dinge ist“12 , oder aus Dahomey, wo „alle Menschen Sklaven des Königs sind“13, dann wäre sie in hinreichendem Maße schlüssig. Aber Bentham, der weit davon entfernt war, ein Absolutist wie Hobbes zu sein, schrieb im Sinne der Volksherrschaft. In seinem Constitutional Code14 legt er die Souveränität in das ganze Volk. Er argumentiert dabei, es sei das Beste, „die souveräne Macht dem größtmöglichen Teil derer anzuvertrauen, deren größtes Glück das eigentliche, auserwählte Ziel ist“, weil „dieser Anteil passender ist als jeder andere, den man vorschlagen könnte“, um das Ziel zu erreichen. Man beachte, was passiert, wenn wir diese beiden Doktrinen miteinander verknüpfen. Das souveräne Volk bestellt gemeinsam seine Repräsentanten und kreiert so eine Regierung. Die so geschaffene Regierung erzeugt Rechte, und nachdem sie Rechte erschaffen hat, überträgt sie diese den jeweiligen Mitgliedern jenes souveränen Volkes, durch das sie selbst erschaffen wurde. Hier haben wir ein herrliches Beispiel für ein politisches Zauberstück! Herr Matthew Arnold, der in dem oben 10 

Bowring, Bentham’s Works, Band I, S. 301. Prescott, Conquest of Peru, Buch I, Kap. I. (William Hickling Prescott (1796 – 1859), amerikanischer Historiker, d. Hrsg.) 12  Harris, Highlands of Æthiopia, II, S. 94. (William Cornwallis Harris (1807 – 1848) war ein weitgereister englischer Militäringenieur, d. Hrsg.) 13  Burton, Mission to Gelele. King of Dahome, I. S. 226. (Richard Francis Burton (1821 – 1890), britischer Afrikaforscher, d. Hrsg.) 14  Bowring, Bentham’s Works, Band IX, S. 97. 11 

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zitierten Artikel ausführt, dass „Eigentum eine Schöpfung des Rechts ist“, warnt uns vor dem „metaphysischen Phantom des Eigentums an sich“. Unter all den metaphysischen Phantomen ist aber ganz gewiss jenes das schleierhafteste, das meint, man erhalte ein Ding, indem man einen Agenten erschafft, der das Ding kreiert und es dann an seinen eigenen Schöpfer übergibt! Von welcher Warte aus auch immer wir es betrachten, Benthams Behauptung erweist sich als undenkbar. Der Staat, sagt er, nimmt seine Aufgabe wahr, „indem er Rechte schafft“. Dem Word „schaffen“ kann man zwei Bedeutungen unterstellen. Man kann damit die Schöpfung einer Sache aus dem Nichts meinen, oder man kann damit meinen, dass man einer bereits bestehenden Sache eine Form oder Struktur gibt. Es gibt viele, die meinen, dass das Schöpfen aus dem Nichts nicht gedacht werden könne; nicht einmal eine Allmacht könne so etwas bewirken. Und wahrscheinlich gibt es niemanden, der behaupten wollte, dass eine Schöpfung aus dem Nichts im Rahmen dessen liege, was einer menschlichen Regierung möglich ist. Alternativ dazu kann man aber auch meinen, dass eine Regierung in dem Sinne etwas schafft, dass sie etwas zuvor Existierendes formt. In diesem Fall stellt sich die Frage: „Was ist dieses etwas, das sie formt?“ Mit dem Wort „schaffen“ mogelt man sich aus der Sache heraus und setzt den unbedarften Leser einer Illusion aus. Wenn es um die Bestimmtheit von Ausdrücken ging, war Bentham ein Pedant, und sein Buch über Fehlschlüsse (Book of Fallacies15) hat eigens ein Kapitel über Hochstaplerbegriffe („Impostor-terms“). Es ist kurios, dass gerade er ein vortreffliches Beispiel für jene pervertierenden Meinungen liefern sollte, die ein Hochstaplerbegriff hervorbringen kann. Doch über diese diversen unmöglichen Denkfiguren wollen wir nun hinwegsehen und nach jener Interpretation der Benthamschen Auffassung suchen, die sich am ehesten verteidigen lässt. Man könnte sagen, dass die Gesamtheit aller Mächte und Rechte ursprünglich als ein ungeteiltes Ganzes beim souveränen Volk liege und dass dieses ungeteilte Ganze zu treuen Händen (wie Austin gesagt hätte) der herrschenden und vom souveränen Volk bestellten Macht anvertraut sei, und zwar zum Zwecke der Verteilung. Wenn, wie wir gesehen haben, die Aussage, dass Rechte geschaffen werden, einfach eine Sprachfigur ist, dann ist die einzig sinnvolle Interpretation von Benthams Auffassung die, dass eine Menge von Individuen – die, jedes Individuum für sich, ihre Wünsche befriedigen wollen, als Gesamtheit über alle Mittel der Befriedigung verfügen und die Macht über alle individuellen Handlungen haben – die Regierung einsetzt, welche festlegt, wie und unter welchen Bedingungen die Individuen handeln und ihre Befriedigung erzielen dürfen. Schauen wir nun, was dies impliziert. Jeder existierende Mensch nimmt zwei Funktionen wahr. In seiner Eigenschaft als Privatmensch ist er Untertan der Regierung. In seiner Eigenschaft als öffentlicher Mensch ist er eine der souveränen Personen, welche die Regierung einsetzen. Das heißt, in seiner Eigenschaft als Privatmensch ist er einer jener, an den die Rechte 15 

Erschienen 1824 in London, d. Hrsg.

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vergeben werden; und in seiner Eigenschaft als öffentlicher Mensch ist er eine der Personen, die Rechte vergeben. Machen wir nun aus dieser abstrakten Aussage eine konkrete Aussage, und schauen wir, was diese dann bedeutet. Nehmen wir an, eine Gemeinschaft besteht aus 1 Million Personen, die, so nehmen wir weiter an, nicht nur gemeinschaftlich im Besitz der bewohnten Region sind, sondern auch gemeinschaftlich im Besitz aller Freiheiten, zu handeln und sich etwas anzueignen. Das einzige anerkannte Recht ist dabei das Recht der Menge auf alles. Was folgt nun? Keine der Personen besitzt irgendetwas von dem, das sie durch ihre Arbeit erzeugt, sondern hat als Teil der souveränen Körperschaft die Eigentümerschaft über ein Millionstel der von allen Personen geschaffenen Produkte. Diese Implikation ist nicht zu umgehen. Da die Regierung aus Sicht Benthams ein Agent ist, sind die Rechte, die sie überträgt, Rechte, die ihr vom souveränen Volk anvertraut sind. Falls dem so ist, müssen die Rechte en bloc im Besitz des souveränen Volkes sein, bevor die Regierung sie als Treuhänder an die Individuen weiterreicht. Und wenn dem so ist, dann hat jedes Individuum ein Millionstel dieser Rechte in seiner Eigenschaft als öffentliche Person und keine Rechte in seiner Eigenschaft als private Person. Als Privatperson bekommt es diese erst, wenn der Rest der Million sich mit ihm zusammentut, um es damit auszustatten! Wie wir es auch drehen und wenden, Bentham lässt uns mit seiner These in einem Wirrwarr an Absurditäten zurück. Benthams Schüler mochten ihre Gründe dafür gehabt haben, mit der Naturrechtsdoktrin nicht ganz so sorglos umzugehen, gleichwohl sie die Auffassungen der deutschen und französischen Rechtsgelehrten ignorierten und eine Analyse ihrer Position deren Unhaltbarkeit ergäbe. Allerlei Arten von gesellschaftlichen Phänomenen zeigen zusammengenommen, dass diese Doktrin sehr wohl ihre Berechtigung hat, während die von ihnen dagegengesetzte Lehrmeinung diese Berechtigung nicht hat. Die Stämme in allen Ecken dieser Welt zeigen uns, dass sie ihr Verhalten durch Gebräuche geregelt hatten, lange bevor konkrete Staaten entstanden sind. Die Bechuaner16 werden von „altbewährten Bräuchen“ gelenkt.17 Bei den Koranna-Hottentotten, die „ihre Häuptlinge nur tolerieren, ohne ihnen zu folgen“18, „scheint jeder Mann das zu tun, was er für richtig hält, sofern er damit nicht gegen alte 16  Einwohner Bechuanas, einer Provinz im Süden Afrikas, dem heutigen Botswana, d. Hrsg. 17  Burchell, Travels into the Interior of Southern Africa, Band I, S. 544. (William John Burchell (1781 – 1863), vielseitiger Entdeckungsreisender, erkundete insbesondere Südafrika, d. Hrsg.) 18  Arbousset/Daumas, Voyage of Exploration, S. 27. (Thomas Jean Arbousset (1810 – 1877) wirkte wie sein Kollege Francois Daumas als französischer Missionar. Beide gelten als Entdecker des Quellgebiets des Oranje, der im Hochland von Lesotho entspringt und an der Westküste Afrikas ins Meer mündet, d. Hrsg.)

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Gepflogenheiten verstößt.“19 Die Araukaner20 halten sich „ausschließlich an ihre uralten Gebräuche und stillschweigenden Konventionen“.21 Bei den Kirgisen fällen die Ältesten ihre Urteile aufgrund der „allgemein anerkannter Sitten.“22 Zu den Dajaks23 schreibt Rajah Brooke Ähnliches, nämlich, dass „Brauchtum scheinbar einfach zum Gesetz geworden ist und daher ein Bruch mit den Bräuchen eine Strafe nach sich zieht.“24 Dem Urmenschen sind die Gebräuche so heilig, dass er nicht im Traum daran denkt, ihre Autorität in Frage zu stellen. Und wenn ein Staat entsteht, dann ist seine Macht durch sie begrenzt. Auf Madagaskar gilt das Wort des Königs nur dort, „wo es kein Gesetze, kein Bräuche oder Präzedenzfälle gibt.“25 Raffles berichtet uns, dass auf Java „die Sitten des Landes“26 die Macht des Herrschers einschränken. Auch auf Sumatra gestatten die Menschen ihren Häuptlingen nicht, „ihre alten Sitten zu ändern.“27 Es kam sogar vor, wie in Ashanti28, dass „der Versuch, einige der Sitten zu ändern“, den König den Thron kostete.29 Zu jenen Gebräuchen, die vorstaatlich sind und denen die staatliche Macht, sobald sie eingerichtet ist, untersteht, gehören auch solche, die bestimmte individuelle Rechte dulden – das Recht, auf bestimmte Weise zu handeln und bestimmte Dinge zu besitzen. Selbst dort, wo die Wertschätzung von Eigentum nur schwach entwickelt ist, gibt es Eigentum an Waffen, Werkzeugen und persönlichem Schmuck. Im Allgemeinen geht die Anerkennung von Eigentum jedoch weit darüber hinaus. Bei

19  Thompson, Travels and Adventures in Southern Africa, Band II. S. 30. (George Thompson (1796 – 1889) war ein englischer Geschäftsmann und Entdeckungsreisender, d. Hrsg.) 20  Indianervolk im heutigen Süden Mittelchiles und Westargentiniens, d. Hrsg. 21  Thompson, Alcedo’s Geographical and Historical Dictionary of America, Band I, S. 405. 22  Michie, Siberian Overland Route, S. 248. (Alexander Michie (1833 – 1902), Geschäftsmann und Entdeckungsreisender, war unter anderem Korrespondent der Times, für die er über den Krieg zwischen Japan und China berichtete, d. Hrsg.) 23  Stamm auf der Insel Borneo, d. Hrsg. 24  Brooke, Ten Years in Sarawak, Band I, S. 129. (Charles Johnson Brooke (1829 – 1917), folgte seinem Vater als Herrscher im Königreich Sarawak an der Nordküste Borneos, d. Hrsg.) 25  Ellis, History of Madagascar, Band I, S. 377. (William Ellis (1794 – 1872) wirkte als englischer Missionar 5 Jahre auf Madagaskar, d. Hrsg.) 26  Raffles, History of Java, I, S. 274. (Thomas Stamford Raffles (1781 – 1826), Gründer Singapurs, wirkte zeitweise als Gouverneur von Java, d. Hrsg.) 27  Marsden, History of Sumatra, S. 217. (William Marsden (1754 – 1832) war ein englischer Orientalist, erforschte vor allem Indonesien. Die History of Sumatra von 1784 war sein Hauptwerk, d. Hrsg.) 28  Region im heutigen Ghana, d. Hrsg. 29  Beecham, Ashantee and the Gold Coast, S. 90. (John Beecham (1787 – 1856) war ein englischer Methodistenprediger. Sein Buch über Ashanti und die Goldküste erschien 1841 in London, d. Hrsg.)

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den Indianern Nordamerikas, wie z. B. bei den Snakes30, die keinen Staat kennen, gehören Pferde zum Privateigentum. Bei den Chippewaern 31, „die keine reguläre Regierung haben“, wird die Beute beim Fallenstellen „als Privateigentum betrachtet“.32 Ähnlich geartete Tatsachen in Bezug auf Hütten, Utensilien und andere persönliche Gegenstände könnten hier als Beleg aus anderen Berichten über die Aht33, Komantschen, Eskimos und die Indianer Brasiliens herangezogen werden. Unter vielen unzivilisierten Völkern hat sich durch Brauch durchgesetzt, dass der, der ein Stück Land urbar macht, Anspruch auf das dort wachsende Korn hat, wenn auch nicht auf das Land selbst. Auch die Todas34, die gar nicht politisch organisiert sind, treffen bezüglich des Eigentums an Vieh und Land eine ähnliche Unterscheidung. Kolffs Ausführungen zu den „friedfertigen Arafuras“ bringen dies schön auf den Punkt. Sie „anerkennen das Eigentumsrecht in vollem Umfang, wobei es unter ihnen, den Sitten der Vorväter entsprechend, keine andere Autorität gibt als der Rat der Ältesten.“35 Wer nicht bei den unzivilisierten Völkern nach Belegen suchen will, der wird in der Frühzeit der zivilisierten Völker fündig. Bentham und seine Schüler scheinen vergessen zu haben, dass unser eigenes Common Law hauptsächlich eine Verkörperung der „Gebräuche im Königreich“ ist. Es hat genau dem eine definite Form gegeben, was es bereits als gegeben vorgefunden hat. Wahrheit und Fiktion verhalten sich hier also genau anders herum als gedacht. Tatsache ist, dass Eigentum lange bekannt war, bevor das Gesetz existierte. Fiktion ist, dass „Eigentum eine Erfindung des Gesetzes ist“. Die Autoren und Staatsmänner, die sich so hochmütig dazu herablassen, die unwissende Masse zu instruieren, hätten selbst eine Unterweisung bitter nötig. Aber auch einige anders gelagerte Überlegungen hätten ihnen schon sagen müssen, dass es Zeit ist, innezuhalten. Wenn denn der Staat tatsächlich, wie Bentham behauptet, seine Aufgabe wahrnähme, „indem er Rechte schafft, die er den Individuen überträgt“, dann würde daraus folgen, dass es unter den Rechten, die von den unterschiedlichen Landesregierungen übertragen werden, so etwas wie Einheitlichkeit nicht einmal annäherungsweise geben dürfte. Wenn es keinen maßgebenden Grund gäbe, nach dem sich ihre Entscheidungen richten, dann wäre es um ein Vielfaches wahrscheinlicher, dass ihre Entscheidungen sich kaum ähnelten. In Wahrheit gibt es aber sehr große Übereinstimmungen. Egal, wohin wir sehen, 30 

Weitverbreitetes Indianervolk, besser bekannt als Schoschonen, d. Hrsg. Indianerstamm am nordamerikanischen Obersee, d. Hrsg. 32  Schoolcraft, Expedition to the Sources of the Mississippi River, V, S. 177. (Henry Rowe Schoolcraft (1793 – 1864), amerikanischer Geograph und Geologe, d. Hrsg.) 33  Gemeint sind wohl die Tla-o-qui-aht, ein indianisches Volks auf der kanadischen Vancouver-Insel, d. Hrsg. 34  Stamm im Südwesten Indiens, d. Hrsg. 35  Kolff, Voyage of the Dourga, S. 161. (Dirk Hendrick Kolff (1800 – 1843) unternahm als niederländischer Marineoffizier mit dem Kriegsschiff Dourga Reisen zu den Molukken und nach Neuguinea, um die Inseln der Arafurasee zu erkunden. Sein Buch wurde bei George Windsor Earl ins Englische übersetzt und erschien 1840 in London, d. Hrsg.) 31 

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in allen Ländern verbieten die Regierungen bestimmte Formen der Aggression und erkennen dementsprechend bestimmte Formen von Ansprüchen an. Für gewöhnlich verbieten sie Mord, Diebstahl und Ehebruch und sichern somit ihren Bürgern zu, dass man sie vor bestimmten Eingriffen schützt. Im Zuge der gesellschaftlichen Fortentwicklung werden auch die kleinen individuellen Ansprüche geschützt, indem man ihnen im Fall von Vertragsbruch, Verleumdung, Falschaussage usw. Entschädigungen gewährt. Einfach ausgedrückt, Vergleiche zeigen, dass die Gesetzbücher zwar in Einzel- und Detailfragen voneinander abweichen, aber im Grundsätzlichen übereinstimmen. Und was zeigt das? Nun, es kann kein Zufall sein, dass sie derart übereinstimmen. Sie stimmen überein, weil die angebliche Schöpfung von Rechten nichts anderes war als deren formale Billigung und eine genauere Festlegung und Anerkennung jener Ansprüche, die naturgemäß aus den einzelnen Wünschen der Menschen hervorgehen, die miteinander von Angesicht zu Angesicht leben müssen. Die vergleichende Soziologie legt noch eine weitere Gruppe von Tatsachen offen, die zur selben Schlussfolgerung führen. Mit dem gesellschaftlichen Fortschritt wird es zunehmend die Sache des Staates, die Rechte der Menschen nicht nur formal zu billigen, sondern auch vor Angreifern zu verteidigen. Lange bevor es den Staat als Dauereinrichtung gab – und teilweise auch noch lange, nachdem er sich schon recht weit fortentwickelt hatte –, stand jeder (oder dessen Familie) für seine Rechte selbst ein und sicherte sie. Bei den Urvölkern unserer Zeit, den zivilisierten Völkern früherer Tage und auch in einigen derzeit unsicheren Teilen Europas ist die Ahndung von Mord gleichermaßen reine Privatsache. Die „heilige Pflicht der Blutrache“ fällt immer auf jemanden aus dem Kreis der Verwandten. Gleiches gilt für die Kompensation bei Übergriffen auf das Eigentum und Rechtsverletzungen anderer Art: In den frühstaatlichen Phasen der Gesellschaft wurden sie von jedem Einzelnen oder der Familie eigenständig eingefordert. Doch je mehr sich die Gesellschaft organisiert, desto mehr garantiert die herrschende Macht dem Einzelnen, dass seine persönliche Sicherheit und die seiner Besitztümer gewahrt bleiben und, bis zu einem gewissen Grade, dass er seine auf Verträge gründenden Ansprüche geltend machen kann. Ursprünglich war die Staatsführung fast ausschließlich mit der Verteidigung der Gesellschaft als Ganzes vor anderen Gesellschaften befasst, oder damit, gegen andere Gesellschaften zu Felde zu ziehen. Inzwischen haben sie aber mehr und mehr auch die Aufgabe übernommen, die einzelnen Individuen voreinander zu schützen. Man muss nur an die Zeit zurückdenken, als es noch üblich war, dass die Menschen Waffen bei sich trugen, und sich vor Augen halten, dass die Sicherheit von Mensch und Besitz heutzutage durch eine verbesserte Polizeiverwaltung zugenommen hat, oder an die Möglichkeiten denken, die es heute gibt, um sich von kleinen Schulden wieder erholen zu können, um zu erkennen, dass man es mehr denn je für die Pflicht des Staates hält, jedermann die Gewissheit zu geben, dass er seine Lebensziele ungehindert verfolgen kann, solange er die Anderen nicht daran hindert, Gleiches zu tun. Anders gesagt, mit dem gesellschaftlichen Fortschritt geht nicht nur eine umfassendere Anerkennung dessen einher, was wir natürliche Rechte nennen, sondern auch eine verbesserte Umsetzung derselben

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durch den Staat. Der Staat wird mehr und mehr zum Diener dieser grundlegenden Voraussetzungen individuellen Wohlergehens. Damit eng verbunden ging eine noch weitaus bedeutendere Änderung einher. Als in der Frühphase der Staat daran scheiterte, den Einzelnen vor Angriffen zu schützen, war er selbst in vielfältiger Weise ein Aggressor. Jene alten Reiche, die entwickelt genug waren, um Aufzeichnungen zu hinterlassen, und allesamt Eroberungsgesellschaften waren, hinterließen überall die Spuren der Militärherrschaft. So wie die effektive Organisierung von Kampfverbänden erfordert, dass die Soldaten unbedingten Gehorsam leisten und nur dann eigenständig handeln dürfen, wenn man es ihnen befiehlt, so erfordert auch die effektive Organisierung von Kampfgesellschaften, dass die Bürger ihre Individualität unterordnen. Öffentliche Ansprüche gehen vor privaten Ansprüchen, und der Untertan verliert viel von seiner Handlungsfreiheit. Eine Folge davon ist, dass die systematische Reglementierung, die sowohl die Gesellschaft als auch die Armee durchzieht, eine detaillierte Verhaltensregulierung verursacht. Die Befehle des Herrschers, versehen mit dem Segen des göttlichen Vorfahren, bleiben von jedweder Idee individueller Freiheit unbehelligt. Und sie konkretisieren die Handlungen des Menschen bis ins Endlose – bis hin zu dem, was gegessen werden darf, wie die Speisen zuzubereiten sind, der Bart zu schneiden ist, die Kleider zu säumen sind und das Korn gesät werden soll, usw. Die allgegenwärtige Kontrolle, welche die alten östlichen Reiche im allgemeinen praktizierten, war großenteils auch bei den alten Griechen an der Tagesordnung. Mit Abstand am stärksten verbreitet war sie in der militantesten aller Städte, in Sparta. Das gleiche Bild sehen wir im Europa des Mittelalters. Typisch für das chronische Kriegstreiben und die dazu passenden politischen Strukturen und Ideen, gab es kaum Grenzen für das staatliche Eingreifen. Der Landbau, die Fabriken und der Handel waren bis ins kleinste Detail reguliert. Die religiösen Vorstellungen und Gebräuche waren vorgeschrieben, und nur der Herrscher bestimmte, wer Pelz tragen durfte, Silber nutzen, Bücher herausgeben, Tauben züchten, usw., usw. Aber mit dem industriellen Wachstum und der damit einhergehenden Ablösung der Herrschaft des Status durch die Herrschaft des Vertrags und der Zunahme an geteilten Ansichten, nahm (jedenfalls bis vor kurzem, als man in Reaktion darauf wieder zum militärischen Vorgehen zurückkehrte) das Einmischen in das, was die Menschen trieben, ab. Die Gesetzgebung hörte nach und nach auf, die Bepflanzung auf den Feldern zu regulieren oder das Verhältnis von Vieh und Anbaufläche festzulegen, Herstellungsrichtlinien und Materialvorgaben zu erlassen, Löhne und Preise vorzuschreiben, Kleiderordnungen oder Spielregeln vorzugeben (Glücksspiele ausgenommen), Belohnungen und Strafen auf Im- und Exporte einzuführen, den Menschen vorzuschreiben, welcher religiösen oder politischen Auffassung sie frönen sollen, welche Verbindungen sie eingehen und welche Reisen sie unternehmen dürfen. Ich will damit sagen, dass das Recht des Bürgers auf eigenständiges Handeln sich in vielen Bereichen gegen die Anmaßungen des Staates, den Bürger zu kontrollieren, behaupten konnte. Während die Staatsmacht ihm zunehmend dabei geholfen hat, Eindringlinge aus seiner Privatsphäre, in denen er seinen Lebens-

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zielen nachging, fernzuhalten, hat sie sich selbst aus dieser Sphäre zurückgezogen. Mit anderen Worten, sie hat ihre Einmischungen verringert. Mit alledem haben wir noch lange nicht alle Arten von Tatsachen aufgeführt, die uns eine und dieselbe Geschichte erzählen. Die Rechtsverbesserungen und -reformen erzählen uns diese Geschichte auf ihre Weise neu. Gleiches gilt für die Zugeständnisse und Behauptungen jener, die diese Reformen bewirkt haben. So schreibt Professor Pollock 36: „Bereits im 15. Jahrhundert finden wir einen Richter des Common Law, der erklärte, dass die Richter in Westminster genau das tun können und werden, was auch die Bürger und Kanonisten in einem Fall unternehmen, den die bekannten Regeln nicht vorgesehen haben: Sie ersinnen eine neue Regel, die dem ‚Naturrecht, welches die Grundlage allen Rechts bildet‘, entspricht.“37 Wie gesagt, unser Gerechtigkeitssystem, das zur Wiedergutmachung der Unzulänglichkeiten des Common Law eingeführt und weiterentwickelt wurde, fußt gänzlich darauf, dass man den Menschen Ansprüche zugesteht, von denen man glaubt, dass sie über die sonstigen legalen Berechtigungen hinaus bestünden. Die Rechtsänderungen, die man von Zeit zu Zeit nach anfänglichem Widerstand vornimmt, vollziehen sich in ähnlicher Weise im Sinne der gegenwärtigen Vorstellungen darüber, was die Gerechtigkeit verlangt; Vorstellungen, die, anstatt sich vom Gesetz abzuleiten, dem Gesetz entgegenstehen. So entspringt z. B. das jüngste Gesetz, das einer verheirateten Frau das Recht auf ihre eigenen Ersparnisse einräumt, offenkundig dem Bewusstsein, dass die natürliche Verbindung zwischen der geleisteten Arbeit und der genossenen Vorteile in allen Fällen aufrechterhalten bleiben soll. Das reformierte Gesetz schuf das Recht nicht, vielmehr war es die Anerkennung des Rechts, die das reformierte Gesetz schuf. Somit belehren uns fünf in ihrer Art unterschiedliche historische Evidenzen vereint über jene Wahrheit, die sie hier dunkel andeuten, und das obwohl die Allgemeinheit recht verworrene Rechtsvorstellungen hat und die Rechte, so wie sie sind, vieles enthalten, das auszuschließen wäre. Uns bleibt nun noch, den ursprünglichen Quell jener Wahrheit zu betrachten. In einem früheren Aufsatz habe ich von dem offenen Geheimnis gesprochen, dass es kein gesellschaftliches Phänomen geben kann, das, wenn wir es von Grund auf analysieren, uns nicht zu den Gesetzen des Lebens zurückführte, und dass wir es nur dann wirklich verstehen können, wenn wir es auf die Gesetze des Lebens beziehen. Deshalb wollen wir nun diese Frage des natürlichen Rechts aus dem Bereich der Politik in den Bereich der Wissenschaft überführen, in die Wissenschaft vom Leben. Der Leser sei entwarnt: Die einfachsten und offensichtlichsten Fakten reichen hier aus. Zuerst wollen wir die allgemeinen Bedingungen des individuellen Lebens betrachten, und dann die allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens. Wir werden sehen, dass beide zur selben Erkenntnis führen.

36  37 

Frederick Pollock (1845 – 1937), bedeutender englischer Rechtsgelehrter, d. Hrsg. Pollock (1882).

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Animalisches Leben bedeutet Verschleiß. Verschleiß muss ausgebessert werden. Ausbesserung erfordert Ernährung. Ernährung wiederum bedeutet, Lebensmittel zu erbeuten. Lebensmittel kann nur bekommen, wer die Kraft hat, zuzugreifen und sich fortzubewegen. Damit diese beiden Kräfte zum Ziel führen, braucht es die Freiheit, sich ungehindert zu bewegen. Wenn Sie ein Säugetier auf engem Raum einsperren, seine Gliedmaßen zusammenbinden oder ihm das Essen wegnehmen, das es sich beschafft hat, dann werden Sie, wenn Sie den eingeschlagenen Weg beharrlich fortsetzen, irgendwann den Tod des Tieres herbeiführen. Ab einem bestimmten Punkt ist es fatal, die Einhaltung der Lebensbedingungen zu konterkarieren. Was hier für die höheren Lebewesen im allgemeinen gilt, trifft natürlich auch auf den Menschen zu. Wenn wir uns einer pessimistischen Anschauung anschließen, und damit der Schlussfolgerung, dass das Leben im allgemeinen schlecht ist und beendet werden sollte, dann gibt es keine ethische Rechtfertigung für die Handlungen, die das Leben erhalten. Die ganze Frage erledigt sich von selbst. Wenn wir uns aber eine optimistische oder melioristische Einstellung zu eigen machen; wenn wir sagen, dass das Leben im Großen und Ganzen mehr Vergnügen als Leid bereitet, dann sind diese Handlungen zur Aufrechterhaltung des Lebens gerechtfertigt. Und daraus kann man auf das Recht schließen, diese Handlungen frei ausführen zu können. Wer glaubt, das Leben sei wertvoll, impliziert, dass man die Menschen nicht von ihren lebenserhaltenden Aktivitäten abhalten darf. Mit anderen Worten, wenn man sagt, es sei „recht“, dass sie diese weiterhin ausführen, dann erhalten wir im Umkehrschluss die Aussage, dass sie „ein Recht haben“, sie weiter auszuüben. Die Idee „natürlicher Rechte“ entspringt eindeutig der Erkenntnis, dass das Leben fürwahr gerechtfertigt ist. Insofern muss es auch eine Berechtigung für die Ausführung von Handlungen, die zur Erhaltung des Lebens notwendig sind, und für jene Freiheiten und Ansprüche geben, die solche Handlungen erst ermöglichen. Obwohl dies auch für andere Kreaturen und nicht nur für den Menschen gilt, fehlt dieser zusätzlichen Behauptung die ethische Note. Eine ethische Note entsteht erst dann, wenn man zwischen dem, was der Einzelne zur Durchführung lebensbewahrender Aktivitäten tun darf und was nicht, unterscheiden kann. Diese Distinktion ergibt sich offensichtlich dann, wenn Zeitgenossen zugegen sind. Unter denen, die nah beieinander oder auch etwas entfernt voneinander wohnen, können die Taten des einen in die der anderen leicht hineinwirken. Und so lange man keinen Anhaltspunkt dafür hat, dass die einen unbegrenzt das tun dürfen, was sie wollen, während die anderen das nicht dürfen, ist eine gegenseitige Begrenzung notwendig. Die nicht-ethische Form des Rechts, Ziele zu verfolgen, geht in die ethische Form über, wenn der Unterschied zwischen Handlungen, die unter Wahrung der Grenzen ausgeübt werden können, und solchen, die nicht so ausgeführt werden können, erkannt wird. Was hier eine Konklusion apriori ist, ist eine aposteriori gewonnene Konklusion, die sich aus dem Studium der Taten der unzivilisierten Völker ergibt. In ihrer gröbsten Form ergeben sich die gegenseitigen Begrenzungen der Handlungsberei-

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che und die damit verbundenen Vorstellungen und Empfindungen aus den Beziehungen der Gruppen untereinander. Für gewöhnlich entstehen bestimmte Grenzen um das Territorium, in dem ein Stamm sein Leben bestreitet. Werden diese Grenzen nicht respektiert, dann werden sie verteidigt. Unter den im Wald lebenden Veddahs38, die sich keine politische Organisation gegeben haben, haben die Familienclans ihre eigenen Waldgebiete. Und „diese herkömmlichen Zuteilungen werden immer streng in Ehren gehalten.“39 Über die regierungslosen Völker Tasmaniens sagt man uns, dass „sämtliche ihrer Jagdgründe festgelegt sind und Durchquerer, die angegriffen werden, selbst schuld sind.“40 Die Querelen zwischen den Stämmen aufgrund gegenseitigen Eindringens in fremdes Territorium haben die Grenzen auf lange Sicht gefestigt und ihnen eine gewisse Anerkennung verschafft. Was für die bewohnte Region galt, galt auch für deren Bewohner. Ein Todesfall, den man zu Recht oder Unrecht jemandem aus der anderen Gruppe in die Schuhe schob, rief unmittelbar „die heilige Pflicht der Blutrache“ auf den Plan. Obwohl Vergeltung damit zum Dauerzustand wird, entsteht doch eine gewisse Dämpfung neuer Aggressionen. In jenen Frühphasen der zivilisierten Kulturen, in denen die Familien oder Sippen und nicht die Individuen selbst die politischen Einheiten bildeten und eben diese Familien und Clans sich und ihre Besitztümer gegenüber anderen Clans behaupten mussten, haben ähnliche Ursachen stets ähnliche Effekte hervorgebracht. Diese gegenseitigen Begrenzungen, die ihrer Natur entsprechend zwischen kleinen Gemeinschaften auftreten, treten in ähnlicher Weise auch zwischen den Individuen innerhalb einer Gemeinschaft auf. Und die Ideen und Gebräuche, die in dem einen Fall angemessen sind, sind es mehr oder weniger auch in dem anderen. Obwohl in jeder Gruppe die Tendenz herrscht, dass der Stärkere gegen den Schwächeren vorgeht, wirkt doch in den meisten Fällen das Wissen um die Nachteile, die aus dem aggressiven Verhalten resultieren, mäßigend. Bei den Urvölkern folgt auf jedes unerlaubte Betreten eine Retourkutsche. Turner sagt über die Tannesen41, dass bei ihnen die „Angst vor dem Faustrecht Ehebruch und andere Verbrechen in Schach hält.“42 Fitzroy berichtet uns, dass der Patagonier „von den anderen nicht behelligt wird, solange er seinen Nachbarn weder verletzt noch angreift.“43 Auf Verletzung stand 38 

Vedda(h)s, Eingeborene Sri Lankas, d. Hrsg. Tennent, Ceylon: an Account of the Island, &c., II, S. 440. (James Emerson Tennent (1804 – 1869) war ein irischer Politiker und Reisekundschafter. Spencer schreibt seinen Namen ,Tennant‘, d. Hrsg.) 40  Bonwick, Daily Life and Origin of the Tasmanians, S. 83. (James Bonwick (1817 – 1906) war ein australischer Historiker. Sein o.g. Buch erschien 1870 in London, d. Hrsg.) 41  Einwohner der zu den Neuen Hebriden gehörenden Insel Tanna, d. Hrsg. 42  Turner, Nineteen Years in Polynesia, S. 86. (Der Autor, George Turner (1817 – 1896) war ein britischer Missionar und Anthropologe, d. Hrsg.) 43  FitzRoy, Voyages of the Adventure and Beagle, II, S. 167. (Der Autor, Robert FitzRoy (1805 – 1865), ein britischer Marineoffizier und Meteorologe, der u.a. als Gou39 

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persönliche Vergeltung. Über die Indianer am Vaupés44 lesen wir, dass „sie nur sehr wenige Gesetze kennen. Aber was sie haben, ist die strikte Vergeltung – Aug um Aug und Zahn um Zahn.“45 Es ist offenkundig, dass das lex talionis46 dazu beiträgt, eine Unterscheidung zu etablieren, nämlich zwischen dem, was jedes Mitglied einer Gemeinschaft unbesorgt tun darf, und dem, was es nicht tun darf, und konsequenterweise Handlungen innerhalb eines gewissen Rahmens gutheißt, nicht aber Handlungen außerhalb desselben. Obwohl die Chippewaer, wie Schoolcraft schreibt, „keinen regulären Staat kennen, weil jeder Mann bei sich daheim der Herr im Hause ist, stehen sie doch mehr oder weniger unter dem Einfluss bestimmter Prinzipien, die zu ihrem allgemeinen Vorteil gereichen.“47 Eines der genannten Prinzipien ist der Respekt vor fremdem Eigentum. Die wenigen friedlichen Stämme, die entweder keine oder nur eine symbolische Regierung haben, zeigen uns sehr eindrucksvoll, wie die gegenseitigen Aktivitätsbegrenzungen die Ideen und Empfindungen hervorbringen können, die im Ausdruck „natürliche Rechte“ enthalten sind. Neben der sehr gewissenhaften Rücksicht auf die Ansprüche der anderen, die es unter den Toda 48, Santal, Lepcha, Bodo, Chakma, Jakun, Arafuras, et al. gibt, wäre auch noch der Umstand zu nennen, dass die höchst unzivilisierten Wald-Veddahs, die sich gar nicht gesellschaftlich organisiert haben, „es für vollkommen undenkbar halten, dass eine Person irgendetwas, das ihr nicht gehört, an sich nehmen darf, ihren Nachbarn schlagen oder die Unwahrheit sagen darf.“49 Analyse der Gründe und Beobachtung der Tatsachen machen also gleichermaßen klar, dass das positive Element im Recht, lebensbewahrende Aktivitäten auszuüben, aus dem Gesetz des Lebens herrührt, während das negative Element, das dem positiven Element die ethische Note verleiht, seinen Ursprung in den Bedingungen hat, die durch den gesellschaftlichen Zusammenschluss entstehen. Die angebliche Schöpfung von Rechten durch den Staat ist so weit von der Wirklichkeit entfernt, dass, umgekehrt, die Rechte, die ja größtenteils vor dem Entstehen des Staates da waren, an Deutlichkeit verlieren, je mehr der Staat sich verneur von Neuseeland fungierte, ist vor allem als Kapitän der Beagle bekannt – jenem Forschungsschiff, das Charles Darwin zu den Galapagosinseln führte, wo er die für seine Evolutionstheorie grundlegenden Erkenntnisse gewann, d. Hrsg.) 44  Rio Vaupés, Nebenfluss des Rio Negro im Norden Südamerikas, d. Hrsg. 45  Wallace, Travels on Amazon and Rio Negro, S. 499. (Der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823 – 1913) ist vor allem wegen seiner, von Darwin unabhängig entwickelten, Evolutionstheorie bekannt, d. Hrsg.) 46  Grundsatz, wonach Gleiches mit Gleichem zu vergelten ist, d. Hrsg. 47  Schoolcraft, Expedition to the Sources of the Mississippi River, V, S. 177. 48  Die Toda leben hauptsächlich in Südindien, die Santal in Nepal und Indien, die Lepcha im östlichen Himalajaraum. Die Bodo sind vor allem in Nordostindien zuhause, die Chakma in Bangladesh und Indien, und die Jakun auf der Malaiischen Halbinsel, d. Hrsg. 49  B. F. Hartshorne in der Fortnightly Review vom März 1876. Siehe auch Sirr, Ceylon and Ceylonese, II, S. 219.

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gemeinsam mit jenen militanten Aktivitäten fortentwickelt, die sowohl durch die Sklavenhaltung als auch durch die Etablierung von Rangstufen Status herstellen. Die Anerkennung von Rechten gewinnt erst dann wieder an Klarheit, wenn das Kriegswesen aufhört, chronisch zu sein, und die Macht des Staates nachlässt. Wenn wir uns statt dem Leben des Einzelnen dem Leben der Gesellschaft zuwenden, dann lehrt uns dieses dieselbe Lektion. Obwohl bei den Urvölkern die Liebe zur Gemeinschaft als Anreiz für das Leben in Gruppen ausreicht, liegt der Hauptantrieb doch im Erleben der Vorteile, die man aus der Kooperation ziehen kann. Was aber braucht es, damit Kooperation entstehen kann? Offensichtlich ist es dazu notwendig, dass jeder von denen, die sich gemeinsam anstrengen, bei der Sache gewinnt. Wenn, wie in den einfachsten Fällen, sich einige zusammentun, um etwas zu erreichen, das sie alleine nicht oder nicht so einfach erreichen könnten, dann nur unter der stillschweigenden Prämisse, dass sie entweder die Beute teilen (z. B. nachdem einige das Wild erlegt haben) oder dass, sollte nur einer die Vorteile allein einheimsen (z. B. beim Bau einer Hütte oder beim Roden eines Grundstücks), die anderen die gleichen Vorteile genießen, wenn sie an die Reihe kommen. Wenn sie, statt gemeinsam eine Sache zu erwirken, unterschiedliche Dinge herstellen; wenn also die Arbeitsteilung aufkommt, und mit ihr das Tauschen von Erzeugnissen, dann impliziert dieses Arrangement, dass jeder für das, wovon er im Überfluss hat, im Gegenzug etwas erhält, das er will und annähernd gleichwertig ist. Wenn jemand das eine übergibt, ohne das andere zu erhalten, dann wird er in Zukunft Tauschangebote ausschlagen, und man wird wieder in das unkultivierte Verhalten zurückfallen, in dem jeder alles alleine macht. Die Möglichkeit der Kooperation hängt also von der Einhaltung von Verträgen ab, von stillschweigenden wie von ausdrücklichen Verträgen. Was, wie wir gesehen haben, offensichtlich für den ersten Schritt auf dem Weg in jene industrielle Gesellschaftsform, welche die Gesellschaft am Leben erhält, gelten musste, muss mehr oder weniger für alle weiteren Schritte gegolten haben. Der militärische Organisationstypus hat zwar infolge des chronischen Krieges das System des Status geschaffen und jene vertraglichen Relationen ziemlich stark vernebelt, aber letzte gelten zum Teil auch heute noch. Sie gelten immer noch unter freien Bürgern und unter den Anführern jener kleinen Gruppen, welche die Einheit der frühen Gesellschaftsformen bilden. Bis zu einem gewissen Grad gelten sie auch innerhalb dieser kleinen Gruppen. Schließlich setzt deren Überleben als Gruppe voraus, dass die Ansprüche der Mitglieder anerkannt werden, sogar die der Sklaven, die im Gegenzug für ihre Arbeit ausreichend mit Essen und Kleidung versorgt und behütet werden. Wenn dann im Zuge abnehmender Kriege und zunehmender Handelsbeziehungen die freiwillige Kooperation die Zwangskooperation mehr und mehr verdrängt und die Fortsetzung des gesellschaftlichen Lebens im Rahmen freiwilligen Austauschs nach einer kurzen Unterbrechung langsam wieder an Boden gewinnt, dann macht diese Wiedererstarkung jene sehr durchdachte industrielle Organisationsform möglich, die eine große Nation am Leben hält.

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Je ungehinderter man Verträge schließen und je sicherer man sich ihrer Geltung sein kann, desto größer ist das Wachstum, und desto aktiver das gesellschaftliche Leben. Wenn jetzt ein Vertrag gebrochen wird, dann trifft der Schaden des Vertragsbruchs nicht mehr nur eines der beiden Individuen, die den Vertrag geschlossen haben. In einer fortschrittlichen Gesellschaft trifft der Schaden infolge Vertragsbruchs ganze Gruppen von Produzenten und Vertrieben, die dank der Arbeitsteilung entstanden sind, und am Ende schließlich jeden Einzelnen. Fragen wir uns doch mal, warum Birmingham sich ganz der Herstellung von Eisenwaren verschrieben hat, oder Teile von Staffordshire der Töpferei, oder Lancashire der Leinweberei. Fragen wir uns doch mal, warum es der Landbevölkerung, die hier Weizen anbaut und Vieh züchtet, möglich ist, in ihrem Beruf Fuß zu fassen. Jede dieser Gruppen kann nur für sich arbeiten, wenn sie im Austausch für ihre eigene Überschussproduktion von den anderen Gruppen entsprechend große Anteile aus deren Überschussproduktion erhält. Die Sicherstellung ihres angemessenen Anteils an den Erzeugnissen der anderen wird indirekt durch Geld bewirkt, und nicht mehr auf dem Wege des direkten Warentauschs. Und wenn wir uns fragen, wie jede Herstellersparte den ihr gebührenden Geldbetrag erhält, dann lautet die Antwort: durch Vertragserfüllung. Wenn Leeds Wollwaren produziert und auf dem Wege der Vertragserfüllung nicht die Mittel erhält, um in den landwirtschaftlichen Regionen die notwendigen Mengen an Lebensmitteln zu kaufen, dann muss es hungern und die Fabrikation von Wollprodukten einstellen. Wenn Südwales Eisen schmilzt und keine entsprechende Vereinbarung trifft, die ihm erlaubt, Stoffe für Kleidung zu beziehen, dann muss seine Industrie schließen. So ist es überall, im Großen wie im Kleinen. Die gegenseitige Abhängigkeit der Teile, die wir in dem erkennen, wie die Gesellschaft, aber auch wie das Individuum organisiert ist, ist nur deshalb möglich, weil jedes Teil die ihm gemäße Art von Arbeit verrichtet und von den Materialien, zu deren Herstellung sich die anderen Teile zusammengefunden haben, den für Instandhaltung und Wachstum benötigten Anteil erhält, wobei dieser Anteil durch Verhandlung festgelegt wird. Außerdem wird durch die Vertragserfüllung eine Balance zwischen den verschiedenen Produkten und Bedürfnissen hergestellt – eine große Produktion an Messern und eine kleine an Lanzetten, ein großer Anbau an Weizen und ein kleiner an Senfsamen. Die Kontrolle übermäßiger Warenproduktion erfolgt mittels der Erkenntnis, dass nach Erreichen einer bestimmten Menge niemand weitere Mengen unter der Maßgabe, dass sie ihm genug Geld einbringen, abnehmen will. Auf diese Weise wird einer nutzlosen Aufwendung von Arbeit für Dinge, welche die Gesellschaft nicht will, vorgebeugt. Schließlich müssen wir noch einer weitaus bedeutenderen Tatsache Rechnung tragen: Damit eine spezialisierte Arbeitsbranche wachsen kann, wenn die Gemeinschaft mehr von ihrer Arbeit braucht, muss eine Bedingung erfüllt sein, nämlich die, dass die Verträge frei sind und ihre Einhaltung durchsetzbar ist. Nehmen wir z. B. an, Lancashire schaffte aus Mangel an Material nicht die übliche Menge an Baumwollwaren. Wenn das sich so auf die Verträge auswirkte, dass Yorkshire davon abgehalten würde, einen höheren Preis für seine Wollwaren zu verlangen, obwohl es das wegen der erhöhten Nachfrage könnte, dann gäbe es keinen An-

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reiz, mehr Kapital in die Wollindustrie zu stecken. Es gäbe dann auch keine neuen Maschinen und Stellen für Fachkräfte und keine zusätzlichen Wollwaren. In der Folge würde die ganze Gemeinschaft darunter leiden, weil die unzureichende Menge an Baumwollwaren nicht durch Wollwaren ersetzt wäre. Wie bedenklich ein Schaden sein kann, den eine Nation davonträgt, wenn ihre Mitglieder daran gehindert werden, Verträge untereinander zu schließen, zeigt sich im Vergleich der Eisenbahnen Englands und Frankreichs. In diesem Fall wurden die ersten Hürden von den tonangebenden Gruppen im Gesetzgebungsprozess aufgestellt. Dennoch waren die Hürden nicht so hoch, dass sie die Kapitalisten vom Tätigen der Investitionen, die Ingenieure von der Bereitstellung ihres Könnens oder die Baugesellschaften von der Durchführung der Arbeiten abgehalten hätten. Die hohen Zinsen, die anfänglich auf die Investitionen gezahlt wurden, die großen Profite, die den Baugesellschaften zu Gute kamen, und die umfangreichen Zahlungen, welche die Ingenieure erhielten, führten dazu, dass Geld, Energie und fachliches Können für den Eisenbahnbau abgestellt wurden, was unser Eisenbahnsystem schnell gedeihen ließ, und zwar sehr zum Vorteil unseres nationalen Wohlstands. Als damals Herr Thiers50, zu jener Zeit Bauminister, zur Visite herüberkam und zu Herrn Vignoles, der sich seiner angenommen hatte, zum Abschied sagte, „ich glaube nicht, dass eine Eisenbahn zu Frankreich passt“,51 führte eine konsequente Politik zur Verhinderung freier Verträge dazu, dass zur Zeit des Eisenbahnbaus der materielle Fortschritt in Frankreich mit einer Verzögerung von „acht bis zehn Jahren“ ankam. Was bedeuten diese Tatsachen? Zunächst einmal bedeuten sie, dass für ein gesundes Wirken und eine angemessene Aufteilung jener Industriezweige, Berufe und Tätigkeiten, die das Leben einer Gesellschaft in Gang halten und befördern, die Vertragsfreiheit der Menschen nur wenige Auflagen braucht. Zum zweiten bedeuten sie, dass die getroffenen Vereinbarungen durchsetzbar sein müssen. Wie wir sahen, entspringen die Kontrollen, die sich für das menschliche Handeln ganz natürlich ergeben, wenn Menschen untereinander Verbindungen eingehen, allein aus den gegenseitigen Begrenzungen. Folglich kann es keine zusätzliche Kontrolle jener Verträge geben, die sie freiwillig abschließen. Eingriffe in solche Verträge sind Eingriffe in jenes Recht, frei zu handeln, das jedem bleibt, solange er das Recht der anderen vollständig respektiert. Wie wir zudem gesehen haben, impliziert die Durchsetzung ihrer Rechte die Durchsetzung der von ihnen geschlossenen Verträge, da ein Vertragsbruch eine indirekte Aggression darstellt. Wenn ein Kunde auf der einen Seite des Tresens den Ladeninhaber auf der anderen Seite des Tresens um Güter im Wert von einem Schilling bittet und dann, sobald der Laden­ 50  Louis Adolphe Thiers (1797 – 1877), französischer Politiker und Historiker, 1. Staats­ präsident der 3. Republik (1871 – 73), d. Hrsg. 51  Ansprache von C. B. Vignoles, Esq., F.R.S., anlässlich seiner Wahl zum Präsidenten der Institution of Civil Engineers für die Session 1869 – 70, S. 53. (Charles Blacker Vignoles (1793 – 1875), Namensgeber der Vignol- oder Breitfußschiene, war ein bedeutender britischer Eisenbahnbauer, d. Hrsg.)

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inhaber ihm den Rücken zukehrt, den Laden mit den Waren verlässt, ohne den stillschweigend vereinbarten Schilling zurückzulassen, dann ist sein Handeln im Grunde nichts anderes als Raub. In einem solchen Fall ist das lädierte Individuum um etwas, das es besessen hat, erleichtert worden, ohne das erhandelte Gegenstück erhalten zu haben. Es hat also eine Arbeit erbracht, ohne eine Gegenleistung zu bekommen, was der Verletzung einer wesentlichen Voraussetzung für die Lebenserhaltung gleichkommt. Aus all dem folgt wiederum, dass die Anerkennung und Durchsetzung individueller Rechte zugleich auch die Anerkennung und Durchsetzung der Voraussetzung für ein normales gesellschaftliches Leben sind. Für diese beiden gibt es also eine entscheidende Bedingung. Bevor wir uns diesen Konsequenzen und deren praktischen Anwendungsfällen zuwenden, wollen wir zunächst nachvollziehen, wie die einzelnen Schlussfolgerungen in jene zu Beginn angekündigte allgemeine Schlussfolgerung münden, und zwar indem wir sie in umgekehrter Reihenfolge betrachten. Wie vorhin festgestellt, ist die Vorbedingung für das individuelle Leben auch die Vorbedingung für das gesellschaftliche Leben, und zwar in einem doppelten Sinn. Egal, welchen Sinn wir unterstellen, das Leben der Gesellschaft hängt in jedem Fall von der Bewahrung individueller Rechte ab. Wenn das Leben einer Gesellschaft nicht mehr ist als die Summe der einzelnen Bürgerleben, dann ist das offenkundig. Aber auch dann, wenn es aus jenen vielen ungleichen Aktivitäten besteht, welche die Bürger in gegenseitiger Abhängigkeit durchführen, steht und fällt es als aggregiertes, unpersönliches Leben mit der Durchsetzung bzw. Nichtdurchsetzung der individuellen Rechte. Das Studium der polit-ethischen Vorstellungen und Empfindungen, die der Mensch hat, führt zu verwandten Schlussfolgerungen. Wie uns die Urvölker unterschiedlicher Provenienz zeigen, haben ihre Gebräuche seit Menschengedenken und lange, bevor es Staaten gab, private Ansprüche anerkannt und deren Aufrechterhaltung gerechtfertigt. Die Gesetzessammlungen, die unabhängig voneinander in den einzelnen Nationen zustande gekommen sind, eint die Auffassung, bestimmte Übergriffe auf Personen, deren Eigentum und bürgerliche Freiheiten zu missbilligen. Und diese Übereinstimmungen deuten nicht auf eine künstliche Quelle für individuelle Rechte, sondern auf eine natürliche Quelle. Im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung goss man die auf Sitten gründenden Rechte in Gesetze, die immer genauer und ausgeklügelter wurden. Zur gleichen Zeit nahm sich der Staat immer mehr der Aufgabe an, diese Rechte durchzusetzen. So wurde er ein immer besserer Beschützer und gleichzeitig weniger aggressiv. Seine Eingriffe in die privaten Handlungsbereiche hatte er mehr und mehr reduziert. In jüngster Zeit wurden die Gesetze allerdings offenkundig geändert, um den gegenwärtigen Gleichheitsideen besser zu entsprechen. Die Gesetzesreformer werden also jetzt von Gleichheitsideen geleitet, die nicht vom Gesetz hergeleitet sind, sondern denen das Gesetz sich anzupassen hat.

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Wir haben hier also eine polit-ethische Theorie, die sowohl durch die Analyse als auch durch die Geschichte begründet wird. Was haben wir gegen sie einzuwenden? Sie ist eine modische Gegentheorie, rein dogmatisch, und nachweislich nicht zu rechtfertigen. Auf der einen Seite haben wir herausgefunden, dass das individuelle Leben und auch das gesellschaftliche Leben die Wahrung der natürlichen Beziehung zwischen Anstrengung und Belohnung voraussetzen. Zudem haben wir auch erkannt, dass diese natürliche Beziehung, die bereits lange vor der Existenz des Staates anerkannt wurde, sich überall immer wieder behauptet hat und in den Gesetzesbüchern und Moralsystemen stetig an Anerkennung gewonnen hat. Auf der anderen Seite werden jene, die natürliche Rechte leugnen und nicht um die Behauptung herumkommen, dass die Rechte von den Gesetzen künstlich geschaffen werden, nicht nur von den Tatsachen glänzend widerlegt. Durch ihre Behauptung werden sie auch zu Selbstzerstörern. Der Versuch, der eigenen Behauptung durch Hinterfragung Substanz zu verleihen, verstrickt sie in allerlei Ungereimtheiten. Aber das ist nicht alles. Die Wiedereinführung einer vagen populären Vorstellung in einer wissenschaftlich fundierten Form führt uns zu einer vernünftigen Betrachtung des Verhältnisses zwischen dem Willen der Mehrheit und dem der Minderheit. Dabei stellt sich heraus, dass jene Kooperationen, zu denen sich alle freiwillig zusammenfinden und bei deren Durchführung der Wille der Mehrheit zu Recht Vorrang genießt, Kooperationen zur Aufrechterhaltung der Bedingungen sind, die das individuelle und das gesellschaftliche Leben verlangen. Die Verteidigung der Gesellschaft als Ganzes gegen äußere Eindringlinge hat letztlich das Ziel, jeden Bürger zu schützen, der im Besitz von Mitteln ist, die er zur Befriedigung seiner Wünsche hat, und im Besitz der Freiheit ist, die er zum Erwerb weiterer Mittel braucht. Und die Verteidigung jedes einzelnen Bürgers gegen innere Eindringlinge, angefangen bei Mördern bis hin zu denen, die ihre Nachbarn belästigen, führt offensichtlich zum selben Ziel – einem Ziel, das jeder sich wünscht, Kriminelle und Unruhestifter ausgenommen. Für die Bewahrung dieses für das individuelle wie auch für das gesellschaftliche Leben unverzichtbaren Prinzips ist die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit legitim, sofern sie auf der Freiheit und dem Eigentum des Einzelnen nur so viel herumtrampelt, wie notwendig ist, um dessen Freiheit und Eigentum besser zu schützen. Daraus folgt auch, dass jede darüber hinausgehende Unterordnung nicht legitim ist, weil sie eine Aggression gegenüber dem Einzelnen impliziert, die größer ist als notwendig, um ihn zu schützen, und damit einen Bruch mit dem lebenswichtigen Prinzip involviert, das es zu erhalten gilt. Damit sind wir wieder bei unserer Ausgangsthese angekommen, der zufolge das vermeintlich göttliche Recht des Parlaments und das damit einhergehende Recht der Mehrheit Aberglauben sind. Die Menschen haben die alte Theorie von der Quelle der staatlichen Autorität aufgegeben, während sie den Glauben an die unbegrenzte Autorität des Staates, der zu Recht mit der alten Theorie einherging, aber zu Unrecht mit der neuen, beibehalten haben. Die unbeschränkte Macht über

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die Untertanen, die man dem Herrscher, als dieser noch für den Stellvertreter Gottes gehalten wurde, aus vernünftigen Gründen zugeschrieben hat, wird nun dem Regierungskörper zugeschrieben, den niemand für einen Stellvertreter Gottes hält. Andersdenkende werden hier vielleicht anmerken, dass der Streit über die Ursprünge und Grenzen der regierenden Autorität reine Pedanterie sei. „Die Regierung“, werden sie vielleicht sagen, „ist gehalten, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um das allgemeine Glück zu befördern. Sie muss auf die Nützlichkeit zielen und ist berechtigt, alle Mittel einzusetzen, die notwendig sind, um nützliche Ziele zu erreichen. Das Wohlergehen der Menschen ist das höchste Gesetz, und Fragen zu Ursprung und Grenzen der legislativen Macht sollen die Gesetzgeber nicht davon abhalten, diesem Gesetz gerecht zu werden.“ Öffnet sich hier ein Schlupfloch, oder kann man diese Öffnung dauerhaft schließen? Die eigentliche Frage, die sich damit stellt, ist die nach dem Wahrheitsgehalt der Utilitarismustheorie, so wie sie allgemein verstanden wird. Die Antwort, die hier zu geben ist, lautet, dass die Theorie, so wie sie allgemein verstanden wird, nicht wahr ist. Gleiches gilt auch in Bezug auf die Aussagen der utilitaristischen Moralisten und die Handlungen der Politiker, die ihnen wissentlich oder unwissentlich folgen: Es wird unterstellt, dass man die Nützlichkeit durch eine einfache Betrachtung der unmittelbaren Fakten und eine Abschätzung der wahrscheinlichen Resultate unmittelbar festlegen kann. Indes richtig verstanden impliziert der Utilitarismus die Anleitung durch die allgemeinen Schlussfolgerungen, zu denen man mittels einer Analyse der Erfahrungen gelangt. „Gute und schlechte Resultate können kein Zufall sein, sondern müssen notwendigerweise aus der Konstitution der Dinge folgen.“ „Es ist die Sache der Moralwissenschaft, aus den Gesetzen des Lebens und den Existenzbedingungen abzuleiten, welche Handlungsarten dazu neigen, Glück zu schaffen, und welche nicht.“52 Die aktuellen utilitaristischen Spekulationen bezeugen, wie die aktuelle politische Praxis auch, dass man sich über den natürlichen Ursprung nicht richtig im Klaren ist. Für gewöhnlich denkt man, dass man die Dinge so oder so machen kann, solange dem nichts offensichtlich im Weg steht. Man stellt dabei nicht die Frage, ob dies im Einklang oder Missklang mit dem steht, wie die Dinge normalerweise laufen. Die vorangegangenen Erörterungen haben m.E. gezeigt, dass die Diktate der Nützlichkeit und die entsprechenden staatlichen Handlungen nicht durch die oberflächliche Betrachtung der Tatsachen und die Mutmaßung ihrer augenscheinlichen Bedeutung festzulegen sind, sondern dadurch, dass man auf grundlegende Tatsachen zurückgreift und aus ihnen Ableitungen bildet. Zu den grundlegenden Tatsachen, auf die alle vernünftigen Nützlichkeitsurteile zurückgreifen müssen, gehört, dass das Leben aus bestimmten Aktivitäten besteht, die es auch erhalten, und dass unter den in Gesellschaft lebenden Menschen diese Aktivitäten notwendigerweise gegenseitigen Beschränkungen unterliegen und von jedem innerhalb und nicht außerhalb der so bedingten Grenzen durchzuführen sind. Folgerichtig 52 

Spencer, Data of Ethics, § 21. Siehe auch §§ 56 – 62.

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wird die Aufrechterhaltung dieser Grenzen zu einer Aufgabe jener Einrichtung, welche die Gesellschaft reguliert. Wenn jeder die Freiheit hat, seine Möglichkeiten innerhalb des Rahmens, der ihm von der Freiheit der anderen gesetzt wird, zu nutzen, und von seinen Mitmenschen für seine Dienste so viel erhält, wie es ihm ihrer Meinung nach im Vergleich zu den Diensten anderer zusteht, wenn die Verträge konstant erfüllt werden und jedermann den so festgelegten Anteil einbringen kann, und wenn jeder sich seines Lebens und seiner Besitztümer sicher sein kann, so dass er seine Wünsche mithilfe seines Einkommens befriedigen kann, dann ist das unverzichtbare Prinzip des individuellen wie auch des gesellschaftlichen Lebens gewahrt. Außerdem ist so das unverzichtbare Prinzip des gesellschaftlichen Fortschritts gewahrt, und zwar insofern, als unter diesen Bedingungen die wertvollsten Individuen mehr gedeihen und mehr Nachkommen haben als die weniger wertvollen. Die Nützlichkeit also, nicht gemäß empirischer Schätzung, sondern nach dem Gebot der Vernunft, mahnt eindringlich dazu, die individuellen Rechte aufrechtzuerhalten. Und umgekehrt schließt sie jeden Weg aus, der die individuellen Rechte durchkreuzt. Hierin liegt also letztlich das Verbot einmischender Gesetzgebung begründet. Selbst im günstigsten Fall ist jeder Vorschlag, tiefer in die Aktivitäten der Bürger einzugreifen, als die Durchsetzung der gegenseitigen Begrenzungen verlangt, ein Vorschlag, das Leben zu verbessern, indem man mit den Grundvoraussetzungen des Lebens bricht. Wenn einigen untersagt wird, Bier zu kaufen, um zu verhindern, dass so mancher betrunken wird, dann glauben jene, die das Gesetz machen, dass sowohl den wenigen schlecht-regulierenden als auch den vielen gut-regulierenden Eingriffen in das normale Verhältnis, das zwischen dem Verhalten und seinen Folgen besteht, mehr Gutes als Böses folgen wird. Eine Regierung, die vielen Menschen Teile ihrer Einkünfte wegnimmt, um einige, die hier auf keinen grünen Zweig kamen, in die Kolonien zu schicken, oder um bessere Wohnungen in den Industriegebieten zu bauen, oder um öffentliche Bibliotheken und Museen einzurichten usw., geht davon aus, dass das allgemeine Glück nicht nur unmittelbar, sondern auch langfristig zunimmt, wenn man gegen die Grundvoraussetzung des allgemeinen Glücks verstößt, nämlich gegen die Voraussetzung, dass jeder die Mittel zum Glück, die seine aggressionslosen Handlungen hervorbringen, genießen darf. An und für sich lassen wir uns von dem Unmittelbaren nicht gerne vormachen, es sei das Langfristige. Wenn wir die Unverletzlichkeit des Eigentums vor privaten Eindringlingen bewahren wollen, dann fragen wir nicht danach, ob der Vorteil des hungrigen Mannes, der einem Bäcker Brot stiehlt, größer oder kleiner ist als der Schaden, der dem Bäcker entsteht. Wir betrachten nicht die besonderen Effekte, sondern die generellen Effekte, die auftreten, wenn das Eigentum nicht sicher ist. Wenn aber der Staat von seinen Bürgern zusätzliche Beträge eintreibt oder ihre Freiheiten beschneidet, dann betrachten wir nur die direkten und naheliegenden Effekte und ignorieren die indirekten und entfernten Auswirkungen. Wir sehen nicht, dass durch die kleinen, sich häufenden Verstöße gegen die Freiheiten des Bürgers die unverzichtbaren Voraussetzungen für das individuelle wie auch für das gesellschaftliche Leben nur noch so unvollständig vorliegen, dass das Leben zugrunde geht.

174

Der große politische Aberglaube

Indes, der so bewirkte Verfall wird dort offenkundig, wo die Politik auf die Spitze getrieben wird. Jeder, der in den Schriften der Herren Taine53 und Tocqueville die Lage im Vorfeld der Französischen Revolution studiert, wird erkennen, dass die ungeheure Katastrophe der exzessiven und detailversessenen Regulierung der menschlichen Handlungen und dem enormen Ausmaß an dem, was man von den Produkten ihrer Arbeit einbehielt, um die regulierende Organisation aufrechtzuerhalten, geschuldet war, so dass das Leben alsbald nicht mehr zu bewerkstelligen war. Der empirische Utilitarismus jener Tage, wie auch der unserer Tage, unterschied sich vom rationalen Utilitarismus darin, dass er bei jedem neuen Fall nur betrachtete, wie sich der jeweilige Eingriff auf die Handlungen einer bestimmten Klasse von Menschen auswirkte, und nicht, wie sich solche Interventionen in ihrer Fülle auf das Leben der Menschen insgesamt auswirken. Und wenn wir uns fragen, was diesen Fehler damals möglich gemacht hat und heute möglich macht, dann erkennen wir, dass es der politische Aberglaube ist, demzufolge die staatliche Macht keinerlei Beschränkung ausgesetzt sein sollte. Wenn diese „Göttlichkeit“, die „einen König schirmt“54 und deren Glanz den Körper umgibt, der ihre Macht übernommen hat, erst einmal abgestorben ist und wenn man erst einmal erkennt, dass in einer als Volksherrschaft geführten Nation die Regierung schlicht ein Verwaltungskomitee ist, dann wird man auch erkennen, dass dieses Verwaltungskomitee keine intrinsische Autorität hat. Die unweigerliche Schlussfolgerung wird sein, dass die Autorität von denen verliehen wird, die das Komitee eingesetzt haben, und dass es nur die Grenzen hat, die sie ihm auferlegen wollen. Mit dieser Schlussfolgerung geht eine weitere einher, nämlich die, dass die von diesem Gremium verabschiedeten Gesetze nicht in sich selbst heilig sind. Welche Unantastbarkeit sie auch immer haben mögen, sie geht allein auf die moralische Billigung zurück – eine moralische Billigung, die, wie wir gesehen haben, aus den Gesetzen des menschlichen Lebens, das unter gesellschaftlichen Bedingungen geführt wird, ableitbar ist. Und daraus kann man folgern, dass sie ohne diese Billigung keine Unantastbarkeit genießen und zu Recht anfechtbar sind. Die Aufgabe des alten Liberalismus war es, der Macht der Könige eine Grenze zu setzen. Die Aufgabe des wahren Liberalismus von morgen wird es sein, der Macht des Parlaments eine Grenze zu setzen.

53 Hippolyte Adolphe Taine (1828 – 1893) ist, anders als Alexis de Tocqueville, ein inzwischen weitgehend in Vergessenheit geratener französischer Philosoph, d. Hrsg. 54  „Denn solche Göttlichkeit schirmt einen König“, aus Shakespeare, Hamlet, 4. Aufzug, 5. Szene, d. Hrsg.

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Register Register

Aberglaube, politischer  Abwasserbehörde  Admiralität 

5, 147, 174

30, 124

Bianconi, Ch.  37

18, 20, 24, 33, 36, 127

Aktiengesellschaft 

Bezirksgerichte  33

37

Bibliotheken, öffentliche 

Angebot und Nachfrage  55

Bismarck, O. von  93

Apparat, regulativer  107

Blackstone, W.  38

Arbeiterklasse  9, 27, 55, 75, 114

Boase, G.  40, 175

Arbeitsmarktgesetz 

Bolingbroke, H.  58, 175

119

Arbousset, Th.  158, 175

Bonwick, J.  165, 175

Armenrecht 

Book of Fallacies 

27, 48, 74, 75, 90, 141

Arnold, M.  155, 156 Artisan Dwelling Act 

157, 175

Bossuet, J.  147 124

Bowring, J.  156, 175

Aufsichtsbehörde  78

Brewster, D.  67

– siehe Schulbehörde

Brooke, Ch.  159, 175

Austin, J.  150, 153, 157, 175

Burchell, W.  158, 175

Bakehouses Regulation Act  64

Burials Act 

Barlow, P.  33 Barlow, R. 

62

– siehe Beisetzungsgesetz Bürokratie  12, 29, 30, 31, 32, 33, 35, 49, 82, 83, 86, 93, 94, 108, 110

20

Bastian, A.  126, 175 Bauaufsicht, städtische 

124

Burton, R.  156, 175

– siehe Bauaufsichtsbehörde

Cabet, E.  106

Bauaufsichtsbehörde 

Canal-Boat Act  63

65

Baugesetz, städtisches 

122, 123

Carlyle, Th.  27, 131, 147

– siehe Metropolitan Buildings’ Act

Chamberlain, J.  141

Beamte  12, 22, 30, 32, 35, 45, 46, 49, 67, 91, 93, 104

Cheap Train Gesetz  66

Beecham, J.  159, 175

Chisholm, C.  37

Beisetzungsgesetz 

Cobden Club 

62

– siehe Burials Act Bentham, J. 

65, 173

Bill of Rights  58

Chippewaer 

166

Common Law 

156, 157, 158, 160, 175

136 11, 160, 163

Constitutional Code 

156

Bergwerksinspektoren  18, 23

Craik, A.  119, 120, 175

Betriebswerkstättengesetz 

Cross, R.  128

65, 78

Register

179

Cumming, A.  136, 175

Funktionsträger  34

Dargan, W.  37

Gebäudegesetz  25

Darwin, Ch. 

7, 138, 148, 166, 175

Daumas, F.  158, 175 Demokratische Föderation  91, 93, 95, 120 Despotismus 

85, 89, 90,

62, 68, 93, 94

Dublin Exhibition 

37

Dugdale, R.  175 East India Company  32, 59 Edinburgh Review  151 Edward III.  63, 119 Edward VI.  63 Egerton, F.  37 Einrichtungen, staatliche  41, 80, 133

29, 30, 33, 36,

Eisenbahnen  28, 41, 45, 48, 53, 77, 79, 91, 95, 108, 109, 151, 169 Eisenbahngesellschaften 

31

Eisenbahnnetz  35, 36, 85 Ellis, W. 

Fairman, F. 

8, 86, 96, 175 79, 128, 175

90

Gesetz zur Regulierung von Frauen- und Kinderarbeit  78 Gesetzgeber  5, 22, 27, 29, 38, 41, 44, 45, 47, 49, 58, 74, 79, 115, 116, 117, 118, 120, 124, 130, 131, 132, 133, 134, 141, 142, 143, 144, 145, 148, 151, 172 Gesetzgebung  19, 25, 32, 38, 40, 51, 54, 55, 60, 65, 66, 68, 80, 86, 105, 118, 120, 125, 129, 132, 142, 144, 145, 162, 173 Gesundheitsamt  30 – siehe Gesundheitsbehörde Gesundheitsbehörde 

25, 129

Gewerkschaften  112, 114

40

74, 80, 92, 110, 111,

Gewerkschaftskongress 

84, 94

Gladstone, W.  65, 129

Fishwick, H.  40, 175

20

Goldner, St. 

FitzRoy, R.  165, 175

Green, J. 

Forrest, C.  123 Fortnightly Review  78, 81, 89, 141, 155, 166

Frauen- und Kinderarbeit 

Gesetz zur Anbaupflicht 

Geyer, H.  147

Fetisch  126, 129

Französische Revolution  105, 174

Gesetz gegen ansteckende Krankheiten  64

Getreidezollgesetze 

63

Family Colonization Loan Society  37 Farrer, Th. 

24, 25, 175

Gervinus, G. 

– siehe Gesundheitsamt

37, 159, 175

Fabrikgesetz 

George, H.  85, 119, 143, 159, 165, 175, 176, 177

61, 80, 87, 90, 62

59, 123, 175

Grey, Ch.  88 Grundbesitzer  47, 51, 90, 154 Guizot, F.  52, 175 Habeas Corpus Akte 

58

Hall, B.  30

Freihandel  40, 46, 85

Handelsamt  65, 66

Freiheit  9, 10, 58, 59, 60, 61, 64, 67, 68, 69, 70, 71, 94, 97, 111, 112, 114, 115, 138, 153, 154, 162, 164, 171, 173

Hansard, Th. 

Handelskammer  29, 130 Harris, W. 

78, 128

139, 156, 175

Register

180

– freiwillige  57, 59, 70, 80, 101, 102, 103, 108, 114, 167

Hartshorne, B.  166 5

Hayek, F.A. von 

– ständische 

Heinrich III.  120 Heinrich VIII.  63 Herrschaft des Status 

70, 95, 103, 162

Herrschaft des Vertrags 

103, 162

– siehe Regime des Vertrags 148, 149, 150, 152, 156, 175

Hobbes, Th. 

Howard, J.  37 Huerta de Soto, J.  5

85, 96, 143

Incumbered Estates Act 

51

Industrial Dwellings Acts  Industrialismus 

88

57, 70

Janson, F.  120, 127

Joint Stock Companies Registration Act  25 32

Kanalbau  37 18, 19, 29, 49, 50

Karl II.  58

70, 117

Klassenmacht  70 Knechtschaft 

10, 59

Kolff, D.  160, 176 Kolonialbehörde  Kommunismus 

5, 9, 57, 59, 60, 62, 69, 70,

Lindsay, W.  Lizenzgesetz 

24, 34, 52, 176 27

Lizenzvergabegesetz 

65

Lohnaufstocker  75

Lyell, Ch.  147 Lyttelton, G.  129 Mackenzie, D.  83, 176 Maine, H.  100 Marine  30, 38, 52, 65, 91, 176 Marsden, W.  159, 176 94

Maupas, Ch. de 

5

Klasseninteressen 

Liberale  59, 60, 62, 63, 66, 68, 70, 71, 84, 95

Maule, F.  126

Kirchengericht  18 Kirzner, I. 

Lecky, W.  118, 176

Ludwig XV.  118

Johnson, S.  36, 159

Kanzleigericht 

Laktanz  90, 176

Ludwig XIV.  147

Jevons, W.  155, 176

Kaminschlotgesetz 

86, 126

London Gazette  30

5

Jasay, A. de 

Laissez-Faire 

Liberty and Property Defense League  71

Hume, D.  38 Hyndman, H. 

Laing, S.  54, 176

Liberalismus  110, 174

Humboldt, W. von  9

57

18 94

Kooperation – erzwungene (Zwangskooperation)  57, 58, 70, 80, 95, 100, 101, 102, 103, 114, 167

May, Th.  116, 176 Mearns, A.  125, 176 Mechi, J.  40, 175, 176 Mercantile Marine Act  65 Metamorphose  10, 106, 107 Metropolitan Buildings’ Act  25 – siehe Baugesetz, städtisches Michie, A.  159, 176 Militarismus 

70

Militärwesen 

19

Register

Mill, J. 

181

Privatwirtschaft 

9

Misswirtschaft 

18, 20, 33, 110

Radikale 

Molesworth, W.  25 Monarchie 

58, 80, 112, 150

Railway Winding-up Act 

Municipal Reform Bill  59 Myddleton, H.  37

Rechtsreform 

33, 49

Rechtssystem 

38, 49, 50

Reform Bill  59

Nachfrage  31, 35, 42, 54, 55, 67, 88, 98, 108, 120, 121, 125, 136, 140, 168 Napoleon III.  40, 94 11, 163

Regierung  28, 31, 38, 43, 44, 46, 47, 48, 65, 66, 70, 79, 90, 94, 105, 115, 128, 147, 153, 156, 157, 160, 166, 172, 173, 174 Regime der Familie  135, 136

Nicholl, G.  129, 176 Nineteenth Century  89, 127, 128 Nock, A.  7, 176

136

Regime des Status  57 – siehe Herrschaft des Vertrags

Offer, J.  7, 176 Organisation, gesellschaftliche  112, 133, 144

Regime des Staats  Regime des Vertrags

Non-Resisting Test Bill  58 57, 80,

Ørsted, H.  41

Regulierung(en)  9, 18, 32, 51, 52, 55, 56, 64, 65, 67, 74, 78, 83, 86, 88, 92, 111, 125, 174 Republik  61, 80, 105, 169

Pall Mall Gazette  84

Robinson, F.  106

Palmerston, H.  63

Romilly, J.  49

Parlament  23, 29, 31, 34, 35, 38, 41, 48, 52, 58, 59, 66, 85, 91, 98, 118, 126, 128, 130, 134, 150, 171, 174

Rousseau, J.-J.  152

Parlamentsgesetz  31 Parteien 

57, 58, 70, 105, 113

Passengers’ Act  25 41, 87, 97

Philanthropie  39, 126 Pitt, W.  78 Politiker, erfahrene  26, 77, 79, 92, 94, 95 Pollock, F.  163, 176 Prescott, W.  156, 176 Privatunternehmen 

Ruskin, J. 

84

Russell, J. 

64

Schoolcraft, H.  160, 166, 176 Schulbehörde siehe Aufsichtsbehörde Shakespeare, W.  174

Peel, R.  40, 55 Philanthropen 

50

Rathbone, W.  89, 127

84

Naturrecht 

70, 89, 148

Raffles, Th.  159, 176

Morning Chronicle  45 Morris, W. 

20, 39

31, 35, 44

– siehe Unternehmen, private

Shaw, E.  127, 177 Siedlungsgesetz 

27

Siemens, C.  127 Sirr, H.  166, 176 Sklaverei  10, 11, 58, 73, 77, 87, 94, 96, 116, 131 Smith, F. 

40

Smith, W.  37 Sozialdarwinismus 

7

Register

182

Sozialdarwinist  8

Tyrannei  37, 93, 95, 108, 113

Sozialismus  8, 10, 12, 71, 86, 87, 94, 96, 108, 111, 113, 114

Überleben der Bestangepassten­ 

Soziologie, vergleichende  144, 161 Spencer, H.  5, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 31, 40, 52, 96, 115, 116, 128, 138, 149, 165, 172, 176, 177

Überregulierung 

138

17, 47, 48

Unabhängigkeitserklärung 

105

Unternehmen, private  30, 39 – siehe Privatunternehmen

Spencer, Th.  74

Utilitarismus  5, 9, 172, 174

Spitalfields Act  63

Verstaatlichung 

Staat  5, 10, 11, 12, 19, 20, 21, 22, 23, 28, 31, 32, 33, 37, 38, 39, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 49, 51, 53, 61, 67, 68, 69, 79, 81, 82, 83, 90, 91, 92, 94, 95, 98, 107, 115, 117, 123, 124, 127, 133, 136, 139, 141, 154, 155, 156, 157, 159, 161, 162, 166, 170, 173

Verwaltung  11, 38, 39, 83, 91, 93, 94, 95, 102, 108, 117, 127

Staatsmacht 

Walpole, H. 

70, 162

Staatssozialismus 

85, 87, 93

States Charities Aid Association 

139

Statut von Merton  120

85, 90, 91

Vibart, H.  127, 177 Vignoles, C.  169 Waghorn, Th.  37 Wallace, A.  83, 166, 177 40

Weinstein, D.  7, 177 Wettbewerb  77, 84, 92, 99, 103, 105, 108, 125, 135

survival of the fittest  siehe Überleben der Bestangepassten

Whiggismus 

Taine, H.  90, 174, 176

Whiston, W.  33

Whigs 

58

57, 58, 59, 148

Tennent, J.  165, 176

Wilson, J.  25

The Times  33, 55, 81, 83, 122, 123, 128, 129, 159

Wohlfahrtsstaat  9, 10, 12 Wohlstand  26, 50, 55, 58, 95, 133

Thiers, L.  169

Wohnraum  25, 89, 124

Thompson, G.  159, 176 Tocqueville, A. de  119, 174, 176 Tories 

40, 57, 58, 59, 70, 71, 147, 148

Toryismus 

57, 70, 71, 95

Turner, G.  165, 177

Young, A.  119, 177 Zollgesetze  38 Zwangsimpfung  64, 65, 90 Zwangsmaßnahmen 

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