Der amerikanische Wohlfahrtsstaat: Herausgegeben und übersetzt von Hardy Bouillon [1 ed.] 9783428590506, 9783428190508

Das Buch ist eine systematische Untersuchung des amerikanischen Wohlfahrtsstaats von seinen Anfängen bis zur Gegenwart u

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Der amerikanische Wohlfahrtsstaat: Herausgegeben und übersetzt von Hardy Bouillon [1 ed.]
 9783428590506, 9783428190508

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Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 7

William Voegeli

Der amerikanische Wohlfahrtsstaat Herausgegeben und übersetzt von Hardy Bouillon

Duncker & Humblot · Berlin

WILLIAM VOEGELI

Der amerikanische Wohlfahrtsstaat

Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 7

William Voegeli

Der amerikanische Wohlfahrtsstaat Herausgegeben und übersetzt von

Hardy Bouillon

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 2510-2893 ISBN 978-3-428-19050-8 (Print) ISBN 978-3-428-59050-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber Mit der Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus sollen einschlägige Schriften, die in der Tradition des Klassischen Liberalismus und in geistiger Nähe zu Friedrich August von Hayek stehen, einer deutschsprachigen Leserschaft nähergebracht werden. Zu diesem Zweck werden Schlüsselwerke bedeutender Autoren übersetzt. Gleichwohl ist die Schriftenreihe nicht auf Übersetzungen beschränkt, sondern auch offen für Arbeiten gegenwärtiger Autoren, die sich der Schule des Klassischen Liberalismus und dem freiheitlichen Denken Hayeks eng verbunden fühlen. Auf den Autor des siebten Bandes trifft beides zu. William Voegeli ist ein amerikanischer Politologe. Der amerikanische Wohlfahrtsstaat ist sein erstes Hauptwerk. In ihm präsentiert der Autor eine systematische Untersuchung des amerikanischen Wohlfahrtsstaats von seinen Anfängen bis zur Gegenwart und diskutiert die Probleme, die mit dem ungehinderten Wachstum des Wohlfahrtsstaats in den USA einhergehen. Das Buch erschien 2010. Vier Jahre später folgte Voegelis zweites Hauptwerk: The Pity Party: A Mean-Spirited Diatribe Against Liberal Compassion. In ihm analysiert er das politische Unvermögen derer, die er als Urheber des amerikanischen Wohlfahrtsstaats namhaft macht, die sogenannten Liberals. Einer breiteren amerikanischen Leserschaft ist Voegeli vor allem als regelmäßiger Gastautor liberal-konservativer Magazine und Zeitungen bekannt, darunter City Journal, Commentary, Los Angeles Times, National Review und New Criterion. William Voegeli (*1954) studierte Politologie an der Loyola University in Chicago, wo er auch promovierte. Anschließend war er für einige Jahre (1988 bis 2003) Programmleiter der amerikanischen John M. Olin Foundation. Danach wurde er Gastprofessor am Henry Salvatori Center des Claremont McKenna College in Claremont / Kalifornien, Herausgeber der Zeitschrift Claremont Review of Books und Senior Fellow am Claremont Institute. Nach Der Kapitalismus und die Historiker, herausgegeben von Friedrich August von Hayek, ist Der amerikanische Wohlfahrtsstaat der siebte Band der Reihe. Weitere Bände anderer Autoren sind in Planung und sollen im Jahresrhythmus erscheinen. Die Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus wird unterstützt von der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft, Berlin. Prof. Dr. Hardy Bouillon  Prof. Dr. Gerd Habermann  Prof. Dr. Erich Weede

Einleitung des Herausgebers und Übersetzers Alle sechs der bisher erschienenen Bände der Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus sind deutsche Erstausgaben. Der siebte Band bildet in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Er erschien bereits vor einigen Jahren in einem zwischenzeitlich aufgelösten Verlag, und zwar unter dem Titel Amerikas Abschied vom Kapitalismus. Für die Titelwahl gab es damals gute Gründe. Allerdings verriet die damalige Titelfestlegung nur wenig über die Kernthese des Buches. Dem Autor geht es in seiner Abhandlung um den amerikanischen Wohlfahrtsstaat und dessen unaufhaltsames Wachstum. Der Originaltitel, Never Enough. America’s Limitless Welfare State, bringt das Anliegen des Verfassers klarer zum Ausdruck und lässt auch das große Verdienst erahnen, das dem Autor zukommt. Was William Voegeli in seinem Traktat darlegt, ist nichts Geringeres als eine systematische Untersuchung des amerikanischen Wohlfahrtsstaats von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Um Voegelis Leistung kenntlich zu machen, hielten wir es für geboten, den Titel zu ändern. Band 7 der Hayek-Schriftenreihe trägt daher den Titel Der amerikanische Wohlfahrtsstaat. Der Autor ist kein grundsätzlicher Gegner des Wohlfahrtsstaats. Doch es fehlen ihm die Kriterien, mit denen man einen angemessenen von einem unangemessenen Wohlfahrtsstaat abgrenzen könne. „Die Grundannahme des Buches, das ich nicht geschrieben habe, war, dass all die herben Klagen über unsere unzureichende Sozialpolitik ein Kriterium dafür angeben müssen, was angemessen ist, damit man einen ganz und gar angemessenen Wohlfahrtsstaat bestimmen kann.“ Voegeli sieht vor allem die Anhänger der demokratischen Partei in der Pflicht. Sie, die Liberals, sind für ihn die eigentlichen An- und Betreiber des amerika­ nischen Wohlfahrtsstaats und auch die Ursache dafür, dass der Wohlfahrtsstaat in den USA kein Ende zu kennen scheint. In dem Versäumnis, ein Ende anzugeben oder gar anzustreben, liegt auch – so der Autor – die Ursache dafür, dass sein Buchprojekt einen anderen Gang genommen hat als geplant. „Dieses Buch versucht zu erklären, warum das andere Buch unmöglich war. In ihm geht es um die Bedeutung, die der ‚Mangel eines liberalen Begrenzungsgrundsatzes‘ für den langewährenden Disput der Demokraten und Republikaner über den Wohlfahrtsstaat hat.“ Voegeli weiß, dass die erfolgreiche Suche nach einem Begrenzungsgrundsatz – so es denn einen gibt – erhebliche Vorleistungen erfordert. „Um sich dieser Aufgabe anzunehmen, muss man zuerst eine klare Vorstellung davon bekommen, wie groß der amerikanische Wohlfahrtsstaat tatsächlich ist, wie sehr und wie schnell er gewachsen ist, und wie er in diesen Hinsichten im Vergleich zu Wohlfahrtsstaaten anderer moderner Industriegesellschaften abschneidet.“

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Einleitung des Herausgebers und Übersetzers

Im Wissen um die notwendigen Vorleistungen, die er zu erbringen hat, beginnt der Autor in Kapitel 1 damit, Geschichte, Struktur, Ausmaß und Vergleichbarkeit des amerikanischen Wohlfahrtsstaats mithilfe geeigneter Daten und Quellen darzulegen. Um den amerikanischen Wohlfahrtsstaat angemessen erfassen und mit den Wohlfahrtsstaaten anderer Länder vergleichen zu können, greift er vor allem auf Daten zurück, die Jahr für Jahr von der OECD sowie vom OMD und BLS erfasst werden. Bei den Letztgenannten handelt es sich um zwei amerikanische Bundesagenturen. Gemeint sind das Haushaltsbüro (Office of Management and Budget, kurz OMD) und das Statistische Bundesamt für Arbeit (Bureau of Labor Statistics, kurz BLS). Anhand der generierten Tabellen zeigt der Autor, dass der amerikanische Wohlfahrtsstaat seit dem New Deal kontinuierlich gewachsen ist, und dies ungeachtet der Tatsache, dass Demokraten und Republikaner sich mehrfach an der Spitze abgelöst haben. Insofern sieht Voegeli verständlicherweise auch die Konservativen in der Verantwortung, obgleich er zugesteht, dass die Mentalität der amerikanischen Bevölkerung den Handlungsspielraum der konservativen Kräfte im Land einengt. „Die Konservativen können dem amerikanischen Volk keinen kleineren Wohlfahrtsstaat verkaufen als jenen, den es mit Sicherheit wünscht, ganz egal wie unpopulär die dafür notwendigen Steuern auch sein werden.“ Der Autor nimmt aber auch an, dass die amerikanischen Bürger den Liberalen bei ihren Versuchen, den Wohlfahrtsstaat auszudehnen, Grenzen setzen würden. „Für Liberale heißt das, einzusehen, dass es unmöglich ist, den Menschen in Amerika mehr Wohlfahrtsstaat zu verkaufen, als sie zu bezahlen bereit sind, und leichtfertig, etwas anderes vorzutäuschen.“ Divergenzen in den Mentalitäten sind für Voegeli auch die Ursache für die Unterschiede, mit denen die Amerikaner und Europäer der Begrenzfrage begegnen. In Europa frage man, wo die Wohlfahrtsstaatsausweitung sich dem Wähler überhaupt versperren könne, in den USA, wo dem Steuerzahler. „In Europa reicht schon allein die Vorstellung, dass eine Mitte-Rechts-Koalition die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen beschneidet, um Generalstreiks und Straßenproteste auszulösen. Die amerikanische Linke hingegen muss Steuerrevolten befürchten.“ (Zur Illustrierung der amerikanischen Haltung führt Voegeli die Abstimmung um den 13. Zusatz der kalifornischen Verfassung und Proposition 82 an.1) In Kapitel 2 zeichnet der Autor den Werdegang des amerikanischen Wohlfahrtsstaats vom New Deal bis zur Gegenwart nach. Dieser Exkurs in die jüngere Sozialgeschichte Amerikas vermittelt dem Leser auch einen Eindruck von der Grundstruktur, die den amerikanischen Wohlfahrtsstaat und die Argumentationsmuster, mit denen er seit seinen Anfängen propagiert wurde, auszeichnet. Roosevelt, dem New Deal und der mit ihm einhergehenden Umdeutung dessen, was die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu verteidigen habe, widmet Voegeli beson 1

Vgl. das 7. Unterkapitel von Kapitel 4.

Einleitung des Herausgebers und Übersetzers

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ders viel Aufmerksamkeit. Der Grund liegt auf der Hand. Es waren FDR und seine Sozialreformen, die einen Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte nach Coolidge markiert haben: den Wendpunkt, ab dem der Wohlfahrtsstaat im großen Stil Fahrt aufnehmen konnte. Gleichwohl löst der Aufstieg des amerikanischen Wohlfahrtsstaats beim Autor eine gewisse Verwunderung aus, vor allem angesichts der Tatsache, dass derselbe nie von einer klaren Strategie angetrieben worden sei. In Kapitel 3 spürt der Autor den Ursachen nach, die das Fehlen einer widerspruchsfreien bzw. dominierenden Lehre ausgelöst haben. „Einige Experten sehen im Nachhinein das wahre Wesen des New Deal und des Liberalismus im Allgemeinen nicht in einer Strategie, sondern in der dauernden, von Launen bestimmten Improvisationstaktik.“ Dass der amerikanische Wohlfahrtsstaat trotz innerer Widrigkeiten seinen Siegeszug fortsetzen konnte, liegt aus Sicht des Autors vor allem an Franklin Delano Roosevelt. FDR habe es geschafft, dass das Oberste Bundesgericht zwischen 1937 und 1945 nach und nach dazu übergegangen sei, „jener New Deal-Gesetzgebung, die es noch kurz vorher vereitelt hatte, Verfassungsmäßigkeit zu bescheinigen.“ Voegeli verwendet viel Energie darauf, den Nachweis zu führen, dass der liberale Wohlfahrtsstaat – genauer: der Wohlfahrtsstaat der amerikanischen Liberals – kein Ende kenne. (Daher auch der Titel Never enough.) Wer – wie Roosevelt und seine Nachfolger – ein Recht auf die Mittel für ein gutes Leben propagiert, der kann von keiner eingeforderten Sachleistung behaupten, sie sei als Mittel für ein gutes Leben ungeeignet. „Das Recht auf die Mittel für ein gutes Leben schafft politische Probleme, für die der Liberalismus keine überzeugende Lösung geboten hat. Das vieldeutige liberale Verständnis von Rechten macht es nicht nur schwerer, sondern gar unmöglich, irgendeiner Sachleistung, die wir anderen gönnen, prinzipiell die Erhebung in den Rang eines unveräußerlichen Rechts zu versagen.“ Mit anderen Worten, der Wohlfahrtsstaat kennt keinen systemimmanenten Schlussstrich. Hinderlich für die Suche nach einer Begrenzung des Wohlfahrtsstaats ist für den Autor auch das Bedingungsverhältnis von Demokratie und Wohlfahrtsstaat: „Einen umfassenden Wohlfahrtsstaat zur Vorbedingung einer Demokratie zu machen, ist paradox, weil so demokratisches Abwägen über den Wohlfahrtsstaat unrechtmäßig wird. Meinungen und Wählerstimmen gegen den Wohlfahrtsstaat werden so subversiv und undemokratisch. Die Fähigkeit der Demokratie, etwas zu bewirken, nimmt in dem Maße ab, wie die Zahl der an die Demokratie geknüpften Vorbedingungen zunimmt.“ Aber auch die Korrektur von Fehlern in der Vergangenheit (negative Diskriminierungen) durch positive Diskriminierungen in der Gegenwart sei ein Verfahren, das kein Ende kenne – schon allein deshalb, weil kein Kriterium genannt werde, das gezielte Fördermaßnahmen in unerlaubte und erlaubte unterteilen ließe: „Man kann unmöglich erkennen, wie eine gezielte Fördermaßnahme erlaubt genannt werden kann, wenn kein Kriterium dafür, was eine unerlaubte wäre, vorliegt. Wenn das

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Einleitung des Herausgebers und Übersetzers

Oberste Bundesgericht nicht weiß – oder sagen kann –, wo die Grenzlinie verläuft, dann ist die Feststellung, dass eine bestimmte Maßnahme auf eine Seite der Linie falle, alles, nur keine Konklusion.“ Die vielen Zitate aus dem Lager der Liberalen und Konservativen, die Voegeli in seinem Buch anführt, bieten ein schillerndes Bild der Befindlichkeiten und Beurteilungen, die durch die wechselhafte Geschichte des amerikanischen Wohlfahrtsstaats mäandern. Besonders vielfältig, bunt, weitaus bestimmter und selbstsicher als systematisch und überzeugend kamen und kommen sie aus dem liberalen Lager: „Die Liberalen ließen es nur selten dabei bewenden, sondern fühlten sich berechtigt und verpflichtet, die Ziele und Vorlieben ihrer Mitbürger zu beurteilen, oft nicht zu knapp.“ Das schien in die Phase der „geistigen Unterbeschäftigung“ und des „qualitativen Liberalismus“ gut zu passen. Was für die Rechte-Demokratie und deren Einklang mit dem Wohlfahrtsstaat gilt, trifft für Voegeli nicht minder auf den Kommunitarismus und dessen Vereinbarkeit mit dem Wohlfahrtsstaat zu. Aber auch das Durchwursteln (Ad-hoc-Kratie)  sei keine Alternative. „Das Problem ist …, dass jede Idee, groß und rigoros genug, um etwas Wichtiges mitzuteilen, irgendwann etwas sagen muss, das beanstandet werden kann. Wofür Liberale stehen zeigt, wogegen sie sind. Und alles, wogegen sie sind, hat seine Fürsprecher, und alle diese Fürsprecher haben Stimmen, die sie bei der Wahl abgeben.“ Kapitel 4 ist – wie auch schon Kapitel 3 – der Frage gewidmet, wie der amerikanische Liberalismus angesichts der Vielfalt der faktischen Grenzen das Ende des Wohlfahrtsstaats unbegrenzt hinauszögern könne. Doch die Stoßrichtung der beiden Kapitel ist nicht dieselbe. Während Voegeli in Kapitel 3 die Grenzen intellektueller Natur nachzeichnet, legt er in Kapitel 4 die Grenzen dar, die ökonomischer, fiskalischer und eigentumsrechtlicher Natur sind. Im Zentrum steht dabei der unveränderliche Umstand, dass ein Wohlfahrtsstaat steht ein hohes Maß an ökonomischem Wohlstand voraussetzen muss, weshalb er der Volkswirtschaft nicht unbegrenzt die Mittel entziehen kann, die diese zur Generierung des Wohlstands braucht. In Kapitel 5 geht Voegeli mit den Konservativen ins Gericht, fragt aber auch nach den Möglichkeiten für beide Lager, sich im Sinne eines finanzierbaren Wohlfahrtsstaat zusammenzuraufen, um festzulegen, wie „schwache Anspruchsteller Vorrang vor schwachen Ansprüchen erhalten.“ Für Voegeli stellt sich damit die Frage nach den Berechtigungsnachweisen, die im Sinne des Wohlfahrtssystems funktionstüchtig sind. „Wohlfahrtsstaatliche Programme mit Berechtigungsnachweisen bedeuten, dass die am meisten erhalten, welche die stärkste Berechtigung dazu haben, und zwar aufgrund der Tatsache, dass sie die Verletzlichsten unter uns sind. Sie bedeuten auch, dass die von Staatshilfen ausgeschlossen werden, deren Ansprüche am schwächsten sind, und zwar aufgrund der Tatsache, dass sie die am wenigsten Verletzlichen unter uns sind.“ Kapitel 6 ist als Ausblick gedacht und setzt den Rahmen, innerhalb dessen die beiden prägenden Größen der amerikanischen Parteienlandschaft die Grenzen des

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Einleitung des Herausgebers und Übersetzers

Wohlfahrtsstaats künftig festzulegen haben. Der Titel des Kapitels formuliert dabei die Zielvorgabe in passender Frageform „Wohin wollen die Fortschrittlichen fortschreiten und was wollen die Konservativen konservieren?“ Wie eingangs erwähnt, ist die vorliegende Übersetzung bereits die zweite Ausgabe. Gegenüber der Erstausgabe wurden kleinere Glättungen vorgenommen, eine Einleitung verfasst und zusätzliche Anmerkungen vom Übersetzer und Herausgeber aufgenommen. Außerdem fanden jene drei Unterkapitel des 2. Kapitels, die man seinerzeit aus verlegerischen Gründen der Erstausgabe vorenthielt, ihren Platz zurück ins Buch. Gemeint sind die Unterkapitel „Der New Deal und die neue Verfassung“, „Die lebendige Verfassung“ und „Die Zweite Bill of Rights“. Für das Verstehen der Geschichte und Struktur des amerikanischen Wohlfahrtsstaats sind diese Unterkapitel von nicht unerheblicher Bedeutung. Auch andere, kleinere Kürzungen der früheren Ausgabe wurden für die vorliegende Fassung revidiert. Kurz: Der vorliegende Band enthält die vollständige Übersetzung der englischen Urfassung Never Enough. Viele Zitate, die der Autor verwendet hat, entstammen kurzen Artikeln, die sich selten über mehr als eine Seite erstrecken. Dieser Umstand und die Verwendung bestimmter Zitierweisen, die von den Gepflogenheiten unserer Reihe abweichen, haben es hier und erforderlich gemacht, fehlende Seitenangaben, sofern möglich, zu ergänzen. Der Literaturapparat wurde den Vorgaben der Reihe gemäß angelegt. In einigen Fällen verwendete der Autor kurze Beiträge, in denen der Autor ungenannt blieb. In solchen Fällen – und sofern nichts anderes dagegensprach – wurde ersatzweise die Einrichtung oder der Verband, in deren Namen der Beitrag verfasst wurde, als Autor angegeben (z. B. CNN, Congressional Budget Office, Democratic Party u. ä.) War keinerlei Autorenschaft dokumentiert, wurde auf eine Namensnennung verzichtet. In derlei Fällen beginnt die Literaturangabe mit dem Titel des Beitrags – natürlich nicht in Kursivsetzung, um eine etwaige Verwechslung zwischen Autor und Titel zu vermeiden. Nach guter Tradition möchte ich abschließend allen danken, die zum Gelingen des Bandes beigetragen haben, insbesondere der Friedrich August von Hayek-­ Gesellschaft, Berlin, welche die Herausgabe dieses Buches großzügig unterstützt hat. 

Hardy Bouillon

Danksagung des Autors Ich habe die Arbeit an diesem Buch als Forschungsfellow am Claremont Institut aufgenommen und als Gastprofessor am Henry Salvatori Center des Claremont McKenna College abgeschlossen. Dank schulde ich Larry Arnn, Brian Kennedy und Bruce Sanborn vom Claremont Institute und Mark Blitz vom Salvatori Center. Einige Teile dieses Buches erschienen ursprünglich im Claremont Review of Books. Charles Kesler und seinen Mitarbeitern Kathleen Arnn, Christopher ­Flannery, John Kienker, Richard Samuelson und Joseph Tartakowsky danke ich für viele wertvolle Hinweise und Hilfen. Viele Bücher über Politik verdanken ihre Existenz der John M. Olin Foundation. Auch dieses, aber nicht wegen eines Zuschusses zu dessen Beendigung, sondern wegen der Freundschaft und dem Zuspruch, die ich von den dortigen Kollegen Caroline Hemphill, James Pierson, Janice Riddell und Betty Sturdy erfahren habe. Drei Politologen, nämlich Thomas Engeman und John Williams von der Loyola Universität und Ralph Rossum vom Claremont McKenna College, haben eine frühere Version dieses Buches dankenswerterweise gegengelesen und verbessert. Außer ihnen haben auch die Kollegen John Gueguen und Jerry Nagel meine Aufmerksamkeit auf staatswissenschaftliche Fragen gelenkt. Die Unterhaltungen, die ich seit nun zwei Jahrzehnten mit Gregory Simoncini führe, haben aus mir einen Nettoimporteur politischer Einsichten gemacht. Carol Mann von der Carol Mann Agentur und Roger Kimball von Encounter Books haben den Autor zu seinem Erstlingswerk ermutigt und bestärkt. Lauren Miklos, Heather Ohle, Emily Pollack und Sam Schneider von Encounter haben mir bei vielen schlecht formulierten Fragen mit Geduld und Verständnis weitergeholfen. Jenny Woodward hat das Manuskript streng und liebenswürdig ediert. Ein großzügiger Zuschuss des Searle Freedom Trust half Encounter dabei, diesen Band dem geneigten Leser näher zu bringen. Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet, deren Unterstützung und Nachsicht es erst möglich gemacht haben.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung des Autors 19

Auf der Suche nach dem Angemessenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Große und kleine Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Geld, Geld, Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Die ungenügende Antwort der Konservativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Kapitel

Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 29

Was bedeutet mehr Staatstätigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Zur Definition und Messung des Wohlfahrtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Das große Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Die Detailanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Wachstum bei abnehmender Wachstumsrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Internationale Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Ist der Himmel schon das Ende? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Kapitel

Amerikas Wohlfahrtsstaat in der Theorie. Darstellung der Grundidee 65

Die Progressiven und die zweite Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Neue Rechte im Neuen Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Der New Deal und die neue Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Die lebendige Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Die Zweite Bill of Rights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3. Kapitel

Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Sinngebung 95

Die von-Fall-zu-Fall-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Das Lehrerzimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

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Inhaltsverzeichnis

Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Das Recht auf die Mittel für ein gutes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Eine Frage des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Rechte und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Die Demokratie und der Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Was positive Diskriminierung über die „Verrechtlichung“ des Liberalismus aussagt . 109 Wohlfahrtsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Das Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Zusammengehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Geistige Unterbeschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Positive Diskriminierung und herzloses Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Der Kommunitarismus und der Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Ad-hoc-kratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Instinkte statt Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Alles, was zu tun ist, ist gut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Die ökonomischen Kosten der Ad-hoc-kratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Die politischen Kosten der Ad-hoc-kratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

4. Kapitel

Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Lohngestaltung 143

Monopoly-Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Die Überflussgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Das europäische Ideal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Die post-sozialistische Linke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Die erfreuliche Entdeckung der Gesamtnachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die neue Politik und der Neoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Die Besteuerung der Reichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Finanzielle Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Eigentumsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Anstößiges Leben auf hohem Niveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Die Besteuerung der Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Den Himmel mit flatternden Dollarnoten verdunkeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Inhaltsverzeichnis

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5. Kapitel

Das Dauerversagen des Konservatismus bei der Gestaltung eines Unterschieds 179

Ein kleineres Stück von einem größeren Kuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Anrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Der libertäre Grund gegen den Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Argumente plus Beihilfen: angebotsorientierte Wirtschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Das Biest verhungern lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Wohltäter und Wohlfahrtsempfänger: die liberale Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Wohltäter und Wohlfahrtsempfänger: das Rätsel der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Wiederausgleich der Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Wohlfahrtsökonomie: der beste und größte Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Konservativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Liberalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Wähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Der Konservatismus und die Legitimität des Wohlfahrtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

6. Kapitel



Schlussfolgerungen: Wohin wollen die Fortschrittlichen fortschreiten und was wollen die Konservativen konservieren? 236

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Einleitung des Autors Auf der Suche nach dem Angemessenen Das Buch, das Sie lesen, ist nicht das, welches ich ursprünglich schreiben wollte. Das fertige Ergebnis unterscheidet sich von der ursprünglichen Idee, die Antwort auf eine Frage zu finden, die Amerikas Liberale1 in unzähligen Artikeln, Reden und Büchern immer wieder gestellt haben. In all ihren Polemiken pochen sie darauf, dass der Staat mehr tun müsse – viel mehr –, um den Armen zu helfen, die wirtschaftliche Sicherheit zu stärken, die soziale Gerechtigkeit und Solidarität zu fördern, die Ungleichheiten abzubauen und dem Kapitalismus die Härte zu nehmen. Man halte sich folgende Zitate einmal vor Augen: „Selbstverständlich werden wir fortfahren, die Arbeitsbedingungen der Arbeiter in Amerika zu verbessern – die Überstunden abzubauen, die Hungerlöhne anzuheben, die Kinderarbeit zu beenden und die Ausbeuterbetriebe auszurotten. Selbstverständlich werden wir weiterhin alles dafür tun, die Monopole in der Wirtschaft zu beenden, Tarifverhandlungen zu fördern, unfairen Wettbewerb zu stoppen und ruchlose Handelspraktiken abzuschaffen. Für all das haben wir den Kampf gerade erst aufgenommen. Selbstverständlich werden wir uns weiterhin für billigeren Strom für die Menschen Amerikas in der Stadt und auf dem Land einsetzen, für eine besseres und bezahlbares Verkehrswesen, für niedrige Zinsraten, für erschwingliche Hauskredite, für ein besseres Bankenwesen, für strengere Regulierungen in Sicherheitsfragen, für den gegenseitigen Handel unter den Nationen, für die Abschaffung der Elendsviertel. Für all das haben wir den Kampf gerade erst aufgenommen. Selbstverständlich werden wir notleidenden Arbeitslosen eine nützliche Arbeit besorgen; denn wir ziehen nützliche Arbeit der Verarmung durch Arbeitslosenhilfe vor … Selbstverständlich werden wir unsere Anstrengungen fortsetzen, damit junge Männer und Frauen eine Ausbildung erhalten und auch die Möglichkeit, diese zu nutzen. Selbstverständlich werden wir auch weiterhin den Behinderten, den Blinden und den Müttern beistehen, Arbeitslose versichern und für die Alten Sorge tragen. Selbstverständlich werden wir den Konsumenten vor unnötigen Preisspannen schützen, vor Kosten, die durch Monopole und Spekulationen draufgeschlagen werden. Wir werden uns auch künftig erfolgreich darum bemühen, die Kaufkraft der Kunden zu erhöhen und zu erhalten. Für diese Dinge, aber auch für eine Vielzahl anderer Dinge dieser Art, hat unser Kampf gerade erst begonnen.“ Franklin D. Roosevelt, 31. Oktober 1936 (Hervorhebung WV).2 1 Gemeint sind die Anhänger der demokratischen Partei. „Liberals“ sind dem deutschen Verständnis nach am ehesten mit gemäßigten Sozialliberalen gleichzusetzen, d. Hrsg. 2 Roosevelt (1936).

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Einleitung des Autors „Der Staat sollte mehr Geld für die benachteiligten Regionen ausgeben, selbst wenn man dazu Dollarnoten aus dem Flugzeug streuen müsste.“ The Nation, 1964.3 „Für eine Gesellschaft wie die unsrige ist das Elend der Alten eine Schande, und man sollte im ganzen Land sämtliche Hebel in Bewegung setzen, um ihnen einen anständigen Lebensstandard im Rentenalter zu sichern.“ The New Republic, 1965.4 „[Der] Krieg gegen die Armut verschlingt riesige Summen an Geld, so wie die Militärkriege auch. Sie sind der notwendige Bestandteil der Energie, die aufgewendet werden muss, um die Armen aus ihrer Armut zu befreien.“ The New Republic, 1965.5 „Allen in der Gesellschaft die gleichen Chancen zu geben … erfordert eine Verpflichtung zu nationalem Handeln – leidenschaftlich, wuchtig und dauerhaft, getragen von all den Ressourcen, über welche die mächtigste und reichste Nation dieser Erde verfügt. Es verlangt von jedem Amerikaner eine neue Einstellung, ein neues Verständnis und, vor allem, einen neuen Willen. Die vitalen Bedürfnisse der Nation sind zu befriedigen, harte Entscheidungen zu treffen und, falls nötig, neue Steuern zu erheben.“ Bericht der Nationalen Beratungskommission zur Öffentlichen Unruhe („Kerner Kommission“) 1968.6 „Es stimmt, dass die Großzügigkeit einiger der neuen Reichen außergewöhnlich ist. Aber es stimmt auch, dass Wohltätigkeit und ökonomische Gerechtigkeit nicht das Gleiche sind. (Erst die Abwesenheit ökonomischer Gerechtigkeit macht Wohltätigkeit notwendig.)“ The New Republic, 2007.7 „Die Demokraten wollen auch Kindern eine Gesundheitsfürsorge geben, und die Republikaner wollen, dass sie ohne eine Gesundheitsfürsorge auskommen sollen.“ The American Prospect, 2007.8

„Nicht genug“ titelte 1964 die Nation einen ihrer Leitartikel. „Nicht genug“ war schon immer die liberale Haltung in der Innenpolitik. Die Grundannahme des Buches, das ich nicht geschrieben habe, war, dass all die herben Klagen über unsere unzureichende Sozialpolitik ein Kriterium dafür angeben müssen, was angemessen ist, damit man einen ganz und gar angemessenen Wohlfahrtsstaat bestimmen kann. Die Kosten und der Umfang der amerikanischen Wohlfahrtsprogramme sind seit 1933 dramatisch angewachsen. Die Nation ist stetig größer geworden, und weitaus wohlhabender. Aber egal wie weit der Wohlfahrtsstaat sich ausdehnte, die Politiker und Publizisten unter den Liberalen haben immer wieder den Vorwurf erhoben, er sei beschämend klein. Man darf wohl zurecht vermuten, dass am Ende dieser nie versiegenden Vorwürfe die Eckpunkte des platonischen Ideals eines Wohlfahrtsstaats stehen; eines Ideals, das über jedes einzelne Programm sowie die notwendigen und verdienten Mittel dazu verfügt und folglich keiner weiteren Ausdehnung bedarf. 3

Not Enough (1964), S. 2. Bernstein (1965), S. 10. 5 The Poor in Their Place (1965), S. 3 f. 6 United States. Kerner Commission (1968), Einleitung. 7 Wieseltier (2007). 8 Waldman (2007). 4

Große und kleine Ideen

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Mein ursprüngliches Vorhaben war, die liberale Darstellung dieses Wohlfahrtsstaats zu untersuchen; ein Projekt, das ich aufgeben musste, als ich merkte, dass es keinen Untersuchungsgegenstand hatte. Um eine Frage schert sich die liberale Rhetorik nie: Wie groß und welcher Art muss der Wohlfahrtsstaat sein, der nicht beschämend dürftig ist, der nicht dringend ein größeres Budget und eine umfangreichere Agenda benötigt? Die Antwort auf diese Frage lautet … nun ja, es gibt keine Antwort auf diese Frage. Die Liberalen könnten dieses Problem auf der Makroebene angehen und die Grenzen beschreiben, die der Wohlfahrtsstaat weder überschreiten muss noch überschreiten sollte. Doch sie tun es nie. Sie könnten auch Grenzen des Wohlfahrtsstaats vorschlagen, indem sie sich auf die Mikroebene begäben und aufschlussreiche Beispiele von Sozialprogrammen aufführten, die zu teuer, zu aufdringlich sind oder zu viel vom Staat fordern und zu wenig von den Empfängern. Aber das tun sie auch nicht. 1964 sagte Lyndon Johnson: „Wir sind für sehr viele Dinge, und nur gegen sehr wenige.“9 Das ist ungefähr die rigoroseste Position, zu der man sich in der liberalen Theorie des Wohlfahrtsstaats durchringt. Die Situation erinnert an die Geschichte eines Rinderbarons, der darauf bestand, nicht mehr Grundbesitz in Texas zu erwerben als das Land, das an seines angrenzte. Liberale wollen kein unbegrenztes Wachsen des Staates. Sie wollen nur, dass er größer wird, als er jetzt ist. Diese Haltung lässt auf die Weigerung der Liberalen schließen, sich auf Fragen zum angemessenen Umfang eines Wohlfahrtsstaats überhaupt einzulassen.

Große und kleine Ideen Dieses Buch versucht zu erklären, warum das ursprünglich geplante Buch unmöglich war. In ihm geht es um die Bedeutung, die der „Mangel eines liberalen Begrenzungsgrundsatzes“ für den lange währenden Disput der Demokraten und Republikaner über den Wohlfahrtsstaat hat.10 Um sich dieser Aufgabe anzunehmen, muss man zuerst eine klare Vorstellung davon bekommen, wie groß der amerikanische Wohlfahrtsstaat tatsächlich ist, wie sehr und wie schnell er gewachsen ist und wie er in diesen Hinsichten im Vergleich zu Wohlfahrtsstaaten anderer moderner Industriegesellschaften abschneidet. Kapitel 1 geht dieser Frage nach, in dem es die Daten des OMB11 und der OECD sichtet. Auch wenn es dem Liberalismus an einem Prinzip zur Begrenzung fehlt, so verfügt er doch über ein sehr umtriebiges Prinzip. Dessen theoretische Grundlagen stammen von den Progressiven

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White (1965), S. 365. Hayward (2001), S. x. 11 Office of Management and Budget, Haushaltsbüro im Kabinettsrang, hilft dem Präsidenten bei der Vorbereitung des Bundeshaushalts, d. Hrsg. 10

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Einleitung des Autors

und New Dealern, welche die Gründung Amerikas uminterpretiert – einige sagen, umgeschrieben – haben. Kapitel 2 beschreibt die intellektuelle Leistung jener, die den zum Schutz der Freiheit an einer kurzen Leine geführten Staat durch einen Staat ersetzten, der alle Macht einfordern kann, die er braucht oder zu benötigen glaubt, um die Wohlfahrt zu fördern. Das Fehlen eines Begrenzungsgrundsatzes erfordert, in Kapitel 3, Konsens und Dissens im modernen liberalen Verständnis des Wohlfahrtsstaats zu untersuchen. Zumindest in einer Sache sind sich die Liberalen uneinig, nämlich darin, ob sie eine „große Idee“ brauchen oder nicht. Die Befürworter sagen, der Liberalismus kranke daran, eine themenlose Wundertüte voller Politikempfehlungen zu sein, die kein größeres Ziel zusammenhalte. Die Skeptiker bestehen hingegen darauf, dass es dem Liberalismus nicht nur möglich, sondern für ihn auch nötig sei, von einem Thema zum anderen zu wechseln, ohne eine Philosophie zu schmieden, die alle politischen Rezepte miteinander verbindet. Diejenigen, die der großen Idee das Wort reden, glauben vor allem daran, dass intellektuelle Kohärenz dem Liberalismus zu größerer politischer Dynamik verhelfe. Eine große Idee, die erklärte, was der Liberalismus tun sollte, hätte allerdings die unbeabsichtigte aber unvermeidliche Folge, klarzustellen, was er nicht tun sollte. Wie wir noch sehen werden, ist diese Gefahr weitgehend eine hypothetische. Die großen Ideen, die von jenen, die auf sie pochen, derzeit angeboten werden, sind zu dürftig und zu konfus, um uns die Einzelheiten eines Wohlfahrtsstaats darzulegen, der keiner weiteren Ausdehnung oder Verbesserung bedarf. Der alternative Ansatz, große Ideen ausdrücklich zu verwerfen, mündet logischerweise in der Annahme, dass zu jedem Problem ein eigenes Lösungsprogramm gehöre. Dementsprechend kennt der Liberalismus keinen Königsweg, der jedem, der entweder mit den Gegebenheiten seines eigenen Lebens oder den Bedingungen der Gesellschaft unzufrieden ist, zeigte, dass seine missliche Lage nicht ernstzunehmend sei und keines Ausgleichs durch ein eigenes Programm bedürfe. Menschen mit Problemen nach Hause zu schicken, ist schließlich der Grund dafür, warum Gott (oder Satan) den Konservatismus erschaffen hat. Die Lücken im liberalen Plädoyer für den Wohlfahrtsstaat haben, obwohl sie schwer wiegen, der Sache des Liberalismus mehr genutzt als geschadet. Viele Menschen haben tatsächlich Nöte, während viele andere nur ein Zwicken haben. Der tatsächliche Sieg des New Deals waren nicht die individuellen Wohlfahrtsprogramme, die er schuf, sondern war die Aushöhlung des Prinzips, dass der Staat, vor allem der Bundesstaat, keinen rechtmäßigen Auftrag hat, eine Fülle von sozialen Wohltaten zu begehen, ganz egal wie wohltuend die Empfänger diese auch empfinden mögen. Mit dem Durchbrechen dieser „Legitimitätsschranke“ konnten die Liberalen die Politik des Wohlfahrtsstaats als einen Wettbewerb gestalten, und zwar zwischen der mitfühlenden Partei, die will, dass der Staat den Menschen etwas gibt und etwas für sie tut, und der engherzigen Partei, die den Menschen all diese unverzichtbaren und wohltuenden Dinge wegnehmen will.

Die ungenügende Antwort der Konservativen

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Geld, Geld, Geld Weil man die Auffassung aufgab, dass es ein Wohlfahrtsprogramm geben könne, das einigen Menschen materielle Hilfe angedeihen lässt, aber jenseits der legitimen Grenze staatlicher Zuständigkeit liegt und deshalb nicht durchgeführt werden darf, gibt es nur noch ein Problem, das dem Wachsen des Wohlfahrtsstaats eine Beschränkung auferlegt: das der Finanzierung. Obwohl der Steuereintreiber nie zu den vielgeliebten Volkshelden zählen wird, können die Liberalen, wenn sie sich dazu entscheiden, ein einfaches, geradliniges und offensichtlich gewichtiges Argument anführen: Der Wohlfahrtsstaat ist gut und notwendig. Auch wenn es keine Freude bereitet, die dazu erforderlichen Steuern zu zahlen, so sind sie doch die Grundlage der Programme, welche die Lebensqualität eines jeden verbessern und die Nation einen. Wir sollten solche Steuern hinnehmen, ja sogar begrüßen, und zwar als fairen Preis, den wir für die unentbehrlichen Leistungen zahlen, die damit erkauft werden. In Wirklichkeit haben die Liberalen dieses Argument zugunsten aller erdenk­ lichen Alternativen, derer sie habhaft werden konnten, vermieden. Diese Entscheidung trafen sie aus Angst davor, dass der Enthusiasmus der Wähler für die Wohlfahrtsprogramme nicht ausreichen würde, um ihnen genügend Gegenliebe für die zu zahlenden Steuern abzuringen. Stattdessen haben die Liberalen auf anderem Wege eine angemessene politische Grundlage für den Wohlfahrtsstaat zu bilden versucht, und zwar indem sie den Wählerwunsch nährten, dass jemand anderer oder etwas anderes als sie selbst für diese Programme aufkäme. Um diese Hoffnung zu beflügeln, statt die Wähler aufzuklären, haben die Liberalen geradezu heldenhafte Verrenkungen aufgeführt. Die Ergebnisse, die in Kapitel 4 näher betrachtet werden, sind eine Ansammlung von Argumenten, die mit herkömmlicher Ökonomie nichts am Hut haben. Eines davon behauptet, dass Wohlfahrtsprogramme sich selbst bezahlten. Folgt man einer der geläufigsten Phrasen unter den Verkaufsslogans, dann machen sie sich um ein Mehrfaches bezahlt. Die Wähler sollten sich daher ihre niedlichen kleinen Köpfe nicht über das Preisschild zerbrechen. Oder: Ja, die Programme müssen bezahlt werden, aber sehr, sehr, sehr reiche Leute und riesige Unternehmen kümmern sich um die Rechnung; die restlichen von uns müssen nur das Trinkgeld dazu beisteuern. Indem er den Himmel mit kreuz und quer fliegenden Dollars verdunkelt, trübt der Wohlfahrtsstaat der Menschen Kosten- und Nutzenregistrierung sogar derart, dass sie an ein Unding glauben: Jeder Haushalt kann einen Nettoimporteur des Wohlstands sein, den der Staat verteilt.

Die ungenügende Antwort der Konservativen Erst nachdem feststand, dass der New Deal nicht nur eine ambitiöse Anstrengung zur Beendigung der Depression war, sondern auch ein ambitiöser Kraftakt, die Staatstätigkeit dramatisch, endlos und dauerhaft auszudehnen, begannen kon-

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servative Aktivisten und Autoren, bitter darüber zu klagen, dass die Republikaner sich eher mit dieser radikalen Abkehr von der von Jefferson 150 Jahre zuvor gegründeten Republik anfreundeten, als sie rückgängig zu machen. Sie beschuldigten „auch ich“ Präsidentschaftskandidaten wie Wendell Willkie, Thomas Dewey und Dwight Eisenhower, den führenden Widersacher des New Deal, Robert Taft, um seine Nominierung durch die Republikanische Partei12 gebracht zu haben, indem sie zur umfangreichen Staatstätigkeit13 lediglich anmerkten, es sei notwendig, sie verantwortungsvollen und fähigen Kräften zu überlassen, eben Republikanern, und nicht Demokraten. Barry Goldwater warb 1964 in seiner Präsidentschaftskampagne dafür, dass der Wähler die Entscheidung zwischen Fortsetzung und Auflösung des New Deal wolle und dies mehr verdient habe als die Republikaner, die lediglich die Argumente wiederholten, die von den New Deal Demokraten ausgegeben wurden. Lyndon Johnsons vernichtender Sieg über Goldwater schien damals zu belegen, dass die von den Konservativen beharrlich gestellte Frage zweifelsfrei ihre Antwort gefunden hatte – was in gewisser Weise bestätigte, dass die 1932 begonnene Ära liberaler Vorherrschaft nie enden würde. In Wahrheit aber markierten diese Wahl und die zahlreichen vom Kongress verabschiedeten Sozialreformprogramme sowie deren Nachwehen die „Flut des Liberalismus“, um den Titel einer Aufsatzsammlung zu bemühen.14 Ein Umstand, der diese überraschende Wende erklärt, ist die große Zahl der Wähler, die auf die liberalen Beteuerungen, die Leistungen des Wohlfahrtsstaats seien beträchtlich und die Kosten vernachlässigbar, verunsichert, ja sogar verbittert und zynisch reagiert haben. Denn das Gegenteil schien in den 1960er und 1970er Jahren der Fall zu sein. Die durch die Sozialreformprogramme zu behebenden Probleme – Kriminalität, Fürsorgeabhängigkeit, Rassenspannungen – wurden schlimmer, während die Inflation und die vom Gesetzgeber nicht abgesegnete schleichende Steuerprogression die Kaufkraft der Familien und die ökonomische Sicherheit aushöhlten. Sie rüttelten die Amerikaner der Mittelschicht wach, ließen sie „ihre Treueschwüre auf einen um seine Glaubwürdigkeit beraubten Liberalismus zurückziehen“, wie Jonathan Rieder in Canarsie schreibt, und machten sie unwillig, „dem Staat einen Blankoscheck auszustellen“.15 Die überzogenen Versprechungen der „Großen Gesellschaft“16 und deren unbeabsichtigten wie auch unerwünschten Folgen spielten den Konservativen die beste politische Gelegenheit der letzten 50 Jahre zu. Sie nutzten die Gelegenheit, erran 12

Im Original GOP (Grand Old Party, Kosename der Republikanischen Partei), d. Hrsg. Im Amerikanischen hat sich dafür der Begriff „Big government“ etabliert. Im Amerika­ nischen bezeichnet „government“ im weiten Sinne den Staat und im engen Sinne die Regierung. Dieser Umstand wurde hier berücksichtigt und jeweils die sinngemäße Übersetzung gewählt, d. Hrsg. 14 Milkis / Mileur (2005). 15 Rieder (1985), S. 4. 16 Johnsons Sozialreformprogramme wurden Great Society Programms genannt, d. Hrsg. 13

Die ungenügende Antwort der Konservativen

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gen Siege, vor allem 1980 und 1994, die man einen Tag nach Lyndon B. Johnsons Erdrutschsieg noch als reines Wunschdenken abgetan hätte. In anderer Hinsicht jedoch haben die konservativen Bemühungen, Kapital aus der Skepsis über Steuern und staatliche Programme zu schlagen, wenig bewirkt. Die Konservativen haben gehofft, und die Liberalen haben befürchtet, dass die Steuerrevolte, die mit der 1978 in Kalifornien verabschiedeten Proposition 1317 einsetzte, zum Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaats führen würde. Tatsächlich aber haben die Konservativen das Wachstum des Wohlfahrtsstaats weder umgekehrt noch gehalten, sondern lediglich gebremst. Inflationsbereinigt lagen 2007 die bundesstaatlichen Pro-Kopf-Sozialausgaben 77 % über denen, die Ronald Reagan bei seinem Amtsantritt vorfand. Die Konservativen haben aus ihrer guten Situation so gut wie nichts gemacht. Kapitel 5 untersucht, warum die konservativen Anstrengungen gegen den Wohlfahrtsstaat vergeblich waren. Amerikas rivalisierende Weltanschauungen sind in einen unbeweglichen Stellungskrieg geraten. Egal wie groß der Wohlfahrtsstaat ist, die Liberalen sagen, er sei zu klein; egal wie klein er ist, die Konservativen meinen, er sei zu groß. All die liberalen Argumente empfehlen einen Wohlfahrtsstaat, der sogar den Schwedens überragt; alle konservativen Argumente hingegen einen Wohlfahrtsstaat, der kleiner ist als der, den Amerika vor dem New Deal kannte. Unser derzeitiger Wohlfahrtsstaat dümpelt vor sich hin – ohne begeisterte Unterstützung und zwingende Gründe, die zeigten, wie man ihn verbessern könnte, ohne ihn radikal zu vergrößern oder zu verkleinern. Liberale wie Konservative sind in der misslichen Lage, den Wählern zu versichern, dass sie eigentlich all das gar nicht meinen, was ihre Argumente eindeutig sagen. Folglich kann keiner von ihnen die vernünftigen Argumente bzw. Stimmen zusammenbringen, um jenen Wohlfahrtsstaat zu ändern, in dem wir feststecken. Dieser politische Reformstau führt uns zum zweiten Grund dafür, warum dieses Buch ein anderes wurde als das, welches ich ursprünglich zu schreiben wähnte. In der Streitfrage um den Wohlfahrtsstaat stehen wichtige Fragen an, Fragen dazu, welche Art von Gemeinwesen, Wirtschaftsform und Gesellschaft Amerika sein sollte. Dennoch hält der Streit nun schon seit einem Dreivierteljahrhundert an, ohne dass irgendein wichtiger Streitpunkt geklärt oder geschlichtet worden wäre. D. h., seit dem New Deal hat sich nichts geändert. Nach wie vor werfen Liberale und Konservative sich gegenseitig vor, schändliche Absichten zu verfolgen und durch die Umsetzung ihrer Agenden unselige Folgen auszulösen. Da dieser Streit sich Wahlzyklus für Wahlzyklus wiederholt, wird zunehmend klar, dass der ganze Vorgang einen Hatfield-und-McCoy-Charakter18 hat: Es ist unumgänglich, weiterhin 17 Zusatz in Artikel 13a der Verfassung des Staates Kalifornien, wonach der Steuersatz für zu versteuernden Grundbesitz 1 % nicht überschreiten darf, d. Hrsg. 18 Stehender amerikanischer Ausdruck, bezieht sich auf eine langwährende Fehde zweier Familien, die abwechselnd die Sieger stellten, ohne dass es je einen richtigen Gewinner gegeben hätte, d. Hrsg.

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alles zu tun, um die verruchten und dummen Pläne der anderen bösen Menschen zu vereiteln, weil wir halt nun mal so sind und diese Dinge tun. Ursprünglich dachte ich, dieses Buch wäre die nächste Salve in diesem langen Krieg. In meinen stillen Walter Witty-Momenten19 stellte ich mir vor, es führte die entscheidende Attacke, durch welche die konservative Seite den Krieg gewänne. Ich sah aber schließlich ein, dass weder ich noch sonst ein Konservativer wohl je mit einem neuen Argument aufwarten kann, das die Debatte über den Wohlfahrtsstaat gewinnen, beenden oder auch nur verändern wird. Es ist schon eine lange Weile her, dass irgendein Liberaler oder Konservativer etwas genuin Neues zum Thema Wohlfahrtsstaat beigesteuert hätte. All die alten Phrasen erneut dreschen, nur lauter, ist nicht der Mühe wert. Das letzte Kapitel in diesem Buch versucht stattdessen über die Hatfield-McCoyFehde hinauszugehen. Um im Streit über den Wohlfahrtsstaat vom Konsumenten politischer Energie zum Produzenten politischer Klarheit zu mutieren, müssen sowohl Liberale wie Konservative ihre Kuschelecken verlassen und ernsthaft die Möglichkeit prüfen, ob einige der Ideen, die es zu überdenken gilt, ihre eigenen sind oder nur die ihrer Gegner. Für Liberale heißt das, einzusehen, dass es unmöglich ist, den Menschen in Amerika mehr Wohlfahrtsstaat zu verkaufen, als sie zu bezahlen bereit sind, und leichtfertig, etwas anderes vorzutäuschen. Intellektuell unaufrichtige Behauptungen darüber, wie die Besteuerung von Unternehmen und Reichen oder scharfsinnig durchdachte Sozialversicherungsprogramme es schaffen, dass mit kaum spürbaren Steuern großzügige soziale Leistungen bezahlbar bleiben, sind Ausdruck von Amtsmissbrauch. Solange den Liberalen kein Argument einfällt, das die Mehrheit der Wähler mit einem guten Gefühl viel höhere Steuern gutheißen lässt, um einen viel ambitiöseren Wohlfahrtsstaat zu finanzieren, müssen sie sich mit der Wirklichkeit abfinden, dass ein Wohlfahrtsstaat, vergleichbar solchen in Europa, in Amerika politisch nicht durchsetzbar, ja sogar unvorstellbar ist. Diese Wahrheit anzuerkennen, würde für Liberale letztlich bedeuten, sich am Ende doch mit der Frage nach der optimalen Größe des Wohlfahrtsstaats auseinanderzusetzen. Die Minimalanforderung, um wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren, besteht darin, etwas hinzunehmen, und zwar die Notwendigkeit, die Ressourcen, welche die Menschen in Amerika für den bestmöglichen Wohlfahrtsstaat aufzubringen bereit sind, so zu nutzen, dass man die am wenigsten benötigten Sozialausgaben zugunsten der dringendsten reduziert oder streicht. Konservative haben in dieser Frage ihren eigenen Standpunkt. Dennoch können sie nicht mit gutem Gewissen darüber diskutieren, wie man soziale Wohlfahrtsprogramme besser, klüger und fairer gestaltet, wenn ihr schlussendliches Ziel in der Austrocknung des Wohlfahrtsstaats besteht. „Amerika ist in Gefahr“, hieß es 19 Walter Mitty, tragische Romanfigur von James Thurber, amerikanisches Sinnbild des verträumten Möchtegernhelden, der nie zum Zuge kommt, d. Hrsg.

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1936 auf dem republikanischen Parteitag. „Für freie Menschen sind diese Aktionen (des New Deal) unerträglich.“ Viele der damaligen Vorwürfe gegen den New Deal können auch heute noch von Konservativen gegen zu viel Staatstätigkeit erhoben werden: „Die New Deal-Regierung ist dauernd darauf aus, die Rechte an sich zu reißen, die den Bundesstaaten und den Menschen vorbehalten sind.“ „Sie hat sich einer verheerenden Verschwendung und Zügellosigkeit schuldig gemacht und öffentliche Gelder für parteipolitische Zwecke genutzt.“ „Sie hat den Handel und die Wirtschaft eingeschüchtert und verunsichert, neue Unternehmen entmutigt, Beschäftigung verhindert und die Depression verlängert.“ Gleichwohl täten die Konservativen zu Beginn des 21. Jahrhunderts gut daran, einzusehen, dass auch der perfekte Kandidat und unbeirrbare Entschlossenheit den Sieg nicht sichern können, der Alf Landon20 seinerzeit versagt blieb. Die Konservativen können dem amerikanischen Volk keinen kleineren Wohlfahrtsstaat verkaufen als jenen, den es mit Sicherheit wünscht, ganz egal wie unpopulär die dafür notwendigen Steuern auch sein werden. Die Wahl von 1936 kann man nicht rückgängig machen, und die Zeit und Energie, die Konservative für dieses unerreichbare Ziel aufwenden, ist Zeit und Energie, die sie von wertvollen und tatsächlich herbeiführbaren Änderungen abzweigen. Mit anderen Worten, die Konservativen müssen sich damit abfinden, dass Amerika einen Wohlfahrtsstaat haben wird, ihn auch haben sollte. Und es ist nicht Teil des konservativen Plans, das Verschwinden des Wohlfahrtsstaats in die Wege zu leiten, auch nicht in ferner Zukunft. Die Frage ist, ob wir einen Wohlfahrtsstaat haben werden, der seine begrenzten Ressourcen intelligent nutzt, sich darauf konzentriert, denen zu helfen, die am meisten Hilfe brauchen, oder einen, der die Beihilfen unbedacht und nahezu beliebig verstreut. Die Konservativen sollten die Meinung vertreten, dass in einer Nation, die reich genug ist, sich einen Wohlfahrtsstaat zu leisten, ein Großteil der Bevölkerung reich genug ist, um auf das meiste, das der Wohlfahrtsstaat bereitstellt, verzichten zu können. Statt andauernd über die Übel zu großer Staatstätigkeit zu reden, sollten die Konservativen sich die Auffassung zu eigen machen, dass unser bestehender Wohlfahrtsstaat zu viel Merkmale schlechter Staatstätigkeit hat. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Liberale und Konservative derlei Zugeständnisse machen sollten, würde die amerikanische Politik nicht unglaublich öde werden oder eine neue Ära der Guten Gefühle21 einläuten. Innerhalb des sich ergebenden Rahmens bliebe für Liberale und Konservative genug Raum für einen Streit darüber, ab wann man sagen könne, ein Wohlfahrtsstaat habe genügend Ressourcen und verwende sie in der bestmöglichen Weise. Wofür er ihnen keinen Raum ließe, wäre das Verfolgen von Plänen, die Amerika in eine schwedische Sozialdemokratie 20

Alf Landon, 1936 republikanischer Präsidentschaftskandidat und Verlierer gegen Franklin D. Roosevelt, d. Hrsg. 21 Die Ära der Guten Gefühle (Era of Good Feelings) bezeichnet in den USA die Zeit von 1816–1824, in der die politischen Parteien nahezu vereint harmonierten, d. Hrsg.

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Einleitung des Autors

oder in einen Nachtwächterstaat verwandelten. Amerikas Wohlfahrtsstaat wird weder ein Vielfaches noch ein Bruchteil von dem, was er ist. Für beides gibt es weder Erfolgsaussichten noch eine Berechtigung. Derart romantische Visionen politischer Transformation sind nicht das, wonach die drängenden Probleme der Innenpolitik rufen. Wir „leben in einer schmerzhaften Zeit“, schrieb James Q. Wilson 1986, und sie ist im Verlaufe des letzten Vierteljahrhunderts noch schmerzlicher geworden. „Was die Menschen vom Staat wollen, reicht weit über das hinaus, was sie zu zahlen bereit sind. Die Politiker ermutigen die Menschen dazu, diese Haltung einzunehmen, und müssen nun einen Weg finden, sie von einer anderen Haltung zu überzeugen. Die Politik anders und vernünftiger zu gestalten, wird viel länger brauchen als das Durchpeitschen der Programme samt Kosten und Steuern im Kongress, das uns dieses Dilemma eingebrockt hat. Es wird die Lebensaufgabe für einige hingebungsvolle, geduldige und entschlossene Menschen sein, diese Sache durchzuziehen.“22

22

Wilson (1986), S. 21.

1. Kapitel

Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums Im Jahre 2004 initiierte The Amerian Prospect eine Online-„Debatte“ zur Frage, ob Präsident Clintons Innenpolitik genügend liberal gewesen sei. Ann Lewis warb dabei für die Auffassung, dass Clintons Präsidentschaft „für unser Land gut“ gewesen sei  – eine Auffassung, die sie als Clintons ehemalige Kommunikations­ direktorin im Weißen Haus guten Gewissens vertreten konnte. Max Sawicky, ein Ökonom am Economic Policy Institute, einem liberalen Think Tank1, hielt diese Auffassung jedoch für falsch. Sein Haupteinwand war, Clinton habe es versäumt, die „Reputation des Wohlfahrtsstaats durch wohlbegründete Ausweitungsvorschläge zu rehabilitieren. Darin, so möchte ich hinzufügen, liegt die Botschaft der Demokratischen Partei. Sonst hätte sie kaum einen Zweck.“2 Lewis antworte daraufhin im Verklausulierungsjargon à la Clinton, staatliche Programme könnten zwar das beste Mittel zur Förderung sozialer Ziele sein, aber „mehr Staat ist kein Ziel an sich“. Im Gegenzug meinte Sawicky, der Vorwurf, man wolle mehr Staat nur um mehr Staat zu haben, sei nur ein Ablenkungsmanöver. Pauschale Einwände gegen mehr Staatstätigkeit seien trivial, vor allem angesichts der tatsächlichen Zustände, die nach einem größeren Wohlfahrtsstaat „mit überzeugenden Lösungen zu grundlegenden Problemen“ verlangten. „Es gibt große Lücken in unserem Sicherheitsnetz. Sie sind der eigentliche Quell für die wirtschaftliche Verunsicherung der arbeitenden Bevölkerung: Auslagerung, mangelnde Gesundheit, Verletzungen am Arbeitsplatz, Altersarmut, fehlende Eigenmittel für die Pflege­ versicherung und ein zunehmender Raubtierarbeitsmarkt im Wal-Mart-Stil. Es ist kein Geheimnis, wie man diese Lücken zu füllen hat: mit einer Sozialversicherung.“3

Das, was die Liberalen morgens aufstehen und zur Arbeit gehen lässt, ist die Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats. Für die Konservativen ist es dessen Schrumpfung. Das hat Ronald Reagan 1981 in seiner Antrittsrede klargestellt: „In der gegenwärtigen Krise ist der Staat nicht die Lösung unserer Probleme; der Staat ist das Problem. … Es ist meine Absicht, das Ausmaß und den Einfluss des bundesstaatlichen Establishments einzudämmen und für die Trennung der Befugnisse, die der Bundesregierung zustehen, und jenen, die den Bundesstaaten und den Menschen 1

Der auch im Deutschen gebräuchliche Begriff Think Tank (Denkfabrik) bezeichnet im Amerikanischen ein Institut zur Erforschung und Verbreitung politischer Auffassungen, d. Hrsg. 2 Lewis / Sawicky (2004). 3 Lewis / Sawicky (2009).

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1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

vorbehalten sind, mehr Respekt einzufordern.“4 Im Verlaufe seiner Präsidentschaft hat er diesen Punkt immer wieder betont. Um nur ein Beispiel zu nennen: Reagan sagte 1983 vor der Amerikanischen Anwaltsvereinigung: „Es ist an der Zeit, den Mythos, wonach mehr Staat mehr Möglichkeiten und Mitgefühl hervorbringt, zu Grabe zu tragen. Lassen Sie uns im Namen der Fairness damit aufhören, mittels höherer Steuern die Familienkassen zu plündern, und lassen Sie uns damit anfangen, das wahre Problem in den Griff zu bekommen: die Ausgaben des Bundes.“5

Was bedeutet mehr Staatstätigkeit? Es lohnt sich, zwischen dem Wohlfahrtsstaat und der umfangreicheren Idee „größerer Staatstätigkeit“ zu unterscheiden, bevor man sich in die Daten stürzt. In der konservativen Rhetorik ist „Big Government“6 für gewöhnlich ein abfälliger und recht unpräziser Sammelbegriff. Der Begriff verschmilzt drei unterschied­ liche, aber verwandte Bemühungen moderner Staatslenkung: 1. makroökonomische Regulierung, um die Inflation niedrig, die Beschäftigungsrate hoch und das ökonomische Wachstum stabil zu halten; 2. mikroökonomische Regulierung vereinzelter Industriezweige und Unternehmen; und 3. wohlfahrtsstaatliche Programme, welche die wirtschaftlichen Chancen und Absicherungen des Einzelnen und dessen Lebensqualität verbessern sollten. Alle drei Aspekte größerer Staatstätigkeit dienen der Korrektur dessen, was die Liberalen als Schwächen des Kapitalismus werten. Die ersten beiden Unternehmungen – d. h. Wirtschafts- und Regulierungspolitik – dienen der Modifizierung der kapitalistischen Abläufe. Aus Sicht der Liberalen besteht das Problem der Gesamtwirtschaft darin, dass der sich selbst überlassene Kapitalismus den kräftezehrenden Zyklen von Auf- und Abschwung ungeschützt (wenn nicht gar wehrlos) ausgesetzt ist. Die Marktwirtschaft verschlimmert sich öfter, als sie sich korrigiert. Wenn böse Wirtschaftstrends schlimmere hervorrufen, dann muss der Staat einschreiten und den Wirtschaftszyklus zügeln. Wie schon Franklin Roosevelt 1932 sagte: „Wir müssen dafür Vorsorge treffen, dass eine große Depression nicht mehr passieren kann; und wenn das bedeutet, schnelle Profite in Zeiten inflationären Aufschwungs dahinziehen zu lassen, dann lasst sie ziehen; die sind wir gut los.“7

4

Reagan (1981). Anmerkungen von Präsident Reagan anlässlich der Jahresversammlung der amerikanischen Anwaltsvereinigung am 1. August 1983 in Atlanta, http://www.reagan.utexas.edu/archives/ speeches/1983/80183a.htm. 6 Im Amerikanischen hat sich der schwer einzudeutschende Begriff „Big Government“ durchgesetzt. Wie schon zuvor praktiziert, übersetzen wir ihn wahlweise mit „mehr Staat“ oder „größerer Staatstätigkeit“, d. Hrsg. 7 Roosevelt (1932c). 5

Was bedeutet mehr Staatstätigkeit?

31

Der regulierende Staat sorgt sich um jene kapitalistischen Abläufe, die für unannehmbar hart, riskant und skrupellos gelten oder angeblich Nachteile für Dritte haben. Wenn der Staat solche Probleme abstellen will, dann setzt und erzwingt er Verhaltensstandards für Marktteilnehmer. Das Ergebnis solcher Aktivitäten sind z. B. Schutzmaßnahmen, mit denen man Gewerkschaften begünstigt, oder Verschmutzungsregulierungen. Auch staatliche Bemühungen, welche die Sicherheit einer breiten Palette von Konsumgütern und Dienstleistungen – Autos, Lebensmittel, Medikamente, Flugreisen – oder die Transparenz und Integrität der von Banken, Maklern und Versicherungsgesellschaften durchgeführten Finanztransaktionen gewährleisten sollen, gehören dazu. Wir sollten für unsere Analyse tunlichst darauf achten, die Trennlinie zwischen der Regulierung der gesamten Wirtschaft und der Regulierung einzelner ihrer Komponenten nicht genauer zu ziehen, als sie in Wirklichkeit verläuft. Makroökonomische Regulierungen haben mikroökonomische Konsequenzen, und umgekehrt. Aber auch von anderer Warte wird die Grenze gern verwischt: Die Ideen und Argumentationsmuster der marxistischen Linken haben beide Ansätze vermengt. Das zeigt sich in solchen Fragen wie: Werden makroökonomische Verzerrungen durch die unpersönlichen Mechanismen, die der inneren Logik des kapitalistischen Systems folgen, oder durch die Torheiten und Verwüstungen der Kapitalisten bewirkt? Ein großer Teil der politischen Energie des New Deal richtete sich gegen die „reichen Übeltäter“ und „Wirtschaftsbarone“ – Redewendungen, die jene bestärken sollten, die glaubten, die Schurken mit Zylinder wären die eigentlichen Urheber der Depression. Ein New Dealer drückte das 1933 vor dem Senat so aus: „Wir haben eine Stufe in der Entwicklung des Gemeinwesens erreicht, auf der es nicht länger hinnehmbar ist, dass unser primitives kapitalistisches System von egoistischen Individualisten, die sich dem rücksichtslosen Wettbewerb verschrieben haben, gelenkt wird.“8 Folgt man Alan Brinkleys Bericht in The End of Reform, dann wurde die Auffassung, „dass etwas mit dem Kapitalismus nicht stimme und der Staat ein Weg finden müsse, das Problem zu beseitigen“, ab den späten 1930er Jahren von einer anderen Vorstellung abgelöst, und zwar von „einer Reihe von liberalen Konzepten, die mit den bestehenden Strukturen der Wirtschaft im Wesentlichen ihren Frieden gemacht hatten, aber den Staat in der Pflicht sahen, die unvermeidlichen Fehler des Kapitalismus auszumerzen.“ Diese Transformation erklärt sich zum Teil aus den Frustrationen im Zusammenhang mit der anhaltenden Erfolglosigkeit des New Deal, den Lebensstandard, den die Amerikaner in den 1920er Jahren genossen hatten, wiederherzustellen. Die unerwartete Depression 1937 war besonders entmutigend. Ein anderer Grund war die magere Anhängerschaft, welche die Wirtschaftstheorien von John Maynard Keynes vor 1938 in den Wirtschaftsfakultäten und in den Regierungskreisen der Vereinigten Staaten genossen. Danach jedoch

8

Brinkley (1995), S. 43.

32

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

wurde die Auffassung, der Staat könne den wirtschaftlichen Abschwung durch eine die Gesamtnachfrage stimulierende Fiskalpolitik verkürzen und abbremsen, von Liberalen diesseits und jenseits von Washington enthusiastisch begrüßt.9 Den Fokus auf die Verlängerung der Vorteile des Kapitalismus, statt auf die Beseitigung seiner Übel zu richten, ließ sich mit dem Wohlfahrtsstaat – dem es ja mehr darum geht, was der Kapitalismus bringt, als darum, wie er funktioniert – eher in Einklang bringen. Der Wohlfahrtsstaat nimmt sich der Ergebnisse des Kapitalismus an, indem er sie stärker auf eine Linie mit der Idee der „verteilenden Gerechtigkeit“ bringen will. Wenn einige zu stark zulangen und andere zu schwach, dann verteilt der Wohlfahrtsstaat das Einkommen um, sei es durch Steuergesetze und Transferzahlungen oder durch die Bereitstellung oder Subventionierung bestimmter Güter und Leistungen. Die Absicht ist, mehr für die zu sichern, die zu wenig haben, wobei es dem Feingefühl der Architekten und Advokaten des Wohlfahrtsstaats obliegt, festzulegen, was ein angemessenes Minimum ist. Manchmal werden jene Fürsprecher auch von Vorstellungen bezüglich des Maximums dessen, was angemessen ist, getragen. Folgt man James MacGregor Burns, dann „überraschte“ Franklin D. Roosevelt die Hüter der Staatskasse 1941 mit der Feststellung, er ziehe es vor, „jedes private Jahreseinkommen über $ 100,000 zu 99 ½ bzw. 100 % zu besteuern. ‚Warum nicht?‘, fragte er. ‚Keiner von uns wird jemals $ 100.000 im Jahr verdienen. Wie viele Menschen geben dieses Einkommen an?‘ Aber er setzte seine konfiskatorische Idee nicht durch.“ Ein 1941 erzieltes Einkommen von $ 100.000 hatte damals dieselbe Kaufkraft wie ein Einkommen von $ 1.459.000 im Jahre 2009.10 Jene stark zu besteuern, die mehr verdienen als das maximal Angebrachte, mag ein einfaches Mittel sein, um den Armen zu helfen, vielleicht sogar ein Ziel an sich. Dabei werden diejenigen gestutzt, ja sogar bestraft, die man der Extravaganz und des Geizes beschuldigt. Die Debatten zwischen Liberalen und Konservativen über das richtige Ausmaß und Betätigungsfeld des Staates schließen Auseinandersetzungen über Wirtschaftspolitik, Regulierungen und Wohlfahrtsstaat mit ein, wobei zwischen diesen oftmals gar nicht unterschieden wird. Gleichwohl diese Debatten viele benachbarte Fragen über die richtigen Rollen des Staates und des Marktes aufwerfen, geht es in diesem Buch hauptsächlich um den Wohlfahrtsstaat und nur am Rande um staatliche Regulierungen der Unternehmen, der Industrien und der gesamten Wirtschaft.

9 10

Brinkley (1995), S. 4 f., 65 f., 84 f. Burns (1970), S. 121.

Zur Definition und Messung des Wohlfahrtsstaats

33

Zur Definition und Messung des Wohlfahrtsstaats Sawicky nennt die Wachstumsraten des Wohlfahrtsstaats unter Clinton „arm­ selig“. Zu diesem Schluss kommt er unter Zugrundelegung einer eher schlechten als rechten Maßeinheit – inflationsbereinigt zwar, aber mit beliebigen Bundesausgaben für alles Mögliche, ausgenommen Verteidigungsausgaben. Sein Maßstab, den auch das OMD für seine periodischen Tabellen an jedes Haushaltsjahr des Bundes anlegt, schließt Staatstätigkeiten ein, die niemand als Bestandteil des Wohlfahrtsstaats ansähe, z. B. Programme für internationale Angelegenheiten, Wissenschaft, Raumfahrt und Technologie. Gleichzeitig lässt er Sozialversicherungsprogramme außen vor, die laut Sawicky lebensnotwendig sind: soziale Sicherheit, Medicare11, Medicaid12, Lebensmittelmarken usw.13 Um den nie endenden Krieg zwischen den Ausdehnern und Einschränkern des Wohlfahrtsstaats zu bilanzieren, kann man einen besseren Maßstab formen. Die jährlichen Bundesauslagen kann man mittels der historischen Tabellen des OMB14 bis 1940 zurückverfolgen. Sie entfallen auf riesige Ressorts („Superbehörden“), die sich aus kleineren, aber immer noch großen „Behörden“ zusammensetzen. Eine dieser Superbehörden, Human Resources15, besteht aus den folgenden sechs Ämtern, zuständig für: – Erziehung, Ausbildung, Beschäftigung und soziale Dienste – Gesundheit (ausgenommen Medicare, aber einschließlich Gesundheitsdienst, Gesundheitsforschung und -förderung sowie Sicherheit und Gesundheit für Konsumenten und Berufstätige – Medicare – Einkommensabsicherung (ausgenommen Sozialhilfe, aber einschließlich allgemeiner Renten- und Arbeitsunfähigkeitsversicherung, Renten- und Arbeitsunfähigkeitsabsicherung von Bundesangestellten, Arbeitslosenhilfe, Mietzuschüsse, Lebensmittel- und Ernährungsbeihilfen und anderer Einkommensabsicherungsprogramme)

11

Staatliche Sozial- und Gesundheitsfürsorge für Personen ab 65 Jahren, d. Hrsg. Staatliche Gesundheitsfürsorge für Geringverdiener, d. Hrsg. 13 Lewis/Sawicky (2009), S. 135; Office of Management and Budget (2009), Table 8.2 – Outlays by Budget Enforcement Act Category in Constant (FY 2000) Dollars, 1962–2013. 14 OMB (Office of Management and Budget), US-Bundesbehörde für Verwaltung und Haushaltsführung, d. Hrsg. 15 Human Resources entspricht in etwa einem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Familie. Die Ausgaben für Soziales, Gesundheit und Familie werden zum Zwecke der besseren Lesbarkeit und dort, wo es der Zusammenhang erlaubt, künftig mit „Ausgaben für Soziales“ abgekürzt, d. Hrsg. 12

34

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

– Sozialhilfe – Kriegsversehrtenbezüge und -beihilfe. Für unsere Zwecke können wir die Ausgaben des Bundes für Soziales, Gesundheit und Familie als Stellvertreter für den Wohlfahrtsstaat betrachten. Die oben aufgeführten Ämter illustrieren die Breite der von Liberalen befürworteten und von Konservativen kritisierten Staatsaufgaben. In den Augen beider Gruppen stellen sie das dar, was wir mit Wohlfahrtsstaat meinen. Die Liberalen wollen einen merklich größeren amerikanischen Wohlfahrtsstaat, aber alle Ergänzungen, denen sie beipflichten, könnten spielend im Rahmen der von der OMB vorgenommenen Aufteilung der Bundesausgaben für Soziales eingepasst werden, ohne zusätzliche Kategorien für Staatsaktivitäten ins Leben rufen zu müssen. Die bis 1940 zurückreichenden OMD-Tabellen erlauben es, die Kriegsversehrtenprogramme aus dem Gesamtbild herauszunehmen. Auf diese Weise kommt man dem Wohlfahrtsstaat, über den die Liberalen und Konservativen streiten, so nahe wie möglich. Bezüge und Beihilfen für Veteranen stellen eine Art Parallelwohlfahrtsstaat in Amerika dar. Aber dieser unterscheidet sich vom eigentlichen Wohlfahrtsstaat insofern, als die Bezüge sich am Militärdienst ausrichten und nicht an der Bedürftigkeit oder an den bisher geleisteten Beiträgen zu Sozialversicherungsprogrammen. Die Frage, wie Menschen, die Militärdienst geleistet haben, Dank, Ehre und Unterstützung erfahren sollen, sollte unabhängig von der Frage, wie man Einkommen sichert und Leid lindert, behandelt werden. Im Allgemeinen tut man das auch. Was verbleibt, ist ein unvollkommener, aber brauchbarer Annäherungswert für den Wohlfahrtsstaat. Es gibt einige Dinge, die zum Kreise der verbleibenden fünf Ämter gehören, idealerweise aber außen vorbleiben sollten. Zum Amt für Einkommensabsicherung gehört eine Unterabteilung für die Renten- und Arbeitsunfähigkeitsabsicherung von Bundesangestellten, die mehr mit dem Gebaren der Bundesregierung als Arbeitgeber zu tun hat als mit dem Wohlfahrtsstaat. Das Amt für Erziehung, Ausbildung, Beschäftigung und soziale Dienste zahlt auch für die Kongressbibliothek, die Smithsonian Institutions16 und die öffentlichen Rundfunkund Fernsehanstalten; Ausgaben, über die Liberale und Konservative oft debattiert haben, die aber im Streit um den Wohlfahrtsstaat eher nebensächlich sein dürften. Die historischen Daten der OMB sind nicht in einer derart detaillierten Weise vorhanden, die es zuließe, mit Hilfe eines Skalpells eben jene Ausgaben peinlichst genau vom Rest der Sozialausgaben zu trennen. Die Programme, die wir ausklammern würden, falls wir es könnten, stellen nur einen kleinen Teil der Bundesausgaben für Soziales. (Der Löwenanteil, die Auf-

16 Konglomerat zahlreicher Bundesmuseen, hervorgegangen aus dem Nachlass von James Smithson (1765–1829), d. Hrsg.

Zur Definition und Messung des Wohlfahrtsstaats

35

wendungen für die Renten- und Arbeitsunfähigkeitsabsicherung von Bundesangestellten, betrugen zwischen 1962 und 2007 7,74 % der gesamten Bundesausgaben für Soziales, gemessen in konstanten Dollar.) Was wir stellvertretend für den Wohlfahrtsstaat ansehen, berücksichtigt jedoch nur die Bundesausgaben, nicht aber die Zahlungen der Bundesstaaten und der Kommunen für Erziehung, Sozialhilfe, Gesundheit und Einkommensabsicherung. Die Gründe für diese Vorgehensweise sind teils technischer Natur – die historischen Daten wären nur mit Schwierigkeiten zusammenzutragen, da die Aufzeichnungen der Bundesstaaten an 50 verschiedenen Orten lagern, und die der Kommunen an 1000. Selbst wenn man die Zahlen leicht zusammentragen könnte, so wären sie doch nur schwer zu interpretieren. Laut OMB-Daten über die gesamten Staatsausgaben haben Amerikas Bundesstaaten und Kommunen 2007 $ 1,59 Billionen ausgegeben, das entspricht 11,6 % des heimischen Bruttoinlandsproduktes. Ein großer Teil dessen floss in den Staatshaushalt, ohne dem Wohlfahrtsstaat zugutegekommen zu sein: für den Bau und Unterhalt von Straßen und Brücken, für Gerichte, Polizei, Gefängnisse, öffentliche Parks, Kfz-Zulassungs- und Führerscheinstellen, etc. Ein anderer großer Teil wiederum wurde für Unternehmungen aufgewendet, die eindeutig zum Wohlfahrtsstaat gehören und leicht den Bundesbehörden zugeordnet werden können, mit deren Hilfe die OMD die Bundesausgaben für Soziales, Gesundheit und Familie bestimmt. In der Tat dienen viele dieser Ausgaben der Medicaid, der Arbeitslosenhilfe und anderen Programmen, bei denen die Mittel des Bundes die Mittel der Staaten und Kommunen ergänzen. Außerdem fließen viele Zahlungen der Bundesstaaten und der Kommunen in eine Grauzone, die weder eindeutig diesseits oder jenseits des Wohlfahrtsstaats verläuft. Die Staaten und Städte Amerikas haben schon lange vor dem New Deal, der Depression und der Progressive Era17 Geld für Schulen, Krankenhäuser, allgemeine Wohlfahrt und Notlinderung für Bedürftige ausgegeben. Hätte es keine dieser historischen Entwicklungen gegeben, dann würde nach wie vor ein beträchtlicher Teil bundesstaatlicher und kommunaler Gelder für diese Zwecke fließen. Dennoch kann man wohl kaum sagen, wie beträchtlich dieser Teil wäre, und eine Linie ziehen, die bundesstaatliche und kommunale Ausgaben, die zum Wohlfahrtsstaat gehören, von solchen trennt, die nicht dazu gezählt werden sollten. Wenn wir uns also auf Bundesausgaben für Soziales beschränken, die keine Zuwendungen an Kriegsversehrte enthalten, dann ergibt sich gemäß OMB für die Gesamtausgaben folgende Tabelle 1.1.

17

Progressive Era bezeichnet die Ära der amerikanischen Sozialreformen von 1890 bis 1920, d. Hrsg.

36

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

Tabelle 1.1 Bundesausgaben für Soziales (ausgenommen Kriegsversehrtenprogramme), 1940–2007, in Milliarden Dollar 1940

3,57

1963

28,00

1986

455,27

1941

3,60

1964

29,62

1987

475,45

1942

3,01

1965

30,86

1988

504,02

1943

2,38

1966

37,34

1989

538,66

1944

2,05

1967

44,54

1990

590,29

1945

1,75

1968

52,34

1991

658,39

1946

3,03

1969

58,78

1992

738,42

1947

3,57

1970

66,68

1993

791,92

1948

3,41

1971

82,13

1994

831,90

1949

4,21

1972

96,49

1995

885,96

1950

5,39

1973

107,52

1996

921,35

1951

5,48

1974

122,41

1997

963,13

1952

6,40

1975

156,66

1998

991,76

1953

7,32

1976

185,18

1999

1.014,66

1954

8,46

1977

203,87

2000

1.068,58

1955

10,23

1978

223,37

2001

1.149,60

1956

11,16

1979

247,66

2002

1.266,68

1957

13,16

1980

292,21

2003

1.360,92

1958

16,94

1981

339,05

2004

1.426,09

1959

19,45

1982

364,74

2005

1.515,97

1960

20,74

1983

401,18

2006

1.602,23

1961

24,13

1984

406,46

2007

1.685,64

1962

26,01

1985

445,56

Die Tabelle zeigt, dass der von uns definierte Wohlfahrtsstaat 2007 472-mal so groß war wie 1940. Das entspricht in etwa dem, was Sie, sofern Sie die Reden der Konservativen im Radio oft genug verfolgt haben, auch erwarten würden. Wir müssen aber das Bild durch Bereinigung der verzerrenden Inflationseffekte korrigieren. Das geht mittels des OMB-Deflators für die gesamten, nicht verteidigungsbezogenen Ausgaben. Mit ihm können wir den Umfang der Staatsausgaben für Soziales in konstanten Dollar, die den Wert des Dollars im Fiskaljahr 2000 widerspiegeln, angeben. Diese Umstellung ändert die Sache erheblich: Staatsausgaben für nichtverteidigungsbezogene Zwecke in Höhe von $ 11.962 bewirkten 2000 dasselbe wie $ 1.000 im Jahre 1940. Will man die Werte aus Tabelle 1.1. in konstanten Dollar ausdrücken, dann erhält man Tabelle 1.2.

37

Zur Definition und Messung des Wohlfahrtsstaats

Tabelle 1.2 Bundesausgaben für Soziales (ausgenommen Kriegsversehrtenprogramme), 1940–2007, in Milliarden konstanten Dollar, Fiskaljahr 2000 1940

40,6

1963

137,7

1986

663,6

1941

41,1

1964

143,5

1987

670,6

1942

40,9

1965

146,8

1988

685,8

1943

34,9

1966

175,2

1989

705,1

1944

29,8

1967

203,8

1990

747,0

1945

20,7

1968

232,2

1991

799,4

1946

26,6

1969

245,9

1992

865,6

1947

30,3

1970

265,1

1993

903,0

1948

24,3

1971

308,7

1994

929,9

1949

30,8

1972

348,5

1995

966,0

1950

37,6

1973

374,4

1996

984,8

1951

35,9

1974

392,8

1997

1.010,2

1952

39,2

1975

458,3

1998

1.030,6

1953

44,1

1976

504,6

1999

1.039,7

1954

47,4

1977

516,0

2000

1.068,6

1955

59,9

1978

531,3

2001

1.123,8

1956

65,3

1979

543,0

2002

1.218,8

1957

73,9

1980

580,6

2003

1.282,3

1958

89,9

1981

610,2

2004

1.310,0

1959

103,7

1982

614,9

2005

1.347,9

1960

106,6

1983

646,0

2006

1.379,3

1961

121,8

1984

628,5

2007

1.421,9

1962

132,0

1985

667,4

Inflationsbereinigung macht schon einen Unterschied. Gemessen in konstanten Dollar, waren die Bundesausgaben für Soziales 2007 35-mal größer als 1940. Das Bild wird außerdem genauer, wenn wir es nicht nur hinsichtlich der Inflation, sondern auch im Hinblick auf das Bevölkerungswachstum bereinigen. 2007 umfasste die amerikanische Bevölkerung 301,6 Millionen Menschen. Das sind 2,28-mal so viele Amerikaner wie die 132,1 Millionen im Jahre 1940. Lässt man diese Tatsache außer Acht, dann kann man das Wachstum, das auf ein stärkeres politisches Engagement für den Wohlfahrtsstaat zurückgeht, von einer Zunahme, die einer größeren Zahl von Leistungsempfängern zuzuschreiben ist, nicht unterscheiden. Teilt man die jährlichen Ausgaben in Tabelle 1.2 durch die vom Statistikamt jährlich geschätzte Population, dann ergibt sich Tabelle 1.3.

38

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

Tabelle 1.3 Pro-Kopf-Bundesausgaben für Soziales (ausgenommen Kriegsversehrtenprogramme), 1940–2007, in konstanten Dollar, Fiskaljahr 2000 1940

308

1963

728

1986

2.763

1941

308

1964

748

1987

2.768

1942

303

1965

756

1988

2.805

1943

256

1966

891

1989

2.857

1944

215

1967

1.026

1990

2.994

1945

148

1968

1.157

1991

3.170

1946

188

1969

1.213

1992

3.394

1947

210

1970

1.293

1993

3.503

1948

166

1971

1.486

1994

3.572

1949

206

1972

1.660

1995

3.676

1950

247

1973

1.767

1996

3.713

1951

232

1974

1.837

1997

3.772

1952

249

1975

2.122

1998

3.814

1953

275

1976

2.314

1999

3.813

1954

291

1977

2.343

2000

3.787

1955

361

1978

2.387

2001

3.942

1956

386

1979

2.413

2002

4.234

1957

430

1980

2.555

2003

4.415

1958

514

1981

2.659

2004

4.468

1959

583

1982

2.654

2005

4.555

1960

590

1983

2.763

2006

4.617

1961

663

1984

2.665

2007

4.714

1962

707

1985

2.805

Populations- und inflationsbereinigt verringert sich das Wachstum des Wohlfahrtsstaats von „schwindelerregend“ zu einem schlichten „sehr groß“. Gemäß dieser Metrik gab der Staat 2007 für soziale Leistungen 15,3-mal so viel aus wie 1940. Was immer die Zahl auch sonst offenbaren mag, diese Steigerung um 1.431 % demonstriert einmal mehr die Macht des Zinseszinses. Diese riesige Ausdehnung erzielen sie im Verlauf von 67 Jahren mit einer jährlichen Wachstumsrate von 4,14 %. Die klingt gar nicht so furchterregend. (Genau genommen vollzog sich das Wachstum über 67 ¼ Jahre. Es gab ein „Übergangsvierteljahr“ vor dem Fiskaljahr 1977, um der Regierung einen Wechsel des Fiskaljahrbeginns vom 1. Juli auf den 1. Oktober zu ermöglichen.

Das große Ganze

39

Das große Ganze Um das Wachstum des Wohlfahrtsstaats besser zu verstehen, müssen wir zunächst über die in Tabelle 1.3 genannten Daten hinausschauen und dann noch einmal genauer hinsehen. Das Wachstum des Wohlfahrtsstaats hängt vom Zusammenspiel zweier Trends ab. Die erste Entwicklung, Änderung des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf, ist demographischer und ökonomischer Natur. Die zweite Entwicklung, die den Anteil der Wirtschaftsleistung, welcher in die Staatsausgaben für Soziales fließt, betrifft, ist politischer Provenienz. Die 4,14-prozentige jährliche Wachstumsrate der realen Pro-Kopf-Ausgaben für Soziales könnten in dem einen Extremfalle die Entscheidung widerspiegeln, über den Zeitraum von 67 Jahren einen konstanten Anteil der Wirtschaftsleistung für Soziales auszugeben, wenn das Pro-Kopf-BIP jährlich um 4,14 % wächst. Auf diese Weise würde ein Kuchen, der mit der jährlichen Rate von 4,14 % wächst, ein Jahr für Jahr exakt gleichbleibendes Stück für Sozialausgaben haben. In dem anderen Extremfalle könnte der Kuchen seine Größe behalten, während der Anteil für Soziales Jahr für Jahr um 4,14 % größer würde. Die Wirklichkeit wird wohl eine Mischung aus beiden Entwicklungen sein. Amerikas Wirtschaft ist seit 1940 stetig gewachsen, und der den Sozialausgaben zugedachte Anteil ebenso. Tabelle 1.4 enthält OMB-Daten zum BIP seit 1940, OMB-Angaben zum BIP-Kettenpreisindex18 (zur Inflationsbereinigung) und Populationsdaten des Statistischen Bundesamtes. Sie zeigt das reale Pro-Kopf-BIP. Die in Tabelle 1.4 aufgeführte 406-prozentige Zunahme für die Zeit von 1940 bis 2007 bedeutet eine jährliche Wachstumsrate von 2,44 %. Bei der Geschwindigkeit verdoppelt sich die reale Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung ungefähr alle 29 ½ Jahre. Bevor man den Anteil des von den Bundesausgaben für Soziales verschlungenen Pro-Kopf-BIP genau festlegen will, sollte man bedenken, dass dieser Betrag nur einen Teil des Anteiles darstellt. D. h., er hängt vom Anteil des BIP, der insgesamt von der Bundesregierung ausgegeben wurde, ebenso ab wie vom Anteil der Bundesausgaben, der nur Sozialprogrammen zugutekam, nicht aber anderen Regierungsaufgaben diente. Abgesehen von einem dramatischen Anstieg während des 2. Weltkriegs und einem dramatischen Abfall danach, lässt sich für die letzten sechs Jahrzehnte ein vergleichsweise stabiler Anteil der Bundesausgaben am BIP erkennen. Tabelle 1.5 ist insofern interessant, als sie zeigt, wie wenig sich mit der Zeit verändert. In der Mitte des letzten Jahrhunderts war der Krieg die unmittelbare Ursache für die wachsende Staatstätigkeit. Die „Nationale Verteidigung“ gehört auch zu jenen Hauptaufgaben, nach denen die OMB ihre Bundesausgaben kategorisiert. Im Fis-

18

Verkettung von Preisindizes, erlaubt die längerfristige Betrachtung der Preisveränderungen repräsentativer Warenkörbe, d. Hrsg.

40

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums  Tabelle 1.4 Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, 1940–2007, in konstanten Dollar, Fiskaljahr 2000 1940

7.491

1963

14.506

1986

25.789

1941

8.435

1964

15.122

1987

26.234

1942

9.826

1965

15.752

1988

27.165

1943

11.338

1966

16.705

1989

27.930

1944

12.503

1967

17.259

1990

28.296

1945

12.770

1968

17.616

1991

27.921

1946

11.861

1969

18.261

1992

28.312

1947

11.037

1970

18.262

1993

28.862

1948

10.871

1971

18.324

1994

29.620

1949

10.947

1972

18.889

1995

30.240

1950

10.965

1973

19.886

1996

30.877

1951

12.014

1974

20.229

1997

31.966

1952

12.347

1975

19.674

1998

32.998

1953

12.756

1976

20.224

1999

34.140

1954

12.537

1977

21.177

2000

34.408

1955

12.772

1978

22.046

2001

34.464

1956

13.235

1979

22.760

2002

34.554

1957

13.204

1980

22.599

2003

34.965

1958

12.889

1981

22.834

2004

35.919

1959

13.320

1982

22.367

2005

36.698

1960

13.650

1983

22.628

2006

37.418

1961

13.566

1984

24.146

2007

37.903

1962

14.126

1985

24.999

kaljahr 1945, das am 1 Juli 1944, also 3 ½ Wochen nach der Landung der Alliierten in der Normandie, begann, betrug dieser Posten 89,5 % der gesamten Bundesausgaben und 37,5 % des BIP. Dieses Ausmaß war anschließend rückläufig, aber als der 1948 einsetzende Kalte Krieg 1950 vom Koreakrieg abgelöst wurde, stiegen die Ausgaben für die nationale Verteidigung wieder an, in Spitzenzeiten (1954) auf 69,5 % der Bundesausgaben und 13,1 % des BIP. Nachdem der Waffenstillstand dem Koreakrieg ein Ende gesetzt hatte, schrumpften die Bundesausgaben, gemessen am BIP, für mehr als ein halbes Jahrhundert stark ein. Sie fielen nur einmal (1956) unter 17 % und überschritten nur zweimal (1982 und 1983) 23 %. Offensichtlich ist die historische Dimension der amerikanischen Kriege seit dem Koreakrieg bedeutender als die fiskalische. Im Fiskaljahr

41

Das große Ganze Tabelle 1.5 Bundesausgaben prozentual gemessen am Bruttoinlandsprodukt, 1940–2007 1940

9,78 %

1963

18,59 %

1986

22,45 %

1941

11,97 %

1964

18,51 %

1987

21,61 %

1942

24,35 %

1965

17,21 %

1988

21,25 %

1943

43,57 %

1966

17,87 %

1989

21,18 %

1944

43,64 %

1967

19,40 %

1990

21,85 %

1945

41,88 %

1968

20,56 %

1991

22,31 %

1946

24,80 %

1969

19,36 %

1992

22,14 %

1947

14,79 %

1970

19,33 %

1993

21,44 %

1948

11,63 %

1971

19,46 %

1994

21,00 %

1949

14,32 %

1972

19,58 %

1995

20,69 %

1950

15,59 %

1973

18,79 %

1996

20,28 %

1951

14,20 %

1974

18,71 %

1997

19,57 %

1952

19,42 %

1975

21,29 %

1998

19,16 %

1953

20,41 %

1976

21,41 %

1999

18,65 %

1954

18,78 %

1977

20,73 %

2000

18,43 %

1955

17,35 %

1978

20,69 %

2001

18,52 %

1956

16,54 %

1979

20,16 %

2002

19,38 %

1957

17,01 %

1980

21,67 %

2003

19,99 %

1958

17,89 %

1981

22,20 %

2004

19,94 %

1959

18,74 %

1982

23,11 %

2005

20,20 %

1960

17,80 %

1983

23,49 %

2006

20,40 %

1961

18,41 %

1984

22,18 %

2007

19,98 %

1962

18,82 %

1985

22,85 %

1968, also auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges, betrugen die Verteidigungsausgaben 46 % der Bundesausgaben und 9,5 % des BIP. Gleichwohl weichen diese Zahlen kaum von denen in Zeiten des Kalten Krieges ab. 1961, als viele Spannungen herrschten, aber nur wenige Kugeln flogen, stellte der Verteidigungshaushalt 50,8 % der Bundesausgaben und 9,3 % des BIP. Der Verteidigungshaushalt begann nach 1968 seinen langen stetigen Abstieg. 1980 betrug er schließlich 22,7 % der Bundesausgaben und 4,9 % des BIP. Die Wiederaufrüstung unter Reagan kehrte diesen Trend zeitweilig und teilweise um. 1986 nahmen die Verteidigungsausgaben 6,2 % des BIP und 28,1 % der Bundesausgaben in Anspruch, doch mit dem Ende des Kalten Krieges 1987 ebbte der Aufwärtstrend wieder ab. 1999 schlugen die Ausgaben für die Verteidigung mit 16,1 %

42

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums  Tabelle 1.6 Sozialausgaben (ausgenommen Kriegsversehrtenprogramme) prozentual gemessen am Bruttoinlandsprodukt, 1940–2007 1940

3,69 %

1963

4,68 %

1986

10,32 %

1941

3,15 %

1964

4,63 %

1987

10,23 %

1942

2,15 %

1965

4,49 %

1988

10,06 %

1943

1,32 %

1966

4,96 %

1989

9,97 %

1944

0,98 %

1967

5,49 %

1990

10,29 %

1945

0,79 %

1968

6,04 %

1991

11,09 %

1946

1,36 %

1969

6,20 %

1992

11,83 %

1947

1,53 %

1970

6,59 %

1993

12,04 %

1948

1,33 %

1971

7,61 %

1994

11,95 %

1949

1,55 %

1972

8,19 %

1995

12,09 %

1950

1,97 %

1973

8,22 %

1996

11,97 %

1951

1,71 %

1974

8,50 %

1997

11,77 %

1952

1,84 %

1975

10,04 %

1998

11,49 %

1953

1,96 %

1976

10,66 %

1999

11,12 %

1954

2,24 %

1977

10,33 %

2000

11,01 %

1955

2,59 %

1978

10,08 %

2001

11,43 %

1956

2,61 %

1979

9,90 %

2002

12,21 %

1957

2,92 %

1980

10,72 %

2003

12,59 %

1958

3,68 %

1981

11,10 %

2004

12,40 %

1959

3,96 %

1982

11,30 %

2005

12,39 %

1960

4,01 %

1983

11,66 %

2006

12,31 %

1961

4,55 %

1984

10,58 %

2007

12,33 %

1962

4,58 %

1985

10,76 %

zu Buche, was 3,0 % des BIP entsprach. Die Kosten für die dann folgenden Kriege in Afghanistan und im Irak waren im Vergleich zu den finanziellen Belastungen der vorausgegangenen Kriege, aber auch im Hinblick auf den Gesamthaushalt und die Volkswirtschaft, recht bescheiden. 2007 belief sich der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bundeshaushalt auf 20,2 % und am BIP auf 4,0 %. Somit war er geringer als 1980, als es zahlreiche Spannungen mit der UDSSR und dem Iran gab und die einzige Militäroperation der misslungene Befreiungsversuch der Geiseln im Iran war.

Das große Ganze

43

Das stetige Wachstum der amerikanischen Wirtschaft hat zur Folge, dass der Verteidigungsetat dem Staat eine im Vergleich zu früher weitaus entspanntere Wahl zwischen Butter und Kanonen lässt. Gemäß des OMB-Deflators für die gesamten verteidigungsbezogenen Ausgaben wurden 2007 $ 426 Milliarden für die Verteidigung aufgewendet; gemessen in Dollar des Fiskaljahres 2000 ist das mehr als in jedem anderen Jahr seit 1945: 2,5 % mehr als mitten im Koreakrieg 1953, als die Verteidigungskosten in konstanten Dollar am höchsten waren, und 1,5 % mehr als 1968 auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges. Der Schlüssel zu alledem liegt darin, dass das reale Pro-Kopf-BIP 2007 um 197 % höher lag als 1953 und um 115 % über dem von 1968. Was für die Verteidigungsausgaben gilt, gilt nicht minder für den Sozialetat: Das wirtschaftliche Wachstum hat eine schnelle Ausdehnung ermöglicht. Tabelle 1.6 zeigt das Wachstum für die Sozialausgaben in Relation zum BIP. Um von 3,69 % auf 12,33 % zu kommen, und das über 67 ¼ Jahre (einschließlich des dem Fiskaljahr 1977 vorangegangenen Übergangsquartals), braucht es eine jährliche Steigerungsrate von 1,81 %. Die in Tabelle 1.3 gezeigte jährliche Wachstumsrate für reale Pro-Kopf-Sozialausgaben von 4,14 % spiegelt das Zusammenwirken der in Tabelle 1.4 enthaltenen jährlichen Steigerung des realen Pro-Kopf-BIP um 2,44 % mit der in Tabelle 1.5 genannten jährlichen Zunahme der am BIP gemessenen Sozialausgaben in Höhe von 1,81 %. Der Kuchen wird immer größer, genauso wie der Anteil, der dem Wohlfahrtsstaat geopfert wird. Folglich wächst das Stück Wirtschaftskuchen namens Wohlfahrtsstaat rechnerisch gesehen nicht nur stetig, sondern quasi zunehmend, um ungefähr das Doppelte alle 17,4 Jahre. Wir können noch einen anderen Blick auf die wechselnde Zusammensetzung des Bundesetats werfen und dabei die Daten offenlegen, die das Wachstum der Sozialausgaben beschreiben. Neben Sozialem und Landesverteidigung bezieht die OMB noch andere große Staatsaufgaben in den Katalog der Bundesausgaben mit ein: – Natürliche Ressourcen (z. B. Energie, Umwelt) – Andere Aufgaben (z. B. Wissenschaft, Internationale Angelegenheiten, Landwirtschaft, Generalgouvernement und Justizverwaltung) – Nettozins der Staatsschulden Wenn man diese verbleibenden Hauptaufgaben mit den Kriegsversehrtenbezügen und Kriegsversehrtenbeihilfen unter „Verschiedenes“ rubriziert, dann gewinnt der Bundesetat seit 1940 ein anderes Aussehen (s. Abbildung 1.1). Hier zeigt sich, dass die Sozialprogramme zur Hauptaufgabe des Staates geworden sind. Unter Ausklammerung der Kriegsversehrtenprogramme haben die Sozialausgaben 1971 den Verteidigungshaushalt zum ersten Mal seit 1940 überholt, d. h. zu einem Zeitpunkt, als Vietnam auf dem Rückzug war und Johnsons

44

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums  100

Prozentualer Anteil an den Bundesausgaben

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1940

1945

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Fiskaljahr Nationale Verteidigung

Sozialausgaben, ausschließlich Versehrtenausgaben

Alles andere, einschließlich Versehrtenausgaben

Abbildung 1.1 Zusammensetzung der Bundesausgaben, nach Superbehörden, 1940–2007

Große Gesellschaft19 auf dem Vormarsch. Johnsons Sozialreformen machten 1972 zum ersten Mal mehr als 40 % des Gesamthaushalts aus. Seither sind sie nie mehr unter dieses Niveau gefallen. 1992 überschritten sie erstmalig die 50 %-Marke und blieben dort für die nächsten 15 Jahre. 1997 lagen sie sogar jenseits der 60 %, und das für weitere acht von zehn Folgejahren. Die nationale Verteidigung, aber auch anderen Aktivitäten der Bundesregierung wurden an den Rand gedrückt, wie dem Graphen 1.3 zu entnehmen ist. Obwohl die Bundesausgaben in Relation zum BIP-Anteil recht stabil geblieben sind, fordern die Sozialausgaben einen immer größeren Anteil von dem, was die Bundesregierung der Wirtschaftsleistung des Landes abverlangt. Der Trend, der in Abbildung 1.2 zu erkennen ist, ist auch in Abbildung 1.3 sichtbar. Wenn wir die 52-jährige Zeitspanne von 1955 bis 2007 betrachten – also die Zeit, nach der die stark angestiegenen Ausgaben für den 2. Weltkrieg und Korea ihren Weg durch das Steuersystem gebahnt hatten –, dann sehen wir, dass die gesamten

19

Gemeint sind die unter diesem Slogan firmierenden Sozialreformen, d. Hrsg.

45

Die Detailanalyse 100

Prozentualer Anteil an den Bundesausgaben

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1940

1945

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Fiskaljahr Nationale Verteidigung

Sozialausgaben, ausschließlich Versehrtenausgaben

Alles andere, einschließlich Versehrtenausgaben

Abbildung 1.2 Bundesausgaben nach Superbehörden, in Relation zu den gesamten Bundesausgaben, 1940–2007

Bundesausgaben, gemessen an ihrem Anteil am BIP, jährlich um recht bescheidene 0,27 % wuchsen; 1955 betrugen sie 17,35 % des BIP, 2007 19,98 %. Die Verteidigungsausgaben, gemessen an ihrem BIP-Anteil, fielen jährlich um 1,87 % von 10,83 % im Jahre 1955 auf 4,04 % im Jahre 2007. Unsere behelfsmäßige Kategorie „Verschiedenes“ fiel pro Jahr um sachte 0,16 % von 3,92 % für 1955 auf 3,60 % für 2007. Die Sozialausgaben (lässt man die Kosten für die Kriegsversehrten einmal außen vor) sind, gemessen an ihrem BIP-Anteil, jährlich um 3,03 % gewachsen, und zwar von 2,59 % des BIP im Jahre 1955 auf 12,33 % im Jahre 2007.

Die Detailanalyse Während die Sozialausgaben in Relation zur gesamten Bevölkerung und deren Wirtschaftsleistung wuchsen, änderte sich auch ihre Zusammensetzung. Das nachstehende Diagramm zeigt die wechselnde Mischung der fünf Bereiche, die unter Ausklammerung der Kriegsversehrtenprogramme die soziale Superbehörde ergeben. Man bedenke dabei, dass für Medicare vor 1966 noch kein einziger Dollar ausgegeben wurde (Abbildung 1.4).

46

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums  50 45

Prozentualer Anteil am BIP

40 35 30 25 20 15 10 5 0

1940

1945

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Fiskaljahr Nationale Verteidigung

Sozialausgaben, ausschließlich Versehrtenausgaben

Alles andere, einschließlich Versehrtenausgaben

Abbildung 1.3 Zusammensetzung der Bundesausgaben, in Relation zum BIP, 1940–2007

Wenn wir die Ausgaben aller fünf Sozialbehörden während der 67-jährigen Periode in konstanten Dollar messen und zusammenaddieren, dann ergibt sich folgende prozentuale Verteilung: Soziale Sicherheit

39,50 %

Einkommensabsicherung

26,62 %

Medicare

15,21 %

Gesundheit

11,57 %

Erziehung, Ausbildung etc.

7,10 %

Wenn wir uns auf die Jahre 1966 bis 2007 beschränken, in denen Medicare bereits griff, dann ergeben sich folgende Anteile: Soziale Sicherheit

39,35 %

Einkommensabsicherung

25,59 %

Medicare

16,05 %

Gesundheit

11,94 %

Erziehung, Ausbildung etc.

7,05 %

47

Die Detailanalyse 100

Prozentualer Anteil der Sozialausgaben

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

1940

1945

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Fiskaljahr Erziehung, Ausbildung, Beschäftigung und soziale Dienste Einkommensabsicherung

Gesundheit

Medicare

Soziale Sicherheit

Abbildung 1.4 Ausgabenbereiche für Soziales in Prozenten der Sozialausgaben, ausschließlich Versehrtenausgaben, 1940–2007

Die nur geringfügige Veränderung in der Gesamtverteilung, die unter Ausblendung der ersten 26 Jahre Sozialhaushalt entsteht, zeigt, wie sehr der Wohlfahrtsstaat seit den Tagen von Johnsons Sozialreformen gewachsen ist. Nur 5,19 % aller Bundessozialetats von 1940 bis 2007 wurden, gemessen in konstanten Dollar, in den ersten 26 Jahren jener 67-jährigen Zeitspanne verbraucht. Das geht aus Abbildung 1.5 hervor, welche die konstanten Dollar für die fünf Bereiche im genannten Zeitraum ausweist. Was für das Wachstum der Sozialausgaben insgesamt gilt, stimmt auch für das Wachstum der sie konstituierenden Bereiche im Einzelnen: vor dem Hintergrund der gestiegenen amerikanischen Wirtschaftsleistung ist es weniger dramatisch (Abbildung 1.6). Wir bekommen ein besseres Gespür für die Veränderung unter den fünf individuellen Komponenten der Bundesausgaben für Soziales, wenn wir deren jährliche Wachstumsraten vergleichen. Tabelle 1.7 enthält einen Vergleich der realen ProKopf-Ausgaben von 1940, 1966 und 2007 und zeigt zwei Wachstumsraten, eine für die besagten 67 Jahre und eine für die Zeit von 1966 bis 2007. Der amerikanische Wohlfahrtsstaat gilt vorrangig der Wohlfahrt alter Menschen. Wenn wir sämtliche Sozialausgaben seit 1940 in Dollar des Fiskaljahres 2000 an-

48

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums  1400

Dollar des Fiskaljahres 2000, in Mrd.

1200

1000

800

600

400

200

0 1940

1945

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Fiskaljahr Erziehung, Ausbildung, Beschäftigung und soziale Dienste Einkommensabsicherung

Gesundheit

Medicare

Soziale Sicherheit

Abbildung 1.5 Sozialausgaben, nach Behörden, in Dollar des Fiskaljahres 2000

geben, dann fallen allein 54,76 % auf die soziale Sicherheit und Medicare, obwohl Medicare erst spät am Horizont auftauchte. Die OMB klassifiziert die Aufwendungen für diese Programme als „zwingend“, im Unterschied zu solchen, die ihr als „Ermessenssache“ erscheinen. Medicare und Soziale Sicherung zählen zu den größten jener Wohlfahrtsprogramme, von denen der Volksmund sagt, man habe einen „Anspruch“ auf sie. Ungeachtet dessen, gibt es noch andere, wie Medicaid, Lebensmittelmarken, Arbeitslosenhilfe. Die Begriffe „zwingend“ und „Anspruch“ bezeichnen ein und dieselbe politische Realität von verschiedenen Warten aus. Aus Sicht der Bundesregierung sind die Mittel für diese Programme zwingend, weil es nicht in der Macht des Kongresses liegt, der Regierung eine festgelegte Ausgabensumme pro Fiskaljahr zu bewilligen. Nehmen wir die Bundesmittel für Lebensmittelmarken als Beispiel: Sie ergeben sich, indem man die tatsächlichen aller berechtigten Antragsteller mit dem Richtwert dessen, was jeder Empfänger bekommen soll, multipliziert. Die Ausgaben sind demnach eine Funktion der vom Kongress in der Vergangenheit verabschiedeten Gesetze  – die manchmal Jahrzehnte zurückliegen  – dienen aber den momentan herrschenden Realitäten. Wenn der Kongress den der Regierung zur Finanzierung dieses Wohlfahrtsprogramms gewährten Betrag ändern will, dann muss er entweder die Berechtigungsstandards, die Berechnung der Unterstützungsleistungen oder die Verfahren, die das Landwirtschaftsamt für die Gewährung verwendet, ändern.

49

Wachstum bei abnehmender Wachstumsrate 1400

1200

Prozent des BIP

1000

800

600

400

200

0 1940

1945

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Fiskaljahr Erziehung, Ausbildung, Beschäftigung und soziale Dienste Einkommensabsicherung

Gesundheit

Medicare

Soziale Sicherheit

Abbildung 1.6 Ausgaben der jeweiligen sozialen Aufgabenbereiche, in Relation zum BIP, 1940–2007

Aus Sicht des Bürgers sind die Auszahlungen zur sozialen Absicherung, Medicare u. a. berechtigte Ansprüche, weil sie die Versprechungen einlösen, welche die Regierung den Menschen gemacht hat. Diese Versprechen sind keine konditionalen Verpflichtungen, also keine, denen die Regierung hinzugefügt hätte: „Wir werden Ihnen helfen …, falls wir es können, und soweit wir es können.“ Der Kongress kann also nicht eine bestimmte Summe für Lebensmittelmarken bewilligen und darauf hoffen, dass die berechtigten Leistungsempfänger ihre Zuteilungen nicht rechtzeitig vor Ablauf des Fiskaljahrs abrufen. Dass die Menschen die Regierung auf die Einhaltung ihrer Dollarversprechen drängen, hat natürlich mit der Tatsache zu tun, dass die Versprechen jenen Individuen nutzen, die für die Auszahlungen der Anspruchsprogramme infrage kommen.

Wachstum bei abnehmender Wachstumsrate Das jährliche Wachstum des Wohlfahrtsstaats während der letzten 67 Jahre um 4,14 % verlief natürlich nicht konstant. Legt man die Pro-Kopf-Bundesausgaben für Soziales in konstanten Dollar zugrunde, dann gab es seit 1940 10 Fälle, in denen die Wohlfahrtskosten gegenüber dem Vorjahr um 10 % sanken, und 16 Fälle, in

50

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums  Tabelle 1.7 Sozialausgaben nach Ressorts: 1940, 1966 und 2007

Ressort

Soziale Sicherheit Einkommensabsicherung

1940 Pro-Kopf-­ Ausgaben in Dollar, Fiskaljahr 2000

1966 Pro-Kopf-­ Ausgaben in Dollar, Fiskaljahr 2000

2007 Pro-Kopf-­ Ausgaben in Dollar, Fiskaljahr 2000

Jährliche Wachs­ tumsrate 1940–2007

Jährliche Wachs­ tumsrate 1966–2007

2,41

494,04

1.639,26

10,18 %

2,95 %

130,51

231,05

1.023,50

3,11 %

3,67 %

Medicare

0

1,53

1.049,88

Gesundheit

4,74

60,71

745,11

7,81 %

17,16 % 6,27 %

Bildung, Fortbildung, etc,

169,99

104,16

256,38

0,61 %

2,21 %

Gesamt

307,66

891,47

4.714,14

4,14 %

4,12 %

denen sie um diesen Faktor stiegen. In Tabelle 1.8 sind diese Brüche im Wohlfahrtsstaatswachstum den Präsidentschaften und deren Laufzeiten zugeordnet. Obwohl die Präsidenten mitten im laufenden Fiskaljahr ins Amt eingeführt werden, sind ihre Haushaltsentwürfe und die Kongressentscheide über Ausgaben, Steuern und Kreditaufnahmen wohlgemerkt fast immer auf das folgende, nicht auf das laufende Fiskaljahr gemünzt. So trat z. B. Präsident Carter sein Amt 1977 an, aber die Fiskaljahre, die von seinen Haushaltentwürfen geprägt waren, betrafen die Jahre 1978 bis 1981. Das Budget für 1977 wurde 1976 vom Kongress und Präsident Ford festgelegt. In unserer Tabelle liegen die Bundesmittel für Soziales im Finanzjahr 1977 der Berechnung der Ausgaben unter Carter zugrunde. Hinzu kommt das „Übergangsquartal“ zwischen den Fiskaljahren 1976 und 1977. Es bewirkt, dass die jährlichen Wachstumsraten während des Quartals in die Berechnung einfließen. Nehmen wir die Nixon / Ford-Präsidentschaft als Beispiel. In ihr gab es einen jährlichen Anstieg um 8,30 %. Diese Rate schlägt jedoch nicht für 96 Monate zu Buche, sondern für 99 Monate. Der Befund, dass die Pro-Kopf-Sozialausgaben unter Präsident Eisenhower acht Mal so schnell wuchsen wie unter Präsident Clinton, ist zweifelsohne kontraintuitiv. Wir müssen diese Tatsache in den richtigen Kontext einordnen. Gemäß der Tabelle ebbt die Wachstumsrate des amerikanischen Wohlfahrtsstaats ab. Alle 16 Fälle, in denen die jährlichen Zuwachsraten des Wohlfahrtsstaats 10 % überstiegen, lagen vor 1976. Die konservativen Zugewinne in der Politik erklären einen Teil dieser Verlangsamung, aber das meiste davon kann man mithilfe einer mathematischen

51

Wachstum bei abnehmender Wachstumsrate Tabelle 1.8 Reale Wachstumsraten der Pro-Kopf-Sozialausgaben (ausgenommen Kriegsversehrtenprogramme) nach Amtszeit und Präsidentschaft Amtszeit; Präsidentschaft

Erstes und letztes Jahr

Anzahl der Jahre

Gesamtes Realwachstum der Pro-KopfSozialausgaben

FDR III

1941–45

4

− 51,84 %

− 16,70 %

FDR IV / Truman

1945–49

4

39,09 %

8,60 %

Truman

1949–53

4

33,35 %

7,46 %

FDR IV /  Truman

1945–53

8

85,48 %

8,03 %

Eisenhower I

1953–57

4

56,27 %

11,81 %

Eisenhower II

1957–61

4

54,32 %

11,46 %

Eisenhower

1953–61

8

141,15 %

11,63 %

Kennedy /  Johnson

1961–65

4

13,93 %

3,31 %

Johnson

1965–69

4

60,60 %

12,57 %

Kennedy /  Johnson

1961–69

8

82,97 %

7,84 %

Nixon I

1969–73

4

45,59 %

9,85 %

Nixon II / Ford

1973–77

4

32,62 %

6,87 %

Nixon / Ford

1969–77

8

93,08 %

8,30 %

Carter

1977–81

4

13,51 %

3,22 %

Reagan I

1981–85

4

5,48 %

1,34 %

Reagan II

1985–89

4

1,85 %

0,46 %

Reagan

1981–89

8

7,43 %

0,90 %

George H. W. Bush

1989–93

4

22,61 %

5,23 %

Clinton I

1993–97

4

7,70 %

1,87 %

Clinton II

1997–2001

4

4,49 %

1,10 %

Clinton

1993–01

8

12,53 %

1,49 %

George W. Bush I

2001–05

4

15,57 %

3,68 %

George W. Bush II

2005–07

2

3,49 %

1,73 %

George W. Bush

2001–07

6

19,60 %

3,03 %

Jährliche Wachstumsraten der Pro-KopfSozialausgaben

52

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

Binsenweisheit besser erklären: Für kleine Dinge ist es leichter, schnell zu wachsen, als für große Dinge. Der kleine amerikanische Wohlfahrtsstaat wuchs in den 1940er und 1950er Jahren recht geschwind, wohingegen der große Wohlfahrtsstaat im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts nur langsam wuchs. Man sollte wissen, dass die realen Pro-Kopf-Ausgaben für Soziales in der Zeit zwischen 1941 und 1945 oder, um es in den Worten Franklin Roosevelts auszudrücken, in der Zeit, in der Dr. Wir-gewinnen-den-Krieg Dr. New Deal verdrängte, um 52 % sanken. Erst 1955 hatten die Ausgaben den Stand von 1940 wieder erreicht. So wurden aus der vom 2. Weltkrieg und Koreakrieg überschatteten Zeit verlorene Jahre für die liberale Idee, den Wohlfahrtsstaat auszudehnen. Was das Wachstum des Wohlfahrtsstaats zwischen dem Kriegsende und der heraufziehenden Großen Gesellschaft von Johnson vorantrieb war die Ausformung des Programms für soziale Sicherheit, dessen erster Berechtigungsschein bereits 1940 ausgestellt wurde. Die Mittel für soziale Sicherheit machten 1945 nur 15 % des Sozialbudgets aus, hingegen mehr als 50 % in 9 von 10 Fiskaljahren zwischen 1957 und 1966. Wichtige Teile des Wohlfahrtsstaats wurden im Verlaufe seiner Heranreifung ergänzt, Stück für Stück. Der Kongress verabschiedete 1956 eine Arbeitsunfähigkeitsversicherung. 1965 rief er zahlreiche neue Programme ins Leben, darunter Medicare, Medicaid, das Gesetz für Elementar- und Sekundärschulen und das Hochschulgesetz. Medicare und Medicaid sind seit 1966 diejenigen Kräfte, die vor allen anderen das Wachstum der Sozialausgaben vorantreiben. Gemessen in konstanten Dollar, stellen die Mittel für Medicare und den Gesundheitssektor, der von Medicaid beherrscht wird, zusammengenommen einen beträchtlichen Teil der gesamten Sozialausgaben: unter Kennedy und Johnson 11 %, unter Nixon und Ford 17 %, 18 % unter Carter, 23 % unter Reagan, 26 % und George H. W. Bush, 32 % unter Clinton und 36 % unter George W. Bush.

Internationale Vergleiche Seymour Martin Lipset meinte einmal, es sei „unmöglich, ein Land zu verstehen, wenn man es nicht mit anderen vergleicht. Wer nur ein Land kennt, kennt kein Land.“20 Anders ausgedrückt: Wer nur ein Land kennt, der kann auf keine Weise feststellen, ob die Dinge, die er von ihm weiß, irgendetwas Besonderes über dieses Land offenbaren oder nur Trends und Grundtendenzen in anderen Nationen bestätigen und somit nichts beleuchten, das nur für das zu untersuchende Land typisch wäre.

20

Lipset (1996), S. 17.

Internationale Vergleiche

53

Wir sollten also den amerikanischen Wohlfahrtsstaat mit anderen Wohlfahrtsstaaten vergleichen. Im Hinblick darauf ist es schade, dass die historischen Daten der OMB zu den Ausgaben der öffentlichen Hand an Amerikas Grenzen haltmachen. Der von uns gewählte Rahmen zur Analyse des amerikanischen Wohlfahrtsstaats reicht nicht über die Landesgrenzen hinaus. Wir können aber durch die Kombination von Daten aus zweierlei Quellen einen alternativen Rahmen für internationale Vergleiche erstellen. Die erste Quelle ist die OECD, die 1961 ins Leben gerufene Koordinierungsstelle, die Industrienationen beim Austausch von Wirtschaftsdaten und politischen Erfahrungen hilft. Ihr jährliches Factbook enthält eine Vielzahl ökonomischer Daten zu den 31 Nationen, welche der OECD angehören und sie finanzieren. Die zweite Quelle ist das amerikanische Statistische Bundesamt für Arbeit (BLS), das seinen Sitz im amerikanischen Ministerium für Arbeit hat. Unter all ihren vielen Publikationen ist auch ein Jahresbericht, der das reale Pro-Kopf-BIP von 16 Industrienationen vergleicht. (Auch die OECD veröffentlicht in ihrem Factbook ähnliche Daten, jedoch in einer weitaus gröberen Form, weil dort jene sich über viele Jahre erstreckenden BIP-Deflatoren fehlen, die Einkommenszahlen in konstanten Dollar generieren lassen.21 Das Factbook 2008 enthält einen tabellarischen Vergleich zu den „öffentlichen Sozialausgaben“ in 30 Ländern, und das für jedes Jahr von 1980 bis 2003. Die von der OECD definierten öffentlichen Sozialausgaben entsprechen in etwa dem, was die OMB darunter subsummiert, wenn auch nicht ganz. Die OECD-Kategorie fasst darunter öffentliche Mittel für „Geld- und direkte Sachleistungen sowie Steuererleichterungen für soziale Zwecke“, z. B. Sozialprogramme für bestimmte Zielgruppen: „Niedrigverdiener-Haushalte … Alte, Behinderte, Kranke, Arbeitslose und junge Menschen.“22 Im Hinblick auf die von uns bislang benutzten Sozialangaben gibt es jedoch drei wichtige Unterschiede. 1. Der „Wohlfahrtsstaat“ der OECD schließt öffentliche Bildungsgelder aus. Eine andere Tabelle aus dem Factbook enthält zwar diese Angaben, aber nur für die Jahre 1995 bis 2004, was ihre Einbindung in die Tabelle zu den öffentlichen Sozialausgaben hinfällig werden lässt. 2. Anders als die Ausgaben für Soziales, die von der amerikanischen Bundesregierung getragen werden, subsummieren die öffentlichen Sozialausgaben neben den Aufwendungen des Bundes auch die der Länder und Kommunen, obwohl die OECD einräumt, dass die „Ausgaben von nachgeordneten Behörden … in einigen Ländern unterschätzt werden dürften.“ 3. Alle Angaben zu den öffentlichen Sozialausgaben werden nur auf eine Art ausgedrückt, nämlich als Anteil am BIP. Die OECD hat in ihrer Aufstellung für einige Länder nur unvollständige Daten hinsichtlich der öffentlichen Sozialausgaben, während andere Länder auf ihrer Liste

21 22

OECD Factbook (2008a). OECD Factbook (2008a).

54

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

im Bericht der BSL, der die Pro-Kopf-BIP vergleicht, fehlen. Die Überschneidungen der beiden Tabellen erlauben einen Vergleich der USA mit immerhin 12 Nationen. Wir beginnen mit einem Blick auf den prozentualen Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am BIP in 5-Jahresintervallen (Tabelle 1.9) Danach werfen wir einen Blick auf das Pro-Kopf-BIP in diesen Ländern (Tabelle 1.10) (Die darin enthaltenen BLS-Daten für Deutschland von 1980 bis 1995 gelten für die alte BRD. Für die Zeit von 2000 bis 2003 gelten sie für das wiedervereinigte Deutschland.) Und schließlich betrachten wir die Daten der Tabellen 1.9 und 1.10 im Zusammenhang, um in Tabelle 1.11 die öffentlichen Pro-Kopf-Sozialausgaben darstellen zu können. „Leistung = Fähigkeit × Wille“ heißt es auf dem Poster, das der Footballtrainer an die Wand des Umkleideraums heftet. Das klingt zwar kitschig, was aber nicht heißt, dass es unwahr wäre oder nichts mit unserer Untersuchung zu tun hätte. Der Umfang aller demokratischen Wohlfahrtsstaaten ist das Produkt aus der Fähigkeit, dem Vermögen, dafür zahlen zu können (und genau das ist es, was das BIP ausdrückt), und dem Willen, dafür aufzukommen (was der prozentuale Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am BIP zum Ausdruck bringt).

Tabelle 1.9 Staatliche Sozialausgaben in 13 OECD-Ländern, prozentual gemessen am Bruttoinlandsprodukt Jahr

1980

1985

1990

1995

2000

2003

Australien

10,9

13,0

14,1

17,1

17,9

17,9

Belgien

23,5

26,1

25,0

26,4

25,3

26,5

Kanada

14,1

17,3

18,4

19,2

16,7

17,3

Dänemark

25,2

24,2

25,5

28,9

25,8

27,6

Frankreich

20,8

25,8

25,3

28,3

27,6

28,7

Deutschland

23,0

23,6

22,5

26,6

26,3

27,3

Italien

18,0

20,8

19,9

19,8

23,2

24,2

Japan

10,3

11,2

11,2

13,9

16,1

17,7

Niederlande

24,1

24,2

24,4

22,8

19,3

20,7

Spanien

15,5

17,8

20,0

21,5

20,4

20,3

Schweden

28,6

29,7

30,5

32,5

28,8

31,3

V. K.

16,6

19,6

17,2

20,4

19,1

20,6

U. S.A.

13,3

12,9

13,4

15,4

14,6

16,2

55

Internationale Vergleiche Tabelle 1.10 Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in 13 OECD-Ländern gemäß dem Statistischen Bundesamt für Arbeit, in Dollar 2005 Jahr

1980

1985

1990

1995

2000

2003

Australien

20.309

22.027

23.995

25.872

30.022

31.643

Belgien

18.529

19.399

22.336

26.810

30.296

30.929

Kanada

23.164

25.162

27.056

27.853

32.562

33.671

Dänemark

20.999

24.064

25.708

28.361

31.987

32.179

Frankreich

20.270

21.311

24.348

25.245

28.357

28.883

Deutschland

22.809

24.358

27.728

28.592

29.738

29.921

Italien

18.661

20.230

23.553

25.034

27.458

27.757

Japan

18.606

20.956

25.936

27.534

28.600

28.959

Niederlande

21.920

22.722

26.132

28.298

33.503

33.653

Spanien

15.145

15.853

19.535

20.764

24.696

25.747

Schweden

20.708

22.578

24.916

25.045

29.364

30.651

V. K.

18.115

19.919

23.141

24.778

28.604

30.365

U. S.A.

25.613

28.682

32.125

34.045

39.277

40.006

Tabelle 1.11 Pro-Kopf-Sozialausgaben in 13 OECD-Ländern, in Dollar 2005 Jahr

1980

1985

1990

1995

2000

2003

Australien

2.214

2.864

3.383

4.424

5.374

5.664

Belgien

4.354

5.063

5.584

7.078

7.665

8.196

Kanada

3.266

4.353

4.978

5.348

5.438

5.825

Dänemark

5.292

5.823

6.556

8.196

8.253

8.881

Frankreich

4.216

5.498

6.160

7.144

7.827

8.289

Deutschland

5.246

5.748

6.239

7.605

7.821

8.168

Italien

3.359

4.208

4.687

4.957

6.370

6.717

Japan

1.916

2.347

2.905

3.827

4.605

5.126

Niederlande

5.283

5.499

6.376

6.452

6.466

6.966

Spanien

2.347

2.822

3.907

4.464

5.038

5.227

Schweden

5.922

6.706

7.599

8.140

8.457

9.594

V. K.

3.007

3.904

3.980

5.055

5.463

6.255

U. S.A.

3.407

3.700

4.305

5.243

5.734

6.481

56

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

Sehr allgemein formuliert zeigen die 13 Nationen, die hier untersucht werden, die Tendenz, die wir bereits bei der Analyse der historischen Daten der OMB bezüglich der amerikanischen Bundesausgaben für Soziales beobachtet haben. Auf lange Sicht wächst beides: das Vermögen und die Bereitschaft, für den Wohlfahrtsstaat zu bezahlen. Jede der 13 Nationen erlebte in dem 24-jährigen Untersuchungszeitraum wirtschaftliches Wachstum. Die jährlichen Wachstumsraten des realen Pro-KopfBIP entnehmen wir Tabelle 1.12. Tabelle 1.12 Jährliche Wachstumsrate des realen Pro-Kopf-Einkommens gemäß dem Statistischen Bundesamt für Arbeit, 1980–2003 Spanien

2,33 %

V. K.

2,27 %

Belgien

2,25 %

U. S.A.

1,96 %

Australien

1,95 %

Japan

1,94 %

Niederlande

1,88 %

Dänemark

1,87 %

Italien

1,74 %

Schweden

1,72 %

Kanada

1,64 %

Frankreich

1,55 %

Deutschland

1,19 %

Man darf ruhig davon ausgehen, dass die Wachstumsrate der deutschen Wirtschaft mit den Wachstumsraten der übrigen 12 Nationen übereinstimmen würde, wenn Deutschland die Hälfte dieser 24 Jahre nicht damit verbracht hätte, Ostdeutschland in eine größere und stärkere Volkswirtschaft zu integrieren. Lässt man diesen Ausnahmefall beiseite, dann liegen die Raten des Wirtschaftswachstums der 13 Nationen dicht an dicht. 12 der 13 untersuchten Nationen hatten 2003 eine größere Bereitschaft, für den Wohlfahrtsstaat zu bezahlen, als 1980. Wie Tabelle 1.13 zeigt, ist in dieser Hinsicht die Streuung breiter als bei der Fähigkeit, den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren, was die Angaben zum Pro-Kopf-BIP in Tabelle 1.12 belegen. Dennoch klaffen auch hier die Daten deutlich auseinander. Jene zwei Länder, die 1980 das geringste Engagement für öffentliche Sozialausgaben vorwiesen, erlebten bei dieser Variablen das schnellste Wachstum. Die vier Länder, die 1980 den staatlichen Sozialausgaben den größten Teil ihrer BIP opferten – Schweden, Dänemark, Niederlande und Belgien – weisen den langsamsten Anstieg aus, wobei die wohlfahrtsstaatlichen Zugeständnisse in den Niederlanden sogar schwanden, und zwar um 14,1 % zwischen 1980 und 2003.

Internationale Vergleiche

57

Tabelle 1.13 Jährliche Wachstumsrate des für Sozialausgaben genutzten prozentualen Anteils am Bruttoinlandsprodukt nach OECD-Daten, 1980–2003 Japan

2,38 %

Australien

2,18 %

Frankreich

1,41 %

Italien

1,30 %

Spanien

1,18 %

V. K.

0,94 %

Kanada

0,89 %

U. S.A.

0,86 %

Deutschland

0,75 %

Belgien

0,52 %

Dänemark

0,40 %

Schweden Niederlande

0,39 % − 0,66 %

Verknüpfe wachsendes Finanzierungsvermögen mit zunehmender Zahlungsbereitschaft, und Du kriegst ein größeres Stück. Wie in Tabelle 1.11 unschwer zu erkennen ist, haben alle 13 Länder 2003 beträchtlich mehr an öffentlichen Mitteln für Soziales bereitgestellt als 1980. Tabelle 1.14 enthält einen Vergleich der Wachstumsraten bei den Pro-Kopf-Sozialausgaben. Tabelle 1.14 Jährliche Wachstumsrate der Pro-Kopf-Sozialausgaben, 1980–2003 Japan

4,37 %

Australien

4,17 %

Spanien

3,54 %

V. K.

3,24 %

Italien

3,06 %

Frankreich

2,98 %

U. S.A.

2,84 %

Belgien

2,79 %

Kanada

2,55 %

Dänemark

2,28 %

Schweden

2,12 %

Deutschland

1,94 %

Niederlande

1,21 %

58

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

Selbst in den Niederlanden, wo die Ausgaben der öffentlichen Hand für Soziales am langsamsten anstiegen, lagen sie 2003 um 31,9 % über denen von 1980. In Japan, dem anderen Extrem, waren sie um 167,5 % höher. Die USA liegt in der Mitte – sechs Länder haben größere, sechs andere haben geringere Wachstumsraten. Lipsets Worte in Ehren, wenn wir über den Wohlfahrtsstaat reden, dann scheint es so, als ob der, der ein Land kennt, alle Länder kennte. Der amerikanische Trend zwischen 1940 und 2007 – stetiges Wachstum sowohl bei der Wirtschaft als auch bei dem für den Wohlfahrtsstaat reservierten Teil der Wirtschaftsleistung – ist auch in den anderen 12 modernen, wohlhabenden Demokratien in der Zeit von 1980 bis 2003 offenkundig. Sieht man einmal von dem am BIP gemessenen geringeren wohlfahrtsstaatlichen Engagement in den Niederlanden ab, dann sind die Übereinstimmungen weitaus bezeichnender als die Unterschiede. Was für die USA charakteristisch ist, ist weder die Tatsache noch das Ausmaß des wohlfahrtsstaatlichen Wachstums, sondern der Kontext. Die USA hat eine signifikant stärkere Wirtschaft als die übrigen 12 Nationen und eine merklich schwächere Neigung, ihre Wirtschaftsleistung für Wohlfahrtshilfen auszugeben. Die auf BLS-Daten zurückgreifende Tabelle 1.15 zeigt die Pro-Kopf-BIP der anderen von uns untersuchten 12 Nationen für 2007, und zwar in US-Dollar des Jahres 2005, und stellt ihnen die Jahre gegenüber, in denen Amerika diese Marken zum ersten Mal überschritt. Tabelle 1.15 Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt 2007, in Dollar 2005, und das erste Jahr, in dem das Pro-Kopf-BIP der USA den Betrag überstieg Spanien

28.079

1985

Italien

28.434

1985

Frankreich

30.724

1988

Japan

31.696

1989

Deutschland

32.228

1992

V. K.

33.191

1994

Belgien

33.607

1994

Australien

34.154

1996

Schweden

34.457

1996

Dänemark

35.213

1997

Kanada

36.243

1998

Niederlande

36.783

1998

U. S.A.

43.267

Internationale Vergleiche

59

Anstatt zu sagen, dass Amerika erheblich wohlhabender ist als die anderen Industrienationen, könnten wir auch sagen, dass es in seiner wirtschaftlichen Entwicklung den anderen um ein bis zwei Jahrzehnte voraus ist. Angesichts der geringfügigen Differenzen zwischen den in Tabelle 1.10 aufgeführten jüngsten Wachstumsraten der jeweiligen Volkswirtschaften sind beträchtliche ökonomische Änderungen nötig, um die Lücke zwischen den USA und den anderen Staaten zu schließen. Hinsichtlich der politischen Zugeständnisse an den Wohlfahrtsstaat  – zumindest an den Teil des Wohlfahrtsstaats, der die Bildung ausklammert – konnten wir Tabelle 1.9 entnehmen, dass jedes andere Land den öffentlichen Sozialausgaben einen größeren Teil seines BIP opfert als die USA. Die einzigen beiden Länder, die irgendwann einmal zwischen 1980 und 2003 der öffentlichen Hand einen kleineren Teil des BIP für soziale Angelegenheiten überlassen haben als die USA, sind Australien und Japan. Australien schloss 1985 erstmalig zu den USA auf und übertraf es ab 1989 in jedem Jahr. Das erste Mal, dass Japan einen größeren Anteil am BIP für Soziales aufwendete als die USA, war im Jahre 1998 – 14,9 % statt 14,8 %. Seither übertraf es Amerika in jedem von der OECD erfassten Folgejahre. Am anderen Ende der Stange hat Schweden einen mehr als doppelt so großen Anteil am BIP den öffentlichen Sozialausgaben geopfert wie die USA, während Frankreich, Deutschland und Dänemark etwas weniger als das Doppelte für diesen Zweck bereitstellten. Die USA, das Land mit den größten Möglichkeiten und dem geringsten Verlangen danach, einen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren, schafft es aber irgendwie in die Mitte des Hauptfeldes, was den absoluten Betrag der dem Wohlfahrtsstaat gewidmeten Mittel angeht. Wie Tabelle 1.11 zeigt, lagen Amerikas staatliche ProKopf-Ausgaben für Soziales über denen Japans, Spaniens, Australiens, Kanadas und des Vereinigten Königreiches, aber unter denen Italiens, der Niederlande, Deutschlands, Belgiens, Frankreichs, Dänemarks und Schwedens. Als Schweden 2003 31,3 % seines BIP der öffentlichen Hand für Soziales zur Verfügung stellte, hätten die USA dasselbe Ausgabenniveau – $ 9.594 für öffentliche Sozialausgaben pro Kopf (Angabe in konstanten Dollar für 2005) – durch Hingabe von 24 % des BIP für besagten Zweck erzielen können. Hätten sie das getan, dann wäre ihr wohlfahrtsstaatliches Zugeständnis, gemessen am BIP-Anteil, nicht nur geringer gewesen als das Schwedens, sondern auch als jene Frankreichs, Dänemarks, Deutschlands, Belgiens und Italiens. Konservative reagieren auf solche Vorschläge höchst alarmiert und pochen darauf, dass Überlegungen darüber, wie eine dynamische Wirtschaft zu einem größeren Wohlfahrtsstaat führt, das Pferd womöglich von hinten aufzäumen. Der Grund dafür, warum in Amerika die Wirtschaft besser floriert als in Schweden oder in Frankreich, liegt ihrer Meinung nach darin, dass der Staat hier in die Art und Weise, wie Wohlstand geschaffen und verteilt wird, weniger reinreden darf als in Europa. Amerika kennt kein Gesetz, das, wie in Frankreich, eine Überschreitung der 35-Stunden-Arbeitswoche verbietet und von Staatsbeamtem überprüft wird, indem

60

1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

diese die Parkplätze abfahren und nach Indizien für „antisoziale Geschäftigkeit“23 suchen. Für die 2005 endende Dekade betrug laut OECD der durchschnittliche Jahresanteil aller in den USA auf das BIP erhobenen Steuern 26 %. In Schweden, Dänemark und Frankreich waren es jeweils 51 %, 49 % und 44 %.24 Die wirtschaftlichen Auswirkungen geringfügiger Änderungen bei den Wohlfahrtsausgaben werfen eine Frage auf, der ich noch nachgehen werde, auch wenn deren Beantwortung über das Ziel des Buches und die Sachkenntnis des Autors hinausschießt. Bis dato wollen wir nur festhalten, dass die Divergenzen zwischen Amerika und den anderen Ländern uns Einiges über die Unterschiede in deren politischen Kulturen verraten. Die staatlichen Sozialausgaben wuchsen sogar unter den Regierungen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher, während die Wirtschaften äußerst hoch regulierter und besteuerter Länder expandierten. Spanien, das ärmste der 13 Länder, hatte 1980 laut BLS ein nahezu doppelt so großes ProKopf-BIP wie 1964, und 2003 70 % mehr als 1980, während das wiedervereinigte Deutschland 2003 nur 31 % mehr aufwies als Westdeutschland 1980. Die einzigen Nationen außer Deutschland, die zwischen 1980 und 2003 keinen 50 %igen BIP-Zuwachs verzeichneten, waren Frankreich (43 %), Kanada (45 %), Schweden (48 %) und Italien (49 %). Sogar die hoffnungslosen Fälle zeigten sich recht robust, auch wenn nach Auffassung der Konservativen ein großer Wohlfahrtsstaat zwangsläufig in den Ruin führt. Robert Samuelson meint z. B., dass Europa „langsam pleitegehe“, weil deren wohlmeinenden Wohlfahrtsstaaten, „die eine starke Wirtschaft“ brauchen, dieselbe mit all den „Quellen ihres Wohlwollens – hohe Steuern, rigide Regulierungen – schwächen.“25 Die Nationen mit den größten Zugeständnissen an den Wohlfahrtsstaat erleben zwar langsameres Wachstum, aber keinen – oder noch keinen, wie einige Konservative sagen würden – wirtschaftlichen Niedergang. Allerdings kann man angesichts der Daten den wiederholten Beteuerungen der Liberalen, dass wohlfahrtsstaatliche Programme eher als Investition, denn als Konsumption zu sehen seien, keinen rechten Glauben schenken. Als Investition gesehen würden diese Programme „sich bezahlt“ machen, möglicherweise sogar „mehr als bezahlt“. So wurden z. B. 2008 auf dem Parteitag der Demokraten die Wörter „investieren“ und „Investitionen“ fast zwanghaft benutzt. Man forderte Investitionen in die Infrastruktur, medizinische Forschung, „von Frauen geführten Unternehmen“, „grüne Energie“, Lehrergehälter, Programme zur Abwendung von Arbeitsplatzverlusten, für berufliche Weiterbildung, Raumfahrt, „Verstehen der Finanzwelt“, Spielplätze, Massenverkehrsmittel, Verbrechensvorbeugung und in „Wälder, Wiesen und Feuchtgebiete“. Zur nebulösen Werbung für internationale Programme

23

Will (2007a). OECD Factbook (2008b). 25 Samuelson (2005), S. A25. 24

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versprach der Parteitag, „in unser gemeinsames Miteinander zu investieren“, ein Versprechen, das die Obama-Regierung nicht als Einengung verstehen wird.26 Dieser tendenziöse verbale Trick wird die Realität wohl kaum beeindrucken. Der Wohlfahrtsstaat mag vielleicht eine gute Sache sein, aber er ist nicht umsonst zu haben. Wenn seine Programme wirklich Investitionen wären, und zwar im eigentlichen Sinne des Wortes, so wie es allgemein verstanden wird, dann hätte Schweden sich schon längst an die Spitze aller wohlhabenden und dynamischen Wirtschaftsnationen gesetzt. Anhand der in den OECD-Daten ersichtlichen Entwicklungen können wir plausibel nachweisen, dass grundsätzlich in keiner der 13 Demokratien die Wähler ein rein hypothetisches Kopplungsgeschäft, bei dem amerikanischer Wohlstand und schwedischer Wohlfahrtsstaat gleichzeitig zu haben wären, ablehnen würden. Aber kein Land und kein Politiker haben bislang herausgefunden, wie man dieses Paket schnüren kann. Solange sie noch danach suchen, sehen sich die Demokratien vor die Wahl gestellt. Nach ihrem bisherigen Verhalten zu urteilen, neigen die Amerikaner zu einem Paket mit einer relativ dynamischen und florierenden Wirtschaft gepaart mit einem schlankeren Wohlfahrtsstaat. Man kann sich kaum vorstellen, dass die Amerikaner diese Variante gegen das schwedische Modell tauschten. 2003 hätte Amerika seine staatlichen Sozialausgaben um 48 % steigern müssen, um mit Schwedens Pro-KopfAufwendungen mitzuhalten. Gleichzeitig hätte es sein Pro-Kopf-BIP um 23 % schrumpfen müssen, um gleichauf mit Schweden zu sein. Amerikas Zögern vor einer Schwedenisierung scheint wohl genauso stark zu sein wie Schwedens Zurückhaltung vor einer Amerikanisierung. Wenn Schweden seine Per-Capita-Mittel für Soziales 2003 auf amerikanisches Niveau reduziert hätte, dann hätte es diesen Etat fast um ein Drittel kürzen müssen, was Schwedens Wohlfahrtsstaat auf den Stand von 1985 zurückgeworfen hätte. Es ist kaum vorstellbar, dass Schwedens Wählerschaft diesen Wechsel stillschweigend hingenommen hätte, auch wenn dieser das Pro-Kopf-BIP garantiert auf amerikanisches Niveau gebracht hätte.

Ist der Himmel schon das Ende? Auf die Bedeutung des amerikanischen Sonderfalles kommen wir am Ende des nächsten Kapitels noch zurück. Doch zuerst wollen wir dieses Kapitel beenden, und zwar durch den Hinweis darauf, dass sich alle 13 Nationen in einer Hinsicht ähneln: „Hunde, die bellen, beißen nicht“. Die Jahre 1980 bis 2003 waren eine Zeit kräftigen Wirtschaftswachstums, eine Zeit, die ihren Anfang nahm, als die Bürger der Industriedemokratien schon die wohlhabendsten Menschen waren, die die Menschheitsgeschichte je gekannt hat. 26

Democratic Party Platform (2008).

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Bemerkenswert daran ist, dass all diese demokratischen Nationen in dem ein Vierteljahrhundert lang wachsenden Wohlstand eher eine Gelegenheit sahen, den Wohlfahrtsstaat auszubauen, als ihn zu reduzieren. Die öffentlichen Sozialausgaben stiegen während dieser Zeit in allen 13 Ländern, in 12 von ihnen in Relation zur Wirtschaft. Die Idee, dass mit zunehmendem Wohlstand deutlich mehr Haushalte ihre medizinische Vorsorge selbst regeln und ihre Bildung, wirtschaftliche Absicherung und Altersvorsorge weitgehend aus eigenen Rücklagen bestreiten können und dadurch die Notwendigkeit und Rechtfertigung staatlicher Fürsorge durch Verlagerung des Wohlstands von einigen auf andere abnimmt, scheint keinen Anlass zu ernsthaftem Nachdenken – geschweige denn zu einem Nachdenken, dem Taten gefolgt wären – angeregt zu haben. Genau diese Frage, warum Wohlstand scheinbar nie den Wohlfahrtsstaat beschneidet, bildet den Kernpunkt unserer Untersuchung. Zum Schwerpunkt USA kommen wir im Anschluss an dieses Kapitel zurück. Doch da wir schon einmal dabei sind, reiche Nationen als Gruppe zu betrachten, noch eine Verallgemeinerung: Politisch betrachtet gibt es sowohl auf der Anbieterseite als auch auf der Nachfragerseite Kräfte, die dafür sorgen, dass stattliche Wohlfahrtsstaaten in wohlhabenden Gesellschaften wachsen, sofern auch deren Wohlstand wächst. Die Kräfte auf der Anbieterseite bilden die Politiker, Publizisten und Aktivisten, welche die Ansicht vertreten, dass soziale Gerechtigkeit und Anstand einen größeren Wohlfahrtsstaat erforderten. Die Kräfte auf der Nachfragerseite bilden jene, welche die Wähler in den Demokratien dazu bringen, nicht nur dem stetigen Wachstum der wohlfahrtsstaatlichen Kosten zuzustimmen – was der leichtere Teil der Arbeit ist –, sondern auch der entsprechenden Zunahme an Steuern und Regulierungen. Wenn wir unser Augenmerk wieder auf die USA richten werden, werden wir uns vor allem der politischen Anbieterseite zuwenden, nämlich der Ideologie des amerikanischen Liberalismus, die an einem unbegrenzt wachsenden Wohlfahrtsstaat festhält. Wir beschließen dieses Kapitel mit einigen Beobachtungen zur Wählerpsychologie, welche die mit der Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats befassten Kräfte der Nachfragerseite formt. Wir beginnen mit der Feststellung, dass die Linderung der Armut die Primäraufgabe des Wohlfahrtsstaats ist – „Armut“ indes ein relativer Begriff. Matt Bai von der New York Times schrieb 2007, dass „das Durchschnittseinkommen des amerikanischen Steuerzahlers 1929 in heutiger Kaufkraft $ 16.000 betrug. Mit anderen Worten: die gesamte Mittelschicht war nach heutigen Maßstäben arm.“27 Eine wohlhabende Gesellschaft vermag den Bedürftigen nicht nur mehr öffentliche Unterstützung zu gewähren als eine arme Gesellschaft, sondern neigt auch dazu, jene Standards der Ernährung, Wohnung, Bildung, Gesundheitsfürsorge und der wirtschaftlichen Sicherheit, die weit unter der Norm liegen, als Affront gegen

27

Bai (2007).

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das Gewissen zu sehen. Eine arme Gesellschaft, die mit diesen Bedingungen vertrauter ist als mit deren Abwesenheit, sieht in ihnen eher einen Bestandteil des menschlichen Lebens als Probleme, die man lösen kann oder lösen sollte. Eine reicher werdende Gesellschaft gewinnt nicht nur an Möglichkeiten, den Armen zu helfen, sondern erwirbt auch ein umfassenderes Verständnis dafür, was es bedeutet, arm zu sein oder jemand, der staatliche Hilfe braucht und verdient. Es ist unklar, wohin und wie weit dieser Trend führen mag. Die erwähnten OMBDaten zeigen für die Zeit von 1940 bis 2007 einen Zuwachs am Pro-Kopf-BIP von 2,44 % pro Jahr. (Die Daten der BLS weisen für die USA im Zeitraum 1960 bis 2007 ein jährliches Wachstum von 2,19 % aus.) Bei dieser Rate wird der amerikanische Durchschnittshaushalt an der Schwelle zum 22. Jahrhundert ein achtfach größeres Einkommen erzielen als heute. Wird jene Nation einen Wohlfahrtsstaat haben, der „arme Menschen“ unterstützt, deren Einkommen demjenigen entspricht, das heute amerikanische Haushalte im oberen Fünftel der Einkommenstabelle haben? Oder im oberen Zehntel? Zwanzigstel? Das ist die logische Schlussfolgerung der Auffassung, die „Armutsgrenze“ solle in Prozenten vom Durchschnittseinkommen ausgedrückt werden – wobei entweder 40 % oder 50 % für gewöhnlich als Schwellenwert genannt werden. John Cassidy vom New Yorker hat diesen Vorschlag 2006 gemacht. Er gibt an, dass gemäß einer Umfrage der Bundesregierung von den als arm eingestuften Haushalten 91 % ein eigenes Farbfernsehgerät, 74 % einen Mikrowellenofen, 55 % einen Videorekorder und 47 % eine Spülmaschine zur Verfügung haben. Ein Grund, solche Menschen für arm zu halten und für sie weiter oder mehr öffentliche Unterstützung zu wollen, ist laut Cassidy, dass „sie in einer Gesellschaft leben, in der viele Familien auch DVD-Spieler, Mobiltelefone, PC, Breitbandinternetverbindungen, leistungsstarke Spielkonsolen, SUV, Fitnessclubmitgliedschaften und Ferienhäuser haben.“28 Wenn die wirtschaftliche Entwicklung der letzten sieben Jahrzehnte auch in den nächsten 7 Dekaden und darüber hinaus anhält, dann ist es allerdings nur eine Frage der Zeit, bis ein großer Teil der armen Bevölkerung Zweit- oder Drittwohnungen mit Breitbandinternetanschluss und SUV hat, um dorthin zu fahren. Eine Verachtfachung des BIP innerhalb eines Jahrhunderts bedeutet, dass ein Haushalt mit nur 25 % des Durchschnittseinkommens sehr wahrscheinlich eine doppelt so hohe Kaufkraft haben wird wie die heutige Durchschnittsfamilie. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie man das Thema der Armutslinderung dann aufbereiten wird. Ungeachtet dessen besteht vieles von dem, was der Wohlfahrtsstaat macht, nicht darin, denen zu helfen, die arm sind, sondern denen, die es nicht sind, aber werden könnten. Die Motive der zunehmend wohlhabenderen Bürger, die für einen zunehmend großzügigeren Wohlfahrtsstaat stimmen, sind zahlreich und kompliziert, und nicht einfach und uneigennützig. Wir können mit Fug und Recht vermuten,

28

Cassidy (2006).

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1. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in Zahlen. Zur Messung des Wachstums 

dass in einer reicher werdenden Gesellschaft immer mehr Bürger sich kaum mehr den Abstieg in die Armut vorstellen können, und zwar im doppelten Sinne: Sie liegt weiter zurück und ist auch abschreckender. Da sie um so vieles tiefer fallen können als ihre Großeltern, steigt ihre Bereitschaft, ein starkes und verlässliches Sicherheitsnetz zu finanzieren. Die Tatsache, dass die ehrgeizigsten Wohlfahrtsstaaten in den OECD-Tabellen, wie z. B. Schweden und Dänemark, die niedrigsten Steigerungsraten bei den in Relation zum BIP gemessenen öffentlichen Sozialausgaben haben, lässt vermuten, dass das Wachstum des Wohlfahrtsstaats langfristig eher asymptotisch als linear verläuft. Wenn das so ist, werden wir keine Kaviarmarken und keine Yachten-für-die-Kleinen-Programme für die Unterprivilegierten der Zukunft erleben. Ab welchem Grad von Wohlstand das liberale Ansinnen vom expandierenden Wohlfahrtsstaat sich als unhaltbar oder gar grotesk erweist, ist die eine Frage. Ob Wohlstand unbegrenzt Wohlstand ertragen kann, ist die andere Frage. Es ist schwer vorstellbar, dass eine Gesellschaft, die derart begütert ist, dass jedes Kind als Treuhandfonds-Spross zur Welt kommt, ihre „Lebensgeister“, die sich im Tragen von Risiken, harter Arbeit, ehrgeizigem, ja kühnem Unternehmergeist dokumentieren, auf Dauer bewahren wird. Wie auch immer, die Möglichkeit, dass unsere Urenkel sich mit der Frage quälen werden, wie viel staatliche Unterstützung man einer nach heutigen Maßstäben wohlhabenden Familie geben sollte, lässt darauf hoffen, dass sie das 21. Jahrhundert im Rückblick als zutiefst friedlich und florierend empfinden werden.

2. Kapitel

Amerikas Wohlfahrtsstaat in der Theorie. Darstellung der Grundidee Einige Autoren, wenn auch keine Politiker, sagen frei heraus, was alle wissen: Die Liberalen wollen für Amerika das tun, was die Sozialisten und Sozialdemokraten für Europa getan haben. Der New Yorker-Korrespondent Hendrik Hertzberg spottet zum Schrecken der Konservativen, dass Amerika bald den „sanften Sozialdemokratien jenseits des Atlantik [ähnele], wo die Menschen im Gegenzug für höhere Steuern und ohne Abbau der bürgerlichen Freiheiten eine ausgezeichnete öffentliche Bildung, ein sorgenfreies Gesundheitswesen und vernünftige öffent­ liche Verkehrsmittel bekommen.“1 Der Wirtschaftsjournalist Robert Kuttner hält es für eine „angemessene gesellschaftliche Investition“, wenn die USA weitere 15 % ihres BIP in soziale Programme steckten. Basierend auf den OECD-Daten haben wir im letzten Kapitel herausgefunden, dass diese Erhöhung aus Amerika einen Wohlfahrtsstaat machen würde, der einen genauso großen Anteil an heimischer Wirtschaftsleistung verschlänge wie der schwedische Wohlfahrtsstaat. Sollte das merklich höhere Pro-Kopf-BIP der Amerikaner Kuttners Absicht überstehen, dann wären rein rechnerisch betrachtet die wohlfahrtsstaatlichen Mittel in Amerika viel größer als in Schweden.2 2003 beteuerte der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass „ein von Sozialdemokraten geformtes Europa heute nötiger sei denn je. Ein solches Europa wird gebraucht, weil wir Europäer auf der Grundlage unseres einzigartigen europäischen Modells der gesellschaftlichen Teilhabe und unserer Wertschätzung des Wohlfahrtsstaats der Welt etwas zu bieten haben … eine Alternative der gerechten Entwicklung und des geteilten Wohlstands.“3 Schröders Formulierung wirft Fragen auf, Fragen nach der politischen, ja sogar der anthropologischen Übertragbarkeit des sozialdemokratischen Modells auf Amerika. Die Geh-mir-nicht-aufdie-Nerven-Mentalität der Amerikaner steht dem liberalen Ansinnen im Weg, was Jonah Goldberg vermuten ließ, dass „Schwedens Regierung einen so großen Erfolg hat, weil sie die Schweden regiert.“4 Seymour Martin Lipset hat die transatlantischen Unterschiede präziser ausgemacht. Die Jahrhunderte des Feudalismus, in denen die Staatsmacht die gegen 1

Hertzberg (2008). Kuttner (2007). 3 Zitiert nach Gersemann (2005). 4 Goldberg (2007). 2

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2. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in der Theorie. Darstellung der Grundidee

seitigen Verpflichtungen unter den Klassen festlegte und sicherte, haben s.  E. Europas Wohlfahrtsstaaten den Weg geebnet. Im 19. und 20. Jahrhundert, als mit der Erweiterung der Rechte der Arbeiter- und Mittelschichten größere Beschneidungen der aristokratischen und kirchlichen Vorrechte einhergingen, wurden die materiellen Vorteile des neugefassten Gesellschaftsvertrages zu den einfachen Leuten umgeleitet. Amerika ist anders. Lipset zitiert den Politikwissenschaftler Walter Dean Burnham: „Kein Feudalismus, kein Sozialismus: mit diesen vier Wörtern kann man die soziokulturellen Grundpfeiler zusammenfassen, die der gewählten Politik Amerikas im industriellen Zeitalter den Boden bereiten.“ Die Konservativen Europas begrüßen Staatseingriffe zur Aufrechterhaltung von Tradition und Einigung der Gesellschaft. In Amerikas „Konservativen“, mit ihrem Hang zum Laissez-faire, sehen sie die Streiter der gewaltigsten Kraft der Moderne, des Kapitalismus.5 Lipset schreibt, der amerikanische Radikalismus am anderen Ende des poli­ tischen Spektrums sei, „anders als die skandinavische Sozialdemokratie, der bürokratische Sozialismus der Fabianisten und der Sowjetkommunismus, von tiefem Argwohn, wenn nicht sogar von Feindschaft gegenüber zentralisierter Macht durchzogen.“ Auch die amerikanische Arbeiterbewegung steht der wuchernden Staatsmacht argwöhnisch gegenüber. Wie auch immer, man geht davon aus, dass der Hauptstrang in Amerikas politischer DNA, nämlich die Achtsamkeit gegenüber der Bedrohung der Individualrechte durch die zentrale Staatsmacht, stark und dauerhaft sei: „Die Patrioten der amerikanischen Revolution, die einen tyrannischen König besiegt hatten, fürchteten die Macht des geeinten Zentralstaates. Durch Gewaltenteilung wollten sie die Tyrannei vermeiden, durch Aufteilung der Gewalten auf verschiedene politische Körperschaften, die alle der Bill of Rights6 unterworfen waren. Die antistaatliche, antiautoritäre Komponente der amerikanischen Ideologie, die Jeffersons Unabhängigkeitserklärung entspringt, ist nach wie vor eine verdeckt wirkende Kraft, die den Sozialismus in den Vereinigten Staaten dauerhaft schwächt.“7

Sie ist auch nach wie vor der wahre Grund dafür, warum Amerika für den Wohlfahrtsstaat einen kleineren Teil des BIP hergibt als jede andere moderne Demokratie. Der Staatsvision der Liberalen entspricht es, den Wohlfahrtsstaat so lange auszuweiten, bis die Kluft, welche das amerikanische Modell vom europäischen trennt, sich schließt. Der Erfolg dieses Vorhabens würde eine weitere Expansion des amerikanischen Wohlfahrtsstaats nicht ausschließen, da alle Wohlfahrtsstaaten, welche die Liberalen Amerikas nachzuahmen versuchen, allesamt stetig weiter anwachsen, sowohl in absoluten Zahlen als auch relativ zum BIP. (Mit anderen Wor-

5

Lipset (1996), S. 109, 35–38. Die Bill of Rights umfasst die ersten zehn Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung, d. Hrsg. 7 Lipset / Marks (2000), S. 22 f. 6

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ten: Schwedens Sozialdemokraten haben sich nicht zum Sieger erklärt und dann aufgelöst. Vielmehr behaupten sie, dass noch so manche große soziale Not gelindert werden könnte, wenn der öffentliche Sektor sich nicht mit 50 % des BIP begnügen müsste. Die historische Bilanz lässt vermuten, dass der schwedische Wähler für solche Klagen ein offenes Ohr haben wird.) Das würde indes bedeuten, dass die USA, sobald sie bei den wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben mit Europa gleichgezogen hätten, weitere Zuwächse erwarten könnten, die Europa bereits während des letzten Vierteljahrhunderts erlebt hat.

Die Progressiven und die zweite Gründung Das politische Anliegen der Liberalen braucht noch ein anderes politisches Projekt als Begleiter, um Amerikas tiefe Abneigung gegen die Staatsgewalt, vor allem gegen die mit breiter Macht ausgestattete und hohe Steuern erhebende zentrale Staatsgewalt zu überwinden. Diese Abneigung kann direkt auf das politische Credo und Erbe Amerikas zurückverfolgt werden. Obgleich Schweden und Franzosen über die Möglichkeit, Steuern zu zahlen, nicht frohlocken und die Staatsbürokraten für deren Erlassen und Durchsetzen von Verordnungen nicht hochleben lassen, so ist doch die Aversion der Amerikaner gegen den wachsenden Staat erheblich stärker als die anderer Völker. Die Aversion ist auch heute, nach vielen Jahrzehnten des amerikanischen Wohlfahrtsstaats, noch ungewöhnlich groß, obgleich sie weitaus größer war, als man denselben aus der Taufe hob. Die Vorläufer der amerikanischen Liberalen waren die Progressiven. (Als in den 1980er Jahren „liberal“ zu einem problematischen Etikett in der Politik wurde, erinnerten einige Liberale an die Zeit vor dem New Deal und nannten sich selbst Progressive.) Die Progressiven sahen ihr zentrales Anliegen darin, jene Amerikaner zu beschwichtigen, die Jeffersons Befürchtung teilten, der erste Schritt auf dem Weg zur Tyrannei sei bereits dann getan, wenn es misslänge, die Herrschaftsgewalt überhaupt und auf die kommunale Ebene zu begrenzen. Woodrow Wilson ist der bedeutendste unter den Progressiven. Sein Aufstieg zu einem der bekanntesten Sozialwissenschaftler der Nation und einem der führenden Theoretiker der Progressiven begann bereits ein Vierteljahrhundert vor seiner Wahl ins Präsidentenamt 1912. In seinem ersten Buch, Congressional Government, das er 1885 geschrieben hatte, kritisierte Wilson die „blinde Verehrung“ der Verfassung, zu der es nur ein einziges Gegenmittel gebe, „unerschrockene Kritik“. Wenn wir Verehrung durch Kritik ersetzen, dann „wird unsere Selbstregierung zu einer klaren Angelegenheit, mit einer simplen Methode, einer einzigen unbeschränkten Befugnis und einem klaren Verantwortungsbereich …“8

8

Pestritto (2005), S. 173.

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2. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in der Theorie. Darstellung der Grundidee

Es ist recht aufschlussreich, Wilsons Angriff auf die Verfassung mit den Federalist Papers9 zu vergleichen, der ruhmreichen Verteidigung der Verfassung. Dort heißt es in jener berühmten Passage aus dem 51. der insgesamt 85 Aufsätze zur Erklärung und Rechtfertigung der Gewaltenteilung: „Wir müssen danach streben, dem Streben eine Kraft entgegenzusetzen. Die Belange der Menschen müssen mit den verfassungsmäßigen Rechten vor Ort verknüpft werden. Der Spiegel der menschlichen Seele selbst lässt solche Vorkehrungen gegen den Missbrauch staatlicher Gewalt notwendig erscheinen. Doch was ist die Staatsgewalt, wenn nicht das Spiegelbild der menschlichen Seele? Wenn Menschen Engel wären, wäre keine Staatsgewalt notwendig. Wenn Engel die Menschen lenken würden, wären weder äußere noch innere Kontrollen der Staatslenkung notwendig. Die größte Schwierigkeit bei der Formung eines Staates, den Menschen verwalten, um Menschen zu regieren, ist die: Zuerst musst Du dem Staat erlauben, die Regierten zu kontrollieren; und dann musst Du ihn verpflichten, sich selbst zu kontrollieren.“10

Zu Beginn seiner Kritik an der damals nicht ganz 100 Jahre alten Verfassung bemängelte Wilson, dass die Konstitution wahrlich keine gute Balance zwischen der staatlichen Notwendigkeit, die Regierten zu kontrollieren, und der Notwendigkeit, von den Regierten kontrolliert zu werden, wahre. Mit dem Gleichgewicht der Gewalten hatte Madison11 dem amerikanischen Staat zwar genügend Macht und Flexibilität verliehen, damit dieser seiner Verantwortung in der kleinen Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts gerecht werden konnte, aber bei weitem zu wenig, um ihn angemessen all die Aufgaben erfüllen zu lassen, die eine den ganzen Erdteil umspannende moderne Industrienation an ihn stellte. Für diese neuen Bedingungen war der amerikanische Staat, den das berühmte, aus unabhängigen Gewalten, Föderalismus und Gewaltenteilung bestehende Verfassungsgebäude vorsah, zu sehr beschränkt, zu wenig mächtig. Der gesellschaftliche und ökonomische Dynamismus, der das Amerika von Thomas Jefferson in das Amerika von John D. Rockefeller verwandelt hatte, gewann an Tempo und verschlimmerte nur noch das Ungleichgewicht der Kräfte in Amerika, die Staatslenkung ebenso verlangten wie die entsprechenden Staatsgewalten zu deren Aufsicht. „Die Regierung eines derart weiten und vielfältigen Landes muss stark, entschlossen, gestalterisch und effizient sein“, schrieb Wilson in Congressional Government. Allerdings, „so, wie die Bundesregierung zurzeit verfasst ist, fehlt es ihr an Stärke, weil die Gewalten geteilt sind, gebricht es ihr an Entschlossenheit, weil es zu viele Autoritäten gibt, fehlt es ihr an Gestaltungsfreiraum, weil die Prozesse im Kreis verlaufen, und mangelt es ihr an Effizienz, weil ihre Verantwortlichkeiten unbestimmt sind und ihre Handlungen keine klare Stoßrichtung haben.“12 Die Uneinigkeit darüber, wie geschmeidig und rasch der Staatsapparat an die sich ändernden historischen Bedingungen anzupassen sei, wiegt weitaus schwerer, als 9

Enthält die wichtigsten Schriften der Befürworter der amerikanischen Verfassung, d. Hrsg. The Federalist Papers, Nr. 51. 11 James Madison gilt als Vater der amerikanischen Verfassung, d. Hrsg. 12 Pestritto (2005), S. 167. 10

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es zunächst erscheinen mag. Der Ismus des Progressivismus ist der Glaube an den Fortschritt. Der Politikwissenschaftler James Ceaser hat es einmal so ausgedrückt: „Während die Gründerväter die Natur als Grundlage der Nation begrüßten und die Geschichte verwarfen, taten die Progressiven genau das Gegenteil. Sie verschrieben sich der Philosophie der Geschichte, in welcher der Fortschritt nicht nur als Hoffnung oder Glaubensstütze begriffen wurde, sondern als objektive Tatsache.“ Laut Ceaser wollten die Progressiven „die ursprünglichen Gründer ersetzen, sie sprichwörtlich ausmerzen und verdrängen.“ Ihr beträchtlicher, aber bislang unvollständiger Erfolg bedeutet, dass Amerika zwei konkurrierende Gründungen hat, eine auf die Natur zurückgehende im 18. Jahrhundert und eine auf die Geschichte zurückgreifende im 19. Jahrhundert.13 Die ersten Gründer glaubten, dass in der Natur beides zu finden sei: die letztendlichen Ziele des republikanischen Staates und deren ernsthaftesten Bedrohungen. Die Ziele lagen in der Gewährleistung der unveräußerlichen Rechte der Menschen, jene, mit denen ihr Schöpfer sie ausgestattet hat, wie es bekanntermaßen in der Unabhängigkeitserklärung heißt. Wilson hingegen meinte 1911, dass „die rhetorische Einleitung der Unabhängigkeitserklärung der Teil mit dem geringsten Wert ist. … Wenn Sie die wahre Unabhängigkeitserklärung verstehen wollen, dann wiederholen sie nicht die Präambel.“14 Im Gegensatz dazu erklärte Calvin Coolidge – der nach Auffassung der meisten Progressiven alles verkörperte, was ein Präsident nicht sein sollte –, warum er die ursprüngliche, auf die Natur fußende Gründung der progressiven, auf die Geschichte verweisenden Gegengründung vorzog: „In der Unabhängigkeit liegt eine überaus wohltuende Endgültigkeit. Es wird oft behauptet, dass die Welt seit 1776 einen großen Fortschritt gemacht hätte, dass wir über neue Ideen und neue Erfahrungen verfügten, die uns im Vergleich zu den Menschen jener Tage ein großes Stück vorangebracht hätten, und dass wir deshalb gut daran täten, ihre Schlussfolgerungen für etwas Moderneres aufzugeben. Aber diese Denkweise wird der großen Charta nicht gerecht. Dass alle Menschen gleich geschaffen sind, ist endgültig. Dass alle mit unveräußer­ lichen Rechten ausgestattet sind, ist endgültig. Dass Staaten ihre gerechten Gewalten von der Zustimmung der Regierten beziehen, ist endgültig. Was diese Lehrsätze angeht, so ist keine Verbesserung, kein Fortschritt möglich. Wenn jemand danach trachtet, ihre Wahrheit, ihre Stichhaltigkeit in Zweifel zu ziehen, dann gibt es für ihn nur eine historische Richtung, in die er schreiten kann: nicht nach vorne, sondern zurück in die Zeit, in der es keine Gleichheit, keine individuellen Rechte, keine Herrschaft des Volkes gab.“15

Die größte Gefahr des republikanischen Staates ist laut Artikel 10 der Federalist Papers die „Interessengruppe“ im Sinne „einer Anzahl von Bürgern, sei es eine Majorität oder Minorität der Bevölkerung, die von einer gemeinsamen Anwandlung, Leidenschaft oder Sache geeint und angetrieben wird und den Rechten der übrigen 13

Ceaser (2006), S. 9. Pestritto (2005), S. 6. 15 Coolidge (1926). 14

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Bürger oder den dauerhaften und gemeinsamen Interessen der Gemeinschaft entgegensteht.“ Der „latente Grund für Interessengruppen“, so Artikel 10 der Federalist Papers, liegt „eingepflanzt in der Natur des Menschen“, weil menschliche Interessen und Meinungen immer im Widerspruch zueinander liegen werden und die Theorien des Menschen immer fehlbar bleiben.16 Wer im Grundstudium die Vorlesung über die Federalist Papers belegt, glaubt für gewöhnlich, dass Interessengruppen deshalb gefährlich sind, weil man politische Fragmentierung und Streitsucht vermeiden sollte. Aber die wirkliche Pointe des 10. Artikels der Federalist Papers ist eher kontraintuitiv: Der Republikanismus ist dann in Gefahr, wenn die Gesellschaft nicht ausreichend fragmentiert ist. Die Gefahr der Interessengruppe oder Fraktion ist die Mehrheitsfraktion, weil sie alle Mechanismen demokratischen Regierens einsetzen kann, um zu unterdrücken, wen immer sie will. Immer dann, wenn eine Mehrheitsfraktion durch ein wirtschaftliches Interesse, gemeinsames Anliegen oder Glaubensbekenntnis geeint ist, dann besteht sie immer noch aus denselben Bürgern. Denen, die in der Mehrheit sind, wird schnell klar, dass die Demokratie als solche sie nicht zwingt, die Rechte derer, die in der Minderheit sind, zu respektieren, weil sie wenig Grund zur Sorge haben, selbst jemals in der Minderheit zu sein. Die Bürger in der Minderheit, ohne wirkliche Aussicht, jemals Teil der Mehrheit zu sein, werden ebenso schnell merken, dass der demokratische Prozess ihre Rechte zumindest gefährdet und schließlich als ihr Unterdrückungsapparat fungieren wird. Die niederschmetternde Erkenntnis, dass sie nie eine Wahl gewinnen werden, liefert der Minorität die Gründe dafür, ihr Heil in undemokratischen Methoden zu suchen, was gewaltfreie Methoden nicht gerade ausschließt. Die Federalist Papers verleihen der Hoffnung Ausdruck, dass Amerika das Grundprinzip der Demokratie, eben die Majoritätsregel, erfolgreich wahrt, ohne den Verführungen der Mehrheitsfraktion zu erliegen. Eine ausgedehnte Republik wird viele Fraktionen haben, viele Interessen, viele Sekten. Aber keine ist dauerhaft oder groß genug, um eine Bedrohung für die Majoritätsregel darzustellen. In einem solchen Gemeinwesen wird die Umsetzung von Eigeninteressen eher besänftigend als radikalisierend wirken. Hier sind die Mehrheiten vergängliche Koalitionen aus vielen kleinen Interessengruppen. Sie werden die Rechte der Minderheiten nicht aus höheren Motiven heraus respektieren, sondern im Bewusstsein, dass die nächste Koalition, die sich zur Lösung des nächsten Problems zusammenfindet, eine Interessengruppe, die heute noch zur Mehrheit gehört, schon morgen Teil der Minderheit werden lässt. Soweit zur Verteidigung dieser Idee. Die Nation selbst ist demnach so verfasst, dass sie die Gefahr der Mehrheitsfraktion reduziert, und der Staat so beschaffen – mit Föderalismus und Gewaltenteilung –, dass er diese zusätzlich mindert.

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The Federalist Papers, Nr. 10.

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Die zweite Gründung fußte laut Ceaser auf der von den Progressiven vertretene Philosophie der Geschichte, die auf Hegel, Darwin und Auguste Comte zurückgriff, ohne deren Ideen zu einem kohärenten und wohldefinierten Ganzen zu formen. Das Fehlen jeglicher Genauigkeit in der Theorie erschütterte die Progressiven jedoch nicht in ihrem festen Glauben daran, „dass es ungeachtet des unausweichlichen Verlaufs der Geschichte nützlich und notwendig sei, wenn jene, die sich der Gesetze der Geschichte bewusst seien, die Dinge gelegentlich vorantrieben.“ Ein Jahrhundert nach Ratifizierung der amerikanischen Verfassung hatten sich viele Sozialwissenschaftler dieses Bewusstsein zu eigen gemacht. Deren Ermächtigung sollte eine „neue Ära der Staatslenkung“ bringen, eine die auf der wohlwollenden Führung von Experten fußte, die jeglicher Parteilichkeit abhold waren.17 Die Progressiven rieben sich daran, wie die Verfassung die Staatsgewalten durch „Kontrollen von innen und außen“ teilte und begrenzte und somit dem Anliegen im Weg stand, eine einzige, unbeschränkte Macht uneigennützigen Experten zu überlassen. Ronald Pestritto brachte Wilsons Überlegungen auf den Punkt und lieferte die Erklärung dafür, warum die Progressiven glaubten, dass die Bedenken der ursprünglichen Gründerväter gegen die Mehrheitsfraktion überzogen und fehl am Platze waren: „Wilson glaubte, dass die menschliche Natur mit dem Fortschreiten der Geschichte besser werde und konstitutionelle Vorkehrungen gegen Gefahren durch Interessengruppen unnötig und zunehmend ungerecht seien. Und schließlich: das Problem der Interessengruppen wird nicht durch dauerhafte Schranken für den Staat, sondern durch die Geschichte selbst gelöst; die Geschichte eint die Empfindungen und den Willen der Nation. Während die Federalists18 daran glaubten, dass der ausgedehnten Republik immer eine Vielfalt von Interessen zugrunde liege, setzte Wilson darauf, dass die Geschichte solchen Partikularismus mithilfe eines zunehmend geeinten Geistes überwinden werde. Seiner Meinung nach sind die latenten Ursachen der Fraktionsbildung der menschlichen Natur nicht eingepflanzt; falls doch, dann wird der Fortschritt der Geschichte die menschliche Natur überwinden.“19

Wenn man die menschliche Natur zur Grundlage einer politischen Philosophie oder eines Staatssystems macht, braucht man für die Unstimmigkeiten nicht zu sorgen. Eine solche Grundlage gibt den Debatten über das, was natürlich und unnatürlich ist, großen Raum. Das „Wir halten diese Wahrheiten für offenkundig“ schleust sogar ein Moment zögerlicher Subjektivität ein, das die Väter der Unabhängigkeitserklärung offenbar solch kategorisch klingenden Formulierungen wie „Diese Wahrheiten sind offenkundig“, „Diese Sätze sind wahr“ vorgezogen haben. Die Progressiven halten die daraus resultierenden Diskussionen über die Natur für reine Zeitverschwendung, weil Darwins Revolution, die der ersten Gründung Amerikas folgte, uns klar gemacht habe, dass es wichtiger sei, Veränderungen zu studieren, statt Wesentliches zu erkennen. In diesem Sinne schrieb der Historiker und 17

Ceaser (2006), S. 9 f. Gemeint sind die Autoren der Federalist Papers, d. Hrsg. 19 Pestritto (2005), S. 6. 18

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glühende Verehrer des Progressivismus Richard Hofstadter 1948: „[Kein] Mensch, der heute so auf der Höhe der modernen Wissenschaft ist, wie die Gründungsväter im 18. Jahrhundert auf der Höhe der Wissenschaft ihrer Zeit waren, glaubt noch an die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur.“20 Die Auffassung der Progressiven, die Diskussion über die Natur zu beenden, weil ein Ende der Debatte nicht absehbar sei, und stattdessen das politische Leben an der Geschichte auszurichten, ist jedoch nicht frei von Problemen. Eine Gründung auf Grundlage der Natur mag zwar unüberbrückbare Meinungsdifferenzen heraufbeschwören, aber eine Gründung auf Grundlage der Geschichte muss unverständliche Meinungen zutage fördern. Es ist schwer, die Natur zu ergründen, aber unmöglich, die Zukunft zu kennen. Im Versuch jener, die politischen Probleme von heute mit Berufung auf die Zukunft lösen wollen, liegt etwas hoffnungslos Zirkuläres, weil, wie C. S. Lewis es ausdrückte, „die Zukunft weitgehend von jenen Entscheidungen abhängt, die sie jetzt mithilfe der Zukunft treffen wollen.“21 Die zweifelhafte Autorität, die jene mit dem Anspruch erheben, weiter als alle anderen über den Horizont hinaus sehen zu können, ist eine von vielen Arten, die eigenen politischen Vorlieben einen größeren Schatten vorauswerfen zu lassen. Die Einsichten, welche die Partei der Zukunft anzubieten hat, sind bei näherer Betrachtung recht banal: Die Zukunft hält immer eine schönere Umgebung bereit als die heutige. Folglich ist alles, was wir bereits heute herausputzen, eine nützliche Einführung in die Zukunft. Wie schon Richard Rorty feststellte, liegt in der Aufgabe all dieser Diskussionen über die menschliche Natur die Entstehung einer neuen politischen Kultur, „in der es unklar ist, ob überhaupt irgendeine abweichende wissenschaftliche oder philosophische Meinung der Hoffnung, welche für die moderne liberale Gesellschaft kennzeichnend ist, etwas anhaben könnte – der Hoffnung, dass das Leben einmal freier, friedlicher, freizügiger und reicher an Gütern und Erfahrungen sei, nicht nur für unsere Nachkommen, sondern für jedermanns Nachkommen.“22 Wenn man die Natur als Ausgangspunkt der Staatsgründung aufgibt, dann bleibt man mit einer Politik zurück, die mit dem Glauben an „die Entwicklung der Verhaltensnormen, die das Fortschreiten einer reifenden Gesellschaft kennzeichnen,“ verbunden ist, stellte das Oberste Bundesgericht 1958 fest.23 Zwei Probleme, ein intellektuelles und ein politisches, belasteten das Vertrauen in den unaufhaltsamen Marsch des Fortschritts. Das intellektuelle Problem bestand darin, dass die ernsthaften Bedenken der Progressiven gegen eine auf die Natur zurückgreifende Staatsgründung mit einem nicht zusammenpassten, nämlich mit ihrem absichtlich naiven Glauben an eine Zukunft, die mit zunehmend anständigeren und verständnisvolleren Menschen zusehends freundlicher wird. Es gab offenkundig kein gutes Argument dafür, warum die sich entwickelnden Verhaltensnor 20

Hofstadter (1973), S. 21. Lewis (1961), S. 118. 22 Rorty (1989), S. 86. 23 Trop v. Dulles, 356 U. S. 86 (1958). 21

Die Progressiven und die zweite Gründung

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men nicht Gegenstand des Skeptizismus sein sollten, den man an den Gesetzen und am Gott der Natur bereits erprobt hatte. Nachdem die Progressiven dies eingesehen hatten, wurde die vormals für objektiv wahr gehaltene Idee degradiert und war laut Ceaser „nur mehr eine Meinung oder Ansichtssache“. Diese Einsicht machte aus der neuen, geschichtsbasierten Gründung eine Gründung, die auf den vergänglichen und eigenwilligen Vorlieben bestimmter Leute, die zufällig zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort lebten, fußte. Ob die „reine persönliche Zusicherung der Verbundenheit“ mit Demokratie und Fortschritt „ausreichen würde, den Liberalismus über die Zeit zu retten“, war laut Ceaser mehr als zweifelhaft.24 Das politische Problem hingegen lag darin, dass mit der Fortschrittsideologie eher Staatsenthaltsamkeit als Staatsaktivität überzeugend begründbar war. Wenn eine bessere Zukunft unsere Bestimmung ist, dann ist die Mitwirkung von poli­ tischen Hebammen nicht dringend erforderlich. Ihre Einbindung kann sich sogar als unnötig bis kontraproduktiv erweisen. So argumentierten die Sozialdarwinisten, die dachten, dass weichherzige Staatseingriffe den unvermeidlichen Aufstieg der Bestangepassten und den Abstieg der Schlechtestangepassten nur verzögerten. Die Progressiven hielten dagegen und betonten, dass die Vorahnung der uneigennützigen Experten für einen schnelleren und ebenmäßigeren Übergang in eine bessere Zukunft unverzichtbar sei. All dies taten sie auch auf die Gefahr hin, dass die mit ungebrochener Macht ausgestatteten Experten eventuell gar nicht so vorausschauend und uneigennützig sein würden wie gedacht. Die Progressiven rechneten nicht damit, dass die Soziologen die Macht in einem Staatsstreich an sich reißen könnten. In einer Demokratie würden die politischen Führer eine vermittelnde Rolle einnehmen und den Menschen zu verstehen geben, dass die Expertenmeinungen über die Zukunft nicht mehr sind als das, was die Menschen selbst, aber nur lückenhaft über ihre künftige Bestimmung wissen. „Keine Reform hat Erfolg, auf die die Menschen nicht geistig vorbereitet sind“, sagte Woodrow Wilson 1889 in einem Vortrag über die Kunst des Herrschens. „Die wenigen Eingeweihten sind daher keine guten Führer, wenn sie ihre Anweisungen nicht den Vielen weitervermittelt haben, wenn sie ihre Ideen nicht in eine gemeinsame, populäre Idee umgemünzt haben.“ Daher, so Wilson weiter, liege Führerschaft in der „Deutung“.25 Diese Idee wiederholte er 23 Jahre später als Präsidentschaftskandidat: „Es ist Sache eines jeden Staatslenkers, auf das zu hören, was die Nation sagt, und zu wissen, was sie erleidet. Es ist nicht seine Sache, für die Nation zu urteilen, sondern durch die Nation zu urteilen, als ihr Sprecher und ihre Stimme.“26 Die hegelsche Komponente in Wilsons Denken erleichtert es, ihn von den Sozialdarwinisten zu unterscheiden, allerdings mit der Folge, ihn weniger gut von den modernen Totalitären abheben zu können. Das 20. Jahrhundert hat unfassbare 24

Ceaser (2006), S. 12. Pestritto (2005), S. 221. 26 Zitiert nach Kesler (1984), S. 123 f. 25

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Gräueltaten erlebt, begangen von politischen Bewegungen, welche die Kontrolle über die Regierung eines Landes an sich gerissen haben und ihre Brutalitäten mit der Rolle des Führers als Stimme des Volkes rechtfertigten, der erleuchtet die Bestimmung der Nation erkannt habe. Jonah Goldberg macht in seinem Buch Liberal Fascism darauf aufmerksam, dass der Liberalismus zu fast 100 % zum Totalitarismus passe, was von der großen Mehrheit der Kritiker, welche die politische Ausrichtung des Buches nicht mochten, hervorgehoben und belächelt wurde. Einer von ihnen, Michael Tomasky, gestand zwar zu, dass es eine „gewisse Blutsverwandtschaft zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten“ gebe, besteht aber darauf, dass diese nichts zum Verständnis des Liberalismus beitrage. „Jeder, der einen Einführungskurs für Liberalismus besucht hat, begreift, dass es von Anfang an tief im Innersten des Liberalismus etwas gab, das ihn vom Abgleiten in den Faschismus abhielt, und dass dieses etwas seine explizite Anerkennung dessen ist, dass der Staat beiden dienen muss, den gemeinsamen Zielen und der individuellen Freiheit. … [Wo] das kollektive Verlangen die Grenze zum Zwang überschreitet, genau da verlässt der Liberale den Zug – ich meine den Liberalen, der etwas vom Liberalismus versteht – und tut alles Gewaltfreie, um ihn zum Entgleisen zu bringen.“27

Tomaskys Entgegnung auf Goldberg ist ebenso hartnäckig wie hilflos. Er hat uns nicht mehr zu sagen, als dass „etwas tief im Innersten des Liberalismus“ die Liberalen gewissenhaft vorgehen lässt. Von Tomasky erfahren wir auch nichts über den genauen Verlauf der Grenzlinie, die erlaubte Sozialreformen von unerlaubten Beschränkungen der individuellen Freiheit trennt.

Neue Rechte im Neuen Deal Die Worthülsen und die Abwehrhaltung in Tomaskys Antwort sind ein Beleg dafür, dass der Sieg der Progressiven über die naturrechtliche Gründungsidee Amerikas nur ein Teilerfolg war. Noch heute im 21. Jahrhundert haben die Amerikaner eine starke Bindung an die Lockeschen Naturrechte, die der dauernden Gefahr eines exzessiv starken, umtriebigen und undisziplinierten Staates ausgesetzt sind. Das Vorhaben der Progressiven war schlicht und ergreifend außerstande, die Amerikaner davon zu überzeugen, ihre Bedenken hinsichtlich der Gefahren einer ungeteilten Staatsgewalt für die Naturrechte aufzugeben. Stattdessen verlangte der Progressivismus von den Amerikanern, ihr Vertrauen in visionäre Führer und sozial gesinnte Experten zu setzen und ihnen alle staatliche Macht zu übertragen, die sie zur Beschleunigung der herannahenden besseren Zukunft brauchen. So wie die Zukunft vorherbestimmt war, so war es auch vorherbestimmt, dass sie durch reaktionäre Kräfte verschleppt oder aufgehalten werden konnte. Dank der rhetorischen Erfindungsgabe Franklin Roosevelts setzte sich der Progressivismus auch über diese Hindernisse erfolgreich hinweg. Zu Beginn seiner 27

Tomasky (2008).

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Kampagne um die Präsidentschaft für 1932 behandelte FDR28 die Frage des wachsenden Staates immer im Rahmen der Idee, den Staat auf der Grundlage der Natur zu errichten, immer im Sinne einer Aufrechterhaltung und Aktualisierung dieser Idee, nie im Sinne ihrer Ablehnung. Sydney Milkis zufolge verschaffte „FDRs geschickte Umdeutung der amerikanischen Verfassungstradition den Prinzipien der Progressiven Legitimität, und zwar indem sie diesen die Sprache des Konstitutionalismus verlieh und als Ausdehnung, nicht aber als Aushöhlung der Naturrechtstradition interpretierte.“ Bezeichnenderweise gab FDR diese Richtung vor, indem er den Begriff „Liberalismus“ mit Begeisterung aufgriff, um mit ihm die Philosophie des New Deal zu bezeichnen. Den Begriff „Progressivismus“ und die mit ihm verbundene Kritik an der Gründung Amerikas schickte er dagegen für lange Zeit ins Exil. Um all das zu erreichen, entriss er den Verteidigern begrenzter Staatstätigkeit den „Liberalismus“, wobei diese freudlos klein beigaben und sich „Konservative“ nannten.29 Die Innovationen, die FDR zur politischen Sprache Amerikas beisteuerte, waren ein integraler Bestandteil seiner inhaltlichen Umformung der amerikanischen Regierungspolitik. Vor dem New Deal war die Bundesregierung eine „entlegene Autorität mit einem beschränkten Handlungsspielraum“, schreibt der Politikwissenschaftler Valdimer Key. „Sie war Betreiber der Post, besserte Flüsse und Häfen auf, unterhielt bewaffnete Truppen, die nur Bananenrepubliken Furcht einzujagen vermochten, und nahm noch die eine oder andere Aufgabe wahr, von denen der Durchschnittsbürger kaum etwas wusste.“30 Der New Deal setzte einen drama­ tischen Anstieg der bundesstaatlichen Aufgaben erfolgreich durch, und zwar indem er eine erhebliche Bedeutungserweiterung des Rechtebegriffs zur „Grundlage des politischen Dialogs in den Vereinigten Staaten“ machte, so Milkis. „Mit dem Aufkommen des New Deal-Staatsverständnisses machte die Idee, Rechte seien zur Beschränkung des Staates da, nach und nach einem umfassenderen Rechtsbegriff Platz, einem, der dem Staat nicht nur die unermüdliche Suche nach Problemen abverlangte, sondern auch die Ausschau nach Methoden, mit denen jene Probleme bewältigt werden sollten.“31 Der politische Erfolg des New Deal war nicht nur ein Sieg der Programme und Debatten. Die virtuose Darstellerleistung von Franklin Roosevelt als Figur des öffentlichen Lebens war ebenfalls ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Erfolges. Richard Neustadt, der sich der Erforschung der Präsidentschaften gewidmet hat, meint, „Roosevelt hatte, wie kein anderer Präsident vor ihm, keinerlei Vorstellung von dem Amt und wie es auszufüllen sei. Er war das Amt. Sein Bild vom Präsidentenamt war Er-selbst-im-Amt.“32 28

Gängige Abkürzung für Franklin Delano Roosevelt, d. Hrsg. Milkis (2002), S. 39 f. 30 Key (1966), S. 31. 31 Milkis (1993), S. 48. 32 Neustadt (1980), S. 119. 29

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FDR führte den Begriff „New Deal“ 1932 in seiner Dankesrede auf dem Parteitag der Demokraten ein, die ihn damals zum Kandidaten kürten. Die Rede wie auch ihr Inhalt hatten eine riesige Resonanz. Vor 1932 hätte ein Präsidentschaftskandidat zu Hause gewartet – weit weg von dem Ort, an dem die Partei ihren Konvent abhielt, bis eine Abordnung ihn über die Entscheidung der Partei, ihn nominieren zu wollen, informiert und anschließend bedrängt hätte, die Wahl anzunehmen. Das Ritual erinnert an die Legende, der zufolge Lucius Quinctius Cincinnatus das Feld pflügte, als ihn 458 v. Chr. eine Abordnung des römischen Senats ersuchte, das Amt des Diktators zu übernehmen und die Armeen zurückzudrängen, die Rom bedrohten. Cincinnatus nahm an, besiegte die Feinde Roms und legte noch am Tag der Entscheidungsschlacht sein Diktatorenamt nieder, um auf seinen Landsitz zurückzukehren. George Washington, der „Cincinnatus Amerikas“, kehrte sogar zweimal auf seinen Landsitz nach Mount Vernon zurück, statt seinen Ruhm zur Verewigung seiner Macht und Herrlichkeit zu nutzen; zum ersten Mal 1783 nach der Schlacht von Yorktown, und dann 1797 nach seiner zweiten Amtszeit als Präsident. FDR sagte 1932 vor den Delegierten der Demokraten, sein Auftritt sei „beispiellos und ungewöhnlich“, aber die Depressionskrise erfordere es nun mal, mit vielen „absurden Traditionen“ zu brechen. Die von FDR angesprochene Absurdität lag in der Vortäuschung des Kandidaten, nichts von seiner Nominierung gewusst zu haben, bis die Abordnung vor seiner Haustür stand; ein Anachronismus aus der Zeit, die weder Telegraphen noch Radio oder Telefon kannte. Bevor es solche Technologien gab, also auch zu den Lebzeiten von Cincinnatus und Washington, konnte eine Information nur so schnell reisen wie die Menschen, die sie in ihren Köpfen oder auf Papier bei sich trugen.33 Die weitaus wichtigere Absurdität, auf die FDR nur nebenher verwies, war die Vortäuschung des Kandidaten, sich nicht um seine Nominierung zu scheren. Die Aufgabe der Delegierten, die vom Konvent entsandt wurden, lag darin, den Nominierten davon zu überzeugen, sein Privatleben dem hohen Amt zu opfern und der Aufforderung nachzukommen, seine Pflicht für das Wohl der Partei und des Landes zu tun. In der Tat hat es etwas Lächerliches an sich, wenn ein Kandidat, der wie wild geschachert hat, um seine Präsidentschaftsnominierung zu sichern, vorgibt, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er annehmen sollte oder nicht. Von den Amerikanern, die alt genug sind, um sich an die Präsidentschaftskampagne von 1952 erinnern zu können, dürfte nur noch eine kleine Schar in der Lage sein, die damaligen Präsidentschaftskandidaten beim Namen zu nennen (Dwight Eisenhower und Adlai Stevenson). Beide taten so, als ob sie nur widerwillig am Rennen ums Präsidentenamt teilnähmen. All ihre Nachfolger haben seither ihr Ziel offen, strebsam, ja sogar oft verzweifelt verfolgt. Wie absurd auch immer die Tradition war, die FDR 1932 mit seinen Taten und Worten zu Grabe getragen hat, sie war nur ein Abbild der Angst vor der Gefahr, die 33

Roosevelt (1932b).

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eine ungeteilte Staatsgewalt für die Rechte des Einzelnen darstellte. Das schwerstwiegende Bedenken galt dem Aufkommen eines Führers, der sein Prestige in der Manier eines Julius Caesar nutzen würde, um mehr und mehr Macht auf sich zu vereinigen, statt das Wohl der Republik über das eigene zu stellen, so wie es Cincinnatus und Washington getan hatten. FDR gab den Delegierten zu verstehen, dass sein Auftritt zum „Symbol für seine ehrlichen Absichten und seine Ablehnung jeglicher Heuchelei und Gaukelei“ werden sollte. Das vorgetäuschte Desinteresse an der Präsidentschaft sollte nicht länger lobenswert sein, und die Schmähung derer, die nach dem Amt streben, nicht länger der Preis für die hohe Tugend der sozialen Reformen. „Lasst uns von nun an das Brechen mit törichten Traditionen zu unserer Aufgabe machen“, sagte FDR. „Lasst uns hier und heute beschließen, das Land wieder auf den Weg zu wahrem Fortschritt bringen, zu wahrer Gerechtigkeit und wahrer Gleichheit für alle Bürger, große und kleine.“34 Zu den „törichten Traditionen“, mit denen FDR brechen wollte, zählte auch ein allzu wörtliches und enges Verstehen der Staatsgründung. Amerika wieder auf den Weg bringen sollte heißen, dass der New Deal der wahre Gründergeist sei, und die Befürworter beschränkter Staatsgewalt, die Jefferson bedrängt hatten, die Verräter dieses Geistes. Am 23. September 1932 hielt FDR im Commonwealth Club in San Francisco eine Rede, in der er sich über die Bedeutung von Fortschritt, Gerechtigkeit und Gleichheit ausließ. Diese Rede gilt gemeinhin als das „Manifest des New Deal“, um eine Redewendung von Milkis zu verwenden.35 Die Ansprache vor dem Commonwealth Club zeigt, wie FDR die Auffassung des Progressivismus übernahm und die auf die Natur sich berufende Gründung Amerikas verunglimpfte. In ihr spricht er vom Gemeinwesen als Vertrag, aber nicht als Gesellschaftsvertrag unter Individuen, die einen Staat bilden, um ihre natürlichen Rechte zu wahren. Stattdessen meint er einen Vertrag, bei dem „die Staatslenker mit Macht ausgestattet werden und die Menschen nach reiflicher Überlegung dieser Macht zustimmen, weil ihnen bestimmte Rechte eingeräumt werden.“ An diesen Rechten ist nichts, das irgendwie unveräußerlich wäre, weil sie Ihnen von Anfang an nicht gehörten. Im Gegensatz zu Coolidge, der 1926 gesagt hatte, dass die in der Unabhängigkeitserklärung genannten offenkundigen Wahrheiten bezüglich der Unveräußerlichkeit von Rechten endgültig seien und dass es in der Hinsicht kein weiterer Fortschritt mehr erzielbar sei, behauptete FDR: „Es war schon immer die Aufgabe der Staatskunst, diese Rechte im Sinne einer sich ändernden und wachsenden gesellschaftlichen Ordnung neu zu definieren.“36 FDR beendete seine Rede vor dem Commonwealth Club mit einer Aktualisierung – besser: Neufassung – des amerikanischen Gesellschaftsvertrages, dessen Klauseln „so alt sind wie die Republik und so neu wie die neue wirtschaftliche Ordnung.“ In ihr bedeutet das Recht auf Leben „ein Recht auf ein angenehmes Le 34

Roosevelt (1932b). Milkis (2002), S. 35. 36 Roosevelt (1932c). 35

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ben“, bedeutet das Recht auf Eigentum „ein Recht auf bestmögliche Absicherung seiner Ersparnisse.“ Weil „alle Eigentumsrechte sich der Sicherheit der Ersparnisse fügen müssen“, darf der Staat rechtmäßig „die Transaktionen von Spekulanten, Manipulatoren, ja auch von Geldgebern einschränken.“37 FDRs Deutung der letztgültigen Rechte in Bezug auf Freiheit und Streben nach Glück ist besonders interessant. Er sagte, dass „die ‚alten Rechte an den persön­ lichen Fähigkeiten‘ – das Recht zu lesen, zu denken, zu reden, zu wählen und nach eigener Façon zu leben – auf jeden Fall respektiert werden müssen.“ Diese Aussage scheint FDRs Auffassung, dass Rechte gemäß der neuen Bedingungen – vor allem gemäß der neuen wirtschaftlichen Bedingungen – umzudefinieren seien, zunächst zu widersprechen. Indem er aber einige Rechte für weniger dehnbar erklärt als andere und der Ehrenliste an Rechten, die unter allen Umständen respektiert werden müssen, die nebulösen Rechte, zu wählen und nach eigener Façon zu leben, hinzufügt, verschafft er dem Staat einen enormen Einflussbereich. Die „Freiheit, das zu tun, was andere um ihre elementaren Rechte bringt“, meinte er, „läge außerhalb dessen, was eine Abmachung zu schützen habe.“ D. h., sie erhält vom Vertrag zwischen Staat und Regierten keinerlei Schutz. Wofür der Staat zu sorgen hat, ist vielmehr die „Wahrung der Balance“. Es gibt wohl kaum Zweifel daran, wem FDRs Balance zum Vorteil gereichen wird: Auf der einen Seite sitzen diejenigen, die ihre elementaren Rechte an ihren persönlichen Fähigkeiten nutzen, ohne anderen zu schaden, und auf der anderen Seite jene, die ein Eigentumsrecht nach veraltetem Verständnis fordern, kein aktualisiertes, das der neuen wirtschaftlichen Ordnung entspräche. Wenn Letzterer am Zuge ist, „der einsame Wolf, der unmoralische Mitbewerber, der rücksichtslose Agent“, der „die [Finanz-]Industrie in die Zeit der Anarchie zurückzuwerfen droht, dann ist fürwahr der Staat gefordert, ihm Schranken aufzuerlegen.“38 Roosevelt verbrachte seine gesamte Präsidentschaft damit zu, seine zentrale Botschaft immer wieder umzuformulieren und mit neuen Akzenten zu versehen; die Botschaft, dass der New Deal die Gründungsprinzipien Amerikas an die neue wirtschaftliche Ordnung der Nation anpasste. Die Konsequenzen des New Deal mochten dramatisch gewesen sein, aber seine Absichten wurden als wohlwollend, ja sogar als konservativ präsentiert. Auf FDRs Drängen tauchte z. B. auf dem Parteitag der Demokraten 1936 immer wieder die in der Unabhängigkeitserklärung verwendete Iteration von den offenkundigen Wahrheiten auf.39 Folglich erklärte man auf dem Parteitag: „Wir halten diese Wahrheit für offenkundig, nämlich dass der Staat in einer modernen Zivilisation bestimmte unabweisbare Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern hat: 1. Schutz der Familie und des Heims; 2. Bildung einer Demokratie mit gleichen Chancen für alle; 3. Beistand denen, die von einer Katastrophe ereilt wurden.“ Die Fahnen, die man zur Verabschiedung der 1. Ver 37

Roosevelt (1932c). Roosevelt (1932c). 39 Schlesinger (1960), S. 581. 38

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pflichtung des New Deal schwenkte, dienten zugleich als Leichentücher, mit denen John Dillinger und die nationale Industriellenvereinigung bedeckt wurden: „Wir haben gerade damit begonnen, unser Land von Kidnappern und Banditen zu befreien, und werden unseren erfolgreichen Kurs fortsetzen. Wir werden auch weiterhin mit der Macht des Staates den Übeltätern großer Reichtümer, welche die Menschen betrügen und ausbeuten, das Handwerk legen.“ Und mit dem Blick nach vorne versprach man: „Auf der Grundlage des Gesetzes zur sozialen Sicherheit sind wir dazu entschlossen, die Grundstruktur für eine allseitige wirtschaftliche Sicherheit aufzubauen und sicherzustellen, damit dieses Leistungspaket mit Amerikas ständig wachsender Fähigkeit, allen Bürgern einen hohen Lebensstandard zu gewährleisten, Schritt halten wird.“40

Der New Deal und die neue Verfassung Der Erdrutschsieg, den FDR bei der Wahl 1936 errang, zeigt, dass die Wähler nicht nur für die Sachvorteile des New Deal empfänglich waren, sondern auch für die Beteuerungen der Demokraten, an den Gründungsprinzipien Amerikas festzuhalten. Der Parteitag der Republikaner hatte 1936 mit wenig Erfolg verkündet, dass „Amerika in Gefahr schwebt“, und diese Gefahr damit begründet, dass die Freiheit und die Chancen der Menschen und „ihr Charakter als freie Bürger zum ersten Mal … durch den Staat selbst bedroht“ seien. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Die Republikaner gelobten, „allen Versuchungen zu widerstehen, die Autorität des Obersten Bundesgerichtes der Vereinigten Staaten auch nur im Geringsten anzuzweifeln, ist er doch die letzte Bastion der Bürgerrechte vor den willkürlichen Übergriffen der legislativen und exekutiven Gewalten des Staates. Ohne eine unabhängige Justiz kann es keine individuelle Freiheit geben.“41 Dieses Versprechen war ein klares Zugeständnis an die Art und Weise, wie das Oberste Bundesgericht dem New Deal während FDRs erster Amtszeit Knüppel in die Beine warf. Bekannt dürfte vor allem die einstimmige Entscheidung von 1935 im Fall Schechter sein, die das Gesetz zum wirtschaftlichen Wiederaufschwung (NIRA)42 für verfassungswidrig erklärte. Das Gesetz, das 1933 während der „Hundert Tage“ unter Roosevelt verabschiedet worden war, hatte die Nationale Wiederaufschwungsbehörde (NRA43) ins Leben gerufen, die darüber wachte, dass 700 Branchen sich Verordnungen zum fairen Wettbewerb gaben. Diese enthielten in der Regel Mindestlohnbestimmungen, schrieben das Maximum an Arbeitszeiten vor und legten Obergrenzen für Güterpreise fest. Die Unterschrift des Präsidenten verlieh der Verordnung die Kraft des Gesetzes. Die NRA verkörperte die Idee, die 40

Democratic Party Platform (1936). Republican Party Platform (1936). 42 National Industrial Recovery Act (NIRA), Gesetz, das der Überwindung der Wirtschaftskrise dienen sollte, d. Hrsg. 43 National Recovery Administration, d. Hrsg. 41

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FDR in seiner Commonwealth-Rede dargelegt hatte: Die „verantwortlichen Köpfe in Industrie und Finanz müssen, statt jeder für sich, gemeinsam handeln, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Wo immer nötig, müssen sie den einen oder anderen privaten Vorteil opfern, und im gegenseitigen Verzicht müssen sie den Vorteil für alle suchen.“ An einer späteren Stelle seiner Rede lobte er die Idee der „privaten Initiative, getragen von hoher Verantwortung, unterstützt und ausbalanciert, soweit es der Staat vermag.“44 Die NRA zeigte während der zwei Jahre ihrer Existenz allerdings herzlich wenig Verantwortung und Selbstverzicht. Folgt man David Kennedy, dann waren die „erbärmlichen und absehbaren Ergebnisse“ vielmehr „Verordnungen, die nichts weiter einbrachten als die Kartellierung großer amerikanischer Industriezweige unter der Schirmherrschaft des Staates.“ Außerdem „blähte die NRA zu einer Riesenbürokratie auf.“ 4.500 Mitarbeiter verwalteten die Verordnungen, die insgesamt 13.000 Seiten umfassten und zu denen es 11.000 behördliche Entscheide gab. Wer den bescheidenen Wunsch hegte, eine Eisenwarenhandlung zu führen, musste allein 19 Verordnungen einhalten.45 Nicht wenige New Dealer waren erleichtert, als das Oberste Bundesgericht dem Trauerspiel ein Ende setzte. Laut Arthur Schlesinger gab es 1935 nur noch wenige im Capitol, die voll und ganz hinter der Behörde standen. Aber auch diejenigen, welche die NRA für eine schlechte Einrichtung hielten, schreckten auf, als das Gericht das Gesetz zum wirtschaftlichen Wiederaufschwung für verfassungswidrig erklärte. Im Leitartikel der New Republic hieß es, „es ergibt keinen Sinn mehr, der Verfassung unbegrenzt Flexibilität zu unterstellen. … Für eine sozialistische Gesellschaft brauchen wir eine neue Verfassung.“ Vier Tage nach dem besagten Urteil sprach FDR auf einer Pressekonferenzerklärung davon, dass der Entscheid der bedeutsamste sei, der seit dem Dred Scott-Urteil46 aus dem Jahre 1857 gefällt wurde. „Wir müssen uns so oder so entscheiden“, so FDR, „wie wir auf irgendeine Weise die Macht der Bundesregierung, so wie sie die Völker überall auf dieser Welt von ihren Regierungen her kennen, wiederherstellen.“ Und dann sagte er das, was überall im Lande zur größten Schlagzeile in der Tagespresse werden sollte: „Wir sind in die Postkutschenzeit des zwischenstaatlichen Handels zurückgeworfen worden.“47 In der Tat hatte das Oberste Bundesgericht im Fall Schechter entschieden, dass mit dem NIRA der Kongress seine Befugnisse überschritten hatte, nämlich „den Handel mit anderen Nationen, zwischen den Bundesstaaten und mit Indianerstämmen zu regulieren,“ um dem Wortlaut der Verfassung zu folgen. Das Gericht hatte befunden, dass die NRA-Verordnungen Bundesbefugnisse hinsichtlich des zwischenstaatlichen Handels erteilten, obwohl laut Verfassung der Bund über diesen 44

Roosevelt (1932c). Kennedy (1999), S. 184 f. 46 In diesem Urteil wurde dem Antrag des Sklaven Dred Scott, der seine Freiheit in einem fremden Bundesstaat einklagte, nicht stattgegeben, d. Hrsg. 47 Schlesinger (1960), S. 284 f.; Leuchtenburg (1995), S. 90. 45

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Handel nichts verfügen durfte. Die Tatsache, dass der Schechter Geflügelhandel in Philadelphia ein paar Hühner gekauft habe, heiße nicht, so das Gericht, dass die in New York zugelassene Firma, die ihre Filialen und Kunden in New York habe, zwischenstaatlichen Handel betreibe.48 Es gab noch einen zweiten Grund, warum das Gericht NIRA für verfassungswidrig erklärte. Artikel 1, Abschnitt 1 der Verfassung besagt: „Alle in dieser Verfassung verliehene gesetzgebende Gewalt ruht im Kongress der Vereinigten Staaten, der aus einem Senat und einem Repräsentantenhaus besteht.“ Wenn die Verfassung eine bestimmte Macht an eine Staatsgewalt abtritt, dann, so befand das Gericht im Fall Schechter, darf diese jene Macht nicht an Dritte abtreten. Einer der Obersten Bundesrichter, Benjamin Cardozo, meinte beipflichtend, dass nach dem Wiederaufschwungsgesetz „alles, was der Kongress im Rahmen der Kommerzklausel für die Verbesserung der Wirtschaft tun darf, auch der Präsident darf, indem er die Empfehlung eines Fachverbandes einfach Verordnung nennt. Diese Abtretung (von Macht) endet im Aufruhr. Eine derartige Machtfülle kann nicht Gegenstand von Übertragung sein.“ Darüber hinaus schrieb Cardozo, die NRA sei „eine vagabundierende Kommission zur Aufdeckung und anschließenden Beseitigung von Übeln.“ Weiter heißt es, die Übelbeseitigung sei „nicht auf das Ausmerzen von Geschäftspraktiken begrenzt, die man weithin als unterdrückend und unfair werten würde“, sondern schließe auch „jedwede Verordnung ein, die für das Wohlergehen und Wachstum der betroffenen Branche als wünschenswert oder hilfreich angesehen wird.“49 Die Idee, dass der Kongress eine Fülle von Macht an die ausführende Gewalt delegieren sollte, war in der Tat ein progressives Verlangen, das der New Deal beflügelte. Wilsons Ziel eines mit uneingeschränkter Macht und klar abgestecktem Verantwortungsbereich ausgestatteten Staates war auch der Wunsch des Präsidentenausschusses für Verwaltungsmanagement, besser bekannt als Brownlow-­ Ausschuss. Dieser wurde 1936 von FDR einberufen und erstellte 1937 ein Gutachten zur Stärkung und Straffung der Exekutive. Laut Luther Gulick, eines der drei Ausschussmitglieder, würde die Annahme der gemachten Empfehlungen darauf hinauslaufen, dass der Kongress nur noch Gesetze zu beschließen hätte, „in denen es z. B. um Kriegserklärungen geht. Das Programm besteht also im Wesentlichen in der schrittweisen Offenlegung und Umsetzung des Plans.“50 Auf der Pressekonferenz im Anschluss an das Schechter-Urteil meinte FDR ganz nebenbei, dass viele im Krieg beschlossene Gesetze weit mehr Kongressautorität delegiert hätten als NIRA.51 Sehr zum Ärger vieler seiner Mitstreiter gegen das Bundesgericht wollte FDR das Urteil im Wahlkampf 1936 nicht nutzen. Auf dem Parteitag der Demokraten 48

A. L.A. Schechter Poultry Corp. v. United States, 295 U. S. 495. A. L.A. Schechter Poultry Corp. v. United States, 295 U. S. 495, S. 551 ff. 50 Milkis (2002), S. 42. 51 Schlesinger (1960), S. 285. 49

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1936 legte man sich nur auf die Position fest, dass die Demokraten Verfassungszusätze anstrebten, falls die Verfassung der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesstaaten nicht genügend Macht zugestünde, die sie zur Lösung der nationalen Probleme brauchten.52 Dennoch unternahm FDR unmittelbar nach seiner Wiederwahl einen Versuch, das Oberste Bundesgericht gefügig zu machen. Er schlug vor, das Oberste Bundesgericht „aufzustocken“ und die Zahl der Bundesrichter von neun auf fünfzehn zu erhöhen. Die Möglichkeit, die sechs neuen vakanten Richtersessel mit New Deal-freundlichen Richtern zu besetzen, würde sicherstellen, dass seine Politik den Anforderungen der Verfassung genügen würde. Die Verfassung schloss eine Vermehrung der Bundesrichter nicht aus, und der Kongress hatte die Größe des Obersten Bundesgerichts schon sechs Mal geändert, bevor man sich 1869 auf die Zahl von neun Richtern festlegte. Sinn und Zweck einer unabhängigen Justiz ergaben sich aber aus der Bedrohung des republika­ nischen Staates und der von ihm zu wahrenden Freiheiten aufgrund einer übergroßer Machtanhäufung und einer allzu ehrgeizigen Exekutive. Obwohl die Entscheidung des Obersten Bundesgerichtes sich gegen den sehr populären New Deal richtete, änderte das nicht die Tatsache, dass das Oberste Bundesgericht, um mit David ­Kennedy zu sprechen, „als amerikanische Institution höchsten Respekt und Immunität genoss … dessen unverändertes Gewicht das Staatsschiff zuverlässig durch Wind und Sturm führte.“53 Auf dem Konvent von 1932 hatte FDR den Demokraten gesagt, er wolle alle Heuchelei und Gaukelei vermeiden. 1937 aber, statt sein offensichtliches Verlangen nach neuen Bundesrichtern einzugestehen, welche die alten Richter, die anderer Meinung waren als er, überstimmen sollten, behauptete FDR, die Bundesrechtsprechung benötige mehr junge Richter, weil immer mehr Fälle auf ihr Urteil warteten. Diese „offenkundig unaufrichtige“ Behauptung, so Kennedy, fügte FDRs Vorschlag einen „unermesslichen Schaden“ zu.54 Weiterer Schaden entstand, als die Gegner des Aufstockungsplans einen eindeutigen Brief des Vorsitzenden des Obersten Bundesgerichts, Charles Evan Hughes, freigaben, in dem dieser darauf hinwies, dass eine Vergrößerung des Gerichts die Abwicklung des Arbeitspensums eher erschwerte als erleichterte. Es endete damit, dass der Kongress nie über die Aufstockung entschied. Statt weiter für eine Aufstockung zu werben, verlegte sich FDR nun darauf, während seiner zweiten Amtszeit die sechs vakanten Positionen beim Obersten Bundesgericht nach und nach, jedes Mal, wenn ein alter Richter in Ruhestand ging, neu zu besetzen.55 Wie man in allen Geschichtsbüchern über die 1930er Jahre nachlesen kann, erwies sich FDRs gescheiterte Aufstockung des Obersten Bundesgerichts als Grund 52

Democratic Party Platform (1936). Kennedy (1999), S. 326. 54 Kennedy (1999), S. 326. 55 Kennedy (1999), S. 333. 53

Der New Deal und die neue Verfassung

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stein bzw. Vorspiel eines weitaus größeren Triumphes. 1937, noch während der politischen Debatte über den Aufstockungsplan, begann das Oberste Bundesgericht, jener New Deal-Gesetzgebung, die es noch kurz vorher vereitelt hatte, Verfassungsmäßigkeit zu bescheinigen. „Noch bevor Roosevelt die hohen Richterstühle mit seinen Wunschkandidaten überhaupt hätte besetzen können“, so Kennedy, „hatte er eine höchst bedeutsame justizielle Transformation durchgesetzt. Er hatte die Schlacht um die Aufstockung des Gerichts verloren, aber den Krieg um eine Verschiebung der Verfassungsdoktrin gewonnen.“56 Kurz vor seinem Tod, 1945, waren sogar sieben der höchsten Bundesrichter von FDR ernannt worden. Acht Jahre nach der Aufstockungsschlacht hatte das Oberste Bundesgericht sämtliche Verfassungsschranken der Staatstätigkeit aus dem Weg geräumt. Daran hat sich bis heute, sechs Jahrzehnte nach FDRs Tod, nichts geändert. Der Rechtshistoriker Bernard Schwartz formulierte es so: „Für das Oberste Bundesgericht nach 1937 war der Kongress, dem laut Verfassung die alleinige Gewalt über die Legislative zustand, dazu berechtigt, unter allen denkbaren und von der Verfassung erlaubten Alternativen nach eigenem Gutdünken die passende auszuwählen.“ Angesichts dieses neuen Selbstverständnisses ist, wie der Rechtsgelehrte Peter Shane vor kurzem schrieb, „die richtige verfassungsgemäße Antwort“, wenn Bedenken darüber aufkommen, dass der Kongress alles reguliert, was ihm gefällt: „Na und?“57 Alles, was es an Überlegungen zu einer die Staatsaktivität beschränkenden Verfassung vor 1937 gab, spielte von nun an keine Rolle mehr. Das Präzedenzurteil, das im Fall Schechter gegen die Abtretung von Kongressautorität gefällt wurde, wurde nie widerrufen. Es wurde aber auch nie durch ein weiteres Urteil bestätigt. „Politik ohne Gesetz ist,“ wie der Politikwissenschaftler Theodore Lowi schreibt, „gleichbedeutend mit einer umfassenden Ausstattung an Macht. Gemäß der derzeitigen Rechtspraxis ist Politik ohne Gesetz eindeutig verfassungsgemäß.“58 Die Doktrin der aufgezählten Befugnisse wurde ebenfalls verworfen. Sie besagte, dass die in Artikel 1, Abschnitt 8 der Verfassung aufgezählten Befugnisse – Steuern zu erheben, Schulden zu machen, den Krieg zu erklären, eine Flotte zu unterhalten u. s. w. – beschränkt waren. Die abschließende Klausel in Abschnitt 8 besagt, dass der Kongress die Macht habe, „alle Gesetze zu erlassen, die notwendig und zweckdienlich sind, um die vorstehenden und alle anderen Befugnisse wahrzunehmen, die durch diese Verfassung der Regierung der Vereinigten Staaten, einem ihrer Verwaltungszweige oder einem ihrer Amtsträger erteilt werden.“ Jede „weite Auslegung“ dieser Klausel, so der Rechtsgelehrte Richard Epstein, „welche die vom Kongress verfolgbaren Ziele mehrt“, macht die ganze Idee der aufgezählten Befugnisse, die nicht zuletzt durch die „notwendig und zweckdien 56

Kennedy (1999), S. 336 f. Schwartz (1957), S. 27; Shane (2000). 58 Lowi (1979), S. 93. 57

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lich“-Klausel zum Ausdruck kommt, zunichte. Nichtsdestotrotz hat das Oberste Bundesgericht seit 1937, von wenigen, unbedeutenden und nur kurz währenden Fällen abgesehen, seine Freude darüber zu verstehen gegeben, dass „eine Verfassung mit wenigen und abgezählten Befugnissen“ zu einer geworden sei, „die der Bundesregierung bei der Lenkung der menschlichen Geschicke freie Hand lässt.“59 Nach 1937 hat das Oberste Bundesgericht noch zwei weitere Beschränkungen aufgehoben. So schreibt Epstein: „Die erste betraf die Struktur des amerikanischen Föderalismus, in der die Bundesregierung der aufgezählten Befugnisse wenige bestimmte Aufgaben hatte, während alle anderen, einschließlich der Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten, weitgehend den Bundesstaaten überlassen waren. Die zweite betraf den Schutz der individuellen Freiheit … vor allem die Freiheit, mit allen, mit denen man wollte, und nur mit solchen, freiwillige Verträge einzugehen.“60

Die Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtes, dass jeder Handel zwischenstaatlicher Handel sei und dass sogar alles, was der Mensch tut, zwischenstaat­ licher Handel sei, höhlten den Föderalismus völlig aus. 1942 bestätigte das Oberste Bundesgericht einen Bußgeldbescheid, den das Landwirtschaftsministerium gegen Roscoe Filburn erlassen hatte. Filburn hatte 461 Scheffel Weizen geerntet, statt der ministeriell zugteilten 223 Scheffel. Das Bußgeld wurde verhängt, obwohl Filburn 238 Scheffel an sein eigenes Vieh verfüttert hatte. Das Gericht begründete seine Entscheidung, „dass das Verfüttern eigenen Korns an eigenes Vieh eine Art von zwischenstaatlichem Handel darstelle“, so Epstein, „weil es sich irgendwie auf Angebot und Preis niederschlage.“61 Das heißt, Filburn betrieb zwischenstaatlichen Handel, indem er zwischenstaatlichen Handel unterließ. Der Weizen, den er an seine Kühe verfüttert hatte, war keiner, den er auf einem Markt für landwirtschaftliche Erzeugnisse, einem vom Staat gestützten und regulierten Markt, erworben hatte. Hätte man so auf breiter Front, dem Beispiel Thoreaus62 folgend, der Volkswirtschaft den Rücken gekehrt, dann hätte man die Absichten des Staates zunichte gemacht. Um es in den Worten des Politologen Robert McCloskey zu sagen: Der Fall führte vor Augen, „dass der Kongress nach Belieben jeden kommerziellen Gegenstand auswählen und damit machen konnte, was er wollte, sei es aus wirtschaftlichen, humanitären oder sonstigen Gründen.“63 Was die Vertragsfreiheit angeht, so ruhen die beste Politik und auch der beste Verfassungsaufbau in der Einsicht, dass der Staat allen Grund hat, Schäden einzudämmen, die von Dritten ausgehen, aber wohl kaum das Recht, sein Urteil über 59

Epstein (2006), S. 71, 75. Epstein (2006), S. 8. 61 Epstein (2006), S. 119. Gemeint ist das Urteil in der Sache Wickard gegen Filburn, 317 U. S. 111. 62 Anspielung auf Henry David Thoreau und dessen Roman Walden, in dem ein autarkes, zurückgezogenes Leben im Wald geschildert wird, d. Hrsg. 63 McCloskey (1960), S. 185. 60

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das beste Arrangement denen aufzudrängen, die als Vertragspartner zu einer anderen Vereinbarung hinsichtlich eines Tauschgeschäftes gekommen sind, egal ob es dabei um Güter oder Dienstleistungen, z. B. Arbeitsverträge, geht. Diese Auffassung läuft der zuwider, welche das Oberste Bundesgericht im Fall West Coast Hotel C. gegen Parrish vertrat. Es kam zum Ergebnis, dass das Mindestlohngesetz für Frauen, das im betreffenden Bundesstaat herrschte, verfassungsgemäß sei. Mit diesem Urteil, so Epstein, habe es sowohl der Freiheit als auch den Interessen derer, die vom Mindestlohn profitieren, letztlich geschadet. Vorausschickend, dass ein Gesetz, das nur Frauen einen Mindestlohn verspreche, heute sofort als Verstoß gegen die Gleichbehandlung verworfen würde, meint Epstein: „Die Besorgnis darüber, wer geschützt wird, sollte nicht enden, auch wenn das Gesetz den Schutz des Menschen umfasst. … Der ‚Schutz‘ aller Niedriglohnarbeiter kann auch Hochlohnarbeitern nützen, oft Gewerkschaftsmitgliedern, die im Wettbewerb mit Firmen stehen, die weniger Lohn zahlen. Das Mindestlohngesetz kann auch konkurrierenden Firmen dienen, die stärker kapitalabhängig sind. Auch in jenem Fall, der einen geschlechtsdiskriminierenden, aber ansonsten gleichen Schutz fordert, liegt man nicht falsch: diese Gesetzgebung hilft denen, die mit dem Vertrag nichts zu tun haben, und nicht den vermeintlich geschützten Vertragsparteien. Man kann den Fall verallgemeinern. Die Mindestlohngesetze schaden den Armen und Besitzlosen und auch der gesamtwirtschaftlichen Produktivität insgesamt. Beide, die Freiheit und die Nützlichkeit, nehmen Schaden an ein und demselben Gesetz.“64

Die lebendige Verfassung Bei William Leuchtenberg heißt es: „1937 zettelte das Oberste Bundesgericht eine Revolution in der Rechtsprechung an, die, vermutlich für immer, die Herrschaft des Laissez-Faire beendet und den Beginn des Leviathan eingeläutet hat.“65 Der Fanclub des Laissez-Faire war nach acht Jahren Depression recht ausgedünnt, aber das hieß nicht, dass die Amerikaner den Leviathan mit offenen Armen empfangen hätten. Die Liberalen bestehen auch heute noch darauf, dass ein Staat, der mit derselben Macht ausgestattet ist wie eine europäische Sozialdemokratie, freundlich sei und nichts tue, das die bürgerlichen Freiheiten einschränke. Verglichen mit dieser Defensivhaltung der Liberalen, sprechen die Konservativen die schwelenden Ängste der Amerikanern direkt an, wenn sie, wie es Gerald Ford einmal getan hat, davor warnen, dass ein Staat, der groß genug sei, uns alles zu geben, das wir wollen, auch groß genug sei, uns alles zu nehmen, das wir haben.66 Die New Deal-Befürworter versuchten damals, diesen Befürchtungen mit überzeugenderen und handfesteren Beteuerungen zu begegnen als den vagen Versprechungen, das „etwas tief im Innersten des Liberalismus“ diesen davon abhielte, individuelle Freiheiten zu verletzen. 64

Epstein (1988). Leuchtenburg (1995), S. 236. 66 Ford (1974). 65

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Eine dieser Beteuerungen war die Idee der „lebendigen Verfassung“. Den Vertretern des New Deal fiel auf, wie es den Menschen auf die Nerven ging, dass die Verfassung, von der man lange glaubte, sie setze dem Staat bei der Wahl seiner Ziele und seiner dazu gewählten Mittel klare Grenzen, in Wirklichkeit den Staat dazu autorisierte, geradezu jedes Ziel anzustreben, und das mit jedem Mittel, das ihm beliebte. Die Verfassung so zu verstehen, dass durch aufgezählte Befugnisse unveräußerliche Rechte geschützt werden, bedeutete, dass man zeitlose Grundsätze auf sich ändernde Bedingungen anwenden konnte. Eine lebendige Verfassung verneinte zeitlose Grundsätze; ihre Grundsätze änderten sich, so wie sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Nation änderten. Dieser Verfassungsbegriff lag mit dem rhetorischen Vorstoß Roosevelts auf einer Linie: Der New Deal meinte die kontinuierliche Erneuerung der Staatsgründung aus dem 18. Jahrhundert, nicht deren Zurückweisung. Eine lebendige Verfassung war eine, die beidem die Treue hielt, Amerikas Erbe und seiner Bestimmung.67 Die Zusicherungen, dass der New Deal die Weiterführung und nicht den Bruch mit der Gründerverfassung bedeutete, waren allerdings zu abgehoben, um alle Bedenken zu zerstreuen. Das Erbe, dem der New Deal treu verbunden sei, bestehe in der Neubestimmung von Rechten im Sinne einer sich wandelnden Ordnung, meinte FDR 1932 vor dem Commonwealth Club. Er nannte es dort eine Verpflichtung zu „größerer Freiheit“, und bei seinem Amtsantritt 1936 „eine amerikanische Art, zu leben“.68 Die Lenkung des politischen Erbes einer Nation so zu umschreiben, schließt nicht viel aus. Die Verpflichtung, den Fortschritt zu fördern, schränkt noch weniger ein, weil man die Zukunft unmöglich kennen kann. Es gab eine Gelegenheit, das Wohlwollen unter Beweis zu stellen, das der Staat mithilfe seiner neuen Möglichkeiten, jedes erkorene Ziel mit jedem gewünschten Mittel in Angriff zu nehmen, ausüben konnte: der Fall Vereinigte Staaten gegen Carolene Products Company.69 In einer berühmt gewordenen Fußnote zu dem 1938 ergangenen Urteil beschrieb Bundesrichter Harlan Stone, wie das Oberste Bundesgericht „sich nach allen Seiten absichern“ könne – um eine Redewendung von Richard Epstein zu verwenden –, und zwar indem man unterschiedliche Arten von Staatsaktivitäten unterschiedlich streng prüft.70 Für seine anschließend zu treffenden Entscheidungen übernahm das Oberste Bundesgericht Stones Kategorien und machte sie zum Schlüsselelement der modernen Verfassungsrechtsprechung. Demnach mussten Staatsaktivitäten, die das Wirtschaftsleben betrafen, nur die niedrigste Stufe der Rechtsüberprüfung überstehen, und zwar durch den Nachweis, dass das Gesetz oder die Regulierung in einem vernünftigen Verhältnis zum legitimen Staatsinteresse steht. Negativ formuliert heißt das: Das Bundesgericht würde eine Regulierungsmaßnahme nur dann ablehnen, „wenn aufgrund ihrer Form aus 67

White (2000), S. 198–236. Roosevelt (1932b). 69 United States v. Carolene Products Company, 304 U. S. 144 (1938). 70 Epstein (2006), S. 113. 68

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zuschließen wäre, dass sie in vernünftiger Weise dem Wissen und der Erfahrung des Gesetzgebers entsprungen ist.“71 Sobald das Gericht festlegt, dass eine staatliche Maßnahme keinem höheren Standard genügen muss, dann steht damit unweigerlich fest, dass sie den Vernunfttest bestanden hat. Andere Arten von Staatsaktivität können jedoch Gegenstand „strikterer Prüfung“ sein. In dem Fall muss die Regierung nachweisen, dass ihre Aktivitäten zwingend im Interesse des Staates liegen und die gewünschten Mittel für den verfolgten Zweck notwendig sind. Strikte Prüfung muss dann erfolgen, wenn das Vorhaben der Regierung „eigenständige und vereinzelte Minoritäten“ schädigte oder Grundrechte beeinträchtigte.72 Durch die Einführung von Abstufungen richterlicher Strenge konnte die lebendige Verfassung die liberale Sache während des New Deal und darüber hinaus vorantreiben. Der Vernunfttest, der für die Regierungen der Staaten und des Bundes gleichermaßen galt, hatte zur Folge, dass die Gesetzgebungen und die Behörden, die durch sie ihre Befugnisse erhielten, bei allem, was sie taten, mit dem Stillschweigen der Gerichte rechnen konnten, solange es im Rahmen der Wirtschaftsregulierung stattfand. Der Tenor des New Deal lautete, dass derart große Macht nur gegen die „Übeltäter des großen Wohlstands“ und die „Wirtschaftsbarone“, wie FDR die Reichen und Mächtigen gelegentlich zu nennen pflegte, angewendet werde. (Die Vorstellung, dass der Schechter Geflügelhandel und Roscoe Filburn zu diesen Oligarchen zählen sollten, war allerdings des Guten zu viel.) Der strenge Prüfungstest sollte den übrigen unter uns, die keine Wirtschaftskapitäne und Wall Street-Financiers waren, versichern, dass das Oberste Gericht und die Verfassung unsere Rechte immer noch schützten. Die anderen Staatsorgane konnten sie nicht einfach mit dem Hinweis übertreten, momentan sei das wohl eine gute Idee. Die unterschiedlichen Stufen richterlicher Strenge machten die Verfassung nicht nur zu einer lebendigen, sondern weckten auch Erinnerungen an Prometheus.73 Die Praktiker des „Ende gut, alles gut“-Ansatzes der Verfassungsauslegung würden es so kurzfassen: ein ausreichendes Prinzip für den Staat, der alles für Dich tut, wenn die liberalen Reformer es für wünschenswert halten, und alles gegen Dich, wenn sie es für notwendig erachten. James Ceaser hat es so erklärt: Der Vernunfttest förderte die liberale richterliche Zurückhaltung in den 1930er Jahren als Antwort auf Entscheidungen wie im Fall Schechter, während die strenge Prüfung den späteren richterlichen Aktivismus danach förderte.74 So entdeckte z. B. die strenge Prüfung der Verfassung durch das Oberste Bundesgericht 1969 ein Grundrecht auf Reisen, das ein Staat brach, wenn er Zugereisten erst nach einem Karenzjahr Wohlfahrtsleistungen zubilligte.75 Vier 71

United States v. Carolene Products Company, 304 U. S. 144 (1938), S. 152. United States v. Carolene Products Company, 304 U. S. 144 (1938), n. 4. 73 Soll heißen, die Entscheidungen im Namen der Verfassung wurden unberechenbarer. Prometheus waren, ungeachtet seiner prophetischen Gabe, Weissagungen nur schwer zu entlocken, d. Hrsg. 74 Ceaser (2006), S. 11 f. 75 Shapiro v. Thompson, 394 U. S. 618. 72

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Jahre später prüfte das Oberste Bundesgericht die Bill of Rights und was dazu gehörte, bis es feststellte, dass das Grundrecht auf Privatheit „weit genug reiche, um die Entscheidung einer Frau für einen Schwangerschaftsabbruch zu tragen“, und damit gültiges Recht in 50 Bundesstaaten als überaus restriktiv in Frage stellte.76 Mit ihrem Handeln bewiesen die Richter eine recht eindeutige Gleichgültigkeit gegenüber dem, was der Rechtstheoretiker Alexander Bickel lakonisch die gegenmehrheitliche Schwierigkeit nannte.77

Die Zweite Bill of Rights 1944 hielt Präsident Roosevelt eine Ansprache zur Lage der Nation. Darin erfuhr die lebendige Verfassung ihre Apotheose. Die Ansprache bildete den krönenden Abschluss der von Roosevelt unternommenen Bemühungen, die 11 ½ Jahre zuvor ihren Anfang mit der Common Wealth Rede genommen hatten und den New Deal mit der Gründung Amerikas verschmelzen sollten. Obendrein verschmolz er ihn mit großer Entschlossenheit und mit jenem großen Aufwand, den das Land betreiben musste, um den 2. Weltkrieg zu gewinnen. Im Hinblick auf die Teheran-­Konferenz, an der FDR 1943 teilgenommen hatte, sagte dieser dem Kongress, „das oberste Ziel“, das er mit Churchill, Chiang Kai-shek und Stalin erörtert habe, „kann in einem Wort zusammengefasst werden: Sicherheit.“ Er erklärte, dass Sicherheit nicht nur die Sicherheit an den Grenzen bedeute – gleichwohl diese das eigentliche Anliegen der alliierten Staatschefs bei jenem Treffen mitten im Krieg war – „sondern auch wirtschaftliche Sicherheit, soziale Sicherheit und moralische Sicherheit.“78 Gewiss ging es in Roosevelts Reede vorrangig um die politischen Maßnahmen, die notwendig waren, um den Krieg führen und gewinnen zu können. Aber der verhältnismäßig kurze Abschnitt zur Nachkriegsinnenpolitik, der am Ende seiner Rede stand, war das, was hängenblieb. Noch während die Kämpfe weiter tobten, erklärte er, man habe die Pflicht, „nun die Pläne in Angriff zu nehmen und die Strategien festzulegen, mit denen ein dauerhafter Frieden und die Grundlage für einen nie dagewesenen amerikanischen Lebensstandard geschaffen werden können.“ Ein dauerhafter Frieden und ein allseits hoher Lebensstandard waren nicht zwei Ziele, sondern eins, denn „solange es keine Sicherheit zuhause gibt, kann es keinen dauerhaften Frieden in der Welt geben.“ Das mag wie eine Binsenweisheit klingen, zeigt aber unmissverständlich, dass FDR in seiner Ansprache der Nation einreden wollte, sie – die ihn zum Präsidenten gewählt hatte – laufe Gefahr, durch Hintertreibung seiner Innenpolitik ein internationaler Aggressor zu werden, und sei damit nicht von den anderen Nationen zu unterscheiden, mit denen Amerika jetzt im 76

Roe v. Wade, 410 U. S. 113. Bickel (1962), S. 16. 78 Roosevelt (1944). 77

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Krieg lag. Die von Präsident Wilson durchgesetzten progressiven Reformen wurden nach dem 1. Weltkrieg wieder zurückgenommen, und ein ähnlicher Triumph der „reaktionären Rechten“ hätte nach dem 2. Weltkrieg weitaus schlimmere Folgen bedeuten können. Wenn „die Geschichte sich selbst wiederholen könnte und zur sogenannten ‚Normalität‘ der 1920er Jahre zurückkehren könnte, dann dürfte eins feststehen: Obwohl wir unsere Feinde draußen auf dem Schlachtfeld geschlagen haben, würde uns zuhause der Geist des Faschismus blühen.“ Und unmittelbar, nachdem er seine Gegner als Faschisten verunglimpft hatte, setzte er demagogisch noch eins drauf, indem er denen, die seine innenpolitischen Maßnahmen infrage stellten, jenen Respekt versagte, den man einer ihrer Linie treu gebliebenen Opposition eigentlich zu erweisen hat. „Unsere Soldaten in der Fremde – und ihre Familien zuhause – erwarten ein solches Programm und haben ein Recht, darauf zu bestehen. Es sind ihre Bedürfnisse, die der Staat beherzigen sollte, und nicht die weinerlichen Klagen der selbstsüchtigen Interessengruppen, die ihr Nest bauen wollen, während Amerikas Jugend ihr Leben lässt.“79

Auf der Tagesordnung, für die Soldaten ihr Blut ließen und gegen die Faschisten und Subversive Ränke schmiedeten, stand die 2. Bill of Rights. FDR präsentierte sie in exakt derselben New Deal-Rhetorik, die er seit der Ansprache im Common Wealth Club verwendete: Die Gründung Amerikas zeige den Weg, aber die neueren Umstände erforderten es, dass den Grundsätzen, die uns Jefferson, Madison und Hamilton hinterlassen haben, einige neue hinzugefügt werden. „Unter dem Schutz bestimmter unveräußerlicher politischer Rechte entstand diese Republik und wuchs zu ihrer gegenwärtigen Stärke heran. Zu diesen Rechten zählen das Recht auf freie Rede, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, Schutz vor unverhältnismäßigen Durchsuchungen und Konfiskationen. Sie waren unsere Rechte auf Leben und Freiheit. Aber mit der Zeit, in der die Nation in Form und Ausmaß wuchs und auch unsere industrielle Wirtschaft expandierte, haben sich diese politischen Rechte als unzureichend erwiesen, um Gleichheit im Streben nach Glück zu garantieren.“80

FDRs Überarbeitung der Grundsätze der Unabhängigkeitserklärung, welche die Gewährung von Gleichheit im Streben nach Glück zur Hauptaufgabe der Nation machen sollte, ist äußerst bezeichnend und ein Widerhall der Forderung nach der „Demokratie der Chancen“, die auf dem Parteitag der Demokraten von 1936 laut wurde. „Bedürftige Menschen sind keine freien Menschen“, fügte FDR hinzu und verwendete damit eine Phrase, die er wiederholt bei anderen Gelegenheiten eingesetzt hatte. Politische Freiheit ist nicht länger selbsterhaltend; sie in den Nachwehen der Industrialisierung zu erhalten, bedarf es wirtschaftlicher Sicherheit. „Hungernde Menschen ohne Arbeit sind der Stoff, aus dem Diktaturen gemacht werden.“ Die 79 80

Roosevelt (1944). Roosevelt (1944).

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Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung in einem Atemzug bemühend, sagte FDR: „In unserer Zeit sind diese ökonomischen Wahrheiten für offenkundig befunden worden. Wir haben gewissermaßen eine Zweite Bill of Rights akzeptiert. Unter ihr kann eine neue Grundlage für Sicherheit und Wohlstand für alle entstehen – ungeachtet des Ranges, der Rasse oder der Religion.“81 FDR bietet dann eine weitreichende Liste von Rechten auf wirtschaftliche Sicherheit an, macht aber mit Bedacht deutlich, dass sie nicht erschöpfend sein dürfe; demnach müsse der Staat nach dem Krieg „diese und ähnliche Rechte“ umsetzen. Die Rechte, die er nennt, sind folgende: – Das Recht auf eine nützliche und einträgliche Arbeit in der Herstellung, im Handel, auf den Gehöften und in den Bergwerken des Landes; – Das Recht, genug zu verdienen, um sich angemessen ernähren, kleiden und erholen zu können; – Das Recht eines jeden Landwirts, seine Produkte anzubauen und zu einem Preis zu verkaufen, der ihm und seiner Familie genug für ein ordentliches Leben lässt; – Das Recht eines jeden Geschäftsmannes, ob groß oder klein, in einer Umgebung frei von unfairem Wettbewerb und der Beherrschung durch Monopole Handel zu treiben, sei es im Inland oder Ausland; – Das Recht einer jeden Familie auf ein angemessenes Zuhause; – Das Recht auf angemessene medizinische Versorgung und die Chance, gesund aufzuwachsen und sich lange guter Gesundheit zu erfreuen; – Das Recht auf angemessenen Schutz vor wirtschaftlichen Ängsten im Alter, bei Krankheit, Unfällen und Arbeitslosigkeit; – Das Recht auf eine gute Bildung.82 Man kann kaum erkennen, wie FDRs Liste noch hätte ausgedehnt werden sollen oder gar können. Man kann beim besten Willen keine Aspiranten mehr finden, die FDR auf seiner Liste wirtschaftlicher Rechte ausgelassen hätte. „Alle diese Rechte heißen Sicherheit“, meinte Roosevelt, und ihre Umsetzung nach dem 2. Weltkrieg bringe die Nation den „neuen Zielen menschlichen Glücks und Wohlstands“83 näher. Falls die acht von ihm spezifizierten Rechte politisch und ökonomisch verwirklichbar wären, dann müsste sich kein Amerikaner mehr darum sorgen, arbeitslos zu werden oder einen lausigen Arbeitsplatz zu haben, der nicht das abwirft, was man täglich so braucht. So wie FDR die Rechte präsentiert, müssen die Arbeitsplätze, auf welche die Menschen ein Anrecht haben, scheinbar gar nicht so einträglich sein, um damit größere oder längerfristige Anschaffungen für zuhause, die medizinische Versorgung und die Bildung finanzieren zu können; diese ökonomischen 81

Roosevelt (1944). Roosevelt (1944). 83 Roosevelt (1944). 82

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Rechte stehen frei im Raum. Sie beziehen sich nicht auf Bedürfnisse wie Nahrung und Kleidung, welche die Menschen von ihren Löhnen bestreiten können sollen. Ähnlich verhält es sich mit den wirtschaftlichen Rechten der Alten, Behinderten und Arbeitslosen. Auch sie sorgen dafür, dass man keine Rücklagen bilden und Versicherungen abschließen muss, um für solche Notfälle vorzubeugen. Zu guter Letzt weist FDR für jene, die lieber selbstständig sein wollen als angestellt, klar darauf hin, dass jedes Unternehmen ein Recht auf Erfolg hat oder zumindest darauf, unendlich lange weiterzumachen. Natürlich sagt er das nicht ausdrücklich. Stattdessen haben Landwirte ein Recht auf einen Gewinn, der ein ausreichendes Auskommen garantiert, und Unternehmer ein Recht darauf, frei von unfairem Wettbewerb zu sein. Mit der Zeit aber, in denen so vage Begriffe wie „ausreichend“ und „unfair“ durch den von Interessengruppen geprägten politischen Prozess ihre Bedeutung erhalten, dürfte es unwahrscheinlich werden, dass für geschäftliches Scheitern überhaupt je etwas verantwortlich gemacht wird, das in der Macht eines Landwirts oder Unternehmers läge. Jemand, der sich daran machte, in einer Gesellschaft, die all diese Rechte kredenzt und garantiert, sich wirtschaftlich unsicher zu fühlen, müsste sich richtig ins Zeug legen. Wie wir aber an den überwältigenden Belegen im ersten Kapitel gesehen haben, müssen die meisten Menschen in der modernen, prosperierenden Demokratie damit leben, die eigene Lage als prekär zu empfinden, während sie eigentlich ein Leben in einem prosperierenden und umsorgenden Wohlfahrtsstaat führen. In solchen Ländern, wie z. B. Frankreich und Schweden, die sich die Idee vom Anrecht auf wirtschaftliche Sicherheit mit sehr großem Eifer zu eigen gemacht haben, nötigt das Verhältnis der politischen Kräfte den Staat dauernd dazu, immer größere wirtschaftliche Sicherheiten zu garantieren. Die moderne Politik und Ökonomie legten die Latte des Wohlfahrtsstaats immer höher. Die den Wohlfahrtsstaat propagierenden Politiker haben dafür gesorgt, ja sogar darauf bestanden, dass ihre Arbeit der eines Sisyphus gleicht. So hat z. B. 1887 Sidney Webb84 behauptet: „Es wird nie der Moment kommen, in dem wir sagen können: ‚Jetzt haben wir den Sozialismus errichtet.‘“85 FDR sagte 1936 auf dem Konvent der Demokraten in seiner „Rendezvous mit dem Schicksal“-Antrittsrede: „Freiheit braucht die Chance, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, einen Lebensunterhalt, der dem gegenwärtigen Lebensstandard entspricht, einen Lebensunterhalt, der dem Menschen nicht nur genug zum Leben gibt, sondern auch etwas, für das zu leben sich lohnt.“86 Diese Idee griff Wilson Wyatt auf, der erste Bundesvorsitzende der Organisation Americans for Democratic Action (ADA), und zwar in einer Rede vor dem ersten nationalen Konvent der ADA. 84

Mitbegründer der britisch-sozialistischen Fabian Society, d. Hrsg. Zitiert nach Kloppenberg (1986), S. 203. 86 Roosevelt (1936). 85

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2. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in der Theorie. Darstellung der Grundidee „[Wir verwerfen] die Vorstellung, die Verantwortung des Staates läge allein darin, Menschen vor dem Hunger- oder Kältetod zu bewahren. Wir glauben, dass es seine Aufgabe ist, das Niveau menschlichen Daseins zu heben. Es ist seine Aufgabe, die Möglichkeiten für die Entwicklung individueller Persönlichkeiten zu mehren. Es reicht nicht, wenn die Gesellschaft ihren Mitgliedern das physische Überleben garantiert; sie muss auch der Würde des einzelnen Menschen genügend Nahrung bieten.“87

Angesichts eines derart umfangreichen Verständnisses der Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen Bürgern verwundert es nicht, dass FDR auf dem Recht beharrte – was die Liberalen weidlich ausnutzten –, neue Rechte zu entdecken. Was die Zweite Bill of Rights unter anderem beeinflusste, war der Bericht, der FDR 1943 vorgelegt wurde, und zwar vom Nationalen Ausschuss für öffentliche Ressourcen (National Public Resources Board). Diesen Ausschuss hatte er eigens zu dem Zweck eingerichtet, den innenpolitischen Themenkatalog für die Zeit nach dem Krieg aufzustellen. Der Bericht forderte die Anerkennung diverser Rechte auf das, was das Wohlergehen ermöglicht, einschließlich „Pausen, Erholung und Abenteuer, sowie die Möglichkeit, das Leben zu genießen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“88 In ähnlichem Stil fordert die Allgemeine Erklärung für Menschenrechte, die 1948 von den Vereinten Nationen angenommen wurde, das Recht auf „Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub“, sowie darauf, „am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“89 Der Inhalt der Zweiten Bill of Rights – und der Rechte auf ein Minimum an wirtschaftlicher Wohlfahrt, sozialer Würde und der Möglichkeit, einen eigenen Lebensstil zu wählen – bleiben undurchsichtig. Wir werden dieser Sache im nächsten Kapitel nachgehen, sagen hier aber schon so viel, dass die schwierigere Frage nicht die ist, was die Wohlfahrtsrechte einschließen, sondern die, was sie ausschließen. Wenn man erst einmal festgesetzt hat, dass die Menschen ein Recht auf ein angemessenes Leben haben, auf welcher Grundlage kann man ihnen dann, wenn sie immer wieder neue Dinge auf die Liste setzen, sagen, dass einige davon in der Tat einem angemessenen Leben dienlich sind, sie aber kein Recht darauf haben? Die andere hier nennenswerte Frage ist die nach der formalen Möglichkeit, die Erfordernisse eines angemessenen Lebens rechtlich einzuklagen. Einige der Vertreter des New Deals waren der Idee zugetan, durch einen Zusatzartikel in der Verfassung die Wohlfahrtsrechte und vor allem die Zweite Bill of Rights der „Ersten“ Bill of Rights hinzuzufügen oder eben eine neue verfassungsgebende Versammlung 87 Wyatt (1948). Die Wisconsin Historical Society verwaltet die ADA-Archive. Dieses Zitat entstammt der Reihe 4 der Sammlung. Wilson Wyatt war nicht nur einer der Gründer von ADA, sondern auch Bürgermeister von Louisville, Vizegouverneur von Kentucky und 1952 Manager der Präsidentschaftskampagne von Adlai Stevenson. 88 Sunstein (2004), S. 87. 89 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verkündet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948, http://www.un.org/Overview/rights.html.

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einzuberufen. FDR lehnte diesen Weg ab und sagte dem Kongress, dass die Implementierung der neuen Bill of Rights „definitiv“ in dessen Verantwortung läge. Falls der Kongress dieser Verantwortung nicht nachkäme, dann wäre FDR, wie er zu verstehen gab, fest entschlossen, den Gesetzgeber durch öffentlichen Druck oder einen Personalwechsel umzustimmen. Milkis ist der Meinung, dass FDRs Abneigung gegen eine formelle Annahme der Zweiten Bill of Rights nicht einer Aversion gegen die Überladung der Verfassung oder der ungenügenden Unterstützung der neuen Rechte zuzuschreiben ist, sondern dem Verlangen, den Ermessensspielraum bei der Durchsetzung wirtschaftlicher Sicherheit zu wahren und zu weiten.90 FDR muss wohl geglaubt haben, auch noch die angestrebte vierte Amtszeit, die er 1944 dann auch gewann, zu dienen, und mag wohl gehofft haben, dass die Hinnahme der Zweiten Bill of Rights als politische Tatsache und Serie politischer Verpflichtungen auch jeden seiner Nachfolger letztlich einen New Dealer werden ließe. FDR starb jedoch 15 Monate nach seiner Rede über die Zweite Bill of Rights, und diese Zweite Bill hat die amerikanische Politik nach 1944 nicht wirklich geprägt. In seinem Buch, das die Zweite Bill of Rights lobpreist, nennt der Rechtsgelehrte Cass Sunstein FDRs Rede von 1944 „die größte des 20. Jahrhunderts.“ Der wahre Grund für die Abfassung des Sunstein-Buches war allerdings, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts FDRs Ansprache „weitgehend in Vergessenheit geraten war.“ Doch hier geht es nicht einfach um das Vergessen der Geschichte, sondern um politischen Widerstand. „In den letzten Jahrzehnten scheint das Land die Idee, welche den Weg zur zweiten Bill geebnet hat, aus dem Blick verloren zu haben.“91 In den 1960er Jahren waren es viele Juristen und Rechtsgelehrte bereits leid, auf den Kongress und den öffentlichen Druck zu warten, um die von FDR geforderten wirtschaftliche Rechte zu sehen. Sie befanden, dass die Verfassung – wenn man sie mit hinreichender Entschlossenheit und Geschicklichkeit erforschte – eigentlich schon die Garantien enthielte, die FDR in sie hineinpacken wollte. Nach Sunstein war das Oberste Bundesgericht bereits „auf dem besten Weg, festzustellen, dass die Verfassung vom Staat fordere, allen ein angemessenes Minimum zu besorgen.“ Richard Nixons knapper Sieg über Hubert Humphrey bei der Präsidentschaftswahl 1968 bedeutete aber, dass die vier obersten Bundesrichter, die von ihm, dem 37. Präsidenten, bestellt wurden (Burger, Blackmun, Powell und Rehnquist) allesamt gegen dieses Projekt waren. Humphrey hätte „aller Wahrscheinlichkeit nach“ diese vier vakanten Richtersessel anders besetzt, nämlich mit „Richtern, die wussten, wie die Verfassung die sozialen und wirtschaftlichen Rechte hätte beschützen können.“ Stattdessen verwarf das Oberste Bundesgericht unter Burger jeden der Schritte in Richtung Wohlfahrtsstaat, die noch unter seinem Vorgänger Warren gemacht wurden, und „schon 1975 war der ganzen Idee der Mindestwohlfahrtsgarantien ihre Plausibilität abhandengekommen.“92 90

Milkis (2002), S. 57 ff.; Roosevelt (1944). Sunstein (2004), S. 1 ff. 92 Sunstein (2004), S. 152 ff. 91

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2. Kap.: Amerikas Wohlfahrtsstaat in der Theorie. Darstellung der Grundidee

Was Wahlen als implausibel erscheinen lassen, können nachfolgende Wahlen indes als plausibel erweisen. In seinem Buch – eine ausgedehnte Übung in Ausflüchten  – behauptet Sunstein nachdrücklich, dass liberale Juristen und Verfassungsrechtler dazu übergegangen seien, die richterliche Inkraftsetzung der Zweiten Bill of Rights als ein Unternehmen zu betrachten, über das man Stillschweigen bewahren sollte, nicht aber als eines, das in jeder Hinsicht grundsätzlich falsch war. Gegenüber einem Rezensenten meinte Sunstein, dass für ihn „unterm Strich“ der Widerstand gegen die richterliche Entdeckung der Wohlfahrtsrechte zähle. Zur Stützung dieses Fazits ist Sunsteins Buch reich an detaillierten und bestätigenden Belegen dafür, wie das Oberste Bundesgericht unter Warren, viele höchste Gerichte in den Bundesstaaten sowie die Obersten Gerichtshöfe in Syrien, Bulgarien, Russland, Peru, Paraguay, Singapur, Nigeria, Südafrika und Papua-Neuguinea mit ihrer Rechtsprechung und ihrer Auslegung der Verfassung im Sinne der Wohlfahrtsrechte das Leben der Menschen verbessert haben. Aus seiner Warte kann man sicher schließen, dass weder die Zweite Bill of Rights noch die Entschlossenheit, sie im Dunkel der Verfassung zu entdecken, aus politischer wie intellektueller Sicht vergebliche Liebesmüh waren.93

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Melnick (2004).

3. Kapitel

Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Sinngebung Der New Deal hatte Amerikas Verfassung, in der die Befugnisse des Staates abgezählt waren, in eine Konstitution verwandelt, in der sie zahllos waren. Seither gab es kein Zurück. Ein Staat, dessen Zuständigkeit so weit reicht, wie das Auge sieht, wird immer versuchen, etwas weiter zu sehen. Der Politologe James Q. Wilson erklärte folgendermaßen, wie vermehrte Staatstätigkeit zu noch mehr Staatstätigkeit führt: „Früher einmal scherte die Politik sich nur um einige Dinge, heute legt sie fast überall Hand an. … Wenn die ‚Legitimitätsbarriere‘ erst einmal durchbrochen ist, dann nimmt die poli­tische Auseinandersetzung andere Formen an. Neue Programme müssen sich bis zur Ankunft neuer Krisen oder ungewöhnlicher Mehrheiten gedulden, weil kein Programm lange Zeit ‚neu‘ bleibt. Es wird eher als eine Erweiterung, Modifizierung oder Verlängerung von etwas betrachtet, das der Staat ohnehin schon tut. … Weil es eigentlich nichts gibt, das der Staat nicht schon versucht hätte, gibt es kaum etwas, das man ihm nicht auftragen könnte.“1

Ungeachtet ihres durchschlagenden politischen Erfolgs blieben die Liberalen frustriert und glaubten  – scheinbar chronisch  –, dass Amerikas Wohlfahrtsstaat immer größer sein sollte als der, den man gerade hatte. Angesichts der Kraftanstrengungen, mit denen Franklin Roosevelt in den 12 Jahren als führende politische Kraft im Staate die New Deal-Philosophie vertrat und um wichtige Themen bereicherte, verwundert es noch mehr, dass die Liberalen nicht nur uneins darüber waren, welche Grundsätze die ihren waren, sondern auch darüber stritten, ob sie überhaupt welche bräuchten. Im Januar 2005 fand man auf der Website des American Prospect folgenden Hinweis: „Wir nehmen Vorschläge an: Wofür steht der Liberalismus? Wir alle wissen, wie man den Konservatismus in nur einem Satz vorstellen kann: ‚Wir glauben an die Freiheit und sind für niedrige Steuern, wenig Staat, tradierte Werte und eine starke Verteidigung.‘ Aber wie lautet die Kurzvorstellung des Liberalismus? Wir von Prospect haben seit der letzten Wahl [2004] über 1.100 Diskussionsveranstaltungen beigewohnt, und immer stand einer auf und fragte: ‚Wir wissen, wofür die Konservativen stehen. Aber wofür stehen wir?‘

1

Wilson (1979), S. 41, zitiert nach Melnick (1994), S. 25.

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3. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Sinngebung Keiner in Washington scheint das zu wissen. Also wenden wir uns an Sie. Schreiben Sie uns Ihre Kurzvorstellung des Liberalismus. Bitte schreiben Sie uns einen einzigen Satz mit nicht mehr als 30 Wörtern. …“2

Ein Jahr nach diesem Aufruf publizierte The American Prospect einen Artikel des damaligen Herausgebers Michael Tomasky zur selben Frage, nämlich, was die alle Einzelideen umspannende liberale Grundidee sei. „Die Demokraten haben einen sehr eindrucksvollen Fahrplan an politischen Vorschlägen“, schrieb er, doch ihnen fehlt „eine Philosophie, eine große Idee, die ihre Vorschläge eint und aus dem Mischmasch aus kleinen und spezifischen Anhaltspunkten eine Gesellschaftsvision formt.“ Er nennt dies „die entscheidenden Zutaten in der Politik, das, was eine Partei (die immer eine Koalition aus gegensätzlichen Interessen ist) einen hilft, Mehrheiten schafft und die Art von Paradigmenwechsel forciert, die 1932 und 1980 erfolgten.“3 Prospects Wiedergabe der zentralen konservativen Botschaft ist in einer Hinsicht irrführend. Sie übersieht die großen Meinungsverschiedenheiten unter Konservativen bezüglich großer Ideen. Libertäre, Neo-Konservative und Traditionalisten, sie alle haben ihre eigenen Auffassungen davon, wofür der Konservatismus steht. Ihre Weltbilder sind nicht nur unterschiedlich, sondern auch unvereinbar. Der Konservatismus kann nicht einfach die Summe all dieser Wunschvorstellungen sein, wie der Prospects unterstellt, weil die verfolgten Ziele oft konfligieren – Libertäre und Traditionalisten haben z. B. entgegengesetzte Vorstellungen über Rechte Homosexueller und die Legalisierung von Marihuana. Konservative reden so oft über große Ideen, weil sie davon überzeugt sind, dass große Ideen wichtig sind. „Für Konservative steht fest, dass die Aufmerksamkeit, die sie den großen theoretischen Prinzipien entgegenbringen, weit mehr ist als ein Zeichen guter Kinderstube. Für Konservative stehen diese Prinzipien in einem direkten Verhältnis zur politischen Welt und wie sie gelenkt werden sollte“, so James Ceaser.4

2 The Liberal Agenda (2005). Der Gewinnerbeitrag lautete: „Liberale glauben an unsere gemeinsame Humanität, die jeden von uns mit dem Recht auf Freiheit, Selbstregierung und Chancen ausstattet. Sie bindet uns alle, gemeinsam diese Rechte verantwortlich zu verteidigen.“ Dorian Friedman, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des Magazins, war so freundlich, mich mit dieser Information zu versorgen, nachdem Änderungen auf der Website von Prospect es schwierig machten, diese Information aufzufinden. 3 Tomasky (2006). 4 Ceaser (2006), S. 5.

Die von-Fall-zu-Fall-Politik 

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Die von-Fall-zu-Fall-Politik Den internen Streitigkeiten der Liberalen einen Sinn abzugewinnen, ist schon deshalb schwer, weil sie die Frage nach der Notwendigkeit großer Ideen noch nicht geklärt haben. Kenneth Baer und Andrei Cherny, die Herausgeber der Vierteljahresschrift Democracy, teilen Tomasky Auffassung. Sie sind für eine Erneuerung des Liberalismus, und zwar „indem man sich wieder den Grundfragen zuwendet: wie die Welt funktioniert und wie sie funktionieren sollte.“5 Jonathan Chait von The New Republic hat für große Ideen nur ein müdes Lächeln übrig, weil Liberale „die Fragen von Fall zu Fall entscheiden müssen.“ Die Frage, wofür der Liberalismus stehe, könne von Liberalen gar nicht beantwortet werden und sollte nicht einmal gestellt werden, weil „sie keine beeindruckenden Dogmen formulieren sollten, wenn Sie Ihre Entscheidung von Fall zu Fall treffen müssen.“6 Der prominenteste unter Amerikas linken Philosophen, Richard Rorty, wies große Ideen ebenfalls zurück. „Die Vorstellung, dass liberale Gesellschaften durch philosophische Glaubensbekenntnisse zusammengehalten werden, ist grotesk“, schreibt er. „Die Philosophie ist nicht so wichtig für die Politik.“7 Der Liberalismus der großen Idee à la Tomasky, Baer und Cherny hat seinen Ursprung in FDRs unermüdlichem Bemühen, die Gründung Amerikas neu zu definieren, bzw. noch früher, vor dem New Deal, in Woodrow Wilson und den Progressiven, welche die alte, auf die Natur verweisende Gründungsidee durch eine neue ersetzen wollten, eine, die auf die Geschichte rekurriert. Der von-Fall-Fall-Liberalismus von Chait und Rorty kann sich aber auch auf den New Deal berufen. In einer Grußadresse an der Oglethorpe Universität sagte Franklin Roosevelt 1932: „Das Land braucht, ja – wenn ich sein Naturell nicht falsch deute – verlangt unentwegt nach kühnen Experimenten. Es ist gang und gäbe, eine Methode herzunehmen und auszuprobieren: Wenn sie nicht klappt, dann sage es frei heraus und probiere eine andere. Wie auch immer, tue etwas!“8 Genau das ist der Punkt, den Chait anspricht, wenn er behauptet, der Liberalismus sei „weniger eine Ideologie als das Fehlen einer solchen.“ Die daraus „resultierende Inkohärenz ist einfach das natürliche Nebenprodukt einer Philosophie, die im Experimentieren und in der Zurückweisung ideologischer Gewissheit gründet.“9 Der New Deal behielt seinen Improvisationscharakter, wie FDR angekündigt hatte. 1940 sprach Alvin Hansen, einer der einflussreichsten Wirtschaftsberater Roosevelts, vor einer Gruppe von Leuten in Cincinnati. Am Ende seiner vorbereiteten Ausführungen fragte jemand aus dem Auditorium: „Ist Ihrer Meinung nach der New Deal wirtschaftlich stimmig?“ Hansen gab darauf zurück: „Ich weiß wirklich 5

Baer / Cherny (2006). Chait (2006). 7 Rorty (1989), S. 86. 8 Roosevelt (1932a), S. 639. 9 Chait (2006).

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3. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Sinngebung

nicht, was das Grundprinzip des New Deal ist. Aus meiner Regierungserfahrung heraus weiß ich, dass dazu bei denen in Washington die Meinungen genau so weit auseinander gehen wie bei den übrigen Menschen im Land.“ Für einen anderen New Dealer, Raymond Moley, war das Thema, unter das FDR seine politischen Handlungen stellte, genauso diffus wie für Hansen. Nachdem er sich verbittert aus der Roosevelt-Regierung zurückgezogen hatte, schrieb er in seinen Memoiren: „Wer beim Anblick all dieser Programme so etwas wie einen Plan erkannte, der glaubt wohl auch, dass bei der Ansammlung an ausgestopften Reptilien, Baseballbildern, Schulflaggen, alten Tennisschuhen, Schreinerwerkzeugen, Geometriebüchern und Chemiebaukästen in einem Jungenschlafzimmer ein Innenausstatter am Werk gewesen sein musste.“10 Einige Experten sehen im Nachhinein das wahre Wesen des New Deal und des Liberalismus im Allgemeinen nicht in einer Strategie, sondern in der dauernden, von Launen bestimmten Improvisationstaktik. „Im Zentrum des New Deal lag keine Philosophie, sondern eine Stimmung“, meinte Richard Hofstadter. Der Ökonom Robert Lekachman stieß ins selbe Horn: „Der Liberalismus ist eher eine Haltung als ein Programm. Liberale sind kritisch gegenüber Ungerechtem, skeptisch gegenüber Eigennutz, dem Wandel freundlich zugeneigt, voller Hoffnung auf friedliche Verbesserungen und überzeugt, dass vernünftige Argumente selbstsüchtigen Widerstand letzten Endes überwältigen werden.“11 Gab es zwei New Deals? Einen kohärenten, wie er in der Zweiten Bill of Rights und im rhetorischen Faden, den FDR über seine ganze Präsidentschaft hinweg spann, zum Ausdruck kam? Und einen eher zufälligen, der aus einer bunten Mischung kühner Experimente bestand? Nein, meint der Politologe Charles Kesler. Aus seiner Sicht machte FDR in seiner Oglethorpe-Rede und auch danach klar, dass er bei den Methoden, welche die Regierung anwendete, ein andauerndes Experimentieren vorzog, aber bei den Zielen „Konsistenz und Kontinuität“ (­Roosevelts Worte) anstrebte.12 Diese Erklärung gibt zwar FDRs eigene Sichtweise der Sache wieder, erklärt aber nicht, warum New Dealers wie Hansen und Moley oder ein sympathisierender Historiker wie Hofstadter vom programmatischen Gewühl des New Deal sich derart blenden ließen, dass sie die Unterscheidung zwischen Mittel und Ziel aus den Augen verloren. Das Rätsel lässt sich wohl am besten durch den Hinweis lösen, dass die vom New Deal verfolgten Ziele zwar konsistent waren, aber zugleich sehr weit definiert, so wie FDR z. B. sagte, die Zweite Bill of Rights habe zu wirtschaftlicher Sicherheit und zu neuen Höhen menschlichen Glücks und Wohlergehens geführt. Die einzigen Ziele, die ein solches Rahmenwerk ausschließt, sind solche, die ein offenes Tyrannenregime verfolgt. Andererseits kann eine große Bandbreite an staatlichen Programmen in überzeugender Weise als ein Weg zu Sicherheit und allseitigem Glück verkauft werden. 10

Brinkley (1998), S. 18, 37. Chait (2006); Hofstadter (1973), S. 411; Lekachman (1977), S. 62. 12 Kesler (1989). 11

Die von-Fall-zu-Fall-Politik 

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„Der Tag der aufgeklärten Verwaltung ist gekommen“, hatte Roosevelt in seiner Commonwealth Club Adresse erklärt.13 Sidney Milkis legt überzeugend dar, dass FDR entschlossen war, die Institutionen und Praktiken der verfassungsgemäßen Staatslenkung sorgfältig umzubauen und dabei die Rolle des Staates als Bereitsteller wirtschaftlicher Sicherheit erheblich auszubauen. In der Tat schritt der New Deal in dem Glauben voran, „dass programmatische Rechte, wie soziale Sicherheit und Tarifverhandlungen zu nichts führen würden, wenn man nicht neue institutionelle Arrangements einrichtete, welche die Institutionen neu organisieren und die Befugnisse des Staates neu verteilen würden.“ Diese Umstrukturierungen dienten letztlich der Maximierung des politischen Spielraums, den aufgeklärte Regierungsmitglieder brauchten, um ihre Experimente zur Bereitstellung allseitiger wirtschaftlicher Sicherheit durchzuführen. Der Weg, auf dem dies vonstatten gehen sollte, hieß: die Verehrung der Menschen für den Gründungszweck Amerikas so weit ausdehnen, bis in diesem Verehrungsraum auch die Ziele des New Deal ihren Platz finden, und diese dann als politische Ziele behandeln, die wie jene von Jefferson und Madison über jede Parteienpolitik erhaben sind. Das „politische Genie“ Roosevelts bestand nach Milkis darin, dass er wusste, „wie der New Deal die politische Kultur Amerikas transformieren konnte, ohne dass es danach aussah.“ Das gewollte und weitgehend erreichte Ziel dieser Umgestaltung war „eine Verwaltungsverfassung, die Reformen und Reformer künftig vor Meinungsrivalitäten schützen sollte.“14 Es überrascht nicht, dass FDRs Bemühungen, die Liberalen von der Last der Rechtfertigung zu befreien, denselben die Fähigkeit zur Rechtfertigung just dann nahm, als sie diese brauchten. So blieben sie zurück, uneins in der Frage, ob die Spezifizierung dessen, wofür sie stehen, eine politische Verpflichtung mit sich bringe oder nur reine Zeitverschwendung bzw. nur eine Sache für die Feinde des Liberalismus sei. („Jede Debatte im Rahmen einer allgemeinen ideologischen Auseinandersetzung … nutzt grundsätzlich nur den Konservativen“, meint Chait.15) Eine Implikation, die mit der Verkündung des New Deal einherging, war, dass neue Wetten abgeschlossen wurden. FDR schloss eine mit sehr hohen Risiken, aber auch sehr großen Gewinnaussichten ab. Er wollte, um mit Cass Sunstein zu sprechen, dass aus der Zweiten Bill of Rights „konstituierende Verpflichtungen“ würden, „eine Reihe von öffentlichen Verpflichtungen für und durch die Bürgerschaft, ziemlich genau so wie die Unabhängigkeitserklärung“ oder „ein Katalog, der unsere Grundprinzipien festlegt.“ Hätte er damit Erfolg gehabt, hätten die Liberalen sich nie mehr um die Frage sorgen müssen, ob sie das, wofür sie stehen, erklären könnten oder sollten. Und die Amerikaner würden höflich aber bestimmt die Überarbeitung der Zweiten Bill of Rights ablehnen, so wie sie auch die Frage, ob nicht vielleicht doch die Monarchie der Republik vorzuziehen sei, höflich und bestimmt zurückweisen würden.16 13

Roosevelt (1932c). Milkis (2002), S. 41, 53, 47. 15 Chait (2006). 16 Sunstein (2004), S. 5, 233. 14

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3. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Sinngebung

Laut Sunstein ist „Roosevelts Triumph nur ein unvollständiger.“ Die Zweite Bill of Rights sei „nicht in Kraft getreten“ und „weitgehend unbekannt“. Die Amerikaner hätten „sie aus den Augen verloren.“ In seinem Buch beteuert Sunstein indes andauernd, dass die Unvollständigkeit des Triumphes keinesfalls auf Fehler in Roosevelts Ideengebäude zurückzuführen sei oder wie er sie dargelegt und umgesetzt habe. Vielmehr sei „die Begeisterung der Öffentlichkeit für FDRs Visionen nur halbherzig, ambivalent, ja zähneknirschend“ gewesen, weil „die Vereinigten Staaten von einer verwirrenden und verderblichen Form des Individualismus befallen wurden“, was „dem Einfluss mächtiger privater Verbände“ geschuldet sei. Mit anderen Worten: dem Konservatismus und den Konservativen.17 Mit dieser tendenziösen Begründung kann man nicht erklären, warum ein politisches Projekt, so weise und edel wie das von FDR, durch eine Ideologie, so halbgar und heimtückisch wie der Konservatismus, ins politische Hintertreffen geraten konnte. Statt der Maßgabe zu folgen, wonach die Probleme des Liberalismus nur durch mehr Liberalismus zu lösen sind, müssen wir untersuchen, warum der Liberalismus nur halb erfolgreich war, politisch wie intellektuell. Der politische Erfolg des Liberalismus besteht darin, dass die Menschen für die Sachleistungen des Wohlfahrtsstaats im Allgemeinen sehr empfänglich und ihre Bedenken darüber, ob es sich für einen Staat ziemt, solche Leistungen zu verteilen, verflogen sind. Halb ist dieser politische Erfolg indes deshalb, weil die Amerikaner die finanziellen Kosten und die hohen Steuern, die ein Wohlfahrtsstaat erfordert, mit Argwohn und das Ausmaß und die Macht eines Staates, der so viele Leistungen an so viele Bürger verteilen kann, mit Beklemmung betrachten. Intellektuell war der New Deal nur ein Teilerfolg, weil viele Schlüsselbegriffe des „Handels“ nie klar definiert wurden und in all den 65 Jahren seit FDRs Tod nebulös bis nutzlos geblieben sind. Beide Probleme, das politische und das intellektuelle, sind eng miteinander verknüpft. Das Misstrauen der Menschen gegenüber der energischen und ungezügelten Verfolgung der liberalen Sache hängt mit der Verschwommenheit des Anliegens zusammen. Man kann unmöglich sagen, welche Ziele die Liberalen verfolgen werden. Genauer gesagt, allein in dem Glauben, dass es doch auch Bedürfnisse und Nöte geben müsse, deren Befriedigung bzw. Linderung jenseits dessen liegt, was ein Staat aufgreifen und angehen darf, kann man unmöglich eine Liste mit Zielen aufstellen, welche die Liberalen garantiert nicht verfolgen werden. Genau so wenig kann man sagen, welche Mittel die Liberalen einsetzen werden. Genauer gesagt, man kann nicht angeben, welchen sie abschwören werden, um den individuellen Rechten nicht doch Gewalt anzutun oder die staatlichen Befugnisse nicht doch auszuweiten. Es gibt aber noch ein Problem, das aus den ersten beiden Problemen folgt. Das politische und das intellektuelle Problem des Liberalismus sind zwar miteinander verknüpft, sind aber nicht ein und dasselbe oder sorgfältig aufeinander abgestimmt. 17

Sunstein (2004), S. 234, 3.

Das Lehrerzimmer

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Die Lösung des intellektuellen Problems bedeutet nicht auch zugleich die Lösung des politischen Problems, sondern womöglich eine Zuspitzung desselben. Zur Klärung des Liberalismus so weit beizutragen, dass seine Prinzipien weithin verstanden und seine Grenzen spezifiziert werden bzw. deren Fehlen aufrichtig eingestanden wird, könnte den Liberalismus durchaus nicht mehr, sondern weniger populär machen.

Das Lehrerzimmer18 Die kontradiktorischen Imperative, denen die Theoretiker des Liberalismus sich ausgesetzt sahen – nämlich: sei klar, aber sei dabei vorsichtig – haben eine enorme Verwirrung gestiftet. Infolgedessen haben die Liberalen zwei Arten von großen Ideen geschaffen. Die der ersten Art sind kühn, aber esoterisch; die der zweiten Gattung sind für den öffentlichen Gebrauch gedacht. Sie stammen von engagierten Intellektuellen, die so ungern etwas Kontroverses sagen, dass sie letzten Endes gar nichts sagen, das man analysieren oder nutzen könnte. Die erste Art von großen Ideen wird von Fachleuten produziert, und auch für solche geschrieben. Bücher wie Strong Democracy, Liberal Equality oder Spheres of Justice von Benjamin Barber, Amy Gutmann bzw. Michael Walzer sind von Theoretikern für Theoretiker geschrieben. Die darin enthaltenen Argumente sind weder von den Autoren noch von deren Fangemeinden so formuliert, dass sie von einer breiten Öffentlichkeit goutiert werden könnten. Das herausragende Beispiel einer Theorie für das liberale Programm, nämlich Eine Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, ist seit seiner Erstveröffentlichung 1971 der Gegenstand zahlloser Dissertationen und Symposien. Wie auch immer, Menschen, die sich Rawlsianer nennen, kandidieren eher für den Universitätssenat als für den US-Senat. Diese Bücher sind schwierig – kaum zu lesen, zu verstehen, zusammenzufassen, zu popularisieren. Dieser Umstand erklärt wohl nur zu einem kleinen Teil, warum sie in der Welt der heißen Wahlkämpfe und des politischen Lobbyings kaum Spuren hinterlassen. Wer in einem liberalen Magazin oder Think Tank arbeitet, der ist intellektuell nicht weniger beweglich als sein konservatives Gegenstück, das auf der Suche nach politischem Rat sich unermüdlich durch die Bücher von Leo Strauss, Eric Voegelin, Russell Kirk und Friedrich von Hayek kämpft – ganz zu schweigen von den noch älteren unter den weißen toten Männern, wie Aristoteles, Burke, Tocqueville oder Madison. Das eigentliche Problem liegt darin, dass die großen Ideen des Lehrbuch-Liberalismus politisch zu schwer sind, um in die Umgangssprache übersetzt zu werden. Die Schlussfolgerungen, die bei den Hochschulprofessoren Zuspruch finden, in 18 Faculty lounge – hier mit Lehrerzimmer übersetzt – bezeichnet im Amerikanischen den Gemeinschaftsraum der Professoren, den es an deutschen Hochschulen so nicht gibt, d. Hrsg.

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3. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Sinngebung

kludieren allesamt einen noch viel größeren Wohlfahrtsstaat – nicht nur größer als die Wohlfahrtsstaaten hierzulande, sondern auch als alle anderen Wohlfahrtsstaaten in der Welt. Die Politiker und Aktivisten unter den Liberalen hätten gegen dieses Ziel als solches nichts einzuwenden, denn wenn der Liberalismus nicht für einen viel größeren Wohlfahrtsstaat steht, dann steht er für gar nichts. Aber sie haben aus taktischen Gründen etwas gegen ihn einzuwenden. Für einen amerikanischen Liberalen wäre es ein sehr grober Schnitzer, wenn er mit dem herausplatzte, was er wirklich gerne sähe: die 20 Prozent BIP-Anteil der schwedischen Sozialdemokraten plus weitere 10 Prozent. Ein Land, in dem der sozialistische Präsidentschaftskandidat 1932, als ein Fünftel der Arbeiterschaft arbeitslos war, 2 % der Stimmen erhielt, muss sehr behutsam mit einem dramatisch größeren Wohlfahrtsstaat angefreundet werden. Die politische Strategie muss nicht nur die sein, einen Wohlfahrtsstein langsam auf den anderen zu setzen, sondern ihn auch Stück für Stück zu verkaufen. In diesem Sinne schrieb Arthur Schlesinger 1947: „Für das schrittweise Voranschreiten des Sozialismus mittels einer Reihe von New Deals scheint es in den USA offensichtlich kein Hindernis zu geben.“19 Die Argumente der Theoretiker mit Festanstellung sind hinter Fußnoten, Bibliographien und Appendizes versteckt. Liberale Politiker und Publizisten, die sich der Öffentlichkeit stellen müssen, um sie zu formen, müssen diese Argumente vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen halten. Angesichts dessen müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Inkohärenz des Liberalismus u. a. auf absichtsvolle politische Strategie und intellektuelle Versäumnisse zurückgeht. Wir tun das, indem wir uns erneut der Frage der Wohlfahrtsrechte zuwenden und fragen, wie es dieser Idee seit FDRs Offenlegung der Zweiten Bill of Rights ergangen ist. Anschließend werden wir zwei weitere Versuche der Rationalisierung des Wohlfahrtsstaats betrachten, den Kommunitarismus und die Ad-hoc-kratie.

Rechte Das Recht auf die Mittel für ein gutes Leben Im November 2006 erschien im American Prospect eine Antwort auf die 2005 gestellte Frage „Wofür steht der Liberalismus?“ Dort erschien ein Aufsatz mit dem Titel „Wir hören auf den Namen Liberale“, geschrieben von Bruce Ackerman und Todd Gitlin, unterzeichnet u. a. von Michael Tomasky, dem Soziologen Christopher Jencks, Bill Clintons erstem Arbeitsminister Robert Reich und Arthur Schlesinger. In dem Aufsatz wurde verkündet: „Wir stehen zu dem großen Prinzip des Liberalismus, dass jeder Bürger von Rechts wegen ein Anrecht auf die elementaren Mit 19

Schlesinger (1947), S. 231, 242; zitiert nach Silver (1982), S. 98 f.

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tel für ein gutes Leben hat.“ Zu diesen elementaren Mitteln zählen „das Recht auf Wohnen, erschwingliche Gesundheitsfürsorge, gleiche Beschäftigungschancen, faire Löhne, körperliche Unversehrtheit und eine nachhaltige Umwelt für uns und künftige Generationen.“20 Die beanspruchten Rechte auf die Mittel für ein gutes Leben enthielten zwar nicht ganz die Bausteine aus FDRs Zweiter Bill of Rights, unterschieden sich von ihnen aber nur marginal, und beide Unternehmungen waren im selben Geiste verfasst. Dass eine solche Bekräftigung, zusammen mit jener, der Cass Sunstein ein ganzes Buch gewidmet hatte, nötig war, lässt vermuten, dass das große Prinzip des Liberalismus in all den Jahren seit FDRs Rede nicht über Gebühr strapaziert worden ist. Das Recht auf die Mittel für ein gutes Leben schafft politische Probleme, für die der Liberalismus keine überzeugende Lösung geboten hat. Das vieldeutige liberale Verständnis von Rechten macht es nicht nur schwerer, sondern gar unmöglich, irgendeiner Sachleistung, die wir anderen gönnen, prinzipiell die Erhebung in den Rang eines unveräußerlichen Rechts zu versagen. Wir haben es hier nicht nur mit einer hypothetischen Schieflage zu tun. Der Historiker Robert H. Wiebe hat einmal den Verlauf der Verrechtlichung untersucht, und zwar lange nachdem FDR die Rechte katalogisiert hatte: „In den 1980er Jahren nahmen die Rechtsvorstellungen viel schneller zu, als das Recht erlaubte. … Gemäß ihrer äußerst enthusiastischen Verfechter änderten sich die Rechte mit den Bedürfnissen. Das Wesen der Demokratie, so erklärte ein Philosoph [C. B. Macpher­ son] sei ‚nicht nur ›Jeder Mensch eine Stimme‹, sondern auch ›Jedem Menschen das gleiche Recht, seinem Wunsch gemäß menschenwürdig zu leben‹.‘ Ein Rechtstheoretiker [Roberto Unger] erkannte Rechte in ‚der unbegrenzten Gabe einer Person …, die Grenzen der von ihr erstellten imaginären und sozialen Welten zu überschreiten.‘ Solch großartige Aussagen in einzelne Gesetzesvorlagen zu übertragen, kann nicht frei von Willkür sein, und dieselbe Person könnte schon morgen eine ganz andere Liste aufstellen. ‚Worüber ich jetzt spreche‘, sagte Elaine Jones von der NAACP21 in einem Interview, ‚sind grundlegende Menschenrechte, einschließlich der Rechte auf eine sichere Umwelt, Gesundheitsfürsorge, der Teilnahme an fairen Wahlen, einen Arbeitsplatz und ausreichende Gelegenheiten zur Weiterbildung.‘“22

Eine Frage des Rechts Liberalismus in diesem Sinne steht für die Auffassung, dass jedes echte Bedürfnis mit einem Recht darauf, dass ihm entsprochen wird, korrespondiert. Und, was noch besser ist, in diesem Sinne gibt er auch eine berechtigte Hoffnung da­rauf, dass jeder zusätzliche Wunsch, wenn man ihn nur lange genug unter die Lupe

20

Ackerman / Gitlin (2006). Nationale Organisation zur Förderung von Menschen nicht-weißer Hautfarbe, d. Hrsg. 22 Wiebe (1995), S. 239. 21

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3. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Sinngebung

nimmt, sich als Bedürfnis entpuppt, dessen Befriedigung den Katalog der Rechte noch umfänglicher macht. Auf den ersten Blick sind die politischen Vorteile dieser Position überwältigend. Warum sollten die Wähler den Liberalen nicht für die Zusage danken, dass jeder Tag Weihnachten sein kann und sie beim Aufwachen ein neues Anrecht unter dem Weihnachtsbaum finden? Allerdings gibt es für die Liberalen einen guten Grund, das Recht auf Wohlergehen nur verhalten zu verkünden, nämlich ihr Wissen, dass die Entdeckung einer unendlichen Rechteliste neben erheblichen Vorteilen auch erhebliche politische Risiken birgt. Das Problem ist zweigeteilt. Erstens, viele Bürger verweigern sich der Idee, dass die „Gesellschaft“ für Arbeitsplätze, Gesundheitsfürsorge, Wohnung, Urlaub, Erholung und Abenteuer zu sorgen habe. Sie bestehen auf der Auffassung, dass der Staat zur Anerkennung dieser Rechte Steuern und Regulierungen anordnen muss, um all die versprochenen Leistungen verteilen zu können. Im Zuge dieser erzwungenen Transfers kann nicht jeder ungeschoren davonkommen, und viele Wähler befürchten, am Ende als zwangsverpflichtete Wohltäter dazustehen und nicht als glückliche Nutznießer. Zweitens, wenn man einer endlosen Liste von Mitteln für das Wohlergehen den Status von Rechten verleiht, dann hat das für die ohnehin schon nervösen Wähler etwas Beunruhigendes. Wenn diese Rechte wirkliche Rechte sind, dann stechen sie jede gegenläufige Auffassung aus. Diese Rechte bedeuten ja, dass jene, die aufgrund eigener Anstrengungen oder Rücklagen für eine angemessene Sicherheit von Arbeitsplatz, Gesundheitsfürsorge, Wohnung, Urlaub, Erholung und Abenteuer nicht sorgen können – bzw. es nicht tun – einen Anspruch auf das „Mehr“ an Wohlstand derer haben, die diese Dinge bereits genießen. Dieser Anspruch ist stärker als das Recht der Letzteren, das zu behalten, was sie egoistischer- oder naiverweise als das „ihre“ betrachtet haben. (Die einzige Position, die es nie auf die Liste der Mittel fürs Wohlergehen schafft, ist das Recht, etwas als unveräußerlichen Anteil des Privateigentums einzubehalten, ungeachtet der hehren Zwecke, welche die Sozialreformer mit ihm verfolgen.) Jenes Dilemma – wie lasse ich das Recht auf Wohlergehen wie einen Segen aussehen, der nicht zugleich wie eine Bedrohung wirkt? – brachte die Liberalen dazu, sich rhetorisch nach allen Seiten hin abzusichern. Oft sagen sie, die Bereitstellung staatlicher Beihilfen sei eine „Frage des Rechts“ – eine Formulierung, die jedem erlaubt, das herauszuhören, was er will.23 Einerseits wäre es ja eine reine Tautologie, wenn der Staat Leistungen deshalb als eine Frage des Rechts erbrächte, weil sie Rechte sind. Andererseits, wenn der Staat bei der Gewährung wirtschaftlicher Beihilfen nur so täte, als ob sie Rechte

23

Auf dem Parteitag der Demokraten 1972 hieß es z. B.: „Wir sind dazu verpflichtet, die ökonomische Sicherheit zu einer Angelegenheit des Rechts zu machen.“ (http://www.presidency. ucsb.edu/ws/index.php?pid=29605).

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wären, dann wäre die Formulierung nur eine höfliche Art zu sagen, dass sie es nicht sind. Die Bedürftigen und die weniger Bedürftigen sollen beide glauben, dass sie eindeutig einen Anspruch auf den Wohlstand der weniger Bedürftigen haben. Eine der beiden Gruppen muss sich irren, es sei denn, der Liberalismus stünde in Wirklichkeit für die Außerkraftsetzung des Gesetzes der Widerspruchsfreiheit. Die Formulierung von Ackerman und Gitlin klingt weniger zweideutig als die „Frage des Rechts“, obschon das „Anrecht von Rechts wegen“ eine gewisse Mehrdeutigkeit enthält: Wie ist es zu verstehen, als eine „Frage des Rechts“ oder als eine „Anerkennung des Rechts“? Die unqualifizierte Behauptung, es gebe Rechte auf Wohlergehen, hat dieses Problem nicht. Andererseits hat sie ein Problem mit der Theorie. Sie kann nämlich den Ursprung dieser Rechte nicht erklären, bzw. einer Person, die davon überzeugt ist, dass sie eine Sache für ein gutes Leben ganz bestimmt braucht, mit Bestimmtheit sagen, dass ein Recht darauf dennoch leider nicht bestehe. Das dazu korrespondierende politische Problem ist, dass Rechtsansprüche endlos wuchern werden, eine unheilvolle Aussicht für jene Wähler, die befürchten müssen, dass diese auswuchernden und kostenträchtigen Ansprüche gegen sie erhoben werden.

Rechte und Ziele Die Auswirkungen der Rechte auf materielles oder gar seelisches Wohlergehen sind auch in anderer Hinsicht problematisch. Hat der Liberalismus erst einmal einen Mechanismus in Gang gesetzt, der jedes beliebige politische Ziel in ein Recht verwandeln kann, dann kann man auch den Schalter umlegen, das Band in die andere Richtung laufen lassen und aus jedem Recht ein politisches Ziel machen. 1994 musste das Ministerium für Bauwesen und Städteplanung nach Wochen heftiger Kritik und übler Presse einige ihrer Ermittler bremsen. In New York City, im kalifornischen Berkeley, in Seattle und in einigen anderen Städten hatte sich die ministerielle Durchsetzung des Gesetzes für faires Wohnen24 als recht aggressiv erwiesen. 1968 erlassen, um Rassendiskriminierung bei Kauf und Miete zu unterbinden, wurde es 1988 vom Kongress erweitert, um auch die Diskriminierung gegen Behinderte zu untersagen. Behinderte wurden dabei als Personen mit einer „physischen oder geistigen Beeinträchtigung“ definiert. Menschen, die „als illegal geltende Rauschmittel nehmen oder von diesen abhängig sind“, fielen nicht da­ runter. Gemäß dieser Unterscheidung gehörten zur Gruppe der Personen, die gegen Wohnungsdiskriminierung geschützt waren, geistig Kranke, Alkoholiker (weil sie keine illegalen Rauschmittel nahmen) und ehemalige Rauschmittelkonsumenten oder -abhängige, wobei die Abgrenzung zu den aktiven Rauschmittelkonsumenten oft heikel und vage ist.25 24 25

Fair Housing Act, d. Hrsg. Fair Housing Act Amendments (1988).

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So wie das Gesetz im Ministerium unter Präsident Clinton, Minister Henry Cisneros und Staatssekretärin Roberta Achtenberg ausgelegt wurde, bekam die Arbeitsdefinition von „Diskriminierung“ etwas ähnlich Weites. Bürger, die gegen offene Anstalten und Einrichtungen zum betreuten Wohnen in ihrer Nachbarschaft protestierten, wurden beschuldigt, gegen das Wohnrecht von Behinderten zu verstoßen. In ihrer politischen Opposition sahen die gemeinnützigen Organisationen, die diese Einrichtungen bauen wollten, eine Androhung von „Nötigung, Einschüchterung und Beeinträchtigung“ von geistig Kranken. Jene Fürsprecher klagten dagegen, dass „organisierte Opposition gegen Obdachlosenunterkünfte, Drogenhilfestätten und Residenzen für geistig Kranke die Rechte der Behinderten verletzten.“26 Staatssekretärin Achtenberg sagte später, dass die Ermittler des Ministeriums dann, wenn Bauinteressenten Beschwerden einreichten, rechtlich verpflichtet gewesen seien, gegen die Gegner der geplanten Einrichtungen zu ermitteln. Der Eifer, der bei einigen der Ermittlungen an den Tag gelegt wurde, war allerdings weitaus feindlicher inspiriert als reiner Diensteifer. In New York stellten drei Anwohner die Irving Place Community Coalition zusammen, um Einfluss auf die Pläne einer neuen Residenz für geistig Kranke in ihrer Nachbarschaft zu nehmen, weil es dort bereits einige Einrichtungen für Obdachlose und rehabilitierende Drogenabhängige gab. Die gemeinnützige Gesellschaft namens Community Access, welche diese Residenz bauen wollte, reichte beim Ministerium für Bauwesen und Städteplanung eine Beschwerde ein. Im Verlauf der Ermittlungen forderten die Ministerialangestellten von den drei Anwohnern, „ihre persönlichen Tagebücher, Petitionen und Telefonnachrichten herauszugeben, anderenfalls drohe ihnen ein Bußgeld von $ 50.000“, schrieb die New York Times. Nachdem die Ermittlungen gegen die Koalition begonnen hatten, „verschwand die ganze Gruppe“, wie einer ihrer Sprecher mitteilte. „Die Menschen sagten: ‚Ich habe an den Gouverneur geschrieben. Kann gegen mich ermittelt werden?‘ Die Leute waren richtig eingeschüchtert und kamen nie mehr zu einem der Treffen.“ In Berkeley widersetzte sich eine ähnliche Gruppe auch einer ähnlichen Einrichtung, woraufhin die Ermittler des Ministeriums für Bauwesen und Städteplanung jeden Artikel, jedes Flugblatt und jeden Leserbrief, den [die Wortführer der Gruppe] geschrieben hatten – einschließlich der Protokolle aller Versammlungen, auf denen sie gesprochen hatten –, herausgefordert haben.27 Achtenberg rügte später das „hohe Maß an verantwortungslosem Verhalten auf Seiten der Medien“. Sie hätten es so aussehen lassen, „als ob jemand vom Ministerium für Bauwesen und Städteplanung auf einer Art Mission gewesen wäre, um Menschen einzuschüchtern, die gegen die Platzierung von Gemeinschaftswohnungen in ihrer Nachbarschaft sind.“ Zur Opposition gehörten allerdings nicht nur die Herausgeber des Wall Street Journal, sondern auch eine Kongressabgeordnete der Demokraten, in deren Bezirk der Irving Place liegt. Sie meinte, es „geht zu weit“, 26 27

Foderaro (1994); MacDonald (1994). Foderaro (1994); Hanson (1994).

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wenn man das Gesetz für faires Wohnen dazu nutzt, die „Opposition mundtot zu machen“. Sogar der Direktor von Community Access, jener Agentur, die gegen die Irving Place Coalition Beschwerde eingelegt hatte, räumte ein, er sei „über das Maß der Einmischung“ durch das Ministerium für Bauwesen und Städteplanung „überrascht“ gewesen, und fügte hinzu, seine Agentur habe „‚nicht unschuldige Bürger ins Rampenlicht zerren und gar deren private Leben durchleuchten lassen wollen‘.“28 Achtenberg ließ erklären, die Ermittlungen des Ministeriums für Bauwesen und Städteplanung seien so nicht hinnehmbar, und einem freundlich gesinnten Reporter sagte sie 1995, dass alle untersuchten Handlungen als „politische Handlungen geschützt“ gewesen seien und sie nach Bekanntwerden der Vorfälle eine „verbindliche Anordnung in Kraft gesetzt“ habe, damit solche Ermittlungen sich nicht wiederholten. Allerdings hatte sie im August 1994 auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung in einem Leitartikel der Washington Post etwas zweideutiger Stellung bezogen. Damals schrieb sie: „Wo das Bestreben von Nachbarn oder anderen dem Anschein nach primär gegen eine Regierungsentscheidung – etwa gegen eine bestimmte Zonierung – gerichtet ist, da wird ihr Verhalten höchst wahrscheinlich als geschützte freie Meinungsäußerung gewertet, ungeachtet der Motive, die sie haben mögen.“ (Kursivsetzung von mir.) Und um es allgemeiner mit Achtenbergs Worten zu sagen: „In jedem gleichgelagerten Fall bewegt sich das Ministerium für Bauwesen und Städteplanung auf einer Gratwanderung zwischen freier Meinungsäußerung und fairem Wohnen. Wir sind immer darauf bedacht, die richtige Balance zwischen beiden Rechten zu wahren.“29

Die Demokratie und der Wohlfahrtsstaat Das aggressive Vorgehen der Ermittler des Ministeriums für  Bauwesen und Städteplanung spiegelt mehr wider als einen sorglosen Umgang mit der Verfassung, nämlich die merkwürdige Spannung zwischen den Theorien des modernen Liberalismus und der Demokratie. Merkwürdig ist die Spannung deshalb, weil die Liberalen immer betonen, auf der Seite des kleinen Mannes zu sein. Wie schon Harry Truman 1948 in seiner Antrittsrede sagte: „Die Demokratische Partei ist die Partei des Volkes“, die Republikanische Partei aber „begünstigt die wenigen Privilegierten und nicht den gemeinen Mann.“30 36 Jahre später war es Mario Cuomo, der seiner Partei auf ihrem Konvent dasselbe Kompliment machte. Im Unterschied zu den Demokraten glauben die Republikaner, dass „einige von den Alten, den Jungen und den Schwachen am Wegesrand zurückbleiben [müssen] … Ihre Politik teilt die Nation – in die Glücklichen und die Zurückgelassenen, in die 28

Hartman (1995); Foderaro (1994). Hartman (1994), S. A17. 30 Truman (1948). 29

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Edlen und den Mob.“ Die Demokraten glauben indes, „dass wir den ganzen Weg mit der gesamten Familie schaffen können.“31 Diese Fürsorglichkeit für den durchschnittlichen Amerikaner führt allerdings oft zu einer hochmütigen Missachtung des prosaischen Mechanismus, der diesen Amerikaner mit dem Staat verbindet und ihm die Macht gibt, diesem zu widerstehen oder eine neue Richtung zu geben. Diese Haltung geht auf die Progressiven zurück, deren Ungeduld mit Madisons sperriger Verfassung gelegentlich zu recht illiberalen Gefühlsausbrüchen geführt hat. Eines der wichtigsten Bücher zur Hochzeit der Progressiven war The Promise of American Life von Herbert Croly. Er verfasste es 1909, 5 Jahre bevor er zu einem der Gründungsherausgeber des New Republic wurde. Jener Croly schrieb 1927, „welche Gefahren der Faschismus auch haben mag, er hat auf jeden Fall Stagnation durch Bewegung ersetzt, Treiben durch zielführendes Handeln und kollektive Trivialität und Entmutigung durch Visionen [einer] großen Zukunft.“32 Die Liberalen entfernten sich allerdings selten so weit von ihrem Ursprung. John Deweys Merkspruch, wonach das Rezept für eine kranke Demokratie mehr Demokratie heißt, klingt da weitaus wohlwollender. Wie sein Biograph Alan Ryan hervorgehoben hat, bezeichnete Dewey mit der Demokratie allerdings mehr als „ein politisches System, in dem die von der Mehrheit gewählte Regierung die Entscheidungen fällt, die sie fällen kann.“ Er verstand darunter eher „eine von einem bestimmten Charakter gekennzeichnete Gesellschaft, nämlich vom gegenseitigen Respekt aller Bürger untereinander und von dem Streben, die Gesellschaft sowohl stärker zu einen als auch die volle Vielfalt der Talente und Neigungen seiner Mitglieder widerzuspiegeln.“33 All dies wird schwierig, weil das Gebot, nach mehr Demokratie zu streben, wie es Ryan so ausführlich beschrieben hat, mit der Einschränkung oder gar Aufgabe der reinen Demokratie vollständig in Einklang zu stehen scheint. So schrieb Dewey 1937: „Allgemeines Wahlrecht, regelmäßige Wahlen, Verantwortung der Machtinhaber gegenüber den Wählern und die anderen Faktoren eines demokratischen Staates sind die Mittel, die sich für die Verwirklichung der Demokratie als dem wahren humanen Lebensstil als zweckdienlich erwiesen haben. Es gibt kein letztes Ziel und keinen letzten Wert. Sie sind daran zu messen, welchen Beitrag sie zu [diesem] Ziel leisten.“34 Folgt man Robert Wiebe, dann schwächen solche „starken Betonungen der Ergebnisse“ den demokratischen Prozess. Jüngere Vertreter der liberalen Theorie bedenkt Wiebe dabei mit Kritik: „Die Philosophin Amy Gutmann bindet, neben anderen Ansprüchen, ‚allgemeine Wohlfahrtsrechte und eine weitgehend gleiche 31

Cuomo (1984). Zitiert nach Brinkley (1995), S. 155. 33 Ryan (1995), S. 25. 34 Dewey (1937), S. 217 f. Siehe Fott (1998), S. 65 f. 32

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Einkommensverteilung‘ in ihr Modell einer gerechten Verfassung ein. Dadurch verkommen die Regierungen zu Verwaltungen und die Wahlen zu Ritualen.“ Einen umfassenden Wohlfahrtsstaat zur Vorbedingung einer Demokratie zu machen, ist paradox, weil so demokratisches Abwägen über den Wohlfahrtsstaat unrechtmäßig wird. Meinungen und Wählerstimmen gegen den Wohlfahrtsstaat werden so subversiv und undemokratisch. Die Fähigkeit der Demokratie, etwas zu bewirken, nimmt in dem Maße ab, wie die Zahl der an die Demokratie geknüpften Vorbedingungen zunimmt.35 Die Bemühungen, die umfassende Berücksichtigung dieser zentralen innenpolitischen Frage auszugrenzen, sind dem Liberalismus weder neu noch nebensächlich. Sidney Milkis schreibt dazu: „Die New Dealers sahen im Wohlfahrtsstaat keine Parteiangelegenheit. Das Reformprogramm der 1930er Jahre wurde als eine Sache der ‚Verfassung‘ angesehen. Aus der Verpflichtung der Bundesregierung, für die ökonomische Sicherheit des amerikanischen Volkes zu sorgen, war demzufolge jegliche Parteilichkeit herauszuhalten.“36 Arthur Schlesinger glaubte – und das war eine der Grundlagen für seinen Liberalismus des Kalten Krieges –, dass man mit Blick auf die Sowjetunion, „eine gute Gelegenheit hat, die Möglichkeiten eines friedlichen Überganges in einen nicht undemokratischen Sozialismus auszuprobieren.“ Schlesinger war umsichtig genug, den Unterschied zwischen einem demokratischen Sozialismus und einem Sozialismus, der lediglich „nicht undemokratisch“ ist, nicht weiter zu erläutern.37

Was positive Diskriminierung über die „Verrechtlichung“ des Liberalismus aussagt Der Balanceakt zwischen den alten, langweiligen Rechten, welche nur die Naiven für unveräußerlich hielten, und jener Sorte von neuen und interessanten Rechten, zu denen der New Deal die Tür geöffnet hatte, ist ein Tanz ohne Ende. Seine Eigenschaft, überraschende Ergebnisse zu produzieren, wie z. B. Schikanen gegen Bürger, die organisiert gegen neue Obdachlosenunterkünfte in ihrer Nachbarschaft auftreten, gehört zum Alltag. So entschied z. B. 1972 die Kommission zur Gleichstellung von Beschäftigten, es sei ein Fall von Rassendiskriminierung, wenn ein Arbeitgeber einem straffällig gewordenen Arbeitnehmer kündige. Sie stellte fest, dass ein „erheblicher disproportionaler Anteil von Personen, die schwerer Verbrechen überführt worden sind, Angehörige von Minderheitengruppen sind.“ Davon abgesehen, seien einige „schwere“ Verbrechen weniger schwer als andere. Nicht-Diskriminierung bedeute daher in der Praxis, nicht jeden „automatisch bei jedwedem ‚schweren‘ Verbrechen zu entlassen.“ Der Arbeitgeber müsse vielmehr 35

Wiebe (1995), S. 5. Milkis (1989), S. 129. 37 Schlesinger (1947), zitiert nach Silver (1982), S. 98. 36

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nachweisen, dass die Entlassung eines überführten Schwerverbrechers erst nach Abwägung der bisherigen Beschäftigungsbiographie und der „Relevanz des Verbrechens für den Arbeitsplatz“ vorgenommen wurde. Wenn eine Bank einen der Veruntreuung überführten Kassierer entlässt, dürfte sie wohl kaum mit einer Klage wegen diskriminierender Praktiken rechnen müssen; auch kein Feuerwerksfabrikant, der einem Brandstifter die Einstellung verwehrt. Ob allerdings die Bank den Brandstifter, oder der Fabrikant den Unterschlager entlassen darf, steht auf einem anderen Blatt.38 Überraschende Neuigkeiten gab es hierzulande auch 1989. Damals erfuhr man, dass das Bundesarbeitsministerium seit fast einem Jahrzehnt die staatlichen Beschäftigungsagenturen unter Druck setzte, einen Prüfling erst dann an einen privaten Arbeitgeber zu vermitteln, nachdem die Ergebnisse seiner fachlichen Qualifikationen „rassennormiert“ waren. „Etwa vierzig Staaten, die den [Allgemeinen Befähigungstest] verwendeten, verfuhren, wie vom Arbeitsministerium angewiesen“, so Terry Eastland, „wobei die Zahlen der normierten Tests Jahr für Jahr in die Millionen gingen.“ Rassennormierung bedeutet, dass die Testberichte nur sagten, wie ein Prüfling im Vergleich zu Kandidaten derselben Rasse, nicht aber insgesamt oder in Relation zu allen anderen Testteilnehmern abgeschnitten hatte. „Auf diese Weise erhielten ein Schwarzer, ein Hispano und ein Weißer, die alle im selben Test 300 Punkte erreicht hatten, gemäß der Umrechnungstabelle des Arbeitsministeriums je 83, 67 und 45 Punkte.“ Der Test selbst war nach Auffassung der Nationalen Akademie der Wissenschaften nicht verzerrt, aber die nach Rasse abweichenden Ergebnisse waren für das Ministerium nicht akzeptabel. Was aber für den Fall des schroffen Vorgehens seitens des Ministeriums für Bauwesen und Städteplanung galt, gilt auch für die Rassennormierung: Kurz nachdem ihre Existenz und ihre intensive Anwendung bekannt geworden waren, wurde sie verurteilt und eingestellt.39 Eigentlich war die positive Diskriminierung durch gezielte Fördermaßnahmen schon seit langem umstritten, aber nicht in der Weise, dass sie im Zusammenhang mit dem Wohlfahrtsstaat diskutiert worden wäre. Bei genauerer Untersuchung stellt sich jedoch heraus, dass die beiden Prinzipien der Liberalen auf ein und demselben New Deal gründen. Wir haben gesehen, wie im Verlaufe dreier Präsidentenreden die auf die Natur zurückgeführten bürgerlichen Rechte jenen wichen, die mit der Geschichte begründet wurden. Die erste Rede eines Präsidenten aus dem Oval Office, die vom Fernsehen ausgestrahlt wurde, war die von Präsident Kennedy am 11. Juni 1963, kurz nachdem er die Nationalgarde angewiesen hatte, dafür zu sorgen, dass zwei schwarze Studenten freien Zugang zur Universität von Alabama bekamen. Er stellte klar, dass es Brüderlichkeit und vor allem Gleichheit braucht, um den Rassismus 38 39

Glazer (1978), S. 56. Eastland (1996), S. 106 f.

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abzuschaffen. Kennedy schloss seine Rede mit einem Appell an die „farbenblinde Konstitution“, jener Begriff, den der Oberste Bundesrichter John Harlan in seiner berühmten Widerrede im Fall Plessy vs Ferguson40 verwendet hatte. Das Oberste Bundesgericht erklärte damals (1896) die Verfassungsmäßigkeit der in öffent­ lichen Einrichtungen geltenden Regel „separat aber gleich“. Kennedy erinnerte an das Gründungsprinzip der Nation, „dass alle Menschen gleich geschaffen sind und die Rechte aller geschmälert sind, wenn die Rechte eines Einzelnen bedroht sind.“ Und er verkündete seine Absicht, den Kongress darum zu ersuchen, „eine Verpflichtungserklärung abzugeben, … wonach die Rasse weder im Leben noch im Recht der Amerikaner einen Platz hat.“41 Kennedys Gesetzesvorschlag trat 1964 als Bürgerrechtsgesetz in Kraft, signiert von seinem Nachfolger. Obwohl JFK die Inkraftsetzung nicht mehr erlebte, spielt seine Amtszeit für die politische Propagierung der Gesetzesvorlage eine wichtige Rolle. Nur fünf Tage nach dem Attentat in Dallas sagte Präsident Johnson auf einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses: „[K]ein Gedächtnisgottesdienst und keine Grabrede eignet sich mehr, das Gedenken an Kennedy zu ehren, als die schnellstmögliche Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes, für das er so lange gekämpft hat.“ Die Befürworter des Gesetzes stießen mit Kennedy gemeinsam in das Horn vom Ideal einer farbenblinden Verfassung. Als die Gegner der Vorlage die Befürchtung äußerten, dass Absatz VII, der die Diskriminierung durch die Arbeitgeber unterband, Arbeitsplatzbarrieren für Weiße hervorrufen könnte, erwiderte Senator Hubert Humphrey: „Absatz VII verbietet Diskriminierung. Das heißt, er untersagt, dass Rasse, Religion und Herkunft eine Rolle bei Einstellung und Entlassung spielen dürfen.“ Und in einer Verteidigung des Absatzes VII, die vom Leitungsrat für Bürgerrechte herausgegeben wurde, heißt es: „Die bevorzugte Behandlung von Negern oder anderen Minderheitengruppen würde diesen Absatz verletzen. Seine Pointe besteht einzig und allein darin, dass alle Arbeiter gleichbehandelt werden.“42 Nur zwei Jahre nach Kennedys Rede und ein Jahr nach der Unterzeichnung des Bürgerrechtsgesetzes gab es das erste klare Anzeichen dafür, dass das Prinzip der Farbenblindheit seine Schuldigkeit getan hatte und die Liberalen jetzt damit beginnen würden, es auszulegen. Präsident Johnson hielt am 4. Juni 1965 bei der Abschlussfeier an der traditionell schwarzen Howard Universität eine Ansprache. In ihr verkündete er „den nächsten und viel wichtigeren Schritt im Kampf für die Bürgerrechte.“ In ihm streben wir „nicht nur nach Gleichheit im Recht und in der Theorie, sondern auch nach Gleichheit in der Praxis und nach Gleichheit im Ergebnis.“ Johnson verwendete den größten Teil seiner Rede darauf, in den höchsten Tönen zu preisen, wie die großen Wohlfahrtsprogramme, einmal verordnet 40

Berühmter US-Rechtsfall, in dem die Rassentrennung in privat betriebenen, öffentlichen Verkehrsmitteln (z. B. Zügen) für verfassungsgemäß erklärt wurde, d. Hrsg. 41 Kennedy (1963). 42 Roberts / Stratton (1995), S. 69, 75, 77 f.

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und umgesetzt, die theoretische Gleichheit zu einer praktischen Gleichheit machen würden, und zwar indem sie die Armut an der „Wurzel“ packen und ausmerzen würden.43 Es wurde jedoch schnell klar, dass die Sicherstellung der Gleichheit im Resultat nicht nur über die Gleichheit als Recht hinausgehen, sondern diese auch einschränken würde, ungeachtet der wiederholten Beteuerungen der Liberalen vor 1965, dass die Farbenblindheit ein unveräußerliches Prinzip sei. Im Bericht der Konferenz über Beschäftigungsgleichheit, die im August 1965 im Weißen Haus abgehalten wurde, wird hervorgehoben, dass die „Konferenzteilnehmer darum bemüht sind, über die Buchstaben des Gesetzes hinaus wohlwollend über jene gezielten Förderungsmaßnahmen zu befinden, die es braucht, um dem Rechtserfordernis der Chancengleichheit im Alltag wirksam zu entsprechen.“44 Die Kommission für Beschäftigungsgleichheit (EEOC)  – die amerikanische Regulierungsbehörde, die durch das Bürgerrechtsgesetz von 1964 ins Leben gerufen wurde – machte sich unmittelbar daran, zu zeigen, dass man am schnellsten über die Buchstaben des Gesetzes hinausgelangt, indem man es einfach ignoriert. In einem der ersten Memoranden des EEOC heißt es: „Nach den Buchstaben des Gesetzes muss ein Arbeitgeber gemäß Absatz VII … Ungleichheiten innerhalb der Belegschaft, die aus zurückliegenden Diskriminierungen resultieren, nicht ausgleichen.“ Statt nun eine Verbesserung des Gesetzes durch den Kongress abzuwarten, preschte die Kommission mit ihrer eigenen „Theorie zur Förderung der Nondiskriminierung“ vor, der zufolge „Neger unter Abwägung ihrer Anzahl und Fähigkeiten anzuwerben, zu beschäftigen, zu vermitteln und zu fördern sind.“ Die „Vorkehrungen gegen bevorzugte Beschäftigungen (in Absatz VII) sind eine große Null, ein Nichts, eine Nullität. Für uns haben sie überhaupt keine Bedeutung“, sagte ein Mitglied der EEOC.45 In den 1970er Jahren brachte die EEOC, und überhaupt die gesamte Bürgerrechtsbewegung, die Gerichte dazu, ihren Bemühungen, die unbequemen Vorkehrungen in der Bürgerrechtsgesetzgebung unter den Tisch zu kehren, wohlwollend zu begegnen. Der Fall Vereinigte Stahlarbeiter von Amerika gegen Weber war einer ihrer großen Erfolge. Das Oberste Bundesgericht entschied nämlich 1979, dass das, was zähle, nicht der Buchstabe, sondern der Geist und der Grundgedanke des Bürgerrechtsgesetzes sei. Und dieser war nach mehrheitlicher Auffassung, die Richter Brennan darlegte, auf „die Notlage der Neger in unserer Wirtschaft“ einzugehen und „ihnen Zugang zu Berufen zu verschaffen, die ihnen traditionellerweise vorenthalten wurden.“ Brian Weber, einem weißen Arbeiter bei Kaiser Aluminium, half dieses Gesetz aber nicht weiter. Er wurde nämlich von einem Fachfortbildungsprogramm ausgeschlossen, nachdem sein Arbeitgeber und seine Gewerkschaft, um

43

Johnson (1965). Roberts / Stratton (1995), S. 91. 45 Roberts / Stratton (1995), S. 88–95. 44

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eventuellen Rechtsstreitigkeiten mit der EEOC vorzubeugen, festgelegt hatten, dass 50 % der Fortbildungsteilnehmer schwarz sein müssten.46 Die dritte der oben genannten Präsidentenansprachen war schließlich die von Präsident Clinton im Jahre 1995. Sie verteidigte die gezielten Fördermaßnahmen gegen deren Kritiker, die immer zahlreicher und entschiedener wurden. Gemeint ist die Rede vom „besser machen, statt Schluss machen“. Allerdings ließ Clinton in ihr das mögliche Ende der positiven Diskriminierung anklingen. Jedes einzelne gezielte Förderungsprogramm, so Clinton, egal ob zur Beschäftigung, Weiterbildung oder zur Vergabe öffentlicher Aufträge, „muss beendet werden“, sobald sein Ziel erreicht sei. Positive Diskriminierung als solche „solle nicht auf ewig“ weitergehen, und „solle aufhören, wenn ihre Arbeit erledigt ist.“47 Tatsache ist allerdings, dass in Ermangelung einer klaren Definition, die festlegt, wann eine gezielte Fördermaßnahme ihre Arbeit erledigt hat, diese nie aufhören wird, es sei denn durch den politischen Erfolg ihrer Widersacher. Hier ist also das Definitionsdefizit der Liberalen voll am Zuge. So wenig, wie die Liberalen sagen können, wie groß der Wohlfahrtsstaat sein solle, sondern nur, dass er größer sein solle als bisher, so wenig können sie sagen, wie lange die positive Diskriminierung anhalten solle, sondern nur, dass deren rechtmäßige Beendigung weder heute noch bald, bestenfalls in weiter, sehr weiter Ferne stattfinden könne. In seiner Entscheidung, das gezielte Förderprogramm der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Maryland für rechtmäßig zu erklären, stellt das Oberste Bundesgericht 2003 folgendes fest: „Wir erwarten, dass in 25 Jahren die Anwendung rassischer Bevorzugungen nicht mehr notwendig sein wird.“48 Bedenkt man, dass zwischen dieser Entscheidung und dem ähnlich lautenden Richterspruch des Obersten Gerichtes im Fall Bakke von 1978 (der ebenfalls positive Diskriminierung mit der Gleichheit vor dem Gesetz in Einklang zu bringen wusste) 25 Jahre liegen, dann bedarf es schon einer großen Portion Optimismus, um in weiser Voraussicht 2028 als das Jahr im Kalender rot anzukreuzen, in dem die Fürsprecher der positiven Diskriminierung ihren Sieg verkünden und anschließend nach Hause gehen. Die „einhellige Meinung“ eines Ausschusses auf dem Konvent der Amerikanischen Erziehungswissenschaftlichen Vereinigung im Jahre 2008 war jedenfalls, dass es „nicht im Geringsten die Chance“ gibt, die positive Diskriminierung schon 2028 einzustellen.49 Obwohl Präsident Clinton versprach, die positive Diskriminierung nach Erledigung ihrer Aufgaben einzustellen, hatte er sie doch in einer Weise charakterisiert, die eine Beendigung praktisch unmöglich macht. Einer der „Standards der Fair 46 United Steelworkers of America v. Weber, 443 U. S. 193, 195; Roberts / Stratton (1995), S. 106 f. 47 Clinton (1995). 48 Grutter v. Bollinger, 539 U. S. 306 (2003). 49 Jaschik (2008).

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ness“, an denen er die positive Diskriminierung auszurichten versprach, lautete: „Keine Quoten, weder in der Theorie noch in der Praxis.“ Dabei bediente Clinton sich eines Strohmann-Arguments zugunsten der positiven Diskriminierung. Er unterschied plumpe und willkürliche Quoten von gezielten Förderungsprogrammen, die – um die lobenden Worte des Obersten Bundesgerichtes zur Zulassungspolitik der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Maryland zu benutzen – „flexibel“, „individualisiert“ und „ganzheitlich“ sind. Catherine Horn von der Universität Houston führte diese Logik auf der Konferenz der Amerikanischen Erziehungswissenschaftlichen Vereinigung etwas näher aus. Kollegen, die den Wunsch nach strengen Auswahlprozessen bei den Studienzulassungen mit demographisch korrekten Selektionsprozessen auf einen Nenner bringen wollen, sollten dies durch „Rekonzeptualisierung der Meriten“50 tun. Ganz gleich, mit welchen und wie vielen Modewörter aus der Welt der Managementseminare man ein Programm zur positiven Diskriminierung einpacken will, es bleibt die Tatsache bestehen, dass ihr einziger Daseinszweck der ist, statistische „Disparitäten“ mithilfe diverser demographischer Unterkategorien zu „bereinigen“. Präsident Clinton focht z. B. auch die Forderungen jener an, die sagten, „dass sogar gute gezielte Förderungsprogramme nicht mehr nötig seien.“ Statistische Evidenz beweise „das Fortbestehen jener Art von Bigotterie, die unsere Art des Denkens auch dann, wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind, bei all unseren Entscheidungen beeinflussen kann, sei es beim Einstellen, Fördern, in der Wirtschaft oder in der Ausbildung.“ Zur Illustrierung zitierte er eine Studie, der zufolge männliche Weiße in den „größten Unternehmen des Landes 43 % der Beschäftigten stellen, aber 95 % aller höheren Managementpositionen“ innehaben. Das von allen Ungleichheiten befreite Amerika, das irgendwann die gezielten Förderprogramme einstellt, kann sowohl mathematisch wie auch politisch beschrieben werden. In Zahlen ausgedrückt wird dieses Amerika ein Ort sein, an dem jeder Beruf, jeder Anteil an der Einkommensverteilung – eigentlich alle Kategorien, die irgendetwas zu mehr oder weniger vorteilhaften Lebenssituationen sagen können – eine exakte demographische Miniaturausgabe der Gesellschaft als Ganzes wiedergibt. Wenn weiße Männer 43 % aller Beschäftigten stellen, dann sollen sie auch 43 % der Großkopferten in den Unternehmen stellen – nicht mehr und nicht weniger. Der Anteil der puerto-ricanischen Kieferorthopäden sollte auch dem Anteil der Puerto-Ricaner in der Bevölkerung entsprechen, so dass für jeden PuertoRicaner die Wahrscheinlichkeit, Kieferorthopäde zu sein, gleich ist, genauso wie für jeden Kieferorthopäden, die Wahrscheinlichkeit ein Puerto-Ricaner zu sein, exakt gleich ist. Anders formuliert heißt das, dass Amerika, dessen Geschichte die Liberalen seit den 1960er Jahren als eine Chronik der Unterjochung der Schwachen durch die Starken betrachten, sich als eine Gesellschaft neu verfassen soll, als hätte es 50

Jaschik (2008).

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von Anfang an weder Sklaverei noch Rassismus, Sexismus, Homophobie, Altersfeindlichkeit, Bigotterie oder Diskriminierung gegeben. Amerika wird erst dann eine gerechte Gesellschaft sein, wenn jeder Vor- und Nachteil, der auf seine historischen Sünden zurückverfolgt werden kann, ausgemerzt ist. So sagten z. B. die vier liberalsten Obersten Bundesrichter, die 1978 im Fall Bakke für positive Diskriminierung votiert hatten, sie hätten einfach nur die „Minderheit der Bewerber [für die Medizinische Fakultät] in die Position“ bringen wollen, „in der diese ohne das Übel der Rassendiskriminierung sowieso wären.“ Thomas Sowell, ein Ökonom an der Hoover Institution, meint, „die Idee, Gruppen in den Stand zu versetzen, in dem sie wären – und in dem sie genau das sind, was sie wären“, falls es die zurückliegende Diskriminierung nicht gegeben hätte, „setzt ein Wissen von so vielen Einzelheiten voraus, das nie Mensch besessen hat.“ „Was wäre der heutige Durchschnittsengländer ohne die Eroberung durch die Normannen? Was wäre der Durchschnittsjapaner ohne die zweihundertfünfzigjährige Zwangsisolation unter dem Tokugawa-Shogunat? Was wäre der Mittlere Osten heute ohne den Islam? In jedem anderen Kontext jenseits der Frage politischer Vorlieben würde die Behauptung, die Antworten auf derlei Fragen zu kennen, als lächerlich abgetan. Sie würde nicht einmal als intellektuelle Spekulation durchgehen, geschweige denn als Grundlage für ernsthafte rechtliche Maßnahmen.“51

Das eingepflanzte Axiom besagt, dass es in Wirtschafts-, Bildungs- oder Berufsprofilen der diversen nationalen Subpopulationen nicht einen Unterschied gibt, der nicht letzten Endes der Bigotterie zuzuschreiben ist. Wenn die Fürsprecher der positiven Diskriminierung diesen Einwand als eine unzulässige reductio ad absurdum entlarven wollen, dann müssen sie die nicht absurden Grenzen offenlegen, welche die gezielten Fördermaßnahmen einhalten müssen. Aber das tun sie nicht. Mit Bedacht sagen sie, dass der Zweck positiver Diskriminierung in der „Reduzierung“ nicht hinnehmbarer Ungleichheiten liege, und nicht in deren „Eliminierung“. Aber nicht weniger bedacht sagen sie nie, wo genau vor der Eliminierung die Arbeit an der Reduzierung der Disparitäten enden solle. Der Not der „unterrepräsentierten“ Bedürfnisse kann nur durch eine Kappung der Vorteile der „überrepräsentierten“ Bedürfnisse begegnet werden, aber die Befürworter der positiven Diskriminierung machen nie klar, was mit der Bewältigung dieser Aufgabe sonst gemeint ist als das Erschaffen einer Gesellschaft, in der jede Gruppe repräsentiert ist, Punkt – und zwar genau und proportional in jeder Gesellschaftsschicht. Folglich ist die Verbesserung der positiven Diskriminierung genauso nebulös wie deren Beendigung. Die positive Diskriminierung „sollte jetzt geändert werden, um sich um die Dinge kümmern zu können, die falsch sind“, meinte Präsident Clinton, aber festzulegen, um welche Dinge es sich dabei handelt, ist sehr schwer. Zu irgendeinem Zeitpunkt werden die Brian Webers dieser Welt – Weiße, die ihre Karrierechancen durch Programme beschnitten sehen, die den Geist der Bürgerrechtsgesetze in sich tragen – durch eine zu weit reichende Politik der gezielten 51

Sowell (1989), S. 26.

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Förderprogramme geschützt werden. Aber dieser Zeitpunkt liegt ebenso in weiter Ferne wie der Endpunkt aller positiven Diskriminierung und ist ebenso schwer zu bestimmen. Zum Fall Weber meinte das Oberste Bundesgericht: „In solchen Fällen ist es nicht nötig, die Grenzlinie zwischen erlaubten und unerlaubten gezielten Förderungsmaßnahmen festzulegen; es reicht festzustellen, dass die fragliche KaiserUSWA-Maßnahme auf die Seite der erlaubten positiven Diskriminierungen fällt.“52 Ein von Gesetzen, nicht von Menschen, gelenkter Staat muss seine Aktionen mit überzeugenderen Argumenten rechtfertigen und den Regierten mehr Respekt zollen, als es ein lapidares „weil wir es so sagen“ tut. Man kann unmöglich erkennen, wie eine gezielte Fördermaßnahme erlaubt genannt werden kann, wenn kein Kriterium dafür, was eine unerlaubte wäre, vorliegt. Wenn das Oberste Bundesgericht nicht weiß – oder sagen kann –, wo die Grenzlinie verläuft, dann ist die Feststellung, dass eine bestimmte Maßnahme auf eine Seite der Linie falle, alles, nur keine Konklusion. Vielleicht in Erahnung der mit dieser Position verbundenen Schwierigkeiten schlägt die Mehrheit der Richter so etwas wie eine Annäherung an die Grenzlinie vor, und zwar indem sie vorträgt, dass „das [Kaiser-USWA] Programm die Interessen der weißen Angestellten nicht unnötig mit Füßen getreten hat, weil es weder vorsieht, weiße Arbeiter zu entlassen und durch neu anzuheuernde schwarze Arbeiter zu ersetzen, noch weiße Arbeiter generell am Vorankommen hindert, schließlich ist die Hälfte der Weitergebildeten weiß.“ Mit anderen Worten, Brian Weber hat immer noch einen Arbeitsplatz und immer noch eine gewisse Chance auf Fortbildung, halt nur eine kleinere als die, die er als Schwarzer hätte oder dann, wenn sein Arbeitgeber eine farbenblinde Personalpolitik betriebe. Der einzige Rechtsbehelf, den ihm das Gericht anbieten kann, ist wohl der, mit dem Beschweren aufzuhören und sich mit der Feststellung der Richter anzufreunden, dass sie seine Interessen zwar mit Füßen getreten haben, das aber mit Notwendigkeit.53 Die erstaunlich schnelle und vollständige Transformation des Bürgerrechtsgesetzes von 1964, die aus einem Gesetz zur Gleichbehandlung aller Bürger eine Politik, die alle ungleich behandelt, gemacht hat, ist eines der dreistesten Lockangebote in der Geschichte der amerikanischen Politik. Um genau angeben zu können, was die positive Diskriminierung über den Liberalismus aussagt, müsste man allerdings wissen, inwieweit die Liberalen vorausgeahnt oder beabsichtigt hatten, ihr vor 1965 unterbreitetes Lockangebot später wieder aus dem Schaufenster zu nehmen. In Ermangelung von Geständnissen, die nur ein Wahrheitsserum entlocken könnte, kann man nur so viel sagen: Es gibt keinerlei Evidenz für die Nullhypothese, der zufolge die Zurückweisung der Farbenblindheit nach 1965 in keinerlei logischem und kausalem Verhältnis zu der Verteidigung des Prinzips vor 1965 stand. Was als Beleg dafür herhalten könnte, wären Liberale, die vor 1965 leidenschaftlich für 52 53

Clinton (1995); United Steelworkers of America v. Weber, 443 U. S. 193, 195. United Steelworkers of America v. Weber, 443 U. S. 193, 195.

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das Prinzip der Farbenblindheit einstanden und sich nun über das Auftreten positiver Diskriminierung schockiert oder bestürzt zeigten. Einige Liberale waren in dieser Frage unbeirrbar, aber früher oder später passten sie sich alle den neo-konservativen Reihen an, vor allem als klar wurde, dass heterogene Meinungen zur positiven Diskriminierung von den angesehenen Liberalen nicht geduldet würden. Senator Liebermann z. B. entschuldigte sich unterwürfig für seine einstige Kritik an der positiven Diskriminierung, nachdem Al Gore ihn 2000 als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft erkoren hatte.54 Die übrigen hielten ihre Bedenken, sofern sie welche hatten, für sich. Während der Senatsdebatte über das Bürgerrechtsgesetz versprach Senator Humphrey in pathetischer Weise, „nach und nach jede Seite des Gesetzes aufzuessen“, könnten dessen Gegner darin auch nur „einen Satz“ finden, der Quoten vorschreibe. Unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes, begannen die Verfechter der Bürgerrechte genau diese unzulässige Auslegung aus dem Gesetz herauszukitzeln. Humphrey machte jedoch dabei nie mit.55 Das unberechenbare Moment, das die Liberalen so schnell von der Vereinnahmung zur Verleumdung der Farbenblindheit schwenken ließ, rührt vom Recht auf Wohlergehen. Rechte, die nicht in der Natur gründen, sondern dem Verlauf der Geschichte geschuldet sind, können immer so sein, wie wir wollen. Es wäre schön, wenn man Brian Weber mitteilen könnte, dass eine Ungleichbehandlung aufgrund seiner Hautfarbe nicht hinnehmbar ist – schließlich erinnern wir uns vage daran, irgendwann einmal etwas im Sinne einer farbenblinden Verfassung gesagt zu haben –, aber der Staat muss viele wichtige Dinge ausprobieren, es gibt immer Komplikationen, und außerdem sollten die Menschen realistisch sein und Geduld haben. Das Ideal eines Staates, der dazu da ist, Rechte zu wahren und gleiches Recht mit Hilfe der Gesetze zu garantieren, macht einem Staat Platz, der eine endlose Fülle an bewilligten Geldern unter einer endlosen Reihe von Interessengruppen verhandelt. Sieht man es so, dann ist die positive Diskriminierung nicht eine Mutation des liberalen Prinzips, sondern die perfekte Ausdrucksform desselben.

Wohlfahrtsrechte Wie bereits erwähnt, hatten die politischen Theorien von John Rawls außerhalb der Universitäten keine erkennbare Wirkung. Eine Ausnahme bildet ­Matthew ­Yglesias, ein Journalist, der Clintonsche Rhetorik mit Rawlsschen Postulaten verquickte. Sollten jene, deren natürliche Intelligenz und Begabung sie im Leben nicht sehr weit bringen, „bereitwillig hart arbeiten, ihr Bestes zur Gesellschaft beitragen und die Spielregeln beherzigen, dann verdienen sei einen fairen Anteil am Wohlstand der Gesellschaft – d. h. den höchsten Lebensstandard, den wir für sie einrich 54 55

Montgomery (2000). Roberts / Stratton (1995), S. 78.

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ten können.“ Mit anderen Worten, es ist falsch für Menschen, ein „mieses Leben“ zu führen, nur weil sie beim akademischen Befähigungstest schlecht abschneiden.56 Diese Abwandlung von Rawls erklärt, warum es so wenige Rawlsianer in der amerikanischen Politik gibt. Anders als Yglesias, sieht Rawls die Neigungen zu harter Arbeit und regelgerechtem Verhalten als angeborene Eigenschaften, die durch die große Lotterie des Lebens ungleich verteilt werden. Menschen, die diese Eigenschaften nicht besitzen, verdienen den höchstmöglichen Lebensstandard ebenso wie all jene Menschen, denen es an Scharfsinn, gewinnender Persönlichkeit oder gutem Aussehen mangelt. Ein Mensch, der sich dem Zählen von Erbsen verschreibt, entscheidet sich zu einem ungemein unsinnigen Leben, aber Rawls betont, dass eine gerechte Gesellschaft mit höchster Priorität sicherstellen muss, dass der Erbsenzähler das angenehmste aller möglichen Leben führt.57 Dass Rawls etwas gesagt hätte, das die meisten Liberalen verworfen hätten, war nicht das politische Problem, sondern dass er eine Auffassung zur Sprache gebracht hatte, welche die Liberalen aufgrund bitterer Erfahrungen lieber für sich behielten. „Sie können niemanden zur Arbeit zwingen, wenn er nicht arbeiten will.“ Damit fasste Senator George McGovern 1972 kurz und gut sieben Kapitel einer Theorie der Gerechtigkeit in einem Satz zusammen. (McGoverns Argument wurde bereits 1970, allerdings beseelter, während einer Senatsanhörung von der zweiten Vorsitzenden der nationalen Organisation für Wohlfahrtsrechte, Beulah Saunders, benutzt. Sie sagte aus: „Sie können mich nicht zur Arbeit zwingen. Sie geben mir besser etwas Besseres als das, was ich von der Wohlfahrt kriege.“ Eine andere Frau sagte den Senatoren, sie sähe ihre Kinder lieber tot als einen Job oder eine Weiterbildung annehmen zu müssen, um Wohlfahrtsbeihilfen zu bekommen.) Daher sagte McGovern: „Ich würde nur sicherstellen, dass jede Person in diesem Lande ein gewisses Mindesteinkommen erhält. Wenn sie darüber hinaus noch etwas arbeiten will, soll sie ihren Verdienst behalten.“ McGoverns „Volkszuschuss“-Vorschlag, der diese Anwandlungen in ein Mindesteinkommensprogramm verwandelte, erwies sich als so kontrovers und undurchsichtig, dass McGovern ihn aufgab, nachdem er die Nominierung zum Kandidaten der Demokraten gewonnen hatte.58 Bill Clinton koordinierte damals den Wahlkampf von McGovern in Texas, wo jener 33 % der Stimmen erhielt, ein Ergebnis, das nur geringfügig schlechter war als die 37,5 %, die McGovern bundesweit erhielt. Als Clinton 20 Jahre später selbst um das Präsidentenamt kämpfte, wollte er mit seinem unaufhörlichen Gerede von der Hilfe für all die Amerikaner, die hart arbeiten und die Regeln einhalten, allen ganz klar einimpfen, dass es keinen Grund mehr gebe, zu argwöhnen, dass die Demokraten immer noch an die Wohlfahrtspolitik à la McGovern (nach dem Motto: Wir stellen keine Fragen) glauben würden. Sein vergleichsweises konkreteres Versprechen während des Wahlkampfes 1992, die „Wohlfahrt, wie wir sie kennen, zu 56

Yglesias (2006a). Yglesias (2006a); Rawls (1971), S. 432. 58 Davies (1996), S. 229, 232. 57

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beenden“, erfüllte sich dann weitaus schneller, als ihm lieb war, nämlich als der republikanische Kongress ihm 1996 ein Gesetz vorlegte, das die Familienhilfe (AFDC59), die Familien mit Kindern im Falle finanzieller Bedürftigkeit Wohlfahrtshilfen gewährte, durch Übergangshilfen für bedürftige Familien ersetzte. Der Schlüsselbegriff war „Übergang“ – die Bundesregierung half den Armen auch weiterhin mit staatlichen Zuschüssen, aber das Gesetz begrenzte die Wohlfahrtsleistungen, die eine Personen beziehen konnte, auf die Dauer von 60 Monaten. Außerdem hingen die gewährten Zuschüsse von der Annahme angebotener Arbeitsplätze und von der Teilnahme an Lehrgängen ab. Präsident Clinton legte zweimal sein Veto gegen die eingereichten Gesetzesvorlagen ein, unterzeichnete aber schließlich eine geringfügig laxere Version drei Monate vor den Parlamentswahlen. Clinton wurde, oft in hysterische Weise, für sein großes Zugeständnis an die Republikaner bloßgestellt. The Nation prophezeite, das Ende des AFDC führe zu „massiver und tödlicher Armut, Krankheit und Gewalt in allen Formen. Menschen werden sterben, Unternehmen schließen, die Kindessterblichkeit ansteigen, jeder, der kann, wird wegziehen. Überall in Amerika werden sich die Arbeiter- und Mittelschichtssiedlungen zu angsteinflößenden, gewalttätigen Einöden verwandeln.“60 Diesen Widerwillen gegen die Sparsamkeit gab ein Artikel über Idaho, der 1998 in der New York Times erschein, gut wieder. Nachdem darin festgestellt wurde, dass die restriktive Politik des Bundesstaates die Wohlfahrtsausgaben in den letzten vier Jahren um 77 % gekürzt hatte, wurde ein Forscher zitiert, der meinte, Idaho sei für die Armen „der schlimmste Platz im ganzen Land.“ Mit dieser eingängigen Formulierung wurde den Bundesstaaten nahegelegt, mit ihren Gesetzgebungen darum zu werben, für die Armen der beste Platz im ganzen Land zu sein. Amerika indes sollte danach streben, für die Armen der beste Platz auf der ganzen Welt zu sein.61 Die Historiker Fred Siegel und Vincent Cannato haben den Nachweis erbracht, dass John Lindsay seine beiden Amtszeiten als Bürgermeister von New York (1965–1973) dazu nutzte, diesen Wettbewerb zu gewinnen. Während seiner ersten sechs Amtsjahre in Gracie Mansion62 hat sich die Zahl der New Yorker Wohlfahrtsempfänger auf 1. 165. 000 verdoppelt. Dieser Anstieg war kaum den Umständen, sondern der Politik und Ideologie geschuldet. Die Zahl der Wohlfahrtsempfänger zu erhöhen, genoss bei Lindsays erstem Sozialdezernenten höchste Priorität. Dessen politisches Handeln war Ausdruck einer neuen Doktrin, die Siegel „abhängiger Individualismus“ nennt. Gemäß dieser Doktrin wurde neben einem unbestreitbaren Recht „auf einen eigenen Lebensstil (unabhängig von dessen Kosten für die Gesellschaft) zugleich ein ebenso fundamentales Recht auf Unterstützung durch den Staat“ gewährt.63 In einem Aufsatz, in dem er den umstrittenen „Moynihan 59

Aid to Families with Dependent Children Program, d. Hrsg. Nelson (1996), S. 10. 61 Egan (1998), S. 1. 62 Amtssitz des New Yorker Bürgermeisters, d. Hrsg. 63 Siegel (1997), S. 46–61. Siehe auch Cannato (2001). 60

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Report“64 kritisierte, machte sich der prominente Soziologe Christopher Jencks für diese Weltanschauung stark: „Wenn [arme schwarze Familien] gewollt matriarchalisch leben (z. B. dann, wenn Unterschichtmänner, -frauen und -kinder wirklich eine Familie aus Mutter, Kindern und wechselnden Partnerschaften mit Männern bevorzugen), dann ist es wohl kaum Sache des Staates, diese Entscheidung umkehren zu wollen. Der Staat sollte stattdessen über Möglichkeiten nachdenken, wie man solche Familien mit denselben physischen und psychischen Grundlagen des Lebens ausstatten kann, über die andere Familien auch verfügen.“65

Das Schlimmste, was The Nation 10 Jahre nach Abschaffung der AFDC schreiben konnte, war, dass „wir wenig über das Schicksal derer wissen, die aus der Wohlfahrt herausgenommen wurden,“ – ein epistemologisches Problem, das sich wohl kaum gestellt hätte, wenn der von dem Magazin vorhergesagte Absturz in die Barbarei eingetreten wäre.66 Was auch immer die Wohlfahrtsreform über die hellseherischen Qualitäten der Liberalen aussagen mag, sie spitzt jene Frage zu, wofür die Liberalen stehen. Eine beträchtliche Minderheit unter den Liberalen schwieg zur Abschaffung des AFDC im Jahre 1996, und die meisten Liberalen schlossen sich danach der Auffassung an, dass die Wohlfahrtsreform recht gut verlaufen sei. In diesem Zugeständnis mag man die Chance zu einem Grenzprinzip des Liberalismus erblicken. „Wohlfahrt sollte eine zweite Chance sein, kein Lebensstil“, hatte ­Clinton oft genug gesagt, als Präsidentschaftskandidat und auch nach seiner Wahl.67 Trotzdem kann man nur mühsam herauskitzeln, was an diesem Grenzprinzip begrenzend oder gar prinzipiell sein soll. Yglesias sagt es offen heraus: „[V]on Anfang an war das Versprechen, den ‚Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn kennen, zu beenden‘, vor allem ein politischer Schachzug, und zwar ein „überaus erfolgreicher“, weil er „die politischen Aussichten für eine progressive Politik in Amerika insgesamt deutlich verbesserte.“ „Das größte Problem des AFDC war dessen „enorme Unbeliebtheit“, so Yglesias, und die Ablehnung des Programms durch die Öffentlichkeit „lähmte“ die „ganze Idee vom aktivistischen Staat.“ Glücklicherweise „beflügelte die [Eliminierung des AFDC] die Bereitschaft der Bevölkerung, über neue Programme und Initiativen nachzudenken, und das in einer Weise, die nicht ansatzweise den Armen so geschadet hat, wie anfangs vorhergesagt wurde.“68 Die Herausgeber des New Republic stießen hier mit ins Horn. Wegen des Gesetzes von 1996 habe „das Herziehen über die Wohlfahrt seine politische Wirksamkeit verloren … [und] die Wohlfahrtsreform dem aktivistischen Staat Anhänger zugespielt. Die Demokraten haben nun mehr Freiraum, um gegen die republikanische

64 Benannt nach dem Soziologen Patrick Moynihan, der eine positive Korrelation zwischen einer intakten 2-Eltern-Familie und deren wirtschaftlichem Erfolg nachwies, d. Hrsg. 65 Jencks (1965), S. 39. 66 Scheer (2006). 67 Clinton (1996). 68 Yglesias (2006b).

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Knausrigkeit vorzugehen  – und statt ihrer eine dichteres Sicherheitsnetz vorzuschlagen.“ Die Abschaffung des AFDC zeigte also nicht an, wo die Liberalen dem Wohlfahrtsstaat Grenzen ziehen wollten. Vielmehr war sie ein taktischer Rückzug, um das strategische Ziel, die Grenzen immer weiter und weiter hinauszuschieben, vorzubereiten.69

Kommunitarismus Das Gemeinwohl Michael Tomasky hatte zwar seinerzeit dem Artikel von Ackerman und Gitlin, in dem das Recht auf die Mittel für ein gutes Leben zum großen Prinzip des Liberalismus erklärt wurde, im American Prospect viel Platz eingeräumt und ihn auch mitunterschrieben. Aber in seinem Geleitwort wartete er mit einer anderen Beschreibung der großen Liberalismusidee auf, eine, die mit dem großen Prinzip der Wohlfahrtsrechte, das bis zur berühmten Rede von FDR im Jahre 1944 zurückreicht, nicht in Einklang gebracht werden kann. Folgt man Tomasky, dann „müssen die Demokraten die Partei des Gemeinwohls werden“, und zwar indem sie versuchen, „die Bürger in große Projekte einzubinden, zu denen jeder beiträgt und aus denen jeder Nutzen zieht.“ Der Liberalismus brauche diese Orientierung, weil seit den 1960er Jahren die Liberalen „nur der Glaube an zwei Dinge eint, zwei Dinge, an die auch alle Amerikaner glauben sollen: Vielfalt und Rechte.“ Die „Verrechtlichung“ des Liberalismus, die in den 1960er Jahren eng mit dem Beharren auf Vielfalt einherging, nahm dem Liberalismus viel von seiner politischen Anziehungskraft. Die Konservativen brauchten nur an den gesunden Menschenverstand und den Durchschnittsbürger zu appellieren, so Tomasky, und schon erwies sich das überzogene Eintreten für Wohlfahrtsempfänger und Kriminelle als die verletzbare Seite des Liberalismus. Tomasky beklagt zwar, dass die konservativen Hinweise auf Wohlfahrtsbetrüger und betütelte Verbrecher „manipulierend“ wirkten, räumt aber auch ein, dass sie nicht „ganz falsch“ waren.70 Tomasky ist nicht der erste politische Denker, der von der Idee des Gemeinwohls berauscht wurde und dann unversehens vor dem Problem stand, sie hinreichend klar darzustellen. Sein Problem ist das vieler anderer auch – er will ein flächendeckendes Gemeinwohl ohne Grenzen. „Liberale Staatslenkung besteht darin, von den Bürgern eine Balance zwischen Eigeninteresse und Gemeininteresse zu fordern“, schreibt er. Wohl denn, aber auf welcher Grundlage sollen wir diese Balance suchen? Wie wollen wir wissen, ob wir es richtig machen oder nicht?71

69

Fared Well (2006). Tomasky (2006). 71 Tomasky (2006). 70

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Offensichtlich glaubt Tomasky, dass der Liberalismus und Amerika darunter leiden, dass die Zentrifugalkräfte viel stärker geworden sind als die Zentripetalkräfte, aber sein Aufruf zur Korrektur dieses Ungleichgewichts ist eher anspornend als aufklärend. „[W]ir stecken alle da drin“, schreibt Tomasky, also „müssen wir an einem Strang ziehen, einige Opfer bringen und nur manchmal über unsere Eigeninteressen hinwegsehen, um unsere Probleme zu lösen und die Zukunft aufzubauen.“ Man könnte meinen, dass Tomasky mehr an der Kohärenz der liberalen Koalition liege als an der Kohärenz seines Arguments, wenn er uns ein besonderes Ereignis in Erinnerung ruft: den PATCO-Streik72 1981. Die Fluglotsen, die das Gesetz brachen, das Transportsystem ins Chaos zu stürzen drohten und Tausende Passagiere in Gefahr brachten, um höhere Löhne herauszuholen, waren für ihn freilich nicht diejenigen, die gegen das Gemeinwohl sündigten. Offensichtlich glaubte Tomasky tatsächlich, dass die Fluglotsenaktionen allesamt mit dem liberalen Bürgergebot, „die eigenen Interessen hintanzustellen und für ein größeres Gemeininteresse zu arbeiten“, in Einklang stünden. Und die Bösen – wie könnte es anders sein? – waren Präsident Reagan, weil er die Streikenden gefeuert hatte, und die Großmäuler im Fernsehen, die Reagans „Sprüche“ von der Illegalität des Streiks nachgeplappert hätten.73

Zusammengehörigkeit Tomaskys Auffassung – Eigeninteresse ist gut, es sei denn, es ist schlecht – ist eine Ergänzung zu den anderen großen Konfusionen im Kommunitarismus, die sich im liberalen Denken während der letzten beiden Jahrzehnte angehäuft haben. Folgt man Ceasers Definition, dann erschaudern die Kommunitaristen bei der Vorstellung, die Gesellschaft bestehe aus „Individuen, die zu nichts verpflichtet sind und nur auf ihre individuellen Rechte pochen, und das ohne Grenzen.“ Aus ihrer Sicht ist die von solchen und für solche Individuen gemachte Politik ein Kunstprodukt abstrakten Theoretisierens über natürliche Rechte, ungeeignet für „echte menschliche Wesen – Menschen, wie sie sein sollten –, geprägt durch die gegenseitigen Interaktionen in ihren jeweiligen Gemeinschaften.“74 Ein gutes Beispiel dafür, in welche Richtungen der Kommunitarismus den Liberalismus treiben kann, ist die Philosophieprofessorin Elizabeth Anderson von der Universität Michigan. Sie verglich die soziale Sicherheit mit „der Praktik der Amischen, die Scheunen gemeinschaftlich zu bauen.“ „Wenn ein junger Bauer seinen Bauernhof aufbaut, dann baut er seine Scheune nicht allein. Er bezahlt auch niemanden für seine Hilfe. Vielmehr ruft er die Ge 72

PATCO, Abk. der amerikanischen Fluglotsenvereinigung Professional Air Traffic Controllers Organization, d. Hrsg. 73 Tomasky (2006). 74 Ceaser (2006), S. 13 f.

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meinschaft dazu auf, sie ohne Bezahlung mitaufzubauen. Das ist kein Verstoß gegen die Autarkie, denn er wird die Leistung erwidern, wenn andere Mitglieder der Gemeinschaft Hilfe bei ihrem Scheunenbau brauchen.“ Im Innern der Gemeinschaft der Amischen erledigen Zusammenhalt und Reziprozität jene Aufgaben, die draußen in der rauen Welt des Kapitalismus von berechnendem Eigeninteresse gelöst werden. In der größeren, zusammenhaltärmeren Gesellschaft sind die Wohlfahrtsprogramme das passende Korrektiv für den Ellbogenindividualismus. „Der Staat ist in einer Demokratie nichts anderes als zusammenwirkende Bürger, wobei die Staatsdiener als deren Erfüllungsgehilfen fungieren. Er unterscheidet sich im Prinzip nicht vom gemeinsamen Scheunenbau. Es ist nur der größenbedingt umfangreichere Rahmen, der einen dazwischengeschalteten Verwaltungsapparat erforderlich macht.“75 Der Unterschied zwischen einem Scheunenbau und einem Sozialministerium ist allerdings nicht nur eine Frage der Größe. Ersterer kann nur in einer kleinen, streng geordneten Gemeinschaft stattfinden. Die Sanktionen gegen Gemeinschaftsmitglieder, die ihre Pflichten vernachlässigen oder die Regeln missachten, ziehen alle praktischen und moralischen Konsequenzen nach sich, die sich aus den strengen religiösen Überzeugungen, welche die Amischen verbinden, ergeben. Was den Liberalismus angeht – der weltlich und kritisch darauf pocht, dass die Menschen die Mittel und den Freiraum zur Entwicklung ihrer Talente und Anschauungen bekommen – verwahrt sich normalerweise gegen diese als engstirnig und erdrückend empfundene Zusammengehörigkeit. 1980 nach dem Konvent der Republikaner druckte The Nation einen Artikel, in dem der Schriftsteller E. L. Doctorow über Ronald Reagans kleinstädtischer Herkunft im Süden Illinois herzog. Dort gebe es Städte wie „Galesburg, Monmouth und Dixon – eben jene Sorte von Ortschaften, welche die aufwühlenden Themen für die große amerikanische Literatur bereithalten, die seelentötende Selbstzufriedenheit der Provinz. … Die Besten und Klügsten haben all den Galesburgs und Dixons schnell den Rücken gekehrt, wenn sie es konnten, aber unser Kandidat war nicht dabei.“76 The American Prospect brachte einige Monate, nachdem er Tomaskys Aufsatz über das Gemeinwohl veröffentlicht hatte, ein paar kurze Kritiken dazu heraus, zwei davon zur Frage, wie man es im Hinblick auf die gesellschaftliche Solidarität allen recht machen könne. So meinte Amy Sullivan von The Washington Monthly: „Man kann wohl kaum behaupten, dass mein Verhalten in der Wirtschaft sich zwar auf andere auswirkt, dass ich aber in der Gesellschaft machen kann, was ich will, ohne dass es jemanden etwas anginge. Bei der Idee des gesellschaftlichen Kommunitarismus scheinen die Liberalen sich in Widersprüche zu verwickeln.“ Und der an der Duke Universität lehrende Rechtsprofessor Jedediah Purdy schrieb:

75 76

Anderson (2005). Doctorow (1980).

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„Die Jahrzehnte wirklichen Fortschritts in Sachen Toleranz und Offenheit haben das Land zu einem besseren gemacht, uns aber auch fast in ein Land aus lauter Fremden verwandelt. Diese Kombination ziehe ich allemal einem Land mit rassistischer Unterdrückung, Ungleichheit unter den Geschlechtern und kultureller Konformität vor. Sie vorzuziehen heißt aber auch, die damit verbundenen Konsequenzen zu ziehen. Die Gleichheit der Toleranz ist nicht weit von der Gleichgültigkeit entfernt, aber sehr weit von der Chancengleichheit. … Ob wir beides haben können, ist im besten Falle eine offene Frage.“77

Dieser liberale Widerspruch ist älter als Tomaskys Aufsatz über das Gemeinwohl, ja sogar älter als die Entstehung des Kommunitarismus als eine Weltanschauung mit eigenem Namen. Der Politische Philosoph Joseph Cropsey beschrieb 1965 in einem Aufsatz, wie der Konflikt zwischen individueller Verwirklichung und gesellschaftlichem Zusammenhalt im Liberalismus aufkam: „Der Liberalismus will beides gleichzeitig: die Freiheit menschlicher Eigentümlichkeiten und deren Verschmelzung in der sozialen Gemeinschaft, vereint durch die intimen Bande der natürlichen Brüderschaft, die allen innewohnt.“ Der Schlüsselbegriff ist „will“. Wirkliche Menschen, auf deren Eitelkeit, Eigennutz und Engstirnigkeit man eher vertrauen kann als auf deren Edelmut, sind nicht die Art von Geschöpfen, mit denen man Utopia erreichen oder gar erhalten kann. Des Liberalismus herrliches Mosaik aus vollkommen unterschiedlichen und vollkommen zueinander passenden Individuen „mag die Kultivierung und das Ausleben all der unterschiedlichen Eigentümlichkeiten zulassen oder gar erfordern“, so Cropsey, „aber es gibt Unterschiede mit einer ärgerlichen Eigenschaft, die es nicht tolerieren kann. Und davon gibt es mindestens zwei Arten: unterschiedliche Auffassungen über gut und schlecht, richtig und falsch, gerecht und ungerecht, und Unterschiede bei den Interessen. Ob die liberale Gesellschaft wirklich eine freie Gesellschaft wäre und, falls nicht, ob die Unterdrückungen zum höchsten Gut führen würden, sind ernste Fragen, auf die der Liberalismus keine Antworten hat.“78

Geistige Unterbeschäftigung In unserer Zeit der ironischen Abgeklärtheit vergisst man leicht, wie ernsthaft die Liberalen einst darum bemüht waren, die privaten Vorurteile der Amerikaner in größere Besorgtheit um öffentliche Anliegen zu verwandeln. 1949 warb man in einem New Republik-Aufsatz für ein nationales Wohnungsbauprogramm mit den Worten, dass „jede Stadt, jedes Ballungszentrum und jede ländliche Region im Land eine tatkräftige Bürgervereinigung für Wohnen und Planen haben soll, quasi ein Querschnitt aus allgemeinen Interessen, professionellem Wissen und Vertrautheit mit den Gepflogenheiten der örtlichen Behörden.“ 100 Jahre Erfahrung mit den Mechanismen zahlloser Regulierungsbehörden lassen vermuten, dass in solchen Einrichtungen die hochgesinnten Experten und Bürger, denen die vielen 77 78

Galston (2005). Cropsey (1965), S. 52.

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Abende rasch zu teuer werden, das Ruder sehr bald an die interessierten Parteien abgeben werden, d. h. an die Makler und Projektentwickler.79 Zu Beginn behauptete der Liberalismus jedoch, dass das Eigeninteresse zur tiefen Sorge um das öffentliche Wohl heranreife, was in einer größeren Unterstützung für die Wohlfahrtsprogramme zum Ausdruck komme. Arthur Schlesinger z. B. schrieb die Ablösung der konservativen Eisenhower-Ära durch den neue Grenzen überschreitenden Liberalismus dem Untergang des engstirnigen Egoismus zu. Nachweise oder Beispiele nannte er zwar nicht, behauptete aber: „Die Bauern mögen das Übermaß an Landwirtschaftshilfen nicht, die Arbeiter fragen sich so langsam, ob höhere Löhne wirklich die Antwort auf alles sind, und die Geschäftsleute wissen, dass man nicht alles in der Gesellschaft dem Profit opfern kann.“80 Die geheime Formel, die Eigeninteresse in ein Engagement für soziale Reformen verwandelt, kann sogar bei der Charakterformung der Jugend angewandt werden. 1960 erschien in The New Republic ein Aufsatz, der wie eine Parodie wirkte. Darin wurde die Behauptung aufgestellt, dass großzügige Wohlfahrtsprogramme Jugendstraftaten vermeiden, weil sie „der Jugend in diesem Land lebendige Einrichtungen bieten würden, die ihnen als Bollwerk gegen die vorherrschenden Werte des Marktes dienen können. Wenn Kinder in dem Glauben aufwachsen können, dass es sozial gerechtfertigt sei, für Gruppenziele zu arbeiten, statt für individuelle Ziele (ohne dabei seine eigene ‚Individualität‘ zu verlieren), dann verschwindet ein Großteil des Konkurrenzdenkens, das, wie es scheint, Straftaten fördert.“81 Nun werden die Jets und die Sharks82 ihre Klappmesser wegwerfen und sich aus Begeisterung für die Tennessee Valley Authority83 in die Arme fallen. Ein Amerika voller Menschen, die nur für Gruppenziele arbeiten, ohne dabei ihre Individualität aufzugeben – weil sie diese ja in Wirklichkeit kultivieren: das ist die liberale Vorstellung einer Gesellschaft, die Selbstinteresse durch Selbstverwirklichung ersetzt. Selbstinteresse isoliert und ist unsozial. FDRs Aufruf galt der „Zusammenarbeit aller, um zumindest Sicherheit für alle bieten zu können. Die Worte ‚Freiheit‘ und ‚Chance‘ sind kein Freischein dafür, beim Aufstieg auf der Karriereleiter die anderen runterzuwerfen.“84 Selbstverwirklichung ist hingegen sozialverträglich und individuell erfüllend. Gefeit vor prekären wirtschaftlichen Lagen, dank eines großzügigen Wohlfahrtsstaats, können die Individuen ihre einzigartigen individuellen Naturen entwickeln und ausleben, unbegrenzt vielfältig, aber in perfekter Harmonie. Als John Kenneth Galbraith 1958 seine Gesellschaft im Überfluss veröffentlichte, bekamen einige Liberale Bedenken, dass der New Deal zu gut gewirkt ha 79

Bauer (1949), S. 19. Schlesinger (1963), S. 91. 81 Sarnoff (1960), S. 14. 82 Namen der rivalisierenden Jugendbanden in Leonard Bernsteins West Side Story, d. Hrsg. 83 Von Roosevelt 1933 gegründete Bundesbehörde für wirtschaftliche Entwicklung, d. Hrsg. 84 Roosevelt (1935). 80

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ben mochte. Sie waren besorgt, dass der Wohlstand ein politisches Problem für den Liberalismus sein könne, und eine seelische Bedrohung für die Amerikaner. Das viel beschworene Wiederauflodern der Depression nach 1945 fand nie stand. Stattdessen erlebte die Wirtschaft einen langanhaltenden Aufschwung. Als sich die Verwunderung der Besorgten gelegt hatte, schrieben sie es der keynesianischen Politik zu, dass die krassen wirtschaftlichen Abschwünge endlich im Papierkorb der Geschichte gelandet waren. Entsprechend groß war ihre Furcht, der Wähler könne den Liberalismus als eine Ideologie betrachten, die ihre Schuldigkeit getan und nun nichts mehr mitzuteilen oder beizutragen habe. Auf der gesellschaftlichen Ebene entstand das Problem, dass mit der Linderung der Armut – sei es durch staatliche Programme oder den Fortschritt des Kapitalismus – die Menschen nun freier waren, ihre Ziele zu verfolgen. Diese waren nicht notwendigerweise unsozial, konnten aber aus Sicht der Liberalen durchaus als asozial gewertet werden. The Nation schrieb 1965 in einem Leitartikel – ganz im Sinne der Gesellschaft im Überfluss: „Wer im Überfluss lebt, ist unbedacht, abgeschottet von der Wirklichkeit, von nutzlosen Besitztümern übersättigt und in noch nutzloseren Betätigungen verstrickt.“85 Galbraith hatte seine Freude an dem Bonmot, dass wir die Heimgesuchten beglücken und die Glücklichen heimsuchen sollten, „vor allem, wenn sie bequem, zufrieden und glücklich falsch liegen.“86 Das „vor allem“ schloss ein, dass die Glücklichen auch dann, wenn sie nicht blasiert waren, und noch nicht einmal falsch lagen, es verdient hatten, heimgesucht zu werden, allein wegen ihres unerlaubten selbstzufriedenen Glücks. 1957 unternahm Arthur Schlesinger einen Versuch, beide Probleme zu lösen. Der Liberalismus sollte in Zeiten der Prosperität ein Thema haben, und die wirtschaftlich gesicherten Bürger sollten einen Grund haben, neue Reformen gutzuheißen. Er schrieb, dass die Einrichtung des Wohlfahrtsstaats durch den New Deal und die keynesianische Steuerung der Wirtschaft den Abschluss der Arbeit des „quantitativen Liberalismus“ verkündeten. Der logische und notwendige Nachfolger sollte der „qualitative Liberalismus“ sein. Er würde „einem Abgleiten in die homogenisierte Gesellschaft entgegenwirken. Er muss die geistige Unterbeschäftigung bekämpfen, so wie der quantitative Liberalismus einst die wirtschaftliche Unterbeschäftigung bekämpfte. Er muss sich der Qualität der Volkskultur und der Art und Weise, wie wir in der Überflussgesellschaft leben, annehmen.“87 Der Umstand, dass die Liberalen einmal dachten, sie könnten die „geistige Unterbeschäftigung“ wenn schon nicht beheben, dann doch beschreiben, bestätigt nur Amy Sullivans Warnung vor den Knoten, die der Kommunitarismus in den Liberalismus machen würde. In einer geisteshistorischen Abhandlung über die Nachkriegszeit beschreibt Richard Pells, wie liberale Intellektuelle ihre „Bewunderung für jegliche Anzeichen von Gratwanderungen, Exzentrik [oder] Selbstverwirk­ 85

Forgotten in Abundance (1965), S. 97. Crook (2006). 87 Schlesinger (1957), S. 11 f. 86

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lichung“ bekundeten.88 In seiner Theorie der Gerechtigkeit verklärte John Rawls diese Haltung und meinte, „Demokratie beim gegenseitigen Beurteilen der Werte ist die Grundlage für Selbstrespekt in einer wohlgeordneten Gesellschaft.“89 „Jedem Tierchen sein Pläsierchen“ ist zwar eine dürftige Philosophie, aber sie ergibt zumindest einen Sinn. Die Liberalen ließen es nur selten dabei bewenden, sondern fühlten sich berechtigt und verpflichtet, die Ziele und Vorlieben ihrer Mitbürger zu beurteilen, oft nicht zu knapp. In jener Zeit, als die geistige Unterbeschäftigung entdeckt wurde, standen die Sozialkritiker Schlange, um die „Krise“ der Konformität zu beklagen – und zwar in einer derart schrillen und konformen Sprache, dass sie in kollektiver Weise ihre These zu bestätigen schienen.90 Es reichte nicht, wenn ein Architekturkritiker die neuen Vorstädte herunterputzte, er musste auch deren Bewohner kasteien, Menschen, „höchst zufrieden mit der erschaffenen Hässlichkeit. Sie wissen noch nicht einmal, dass es hässlich ist.“ Diese herablassende Art war ein Teil, aber auch der Ruin aller Bemühungen im Namen des qualitativen Liberalismus, der sich der „Probleme“ der Neureichen annahm, die, um es mit den Worten Alan Ehrenhalts zu sagen, „armselig waren, ohne es zu wissen.“91 Die Zweite Bill of Rights von FDR war zwar äußerst ambitiös, aber es gab Anzeichen dafür, dass sie eine Mission war, deren erfolgreiche Beendigung klar umrissen werden konnte. Ein „amerikanischer Lebensstandard, höher als je zuvor“ war zwar notwendig, aber unzureichend. Auch der Überfluss musste flächendeckend sein, zumindest insoweit, dass niemand bei all dem Wohlstand das Nötigste zum Leben nicht gehabt hätte. „Ganz egal wie hoch der allgemeine Lebensstandard auch sein mag, wir können nicht zufrieden sein, wenn ein Teil der Menschen – ob nun ein Drittel, ein Fünftel oder ein Zehntel – unterernährt, armselig gekleidet ist, armeselig wohnt und ohne Sicherheit ist.“ Das heißt, erst wenn auch der kleinste Teil unserer Mitmenschen – ein Tausendstel oder ein Millionstel – wirtschaftliche Sicherheit genießt, können wir zufrieden sein.92 Der Krieg gegen die Armut war Lyndon Johnsons Beitrag zur Fortführung und Beendigung der Aufgabe, vor die Roosevelt die Nation gestellt hatte. Es wird dabei oft vergessen, dass die Große Gesellschaft93 viel größer war als der Krieg gegen die Armut. Die Große Gesellschaft wollte nicht nur das Leiden derer lindern, die nicht im Überfluss lebten, sondern auch die seelische Leere derer füllen, die wohlgenährt, gut angezogen und gut untergebracht waren. Die Große Gesellschaft strebte, in Johnsons Worten, danach, „ein reicheres Leben für Geist und Seele“ zu

88

Pells (1985), S. 248. Rawls (1971), S. 442. 90 Patterson (1996), S. 337–342. 91 Ehrenhalt (1995), S. 211 f. 92 Roosevelt (1944). 93 Johnsons Motto des umfassenden Wohlfahrtsstaats, d. Hrsg. 89

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schaffen, eines, bei dem der „Mensch seine Talente dazu benutzt, sein Leben bestmöglich zu bereichern.“ „Die Große Gesellschaft ist ein Ort, an dem jedes Kind das Wissen erfahren kann, das seinen Geist bereichert und seine Talente ausbaut. Sie ist ein Ort, an dem man in Muße Gelegenheit hat, zu schöpfen und zu sinnieren, kein Ort, an dem man Langeweile und Unrast befürchten muss. Sie ist ein Ort, an dem der Menschenstaat nicht nur den körperlichen und wirtschaftlichen Bedürfnissen dient, sondern auch dem Verlangen nach Schönheit und dem Hunger nach Gemeinschaft nachkommt.“94

Gelinde formuliert, es war nie klar, was der Staat überhaupt mit alledem anfangen sollte. Lyndon Johnson behauptete, er habe kein „schweres Programm in Washington“ vor. Stattdessen versprach er, internationale Expertengruppen aus aller Welt zusammenzustellen und „eine Reihe von Konferenzen und Treffen im Weißen Haus ins Leben zu rufen“, um „Kurs in Richtung Große Gesellschaft zu nehmen“. Die Umsetzung „erfordert von uns neue Modelle der Zusammenarbeit, einen kreativen Föderalismus zwischen der Bundesregierung und den Führungskräften der örtlichen Kommunen.“95 Nur sehr wenig dieses ausgetüftelten Plans wurde jemals Wirklichkeit, und was dabei herauskam, war eher dürftig. Und es lag nicht an der Umsetzung auf Seiten der Verwaltung, auch nicht am fehlenden politischen Willen. Es lag einfach daran, dass weder Geld noch Entschiedenheit irgendetwas Greifbares den Albernheiten über Expertenforen, die herauskriegen sollten, wie kreativer Föderalismus die Welt vor Ihrem Schicksal seelenlosen Wohlstands retten könnte, entreißen konnten. Schlecht ernährte Menschen in schlechten Unterkünften muss man nicht davon überzeugen, dass sie Hilfe brauchen. Die Staatsbediensteten, welche die Menschen mit Zusicherungen auf ein reicheres Geistes- und Seelenleben aufsuchten, konnten sicher sein, dass sie weitaus schwerer einen Fuß in die Tür bekommen würden. Einige kulturelle Initiativen der Großen Gesellschaft gab es tatsächlich, wie zum Beispiel die Nationalstiftung der Künste und die staatliche Rundfunkgesellschaft. Angesichts ihrer Höhen und Tiefen dürften wohl noch nicht einmal ihre vehementesten Befürworter glauben, dass sie mit ihrer Ausstattung Amerikas Langeweile, Unrast und Hunger nach Gemeinschaft hätten verbannen können. Im Sog des Fehlstarts, den Johnsons ungewisses, großartiges Abenteuer erlebte, „war die Suche nach dem reicheren Leben, das LBJ96 mit der Großen Gesellschaft verband, überall im Gange, nur nicht im Staat“, schreibt Jedediah Purdy – stattdessen aber „in Yoga- und Pilatesstudios, Kirchen und Wohnzimmern, pharmazeutischen Labors und psychotherapeutischen Kliniken … an Abertausenden von Plätzen, wo Milliarden von Dollars und Stunden für die unendliche Suche nach Sinn und Befriedigung geopfert werden.“ Vieles an dieser nationalen Suche nach Selbstentdeckung war

94

Johnson (1964a). Johnson (1964a). 96 Kurzform für Lyndon B. Johnson, d. Hrsg. 95

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dümmlich und solipsistisch, und manches sogar schädlich, aber auch heute noch kann man unter den Liberalen und Konservativen solche finden, die meinen, die Sache hätte gelingen können, hätte man im Weißen Haus nur ein paar Konferenzen mehr abgehalten und dazu ein paar Expertenmeinungen mehr eingeholt.97

Positive Diskriminierung und herzloses Mitgefühl Kehren wir zur Frage der positiven Diskriminierung zurück. Sie kann uns dabei helfen, den Kommunitarismus durch eine Untersuchung des Mitgefühls besser zu verstehen. Es ist nicht nur die moralische Qualität, welche die Liberalen am Kommunitarismus so hochschätzen und von der sie meinen, sie zeige die moralische Überlegenheit des Liberalismus gegenüber dem Konservatismus am besten. Der Kommunitarismus ist in ihren Augen auch eine zentripetale politische Kraft, die moralisch bewundernswert ist. Konservative glauben, dass aufgeklärtes Selbstinteresse die Gesellschaft zusammenhält und zur Entstehung und Erhaltung eines Gesellschaftsvertrages führt. Liberale haben ihre Zweifel an der Schicklichkeit und Umsetzbarkeit der Idee, die private Laster in öffentliche Tugenden verwandeln soll.98 Überzeugt, dass Bescheidenheit die Propaganda ihres Mitleids nicht ziere, handeln die Liberalen aus dem Glauben heraus, dass Rührseligkeit bei der Verfolgung politischer Vorteile nichts Lasterhaftes anhafte. 1992 beschloss Al Gore seine Rede auf dem Konvent der Demokraten, auf dem er mit einer erschütternd detaillierten Beschreibung des beinah tödlichen Autounfalles seines Sohnes zum Vizepräsidenten nominiert wurde. Er verglich jenen Unfall mit „unserer Demokratie … wie sie da liegt, in der Gosse, und nur darauf wartet, dass wir ihr ein zweites Mal Leben einhauchen.“ Die Konservativen begriffen nun, dass ein derart abgedroschener Ausreißer nur die Vorhut dessen bildet, was die Liberalen unter Mitleid verstehen, und versuchten mitzuhalten. George W. Bush trat im Wahlkampf 2000 als „mitfühlender Konservativer“ an, 12 Jahre nachdem George H. W. Bush den Menschen im Wahlkampf zugesichert hatte: „Ich will eine menschlichere, einfühlsamere Nation.“99 Für mitfühlende Liberale ist es offenbar unangenehm, ihr Augenmerk darauf zu richten, wie die positive Diskriminierung das Streben der Brian Webers im Lande vereitelt. Der Liberalismus konzentriert sich lieber darauf, Menschen Dinge zu geben. Bei den Diskussionen über das umgekehrte Unternehmen, nämlich Dinge wegnehmen, ist er etwas kürzer angebunden. Richter Brennan bremste seinen Wagen nur kurz ab, um Brian Weber keinen unnötig langen Blick zuwerfen zu müssen. Dann, als er sah, dass Webers Verletzungen nicht lebensbedrohlich waren, setzte er seine Fahrt selbstzufrieden fort. 97

Galston (2005). Orwin (1997), S. 5 f. 99 Gore (1992); Bush (1988). 98

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Thomas Sowell ist der Auffassung, dass die Probleme tiefer liegen. Nach seiner Meinung ist die positive Diskriminierung bestenfalls ein Nullsummenspiel, in den meisten Fällen jedoch ein negatives Summenspiel. Die Opfer, die man den Brian Webers durch gezielte Fördermaßnahmen abverlangt, entsprechen nicht den Vorteilen, die der Gesellschaft als Ganzes oder den Leistungsempfängern im Einzelnen erwachsen. Sowell zitiert in diesem Zusammenhang eine Studie, wonach die schwarzen Erstsemester am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei den Mathematikaufgaben des universitären Eignungstestes bundesweit im Schnitt zu den obersten 10 % aller Studienanfänger gehörten – aber nur zu den letzten 10 % aller MIT-Erstsemester. Die „Bevorteilten“ des MIT-Programms gezielter Förderung sind Studenten, die an der Mehrzahl der amerikanischen Hochschulen zu den Stars zählen würden, aber dazu verleitet werden, sich an einer der wenigen Hochschulen einzuschreiben, in denen sie wahrscheinlich scheitern werden. „Von der MIT zu fliegen, bringt weder Geld noch Ehr“, schreibt Sowell. „Aber nach einem Abschluss an der Texas Tech oder der California State Pomona winkt eine erfüllende Berufskarriere.“100 Sowells These, dass positive Diskriminierung zu weitverbreiteten Fehlpaarungen zwischen Studenten und Hochschulen führt, wird von Forschungen unterstützt, die Richard Sander von der UCLA Law School durchführte. Er fand heraus, dass schwarze Studenten „fast zweieinhalbmal so oft wie weiße Studenten ihr rechtswissenschaftliches Studium abbrechen, fast viermal so oft die Anwaltszulassung im ersten Anlauf nicht schaffen, und fast sechsmal so oft auch bei mehrmaligen Anläufen scheitern. Außerdem ist die Kluft zwischen weiß und schwarz bei den Abschluss- und Zulassungsprüfungen mehr als zweimal so groß, als [anhand der Tests bei den Studienzulassungen und im Grundstudium] erklärbar ist.“ Auch ­Sander kommt zu dem Schluss, dass die positive Diskriminierung Menschen, denen sie zu helfen vorgibt, schadet, indem sie vielen Studenten den Zugang zu Fakultäten erleichtert, an denen sie kaum bestehen werden, und er meint, dass „wir erkennen müssen, dass die derzeitigen Bildungsgesetze den Schwarzen ernsthafte Schäden zufügen.“101 Daran, wie die Befürworter spezieller Förderungen auf Sander reagierten, konnte man jedoch erkennen, dass für sie die Auseinandersetzung mit den Fakten das letzte Mittel ist, zu dem sie greifen. Lautstarke Verunglimpfungen sind die lingua franca des modernen Hochschuldiskurses. „Wir dürfen diese rassistischen Attacken nicht hinnehmen“, sagte einer der protestierenden Jurastudenten der UCLA bei einer öffentlichen Kundgebung. Substantielleren Kritikern, die den von Sanders hergestellten Zusammenhang mehrfacher Regressionen infrage stellten, wollte er mithilfe der Zulassungsergebnisse der kalifornischen Anwaltsvereinigung entgegentreten, doch konterte einer der Kritiker seiner Forschungsbemühungen, die Offenlegung der Daten „birgt die Gefahr, dass afro-amerikanische Anwälte stigmatisiert wer 100 101

Sowell (2004); Sowell (2003). Sander (2005), S. 1964 f.

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den.“ Die Gesellschaft der amerikanischen Rechtslehrer drohte mit einer Klage, sollte die Anwaltsvereinigung Sanders Ersuchen stattgeben.102 Wie soll man solchen Befürwortern der positiven Diskriminierung je irgendwelche Fakten oder Argumente präsentieren, die sie einlenken lassen? Hier ist mehr am Werk als nur die Ablehnung, über einen möglichen Fehler zu diskutieren. Das Mitgefühl erweist sich als ein unzuverlässiges und erstaunlich hartherziges Fundament einer noch zu gründenden Ideologie. Erinnern wir uns jener berühmten Worte aus Präsident Roosevelts „Rendezvous mit dem Schicksal“-Antrittsrede auf dem Konvent der Demokraten 1936: „Die göttliche Gerechtigkeit legt die Sünden der Hartherzigen und die der Warmherzigen auf unterschiedliche Waagschalen. Ein Staat, der, getragen vom Geiste der Wohltätigkeit, gelegentlich danebengreift, ist besser als ein Staat, der, in seiner eigenen Gleichgültigkeit erstarrt, nie etwas tut.“103 FDRs Auffassung wirft zwei Fragen auf, eine hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit, und eine im Hinblick auf das ihr zugrunde liegende Prinzip. Was die erste Frage angeht, so irrt FDR in der Annahme, dass der im Geiste der Wohltätigkeit wirkende Staat nur gelegentlich danebengreift. Wohin aber führt es uns, wenn diese „gelegentlichen“ Fehlgriffe zu oft geschehen, um noch als Anomalien durchgehen zu können? Wohin führt es, wenn staatliche Wohnungsbauprojekte regelmäßig zu eindeutigen Slums werden? Wenn Wohlfahrtsabhängigkeit zu einem generationenumspannenden Lebensstil wird? Wenn nachdrücklich Wert auf Rehabilitation und „Herkunftsgründe“ gelegt wird, aber die Kriminalitätsraten wachsen? Wenn positive Diskriminierung den auserkorenen Leistungsempfängern schadet? Wenn sich Schüler bestimmter Rassen im Bus als Brandstifter erweisen? Wenn trotz wachsender Ausgaben die schulische Ausbildung auf dem Lande nur noch in schulfreien Drogenzonen stattfindet? Jede der entsprechenden politischen Maßnahmen wurde im Geiste der Wohl­ tätigkeit erdacht und durchgeführt. Wenn so viel Wohltätigkeit so viel Elend erzeugt, dann wird man sich fragen dürfen, ob die „Sünden der Warmherzigen“ zu Recht in die nachsichtige Waagschale gehören, die FDR für die vorgesehen hat. Wir schätzen die Menschen für deren Wärme und Großzügigkeit, aber es ist ein kapitaler Fehler, anzunehmen, dass in staatlichen Einrichtungen diese Tugenden auch am Werk wären. FDR hatte den Demokraten 1936 gesagt: „Wir wollen den Staat nicht nur zu einem mechanischen Werkzeug machen, sondern ihm einen pulsierenden persönlichen Charakter verleihen, der ihn zur Inkarnation der menschlichen Wohltätigkeit macht.“104 Wenn Staaten, die dazu da sind, Gerechtigkeit zu üben, stattdessen wie gutmütige reiche Onkel auftreten sollen, dann enden sie damit, weder der Gerechtigkeit noch der Barmherzigkeit gerecht zu werden. 102

Hou / Kuo (2007); Heriot (2007). Roosevelt (1936). 104 Roosevelt (1936). 103

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Etymologisch betrachtet bedeutet „Kompassion“ gemeinsam leiden. „Gemeinsam“ ist jedoch nicht gleichbedeutend mit „identisch“. Kompassion oder Mitgefühl ist nicht dasselbe wie Selbstlosigkeit und auch nicht das Gegenteil von Selbstsucht. Vielmehr bildet es die Grundlage für eine Hilfe ohne materielles Interesse, aber mit emotionalem Selbstbezug. So schrieb Rousseau in Emile: „Wenn die Seele mich mit meinem Mitmenschen eins werden lässt, und ich spüre, dass ich gewissermaßen in ihm bin, dann ist es in Ordnung, nicht ertragen zu wollen, dass er leidet. Ich bin aus Liebe zu mir an ihm interessiert. …“ Oder wie es Jean Bethke Elshtain formulierte: „Mitleid zeigt mir, wie tief ich empfinden kann. Und um so zu empfinden, brauche ich Opfer, so wie ein Abhängiger Drogen braucht.“105 Auf der Ebene der Moralpsychologie stellt sich ein Problem, wenn ich mein Leiden, das durch den Nachweis Ihres Leids hervorgerufen wird, lindern kann, und zwar unabhängig vom weiteren Verlauf Ihres Leids, unabhängig vom Kollateralschaden meiner Reaktion für andere, und auch unabhängig von eventuell neuen und schlimmeren Problemen, die sich dadurch für Sie ergeben. Aufgrund des Mitgefühls leiden wir gemeinsam. Ich helfe Ihnen, damit es mir besser geht. Aber sobald es mir besser geht, hat das Mitgefühl seine Arbeit getan und stellt für mich keinen Grund mehr da, mich um all die unschönen Implikationen zu sorgen, die mein Handeln für Sie oder an Ihnen verursacht hat. Ist es nicht so, dass mittels positiver Diskriminierung studentische Minderheiten an Hochschulen landen, an denen sie wahrscheinlich scheitern werden, während andere Bewerber um die Möglichkeit gebracht werden, an den anspruchsvollsten Universitäten zu studieren und dort zu bestehen? Ist es nicht so, dass die Mietpreisbindung die Wohnkosten nach oben treibt, den Vermietern die Möglichkeit nimmt, genauso Gewinne zu machen wie alle anderen Investoren, und dabei die Qualität und die Anzahl der Wohnungen abnimmt? Und ist es nicht so, dass Mindestlöhne die Zahl der Einstiegsarbeitsplätze verringern und es schwerer machen, der Armut zu entgehen? Mitgefühl ordnet naturgemäß Gutes tun Gutes fühlen unter. Deshalb stellen die Warmherzigen diese Fragen nicht so oft. Mitgefühl passt seiner Natur gemäß auch perfekt zur liberalen Politik, weil es an Unterscheidungen und Grenzziehungen nicht interessiert ist. Folgt man Mickey Kaus, dann liefert uns das Mitgefühl „keine Grundlage, die uns sagte, wann unsere abstrakten Mitgefühlsimpulse halt machen sollen.“ Das führt „in einer Art vergesellschafteten Wahlkampf zu wahllosem Verteilen von Geld für alles, was United Way106 macht.“ Führen heißt wählen, hat Präsident Kennedy einmal gesagt. Weil aber Mitgefühl kein moralisches Prinzip ist, sondern eine emotionale Reaktion, zerstört es jeden Versuch, weise Entscheidungen darüber zu treffen, wer von den Leidenden staatlich verteilten Trost verdient hat und wer nicht.107

105

Rousseau (1979), S. 235, Anm.; Bethke Elshtain (1996). Internationale Hilfsorganisation, d. Hrsg. 107 Kaus (1986), S. 17 f. 106

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Die Empfindung von Mitgefühl unterminiert nicht nur vernünftiges Überlegen, sondern, wie Elshtain behauptet, auch das Bemühen, nicht abzustumpfen. Routinemäßiges Mitgefühl, das in den Sozialberufen oder den staatlich geförderten Institutionen „die Inkarnation der menschlichen Wohltätigkeit“ verkörpert, höhlt unseren Mitleidsinstinkt auf Dauer aus. Mitgefühl „trotzt der Institutionalisierung“, schreibt der Politikwissenschaftler Clifford Orwin. „Wer gegen Lohn 40 Stunden die Woche mitfühlend ist, fühlt bald gar nichts mehr mit.“ Aus dem Paradox folgt indes nicht, dass der abgestumpfte Sozialarbeiter, nachdem sein Mitgefühl erloschen ist, zu den Republikanern ginge und seine Klienten dazu anhielte, nun der Welt als Ellbogenindividualist die Stirn zu bieten. Die Pfleglinge und Pfleger des Wohlfahrtsstaats mögen zwar nicht mehr länger gemeinsam leiden, aber da sie ein gemeinsames Interesse am Fortbestand und Ausdehnen des wohlfahrtsstaatlichen Budgets haben, können sie weiter gedeihen, indem sie vereint für die Ausdehnung der Leistungen und gegen deren Abbau eintreten.108

Der Kommunitarismus und der Wohlfahrtsstaat In dem anhaltenden Verlangen – so wie es in dem Aufsatz von Tomasky erneut bekräftigt wurde –, eine kommunitaristische Grundlage für den Wohlfahrtsstaat zu finden, stehen sich zwei Probleme gegenüber, wobei eines davon mit der Natur des Kommunitarismus zu tun hat und das andere mit der Natur des Wohlfahrtsstaats. Das erste Problem besteht darin, dass Gemeinschaften nur dann ein Innen haben, wenn es ein Außen gibt. Um überhaupt sagen zu können, was es heißt, drinnen zu sein, muss man sich darüber verständigen, was draußen ist, und man muss auf der Wahrung dieser Unterscheidung bestehen. Im Gegensatz dazu ist eine Gemeinschaft, zu der jeder gehört, eine, zu der eigentlich niemand gehört; ihr Inneres ist entwertet, ohne jeglichen Gehalt. Die Kommunitaristen beschäftigen sich liebend gern mit dem Innenleben, aber die Beschäftigung mit dem, was außen ist, liegt ihnen gar nicht. Sie glauben, dass Letzteres immer etwas von Bigotterie, Chauvinismus, Ethnozentrismus oder Fremdenhass zu tun hat. So wurde z. B. Robert Putnam durch sein Buch Bowling Alone berühmt, eine elegische Studie über das Dahinschwinden des sozialen Zusammenhalts in Amerika. Er fand auch heraus, dass eine Zunahme an ethnischer und kultureller Vielfalt „die soziale Solidarität bedroht und die Bildung sozialen Kapitals verhindert“, zumindest kurz- bis mittelfristig. „Die größte Herausforderung der modernen, vielseitigen Gesellschaft ist daher die Schaffung eines weiter gefassten Wir-Verständnisses“, schreibt er.109 „Größte Herausforderung“ ist eine optimistische Beschreibung für etwas, das nach einer Quadratur des Kreises klingt. Wie soll man ein weiteres und umfassenderes Wir-Verständnis entwickeln, ohne es gleichzeitig abzuschwächen? Das ist unmöglich. Cropsey schrieb über das Wir 108 109

Orwin (1997), S. 12. Putnam (2006).

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Verständnis, „wenn es enger ist, dann ist es auch menschlicher und ziviler, das, was nah und ähnlich ist, als solches zu lieben, als das, was weit weg und fremd ist.“110 Das zweite der oben genannten Probleme besteht darin, dass die Liberalen weitaus größeren politischen Erfolg damit hatten, den Wohlfahrtsstaat als Mittel zur Beförderung der eigenen Wohlfahrt, denn als Vehikel zur Förderung des Allgemeinwohls zu verkaufen. Folglich haben sie mehr Mühe darauf verwendet, das in die Verkaufsregale zu räumen, was die Menschen auch kaufen wollten. Auf diese Weise haben die Amerikaner, die entsprechenden Worte der Liberalen im Ohr, sich daran gewöhnt, im Wohlfahrtsstaat eher den zu sehen, der individuelle Vorteile gewährt, als den, der die gemeinschaftlichen Bande enger schnürt. In einer Replik auf Tomasky im New Republic zitierte man Guy Molyneux, einen Meinungsforscher, der viel mit den Gewerkschaften zusammenarbeitet. Dabei ging es um die geringen Aussichten, den Liberalismus durch eine Befürwortung des Gemeinwohls zu stärken. „Wir haben herausgefunden, dass man am wirkungsvollsten über soziale Beihilfen reden kann, wenn man es im Zusammenhang mit den Sozialbeiträgen tut, die in der Gehaltsabrechnung enthalten sind. Ich habe all die Jahre in dieses System eingezahlt. Deshalb schuldet der Staat mir etwas. … Ehrlich – und das sage ich als jemand, der immer sozialdemokratische Politik betrieben hat  –, ich wünschte, der Generationenvertrag, die Sprache der sozialen Solidarität, wären so wirkmächtig. Aber sie sind es nicht, sie sind es einfach nicht. … [Die erste Idee] sagt sehr viel mehr darüber aus, wozu man ein Recht hat, als diese Art von gegenseitiger Verpflichtung.“111

Man kann den Kommunitarismus leicht verkaufen, wenn man betont, wie die Individuen als Teil einer fürsorglichen und großzügigen Gemeinschaft profitieren, einfach, indem man den Menschen sagt, dass der Wohlfahrtsstaat immer mehr und mehr auf die Liste der „Rechte, die Du hast“ setzen kann. Mit dem undurchsichtigen und potentiell beschwerlichen „Sinn für die gegenseitige Verpflichtung“ wird es da schon schwieriger. „Es ist eine unbequeme Tatsache“, so schreibt Purdy, „dass die Amerikaner lieber Leute ihresgleichen unterstützen als Fremde.“ Der entscheidende und wirklich schwere Teil des liberalen Projekts besteht darin, die Bereitschaft der Amerikaner zu wecken, immer mehr Geld für immer mehr Menschen aufzubringen. Das macht es erforderlich, die Gemeinschaftsempfindungen von Menschen, die sich eher als Fremde sehen, zu stärken und notfalls künstlich zu erzeugen.112 Robert Kuttner, der Gründungsherausgeber des American Prospect, glaubt einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden zu haben: „In einem demokratischen Gemeinwesen, das sich zugleich als eine höchst ungleiche Marktwirtschaft entpuppt, braucht es eine große Portion Bürgersinn, um Menschen aus der Mittel 110

Cropsey (1965), S. 54. Scheiber (2006). 112 Galston (2005). 111

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schicht und arme Menschen gleich zu behandeln. Ein gemeinsames Programm, sei es für soziale Sicherheit, medizinische Versorgung oder öffentliche Schulen, hilft beim Aufbau dieser Form des Zusammenhalts, den die europäischen Sozialdemokraten gerne ‚gesellschaftliche Solidarität‘ nennen – die Einsicht, dass elementare Humanität und Bürgerschaft Gleichbehandlung in mindestens einigen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens erfordern.“113

Die Hoffnung, dass wir unsere gegenseitige Entfremdung überwinden, indem wir die Zusammengehörigkeit hochhalten, die wir als Kunden ein und derselben Wohlfahrtsagentur entwickeln, ist ein typischer Fall von „Granfalloon“114 im Sinne Vonneguts, wie er im Lehrbuch steht. „Hands Across America“115 war eine dumme, wenn auch harmlose Übung in Granfalloonerie. Damals, im Mai 1986, hielten sich 5 Millionen Menschen an der Hand, um (erfolglos) eine menschliche Kette von Manhattan bis Long Beach, Kalifornien, zu bilden. Kuttners Idee von der Verankerung des Wohlfahrtsstaats in gesellschaftlicher Solidarität ist eine Abart des Hands Across America-Modells. Statt nach der Hand des Nächsten zu greifen, greifen wir nach dem Inhalt seiner Brieftasche.116 Der Liberalismus muss die Menschen davon überzeugen, Opfer für das Gemeinwohl zu bringen, ist aber chronisch unfähig, die dazu passenden Worte zu finden. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, führt das dazu, dass die unangenehme Finanzierungsfrage des Wohlfahrtsstaats völlig unter den Tisch fällt, damit man über die Beihilfen so reden kann, als ob sie vom Himmel fielen. Es führt aber auch dazu, dass eine Reihe von rhetorischen Kunstgriffen, mit denen man die Menschen zur Opferbereitschaft animieren kann, mehr leisten müssen als ursprünglich geplant. William James hoffte schon 1906 auf ein „moralisches Äquivalent zum Krieg“, das solche Kriegstugenden wie „rückhaltlose Ausübung“ und „allgemeine Verantwortlichkeit“ nichtkriegerischen Zielen wie gesellschaftliche Verbesserungen dienlich machte. Jimmy Carter machte sich diese Phrase 1977 zu eigen, als er Amerika zur Überwindung der Energiekrise wachrütteln wollte. Der Politologe William Galston meinte in seiner Replik auf Tomasky Aufsatz über das Gemeinwohl, dass die Liberalen, die auf dieser Grundlage den Menschen Opfer entlocken wollen, „umsonst suchen; es gibt kein moralisches Äquivalent zum Krieg.“117

113

Galston (2005); Kuttner (1987), S. 170 f. Nach der Novelle Cat’s Cradle von Kurt Vonnegut. Granfalloons bezeichnen Gemeinschaften, die sich ihre gemeinsame Identität nur einbilden, d. Hrsg. 115 Amerikanische Wohlfahrtsorganisation, d. Hrsg. 116 Wolf (2006). 117 James (1906); Galston (2005). 114

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Ad-hoc-kratie Instinkte statt Ideen Die intellektuellen und politischen Probleme, die es mit dem Wohlfahrtsstaat und dem Kommunitarismus gibt, erklären, warum Liberale wie Chait lieber ohne große Ideen auskommen. In der Tat sind diese Theorien keine Alternative zu seinem von-Fall-zu-Fall-Ansatz, weil beide sich als Ad-hoc-kratien auf Stelzen entpuppen. Der von-Fall-zu-Fall-Liberalismus räumt die Unverträglichkeit von Liberalismus und intellektueller Rigorosität ein, ja er betont sie sogar gelegentlich. „Das Rezept zur Wahrung des Liberalismus heißt nicht: Mache alles in einem Aufwasch; sondern: Wurschtel Dich durch“, wie es in The Vital Center heißt, jenem einflussreichen Buch von Arthur Schlesinger von 1949, als der Liberalismus politisch stark und ohne intellektuelle Konkurrenz war.118 Die Anhänger großer Ideen glauben, sie könnten die Wählerschaft nur mobilisieren und die Geschichte zu ihren Gunsten wenden, wenn sie Pathetischeres versprechen als die Absicht, hier und da herumzupfuschen. Das Problem ist allerdings, dass jede Idee, groß und rigoros genug, um etwas Wichtiges mitzuteilen, irgendwann etwas sagen muss, das beanstandet werden kann. Wofür Liberale stehen, zeigt wogegen sie sind. Und alles, wogegen sie sind, hat seine Fürsprecher, und alle diese Fürsprecher haben Stimmen, die sie bei der Wahl abgeben. Ein Ad-hoc-Liberalismus, der sich auf die amerikanische Sachlichkeit verlässt, hat dieses Risiko nicht. Er stellt sich der entscheidenden aber letztlich profanen Aufgabe, Mehrheiten zu sichern, und zwar in dem Glauben, dass die USA nicht Frankreich sind, wo man viele Stimmen mithilfe eleganter Schlüsse oder hochtrabender Manifeste gewinnen kann. Die von-Fall-zu-Fall-Liberalen wollen eine Art Engelskreis schließen, in dem die Politik die Wähler gewinnt und die Wahlerfolge wiederum den Liberalen die Macht zuspielen, damit sie mehr Programme entwerfen können, um noch mehr Stimmen zu gewinnen. „Pragmatismus ist das Zauberwort. Es beschreibt, was Liberale wollen, wofür sie aber nicht streiten wollen“, meint James Ceaser.119 Passenderweise entscheiden sich die Liberalen aus pragmatischen Gründen für den Pragmatismus. Einige Liberale hielten John Dewey für aufschlussreich, verließen sich aber auf ihn nie so, wie die Sozialisten auf Marx vertrauten. Probieren und, wenn es nicht klappt, etwas anderes probieren, ist eine Philosophie, auf die politische Aktivisten ganz ohne das Studium geheiligter Texte verfallen.

118 119

Schlesinger (1949), S. 186. Ceaser (2009).

Ad-hoc-kratie

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Der Slogan der Ad-hoc-kratie lautet: „Sie haben ein Problem. Wir haben das Programm dazu.“ Das ist nicht nur ein Minimalansatz, sondern auch in noch kleinere Ansätze unterteilbar, und zwar so oft es politisch geboten ist. Eine große Idee muss ausstrahlen. In diesem Sinne schreibt Noam Scheiber vom New Republic in seiner Antwort auf Tomasky, die Liberalen könnten sich nicht einmal auf das Gemeinwohl berufen und ein anderes Mal nicht, je nachdem, wie es ihnen passt. Man kann z. B. nicht sagen, das Gemeinwohl entscheidet zwar über das gesamte nationale Gesundheitswesen, aber Entscheidungen in der Abtreibungsfrage fallen unter die unveräußerlichen Rechte. Die letztere der beiden Positionen steht für die Liberalen nicht zur Disposition. Rachel Laser, eine Protagonistin für das Abtreibungsrecht, sagte 2006 auf einer Veranstaltung des liberalen Zentrums für Amerikanischen Fortschritt, dass jährlich 1,3 Millionen Abtreibungen in Amerika zu viel seien. Als der Moderator daraufhin das Auditorium fragte, wie viele so ähnlich dächten, waren es „nur ich und vielleicht noch jemand, die die Hände hoben“, so Laser.120 Wie auch immer, Ad-hoc-Liberalismus verdankt viel dem Spartenrundfunk. Wenn man genügend Programme zusammenstellt, um genug Probleme zu lösen, dann kann man eine Wählermehrheit zusammenbekommen, die sich von den Problemen betroffen fühlt und von den Programmen profitiert. Wenn die Menschen sich erst einmal daran gewöhnt haben, Vorteile aus den staatlichen Programmen zu ziehen, die für ihre Probleme aufgelegt worden sind, dann haben die Kritiker, die das Gesamtresultat bemängeln – insbesondere die Kosten für all diese Initiativen und die Rechtmäßigkeit all dieser Staatseingriffe – einen schweren Stand. Auf diese Wähler kann man zählen, wenn ein „engherziger“ Politiker, der ihnen „wegzunehmen“ droht, was „ihnen gehört“, abgestraft werden soll.

Alles, was zu tun ist, ist gut Wie auch immer, der Wunsch nach einer Welt, in der immer mehr staatliche Programme immer mehr werdende Leiden lindern sollen, reicht nicht aus, um all die schwierigen politischen Entscheidungen zu treffen, die uns diese Welt ein Stückchen näherbringen. Chait fragt in diesem Zusammenhang: „Soll der Staat für jedermanns Bildung sorgen? Ja. Soll der Staat jedermanns Blue Jeans produzieren? Nein. Und so weiter.“121 Und so weiter … Was? Wo? „Und so weiter“ suggeriert eine Fortsetzung in einer Richtung. Wenn es aber nur politische Einzelfälle gibt, dann gibt es keine Richtung und keine Antwort darauf, wie der Liberalismus eine politische Entscheidung mit einer anderen abstimmen oder Konflikte zwischen konkurrierenden Zielen beilegen soll. Regierungsrichtlinien auf der Grundlage „Ich weiß die richtige Antwort, wenn ich das Problem sehe“ verlangen von den Regierten schon ein Riesenzugeständ 120 121

Scheiber (2006); Goldberg (2006). Chait (2006).

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nis an die Feinfühligkeit der Regierenden. In dieser Form kennt der Liberalismus keine Theorie und widerspricht auch seiner Natur, wenn er eine auf den Punkt bringen will. Alles, was er bedeutet, muss er in der Praxis zeigen. „Liberalismus“ ist nun nicht mehr als eine Anhäufung politischer Entscheidungen, die scheinbar „in Ordnung sind“, zumindest für die aufgeweckten, bescheidenen und gutgesinnten Menschen, die eine bestimmte Einstellung teilen. Allerdings gibt es keine Möglichkeit, diese Einstellung anderen zu erklären, die sie nicht verstehen, oder jenen zu empfehlen, die sie nicht teilen. Der Ad-hoc-Liberalismus eignet sich eher dazu, schwere Entscheidungen zu vermeiden als sie zu fällen. Ein Liberalismus, der es richtet, wie es kommt, hat immer genug Platz für ein weiteres Programm, das sich eines weiteren Problems annimmt. Wie wir gesehen haben, ist das Fehlen eines Begrenzungsprinzips das charakteristische Merkmal des Liberalismus. Seine Philosophie gipfelt in der Erkenntnis „Alles, was zu tun ist, ist gut“. Wenn aber alles, was zu tun ist, gut ist, dann wird alles getan oder zumindest versucht.122 Chait schreibt, dass die „Liberalen niemals behaupten, dass die Ausdehnung der Staatstätigkeit ein Ziel für sich ist. Sie sind nur dann für mehr Staat, wenn sie Grund zur Annahme haben, dass dadurch die materielle Lage der Menschen sich bessert.“ Die logische Schlussfolgerung aus dieser Position zeigt, wie unnütz sie ist. Die Liberalen sind immer dann gegen mehr Staat, wenn sie keinen Grund zur Annahme haben, dass dadurch die materielle Lage der Menschen sich bessert. Aber es gibt kein staatliches Programm, mag es auch noch so dumm und ungeschickt durchgeführt worden sein, das niemandem irgendwie irgendwo geholfen hätte. Ein Test, bei dem kein Programm jemals durchfällt, ist aber als Test nicht viel wert.123 Mit anderen Worten, es gibt unzählige Wege, Chaits laschem Kriterium zur Rechtfertigung des Staatswachstums zu entsprechen. „Es gibt Gründe zur Annahme“ kann für nahezu alle Gründe stehen. Auf der John-Kerry-for-PresidentWebsite fand man eine Beschreibung von „79 Einzelinitiativen, die neue Programme ins Leben rufen oder bestehende Programme erweitern“ könnten.124 Die Liberalen verstehen sich mehr auf das Zusammenstellen als auf das Zusammenstreichen von Listen. Im Liberalismus kennt man keinen Grund für die Annahme, dass der Staat eventuell nicht genug Mittel, Weisheit oder rechtmäßige Autorität für jedes Problem und dessen Lösung hätte. Man käme auch nicht auf die Idee, dass einige Probleme Teile der Conditio Humana sind, die wir vielleicht entschärfen, aber nie bewältigen können. In den 78 Jahren seit FDRs Versprechen, eine Methode auszuprobieren und, „falls sie scheitern sollte, dies offen zuzugeben und eine andere zu versuchen“, gab es nicht ein einziges Wohlfahrtsprogramm, das die Liberalen übereinstimmend 122

Lowi (1985), S. 154 ff. Chait (2005). 124 Edwards (2004). 123

Ad-hoc-kratie

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für gescheitert erklärt und anschließend abgeschafft hätten. Was die Liberalen indes mitansehen mussten, war, dass Programme wie das nationale Wiederaufschwungsgesetz und das Familienbeihilfegesetz durch die politischen Wahlsiege ihrer Gegner abgeschafft wurden. Hätte aber das Oberste Bundesgericht das Wiederaufschwungsgesetz nicht 1935 aus seinem Elend befreit und hätte der 1996 republikanisch dominierte Kongress seinerzeit nicht dasselbe mit dem Familienbeihilfegesetz gemacht, dann – und dafür sprechen alle Anzeichen – wäre von liberaler Seite wohl nie die Forderung gekommen, ein von Grund auf misslungenes Gesetz für immer abzuschaffen. Jedes dieser Programme wächst für sich, und alle gedeihen gemeinsam, weil jedes so gut ist – jedenfalls gemäß der undurchschaubaren und unendlich großzügigen liberalen Maßgabe –, dass es eine Fortsetzung und Erweiterung verdient hat. Die erfolgreichen Programme sind auch die, die eine Fortführung verdienen. Die anderen, die keinen Erfolg haben, sind die, bei denen der Empfänger der Transferzahlungen alle Güter, Dienstleistungen und die anderen wirtschaftlichen Vorteile, die der Staat kredenzt, verächtlich ausschlägt. Mit anderen Worten, jedes Programm ist ein Erfolg und verdient eine Fortsetzung. Selbstredend liegt die Pointe erfolgreicher Programme nicht nur in deren Fortsetzung, sondern auch in deren Ausweitung. Statt nun die natürliche Tendenz staatlicher Programme, weiterzuleben und umfangreicher zu werden, im Auge zu behalten, setzt der Ad-hoc-Liberalismus dieser Tendenz lieber noch einen Turbobeschleuniger obendrauf. Die unkontrollierten Kräfte sind logischer, politischer und bürokratischer Natur. Jedes Programm, das einigen, aber nicht allen Menschen hilft, braucht Zulassungskriterien. Solche Kriterien dienen der näheren Bestimmung einer Gruppe, die sich der Quantifizierung entzieht. Wenn man allerdings klare Linien durch eine durchwachsene Realität zieht, dann heißt das, dass Menschen mit recht ähnlichen Profilen sehr unterschiedlich behandelt werden. Am Rande dieser Kriterien gibt es immer Leute, deren Lage zwar nur geringfügig besser ist als die der Leistungsempfänger, die aber nichts kriegen. Die erste Reaktion derer, welche die Programme in die Welt gesetzt haben, um den Bedürftigen zu helfen, ist eine weniger restriktive Auslegung der Kriterien, damit auch diejenigen etwas bekommen, die fast so bedürftig sind wie die jetzigen Beihilfeempfänger – und nach einer bestimmten Weile werden auch die bedacht, die jetzt noch jenseits der Empfängergrenze liegen, usw. Gewählte Staatsdiener sind solchen Expansionsprozessen gegenüber mehr als aufgeschlossen. Die Zauberformel, wonach die Vorteile gebündelt, die Kosten hingegen verstreut werden, spricht dafür, dass das politische Risiko für Erweiterungen des Programms klein, für Kürzungen aber beträchtlich ist. Für eine unendliche schrittweise Erweiterung des Wohlfahrtsstaats zu stimmen, sei ein hübsches Beispiel dafür, dass das Richtige auch das Zweckdienliche sei, so Robert Kuttner, und es „schafft der Demokratischen Partei eine zuverlässige Wählerschaft.“125 125

Kuttner (1987), S. 171.

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3. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Sinngebung

Ungeachtet dessen werden die Entscheidungen darüber, wer staatliche Hilfe braucht und wer nicht, oftmals schon gefällt, bevor die formalen rechtlichen Verordnungen dafür angepasst sind. Die Behörden gehen tag täglich mit den Menschen um, die Hilfen beantragen bzw. beziehen. Aus diesen Begegnungen entwickelt sich nach und nach der Effekt, die Auswahl und die Definition der Empfangsberechtigten großzügiger zu handhaben. Charles Murray veranschaulicht dies am Beispiel des Behindertenbeihilfeprogramms, das 1956 der Sozialen Sicherheit angegliedert wurde. (Es ist am „D“ in OASDI – Old Age, Survivors and Disability Insurance (Versicherung der Alten, Hinterbliebenen und Behinderten) – zu erkennen.) Der Kongress hat die Auswahlkriterien des Programms 1960 liberalisiert und dann 1965 überarbeitet, ohne sie weiter zu lockern. Nach den Änderungen von 1960 betrug die Zahl der Leistungsempfänger 687.000, 1965 lag sie bei 1.739.000, und 1970 bei 2.655.000. 1975 betrug die Zahl 4.352.000. Wie Murray feststellt, ist die offizielle Definition der behinderungsbedingten Erwerbsunfähigkeit in all den 15 Jahren dieselbe geblieben, sind medizinische Fortschritte bei der Überwindung von Behinderungen erzielt worden, und stieg die Zahl der vom Programm betroffenen Personen um 30 %. Die Zahl der Leistungsempfänger stieg nichtsdestotrotz um 533 %.126 Es gab eine Zeit, in der hatten die meisten Angestellten der Wohlfahrtsbehörden die Mentalität von Geldeintreibern, inzwischen haben sie die von Sozialarbeitern. Die Türsteher sind zu Türöffnern geworden. Ihr Beruf verpflichtet sie, dafür zu sorgen, dass alle Anspruchsberechtigten bekommen, was ihnen zusteht. Früher hatten sie ein Auge darauf, dass keiner etwas bekam, das ihm nicht zustand. Die Ideologie des Wohlfahrtsstaats hat ein Ethos geschaffen, das Klienten wie Angestellte erfasst hat. Es ermuntert die Menschen, sich alle Vorteile zu sichern, die ihnen aufgrund irgendeines Anspruchs „zufliegen“, statt deren Annahme aus Schamgefühl heraus abzulehnen.

Die ökonomischen Kosten der Ad-hoc-kratie Die Liberalen, die, anders als die Sozialisten, gegenüber politischen Theorien ihre Indifferenz betonen, sehen ihre Aufgabe eher darin, die Fehler des Kapitalismus zu korrigieren als die Ankunft des nächsten Systems zu beschleunigen. Man muss aber weder Marxist sein noch einer anderen antikapitalistischen Doktrin anhängen, um mit einer Reihe von politischen Maßnahmen die Funktionen des Kapitalismus lahmzulegen. Die von Chait hochgelobte Ad-hoc-kratie wird dieser Aufgabe voll und ganz gerecht. „Mach was, egal was“ mag nicht das allerschlechteste Mittel sein, einen Schiffbruch – wie jenen, der FDR 1932 drohte – zu vermeiden. Aber im Allgemeinen wird daraus kein vernünftiger Grundsatz für einen Seefahrer. Die „unheilvollen“ Auswirkungen „verändernder“ Politik als Resultat eines dreisten unentwegten Herumexperimentierens wurden bereits im 62.  Federalist 126

Murray (1984), S. 47.

Ad-hoc-kratie

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Paper vorweggenommen: „Wenn die Gesetze so umfangreich sind, dass sie weder gelesen noch verstanden werden können; wenn sie vor ihrer Verkündigung aufgehoben und revidiert werden oder dauernden Veränderungen unterworfen werden, so dass keiner, der das Gesetz von heute kennt, weiß, was morgen in ihm steht, dann wird es den Leuten wenig nutzen, dass diese Gesetze von den Männern ihrer Wahl gemacht wurden.“ Die Auswirkung der Ad-hoc-kratie auf das, was wir heute Kapitalbildung nennen, ist besonders verheerend: „Welcher kluge Kaufmann wird sein Glück in einer neuen Branche oder Geschäftsmöglichkeit versuchen, wenn er nichts weiß, außer dass seine Absichten wahrscheinlich schon als ungesetzlich gelten, bevor er sie in die Tat umsetzt? Welcher Landwirt oder Fabrikant wird sich für eine bestimmte Urbarmachung oder Produktionsstätte einsetzen, wenn man ihm nicht garantieren kann, dass seine Vorleistungen und Fortschritte nicht irgendwann einer unsteten Regierung zum Opfer fallen? Um es kurz zu machen, jede Nutzbarmachung und jedes löbliche Unternehmen, die den Schutz einer beständigen Innenpolitik brauchen, werden auf der Strecke bleiben.“127

Die politischen Kosten der Ad-hoc-kratie Zu guter Letzt sollten wir uns den Spannungen zuwenden, die zwischen dem Engagement des Liberalismus für den kleinen Mann und der liberalen Vorliebe für einen von-Fall-zu-Fall-Regierungsstil entstehen. Keckes und unentwegtes Experimentieren funktioniert in der Politik nicht so gut wie im Labor, wo die Mäuse weder wählen noch Interessengruppen bilden oder Lobbyisten anheuern können. Komplizierte und dauernd sich ändernde Gesetze dienen eher denen, die am lautesten schreien können und Köpfchen wie Schlagkraft besitzen, als denen, die wirklich in Not sind, aber zu phantasielos, um ihren Anspruch durchzusetzen. Das perverse, aber unvermeidliche Resultat all dessen ist, dass die staatlichen Behörden, die ursprünglich dem kleinen Mann helfen sollten, irgendwann so lange im Geschäft sind, dass sie den großen Tieren die Vorteile zuschanzen. Auch das wurde im 62. Federalist Paper vorausgesehen: „Ein weiterer Effekt der politischen Instabilität ist die unverhältnismäßige Bevorteilung der wenigen Scharfsinnigen, Geschäftstüchtigen und Betuchten gegenüber der uninformierten Masse. Jede neue Regelung, sei es im Hinblick auf Handel und Gewinn oder auf irgendeine andere Art, die sich im Wert einer Sache niederschlagen kann, verspricht denen, die aufpassen und die Folgen abschätzen können, eine neue Ernte; eine Ernte, die sie nicht ihrem eigenen Fleiß verdanken, sondern der Mühe und Plage all ihrer Mitbürger. Im Hinblick auf diesen Zustand kann man mit Recht sagen, dass die Gesetze für die Wenigen, und nicht für die Vielen gemacht sind.“128 127 128

The Federalist Papers, No. 62. The Federalist Papers, No. 62.

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3. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Sinngebung

1981 „opponierten“ die Demokraten im Kongress gegen Präsident Reagans Ausgaben- und Steuerkürzungen und forderten so viele Zusagen für Interessengruppen wie nur irgend möglich. Mit einem Ton der Verachtung schrieb damals Michael Kinsley im New Republic, dass die Demokraten „genug Geld fanden, um gegen Reagans Willen das subventionierte Darlehensprogramm für die Landwirte fortführen und sogar ausdehnen zu können.“ Ein offenes Ohr hatten sie auch „für die Wehklagen der großen Exporteure wie Boeing. Reagan wollte die Bankdarlehen für Im- und Exporte auf $ 4.4 Milliarden begrenzen, aber der Kongress fand weitere $ 600 Millionen in seinem Herzen.“ Alle rhetorischen Spitzen gegen die Republikaner und die geizigen Reichen können nicht über die peinliche Tatsache hinwegtäuschen, dass eine sich derart gerierende Demokratische Partei eine, wie Kinsley schreibt, „schwindende Ansammlung von Interessengruppen [ist], deren Interessen kaum mehr die des gemeinen Volkes [sic] oder der Beladenen und Armen sind.“129

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Kinsley (1981), S. 14 ff.

4. Kapitel

Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Lohngestaltung Ach ja, da war noch was. Für den Wohlfahrtsstaat muss man bezahlen. Den 75. Geburtstag des New Deal hat die Nation inzwischen erlebt, aber eine eindeutige, umfassende und rigorose Darstellung der Prämissen, Ziele und Grenzen des Wohlfahrtsstaats muss ihr erst noch vorgelegt werden. Liberale zu bitten, sich klar zu äußern, ist indes genauso müßig wie Pygmäen aufzufordern, zu wachsen. Umfang und Dauer der theoretischen Mängel des Liberalismus lassen kaum einen anderen Schluss zu als die Vermutung, dass die Inkohärenz ein systematischer Fehler im Liberalismus ist, der sich um jedwedes irgendwie lösbare Problem kümmern will. Angesichts des stetigen Voranschreitens des Wohlfahrtsstaats trotz Fehlens einer ordentlichen Theorie würde man der Demokratie wohl mehr als schmeicheln, wenn man behauptete, dass ein ganzer Katalog an ungeklärten oder gar unerklärbaren politischen Maßnahmen nur dann umsetzbar ist, wenn alle Schlussfolgerungen sorgfältig durchdacht und nach allen Seiten hin abgesichert sind. Wenn die Politik ein Hauptseminar wäre, dann wären das ihre Schwierigkeiten. Wie auch immer, was diese Schwierigkeiten verbindet, ist der Umstand, dass die Befürworter des Wohlfahrtsstaats für eine ausreichende und dauerhafte Finanzierung sorgen müssen. Jeder Wohlfahrtsstaat stößt dort an Grenzen, wo der Staat seine Zahlungen, Beihilfen und Dienstleistungen nicht über das hinaus erbringen kann, worüber er auf dem Wege der Besteuerung, Kreditaufnahme und Regulierung verfügen kann. In einer Demokratie sind letztere allesamt die möglichen Opfer ablehnender Wähler, die aufgrund der Steuern oder Kreditaufnahme Wohlstandsverluste oder aufgrund von Regulierungen Freiheitseinbußen erleiden. Die wirtschaftliche Notwendigkeit, für den Wohlfahrtsstaat zu zahlen, ist letztlich auch eine politische Notwendigkeit, weil die Opfer, die der Wohlfahrtsstaat verlangt, gegenüber dem Wähler in einer überzeugenden Weise zu begründen sind. Genau an dieser Stelle wird aus dem Unvermögen, den Wohlfahrtsstaat erklären zu können – was ohnehin schon ein intellektuelles Problem darstellt –, ein politisches Problem. Die Liberalen haben – oft zu Recht – in dem Glauben gelebt, dass die Leistungen des Wohlfahrtsstaats für sich sprechen würden. Eine Woche vor der Wahl 1964 gab Lyndon Johnson bei einer Wahlkampfveranstaltung eine „kleine Kostprobe“ von der Großen Gesellschaft. Ihre Verwirklichung würde bedeuten, dass „keiner in diesem Land arm ist“, dass die Alten nicht nur „vollständige soziale Sicherheit“ genießen würden, sondern auch ein Leben voller „Sinn, Zweck

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4. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Lohngestaltung

und Freude.“ Die Zeit der Großen Gesellschaft ist gekommen, „wenn wir für jeden Arbeitswilligen einen Arbeitsplatz und eine anständige Bezahlung haben“ und es „in den Städten Amerikas keine Elendsviertel mehr gibt.“ Im Gegensatz dazu hatte Barry Goldwater – den Johnson nie namentlich erwähnt hat – bei allen Kongressabstimmungen über „Programme, die eine gemeinsame Verantwortung einforderten, sei es für die Erziehung oder soziale Sicherheit“, stets mit „nein, nein, nein gestimmt.“1 Mit anderen Worten: Die Vorteile des Wohlfahrtsstaats sind … vorteilhaft. Die Liberalen wollen, dass der Staat Ihnen Dinge gibt und Dinge für Sie tut. Die Konservativen wollen das nicht, entweder weil ihnen in ihrer Engherzigkeit die Not der anderen egal ist oder weil sie von den Veranden ihres Country Clubs aus nicht die prekären Lebensumstände vieler ihrer Mitbürger sehen oder weil ihnen mehr an der Pflege alter Dogmen liegt – von freien Märkten und von einem durch die Verfassung begrenzten Staat – als an der Linderung derer, die wirklich leiden. Man kann die Hoffnung der Liberalen, dass ein Wohlfahrtsstaat, der für sich selbst spricht, auch für sich selbst zahlt, gut verstehen. Sie meinen, dass der enorme Wert der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen offensichtlich sei. Folglich würden die Wähler, die voller Begeisterung diese Leistungen annähmen und deren Fortbestand und grenzenlose Ausdehnung begrüßten, für die Steuern, Kredite und Regulierungen, die der Staat ihnen aufbürden müsse, genug Verständnis aufbringen. Mit so viel Rückenwind müssten die Liberalen die Menschen lediglich daran erinnern, den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Überzeugungsarbeit aber wäre nicht notwendig. Das daraus resultierende Argument ist verblüffend einfach und freimütig: Der Wohlfahrtsstaat, den wir errichten, macht unser Land zu einem lebenswerteren Land. Die Opfer, die er verlangt, sollten wir alle erbringen, vielleicht nicht mit Freude, aber mit Befriedigung und in der Zuversicht, dass sie der gerechte und notwendige Preis für eine Verbesserung der Gesellschaft sind. Erstaunlicherweise ist dieses überzeugende Argument nicht nur nicht die Blaupause für die rhetorische Rechtfertigung der Kosten des Wohlfahrtsstaats. Es ist auch dasjenige Argument, das von den Liberalen am seltensten zu diesem Zweck genutzt wird. Offensichtlich kann der Wohlfahrtsstaat für sich selbst sorgen, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Die Reize dieser Leistungen sind auffällig genug. Die Liberalen brauchen nur auf sie hinzuweisen und können so die konservativen Politiker, die immer nur „nein, nein, nein“ sagen, in Schach halten. Die Reize sind allerdings nicht so überzeugend, dass den Liberalen, die „mehr, mehr, mehr“ rufen, um die Leistungen erheblich auszubauen, leichte politische Erfolge garantiert wären. Die Finanzierungsfrage kann nicht einfach vom Tisch gewischt werden, und die Wähler kriegt man auch nicht dazu, sie zu ignorieren, indem man als Liberale die Scheinwerfer auf die humanen und erbaulichen Dinge richtet, die ein noch größerer Wohlfahrtsstaat brächte. 1

Johnson (1964b).

Monopoly-Geld

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Die Liberalen haben bei der Beantwortung der Finanzierungsfrage des Wohlfahrtsstaats eine Hinhaltetaktik praktiziert. Das war intellektuell unaufrichtig und entsprang der Überzeugung, dass man die Frage nicht wirklich beantworten muss, wenn sie von allein verschwindet. Die Liberalen haben den Menschen gerne erzählt, was diese gerne hören wollten: Man kann einen größeren Wohlfahrtsstaat haben, ohne sich über die Kosten große Gedanken machen zu müssen. Die Programme finanzieren sich selbst. Oder: Eine Überflussgesellschaft kann das aus der Portokasse bezahlen. Oder: Die Steuern, die ein größerer Wohlfahrtsstaat erfordert, werden vor allem von den Reichen und den großen Unternehmen bezahlt. Keine dieser Aussagen kann auch nur harmlosen Nachfragen standhalten. Insofern weiß man nicht so recht, ob die Liberalen, die sie treffen, zynisch oder bemerkenswert unfähig sind. Ungeachtet der politischen Vorteile, die es bringen mag, wenn man den Menschen erzählt, was sie über die Finanzierung des Wohlfahrtsstaats hören wollen: die ohnehin schon undurchsichtige Begründung des Wohlfahrtsstaat wird auf diese Weise noch inkohärenter.

Monopoly-Geld Ein Beispiel für den Wunsch, dass die Kostenfrage verschwinden möge, zeigt sich darin, dass die Liberalen Trost in Umfragen suchen, die eine große Zustimmung zu ihren Plänen suggerieren. Folgt man Michael Tomasky, dann „stimmt die Bevölkerung mit den Demokraten in diesen Fragen mehrheitlich überein. … Gesundheitswesen, Umwelt, Investment [d. h. Staatsausgaben], Erziehung, fast in allem, außer in der nationalen Verteidigung, gibt es Mehrheiten, die sich der Position der Demokraten anschließen.“2 Die Menschen geben sich – und das ist die Anomalie – in Umfragen liberaler als an der Wahlurne. Tomasky räumt ein, dass die Konservativen ihre unpopuläre Haltung in diesen Fragen durch „skurrile Lügen“ wettmachen. Darin und in dem, was sie täten, wären sie „organisiert und gut.“ Hochgesinnte Liberale beziehen derweil Prügel, weil „sie über die Welt das Beste denken … und glauben, dass sie in diesen Fragen den Wahlkampf für sich entscheiden können.“3 Sieht man einmal vom Eigenlob ab, so liegt das Problem dieser These anderswo. Sie nimmt die Umfragewerte für bare Münze und betrachtet die abweichenden Ergebnisse am Wahltag als rätselhafte und unergründliche Ungereimtheiten. Sie übersieht die Tatsache, dass Umfragen oft Meinungen hervorrufen, die spontan entstehen und letztlich nicht tief wurzeln. Ein 10-minütiges Telefoninterview über Gesundheit oder Erziehung ist oftmals die längste Unterhaltung, welche die Angerufenen in ihrem Leben zu diesen Themen überhaupt führen.

2 3

Tomasky (2004). Tomasky (2004).

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4. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Lohngestaltung

Außerdem ist von den Menschen, die freundlicherweise bei einer telefonischen Meinungsumfrage nicht direkt aufhängen, nur ein Bruchteil in der Lage, dem fremden Gegenüber am Telefon in selbstbewusster Weise zu antworten. Um den Eindruck von Apathie oder Ignoranz zu vermeiden, äußern viele Menschen sich zu Themen, über die sie nie nachgedacht oder von denen sie noch nie gehört haben, Meinungen, die sie gar nicht haben. Und um nicht gefühllos zu erscheinen, sagen sie lieber, sie seien dafür – oder gar sehr dafür –, dass mehr Geld für Berufseinstieg und Weiterbildung ausgegeben wird. Letztlich entscheidend ist aber, dass man sehr leicht mehr Ausgaben für etwas gutheißen kann, das ein Meinungsforscher vorschlägt, weil der Bürger in seinem Fragebogen lediglich Monopoly-Geld ausgibt. Mehr für x ausgeben heißt nicht, weniger für y auszugeben, und vor allem heißt es nicht, die Steuern anzuheben. Die Liberalen mögen solche Umfrageergebnisse zu innenpolitischen Fragen, weil die künstlichen Laborbedingungen, unter denen die öffentliche Meinung erhoben wird, ihrem Idealrahmen der Politikgestaltung entsprechen. Alles ist gut, wenn man keine Entscheidungen treffen muss. Der Staat kann wie ein reicher Onkel behandelt werden, den man nur oft genug anstupsen muss, damit er zunehmend spendabler wird. Wenn aber die Kosten der liberalen Agenda dem Wähler vor einer Wahl präsentiert werden, dann geht es nicht mehr darum, der netten jungen Dame vom Meinungsforschungsinstitut zu zeigen, das Sie ein informierter Bürger und anständiger Mensch sind, sondern um harte Entscheidungen hinsichtlich der Zuordnung realer Ressourcen. Die Forderungen einiger Programme sind ihr Geld eher wert als andere, und manche sind es gar nicht wert. Über die jeweiligen Verdienste der diversen Programme kann man kontrovers und nur sehr schwer diskutieren, vor allem wenn die Kosten real und nicht nur angenommen sind.4 Es gibt da diese Geschichte eines katholischen Priesters, der auf Bitten eines anglikanischen Freundes ein paar Tage in dessen Gebetbuch liest und dann zu ihm sagt: „Ihr habt all die hübschen Teile drin gelassen, aber die schwierigen Teile habt Ihr rausgenommen.“ Der Liberalismus funktioniert genauso. Er eignet sich für eine Diskussion der hübschen Teile der Staatskunst – machen, bauen und geben –, aber nicht für den schwierigen Teil der Entlockung des Wohlstands, den die hübschen Teile voraussetzen. Nicht umsonst bestand Milton Friedman auf der Feststellung: „Es gibt kein Mittagessen gratis.“

Die Überflussgesellschaft Eine Möglichkeit, die Kosten des Wohlfahrtsstaats zu umgehen, besteht darin, beim Vorbeigehen auf die andere Seite zu schauen. Im Kielwasser von John ­Galbraiths Gesellschaft im Überfluss begrüßten die Liberalen die frohe Botschaft, 4

Siehe Weissberg (2002).

Die Überflussgesellschaft

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dass die amerikanische Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine Ära anhaltenden und andauernd wachsenden Wohlstands eingetreten sei. Das stets volle Füllhorn würde die Knappheit schon überflüssig machen. Die einzige Grenze der Staataktivität resultierte nur aus den begrenzten Möglichkeiten, sich neue Dinge für den Staat auszudenken. So hieß es 1964 in einem Artikel der New Republic: „Im Zeitalter des Überflusses müssen wir weder Wertentscheidungen noch Kostenentscheidungen fürchten. Wenn Ballett die Sache wert ist, so wie uns früher die öffentlichen Bibliotheken erstrebenswert waren, dann nur zu. Stellen wir Ballett bereit, auch wenn es nicht genügend ‚Nachfrage‘ gibt, um es ‚wirtschaftlich‘ zu tun. Diese Haltung kann sich vom Ballett bis hin zur Landschaftsverschönerung ausbreiten, oder in alle anderen möglichen Richtungen. Mit all dem Wohlstand können wir uns einen Versuch leisten.“5

Viele haben ihn sich geleistet. Pat Brown war von 1959 bis 1967 demokra­ tischer Gouverneur in Kalifornien und ein Politiker, der, wie Publizist Peter Schrag schreibt, „sich nie schämte, sich als Liberaler zu bekennen.“ Wenn ein Mitarbeiter ihn davor warnte, dass seine Ausgaben für Infrastruktur und Bildung aneinandergerieten, gab Brown zurück: „Wir finden genug Geld, um beides zu tun. Wir bauen neue Wasserwege und wir bauen neue Universitäten, Schulen mit Landesmitteln, Schulen in den Kommunen, und Grundschulen auch. Wir haben viel Geld, und wir müssen dies tun.“6 Diese Vorgehensweise kann funktionieren – aber nur so lange, wie man reichlich Geld hat. Der Staat wird aber nicht genug Geld haben, wenn es der Überflussgesellschaft misslingt, Knappheit und ausbleibende Rezessionen dauerhaft der Vergangenheit angehören zu lassen. Außerdem wird der Staat nicht alles, was seine Lenker wünschen, in die Tat umsetzen, wenn die Steuerzahler auf Grenzen beharren, die der Staatsdiener lieber nicht beachtet. Die Kalifornier haben dies 1978 getan, als sie der Vermögenssteuer durch einen Zusatz zu Artikel 13 eine Obergrenze gesetzt haben. Auch in den Folgejahren haben die Wähler, nicht nur in Kalifornien, weiteren Steuergrenzen zugestimmt. Als so nach und nach alles auf den Prüfstand kam, wurde die Entschlossenheit des Staates, dieses, jenes und auch das noch zu tun, gebremst. Regieren hieß nun wieder auszuwählen. David Sears und Jack Citrin schreiben in ihrem Buch über die kalifornische Steuerrevolte, dass der 13. Verfassungszusatz „den dominierenden Politikstil in Kalifornien verändert hat.“ „Enthaltsamkeit und Eigenständigkeit ersetzten Planen und soziale Reformen als Symbole der Legitimität. Die Politiker begannen mehr und mehr von Abwägungen und Beschränkungen zu reden und weniger von Wachstum und Fortschritt. In der Zeit vor dem 13. Zusatz konnten die politischen Entscheidungsträger zuerst darüber nachdenken, welche Programme sie erweitern wollten, voller Zuversicht, dass die Einnahmen dafür zur Verfügung stünden.

5 6

Malmgren (1964), S. 47. Schrag (1999), S. 34 f.

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4. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Lohngestaltung

Die vorherrschende Stimmung nach 1978 ließ die Bürokraten ihre Ausgabenprioritäten an fixen Einnahmen orientieren. Neue Programme mussten ‚vermarktet‘ werden, nicht nur verkündet, weil sie das Geld den bereits bestehenden Programmen streitig oder die Anhebung von Gebühren bzw. Steuern erforderlich machten.“ 7

Der Unterton dieser Analyse ist recht aufschlussreich. Sears und Citrin beklagen den Verlust der schönen Zeiten, in denen die Politiker einfach neue Programme verkünden konnten, frei von irgendwelchen Sorgen darüber, woher das Geld dafür kommen würde. Wie beim Faulpelz, der es der realen Welt verübelt, dass er eine Arbeit annehmen und für sich selbst sorgen muss, so steckt auch hier etwas Halbwüchsiges in den Beschwerden darüber, dass wir nicht alle Programme schon allein deshalb haben können, weil wir sie wollen, und dass wir eigentlich nicht über die unangenehmen Dinge wie höhere Steuern oder weniger Ausgaben für andere Programme nachdenken sollten. Ein erwachsener Liberaler würde sich den Fragen der Staatslenkung, die dem Aufbau eines Wohlfahrtsstaats innewohnen, stellen und nicht verschließen. Was sollte der Staat tun, um die wirtschaftliche Sicherheit des Einzelnen zu sichern, und was nicht? Welche Kriterien unterscheiden die berechtigten Leistungsempfänger von den unberechtigten? Die Mittel für den Wohlfahrtsstaat fallen nicht vom Himmel. Wie also kann man ehrlich und überzeugend den Menschen klarmachen, dass und wie die Leistungen der Programme die erforderlichen Steuern und Regulierungen rechtfertigen? Und ebenfalls in gutem Treu und Glauben die entsprechende Gegenfrage: Was unterscheidet solche bestehenden bzw. vorgeschlagenen wohlfahrtsstaatlichen Initiativen von jenen, die höhere Steuern und mehr Regulierungen nicht rechtfertigen? Die Liberalen haben viel mehr Zeit und Energie darauf verwendet, diese Fragen zu meiden, als sich mit ihnen herumzuschlagen. Ein sprechendes Beispiel für den Unwillen, ernsthafte Fragen ernsthaft zu behandeln, steckt in der Behauptung, dass die Kosten für einen größeren Wohlfahrtsstaat, ungeachtet ihrer tatsächlichen Größe, im Vergleich zu den Folgen einer ausbleibenden Erweiterung unbedeutend seien. „Dieses Land kann es sich nicht leisten, die Armut nicht zu beseitigen“, hieß es 1969 in einem Leitartikel der New Republic.8 Der Liberalismus hat sich selbst geschadet, indem er sich auf unwiderlegbare Behauptungen verlassen hat, wie die, dass es unvorstellbar sei, dass eine größerer Wohlfahrtsstaat etwas anderes sein könne als eine Verbesserung. Die Steuerrevolte war der Steuerzahler Art zusagen, dass die Nation es sich nicht leisten könne, all das zu tun, was nach Meinung der Liberalen zu unterlassen die Nation sich nicht leisten kann. Die liberale Antwort darauf war vernichtend. The New Republic schrieb, dass die Botschaft der Kalifornier, die dem 13. Zusatz zustimmten, lautete: „Lasst das Rettungsboot zu Wasser – ich bin an Bord. Alle anderen können ans Ufer schwim 7 8

Sears / Citrin (1982), S. 251; zitiert nach Schrag (1999), S. 156 f. Nixon’s Affluence (1969), S. 8.

Das europäische Ideal

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men.“ Laut The Nation verdankte der Zusatz 13 seine Annahme „übelsten Ressentiments und unverhohlenem Rassismus“, die ein Amerika widerspiegelten, „das man Gott sei Dank für beendet hielt, ein Land der rohen wirtschaftlichen Raffgier …“9 Die Liberalen haben eine denkbar schlechte Ausgangsposition für Beschwerden darüber, dass die Wähler Zuflucht zu radikalen und wahllosen Mitteln zur Beschränkung der Staatsausgaben suchen. Der Liberalismus selbst bietet kein Unterscheidungskriterium für verdienstvolle und weniger verdienstvolle Programme und kaum Hilfe beim Treffen der richtigen Wahl. Insofern ist es ungehörig, dem Wähler anzulasten, falsch gewählt zu haben. Stattdessen bietet der Liberalismus den Wählern nur zwei schlichte Alternativen. Entweder geben sie den Liberalen darin recht, dass alles gut zu tun sei, oder sie werden als geizige Bigotte verunglimpft, die dem Wohlfahrtsstaat keinen Blankoscheck ausstellen wollen.

Das europäische Ideal Die amerikanischen Liberalen schauen voller Neid über den Atlantik. In Europa reicht schon allein die Vorstellung, dass eine Mitte-Rechts-Koalition die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen beschneidet, um Generalstreiks und Straßenproteste auszulösen. Die amerikanische Linke hingegen muss Steuerrevolten befürchten. Die Transformation, welche die Liberalen erhoffen und anstreben, erfordert letztlich, dass die Amerikaner die europäische Denkart übernehmen, der zufolge die Wähler auf reichliche Wohlfahrtsleistungen bestehen und höhere Steuern geduldig hinnehmen, statt auf niedrigen Steuern zu beharren und geduldig das relative bescheidene Sicherheitsnetz hinzunehmen, das sie sich leisten können. In The New Republic behauptet Jonathan Cohn, dass Dänemark damit prahle, „nicht nur einen der weltweit umfangreichsten Wohlfahrtsstaaten zu haben, sondern auch eine der solidesten Wirtschaften.“ Als „große Botschaft“ dessen will er den Amerikanern mit auf den Weg geben, „dass es durchaus möglich ist, einen großen Wohlfahrtsstaat mit großzügigen Beihilfen zu haben, ohne die Wirtschaft abzuwürgen.“ Der Schlüssel zu Dänemarks Erfolg liegt laut Cohn darin, dass hohe Steuern nicht wehtun, … wenn man mit dem Geld die richtigen Dinge macht. Die Dänen akzeptierten ein Einkommensteuersystem mit einem Höchststeuersatz von 63 %, weil „sie merken, dass sie etwas für ihr Geld bekommen: gute öffentliche Dienstleistungen.“10 Ein Jahr nach Cohns Aufsatz konnte man jedoch in der International Herold Tribune einen Artikel lesen, in dem ernsthafte Bedenken an der Nachhaltigkeit des dänischen Sozialvertrages geäußert wurden. Der Höchststeuersatz von 63 %, so wurde hervorgehoben, liegt nicht nur weit über dem, den Amerika Präsident Reagans erfolgreichem Gesetz von 1981 verdankt, sondern gilt auch für einen weitaus 9 10

Me First (1978), S. 5; Connoly (1978), S. 77. Cohn (2007).

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größeren Anteil der steuerpflichtigen Bevölkerung, und zwar ab einem Einkommen von 360.000 Kronen, was einem Jahreseinkommen von $ 70.000 entspricht. Die von den diesen Steuern finanzierten öffentlichen Güter waren nicht verführerisch genug, um die vielen Steuerexilanten, die in stetig steigender Zahl Dänemark den Rücken kehrten, zurückzuhalten und damit den Hauptgrund für den Schwund an ausgebildeten Arbeitskräften, der Dänemarks Wirtschaft belastet, abzuwenden. So hat es z. B. eine dänische Bank inzwischen alle Versuche aufgegeben, ihre Mitarbeiterteams in Kopenhagen zu halten. Der einzige Weg, die gewünschten Arbeitskräfte einzustellen und zu halten, war, ihnen eine Anstellung in Großbritannien, Singapur oder der Schweiz zu geben. Dort sind die Einkommensteuern erheblich niedriger. „Problem Nr. 1 ist unsere hohe Steuerquote. So einfach ist es“, sagte der Vorstand der Bank.11 In den Äußerungen der amerikanischen Liberalen können wir nirgends die unzweideutige Aussage finden, der europäische Wohlfahrtsstaat sei zu groß. Bestenfalls findet man hier und da den Vorschlag, den richtigen Weg irgendwo zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Extrem zu suchen … wobei dieser viel näher an letzterem entlanglaufe. Dazu schrieb Cohn: „Obwohl hohe Steuern die Wirtschaft in Europa gelegentlich abgewürgt haben, liegt viel Raum zwischen den Vereinigten Staaten, wo die Steuern 25 % des BIP betragen, und Schweden, wo sie 50 % des BIP ausmachen. (Abgesehen davon, geht es der schwedischen Wirtschaft neuerdings recht gut.)“12 Die Gründe für eine Ausweitung des amerikanischen Wohlfahrtsstaats sind immer sehr speziell und drängend, während das Eingeständnis, dass die europäischen Wohlfahrtsstaaten etwas zu groß sein könnten, nur ein zähneknirschendes und ungenaues ist.

Die post-sozialistische Linke Mehr als 100 % von einer Sache kann es nie geben, auch nicht vom BIP einer Nation. Europas Sozialdemokraten haben Wohlfahrtsstaaten errichtet, die sich im Vergleich zu Amerikas Wohlfahrtsstaat diesem absoluten Limit um ein Zehntel bis ein Fünftel ihrer Wirtschaftsleistung nähergekommen sind. Es gibt noch eine Decke, die niedriger hängt und ungenau plaziert ist. Die zahllosen und kostspieligen Unternehmungen, welche die Sozialdemokraten und Liberalen vom Staat verlangen, erfordern florierende Wirtschaften. Es wäre ein makabrer Scherz, wenn die Regierung in Liberien, wo das BIP unter $ 1.000 liegt, den Bürgern mitteilte, dass es fortan deren Recht auf Beschäftigung, Wohnung, Gesundheitsfürsorge, Bildung, Urlaub, Erholung und Abenteuer anerkenne. Im 20. Jahrhundert haben viele intelligente Leute lange Zeit geglaubt, dass man den Kapitalismus gegen Staatseigentum an den Produktionsmitteln oder mindestens 11 12

Dougherty (2007). Cohn (2005).

Die post-sozialistische Linke

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gegen eine zentrale Planwirtschaft eintauschen müsse, um Wohlstand zu erzeugen. Noch 1975 haben zwei Senatoren der Demokraten, nämlich Adlai Stevenson III und Henry Jackson, dafür geworben, dass die Bundesregierung – in großem Stil – in das Ölgeschäft einsteigen solle, um die Energiekrise abzuwenden. Stevenson forderte laut Time die Schaffung eines nationalen Energieversorgungsunternehmens, das sich „nach und nach allem widmen sollte, was es braucht, um die Vorkommen von Öl und Naturgas zu entdecken, erschließen und fördern“. Das staatliche Unternehmen sollte sowohl als Mitbewerber für private Ölgesellschaften als auch der Öffentlichkeit als „Messlatte“ dienen, die eine „realistische Einschätzung der Preise, Profite und Leistungsfähigkeit“ der Konkurrenten ermöglich sollte.13 Jackson hatte gar noch ehrgeizigere Ziele. Er schlug die Schaffung einer nationalen Energieproduktionsbehörde vor. Deren Aufgabe sollte es sein, „die Erschließungs- und Produktionsbemühungen sämtlicher amerikanischer Ölgesellschaften zu organisieren und zu beschleunigen.“ Jacksons Idee war „eine Energiesuperbehörde, die Prioritäten setzen, große Aufträge erteilen und neue Firmen für Sonderaufgaben gründen würde.“ Jackson und Stevenson galten im Übrigen als gestandene Liberale und nicht als extrem linke Demokraten. Mit anderen Worten, keiner wurde 1975 so eingeschätzt wie heute der Kongressabgeordnete Dennis Kucinich oder Senator Bernhard Sanders.14 Keine 20 Jahre nach Stevensons und Jacksons Vorschlägen erlebte die Welt den Fall der Berliner Mauer und den Zusammenbruch der Sowjetunion – und den zwar langsameren aber auch vollständigen Zusammenbruch der intellektuellen Respektabilität des Sozialismus. „Der sozialistische Wirtschaftsplan, der im Wesentlichen zentrale Planung und überwiegend Staatseigentum vorsieht, ist als Instrument des Wirtschaftswachstums vollkommen diskreditiert“, belehrte Paul Starr seine liberalen Mitstreiter 1991 im American Prospect. „Inzwischen gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass der Kommunismus die unter ihm lebenden Menschen in Armut gestürzt hat, und es ist unklar, wie ein demokratisch geplantes sozialistisches Wirtschaftssystem es viel besser machen könnte – sollte es überhaupt machbar sein.“ Sogar in Westeuropa wurde „die Idee einer Planwirtschaft aufgegeben und begrenztes Planen den Konturen des Kapitalismus weitgehend angepasst. Obwohl die europäischen Sozialdemokraten marxistische Vorfahren im Stammbaum haben, sind sie nicht nur dem Marxismus, sondern auch dem Sozialismus inzwischen entwachsen.“15 In der 1998 erschienenen und in New York spielenden Novelle Starting Out in the Evening von Brian Morton gesteht einer der Protagonisten seiner Freundin, dass er sich immer noch als Sozialist verstehe. Auf ihr Drängen, ihr zu sagen, was es damit auf sich habe, antwortet er: „Ein Sozialist ist jemand, der da-

13

A Federal Oil Firm (1975). A Federal Oil Firm (1975). 15 Starr (1991). 14

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sitzt und darüber nachdenkt, ob es überhaupt etwas bedeutet, sich einen Sozialisten zu nennen.“16 Die post-sozialistische Linke wird sich nie der Auffassung der Handelskammer anschließen, wonach der Kapitalismus das beste aller denkbaren Systeme ist. Gleichwohl mussten Liberale wie Sozialdemokraten, wenn auch mürrisch, sich eingestehen, dass es das beste System ist, das es derzeit gibt. 1998 sprach Richard Rorty die Hoffnung aus, dass „kumulativ schrittweise Sozialreformen … eines Tages eine momentan unvorstellbare Nicht-Marktwirtschaft hervorbringen könnten.“ Gleichwohl verhöhnte er jene linken Vorstellungen, „einfach auf den Zusammenbruch des Kapitalismus zu warten, statt zu überlegen, was anstelle des Marktes Preise festlegen und Verteilungen lenken könnte. Die wählende Bevölkerung, also diejenigen, die man gewinnen muss, soll die Linke ihren Weg von den Hochschulen in die Mitte des öffentlichen Interesses finden, will schlauerweise die Details genau wissen. Sie will wissen, wie alles laufen soll, wenn wir alle Märkte abgeschafft haben.“17 Rortys Hoffnung war auch die der Liberalen, seit es nicht mehr möglich war, die Sowjetunion zu bewundern: Es muss doch irgendeine Alternative zum Kapitalismus geben, bei der die Wirtschaft nicht von Staatsbürokraten gelenkt wird. Starr meint, man solle diese Hoffnung in aller Stille zu Grabe tragen, und drängt die Liberalen, „die Idee einer großen Synthese oder eines dritten Weges aufzugeben, wenn mit dieser Idee ein Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus oder eine über beide hinausgehende Alternative gemeint ist.“18 Joseph Heath und Andrew Potter, die sich ebenfalls als Vertreter der Linken sehen, schreiben in ihrem Buch A Nation of Rebels, dass der dritte Weg so schwer festzulegen sei, weil er eine logische Unmöglichkeit darstelle: „Das Ausmaß an intellektueller Energie, das im letzten Jahrhundert der Suche nach einer Alternative zum Markt gewidmet wurde, ist unglaublich. Aber ganz egal, wie man die Zahlen auch dreht und wendet, sie laufen immer aus dasselbe hinaus. Es gibt im Wesentlichen zwei Arten, eine moderne Wirtschaft zu organisieren; entweder als ein System zentralisierter bürokratischer Produktion (so wie es in der früheren Sowjetunion der Fall war) oder als ein dezentrales System, in dem die Produzenten ihre Anstrengungen durch Tauschhandlungen am Markt koordinieren. … Zentrale Planung funktioniert gut im Militär oder in anderen Organisationen, in denen die Mitglieder gerne mit einer standardisierten Zuteilung an Kleidung, Lebensmittelrationen oder Wohnungen und die ihnen zugewiesenen Arbeiten leben. Aber in einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne aus allen möglichen Lebensformen seine eigene selbst auswählen will, kommt man um einen Markt nicht herum.“19

Preise, die der Markt festlegt, enthalten Informationen. Sie enthalten Informationen über die „Nachfrage“ – wie sehr und intensiv all die angebotenen Güter und 16

Morton (1998), S. 313. Rorty (1998), S. 103 ff. 18 Starr (1991). 19 Heath / Potter (2004), S. 325 f. 17

Die erfreuliche Entdeckung der Gesamtnachfrage

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Dienstleistungen begehrt sind. Und sie enthalten Informationen über das „Angebot“ – wie schwer und beschwerlich es ist, die jeweiligen Güter und Dienstleistungen auf dem Markt anzubieten. Diese Eigenschaften sind keine festgelegten oder metaphysischen Merkmale, die den einzelnen Gütern oder Dienstleistungen innewohnen, sondern Anzeichen von Knappheit, Geschmack, technologischem Fortschritt. Sie alle sind ständig im Wandel. Und dieser Wandel spiegelt sich in den dauernd sich ändernden Preisen. Der Versuch, die Gesellschaft zu organisieren, indem man das in den Preisen enthaltene Wissen ignoriert oder unterdrückt, sorgt dafür, dass die ökonomischen Aktivitäten systematisch von Fehlinformationen gelenkt werden und die Wirtschaft weniger produktiv und dynamisch ist, als sie sein könnte. Cass Sunstein lobt den von Konservativen verehrten Friedrich August von Hayek für dessen bahnbrechende Erkenntnis, dass „kein Planer über die Informationen verfügen kann, die in kleinen ‚Bruchstücken‘ über die Individuen der Gesellschaft ‚verstreut‘“ sind. Folglich ist „das Wissen der Individuen als Ganzes gesehen viel größer als das irgendeiner Behörde oder Kommission, so fleißig und fähig diese auch sein mögen. Der Zauber, der dem System der Preise und Märkte innewohnt, ist der, dass es einen großen Teil an verstreutem Wissen in sich trägt.“20

Die erfreuliche Entdeckung der Gesamtnachfrage Der sozialistische Traum von einer organisierten Wirtschaft zum Zwecke einer staatlich gelenkten und bemessenen sozialen Wohlfahrt scheint dazu bestimmt zu sein, eine von den politischen und wirtschaftlichen Nöten der Welt losgelöste Vorstellung zu bleiben. Es mag befremdlich erscheinen, aber infolge des Zusammenbruchs des Sozialismus und angesichts einer fehlenden glaubwürdigen Alternative zum Markt ist der Wohlfahrtsstaat in hohem Maße von einem gesunden Kapitalismus abhängig. Der Staat kann keinen Wohlstand verteilen, der nie erschaffen wird. Die Schöpfung von Wohlstand setzt jedoch moderne, prosperierende Gesellschaften voraus. Und diese sind ohne das Wissen, das die Preise im Markt mit sich führen, offenbar nicht möglich. Das Problem besteht also darin, die Marktwirtschaft zu ändern und ihr Wohlstand zu entziehen, ohne dem Kapitalismus die Fähigkeit zu rauben, weiterhin Wohlstand zu schöpfen. Der New Deal war von diesem Problem nicht betroffen, weil zu seiner Zeit dem Kapitalismus gemeinhin unterstellt wurde, sich selbst geschädigt und seiner Glaubwürdigkeit beraubt zu haben. Alan Brinkley schildert in The End of the Reform mit einer gewissen Schwermut, wie der Aufstieg des Keynesianismus in den späten 1930er Jahren den anfänglichen Glauben des New Deal ins Wanken brachte, wonach „das größte Problem der Nation in der Struktur des modernen Industriekapitalismus wurzelte und es Aufgabe des Staates war, dieses Manko in 20

Sunstein (2007), S. A19.

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der Struktur zu beheben.“ So schrieb z. B. Freda Kirchwey 1940 in The Nation, dass „die kollektive Herrschaft für die Aufrechterhaltung der Industriemaschinerie notwendig“ war. Deshalb musste der New Deal „enorm ausgeweitet werden. Die kollektive Herrschaft über natürliche Ressourcen, die Bahnstrecken und über andere Monopole muss als offensichtlicher erster Schritt in Richtung industrieller Planung akzeptiert werden.“ (Es passt zu dem allgemeinen Bild, das wir vom Liberalismus gewonnen haben, dass „erste Schritte“ zu den üblichen rhetorischen Floskeln gehören. Diskussionen über „letzte Schritte“ zur Beendigung des Projektes findet man indes nirgends.)21 Brinkley schreibt jedoch, dass der Liberalismus gegen Ende des 2. Weltkriegs seine Aufgabe „weniger in der Verpflichtung zur Umstrukturierung der Wirtschaft erblickte als im Bemühen, dieselbe zu stabilisieren und wachsen zu lassen. Ihnen ging es nicht länger darum, ‚Plutokraten‘ und ‚Wirtschaftsbarone‘ zu kontrollieren oder zu bestrafen, – ein Anliegen, das Mitte der 1930er Jahre noch im Zentrum der New Deal-Rhetorik stand. Stattdessen sprachen sie von ihrer Verpflichtung, für eine saubere Umwelt zu sorgen, in der die Geschäftswelt florieren und die Wirtschaft dauerhaft für ‚Vollbeschäftigung‘ sorgen könne“. Brinkley stellt klar, dass der Keynesianismus seinen politischen Aufstieg dem Ausfüllen eines Vakuums verdankt. Ungeachtet der vielen Jahre energischen Improvisierens haben die New Dealer – bestrebt, mit den strukturellen Mängeln des Kapitalismus „irgendwie fertig zu werden“ – nicht einen einzigen dieser Defekte ausmachen können, geschweige denn das lästige aber entscheidende „irgendwie“ klären können.22 Weithin erwartete man gegen Ende des 2. Weltkriegs, dass die Rückkehr von Millionen Soldaten in die bürgerliche Arbeitswelt eine neue Depression auslösen würde. Jene Liberalen, welche als Antwort auf den Abschwung den nächsten New Deal schon von Grund auf vorbereitet hatten, waren ganz perplex, als die Wirtschaft nicht strauchelte, sondern wuchs. Ihre Botschaft haben sie flugs neu kalibriert und den überraschenden Nachkriegsboom dem aufgeklärten Umgang mit den keynesianischen Werkzeugen zur Zähmung des Wirtschaftskreislaufs zugeschrieben. Bis zu einem gewissen Grad war das eine plausible Behauptung. Sie ignoriert aber den beispiellosen Wirtschaftsvorteil, den Amerika besaß, weil es von den Kriegsschäden, denen die anderen Industrienationen ausgesetzt waren, verschont geblieben war. In den späten 1940er Jahren produzierten die USA mit ihrem 7 %igen Anteil an der Weltbevölkerung weltweit 43 % des Stroms, 57 % des Stahls und 80 % der Automobile.23 Das hielt Arthur Schlesinger nicht davon ab, dem Liberalismus den überraschenden Wohlstand zuzuschreiben und sich über die undankbaren Wähler, die 1952 Dwight Eisenhower Adlai Stevenson vorgezogen haben, lustig zu machen: „Nachdem die demokratische Regierung ihnen ermöglicht hatte, wie die

21

Brinkley (1995), S. 5; Kirchwey (1940), zitiert nach Brinkley (1995), S. 290. Brinkley (1995), S. 6 f. 23 Patterson (1996), S. 61. 22

Die erfreuliche Entdeckung der Gesamtnachfrage

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Republikaner zu leben, haben die Menschen in den Vorstädten schließlich auch wie Republikaner gewählt.“24 Ein fehlender Plan und ein abhanden gekommener Wille, den Kapitalismus umzustrukturieren, haben den Liberalismus nicht von der Ausdehnung des Staates abbringen können. Unter dem Einfluss der Gesellschaft im Überfluss haben viele Liberale argumentiert, dass eine permanent wachsende Wirtschaft dem Staat eine permanent wachsende „Fiskaldividende“ einbringe, mit der man einen permanent wachsenden Wohlfahrtsstaat problemlos ausstatten könne. Nicht nur ausstatten, sondern auch verlangen. Die freudige Entdeckung der Liberalen, die den Grundkurs Keynesianismus belegt hatten, war, dass stets wachsende Staatsausgaben für die Handhabung der Gesamtnachfrage entscheidend sind, was wiederum für die Fortsetzung des Wohlstands entscheidend ist. So hieß es z. B. 1961 im New Republic: „Die beste aller ökonomischen Welten (schnelles Wachstum, Vollbeschäftigung, stabile Preise, aktive Zahlungsbilanz, mehr Investment, keine Rezessionen, höherer Lebensstandard) erreicht man, indem der Staat so viel Geld wie möglich ausgibt und man sicherstellt, dass die Ausgaben jedes Jahr rasch steigen. … [E]in hohes Maß an Staatsausgaben, ganz egal wohin das Geld fließt, sichert eine hohe Nachfrage. Und ein hohes Nachfrageniveau ist das Sesam-öffne-Dich für alles.“25 Folgt man Daniel Patrick Moynihan, dann wurde der Armut u. a. deshalb der Krieg angesagt, weil 1965 viele Berater von Präsident Johnson glaubten, dass die Möglichkeit einer neuen Rezession von der Regierung verlangen würde, neue Kaufkraft in die Wirtschaft zu pumpen.26 So viel Geld wie möglich auszugeben, entsprach allerdings nur zur Hälfte der Keynesschen Theorie. Makroökonomische Politik sollte antizyklisch wirken. Ausgeben wie wild war eine gute Idee, wenn die Wirtschaft auf eine Rezession zusteuerte, aber vollkommen das Falsche, wenn ein Aufschwung eine Inflation anzuzetteln drohte. Die andere Phase des Wirtschaftskreislaufs, die Expansionsphase, musste durch höhere Steuern und weniger Staatsausgaben gebremst werden. Der Aschermittwoch in Keynes Glauben war bei der wählenden Bevölkerung nie so beliebt wie der Faschingsdienstag und hatte nicht zufällig keinerlei Befürworter unter den liberalen Politikern und Publizisten. Der liberale Grundsatz zu den Staatsausgaben, der aus der Verschmelzung dieser unterschiedlichen Überlegungen hervorging, hatte etwas von der Idee „Kopf, ich gewinne, Zahl, Du verlierst“. Ist die Wirtschaft schwach, dann ist es an der Regierung, so viel Geld wie möglich auszugeben. Macht man das, dann wird nicht nur die Prosperität durch die Stimulierung der Gesamtnachfrage wiederhergestellt, sondern es werden auch das Elend und die ökonomische Unsicherheit, die mit dem 24

Schlesinger (1953), S. 32. Dale (1961), S. 9 f. Kursivdruck im Original. 26 Moynihan (1969), S. 28 f. 25

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wirtschaftlichen Abschwung einhergehen, geschmälert. Ist die Wirtschaft stark, dann … ja dann ist es ohnehin an der Regierung, so viel wie möglich auszugeben. Das ergibt sich – um mit Galbraith zu sprechen – aus der Notwendigkeit, das Ungleichgewicht zwischen privatem Prunk und öffentlichem Elend abzuschaffen. Mithilfe all diesen Reichtums können wir es uns leisten, jedwedes zu probieren und alles auszukosten. Die genauen ökonomischen Bedingungen, die eine Reduzierung oder nur eine Einfrierung der Ausgaben erforderlich machen, bleiben dabei unspezifiziert, trotz der heroischen Anstrengung der Liberalen, dieselben zu ermitteln. Egal, wie viele Menschen über einen guten Arbeitsplatz und ein steigendes Einkommen verfügen, der Staat steht immer in der Pflicht, seine Wohlfahrtsleistungen auszubauen. 2005 schrieb Jonathan Cohn in The New Republic über die Zustände im Land, sie machten es „zwingend erforderlich, dass der Staat viel mehr Geld ausgibt, als er es zurzeit tut.“ Seine Behauptung wäre überzeugender, wenn die Herausgeber des The New Republic in dessen hundert Jahren publizistischen Wirkens – in denen es Rezessionen und Aufschwünge, Krieg und Frieden gab – zumindest einmal Zustände ausgemacht hätten, die es nach ihrer Überzeugung nicht zwingend erforderlich machen, dass der Staat viel mehr Geld ausgibt, als er es zurzeit tut.27

Die neue Politik und der Neoliberalismus Die Zwischenwahlen von 1966 markieren den Beginn von Ronald Reagans Karriere und das Ende der Karriere von Pat Brown. Reagan gewann damals mit 58 % der Stimmen gegen den von den Demokraten gestellten Gouverneur, der eine dritte Amtszeit angestrebt hatte. Außerdem gewannen die Republikaner mehr Sitze im Repräsentantenhaus zurück, als sie 1964 verloren hatten. Folgt man Michael Barone, dann fehlte im „neuen Haus eine klare Mehrheit für Maßnahmen im Sinne der Great Society.“28 Die Wahl war das erste Anzeichen für den schnellsten politischen Abstieg seit jenem der Republikaner in den 1930er Jahren. 1964 erhielt der demokratische Präsidentschaftskandidat 64 % der Wählerstimmen und 90 % der Wahlmännerstimmen. 1972 waren es 37 % bzw. 3 %. In jenen Jahren war der Liberalismus von vielen Krisen heimgesucht worden. Der Vietnamkrieg hatte heiße Debatten entfacht. Sollten die Liberalen die unter Truman eingeführte Eindämmungsdoktrin29 weiterverfolgen und, wenn ja, wie? Krawalle in den Elendsvierteln und an den Universitäten ließen fragen, wo die Fürsorglichkeit der Liberalen für schwarze Nationalisten und jugendliche Revolutionäre zu enden hat oder ob sie überhaupt irgendwo endet.

27

Cohn (2005), S. 6. Barone (1990), S. 414. 29 Politik zur weltweiten Eindämmung des Kommunismus, d. Hrsg. 28

Die neue Politik und der Neoliberalismus

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Bei der Frage nach dem rechten Verhältnis zwischen Kapitalismus und Wohlfahrtsstaat waren die Liberalen hin- und hergerissen. Einige Vertreter dessen, was man die Neue Politik nannte, glaubten, dass der New Deal bei der Umstrukturierung des amerikanischen Kapitalismus zum Wohle der sozialen Gerechtigkeit nicht weit genug gegangen sei. Andere, wie die Neoliberalen, glaubten, dass der New Deal in seinem Vertrauen auf staatliche Programme zu weit gegangen sei. Keine der beiden Gruppen führte zu einer bleibenden Veränderung, Sie konnten weder einen intellektuellen noch einen politischen Erfolg davontragen. Die Agenda der Neuen Politik blieb undurchsichtig und ihre Strategie zur Bildung einer Anhängerschaft, die eine politische Führerschaft erringen sollte, war nur vages Wunschdenken. Die Neoliberalen ergaben mehr Sinn, konnten sich aber gegen die Konservativen nicht durchsetzen. Diese waren gegenüber einem aktiven Staat skeptischer als die Neoliberalen bzw. konvertierten „Paläoliberalen“, die kein Interesse an einer Beschneidung des Wohlfahrtsstaats hatten. Arthur Schlesinger beschrieb sich in seinen 2000 verfassten Memoiren als einen unverbesserlichen und reuelosen New Dealer, eine Beschreibung, die auf den dominierenden Trend der Reagan-Gingrich-Ära gemünzt war.30 1978 jedoch, als Ted Kennedys Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 1980 noch genauso wahrscheinlich war wie der Reagans, öffnete sich Schlesinger der Kritik der Neuen Politik am New Deal. „Bei all seinen Fehlern hat sich der Liberalismus dennoch gegen die unbeweglichen und undurchdringlichen Institutionen gestemmt“, schrieb er in seiner Biographie über Robert Kennedy. „Dennoch versagte der Liberalismus bei der Zerschlagung der Strukturen. Und deren unverwechselbaren Institutionen trieben die Armen und Demoralisierten dazu, sich eine eigene Organisation zu geben. … Die Schöpfungen des alten Liberalismus – Wohlfahrt, staatlicher Wohnungsbau, Agrarpreisstabilisierungen – erstarrten eine nach der anderen auf unterschiedliche Weisen zu Requisiten der bestehenden Ordnung.“31 Die Kämpen des alten Liberalismus dachten, Amerika hätte Probleme, die gelöst werden müssten. Und sie waren zuversichtlich, dass jene gut ausgebildeten, gemeinwohlorientierten jungen Männer, die 1933 und 1961 in Washington zusammenfanden, dieselben lösen konnten. Die Befürworter der Neuen Politik dachten, Amerika hätte Sünden, für die es büßen müsste. Die Last dieser Sünden, die Leidenden, gegen die gesündigt worden war, und die Leere der Leben jener, die von den Sünden profitierten: all das hieß, dass die arrogante Selbstzufriedenheit der alten Liberalen einer fieberhaften Moraloffensive weichen musste. Was es heißen sollte, „die Strukturen zu zerschlagen“ oder die Requisiten der „bestehenden Ordnung“ wegzuräumen, wurde nie gesagt, aber dieses kleine Versäumnis gehört nicht zu jener Sorte Details, die einer großartigen Schimpftirade etwas anhaben könnten. Schlesinger zitiert unkritisch, was Robert Kennedy 1967 vor jungen Studenten ge 30 31

Schlesinger (2000), S. 124. Schlesinger (2002), S. 803 f.

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sagt hatte: „Versteht Ihr denn nicht, dass das, was wir den Vietnamesen antun, kaum etwas anderes ist als das, was Hitler den Juden angetan hat?“32 Schlesinger war ein aktiver Fürsprecher George McGoverns in dessen Präsidentschaftswahlkampf 1972. McGoverns Demokraten standen damals an der Weggabelung zwischen dem alten Liberalismus und der Neuen Politik – und nahmen die Abzweigung. In jenem Jahr wurden auf dem Parteitag der Demokraten allerlei Plattitüden über persönliche Erfüllung und partizipatorische Demokratie losgetreten und jeder Interessengruppe, die man unter den Hut der Partei bringen konnte, teure Versprechungen gemacht. Damals schrieb Tom Geoghegan, die Demokraten seien zwischen zwei Welten geraten. In der einen soll die „Politik dem ganzen Menschen in seiner Hilflosigkeit dienen. In der anderen hält eine gesichtslose Bürokratie jeden schadlos, der alleine oder in der Gruppe nur laut genug schreien kann.“ Kurz: „Der Staat hat versagt. Also gebt uns mehr Staat.“33 Einige Veteranen des McGovern-Kampagne schlossen daraus, dass die Niederlage nichts Ungewöhnliches war: Es war unwahrscheinlich, dass die Wähler jemals der dramatischen Ausweitung der staatlichen Befugnisse bezüglich der Einkommensumverteilung und Wirtschaftsregulierung durch jene Liberale zustimmen würden, die, wie es Schlesinger 1968 tat, die Amerikaner „das schrecklichste Volk auf diesem Planeten“, nannten.34 Von nun an dachte man recht skeptisch über das alte liberale Gebot, mehr Staat zu fordern. Gary Hart, der McGoverns Wahlkampf managte und in Colorado in den Senat gewählt wurde, machte gleich deutlich, dass die Demokraten von 1974 keine „Bande aus kleinen Hubert Humphreys“ wären. Später erklärte er, er habe damit gemeint, dass sie „nicht automatisch Regulierer, Gründer neuer Behörden und Befürworter höherer Steuern und Ausgaben“ gewesen wären.35 Dem politischen Impuls folgte bald ein Name, Neoliberalismus, und ein Monatsmagazin, The Washington Monthly. Der Herausgeber, Charles Peters, beklagte in Ein Manifest der Neoliberalen „mangelnde Selbstkritik unter den Liberalen.“ Die Neoliberalen, so schrieb er in seinem 1983 erschienenen Artikel, „sind nicht automatisch für die Gewerkschaften und einen umfangreichen Staat oder gegen das Militär und große Unternehmen.“ Sondern: „Unser Held ist der risikobereite Unternehmer, der neue Arbeitsplätze und bessere Produkte schafft.“ Die Neoliberalen sind „gegen eine fette, schlampige und satte Bürokratie. Wir wollen einen Staat, der Leute feuern kann, die ihre Arbeit nicht erledigen können oder wollen.“ Peters forderte Zweckmäßigkeitstest für alle staatlichen Transferprogramme, einschließlich jener für Kriegsversehrtenbezüge und soziale Sicherheit. „Der Snobbismus, der dem Liberalismus am abträglichsten ist, ist die Missachtung liberaler Intellektueller für religiöse, patriotische und familiäre Werte.“36 32

Schlesinger (2002), S. 824. Geoghegan (1972), S. 16 ff. 34 Burnham (1968). 35 Schneider (1989), S. 35. 36 Peters (1983), S. 9–18. 33

Die Besteuerung der Reichen

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Arthur Schlesinger schrieb umgehend eine Buchbesprechung, in der er seine Verachtung für die neoliberalen Häretiker zum Ausdruck brachte. Er gestand ihnen zu, nützliche Anregungen zu geben. Dennoch, der „Neoliberalismus war von Anfang an eine Lachnummer, deren ‚anti-staatliche Ausrichtung‘ ein Zugeständnis an den modischen Geschmack und ein Schrei nach Aufmerksamkeit war.“ Er rief alle Liberalen dazu auf, den einzig wahren „aktiven Staat“ wiederzuentdecken und „den neoliberalen Unsinn zu beenden.“37

Die Besteuerung der Reichen Der neoliberale Unsinn endete tatsächlich binnen weniger Jahre. Der Liberalismus erwies sich als ungeeignet für interne Bestrebungen, mehr Skepsis gegenüber der Ausweitung alter staatlicher Programme und der Hinzufügung neuer Programme als Korrektive gegen die Unzulänglichkeiten des Kapitalismus zu entwickeln. Das Scheitern dieses zarten Versuchs, ein Begrenzungsprinzip in den Liberalismus zu integrieren, lässt die Finanzierung eines unbegrenzten Wohlfahrtsstaats noch fragwürdiger erscheinen. Die Zusicherungen, dass der Wohlfahrtsstaat sich selbst bezahlt mache, rissen nicht ab. Die erste Rückzugslinie der Liberalen bildete die Zusicherung an die Wähler, dass die Finanzierung, sofern und insoweit sie überhaupt ein Problem sein sollte, ein Problem für andere wäre, die weitaus reicher sind. Ein Beispiel: 2006 warb der Filmregisseur Rob Reiner in Kalifornien für ein Gesetz, das jedem 4-jährigen Kalifornier einen Kindergartenplatz garantierte. Der Vorschlag ging mit einer Revidierung des Höchststeuersatzes einher – 11 % statt 9,3 % –, die Verheiratete mit einem Jahreseinkommen von mehr als $ 800.000 und Alleinstehende mit einem Jahreseinkommen von mehr als $ 400.000 betraf. Die zusätzlichen $ 2,4 Milliarden Steuern wären in das Vorschulprogramm geflossen. Reiner gab sich vor der Wahl optimistisch. „Die amerikanische Öffentlichkeit hat kein Problem mit höheren Steuern, wenn es für etwas Gutes ist“, sagte er dem Kolumnisten E. J. Dionne, der Reiners Initiative in der Hoffnung unterstützte, dass „Kalifornien, das die Steuerrevolte in den späten 1970er Jahren lostrat, ein neues Zeitalter einläuten könnte, indem es öffentliche Investitionen für wirklich wichtige Dinge tätigt.“38 Nachdem Proposition 82 abgeschmettert wurde (nur 39 % der Kalifornier stimmten dafür), musste Dionne einräumen, dass immer noch „eine tiefe Skepsis gegen Staatsausgaben vorhanden sei, auch wenn diese für einen guten Zweck seien. … Angriffe auf Steuern und Ausgaben mögen alt und ausgelutscht klingen, aber sie haben immer noch Biss.“ In einem weitaus versöhnlicheren Ton, als ihn andere liberale Publizisten anschlagen, meinte Dionne, „die Steuerzahler sind nicht allein 37 38

Schlesinger (1983), S. 28 ff. Dionne (2006a), S. A17.

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schon deshalb egoistisch, nur weil sie es denen schwer machen, die von ihnen gerne einen Teil ihres Geldes hätten.“39 Das Scheitern solcher Maßnahmen wie Proposition 82 ist für Liberale sehr enttäuschend, zumal die politische Arithmetik auf dem Papier so vielversprechend aussieht: Wenn man die Steuererhöhung auf die wohlhabendsten 2 % der Bevölkerung beschränkt, um den anderen 98 % wertvolle Geschenke zukommen zu lassen, dann macht das unterm Strich 49 Menschen glücklich und nur einen böse. Das klingt nach einer guten Formel, um eine Wahl zu gewinnen. Steuererhöhungen an einen großen Teil der davon nicht betroffenen Wählerschaft zu verkaufen oder die Wohlfahrtsausgaben so weit zu drosseln, bis die Steuern auf einem Niveau, das den Amerikanern gefällt: die Liberalen haben sich auf diesen Ansatz eingeschossen und ziehen ihn allen Alternativen vor, auch wenn er das politische Problem der Finanzierung des Wohlfahrtsstaats nicht lösen kann. So sagte z. B. Hillary Clinton 2008 im Vorfeld der Vorwahl in Pennsylvania: „Ich bin fest entschlossen, die Steuern für die Mittelschicht nicht zu heben. Keine höheren Steuern für Amerikaner, die weniger als $ 250.000 im Jahr verdienen.“40 Barack Obamas Antwort war damals weniger kategorisch ablehnend, aber am Vorabend des Demokratischen Konvents signalisierten seine beiden Spitzenberater in einem Leitartikel des Wall Street Journal, dass der Kandidat der Demokraten sich die Clintonsche Position zu eigen gemacht habe, bis auf eine Ausnahme. Gemäß Obamas Steuerplänen „würden die Steuern für Verheiratete mit einem Jahreseinkommen bis $ 250.000, bzw. für Alleinstehende mit einem jährlichen Einkommen bis $ 200.000, nicht steigen; weder die Einkommensteuer, Kapitalertragssteuer, Dividendensteuer noch die Lohnsteuer.“41 Ezra Klein vom American Prospect hat die darin liegende Schwierigkeiten mit sehr feinfühligen Worten beschrieben. „Wenn jeder unter der 95 %-Marke unantastbar ist – also jeder, der zur Mittelschicht gehört –, dann gerät die Debatte im Hinblick auf die Umverteilung in eine Schieflage.“42 Gemäß der Daten des Statistikamtes haben Clinton und Obama jeden, der unter der 98 %-Marke liegt, unantastbar werden lassen, weil 2007 nur 1,92 % aller amerikanischen Haushalte ein Einkommen von über $ 250.000 zur Verfügung hatten. (Der Anteil aller Haushalte mit mehr als $ 200.000 betrug 3,64 %.)43

39

Dionne (2006b), S. A23. Democratic Presidential Candidates Debate (2008). 41 Furman / Goolsbee (2008). 42 Klein (2008). 43 Tabelle HINC-06: Income Distribution to $ 250,000 or More for Households, 2007; U. S. Census Bureau, Current Population Survey, 2008, http://www.census.gov/hhes/www/ macro/032008/hhinc/new06_000.htm. 40

Finanzielle Harmonie

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Finanzielle Harmonie Einen offensichtlichen Ausweg aus der Schieflage der Debatte gibt es nicht. Die Liberalen müssen dort jagen, wo es Enten gibt. Ihr Problem ist, dass sie nach beidem jagen: Wählerstimmen und Steuereinnahmen. Gemäß ihrer Wählerstrategie brauchen sie die Stimmen und Wahlkampfunterstützung von 30,1 % der Haushalte mit einem Jahreseinkommen zwischen $ 75.000 und $ 250.000. Diese Familien stellen aber einen merklich höheren Anteil an der Wählerschaft als 30,1 %, weil ihr Einkommen und ihr Wahlverhalten sehr positiv korrelieren. Den Wohlfahrtsbestrebungen der Liberalen kann man aber nicht allein dadurch gerecht werden, dass man die Reichen entreichert. Um einen spürbaren Teil der liberalen Agenda in Gesetze zu gießen, muss man auch den Wohlhabenden etwas Wohlstand nehmen. Die Liberalen befürchten aber, dass die Wähler der Mittelschicht sie am Wahltag zum Teufel jagen werden, wenn sie ihnen Steuererhöhungen aufbrummen. Das Dilemma ist nicht neu. Bertrand Jouvenel stellt in seiner Ethics of Redistribution – ein Buch das, 1952 erschienen, auf Vorträgen aus dem Jahre 1949 basiert – fest, dass die amerikanischen wie auch die europäischen Linken davon überzeugt sind, „dass unsere Gesellschaften sehr reich sind und die Reichtümer nur schlecht verteilt. …“ Der Staat müsse offensichtlich nur noch „Kaviar in Brot“ verwandeln. Hohe Steuern für einen kleinen Teil sehr reicher Leute nehmen diesen ihren Luxus und versetzen den Staat in die Lage, einen großen Teil der Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen.44 Nach Jouvenel ist die Einkommensverteilung in den modernen Gesellschaften im mittleren Bereich gravierender als an der Spitze. Demzufolge bleiben die Einnahmen durch eine hohe Besteuerung der Reichen hinter den Erwartungen zurück und können nur einen Teil der liberalen Ambitionen finanzieren. Jouvenel erläutert dies anhand eines Gedankenexperimentes. Nehmen wir an, dass Einkommen ab einer bestimmten Grenze zu 100 % besteuert werden und dieses Geld in ein einfaches Umverteilungsprogramm fließt. Die Erträge werden an Haushalte verteilt, die unter einem bestimmten Grundeinkommen liegen. „Finanzielle Harmonie“ zwischen Spitzen- und Grundeinkommen besteht demnach dann, wenn das von den Haushalten jenseits der Spitzeneinkommen eingesammelte Geld ausreicht, um die Haushalte mit niedrigen Einkommen durch Umverteilung an das gewünschte Grundeinkommen heranzuführen. Im richtigen Leben führt eine 100 %ige Steuer natürlich dazu, dass der Staat keinerlei Einnahmen haben wird, weil die Menschen ihr Einkommen umleiten oder verstecken, statt mühsam Geld zu verdienen, das sie direkt an den Steuereintreiber abführen müssen. Das ist die einzige Aussage der Anbieterökonomie, über die es keinen Disput gibt. Aus alledem folgt auch, dass der Staat, sofern er die Lücke zwischen dem Einkommen aller armen Familien und dem Grundeinkommen 44

Jouvenel (1989), S. 24, 28.

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schließen will, auch diesen Menschen eine 100 %ige Steuerrate aufzwingen muss. Jeder Dollar, den der Staat einnimmt, reduziert den Kompensationszuschuss um einen Dollar. Viele werden diesem starken Anreiz zur Arbeitsniederlegung folgen oder ihr Einkommen umlenken bzw. verstecken. Das wiederum wird die Summe der Mittel, die es braucht, jedem Haushalt das Minimum zu geben, erheblich ansteigen lassen. Anders ausgedrückt: In dem Moment, in dem ein Umverteilungsprogramm in Kraft tritt, endet die finanzielle Harmonie zwischen dem Spitzen- und dem Grundeinkommen. Da es Jouvenel allein um die Einkommensverteilung geht und nicht um vertretbare Steuern und Wohlfahrtspolitik, lässt er diese praktischen Überlegungen bei seinem Gedankenexperiment außen vor. Jouvenels Analyse der Einkommensverteilung im Vereinigten Königreich im Jahre 1948 führte ihn zu dem Ergebnis, dass „jene Mehrwerte, die wir ohne zu zögern an uns reißen – immer in der Annahme, dass die Produktion davon unberührt bleibe – bei weitem nicht geeignet sind, um unsere Einkommen auf das gewünschte Niveau zu heben.“ Private Yachten und Jets zu konfiszieren und liquidieren würde bei der Linderung der Armut kaum nutzen. Ein Grundeinkommen, das aus Sicht der Umverteilungseifrigen einem angemessenen Lebensstandard entspricht, erfordert von einer weitaus größeren Personengruppe erhebliche Beiträge, wobei die meisten von diesen darüber erstaunt sein werden, dass sie offiziell als reich gelten. „Der Manager, der Beamte, der Ingenieur, der Intellektuelle, der Künstler: alle werden zur Kasse gebeten“, so Jouvenel. „Ist das wünschenswert? Ist das richtig?“ 45 Schaut man sich die Daten des Statistikamtes genauer an, dann ist Amerikas Umverteilung innerhalb der Mittelschicht offenbar nach wie vor beträchtlich. 2007 ging es einem Haushalt mit einem Einkommen von $ 250.000 besser als 98,08 % aller anderen Haushalte, mit $ 200.000 stand man besser als die übrigen 96,4 % dar, und mit $ 150.000 hatte man mehr als 92 % aller Amerikaner. Haushalte, die über $ 100.000 verfügten, gehörten zum wohlhabenden oberen Fünftel, d. h., 79,8 % aller Amerikaner hatten weniger.46 Man sollte wohl erwähnen, dass die Einkommensstatistiken des Haushaltsbüros des Kongresses (CBO47) wahrscheinlich präziser sind als die des Statistikamtes, für unsere Zwecke aber auch schwerer nutzbar. Das CBO benutzt für seine Analysen Einkommensteuerrückzahlungen, und nicht Umfrageerhebungen, wie es das Statistikamt tut. Das CBO kommt in der Regel bei den reichsten Haushalten auf höhere Beträge. Außerdem verwendet es einen weiteren Begriff von Einkommen. Dieser umfasst auch den Gegenwert von Medicare, Medicaid, Krankenkassenzuschüsse des Arbeitgebers, Kapitalerträge von Vermögenswerten, Arbeitgeberanteile an der Lohnsteuer und an Körperschaftssteuern. 45

Jouvenel (1989), S. 28 f. Die Prozentangaben ergeben sich nach U. S. Census Bureau, Current Population Survey, 2008 Annual Social and Economic Supplement; Table HINC-06: Income Distribution to $ 250,000 or More for Households, 2007, http://pubdb3.census.gov/macro/032008/hhinc/new06_000.htm. 47 Congressional Budget Office, d. Hrsg. 46

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Bei seiner Bemessung der oberen Einkommensquintile und den höchsten 10, 5 und 1 % der Einkommensverteilung korrigiert es nach Haushaltsgröße, indem es das Haushaltseinkommen durch die Wurzel der Anzahl der Haushaltszugehörigen teilt. D. h., dass einköpfige Haushalte mit $ 100.000 Einkommen, zweiköpfige mit $ 141.421, dreiköpfige mit $ 173.205 und vierköpfige mit $ 200.000 bei der Unterteilung in Einkommensgruppen allesamt von der CBO so behandelt werden, als hätten sie ein Einkommen von $ 100.000. Auf diese Weise schätzte das CBO, dass 2005 die wohlhabendsten 1 % aller amerikanischen Haushalte über ein Einkommen von mindestens $ 307.500 verfügten; 5 % der Spitzenverdiener mindestens $ 126.300, 10 % mehr als $ 92.400 und 20 % über $ 67.400. Mithilfe der CBODaten kann man allerdings nicht feststellen, wie viele von denen, die zur Gruppe von $ 307.500 und mehr gehören, alleine über ihr Einkommen verfügen, wie viel zu zweit über $ 434.871, oder wie viele als vierköpfige Familie jährlich auf $ 615.000 zurückgreifen können. Das heißt, für Jouvenels Gedankenexperiment sind sie nicht zu gebrauchen.48 Legt man die Daten des Statistikamtes für 2007 zugrunde und nimmt man mit Jouvenel an, dass die Zwangsbesteuerung auf alle angewendet worden wäre, deren Jahreseinkommen über $ 250.000 liegt, dann hätte der Staat $ 377 Milliarden eingenommen. Das heißt, die 2.245.000 Haushalte, die 2007 ein Mindesteinkommen von $ 250.000 haben sollten, hätten bei einem Durchschnittseinkommen von $ 418.063 insgesamt $ 939 Milliarden erwirtschaftet. Von dieser Summe reichen $ 561 Milliarden, um jedem der besagten Haushalte exakt $ 250.000 zu belassen. Abgerundet würden nach Zwangskonfiszierung aller Einkommen über $ 250.000 $ 377 Milliarden verbleiben. Wir können die gleichen Berechnungen auch für andere Einkommensgrenzen anstellen und erhalten dabei für das Jouvenelsche Gedankenexperiment noch größere fiktive Profite (unerwartete Glücksfälle). Würde man Einkommen über $ 200.00 mit 100 % besteuern, dann käme man auf $ 529 Milliarden. Bezogen auf eine Obergrenze von $ 150.000, was immerhin auf 8 % der amerikanischen Haushalte zutrifft, ergäben sich $ 841 Milliarden. Und würde man die Grenze schließlich auf $ 100.000 drücken, was die oberen 20,2 % der Einkommensverteilung beträfe, dann könnte man von diesen $ 1.588 Billionen kassieren. Ein Grundeinkommen von $ 20.000, das in etwa der von der Bundesregierung festgelegten „Armutsgrenze“ einer vierköpfigen Familie ($ 20.650) entspricht, würde einen Transfer von $ 197 Milliarden voraussetzen. Die 22.233.000 Haushalte, die 2007 mit weniger als je $ 20.000 auskamen und 19 % aller Haushalte stellten, haben ein Gesamteinkommen von $ 247 Milliarden. Damit jeder von ihnen über $ 20.000 verfügen könnte, müsste das Einkommen aller zusammen $ 445 Milliarden betragen. D. h., man bräuchte gerundet $ 195 Milliarden Transfer, um die Tassen bis zum Rand voll zu machen. 48 Congressional Budget Office (2007a). Ich danke Ed Harris von der CBO-Abteilung für Steueranalyse für die Erläuterung dieser Angaben.

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Es ist leicht zu erkennen, dass ein Grundeinkommen von $ 20.000 mit einem Höchsteinkommen von $ 250.000 ohne weiteres in eine finanzielle Harmonie zu bringen ist. Der Betrag, der sich mithilfe einer 100 %igen Besteuerung der Einkommen über $ 250.000 ergäbe, ist mehr als doppelt so groß wie jener, den wir zur Sicherstellung eines $ 20.000 Grundeinkommens benötigten. (Leider unterteilt das Statistikamt Einkommenshaushalte über $ 250.000 nicht in kleinere Kategorien. Sonst könnte man den Höchstbetrag spezifizieren, der für eine exakte Harmonie mit dem $ 20.000 Grundeinkommen benötigt wird – vermutlich ein Betrag zwischen $ 300.000 und $ 400.000). Aus der Berechnung des Transfers, der für ein höheres Grundeinkommen nötig wäre, folgt, dass die $ 377 Milliarden, die sich bei einem Höchsteinkommen von $ 250.000 ergäben, auch ein Grundeinkommen in Höhe von $ 25.000 finanzieren könnten, weil dazu nur $ 328 Milliarden notwendig wären. Eine Bestätigung für Jouvenels These, dass die Umverteiler ein höheres Grundeinkommen als das vernünftig zu finanzierende wollen, findet man bei Jared ­Bernstein. Bis zu seiner Berufung zum Wirtschaftsberater von Vizepräsident Biden arbeitete er für das liberale Economic Policy Institute. Bernstein hält es für „ungerecht, wenn in einer hochproduktiven Überflusswirtschaft nur diejenigen arm genannt werden, die schwerwiegende wirtschaftliche Entbehrungen erleiden.“ 2007 behauptete er, dass, „Familien, die ihre Grundbedürfnisse nicht selbst befriedigen können, … einem materiellen Nachteil ausgesetzt sind, den der Staat erkennen und angehen muss.“ Er empfahl, den doppelten Betrag der Armutsgrenze als Maßstab, um festzulegen, welchem Teil der Bevölkerung der Staat helfen solle.49 Dann sprechen wir allerdings von einem Grundeinkommen von $ 40.000. 2007 wäre dafür eine Transfersumme von $ 894 Milliarden notwendig gewesen. Die $ 841 Milliarden, die durch eine 100 %-Steuer auf Einkommen über $ 150.000 erzielbar gewesen wären, würden dazu nicht ausgereicht haben. D. h., um in finanzieller Harmonie zu dem von Bernstein vorgeschlagenen Grundeinkommen zu stehen, hätte das Höchsteinkommen bei etwa $ 140.000 zu liegen. Allerdings reden die Liberalen, wie Jouvenel vorhergesagt hat, nicht einmal hinter vorgehaltener Hand darüber, dass ihnen eine Gesellschaft vorschwebt, in denen niemand mit weniger als $ 40.000 und keiner mit mehr als $ 140.000 zu leben hat. Sowohl Hillary Clinton als auch Barack Obama haben bekräftigt, keine Steuererhöhungen für Familien mit weniger als $ 250.000 erheben zu wollen. Im Gegenteil! Obama schlug sogar Steuererleichterungen für „95 % aller Arbeitenden und ihrer Familien“ vor. Das hätte zur Folge, das Mittelschichthaushalte künftig weniger Geld zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaats zu zahlen hätten.50 Aber auch das Ziel, niemanden von mehr als $ 250.000 und weniger als $ 25.000 leben zu lassen, ist noch viel zu ambitiös. Die Steuererhöhungen, für die er nach seiner Nominierung zum demokratischen Kandidaten plädierte, waren meilenweit 49 50

Bernstein (2007). Furman / Goolsbee (2008).

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davon entfernt, konfiszierend zu sein. Folgt man Obamas Wahlkampfberatern Jason Furman und Austan Goolsbee, dann sah der Steuerplan von Obama einen Höchststeuersatz von 39,6 % vor und setzte den Bundessteuern auf Kapitalgewinne und Dividenden eine Obergrenze von 20 %.51 Im Vergleich dazu wurde die Obergrenze 1964 von 91 % auf 70 % herabgesetzt, 1981 auf 50 %. Seit 1986 liegt sie unter 40 %. Der liberale Historiker Sean Wilentz prophezeite zuvor, dass wir „in unserem Leben nie mehr“ eine Marginalsteuer jenseits von 70 % erleben werden. „Wenn man 1980 in die Zukunft geblickt hätte, würde [das] einen verwundert haben.“52 Damit ergibt sich für die vorhersehbare politische Zukunft eine große Kluft zwischen dem Wohlfahrtsstaat, den die Liberalen errichten wollen, und dem Steuersystem, das sie zu diesem Zweck zu fordern bereit sind. Und es wird schlimmer. Wir sind beim Spiel mit Jouvenels Gedankenexperiment davon ausgegangen, dass eine 100 %ige Steuer weder die Steuergrundlage verkleinern noch die Wohlfahrtszahlungen ausweiten würde. Aber wir können die Tatsache nicht außer Acht lassen (die auch Jouvenel nicht übersah), dass die Haushalte jenseits der Einkommensgrenze bereits Steuern zahlen. Die 100 %ige Steuer, die wir erheben, um Geld von Haushalten, die Einkommen jenseits der Obergrenze haben, an Haushalte zu transferieren, die unter dem Grundeinkommen liegen, beraubt den Staat aller weiteren Steuereinkünfte oberhalb der Spitzeneinkommen – Einkünfte, die er für seine anderen Aufgaben jenseits der Transferprogramme benötigt. Der Staat ist immer größer als der Wohlfahrtsstaat. Es ist ohnehin unrealistisch, mit dem Geld zu rechnen, das ein 100 %iger Höchststeuersatz einbrächte, aber wir haben es dem Jouvenelschen Gedankenexperiment zuliebe getan. Aber zweimal auf dieses Geld zurückzugreifen, geht gar nicht. In finanzieller Harmonie stehende Grundeinkommen und Spitzeneinkommen lassen die Haushalte, deren Einkommen sich zwischen diesen Niveaus bewegen, nicht so einfach die Rolle des Zuschauers einnehmen, über deren Köpfe hinweg die Einkommen der Reichen an die Armen transferiert werden. Diese Familien müssen auch mehr dem Staat überlassen, um all die Steuereinkünfte zu kompensieren, die der Staat bis dahin von denen erhielt, die jenseits der Obergrenze lagen. Diese Gelder dienen der nationalen Verteidigung, Infrastruktur, Rechtsdurchsetzung, Bildung, dem Gesundheitswesen und jeder weiteren Staatsaktivität. Folgt man dem Haushaltsbüro des Kongresses, dann bezahlte 2005 das oberste 1 % aller Einkommen 27,6 % aller Bundessteuern – Steuern auf Einkommen, Sozialversicherung, Körperschaften und Verbrauch. Die obersten 5 % aller Einkommen kamen für 43,8 % aller Bundessteuern auf.53 Eine enorme Geldsumme müsste also aufgebracht werden, wenn der Staat auch weiterhin alle Aufgaben neben der Einkommensverteilung wahrnehmen soll. Dieses Geld kann nicht von denen kommen, die jenseits der Einkommensober 51

Furman / Goolsbee (2008). Thomas (2008). 53 Congressional Budget Office (2007a). 52

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grenze leben – deren Geld hat der Staat bereits eingesteckt –, und es kann nicht von denen jenseits des Grundeinkommens kommen, weil eine Steuererhöhung für diese Gruppe den Zweck eines Grundeinkommens und eines Programms, das jedem dieses Grundeinkommen garantiert, vereiteln würde. Das Transferprogramm verlangt demnach nicht nur eine 100 %-Steuer für Haushalte jenseits der Einkommensobergrenze, sondern auch beträchtliche Steuererhöhungen für alle Haushalte zwischen Grund- und Höchsteinkommen. Wie beträchtlich? Folgt man dem CBO, dann kamen 2005 die oberen 10 % der Einkommenshaushalte für 57,7 % aller Bundessteuern auf. Die nächstbesten 10 % haben 14 % der Bundessteuern erbracht, und die dann folgenden 20 % 16,9 %. Alles in allem haben die oberen 40 % der Einkommenshaushalte 85,8 % aller Bundessteuern beglichen, was bedeutet, dass die verbleibenden 60 % der dritten, vierten und fünften Quintilen mit dem geringsten Wohlstand 14,2 % zahlten. Das Umverteilungsprogramm unseres Gedankenexperimentes würde viele Wohlfahrtsprogramme hinfällig werden lassen. Das ist allerdings keine Garantie dafür, dass die Politik in der Praxis für deren Verschwinden sorgen würde. Die Steuerlast, die vormals auf denen ruhte, die oberhalb der Einkommensobergrenze lebten, muss also nun von denen aufgebracht werden, die darunter leben. Die CBO-Zahlen gelten im Übrigen nur für die Bundessteuern. Die Bundesstaaten, Kreise und Kommunen werden also ihrerseits sich bei der Besteuerung an jene im Mittelfeld wenden, um jene Einkünfte zu erzielen, die sie von denen jenseits der Obergrenze fürderhin nicht mehr erhalten werden. Auch eingedenk aller beschönigenden Annahmen in Jouvenels Gedankenexperiment würde die Umsetzung drastische Steuererhöhungen verlangen, und zwar von Familien, die aufgrund der Beschreibungen in den Broschüren davon ausgegangen sind, als Unbeteiligte zusehen zu können, wie das Einkommen von denen, die reicher sind als sie, an die, die ärmer sind als sie, verteilt wird.

Eigentumsrechte Mit Jouvenel haben wir diskussionshalber angenommen, dass hohe Steuern auf die Fortsetzung ökonomischer Aktivitäten keinen Einfluss nehmen. Wenn wir diese Annahme fallen lassen, dann nimmt die Einkommensumverteilung Züge an, die noch beängstigender sind. Das Wachstum des Wohlfahrtsstaats wird ab einem bestimmten Punkt nach einer Kombination aus hohen Steuern, beträcht­lichen Schulden und kräftigen Regulierungen verlangen, welche den Umfang des in der privaten Wirtschaft erzeugten Wohlstands mindert – und damit auch den Umfang des Wohlstands, den der Staat durch seine Wohlfahrtsprogramme verteilen kann. Das „Differenzprinzip“, das John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit vorschlägt, stellt sich diesem Problem, indem es von jener Form der Umverteilung absieht, die den Armen ein größeres Stück von einem kleineren Kuchen lässt. Rawls’ Ziel – eine Gesellschaft, in der die Mitglieder mit der geringsten Fortune

Eigentumsrechte

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den höchstmöglichen Lebensstandard haben – kann durch zu viel Egalitarismus vereitelt werden. Wenn man z. B. im Namen der Gleichheit darauf besteht, dass forschende Mediziner kein großes Forschungsbudget haben dürfen, solange nicht alle anderen auch vergleichbare Subventionen erhalten, dann verschlechtert das das Leben von ernsthaft erkrankten Menschen, die aufgrund mangelnder Investitionen in die Forschung nie geheilt werden.54 Aber auch noch in einer anderen Hinsicht sind die Probleme des Rawlsianismus die Probleme des Liberalismus. All die ausgefeilten Theorien der gerechten Verteilung gründen implizit auf der falschen Annahme, dass die Einkommen verteilt sind. Rawls bietet eine komplexe Kette an Schlussfolgerungen auf, um den optimalen moralischen Ausgangspunkt für eine absolute Gleichheit zu finden. Aber er lässt darin keinen Raum für den rechtmäßigen Erwerb, Besitz und Austausch von Wohlstand. In einer Rawlsschen Gesellschaft wäre Eigentum nur in einem ganz ungewissen Sinne privat. Jeder Anspruch, das zu behalten, was meins ist, verliert gegen das soziale Gebot, die gerechte Allokation aller wirtschaftlichen Güter beizubehalten. Dieser Kritikpunkt spielte in Anarchie, Staat und Utopia eine zentrale Rolle, also in jenem Buch, das Rawls’ Harvardkollege Robert Nozick 1974 geschrieben hatte.55 In seinem Buch thematisiert Nozick die Rechtmäßigkeit, mit der Will ­Chamberlain56 vom Verkauf der Eintrittskarten an Basketballfans profitierte. Wir können dieses Thema mithilfe des Beispiels des bestbezahlten Baseballspielers aktualisieren. Alex Rodriguez unterzeichnete 2007 einen 10-Jahresvertrag für $ 275 Millionen. Das durchschnittliche Jahresgehalt von $ 27.500.000 beschert ihm täglich $ 75.342, und zwar nicht nur an jedem Baseballtag, sondern an jedem Kalendertag im Jahr. Lässt man einmal Rodriguez zusätzliche Einnahmen durch Werbung und öffentliche Auftritte und das, was er an Zinsen, Dividenden und Kapitalerträge inzwischen angesammelt hat, beiseite, dann liegt seine tägliche Entlohnung um $ 7.733 höher als das jährliche Durchschnittseinkommen eines amerikanischen Haushalts im Jahre 2007. Dieses betrug nämlich $ 67.609. Wenn ein Ministerium für Wohlstandsaufteilung – mit Kabinettsrang und zuständig für die Festlegung der gerechten und optimalen Zuteilung an alle Amerikaner – befunden hätte, dass ein Baseballstar ein 404-fach höheres Einkommen erhalten solle als die Durchschnittsfamilie, dann hätten wohl die meisten Menschen den Kongress ersucht, der Sache einmal nachzugehen. Nozicks Einwand gegen Rawls ist, dass wir für die wirtschaftlichen Erträge, die das Nebenprodukt von Millionen individueller Entscheidungen hinsichtlich des Kaufs und Verkaufs aller möglichen Güter und Dienstleistungen sind, nach anderen moralischen Maßstäben bewerten und bewerten sollten. „Die sozialistische Gesellschaft müsste kapitalistische Handlungen zwischen übereinkommenden Erwachsenen verbieten“, so Nozick. Die sozialistische Idealverteilung des Einkommens für einen Tag würde bereits am Ende 54

Rawls (1971), S. 302. Nozick (1974), S. 160–164. 56 In den 1970er Jahren der wohl bekannteste Basketballer der NBA, d. Hrsg. 55

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des Tages nicht mehr gelten, weil mit jedem Verkauf das Einkommen des einen mehr wächst als das des anderen – es sei denn, man würde in jedermanns Lebens „kontinuierlich eingreifen“.57 Die Beurteilungen des Ministeriums für Wohlstandsaufteilung werden mit der Einkommensordnung, die aus Millionen individueller Entscheidungen hervorgeht, wenig gemein haben. Statt sich um die wirtschaftlichen Ergebnisse zu scheren, geht es Nozick um die Prozesse. Der Staat sollte sicherstellen, dass die Menschen, die ein beiderseitiges Abkommen erzielt haben, freiwillig tauschen können, was sie wollen, und behalten können, was sie im Rahmen dieses Austausches erworben haben. Wenn er dies tut, dann wird durch die Kluft zwischen dem Einkommen eines Sportstars und eines Lehrers oder Schlossers jedwedes abstrakte Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit weder gerechtfertigt noch verletzt. So wenig wie die New York Yankees gezwungen sind, Rodriguez anzustellen, so wenig sind die Baseballfans gezwungen, Eintrittskarten zu kaufen, um ihn spielen zu sehen. Und auch die Werber sind nicht gezwungen, für Werbeeinblendungen während der Übertragung der Yankeespiele zu bezahlen. Alex Rodriguez $ 27,5 Millionen Jahresgehalt ist ein „Verbrechen“ ohne Opfer  – ein Nicht-Problem, das nur eine Nicht-Lösung hervorrufen sollte.

Anstößiges Leben auf hohem Niveau In der Ethics of Redistribution beginnt Jouvenel sein Gedankenexperiment mit der Beobachtung, dass der Egalitarismus auf zwei verwandten Vorannahmen gründet: „anstößiges Leben auf niedrigem Niveau und anstößiges Leben auf hohem Niveau“. Elend ist ein Skandal, und Extravaganz ist ein Skandal. Darüber hinaus ist das Nebeneinander von Elend und Extravaganz der Skandal, der überall die politische Linke auf den Plan ruft.58 Die Liberalen werden gelegentlich von der Anschuldigung, einen Klassenkrieg zu führen, ablenken wollen und behaupten, dass sie gegen die Reichen keinen Groll hegen. Ihr Interesse an den Reichen ist ebenso begrenzt wie praktisch – genauso wie Willie Suttons59 Interesse an den Banken: Dort liegt das Geld. „Die Liberalen wollen die Reichen nicht stärker besteuern, weil sie diese hassen. … Der Grund ist, dass jemand den Staat bezahlen muss und die Reichen die höheren Steuern leichter schultern können“, meint Chait.60 Die Haltung des Liberalismus gegenüber den Reichen scheint allerdings mehr zu beinhalten – etwas das mehr Anlass zur Wut gibt als die Feststellung, dass die 57

Nozick (1974), S. 163. Jouvenel (1989), S. 23 ff. 59 Berühmt-berüchtigter Bankräuber, berühmt auch seine Antwort auf die Frage, warum er Banken ausraube: „Weil da das Geld liegt“, d. Hrsg. 60 Chait (2005). 58

Anstößiges Leben auf hohem Niveau 

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Reichen viel Geld haben, mit dem der Wohlfahrtsstaat viel Gutes bewerkstelligen kann. Franklin D. Roosevelt sprach 1936 bei seiner Nominierungsrede auf dem Konvent der Demokraten von den „Wirtschaftsbaronen“ und den „privilegierten Prinzen“ der „Wirtschaftsdynastien“, die „einen neuen Despotismus geschaffen“ hätten. Zum Abschluss seiner Kampagne sagte FDR dann noch: „Von meiner ersten Amtszeit will ich einmal sagen können, dass die Kräfte der Selbstsucht und der Machtgelüste in ihr ihren Gegenspieler kennengelernt haben. Von meiner zweiten Amtszeit will ich einmal sagen können, dass sie in ihr ihren Meister gefunden haben.“ Der Historiker David Kennedy berichtet, dass gemäß der Aufzeichnungen, die von der Wahlkundgebung gemacht wurden, „Tumult in der Halle entstand und das Parteivolk in lauten Jubel ausbrach.“61 Wir haben guten Grund zur Annahme, dass aus dieser Reaktion auf FDRs Rede mehr spricht als die reinen Berechnungen über die höheren Steuereinnahmen, welche die Progressiven erzielen könnten. Wie die Linken in anderen Ländern auch, entfalten die amerikanischen Liberalen nur wenig Wut gegen berühmte Athleten, Schauspieler und Musiker, die sich in der Spitze der Einkommenspyramide ihres Lebens erfreuen. Berühmtheit verleiht dem aristokratischen Leben und Status der Stars einen Hauch von demokratischer Legitimität. Im wirtschaftlichen Sinne sind die Kaufhandlungen, die unser bescheidenes Einkommen schmälern und das enorme Vermögen der Stars mehren, direkt und unmittelbar. Wir bezahlen, um Kobe Bryant, Angelina Jolie oder Bruce Springsteen zu sehen, und wenn uns gefällt, was wir sehen, dann zahlen wir auch weiterhin und machen sie noch reicher. Die Popularität der kriecherischen Fernsehsendung „Lebensstile der Reichen und Berühmten“ basierte auf dem Titelzusatz „und Berühmten“. Niemand wollte eine Sendung über die Gemächer irgendwelcher Risikokapitalisten in den Hamptons sehen. Die Fremdenführung durch die Häuser berühmter Schauspieler und Musiker gab uns die Möglichkeit, unseren Unterhaltungsdollar bei der Arbeit zuzusehen, wenn die Kamera über deren Oldtimer und herrliche Meeresblicke hinwegschwenkte. Im gewissen Sinn sieht man in der Berühmtheit der Stars eher einen Ausdruck des Volkswillens als einen Affront gegen diesen. Ruhm ist vergänglich. Wir, die wir diese kleine Minderheit so hochgehoben haben, behalten uns das Recht vor, ihnen einen oder mehrere Dämpfer zu verpassen, und über jeden ihrer beruflichen oder persönlichen Fehltritte zu urteilen. So können wir einen Helden von einer Sekunde auf die andere in eine Lachnummer verwandeln und aller Welt zeigen, dass das Ansehen der Stars von unseren leicht zu widerrufenden Meinungen abhängt. Die Anschuldigungen gegen ein anstößiges Leben auf hohem Niveau lasten ganz und gar auf den Reichen, die keine Stars sind. Die Erben großer Glücksfälle qualifizieren hier genauso wie jene, die es an die Spitze der Wirtschafts- und Finanzwelt geschafft haben. Die Freistellung der wenigen, die von den vielen auserkoren sind, ein vergoldetes Leben zu führen, gilt ihnen nicht. (Diese Unterscheidung lässt eine gewisse Gewitztheit in den Bemühungen von Paris Hilton und Donald Trump er 61

Kennedy (1999), S. 282.

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kennen, sich selbst als berühmt reich und nicht als übermäßig reich darzustellen.) Die freiwilligen Tauschhandlungen, welche das enorme Einkommen der Athleten und Filmstars legitimieren, finden unter den Augen der Öffentlichkeit statt. Die Transaktionen der Erbin oder des Vorstandsvorsitzenden finden hinter der Bühne statt und erregen Verdacht. Die Erbin verdankt ihren Wohlstand dem geschäft­ lichen Erfolg ihres Großvaters – ein Erfolg, der aus der Sicht vieler den Nachweis erbringen muss, nicht auf einem großen Verbrechen zu gründen, und bis auf den heutigen Tag dank einer Brigade von Anwälten und Bankiers so die Steuergesetze umschifft, dass die Reichen mit Sicherheit nur noch reicher werden. Folgt man Senator James Webb aus Virginia, dann „stimmen die inzestuösen Aufsichtsräte regelmäßig für riesige Abfindungen an Vorstandsvorsitzende und andere Vorstände, obwohl diese bar jeder Logik sind.“ Webb beschwerte sich 2006 darüber, dass „der Durchschnittsvorstandsvorsitzende eines größeren Unternehmens mehr als $ 10 Millionen im Jahr verdient.“ Obwohl wahr, so ist das auch das Gehalt vieler Profisportler, die nie in die Ruhmeshalle eingewählt werden oder in die alljährliche Sportauswahlmannschaft.62 Der Facharbeitergewerkschaftsbund AFL-CIO unterhält eine Datenbank zu den Einkünften der Firmenbosse von Hunderten amerikanischer Unternehmen. Man berechnet dabei, wie viel Geld sie „gescheffelt haben“. Diese Berechnungen umfassen Gehälter, den gegenwärtigen Wert der Boni, Aktienoptionen und andere Anreizvergütungen. Ausgehend von den Bruttoeinnahmen 2007, zahlten demnach die zehn größten amerikanischen Unternehmen ihren Vorstandvorsitzenden im Schnitt $ 22.041,814. (Die zehn Unternehmen waren Walmart, ExxonMobil, Chevron, General Motors, Conoco-Phillips, General Electric, Ford, Citigroup, Bank of America und AT&T.) Das Durchschnittsgehalt der vier bestbezahlten Spieler der New Yorker Yankees betrug 2009 $ 22.975.000. (Die vier Ballspieler waren Derek Jeter, Alex Rodriguez, C. C. Sabathia und Mark Teixeira.)63 Es ist wahr, dass einige jener großen Firmen schwierige Zeiten durchgemacht haben. Es ist auch wahr, dass Rodriguez, Sabathia und Teixeira noch nie in einem Finale der amerikanischen Profiligen gespielt hatten, als sie ihre Verträge unterzeichneten. Wie auch immer, wir billigen den Wohlstand der Stars in anderer Weise als den der Topmanager. Die Menschen verstehen und billigen die Verbindung zwischen dem Kauf einer Yankeeeintrittskarte und dem Gehalt von A-Rod. Im Gegensatz dazu appelliert Senator Webb an den allgemeinen Argwohn: Die lange Kette der Transaktionen, die zwischen dem Kauf eines Gastankers und der Entlohnung von Rex Tillerson liegt, Chef von Exxon-Mobil, hat irgendwie einen üblen Beigeschmack. (Gemäß der Daten von AFL-CIO betrug die Vergütung von Rex Tillerson 2007 $ 27.172,280. Tillersen erhielt also für die Leitung eines Unternehmens mit 107.100 Beschäftigten und einem Gewinn von $ 40,6 Milliarden bzw. $ 373 Mil 62 63

Webb (2006). AFL-CIO Executive PayWatch Database (2008); Heyman (2008).

Die Besteuerung der Unternehmen

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liarden Umsatz 98,8 % dessen, was Alex Rodriguez verdient hat.) Der Vorstandsvorsitzende mit seinem anstößigen Leben auf hohem Niveau ruft bei den Liberalen noch mehr Verärgerung hervor, weil sein Wohlstand, anders als der der Stars oder der oben genannten Erbin, nicht nur im scharfen Kontrast zu unserem anstößigen Leben auf niedrigem Niveau liegt, sondern weil wir ihn für diesen Kontrast auch noch verantwortlich machen können. Unsere Unzufriedenheit als Konsumenten oder Arbeiter richtet sich gegen den, der vom Vorstandszimmer Besitz ergriffen hat. Keine dieser Beschwerden kann aber über Nozicks Feststellung hinwegtäuschen, die sowohl auf Erben, Topmanager, Financiers wie auch auf Filmstars und Ballspieler zutrifft. Wenn ihr Wohlstand aus regulären freiwilligen Transaktionen entspringt, dann sollten wir ihn nicht als einen Affront gegen irgendwelche abgehobenen Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit à la Rawls deuten, und auch nicht als Affront gegen die unausgegorenen Empfindungen hinsichtlich wirtschaftlicher Fairness, die Liberale ohne Festanstellung motiviert. Wir können auch nicht, wie Chait, davon ausgehen, dass die Gerechtigkeit auf der Seite der Sozialreformer ist, die ihre Projekte finanzieren wollen, indem sie die Reichen wie einen Geldautomaten benutzen. Wenn man Spitzensteuersätze von 70 %, 91 % oder 99,9 % damit rechtfertigt, dass die Reichen sie „leichter ertragen“ können, dann besteuert man die Reichen irgendwann so sehr, dass sie die Steuern nicht mehr leichter ertragen können als mein Frisör oder ihr Buchhalter. Die Regeln des Rechts erfordern Allgemeingültigkeit, wie Friedrich A. von Hayek in seiner Verfassung der Freiheit betonte. Wenn man die Leute erst einmal unterschiedlich besteuert und ihnen unterschiedliche Geschwindigkeitsbegrenzungen vorschreibt, dann hält nichts mehr den Staat davon ab, die willkürlichsten, unberechenbarsten und erdrückendsten Gesetze zu erlassen, mit denen er durchkommt. Das liberale „Prinzip“, wonach Menschen mit höheren Einkommen höhere Steuern zahlen sollten, ist ein vages, dehnbares und daher unbrauchbares Prinzip – wie die übrigen liberalen Prinzipien auch. Man kann unmöglich einen Grundsatz befolgen, wenn man nicht sagen kann, was es heißt, ihn zu missachten. Und kein liberales Argument für progressive Steuern legt fest, ab welcher Größe eine Steuerrate für Vermögende maßlos und unhaltbar wird.

Die Besteuerung der Unternehmen Neben der Besteuerung der Reichen mögen die Liberalen noch ein anderes Mittel, um Einnahmen zu erzielen: die Besteuerung der Unternehmen. Zusammen nehmen sie die beiden Schurken aufs Korn – das, was George F. Will die „Meistererzählung des Liberalismus“ nennt – „die Schikanierung der Vielen durch die Wenigen.“64 Die Steuergesetze sind moralisch gerecht, weil sie die Schikaneure bestrafen. Und ökonomisch korrekt sind sie, weil sie die vermeintlich riesigen und unerschöpflichen Reichtümer der Reichen und Unternehmen anzapfen. Und auf 64

Will (2007b), S. A15.

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grund der Tautologie, dass die Vielen die Wenigen an Zahl übertreffen, sind diese Gesetze in einer Demokratie selbsterhaltend. Das Problem ist nur, dass die Finanzierung der schrankenlosen Bestrebungen seitens des Liberalismus durch die Besteuerung von Unternehmen intellektuell noch unaufrichtiger ist als die Besteuerung der Reichen. Der Grund dafür, warum man sich beim Wohlfahrtsstaat an die Reichen hält, ist der, dass sie es sich leisten können. Das stimmt aber nicht, es sei denn, man würde die Mission des Wohlfahrtsstaats wesentlich enger fassen, als es die Liberalen tun, oder die Reichen viel weiter definieren, als es die meisten Menschen tun. Insofern könnte es zumindest wahr sein. Die Umverteilung der Einkommensspitzen, die sich die Liberalen vorstellen, ist logisch möglich. Sie ist halt nur nicht empirisch akkurat. Falls sie es wäre, dann könnten wir einen großen Wohlfahrtsstaat bezahlen, und zwar mit den hohen Steuern für die Reichen und den geringfügigen Steuern für die Übrigen. Die Idee, Unternehmen anstelle gewöhnlicher Bürger für den Wohlfahrtsstaat zahlen zu lassen, ist hingegen noch nicht einmal logisch möglich. Die Unterscheidung zwischen Steuern, die Unternehmen entrichten, und Steuern, die von richtigen Menschen bezahlt werden, bricht bei näherer Betrachtung in sich zusammen. Wie Irving Kristol hervorhob, zahlen die Unternehmen keine Steuern, sondern sie sammeln sie ein. Insofern ein Unternehmen seine zu zahlenden Steuern durch entsprechend höhere Produktpreise wieder einnimmt, muss letzten Endes der Konsument für die Körperschaftssteuer aufkommen. Und insofern ein Unternehmen seine Steuern dadurch kompensiert, dass es für Güter und Dienstleistungen weniger als das sonst Notwendige zahlt, ist die Körperschaftsteuer letztlich eine Mehrwertsteuer, die den Lieferanten und Arbeitern auferlegt wird. Wenn indes das Unternehmen seine Steuern durch geringere Profite gegenfinanziert, dann geht die Steuer letztlich zu Lasten der Aktionäre; entweder kurzfristig mittels gekürzter Dividenden, oder langfristig mittels Einbußen beim Wert des Unternehmens, das seine Investitionen in den Wachstumssektoren vernachlässigt, z. B. bei der Ausstattung oder im Bereich Forschung und Technologie. (Viele der künftig leidenden „Investoren“, wie z. B. gemeinnützige Stiftungen oder Rentner, die aus Pensionsfonds bezahlt werden, wissen noch nicht einmal, dass sie Aktionäre sind.) Wir haben den Sugar Daddy unter den Top 500 Unternehmen gefunden, nämlich uns selbst.65 Diese Analyse ist in keiner Weise esoterisch. Man muss also davon ausgehen, dass die Liberalen wissen, dass die Besteuerung von Unternehmen ein Weg ist, die Menschen zu besteuern, nicht aber ein Weg, dies zu vermeiden. In der Tat, da liegt die Pointe. Im Liberalismus sieht man sich mit der politischen Tatsache konfrontiert, dass viele Amerikaner den Verdacht hegen, dass die wohlfahrtsstaatlichen Segnungen – oder zumindest die eines viel größeren Wohlfahrtsstaats – die Kosten nicht wert sind. Die Liberalen befreien ihre Landsleute nur ungern von dem Irrglauben, dass Steuern für den Wohlfahrtsstaat gut angelegtes Geld seien, auch wenn sie selbst in dieser Frage keine Zweifel hegen. Dann müssten sie nämlich die 65

Kristol (1978), S. 211.

Den Himmel mit flatternden Dollarnoten verdunkeln

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Menschen davon überzeugen, dass diese besser dran sind, wenn sie einen großen Teil ihres Einkommens an den Staat geben, um einen umfassenden Wohlfahrtsstaat bereitzustellen, und schlechter dran, wenn sie Ihr Geld behalten und in einer Gesellschaft mit einem beschränkten Wohlfahrtsstaat leben. Lieber konzipieren die Liberalen ihre Redekünste und Politik so, dass sie der Wähler Wahrnehmung des Wohlfahrtsstaats ändern können, als dass sie zeigen, warum die Skepsis der Wähler hinsichtlich des Wohlfahrtsstaats grundlos ist. Schon allein wegen des damit verbundenen Risikos argumentieren sie lieber nicht, dass die Leistungen des Wohlfahrtsstaats X sind, die Kosten Y, und X größer als Y. Stattdessen beschränken sie sich darauf, X größer aussehen zu lassen, als es ist, und Y kleiner, als es ist. Steuern, die von Unternehmen bezahlt werden, sind für diesen Zweck ideal. Die Bürger, die als Konsumenten, Angestellte oder Aktionäre diese Steuer tatsächlich zahlen, haben keine Möglichkeit herauszufinden, wie viel sie zahlen, und wissen in aller Regel auch nicht, dass sie überhaupt zahlen.

Den Himmel mit flatternden Dollarnoten verdunkeln Die Bestrebungen, den Wohlfahrtsstaat durch Hervorhebung der Leistungen und Verdunkelung der Kosten zu bezahlen, geht weit über den Rückgriff auf die Körperschaftssteuer hinaus. Sie durchziehen systematisch das liberale Projekt, Amerika zu deföderalisieren, indem man Befugnisse und Mittel von den Staaten weg und hin zur Bundesregierung befördert. Der Ökonom James Tobin schrieb dazu 1964 in The New Republic: „Wir sind eine Nation. Die Bürger in Connecticut haben ein Interesse an der Qualität der Flüsse in Massachusetts, der Fernstraßen in Wyoming und des Lebens in Harlem. Wir können es nicht nur den Legislativen der 50 Staaten überlassen, ob und wie unsere nationalen Ressourcen genutzt werden, um nationalen Bedürfnissen zu entsprechen.“66

Wer sagt, dass die Bundesregierung für bessere Schulen in Indiana oder bessere Straßen in Idaho zahlen soll, meint natürlich, dass die Steuerzahler in Oregon und Süd Carolina dafür zu zahlen haben. Dieses Arrangement muss den Politikern offensichtlich gefallen: Gouverneure und Bürgermeister, die gerne Leistungen an Leute verteilen, von denen sie gewählt werden können, verwenden dazu die Steuern von Leuten, die nicht gegen sie stimmen können. Natürlich geht es nicht, dass jeder Staat, jede Stadt, jeder Kreis und jeder Schulbezirk nach vorne tritt und Geld nach Washington D. C. schickt oder von dort bekommt. Einige von ihnen werden Nettodollarimporteure sein und andere Nettodollarexporteure. Die Frachtkosten dafür, dass das Geld eine Weile in Washington lagert und von Staatsbediensteten gezählt und umsorgt wird, stellt sicher, dass der Gesamtimport aus den Staaten, Städten usw. immer kleiner sein wird als der Gesamtexport. 66

Tobin (1964), S. 16.

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4. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Lohngestaltung

Dennoch ist es für alle möglich, dass es so aussieht, als ob sie vorne mit dabei wären, d. h. wie Importeure auszusehen und nicht wie Exporteure. Alles, was es dazu braucht, ist ein erfolgreiches Management der Wahrnehmung. Die Ankunft der Dollars muss auffälliger sein als deren Abfahrt. Feierliche Einweihungen neuer Brücken und Schulen, die aus den Fördertöpfen des Bundes und der Bundesstaaten finanziert wurden, kennen wir alle. Klare Auskünfte an die Steuerzahler, wie viel sie für ein Projekt in einem fernen Verwaltungsbezirk gezahlt haben, kennen wir eher nicht. Christopher Jencks, der auch für The New Republic schreibt, meint: „Die Wählerschaften in den Kommunen und Staaten“ haben wiederholt ihre Abneigung gegen das Bezahlen für bessere Schulsysteme bewiesen. Folglich haben „Bildungsfreunde massive Unterstützung seitens des Bundes gefordert.“67 Diese Analyse ist ungewollt selbstentlarvend. Die Wähler in den Wählerschaften der Kommunen und Staaten sind ja dieselben wie die der Bundeswählerschaft. Es gibt keinen guten Grund zur Annahme, dass die Wähler ihre Einstellung zur Bildungsförderung jedes Mal radikal ändern, je nachdem, ob sie auf der Bundesebene abstimmen oder auf staatlicher bzw. kommunaler Ebene. Gleichwohl gibt es einen guten Grund zur Vermutung, dass die Wähler, denen die Ausgaben ihres Bundesstaates oder Bezirks missfallen, die Bundesausgaben still dulden werden: Sie erwarten, dass die Vorteile „massiver Bundeshilfen“ vor Ort genossen werden, während die Kosten in der Ferne verhängt werden. Dahinter steckt die politische Logik, „den Himmel mit flatternden Dollarnoten zu verdunkeln.“68 Einfachheit fördert die Klarheit, und Komplexität die Verwirrung. Die Liberalen hätten sich anders entscheiden können, aber sie haben sich immer wie Menschen verhalten, die glauben, dass die Klarheit der Feind und die Verwirrung der Freund des Wohlfahrtsstaats sei. Dementsprechend lautet das Ziel, den Wohlfahrtsstaat so komplex wie möglich zu gestalten. In einem komplexen Wohlfahrtsstaat gibt es viele Bestrebungen und viele Initiativen, die ihnen dienen, wobei man nicht sehr pingelig ist, wenn Programme sich überschneiden oder duplizieren. Diese Vermehrung lässt die Zahl der Wähler ansteigen, die sich als Empfänger der Wohltaten verstehen oder zumindest als Teil eines staatlichen Programms. Gleichzeitig sollte natürlich auch das Steuer- und Regelwerk so verschlungen wie möglich sein. Diese Komplexität erhöht die Zahl der Wähler, die nur schätzen können, was sie für den Wohlfahrtsstaat zahlen, und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ihre Schätzungen weit hinter den tatsächlichen Beträgen zurückbleiben.

67 68

Jencks (1964), S. 14. Buckley (1984), S. 162.

Sozialversicherung

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Sozialversicherung Die Liberalen glauben, dass der Staat überall dort ausgleichend in unser Wirtschaftssystem einschreiten muss, wo dieses nur die Reichen begünstigt. Gleichzeitig lehnen sie vehement jede Beschneidung der Sozialversicherungsleistungen an Reiche ab. So sagte z. B. Senator John Edwards 2004 auf dem Konvent der Demokraten, dass wir langsam in zwei Amerikas zerfielen, „eines für die Menschen, die ausgesorgt haben und wissen, dass es ihren Kindern und Enkeln auch gut gehen wird, und eines für die meisten anderen Amerikaner, für Menschen, die von einem Gehaltsscheck zum anderen leben.“69 Man könnte meinen, dass eine Beschneidung oder gar Beendigung von sozialen und medizinischen Beihilfen an Menschen, die ausgesorgt haben, und eine Beschränkung auf die Menschen, die von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck leben, eine vernünftige Antwort auf diese Entwicklung wäre. Wenn die Reichen, und nur sie, reicher werden, dann tragen die staatlichen Programme Eulen nach Athen, wenn sie für die Pensionen und Gesundheitsversicherungen der Reichen aufkommen, und dürften eigentlich weder erschwinglich noch haltbar sein. In Wirklichkeit sind die Bedürftigkeitstests für die Sozialversicherung das dritte Gleis des liberalen Diskurses. Paul Kirk, damals Vorsitzender des Democratic National Committee70, sprach 1985 einmal unbedacht mit ein paar Reportern über Bedürftigkeitstests. Nur ein paar Stunden später ließ er in einer Pressemitteilung verkünden: „Ich hatte Unrecht. Unsere Partei … ist nach wie vor gegen eine Beschneidung der Sozialleistungen. Ich hätte die Bedürftigkeitstest nicht erwähnen sollen.“71 Kirks Verfehlung war, die politische Logik der Sozialversicherung vergessen zu haben. Folgt man dem Journalisten Chris Suellentrop, dann unterstützen die Liberalen „die soziale Sicherheit, weil sie umverteilt. Mit anderen Worten, sie ist Wohlfahrt für alte Menschen. … Die Liberalen wollen den Reichen weiterhin Sozialleistungen zahlen, und zwar in der Hoffnung, dass diese nicht rausbekommen, dass die soziale Sicherheit ein Umverteilungsprogramm ist.“72 Die Pointe liegt, wieder einmal, im Management der Wahrnehmung. Ein einfaches Programm, das Armen und Alten hilft, würde die Haushalte, die Nettodollarimporteure sind, von denen, die Nettodollarexporteure sind, leicht unterscheiden lassen. Die Liberalen wollen dieses Risiko nicht gerne eingehen. Sie trauen den wohlhabenden Bürgern in den Nettoexporthaushalten nicht so viel Großzügigkeit

69 Ansprache von Senator John Edwards auf dem Nationalkonvent der Demokraten am 28. Juli 2004, wieder abgedruckt in The Washington Post (http://www.washingtonpost.com/ wp-dyn/articles/A22230-2004Jul28.html). 70 Wie die meisten anderen Parteien haben auch die Demokraten eine Organisation (DNC, Democratic National Committee), die vornehmlich mit der Generierung von Sponsorengeldern für die Wahlkämpfe befasst ist, d. Hrsg. 71 Love / Tumulty (1985). 72 Suellentrop (2005).

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4. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Lohngestaltung

und Gemeinsinn zu, dass sie auch dann noch für Wohlfahrtsprogramme stimmen, wenn ihnen klar wird, dass sie Leistungen finanzieren, die anderen zugutekommen. „Der Liberalismus braucht den Staat“, meint Cohn, „weil der Staat dafür steht, dass ein Volk, das zusammenwirkt, für die Sicherheit und das Wohlergehen der verletzlichsten Mitglieder sorgt.“73 Wie man von dieser Prämisse zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Beschneidung der Sozialleistungen für Warren Buffet ein Skandal wäre, ist schon recht interessant. Sollten in einer Gesellschaft, die nach historischen und globalen Maßstäben bemerkenswert floriert, die „verletzlichsten Mitglieder“ nicht so verstanden werden, dass damit die verletzlichsten 5, 10 bis 25 % der Bevölkerung gemeint sind, nicht nur die, denen es hundeelend geht, sondern auch die Menschen, die ernsthaften Bedrohungen und Problemen ausgesetzt sind? Wenn sich einmal mehr herausstellen sollte, dass die tatsächliche Bedeutung des liberalen Wohlfahrtsstaats und der Programme für soziale Sicherheit darin liegt, Mitleid und Staatssubventionen für die „verletzlichsten“ 75, 90 oder 95 % der Bevölkerung hervorzukitzeln, dann fällt es einem schwer, sich nicht übervorteilt zu fühlen. Paul Starr vom American Prospect sagt wie Cohn, dass der Wohlfahrtsstaat für die Armen da sei. Sein „Ziel sollte vor allem die Beseitigung der Armut sein und die Aufrechterhaltung einer dezenten Grundversorgung, die jedem Individuum ermöglicht, sein Leben zu leben.“ Leistungen an alle zu verteilen, und nicht nur an die verletzlichsten, dient gesellschaftlichen und politischen Zwecken. Gesellschaftlich spricht „das langfristige Ziel, eine Nation zu formen, eine gemeinsame Kultur zu fördern und den Sinn für eine gemeinsame Staatsbürgerschaft zu schärfen, deutlich für öffentliche und allgemeine Schulen, Altersabsicherungen und andere Dienstleistungen, die einem integrativen wie egalitären Zweck verfolgen“, so Starr. Politisch bedeutet das Gebot, demokratische Mehrheiten zu bilden, die Armenprogramme unterstützen „oft die Unterstützung für Programme, die allgemeine Beihilfen bereitstellen.“ Wir dürfen wohl annehmen, dass solche Programme die verletzlichsten 100 % der Bevölkerung im Auge haben.74 Wilbur Cohen hat ein halbes Jahrhundert dem Staat damit gedient, Amerikas Sozialprogramme zu entwerfen und zu verteidigen. 1972 legte er in einer Debatte mit Milton Friedman über soziale Sicherheit dar, welches Risiko darin liege, die Leistungen nicht allgemein zu gewähren. „Ich bin davon überzeugt, dass ein Programm in den Vereinigten Staaten, das nur den Armen gilt, als armes Programm enden wird. … Seit dem Armenrecht von 1601 unter Elisabeth waren die Armenprogramme keine guten, sondern lausige und armselige Programme. Und ein Programm, das nur den Armen dient, nicht aber den mittleren und höheren Einkommen, ist langfristig ein Programm, das die amerikanische Öffentlichkeit nicht unterstützen wird.“75

73

Cohn (2008). Starr (1991). 75 Zitiert nach Steuerle / Bakija (1994), S. 16. 74

Sozialversicherung

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Der Staat bietet Menschen Sozialbeihilfe und Medicare an, die sie nicht brauchen, und das auf Kosten derer, die sie brauchen. Starr und Cohen sind zuversichtlich, dass man Menschen dazu bewegen kann, Programme zu unterstützten, die den Armen helfen, wollen sich aber nicht darauf verlassen, dass die Menschen davon überzeugt werden können. Die Liberalen trauen ihren eigenen Redekünsten genauso wenig wie dem Anstand ihrer Mitbürger. Es ist leicht, von den Nutznießern Zustimmung zu den staatlichen Programmen zu erhalten. Die Schwierigkeit liegt darin, Menschen, die wissen, dass sie nicht zu den Nutznießern zählen, davon zu überzeugen, dass die Programme weise und notwendig sind. Bei der Erörterung des Kommunitarismus hatten wir bereits festgestellt, wie unglaubwürdig es klingt, wenn man einerseits die mystischen Akkorde der Einheit spielt, andererseits aber will, dass dieselbe Staatsbehörde, die das Lied anstimmt, Millionen von Fremden Beihilfeschecks ausstellt. Die Hoffnungen, die Starr in Bezug auf die Bildung einer Nation und die Förderung einer gemeinsamen Kultur durch öffentliche und allgemeine Schulen hegt, sind nicht so weit hergeholt. Zur staatlichen Erziehung kann man viel sagen. Vieles davon haben die Demokraten gesagt – wie z. B. die Clintons, Obamas und Bidens – die ihre Kinder in teure Privatschulen untergebracht haben, offensichtlich ohne jegliche Bedenken, dass sie bei ihrem Schulabschluss zu Republikanern verkümmert sein werden.76 Die vermeintliche Notwendigkeit einer allgemeinverbindlichen sozialen Sicherheit zur Absicherung einer mehrheitlichen Unterstützung der Sozialprogramme, die eigentlich nur eine Minderheit braucht, ist wohl ernster zu nehmen als das liberale Anliegen einer bürgerlichen Einheit, aber genauso fadenscheinig. Andernfalls wäre das EITC77, das 2008 Lohnsubventionen für Familien mit einem Jahreseinkommen bis $ 41.646 vorsah, politisch genauso am Ende, wie es das Förderungsprogramm für Familien mit abhängigen Kindern 1996 am Ende war. In Wirklichkeit aber erfreut sich das EITC der Unterstützung beider großer Parteien im Kongress und ist politisch unanfechtbar. „Wenn die Bedürftigkeitsprüfungen die soziale Sicherheit genauso unpopulär machen wie das EITC, dann brauchen die Demokraten nichts zu befürchten“, meint Mickey Kaus.78 Obwohl sie das Gefühl der Amerikaner, der Staat sei zur Unterstützung der Armen verpflichtet, nachweislich stärken konnten, vertrauen die Liberalen doch lieber auf die Leichtgläubigkeit der Menschen als auf deren Bürgersinn. Einen Wohlfahrtsstaat, der auf dem Gemeinsinn der Menschen und dem liberalen Vermögen, daran zu appellieren, gründete, könnte man leicht errichten, ohne Angst davor zu haben, dass viele Menschen recht rasch darauf kommen, dass sie zu den Nettoexporteuren der staatlich umverteilten Dollars gehören. Ein solches System würde einfach und elegant für das Wohl der verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft sorgen. 76

Tsing Loh (2008). Earned Income Tax Credit, System der Lohnauffüllung für Niedrigverdiener, d. Hrsg. 78 Kaus (2005). 77

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4. Kap.: Das Dauerversagen des Liberalismus bei der Lohngestaltung

Es würde allerdings auch die Bedenken der Liberalen hinsichtlich der begrenzten Großzügigkeit der Menschen zu berücksichtigen haben. Ein Wohlfahrtsstaat, der sich auf die Leichtgläubigkeit der Menschen verlässt, will das indes nicht. Ein solcher Wohlfahrtsstaat verträgt keine Einfachheit, weil man der Leichtgläubigkeit nur bis hierher folgen kann. Es wäre z. B. ein zu starkes Stück, wenn man behaupten würde, dass die staatlichen Programme mehr ausgeben könnten, als sie einnehmen, und trotzdem ewig solvent bleiben. Man kriegt die Menschen ja dazu, an vieles zu glauben, aber wohl kaum an die wundersame Brotvermehrung in der öffentlichen Finanzwirtschaft. Programme, die jedem Haushalt versprechen, Nettodollarimporteur zu sein, halten der Überprüfung nie Stand. Wenn sie kompliziert genug sind, dann können sie die Überprüfung allerdings durch Zermürbung in die Knie zwingen. Der konservative Publizist Ramesh Ponnuru wundert sich darüber, dass man im Liberalismus auf Sozialleistungen vertraut, die so gestaltet sind, dass die Nettoexporteure glauben, sie seien Nettoimporteure. Er fragt: „Handelt diese Theorie davon, dass reiche Menschen nicht rechnen können?“ In der Tat, davon handelt die Theorie – mit der Einschränkung, dass hier die Mathematik Kalkül und nicht Arithmetik erfordert. Die soziale Sicherheit hat inzwischen achtzig Jahre auf dem Buckel und ihre fiskalische Unsicherheit hat bislang noch nicht ihre politische Unsicherheit hervorgerufen. Angesichts dessen kommt man nicht um den Schluss umhin, dass diese liberale Theorie eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte ist.79

79

Ponnuru (2007).

5. Kapitel

Das Dauerversagen des Konservatismus bei der Gestaltung eines Unterschieds Wie wir schon im ersten Kapitel festgestellt haben, hat die Welt noch keinen schrumpfenden Wohlfahrtsstaat erlebt. Haben die Konservativen, die Amerikas Wohlfahrtsstaat begrenzen wollten, sich eine unmögliche Aufgabe gestellt? 2006 schrieb Ramesh Ponnuru: „Der Konservatismus steckt in der Krise.“ Sie „kann mit zwei Sätzen umschrieben werden. Der erste lautet: So, wie die amerikanische Wählerschaft zurzeit verfasst ist, gibt es keine denkbare und mehrheits­ fähige politische Koalition in Amerika, die es sich zur Hauptaufgabe machen könnte, das Ausmaß der Staatsaktivität zu reduzieren. Der zweite Satz lautet: Der moderne amerikanische Konservatismus ist außerstande, sich zu organisieren, wenn er sich das nicht zur Hauptaufgabe macht.“1 Es ist nicht so, dass Wahlen keinen Unterschied machten. Tabelle 1.8 zeigt, dass die realen Pro-Kopf-Sozialausgaben des Bundes während der Amtszeit von Lyndon Johnson um 12,57 % pro Jahr wuchsen, wohingegen sie während Ronald Reagans Präsidentschaft jährlich nur um 0,90 % zunahmen. Ob der Wohlfahrtsstaat sich alle 6 Jahre verdoppelt – wie es der Fall wäre, wenn die Wachstumsrate auf dem Niveau von 1965 bis 1969 bliebe – oder alle 80 Jahre – wie es im Falle einer extrapolierten Reaganschen Zeitschiene einträte – ist mehr als nur eine Detailfrage. Es überrascht kaum, dass die führenden Kandidaten der Republikaner im Rennen um die Präsidentschaftsnominierung 2008 auf Reagans Amtszeit verwiesen. Alle, die sich in den Vorwahlen der Grand Old Party bei den Konservativen lieb Kind machen wollten, präsentierten sich als Nachfolger Reagans. Mitt Romney sagte: „Wir müssen wieder zu den gesunden republikanischen Idealen von Reagan zurückfinden.“2 „Was uns fehlt ist eine starke, angriffslustige und mutige F ­ ührerschaft, wie unter Ronald Reagan“, erklärte Rudy Giuliani.3 Auf der Website von John McCain gab es von dessen biographischem Werbespot einen Link zu den beiden wichtigsten konservativen Politikern des 20. Jahrhunderts: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Grund für die philosophischen Ansichten, die ich habe, die In­ spirationen sind, die ich Barry Goldwater und Ronald Reagan verdanke. Da gibt es keinen Zweifel … Einer der Gründe für unsere Niederlage 2006 war, dass wir

1

Ponnuru (2006). Romney Reaches for Reagan Touch (2006). 3 Campanile (2007). 2

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5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

von vielen Prinzipien Reagans abgekommen sind. Wir haben vergessen, wer wir waren und wer wir sind.“4 Die implizite Kritik an den damaligen Kandidaten  – vor allem, dass George W.  Bush die Republikaner zu weit von Reagans Prinzipien abgebracht hätte  – war allerdings nicht ganz fair. Zugegeben, schauen wir uns Tabelle 1.8 an, dann sehen wir, dass die Sozialausgaben unter Bush dreimal so schnell stiegen wie unter ­Reagan. Außerdem wuchsen sie unter Bush doppelt so schnell wie unter Clinton (und dem unter Gingrich von den Republikanern dominierten Kongress). Andererseits sind die Ähnlichkeiten zwischen Bush und Reagan hinsichtlich des Wachstums des Wohlfahrtsstaats wichtiger als die Unterschiede. Unter Bush wuchsen die Sozialausgaben langsamer als unter Jimmy Carter, langsamer als unter John F.  ­Kennedy und LBJ zwischen 1961 bis 1965, und merklich langsamer als unter George H. W. Bush, Richard Nixon und Gerald Ford. Es gibt ein tieferliegendes Problem im Streit darüber, wem Reagans Krone gebührt. Die Ausgaben für den Wohlfahrtsstaat 8 Jahre lang um weniger als 1 % jährlich wachsen zu lassen, ist ein außergewöhnlicher Erfolg, egal ob wir Reagan mit anderen Präsidenten vergleichen oder mit Regierungschefs anderer Länder. Dennoch … auch wenn 0,9 % eine kleine Zahl ist, sie ist immer noch eine positive Zahl. Reagans „Triumph“ liegt darin, dass er im Streit um das Hauptanliegen der Konservativen viel langsamer an Boden verloren hat als alle anderen Spitzenpolitiker. Um die Krise des Konservatismus zu begreifen, müssen wir verstehen, was in der Zeit von Reagan passiert und nicht passiert ist. Wir werden das sehr ausführlich bestimmen und dabei auch die Bestrebungen der Gingrich-Republikaner nach ihrem Sieg von 1994 einbeziehen.

Ein kleineres Stück von einem größeren Kuchen Wie wir bereits im ersten Kapitel festgestellt haben, ist das Wachstum des Wohlfahrtsstaats überall auf der Welt das Resultat zweier Entwicklungen: des Wirtschaftswachstums und des politischen Willens, einen zunehmenden Teil der Wirtschaftsleistung für soziale Wohlfahrtsprogramme auszugeben. Die zwei Dekaden, die Reagans Wahlsieg von 1980 folgten, sind zumindest teilweise die Ausnahmen von der Regel. In jener Zeit war nahezu nur das Wirtschaftswachstum für die Zunahme wohlfahrtsstaatlicher Ausgaben verantwortlich, d. h. der Anteil des BIP, der für Sozialausgaben genutzt wurde, änderte sich kaum. Wenn man es in Dollar des Fiskaljahres 2000 ausdrückt, dann lagen die ProKopf-Sozialausgaben 1981 bei $ 2.659 und 2001 bei $ 3.942 – ein Wachstum von 48,3 %. Im selben Zeitraum wuchs das Pro-Kopf-BIP um 50,9 %, und zwar von $ 22.834 auf $ 34.464. Wenn der für Sozialausgaben gedachte Anteil am BIP über 4

McCain on the Superhighway (2007).

Anrechte

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die beiden Jahrzehnte exakt gleichgeblieben wäre, hätte die Bundesregierung (im Fiskaljahr 2000) pro Kopf $ 3.826 ausgegeben. Der Umstand, dass dieser Anteil von 11,10 % im Jahre 1981 auf 11,43 % im Jahr 2001 stieg, erklärt die übrigen $ 112 (oder 9,0 %) der Zunahme von $ 1.283. Wenn man sich die zwei Dekaden etwas ausführlicher anschaut, erkennt man, dass die vierjährige Amtszeit von George H. W. Bush die einzige Periode war, in welcher der für Sozialausgaben verwendete Anteil am BIP tatsächlich gewachsen ist. Zwischen 1981 und 1989 ging er von 11,10 % auf 9,97 % zurück und stieg dann bis 1993 auf 12,04 %. Im Fiskaljahr wurden 12,09 % erreicht, dann – nachdem 1994 die Zwischenwahlen wieder für eine republikanische Mehrheit auf dem Capitol Hill gesorgt hatten – begann ein kontinuierlicher Rückgang, der 2000 seinen Tiefststand mit 11,01 % erreichte, bevor er 2001 wieder auf 11,43 % anstieg. Zehntel und Hundertstel Prozentpunkte sind keine Rundungsfehler, wenn es um etwas so Riesiges geht wie die amerikanische Wirtschaft. Wäre der prozentuale Anteil des für Sozialausgaben gedachten BIP während der Reagan-Präsidentschaft bei 11,1 % stehengeblieben, dann hätte die Bundesregierung in diesen acht Jahren zusätzliche $ 196 Milliarden für jene Zwecke ausgegeben – das entspricht $ 267 Milliarden Dollar im Fiskaljahr 2000. Hätte man die 9,97 % von 1989 in den vier Jahren Amtszeit von George H. W. Bush beibehalten, dann hätte der Staat $ 338 Milliarden weniger für Soziales ausgegeben – in Dollar des Fiskaljahres 2000 sind das $ 396 Milliarden. Wenn die 12,04 % von 1993 auch für die acht Folgejahre gegolten hätten, dann hätte die Bundesregierung zusätzliche $ 322 Milliarden für Soziales ausgegeben ($ 327 Milliarden in Dollar des Fiskaljahres 2000), bzw. $ 40 Milliarden pro Jahr. Wie wir schon im letzten Kapitel festgestellt haben, sind die Liberalen gegenüber dem Kapitalismus zwar sehr skeptisch eingestellt, brauchen ihn aber, um den Wohlstand zu generieren, den der Staat zur Finanzierung sozialer Reformen benötigt. Die Konservativen wiederum preisen den Kapitalismus, sehen sich aber in der misslichen Lage, dass ihre Kämpfe gegen den Wohlfahrtsstaat durch das dynamische Wachstum der Wirtschaft ernsthaft erschwert werden. Wenn man den Konservativen bei ihren Versuchen seit 1980, den Wohlfahrtsstaat zu reduzieren, zuschaut, dann kommt es einem vor, als ob jemand eine aufsteigende Rolltreppe runterliefe. Um den wohlfahrtsstaatlichen Anspruch auf die nationale Wirtschaftsleistung zwischen 1981 und 1989 um ein Zehntel zu kürzen, waren bittere politische Kämpfe notwendig. Gleichwohl war 1989 das Pro-Kopf-BIP 22,3 % größer als 1981. Zu allem Überfluss der Konservativen waren die Sozialausgaben am Ende von Reagans Präsidentschaft 7,4 % höher als zu deren Beginn.

Anrechte Bis zu einem bestimmten Punkt ist es nützlich, das wohlfahrtsstaatliche Wachstum in präsidiale Amtszeiten zu untergliedern. Man sollte aber nicht den Eindruck erwecken, als ob die bundesstaatlichen Sozialausgaben eine Übung in Nullbasis-

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5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

budgetierung seien, bei der der Kongress und der Präsident jedes Fiskaljahr mit einem leeren Stück Papier beginnen und festlegen, wie viele Milliarden sie für jedes der unzähligen Wohlfahrtsprogramme ausgeben werden. In Wirklichkeit spiegeln die meisten bundesstaatlichen Sozialausgaben politische Entscheidungen wider, die Jahre zurückliegen, wobei diese in Gesetzen und Regulierungen festgehalten sind, nach denen solche Anrechtsprogramme wie soziale Sicherheit oder Medicare überprüft werden. Jahr für Jahr werden dann die Variationen in den Sozialausgaben durch das Zusammenspiel bestehender Beihilfeformeln mit den sich wechselnden ökonomischen und demographischen Daten bestimmt. Erinnern wir uns an das Wachstum des Wohlfahrtsstaats unter Bill Clinton und daran, dass Max Sawicky es im American Prospect verächtlich „pathetisch“ genannt hat. Obwohl die Wachstumsrate zwischen 1993 und 2001 langsamer stieg als unter jedem anderen Präsidenten – Reagan ausgenommen – kann man diesen Umstand nicht nur Newt Gingrichs Unerschrockenheit und Clintons nachgiebigen Dreiecksgeschäften zuschreiben. Die starke Wirtschaft der 1990er Jahre ließ weniger Menschen um Arbeitshilfe und Lebensmittelzuschüsse ersuchen. Gemessen in konstanten Dollar und korrigiert durch das Bevölkerungswachstum, gingen die Ausgaben für jene Zwecke zwischen 1993 und 2001 um 38,0 % bzw. 24,9 % zurück. Demographisch betrachtet waren die Menschen, die in den 1990er Jahren eine Bezugsberechtigung für soziale Sicherheit und Medicare hatten, in den 1930er Jahren geboren. Damals waren die Geburtenraten ungewöhnlich niedrig. Der Bevölkerungsanteil der 65 bis 74-Jährigen sank von 7,35 % im Jahre 1990 auf 6,5 % im Jahre 2000. Für eine Nation, die 2000 281 Millionen Bürger zählte und einen so großen Teil ihrer Wohlfahrtsstaatsausgaben älteren Menschen vorbehält, macht dieser Rückgang um ¾ Prozentpunkte schon einen Unterschied. Wenn man die Sozialausgaben in konstanten Dollar misst und in Relation zur amerikanischen Gesamtbevölkerung stellt, dann wuchsen sie unter Clinton jährlich um 1,15 %; die Ausgaben für Medicare um 3,17 %. In beiden Fällen liegen die Zahlen unter denen, die für alle anderen Präsidentschaften gelten.5 In Kapitel 2 stellten wir fest, dass der New Deal nicht nur nach politischen Siegen trachtete, sondern nach dauerhaften Siegen, die Amerikas Wohlfahrtsstaat vor den „Launen der öffentlichen Meinung und der Reichweite der Wahlen und der Parteipolitik“ schützen würden, um mit den Worten von Sidney Milkis zu sprechen. Milkis zitiert dabei den New Dealer Joseph Harris. Dieser schrieb 1936: „Die Probleme des amerikanischen Lebens sind sehr wahrscheinlich derart, dass sie es auf längere Zeit keiner politischen Partei gestatten, die kollektivistischen Aufgaben, die jetzt erledigt werden, mehrheitlich zurückzuweisen.“6 Die Dauerhaftigkeit, welche die Siege des Liberalismus auszeichnet, zeigt sich am deutlichsten in der Unantastbarkeit der Anrechtsprogramme – das Schlagwort 5 6

U. S. Census Bureau (2002); U. S. Census Bureau (2008a). Milkis (2002), S. 41.

Anrechte

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selbst ist ein Beleg für die Einstellung, es sei selbstverständlich, die Leistungsströme des Staates als unveräußerliche Rechte zu betrachten. Die Architekten des amerikanischen Sozialversicherungssystems haben es zur Bestärkung des Anrechtsdenkens gewählt, um den Menschen alle Zurückhaltung zu nehmen, die sie eventuell beim Beanspruchen der Leistungen, die eigentlich „ihre“ sind, haben könnten. 1941 suggerierte Luther Gulick, der schon viele New Deal-Kommissionen beraten hatte, Präsident Roosevelt, dass die Entscheidung von 1935, die Sozialleistungen an eine regressive Lohnsteuer zu koppeln, eine unglückliche sei. Seine Pointe war, dass die Finanzierung der sozialen Sicherheit aus den allgemeinen Einnahmen des Staates dem liberalen Ziel in zweierlei Hinsicht besser dienen würde: zum einen wegen der Steuerprogression, und zum anderen mit Blick auf die öffentliche Verschuldung zur Ankurbelung der Gesamtnachfrage nach Keynes. In seiner oft zitierten Antwort sagte FDR: „Ich denke, Sie haben recht in Bezug auf die Wirtschaft. Sie ist Politik durch und durch. Wir haben jene Lohnsozialabgaben eingeführt, um den Beitragszahlern das legale, moralische und politische Recht zu geben, ihre Pensionen und Arbeitslosenhilfen zu beziehen. Mit den Steuern, die darin stecken, kann mir kein Politiker mein Sozialversicherungsprogramm jemals streichen. Jene Steuern sind keine Sache der Ökonomie, sondern Politik pur.“7

FDR sollte mit seiner Vorhersage, dass die Sozialversicherung sich für die verdammten, sich einmischenden Politiker als undurchdringlich erweisen sollte  – und für die verdammten Wähler, die sie wählen – 70 Jahre lang Recht behalten. Die Widerstandsfähigkeit der Anrechtsprogramme erklärt besser als alles andere, warum die von Ronald Reagan in den 1980er Jahren und von Newt Gingrich in den 1990er Jahren geführten Konservativen das Wachstum des Wohlfahrtsstaats zwar verlangsamen, aber nicht stoppen oder gar umkehren konnten. Die ReaganRegierung war recht gut darin, ihr Verspechen, den bundesstaatlichen Apparat zu verkleinern, einzulösen – jedenfalls dort, wo es politisch machbar war. Zwischen 1991 und 1989 schrumpften die Bundesausgaben für Erziehung, Fortbildung, Beschäftigung und soziale Dienste um 27,9 %, Inflation und Bevölkerungswachstum mit eingerechnet. Die Aufwendungen für die Einkommenssicherung fielen um 7,4 %. Aber diese beiden Bereiche umfassten zusammen nur 34,1 % der gesamten Sozialausgaben unter Reagan, gemessen in konstanten Dollar. Im Gegensatz dazu stellten die soziale Sicherheit und Medicare zusammen 57,9 % der Sozialausgaben. Inflation und Bevölkerungswachstum schon eingerechnet, lagen die Kosten für Medicare 1989 um 46,8 % über denen von 1981, während sie für die soziale Sicherheit (bei gleicher Bereinigung) um 12,7 % gestiegen waren. Der Wettbewerb zwischen den Liberalen, die den Wohlfahrtsstaat ausdehnen wollen, und den Konservativen, die ihn beschneiden wollen, scheint ein typisches Null-Summen-Spiel zu sein, ein Tauziehen, bei dem eine Partei genau das gewinnt, was die andere verliert. Die Clinton-Jahre waren dagegen eine Ära der Negativen Summen-Politik. Sowohl die Konservativen wie auch die Liberalen hatten guten 7

Social Security Administration, o. J.

184

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

Grund, verärgert zu sein. Folglich erinnert sich niemand an diese Zeit des Friedens und des Wohlstands als eine Ära der guten Gefühle. Die Liberalen hofften 1992, dass Clintons Wahl nicht nur eine Beendigung, sondern auch eine Zurückweisung und Demontage des Reaganismus8 bedeutete. Was immer auch Clintons vages und schnell wieder vergessenes Schlagwort für die Innenpolitik vom „Neuen Bund“ in der Theorie auch immer bedeutet haben mag, in der Praxis war es alles andere als der dritte Teil der New Deal / Great Society-­ Trilogie. Selbst mit einer demokratischen Mehrheit im Kongress während der ersten zwei Jahre gelang es Clinton kaum, Wohlfahrtsprogrammausdehnungen, wie man sie von FDR und LBJ her kannte, durchzusetzen. Seine Hoffnungen, die nationale Gesundheitsversicherung zu retten, das letzte Teil im großen Puzzle von New Deal und Großer Gesellschaft, gerieten 1993 ins Stocken und zerstoben 1994 schließlich ganz. Auch andere ambitiöse Pläne wurden aufgegeben oder beschnitten, weil man die Finanzmärkte beruhigen musste und auch die Wähler von Ross Perot, die 1992 fast ein Fünftel der Wählerschaft stellten und dem Schuldenabbau den Vorrang vor der Ausdehnung der Staatsaktivität einräumten. Bereits im April 1993, drei Monate nach seiner Amtseinführung, war Clinton über die begrenzten Aussichten für seine Amtszeit verbittert. „Ich hoffe, Sie alle wissen, dass wir hier alle Eisenhower-Republikaner sind“, sagte er einmal zu einer Gruppe von Beratern. „Wir alle sind hier Eisenhower-Republikaner und kämpfen gegen Reagan-Republikaner. Wir stehen für niedrigere Defizite, freien Handel und den Rentenmarkt. Ist das nicht großartig?“9 Andererseits hofften die Konservativen, dass die Wahlen von 1994 die Vollendung des Reaganismus bringen würden, was auch nicht eintraf. Zum ersten Mal seit 40 Jahren hielten sie im Repräsentantenhaus als auch im Senat die Mehrheit, und das mit Gesetzgebern, die ideologisch militanter waren als die EisenhowerRepublikaner von 1953. Und dennoch wuchs der Wohlfahrtsstaat unter Reagan langsam und schrumpfte nicht. Major Garrett, ein Fernsehjournalist der Fox News, meint in seinem Buch The Enduring Revolution, das vom Vertrag mit Amerika handelt, dass die Gingrich-Republikaner wichtige politische Siege errungen hätten, die allerdings im Schatten ihrer deutlich sichtbaren Niederlagen stünden. Mit dem Dot. com-Aufschwung habe es unerwartet eine neue Quelle für die Kapitalertragssteuer gegeben. Diese Quelle habe man zur Defizitreduzierung und zur Schuldentilgung genutzt, und nicht für neue Wohlfahrtsprogramme.10 Garretts These hat zwei Schwachstellen. Zum einen verdeckt jede klare Trennlinie zwischen Politik und politischen Richtlinien, dass die beiden Bereiche in Wirklichkeit an vielen Stellen nahtlos ineinander übergehen und sich beeinflussen. Clinton errang einen politischen Sieg, als die Gingrich-Republikaner ihr Blatt

8

Etwa gleichbedeutend mit Reaganomics, d. Hrsg. Woodward (2005), S. 161. 10 Garrett (2005), S. 130. 9

Der libertäre Grund gegen den Wohlfahrtsstaat

185

1995 überreizten und die Bundesregierung de facto schlossen, indem sie die Ausweitung des Schuldenlimits für den Bund ablehnten bzw. verlangten, dass Clinton der langfristigen Ausgabenbegrenzung zustimmte. Nachdem klar war, dass die Öffentlichkeit die Grand Old Party für die Stilllegung verantwortlich machte, erkannten die Republikaner, dass die Schuldengrenze des Bundes eine jener Waffen war, die man sehr wirkungsvoll zücken, aber nie mehr ganz problemlos ins Halfter zurückstecken kann. Ab 1995 konnte Clinton den Konservativen in der Regel mehr Dollars für den Wohlfahrtsstaat abringen, als sie ursprünglich auszugeben bereit waren. Er musste nur darauf verweisen, dass, sollten sie nicht mitspielen, ein neuer Stillstand einträte.11 Die politische Biegsamkeit des Wohlfahrtsstaat war, wie z. B. unter Reagan, eine Folge wehrhafter Anrechtsprogramme. Durch ihre Versuche, Medicare zu beschneiden, boten die Republikaner sich den Demokraten zu Gegenschlägen geradezu an. „Clinton nutzte die Popularität von Medicare gegen die Republikaner“, heißt es bei Garrett.12 Die Grand Old Party beharrte nachdrücklich darauf, dass ihr Plan die Wachstumsrate von Medicare beschnitten hätte, nicht aber das Programm selbst. Sie ging sogar so weit, dass sie auf ihrem Parteitag 1996 verkündete: „Was die Lage von Medicare angeht, so lügt Bill Clinton, und er lügt auch, wenn es um unsere Versuche geht, Medicare zu retten.“13 Nichts von alledem tat gut, weder ihnen noch ihren Medicare-Plänen. Am Ende von Clintons Präsidentschaft waren die Republikaner „demoralisiert, frustriert und lustlos“, so Garrett. „Sie wollten Medicare ändern, aber sie wussten nicht wie.“14 Mit Garretts These ist, wie oben gesagt, noch ein zweites Problem verbunden: Die jährliche Wachstumsrate des Wohlfahrtsstaats unter Clinton in Höhe von 1,49 % – meinetwegen auch die von 0,90 % unter Reagan – einen Sieg der Konservativen zu nennen, weicht den Begriff der Wirksamkeit auf. Die Konservativen haben das Spiel verloren, aber sie haben das Beste daraus gemacht. Sie waren besser als erwartet und besser als die Widersacher des Wohlfahrtsstaats in anderen Ländern. Diese Niederlagen als moralische Siege zu verkaufen, kann die Wirklichkeit allerdings nicht verklären. Es ändert auch nichts an der Tatsache, dass solche Siege selbst letztlich demoralisieren.

Der libertäre Grund gegen den Wohlfahrtsstaat Die Tatsache, dass nicht einmal Ronald Reagan „das Ausmaß und den Einfluss der bundesstaatlichen Einrichtungen zurückdrängen“ konnte, wie er in seiner Antrittsrede 1981 versprochen hatte, zeigt, dass der Streit der Liberalen und der Kon 11

Garrett (2005), S. 128 f. Garrett (2005), S. 248. 13 1996 Republican Party Platform (1996). 14 Garrett (2005), S. 248. 12

186

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

servativen über den Wohlfahrtsstaat von Grund auf asymmetrisch ist. Worum es in ihrem politischen Wettstreit geht, ist nicht, ob das Dauerprojekt der Liberalen, den Wohlfahrtsstaat auszudehnen, Fortschritte macht oder nicht, sondern, ob es schnelle oder langsame Fortschritte macht. Liberale Siege fördern den Liberalismus. Konservative „Siege“ zögern den Liberalismus hinaus. Die trüben Aussichten für den Konservatismus sind aber nicht mit der Stärke und Überzeugungskraft der liberalen Begründung des Wohlfahrtsstaats zu erklären; deren Mängel wurden in Kapitel drei und vier erörtert und sind Gegenstand vieler Bücher und Aufsätze. Die meisten davon stammen von Konservativen, wenn auch nicht alle. The End of Liberalism ist u. a. schon deshalb eine vernichtende Kritik an der liberalen Staatsführung, weil der Autor, Theodore Lowi, mit den Zielen des Liberalismus sympathisiert.15 Die Konturlosigkeit des liberalen Denkens macht dessen Widerlegung schwierig. Ganz in diesem Sinne schreibt der moderne Liberale Jacob Hacker, dass der New Deal nicht angetreten sei, die Marktwirtschaft durch ein anderes System zu ersetzen, sondern „der Überzeugung treu blieb, man müsse den Kapitalismus ‚zum Guten wenden‘.“16 Was es für den Kapitalismus heißt, gut zu sein oder nur besser, bleibt jedoch eine schleierhafte und offene Frage. Insofern ist das Wenden des Kapitalismus zum Guten von einem Herumgemurkse am Kapitalismus nicht zu unterscheiden. Dieser Mangel an Sorgfalt entpuppt sich jedoch als ein lösbares politisches Problem. So schrieb 1914 der britische Rechtsgelehrte A. V. Dicey: „Der nützliche Effekt staatlicher Eingriffe, vor allem auf dem Wege der Gesetzgebung, ist direkt, unmittelbar und gewissermaßen sichtbar, die schädlichen Wirkungen indes graduell, indirekt und außer Sichtweite. … Die Mehrheit der Menschheit muss also fast zwangsläufig der staatlichen Intervention ungebührlich zustimmen.“17 Folgt man James Q. Wilson, dann haben die Konservativen von drei verschiedenen Positionen aus gegen den Wohlfahrtsstaat zu argumentieren versucht: aus Sicht des Libertarianismus, der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie und der Wohlfahrtsökonomie.18 Von jenen ist es der Libertarianismus, der den Wohlfahrtsstaat frontal angreift und kategorisch ablehnt. Abgesehen von den vielen – klugen wie weniger klugen – Zugeständnissen an den Wohlfahrtsstaat, die Reagan während seiner Amtszeit machte, hat er doch die Essenz dieses grundsätzlichen Arguments gegen den Wohlfahrtsstaat klar herausgestellt, und zwar in seiner Abschiedsrede im Januar 1989: „Ich hoffe, wir haben den Menschen wieder in Erinnerung gerufen, dass sie nicht frei sind, solange die Staatsgewalt unbegrenzt ist. Man kann hier ein Verhältnis zwischen Ursache und Folge ausmachen, das so klar und vor 15

Lowi (1979). Hacker (2005). 17 Dicey (1914), S. 257 f., zitiert nach Friedman (1962), S. 201. 18 Wilson (1986), S. 18 f. 16

Der libertäre Grund gegen den Wohlfahrtsstaat

187

hersehbar ist wie ein Naturgesetz: Wenn sich der Staat ausdehnt, zieht sich die Freiheit zusammen.“19 Die Libertären nennen sich manchmal „Klassische Liberale“, eine Bezeichnung, welche die Rechtmäßigkeit in Frage stellt, mit der die Befürworter eines aktiven Staates ihren Liberalismus praktizieren. Milton Friedman kündigt in der Einleitung zu seinem populären und einflussreichen Buch Capitalism and Freedom an, er beabsichtige „das Wort Liberalismus in seiner ursprünglichen Bedeutung“ zu verwenden, „weil die Lehre dem freien Menschen gilt“, statt „den Begriff den Befürwortern von Maßnahmen, welche die Freiheit zerstören, zu überlassen.“20 Es geht hier um mehr als die Frage, wer das größere semantische Anrecht hat. Die libertäre Position ist die, dass der ältere Liberalismus, der die Sicherung der Freiheit mittels begrenzter Staatsgewalt vorsah, nicht defekt war und keiner Reparatur bedurfte. Den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft schaffte er mühelos und ohne an dem Glauben rütteln zu müssen, dass die eigentliche Gefahr für die individuelle Freiheit von einem mächtigen und aufdringlichen Staat herrührte.21 Die Kommentare von Reagan und Friedman zeigen sehr klar, dass für den wahren Libertären alle anderen politischen Überlegungen im Vergleich zur Freiheit zweitrangig sind. Sollte sich herausstellen, dass mehr Staat den Wohlstand fördert und weniger Staat ihn lähmt, dann wäre der Libertäre immer noch für die begrenzte Staatsgewalt, weil sie die Alternative ist, welche die Freiheit hochhält. Die Libertären glauben aber auch, dass sie diesem Dilemma nie gegenüberstehen werden. „Freedom Works“ (Freiheit funktioniert) – wie sich eine pro-marktwirtschaftliche Gruppe nennt. Sie funktioniert, weil die „spontane Ordnung“ des freiwilligen Austauschs von Gütern und Leistungen, angeleitet durch die Marktpreise, die Ressourcen zuverlässiger und flexibler ihrer besten Nutzung zuführt als jede Expertenkommission. Im letzten Kapitel haben wir darauf hingewiesen, dass viele Denker links der Mitte die Idee der spontanen Ordnung durch Märkte inzwischen angenommen haben. Wir sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass andere es nicht tun. So schrieb z. B. Matthew Yglesias 2008, dass „die Idee eines Staates, der sich der neutralen und effektiven Wahrung der Gerechtigkeit im Rahmen eines Laissezfaire verschrieben hat, eine Illusion zu sein scheint. Die Alternative zu halbwegs wirksamen demokratischen Einrichtungen und einer gangbaren links gerichteten politischen Bewegung sind nicht freie Märkte, sondern die Inbeschlagnahme des Staates durch wirtschaftliche Interessen wie am Ende des letzten Jahrhunderts bzw. die Bush-Regierung selbst.“22 Die unsichtbare Hand ist für Yglesias in Wirklichkeit eine verdeckte Hand. Die Frage ist nicht, ob der Staat dazu genutzt wird, einigen

19

Reagan (1989). Friedman (1962), S. 6. 21 Siehe z. B. Epstein (2006), S. 14–51. 22 Yglesias (2008). 20

188

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

Vorteile auf Kosten anderer zu verschaffen. Das ist ohnehin der Fall. Die wirkliche Frage ist, welche Interessen sich durchsetzen werden, wenn sie erst einmal an die Regierungsmacht kommen. Nach Yglesias geht es im Grunde darum, ob die bereits Reichen und Mächtigen die Regierung dazu kriegen, ihre Position weiter zu stärken, oder ob die weniger Bevorteilten die Regierung dazu nutzen werden, das Ungleichgewicht zu ihren Gunsten zu kippen. Auch wenn wir diese Einschätzung verwerfen und die Idee von einem Staat als neutralen, uneigennützigen Schiedsrichter für eine erstrebenswerte Norm halten und nicht als Illusion abtun, so erfahren wir von Yglesias nichts über die Schwierigkeiten beim Mischen von libertären Grundsätzen mit kapitalistischem Wohlstand und Demokratie. Der Ökonom Tyler Cowen, der dem Libertarianismus weitaus freundlicher gesonnen ist als Yglesias, sagt, das „fundamentale Paradox des Libertarianismus“ sei, dass die „Menschen tief wurzelnde Impulse haben, die sie neu erworbenen Wohlstand teilweise für mehr Staat und vor allem für Transferprogramme ausgeben lassen.“ Mit Blick auf jene Art von internationaler Evidenz, die wir in Kapitel I untersucht haben, nennt Cowen größeren Wohlstand und mehr Staat „ein Kopplungsgeschäft“ und meint, dass der „Libertarianismus derzeit in der geistigen Krise“ stecke. Der Grund: „Die Reaktion der Libertären gegen die Moderne besteht hauptsächlich in dem Wunsch, dass das Kopplungsgeschäft, dem wir gegenüberstehen, kein Kopplungsgeschäft“ wäre.23 Um bei Wahlen erfolgreich zu sein, müsste der Libertarianismus verlässliche Wählermehrheiten dazu bringen, mindestens eine der folgenden Positionen einzunehmen: a) die grundsätzliche Auffassung, dass die greifbaren Vorteile des Wohlfahrtsstaats einen derart umfangreichen Staat erfordern, dass die Freiheit gefährdet ist – Ende der Diskussion; oder b) die aufgeklärte Auffassung, dass die unmittelbaren Vorteile des Wohlfahrtsstaats letztlich hinter deren Kosten zurückbleiben. Man muss kaum erwähnen, dass die Wähler in dieser Hinsicht bislang eine Enttäuschung waren. Geht es nach Louis Menand, dann machte Barry Goldwater 1964 seinen Wahlkampf gegen mehr Staat in dem Glauben, „dass man mithilfe eines Programms voller politischer Theorien Präsident werden könnte. Die Menschen stimmen nicht für Theorien. Sie stimmen mit ihren Hoffnungen und Ängsten und sehen diese immer in konkreten Zusammenhängen.“24 Folglich, so Cowen, „ist der Libertarianismus zu einer Serie von Beschwerden über die Unwissenheit der Wähler und die Motive der Interessengruppen geworden. Auch wenn die Beschwerden weitgehend berechtigt sind, haben sie keine Schlacht entschieden.“ Und die größte Schlacht, so Cowen, habe man verloren: „Der Wohlfahrtsstaat wird bleiben, ob uns das passt oder nicht.“25 Auch wenn die Wähler aufgeklärt und weitsichtig genug wären, um das libertäre Argument ganz zu verstehen, würde es ihnen doch nicht die Anleitung geben, 23

Cowen (2007). Menand (2001). 25 Cowen (2007). 24

Der libertäre Grund gegen den Wohlfahrtsstaat

189

nach der sie suchen. Die liberalen Fürsprecher des Wohlfahrtsstaats sagen, der Staat sollte so groß, wie nötig sein, während die libertären Gegenspieler meinen, er solle so klein wie möglich sein. Die Libertären können aber nicht viel besser erklären, wie klein klein genug ist, als die Liberalen erklären können, wie groß groß genug ist. Der Liberale wird immer ein weiteres soziales Wohlfahrtsprogramm finden, ganz egal wie viele es bereits gibt, während der Libertäre immer wieder eins zum Ausmustern finden wird, egal wie viele schon abgebaut wurden. Der Ökonom ­Murray Rothbard hat z. B. Milton Friedman wegen dessen Befürwortung von Schulgutscheinen gescholten, weil s. E. ernsthafte Libertäre jegliche Art von staatlicher Bildungsförderung ablehnen sollten.26 Das Problem wiegt schwerer als der bloße Streit um die Reinheit der ideolo­ gischen Lehre. Journalisten sind mit Sätzen, die mit „So viel ist gewiss“ anfangen, bestens vertraut. Sie kommen immer dann, wenn der Autor seine Sicht der Dinge dargelegt hat. Mit „So viel ist gewiss“ befreit man sich von der Pflicht, konträre Argumente zur Kenntnis zu nehmen, und findet man einen bequemen Übergang zu dem Schluss, dass die entgegengesetzte Position der Meinung des Journalisten weit unterlegen ist. Wenn die libertäre Haltung gegen den Wohlfahrtsstaat in die Rede eines konservativen Politikers eingebunden ist, dann gibt es immer ein „So viel ist gewiss“. In Reagans Antrittsrede von 1981 hieß es z. B.: „Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich will den Staat nicht abschaffen. Ich will vielmehr, dass er funktioniert – mit uns arbeitet, nicht gegen uns; dass er an unserer Seite steht, statt auf uns herumzureiten. Der Staat muss Chancen bieten, nicht ersticken; Produktivität steigern, nicht drosseln.“27

Das „So viel ist gewiss“ war in seiner 1980 gehaltenen Antrittsrede als Präsidentschaftskandidat noch um einiges konkreter: „Es ist entscheidend, dass wir beides erhalten, den Aufschwung des wirtschaftlichen Wachstums und die Stärke des Sicherheitsnetzes für diejenigen in der Gesellschaft, die Hilfe brauchen. Wir halten es auch für wesentlich, dass die Integrität aller Aspekte der sozialen Sicherheit erhalten bleibt.“28

Leitartikler, die eine Debatte gewinnen wollen, lassen so wenig wie möglich in ihren „So viel ist gewiss“-Absatz einfließen. Politiker, die eine Wahl gewinnen wollen, müssen all das einfließen lassen, was ihnen eine Mehrheit garantiert. Konservative Politiker, die einer Wählerschaft gegenüberstehen, die es gewohnt ist, von Wohlfahrtsprogrammen abzuhängen, setzen die „So viel ist gewiss“-Sätze so ein, dass darin die Fortsetzung der Programme versprochen wird und die unausweichliche Verantwortlichkeit des Staates für solche Programme anerkannt wird. Die Konservativen gestehen auf diese Weise letztlich zu, dass die libertären Prämissen, 26

Buckley (1995), S. 19. Reagan (1981). 28 Reagan (1980). 27

190

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

mit denen die Kritik am Wohlfahrtsstaat untermauert wird, ihre Ehrung auf einem hohen Abstraktionsniveau erfahren, aber in der Praxis keine große Gefolgschaft finden. „Wir meinen es, aber wir meinen nicht, dass es das meinen soll.“ Der Staat expandiert, und die Freiheit kontrahiert, und so wie der Staat kontrahiert, expandiert die Freiheit – aber keine Sorge, liebe Wähler, die Art von Staatskontraktion, welche die Freiheit expandieren lässt, indem das Sicherheitsnetz gelockert oder der Staat von der Bereitstellung von Chancen abgehalten wird, ist nicht Teil unseres Plans.

Argumente plus Beihilfen: angebotsorientierte Wirtschaftstheorie Die besten Argumente dafür, dass die 1980er Jahre für die Konservativen eine große Niederlage waren, lieferte David Stockmann, OMB-Direktor während der ersten fünf Jahre, die Reagan im Weißen Haus regierte. In seinen Memoiren, The Triumph of Politics: How the Reagan Revolution Failed, schildert er sich so, wie ihn der Journalist Timothy Noah 2003 beschrieben hat, als „einen wahren Bekenner der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie und einen der mächtigsten Konservativen, der einen ernsthaften Versuch zur Schrumpfung des Staatsumfanges unternimmt.“29 Dieses nüchterne Urteil unterstellt, dass die angebotsorientierte Wirtschaftstheorie und die Bemühungen zur Beschränkung des Staates in einer einfachen und harmonischen Beziehung zueinander stehen. Die Ergebnisse aber zeigen, dass die Beziehung komplex und oft angespannt war. Die Angebotsorientierten beschworen z. B. regelmäßig die Steuersenkungen, die Präsident Kennedy 1962 vorgeschlagen hatte und die 1964 umgesetzt wurden, als Vorreiter ihrer eigenen Bemühungen. Damals wurde der Höchststeuersatz von 91 % auf 70 % reduziert. In diesem Zusammenhang sollte man erwähnen, dass 1964 der wichtigste konservative Politiker in Amerika, nämlich Barry Goldwater, gegen die Steuersenkungen stimmte und meinte: „Wenn wir die Steuern kürzen, bevor wir verbindliche Grundsatzentscheidungen über die Ausgaben getroffen haben, dann machen wir den Weg frei für öffentliche Schulden und die inflationären Auswirkungen, die unvermeidlich folgen werden.“30 Das Argument der Angebotsorientierten, das zum Zeitpunkt der Wahl Reagans zum Präsidenten schon viele Konservative überzeugt hatte, besagt, dass es eine in hohem Maße kleinkarierte Wirtschaftspolitik sei und man sich zudem selbst eine politische Wunde zufüge, wenn man zuerst grundsatzgeleitete, verbindliche und politisch schwierige Haushaltskürzungen wolle, bevor man die Steuern kürzt. 1980 glaubten die Konservativen, dass sie zwar 50 Jahre lang als Sieger aus den Debatten mit den Liberalen hervorgegangen seien, die Wahlen aber an sie verloren hät-

29 30

Noah (2003). Frum (1994), S. 34 f.

Argumente plus Beihilfen: angebotsorientierte Wirtschaftstheorie

191

ten. Joseph Cropsey kam 1965 zu der Feststellung, dass die inneren Widersprüche des Liberalismus „dem Liberalismus als Theorie nachweislich geschadet haben, ihn aber als politische Bewegung keineswegs behindert haben.“ Er schloss daraus sogleich, dass „es aufschlussreich ist, festzustellen, wie breit die Kluft zwischen theoretischer Notwendigkeit und politischer Wirksamkeit ist.“31 Die Konservativen glauben, dass die Liberalen diese Kluft mit greifbaren Vorteilen überbrückt haben und dass diese den entscheidenden Teil der Wählerschaft dazu bewegt haben, die Brüche in der Logik der Liberalen zu übersehen. Statt nun weiterzumachen und logisch überzeugende sowie politisch unwirksame Schlüsse zu entwickeln, mussten die Konservativen Feuer mit Feuer bekämpfen. Der Liberalismus war aufgeblüht, indem er die Staatsausgaben zur unabhängigen Variablen und die Steuern zur abhängigen Variablen gemacht hatte. Nach dieser Logik hieß es: Gib den Menschen einen Korb an attraktiven und erfolgreichen Wohlfahrtsprogrammen und die Wähler werden die dafür notwendigen Steuern akzeptieren. Die angebotsorientierten Konservativen versuchten die Steuern zur unabhängigen Variablen und die Ausgaben zur abhängigen Variablen zu machen: Gib den Menschen einen Korb an ansehnlichen Steuersenkungen und rechne damit, dass sie zu ihnen stehen werden, wenn Du das Maß der Ausgaben an den daraus resultierenden Einkommensströmen orientierst. Die National Review gab unmittelbar im Anschluss an Reagans Wahl 1980 dieses ökonomische Argument durch eine einfache Gleichung wieder. Die Steuereinkünfte des Staates sind das Produkt aus der Steuerrate multipliziert mit der Steuergrundlage. Die richtige Form der Steuersenkung lässt in Verbindung mit einer klügeren Regulierungs- und Geldpolitik die Wirtschaft wachsen – also die Steuergrundlage – mit der Folge, dass niedrigere Steuersätze dem Staat unverminderte Steuereinkünfte bescheren. Im Hinblick auf die Politik meinte die National Review, dass die Forderung der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, zuerst die Steuern zu reduzieren, „eine Ökonomie der Hoffnung widerspiegelt, keine Ökonomie des Gürtel-engerSchnallens, mit der in den letzten 50 Jahren die Wahlen verloren wurden.“ Die Umkehrung der von Goldwater geforderten Reihenfolge lässt eine größere Reagan-Koalition erwarten, die „anderes verkörpert als den traditionellen Ansatz von Reagan“. Die National Review hielt diese politische Stärke für notwendig, um die innenpolitischen wie auch die außenpolitischen Herausforderungen zu meistern.32 Das Verblüffende an diesem Argument ist, dass hinsichtlich der Ausgabenkürzungen, die Legionen von Konservativen über Jahrzehnte hinweg befürwortet haben, nicht gesagt wird, sie seien das Nächste, was nach den Steuersenkungen zu tun sei, sondern etwas, das irgendwann in ferner Zukunft zu tun sei; und das klingt sehr nach nie. Nachdem Reagan gewählt worden war, veränderte die National Review

31 32

Cropsey (1965), S. 46 f. The Election (1980).

192

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

ihr angebotsorientiertes Argument, wobei sie das ältere Ziel, den zu großen Staat zu attackieren, aufgriff und die Idee, zuerst die Steuern zu kürzen, als politische Taktik ausgab, um ja nicht zu verlieren. „Der politische Geniestreich der unmittelbaren Steuersenkungen à la Kemp-Roth liegt in dem möglich gewordenen Einfluss, den man auf die Kongressabgeordneten – die ja auch nur Menschen waren – nehmen konnte. Steuersenkungen sind natürlich einfacher umzusetzen als Haushaltskürzungen. Kemp-Roth sagt: ‚Okay, führt die Steuersenkungen durch.‘ Dann passiert eines der folgenden Dinge oder eine Mischung aus beiden: a) die durch Steuersenkungen stimulierte Wirtschaft spült Einkünfte in die Staatskasse, was wiederum bescheidenere Haushaltskürzungen nach sich zieht, die politisch schmackhafter sind, oder b) das passiert nicht und der plötzliche Inflationsdruck macht tiefe Einschnitte zur Reduzierung des Defizits politisch leichter durchsetzbar.“33

Eine der ewigen Kontroversen hinsichtlich der Amtszeit von Reagan ist, ob die durch Kemp-Roths Steuersenkungen stimulierte Wirtschaft Geld in die Staatskasse spülte oder nicht. Die beste Antwort scheint zu sein, dass es, um die Worte der National Review zu bemühen, eine Mischung aus beidem war. Das heißt, dass die Bundesregierung unter Reagan weder in Geld schwamm noch auf dem Trockenen lag. Die angebotsorientierte Wirtschaftstheorie konzentrierte sich auf den Stimulus, den Einkommensteuersenkungen nach sich ziehen. Anhand der Tabelle 5.1 können wir sehen, dass die Reagan-Jahre (1981–1989) im historischen Vergleich jener 67 Jahre, in denen die Bundesregierung von Individuen Einkommensteuern erhebt, außergewöhnlich waren.34 In den ersten drei Jahren der Reagan-Präsidentschaft, d. h. von 1981 bis 1984, gingen die realen Pro-Kopf-Einkommensteuereinkünfte um 12,2 % zurück. Während einer ernsten Rezession und einer anfänglichen Erholungsphase wurde ein niedrigerer Steuersatz auf einer kleineren Steuergrundlage erhoben. Diese Entwicklung war nicht einfach eine Folge der Fiskalpolitik. Der Vorstand der US-Notenbank ging gleich zu Beginn von Reagans Amtszeit aggressiv vor, um die Inflation einzudämmen, indem sie das Geld verknappte und dessen Preis, die Geldzinsen, erhöhte. Nach Auffassung von Senator Daniel Patrick Moynihan, die seinem Aufsatz von 1983 zu entnehmen ist, hatte das zur Folge, dass die „realen Zinsraten das höchste Niveau in der Geschichte unserer Nation erreichten und die Wirtschaft den Bach runterging. Ende September 1981 nutzte die Stahlindustrie noch 74,5 % ihrer Kapazitäten, Ende des Jahres 1982 nur mehr 29,8 %.“35

33

Budget: The Real Issue (1981), S. 136 f. Die Daten der Tabellen 16, 17 und 18 wurden aus der historischen OMB-Tabelle 1.2 (Summary of Receipts, Outlays, and Surpluses or Deficits (–) as Percentages of GDP: 1930–2013) und den historischen Populationsschätzungen der Zensusbehörde (Statistical Abstract, Table HS-1) generiert. 35 Moynihan (1983), S. 19. 34

Argumente plus Beihilfen: angebotsorientierte Wirtschaftstheorie

193

Tabelle 5.1 Pro-Kopf-Bundeseinnahmen durch Besteuerung individueller Einkommen, 1940–2007, gemessen in konstanten Dollar des Fiskaljahres 2000 1940

69

1963

1.153

1986

2.040

1941

97

1964

1.150

1987

2.216

1942

222

1965

1.119

1988

2.176

1943

409

1966

1.230

1989

2.305

1944

1.178

1967

1.308

1990

2.303

1945

1.060

1968

1.397

1991

2.201

1946

857

1969

1.680

1992

2.160

1947

849

1970

1.631

1993

2.237

1948

820

1971

1.463

1994

2.311

1949

628

1972

1.519

1995

2.436

1950

633

1973

1.570

1996

2.634

1951

810

1974

1.672

1997

2.881

1952

989

1975

1.543

1998

3.169

1953

1.020

1976

1.533

1999

3.290

1954

982

1977

1.691

2000

3.559

1955

930

1978

1.800

2001

3.407

1956

997

1979

1.983

2002

2.858

1957

1.044

1980

2.023

2003

2.568

1958

972

1981

2.137

2004

2.527

1959

995

1982

2.063

2005

2.780

1960

1.073

1983

1.900

2006

3.001

1961

1.057

1984

1.876

2007

3.227

1962

1.134

1985

2.019

Mit der Erstarkung der Steuergrundlage während der Expansion in der 1980er Jahren stiegen die Einkünfte aus der Einkommensteuer, aber erst 1987, nach 6 Jahren Reagan, hatten sie das Niveau von 1981 erreicht. 1989 lagen die Pro-Kopf-Einkünfte aus der Einkommensteuer 22,9 % über denen des Jahres 1984 und 7,9 % über denen von 1981. Die individuelle Einkommensteuer war bis zum Zweiten Weltkrieg für den Staat keine sonderlich wichtige Einkunftsquelle. Von 1934 bis 1941 stellte sie nur ein Sechstel aller Steuereinkünfte des Bundes. Die Verbrauchssteuern machten ein Drittel aus. 1944 hatte die individuelle Einkommensteuer ihre Bedeutung für die Einnahmen des Bundes fast verdreifacht, d. h., nun stellte sie 45 % vom Ganzen. In den 62 Folgejahren hat sich der prozentuale Anteil in etwa auf diesem Niveau gehalten. Er schwankte in all der Zeit zwischen 39 % und 50 %.

194

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

Es überrascht wohl kaum, dass man auch darüber nachdenken muss, in welchem Verhältnis die Einkommensteuern zu den anderen Quellen der Bundeseinnahmen stehen, und zwar deshalb, weil der Kongress es 1981 abgelehnt hat, die amerikanische Wirtschaft in ein Labor zu verwandeln, in dem man die angebotsorientierte Hypothese überprüfen kann, der zufolge niedrige Grenzsteuersätze eine neue Ära rapiden wirtschaftlichen Wachstums auslösen. Als die Struktur der Einkommensteuer erst einmal auf dem Tisch der Gesetzgeber lag, begann der Kongress auch über andere Aspekte der bundesstaatlichen Steuerpolitik nachzudenken, z. B. über Abnutzungsabschreibungen, inflationsangepasste Steuersätze und Regeln zur Besteuerung privater Rentenbeiträge. Mit einem Oberseminar konnte man den Gesetzgebungsprozess nicht verwechseln: Die Interessengruppen trachteten nach Steuervorteilen und erhielten sie auch. Bis die Gesetzesvorlage endlich auf dem Tisch von Präsident Reagan lag, hingen schon viele „Steuersenkungskugeln am Kemp-Roth Weihnachtsbaum“, um eine Formulierung von James Q. Wilson zu gebrauchen.36 Abschließend sollten wir einen Blick auf das gesamte Bild der Steuereinnahmen des Bundes werfen: Einkommensteuern der Individuen und Unternehmen, Lohnsteuern für die Sozialversicherung, Verbrauchssteuern, Grund- und Schenkungssteuern, Zölle und diverse Einnahmen. Tabelle 5.2 gibt uns hier einen Überblick. Die Tabelle zeigt, dass die realen Pro-Kopf-Bundessteuereinkünfte das Niveau von 1981 – also das Jahr, in dem Reagan sein Amt antrat – nicht vor 1986 überschritten haben. 1989 lagen sie 14,4 % höher als acht Jahre zuvor. Insgesamt stiegen die Einkünfte, die der Bund durch die individuelle Einkommensteuer erzielte, von 1940–2007 jährlich um 5,88 %, gemessen in realen Pro-Kopf-Dollars. Parallel dazu stiegen die gesamten Steuern um 4,01 % (bei gleicher Berechnungsgrundlage). Unter Zugrundelegung dieser Berechnungsart liegen die Dinge hier ähnlich wie bei den Sozialausgaben: Das große Ganze zeigt ein stetiges Wachstum, aber im Detail gab es viel Fluktuation. Während des 2. Weltkriegs stiegen die Bundessteuern gewaltig, besonders die Einkommensteuern. Nach 1945 wurde es ruhiger, aber nicht eintönig. In Tabelle 5.3 können wir auch erkennen, dass Reagans Bilanz bei den Einnahmen aus Bundessteuern leidlich war. Nach dem Krieg stiegen die Einnahmen aus der individuellen Einkommensteuer unter drei Präsidenten schneller als unter Reagan, bei fünfen langsamer. Unter Berücksichtigung aller Steuereinkünfte ergibt sich dasselbe Bild: Unter Reagan wuchsen die Einnahmen langsamer als unter Kennedy und Johnson sowie unter Carter und Clinton, aber schneller als unter Truman, Eisenhower, Nixon, Ford und beiden Bushs. Das generelle Muster ist zu offensichtlich, um ein Zufall sein zu können: Während republikanischer Regierungen waren die Steuereinkünfte – bereinigt um die Faktoren Inflation und Bevölkerungswachstum – grundsätzlich konstant. Stellten die Demokraten die Regierung, dann stiegen die Steuereinnahmen jährlich um mehr als 3 %. (Die einzige Ausnahme bildet die Truman-Regierung, die, statistisch be 36

Wilson (1986), S. 19.

Argumente plus Beihilfen: angebotsorientierte Wirtschaftstheorie

195

Tabelle 5.2 Pro-Kopf-Bundeseinnahmen unter Berücksichtigung aller Steuern, 1940–2007, gemessen in konstanten Dollar des Fiskaljahres 2000 1940

507

1963

2.582

1986

4.496

1941

644

1964

2.659

1987

4.823

1942

996

1965

2.678

1988

4.932

1943

1.509

1966

2.903

1989

5.126

1944

2.615

1967

3.164

1990

5.092

1945

2.605

1968

3.110

1991

4.964

1946

2.093

1969

3.598

1992

4.952

1947

1.823

1970

3.479

1993

5.067

1948

1.765

1971

3.175

1994

5.356

1949

1.592

1972

3.323

1995

5.581

1950

1.584

1973

3.510

1996

5.832

1951

1.934

1974

3.700

1997

6.170

1952

2.344

1975

3.518

1998

6.586

1953

2.381

1976

3.471

1999

6.838

1954

2.316

1977

3.814

2000

7.178

1955

2.118

1978

3.973

2001

6.824

1956

2.311

1979

4.217

2002

6.171

1957

2.345

1980

4.286

2003

5.766

1958

2.229

1981

4.480

2004

5.873

1959

2.148

1982

4.281

2005

6.459

1960

2.438

1983

3.950

2006

6.921

1961

2.412

1984

4.191

2007

7.122

1962

2.481

1985

4.431

trachtet, eher wie eine republikanische Regierung aussieht. Nach dem Krieg sanken die Steuern wieder, auch weil die Republikaner 1946 bei den Zwischenwahlen die Mehrheit im Kongress gewannen. Sie stiegen wieder, als die Demokraten erneut die Mehrheit auf dem Capitol Hill hatten und der Koreakrieg hinzukam.) Es gibt jedenfalls kaum Zweifel daran, dass dem liberalen Ziel – mehr Geld zu sichern, mit dem die Regierung viele gute Dinge tun kann – mit der Formel der Clinton-Ära mehr gedient war als mit dem Ansatz der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie, lautete jene doch: Multipliziere eine breitere Steuergrundlage mit einer höheren Steuerrate, dann erhältst Du signifikant höhere Steuereinahmen.

196

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus  Tabelle 5.3 Jährliche Wachstumsraten der Pro-Kopf-Bundeseinnahmen durch Besteuerung individueller Einkommen und unter Berücksichtigung aller Steuern, nach Amtszeit und Präsidentschaft, 1940–2007

Amtszeit; Präsidentschaft

Erstes und letztes Jahr

Anzahl der Jahre

Jährliche Wachstumsrate der Pro-Kopf-Bundeseinnahmen durch Besteuerung individueller Einkommen

Jährliche Wachstumsrate der Pro-Kopf-Bundeseinnahmen unter Berücksichtigung aller Steuern

FDR III

1941–45

4

81,74 %

41,81 %

FDR IV /  Truman

1945–49

4

− 12,26 %

− 11,59 %

Truman

1949–53

4

12,89 %

10,60 %

FDR IV /  Truman

1945–53

8

− 0,48 %

− 1,12 %

Eisenhower I

1953–57

4

0,60 %

− 0,38 %

Eisenhower II

1957–61

4

0,29 %

0,71 %

Eisenhower

1953–61

8

0,44 %

0,16 %

Kennedy /  Johnson

1961–65

4

1,44 %

2,65 %

Johnson

1965–69

4

10,70 %

7,66 %

Kennedy /  Johnson

1961–69

8

5,97 %

5,12 % − 0,61 %

Nixon I

1969–73

4

− 1,67 %

Nixon II / Ford

1973–77

4

1,76

Nixon / Ford

1969–77

8

0,08 %

0,71 %

Carter

1977–81

4

6,03 %

4,10 %

1,97 %

Reagan I

1981–85

4

− 1,41 %

− 0,27 %

Reagan II

1985–89

4

3,36 %

3,71 %

Reagan

1981–89

8

0,95 %

1,70 %

George H. W. Bush

1989–93

4

− 0,74 %

− 0,29 %

Clinton I

1993–97

4

6,53 %

5,05 %

Clinton II

1997– 2001

4

4,28 %

2,55 %

1993–01

8

5,40 %

3,79 %

George W. Bush I

2001–05

4

− 4,95 %

− 1,36 %

George W. Bush II

2005–07

2

7,72 %

5,01 %

George W. Bush

2001–07

6

− 0,90 %

0,72 %

Clinton

Das Biest verhungern lassen

197

Das Biest verhungern lassen Es gibt aber auch wenige Zweifel daran, dass dem Ziel der Konservativen, den Wohlfahrtsstaat zu beschränken, gut gedient ist, wenn die US-Staatskasse üppig gefüllt ist. Bestätigen die langsam aber stetig gewachsenen Einnahmen des Bundes unter Reagan nicht die Voraussage der National Review, dass angebotsorientierte Steuersenkungen Kürzungen des Haushalts erleichtern, sowohl dann, wenn sie funktionieren, wie auch dann, wenn sie es nicht tun? Zeigen beide Optionen, dass  – wie die National Review behauptet  – angebotsorientierte Steuersenkungen den Konservativen immer zum Vorteil gereichen? Beide Optionen gründen auf bestimmten Annahmen hinsichtlich der politischen Einstellung und des poli­ tischen Verhaltens, die durch die wirtschaftlichen Resultate im Anschluss an die Steuersenkungen hervorgerufen werden. Alternative A legt nahe, dass die Wähler bestimmte Verhaltensmuster kombinieren, wenn sich die Staatskasse infolge Steuersenkungen füllt: a) dankbar und angetan von der Republikanischen Partei als Partei des Wohlstands; b) empfänglich bzw. geduldig hinsichtlich anderer konservativer Leitziele, einschließlich der Beschneidung oder Abschaffung sozialer Wohlfahrtsprogramme; c) aufgeschlossen gegenüber der Idee, dass mehr Wohlstand mehr Menschen in die Lage versetzt, für ihre eigene Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt vorzusorgen, ohne dass staatliche Programme ihnen eine wirtschaftliche Absicherung bieten müsste. Alternative B sagt, dass im Falle ausbleibender Marktbelebung durch Steuersenkungen tiefe Einschnitte in den Haushalt nicht mehr politisch unmöglich wären, sondern angesichts der Aussichten auf massive, langfristige Verschuldungen des Bundeshaushalts als unausweichlich hingenommen würden. Letztere Alternative der Fiskalpolitik erhielt den Namen „das Biest verhungern lassen“.37 Keine der beiden Hypothesen erwies sich als sonderlich gute Vorhersage hinsichtlich des politischen Verhaltens der Amerikaner. Die Logik von Alternative A wirft ihren Schatten auf die ursprüngliche Bewertung der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie durch die National Review: Man sah in ihr eine Alternative zur politisch unpopulären „Wirtschaft des Gürtel-enger-Schnallens“, nicht aber einen Weg, diese Wirtschaft politisch umsetzbar zu gestalten. Das heißt, wenn der durch Steuersenkungen erzielte wirtschaftliche Stimulus es erlaubt, nur bescheidene und politisch hinnehmbare Haushaltskürzungen vorzunehmen, warum sollte man dann nicht die nächste Stufe des Optimismus erklimmen und darauf hoffen, dass Steuersenkungen die Wirtschaft so richtig stimulieren, so sehr, dass Haushaltskürzungen vollkommen überflüssig werden oder gar Haushaltswachstum möglich wird? Das Endziel dieser „Wirtschaft der Hoffnung“ wäre nicht mehr ein nicht ganz so großer Schluck von der bitteren Medizin, für welche die Konservativen sich 50 Jahre lang

37

Bartlett (2007).

198

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

stark gemacht haben. Das Ziel wäre vielmehr, den Gürtel überhaupt nicht enger schnallen zu müssen, sondern ihn vielleicht sogar zu lockern. Die Angebotsorientierten erwiesen sich als einer der Hauptgründe, warum Steuersenkungen keine politisch akzeptablen Haushaltskürzungen einbrachten. Die eifrigen unter ihnen vertraten während der Reagan-Ära die Auffassung, dass man Ausgabenkürzungen verhindern müsse, um so die Steuersenkungen und die Zeit, die diese zur Entfaltung ihres magischen Einflusses auf die Wirtschaft brauchten, verteidigen zu können. So gesehen machten die Steuersenkungen die Beschneidung der Ausgaben nicht politisch hinnehmbar, sondern politisch unmöglich. Als die Reagan-Regierung 1981 über Einschnitte in die soziale Sicherheit nachdachte, brachte Jack Kemp einen Einwand vor, der zeigte, was die politische Theorie der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie in der Praxis bedeutete: „Was ist mit der Partei des Wachstums und der Möglichkeiten geschehen? Beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten geraten wir in Panik, wollen kürzen und rationieren. Doch das hat uns jahrzehntelang in die Opposition verbannt. Keine Wurzelbehandlungen mehr. Ich will das Defizit nicht lang schönreden, aber wir sollten uns von ihm auch nicht in Panik versetzen lassen.“38 Alternative A der National Review ging nicht auf. Stattdessen passierte etwas nahezu Entgegengesetztes: Steuersenkungen wurden der Grund dafür, Ausgabenkürzungen zu verwerfen. Die Angebotsorientierten nötigten die übrigen Konservativen dazu, den Teil der Agenda, der eine begrenzte Staatsgewalt vorsah, sogar als Diskussionsvorlage so lange zu vertagen, wie die Einnahmen kräftig in die Staatskasse flossen. David Frum schrieb dazu: „Die Ausgabenkürzungen wurden nicht mehr als Vorbedingung für Steuersenkungen betrachtet. Sie wurden zur Antithese der Steuersenkungen und damit zu der Sache, die den politischen Konsens, der die Steuersenkungen erst ermöglichte, zerstören könnte.“39 Bleibt also nur noch, das tatsächliche Vermögen der Konservativen, den Wohlfahrtsstaat zu stutzen, mit Option B der National Review zu stützen. Das heißt, die Einnahmen flossen nicht in die Staatskasse, bzw. nicht so schnell, wie sie von den Ausgaben wieder rausgesaugt wurden. Das führte zu einer höheren Verschuldung des Bundes, verursachte einen „plötzlichen Inflationsdruck“, der wiederum „tiefe Einschnitte zum Abbau der Verschuldung politisch leichter durchsetzbar“ machen sollte. Daniel Patrick Moynihan ist fest davon überzeugt, dass die Konservativen weder während noch nach Reagans Präsidentschaft glaubten, dass Option A funktionieren würde. Stattdessen „war ein massiver Einnahmenverlust“ durch die Steuersenkungen „beabsichtigt gewesen“. 1983 behauptete er, die Reagan-Regierung habe eine „versteckte Agenda“:

38 39

Frum (1994), S. 50. Frum (1994), S. 35.

Wohltäter und Wohlfahrtsempfänger: die liberale Konstellation 

199

„Der Präsident wollte ursprünglich das Ausmaß des Staates eindämmen. Er dachte ursprünglich, der Staat sei von ‚Verschwendung, Betrug und Missbrauch‘ durchsetzt, von Dingen, die man weder tun dürfe noch solle. Er war klug genug zu wissen, dass Interessengruppen hinter diesen Aktivitäten standen, und dass es witzlos war, sie eine nach der anderen durch Debatten aus dem Weg räumen zu wollen. Stattdessen wollte er eine Finanzkrise herbeiführen. Auf diese Weise wären sie so oder so aus dem Weg geräumt worden.“40

Das Schatzamt der USA nahm unter Reagan mehr ein als unter jedem anderen republikanischen Präsidenten, aber das beantwortet nicht die Frage der Ökonomen, ob die angebotsorientierte Politik „funktionierte“, und zwar in dem Sinne, dass das Produkt aus einer breiten Steuergrundlage und einer niedrigeren Steuerrate zu etwas höheren Steuereinnahmen führt. Präsident Reagan war beides, ein Steuersenker und eine Steuerheber. Das macht es komplizierter. 1982 gab er den „Schuldenbremsern“ klein bei und unterzeichnete das Gesetz für einen verantwortungsvollen Steuerausgleich, das die Steuern um fast 1 % des BIP anhob. In mancherlei Hinsicht war es die bedeutendste Steuererhöhung, welche die Geschichte der USA in Friedenszeiten zu verzeichnen hatte. Reagan unterzeichnete noch weitere Steuererhöhungen während seiner Amtszeit. Folgt man dem Wirtschaftsjournalisten Bruce Bartlett, dann bewirkten sie in der Summe Mehrsteuereinnahmen des Bundes in Höhe von 2,6 % des BIP.41

Wohltäter und Wohlfahrtsempfänger: die liberale Konstellation Wie wir gesehen haben, war der Wohlfahrtsstaat so clever konstruiert, dass er dauerhafte politische Kräfte ins Leben rief, die seine Ausdehnung förderten und seine Kontraktion ablehnten. Idealerweise sollte jeder amerikanische Haushalt von sich glauben – zu Recht oder zu Unrecht –, ein Nettodollarimporteur zu sein, nachdem der Staat all seine Steuern eingezogen und all seine Zuwendungen ausgeteilt hat. Natürlich geht es nicht, dass jeder Haushalt als Gewinner hervorgeht, wenn der Staat eine bestimmte Anzahl an Rechnungen an eine bestimmte Anzahl von Haushalten verteilt. Einige werden Nettoimporteure sein, andere Nettoexporteure. Damit der Wohlfahrtsstaat genug politisches Gewicht hat, müssen alle Netto­ importeure der vom Wohlfahrtsstaat umgeleiteten Dollars sich als solche verstehen, d. h. als Nutznießer des Wohlfahrtsstaats, die ihn erhalten und wachsen sehen wollen. All das klingt wie eine Marketingherausforderung für jemanden, der Anoraks in Alaska verkaufen soll, aber die Liberalen haben gelernt, die Botschaft an den Mann zu bringen. Die Menschen haben Interesse, aber sie haben auch Stolz, und sie nehmen Maßnahmen übel, die ihren Interessen dienen, aber ihren Stolz verlet-

40 41

Moynihan (1983), S. 18 f. Bartlett (2003).

200

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

zen. Die Nettoimporteure der Wohlfahrtsstaatsdollars sehen sich nicht notwendigerweise als Gewinner, wenn die Zuwendungen ihr Einkommen zwar aufbessern, sie aber in ihren Augen schlecht machen. Sie fürchten, in den Augen ihrer Mitbürger als faul, sorglos und unfähig zu erscheinen. Und wenn sie schlussfolgern oder auch nur vermuten, dass in dieser Sichtweise ein Körnchen Wahrheit steckt, dann lastet auf ihnen nicht nur die Verachtung der anderen, sondern auch die eigene. Der politische Erfolg des Wohlfahrtsstaats hängt daher davon ab, dass die Liberalen nachhaltige Anstrengungen unternehmen, um den Erhalt der Leistungen zu destigmatisieren. Die Liberalen sagten, es gäbe für die Menschen, die nicht vom Wohlfahrtsstaat profitieren, keinen Grund, jene zu verunglimpfen, die es tun, und auch für die Nutznießer gäbe es keinen Anlass, sich eine Verfehlung anzulasten. Erinnert sei hier an das, was Harry Hopkins 1936 sagte. Hopkins war einer von FDRs engsten Beratern und Direktor jener zweifelhaften Behörden des New Deal wie das Bundesbüro für Notfalllinderung und die Arbeitsbeschaffungsbehörde WPA42. Er sagte: „Ich bin es leid und kann es nicht mehr hören, dass all die Menschen, die zum WPA kommen oder von den Kommunen Beihilfen erhalten, Schlitzohren und Schmarotzer seien. Diese Menschen sind wie wir alle. Sie trinken nicht mehr als wir, lügen nicht mehr und sind nicht fauler als alle anderen auch. Sie bilden mehr oder weniger einen Durchschnitt der amerikanischen Bevölkerung. … Von den moralischen Vorurteilen, dass die Menschen arm sind, weil sie schlecht sind, habe ich genug. Ich glaube das nicht. Ein Regierungssystem auf dieser Grundlage wäre ganz und gar falsch.“43

Kurz gesagt, die alte Auffassung, die tadelnd zwischen verdienten und unverdienten Armen unterschied, hat ausgedient. Das meint jedenfalls Glenn Loury, und zwar in einer links gerichteten Kritik an Clintons Formulierung, dass niemand, der hart arbeite und sich an die Regeln halte, arm zu sein brauche. „Aber wo bleiben dann die Menschen, die unfähig (oder unwillig) sind, ‚hart zu arbeiten und sich an die Regeln zu halten‘? Sie (und ihre Kinder) verdienen demzufolge, arm zu sein.“ Es ist bemerkenswert, dass in Lourys rhetorischer Frage die Unterscheidung zwischen dem, der unfähig und dem der unwillig ist, hart zu arbeiten und sich an die Regeln zu halten, buchstäblich nur eine nebensächliche ist.44 Wenn man jenen gut zuredet, die vor der Annahme der angebotenen Wohlfahrtsstaatsleistungen zögern, und jene zurechtweist, welche die Bereitschaft zur Annahme staatlicher Hilfen kritisieren, dann heißt das, dass man Wohlfahrtszuwendungen von Hilfen für Opfer natürlicher Katastrophen moralisch nicht unterscheiden will. In beiden Fällen verschaffen wir Erleichterung für die Leidenden, denen man das eigene Verhalten auf keinen Fall vorwerfen kann. Man kann sich darauf verlassen, dass die Nettoimporteure der Wohlfahrtsstaatsdollars, denen man

42

Works Progress Administration, d. Hrsg. Zitiert nach Leuchtenburg (1985), S. 220 f. 44 Loury (2001). 43

Wohltäter und Wohlfahrtsempfänger: die liberale Konstellation 

201

immer und immer wieder versichert, dass sie Empfänger von Anrechten, nicht aber von Wohltaten seien, lauthals und nicht zurückhaltend den Wohlfahrtsstaat verteidigen werden. Für den politischen Erfolg des Wohlfahrtsstaats ist es aber auch nötig, dass so viele Nettoexporteure der Wohlfahrtsstaatsdollars wie möglich sich irrtümlich für Nettoempfänger halten. Sie werden mit den wahren Nettoimporteuren gemeinsame Sache machen, auch wenn ihre Interessen von deren abweichen und diesen in gewisser Weise entgegenstehen. Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, fördern die liberale Rhetorik und die einschüchternde Komplexität des Sozialversicherungssystems solche Fehlwahrnehmungen der zweiten Gruppe und tragen nicht dazu bei, jene, die diesen anheimfallen, von denselben zu befreien. Eine Gruppe bleibt noch übrig, und zwar die Nettoexporteure der vom Wohlfahrtsstaat umverteilten Dollars, die nicht dazu verleitet werden können, sich für Nettoimporteure zu halten. Die dritte Voraussetzung für den politischen Erfolg des Wohlfahrtsstaats ist, dass diese Nettoexporteure es letztlich hinnehmen, Wohl­täter statt Nutznießer des Wohlfahrtsstaats zu sein, oder dass deren Weigerung, sich diesem Arrangement zu fügen, so weit wie möglich ohne politische Konsequenzen bleibt und deren Widerstand gegen den Wohlfahrtsstaat einfach zurückzuweisen oder zu verunglimpfen ist. Ein Argument in diesem Sinne ist, dass man ein Nettoexporteur der Wohlfahrtsstaatsdollars sein und dennoch von den Transaktionen des Wohlfahrtsstaats profitieren kann. Zum einen ändern sich die Lebensumstände der Menschen. Der wohlhabende Nettoexporteuer kann z. B. einige Monate oder Jahre ein Nettoimporteuer sein, wenn er sich durch ein Studium an einem College oder an einem technischen Institut auf seinen Beruf vorbereitet oder später einmal arbeitslos oder arbeitsunfähig wird. Auch die Nettoexporteure, die sich mit diesen Problemen nie herumschlagen, finden in der Existenz eines Sicherheitsnetzes den Seelenfrieden, den der Besitz einer Versicherungspolice mit sich bringt. Außerdem behaupten die Liberalen, dass das Leben in einer Gesellschaft, in dem dank des Wohlfahrtsstaats die wirtschaftlichen Ängste kleiner sind und der soziale Zusammenhalt größer ist, selbst ein öffentliches Gut sei, das auch die Menschen schätzen, die dem Wohlfahrtsstaat mehr Steuerdollars zukommen lassen, als sie von ihm erhalten. Der Ökonom Jared Bernstein stellt dazu die Frage: „Was ist, wenn unser wirtschaftliches Glück nicht nur von unserem Wohlergehen abhängt, sondern auch von dem der anderen? Was ist, wenn ‚Nutzen‘ interdependent sind – wenn mein Glück von Ihrem abhängt?“ Und er beantwortet seine Fragen, indem er sagt: „Ich schlage ja nicht vor, dass wir am 15. April45 vor Freude in die Luft springen sollen, weil wir die Gelegenheit haben, in unsere Interdependenz zu investieren. Aber ich meine, dass wir unser Steuersystem einmal als ein Verbindungssystem be-

45

Letzter Abgabetermin für die Steuererklärung, d. Hrsg.

202

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

trachten sollten, mit dessen Hilfe wir unserer Verbindungen untereinander, unsere Gemeinden, verstärken und dabei die Aussichten und Möglichkeiten derer heben, denen am wenigsten Glück zuteilwurde.“46 Prosperität ist für den Liberalismus von ökonomischer Bedeutung, weil sie den Wohlstand generiert, den der Wohlfahrtsstaat neu ordnet. Sie ist aber auch politisch bedeutsam, weil sie die Nettoexporteure der Wohlfahrtsstaatsdollars besänftigt, die sich nicht mit Bernsteins Rat anfreunden und sich stellvertretend darüber freuen können, dass das Geld, das einmal ihnen gehörte, von denen ausgegeben wird, die staatliche Hilfen beziehen. Prosperität stimmt die Nettoexporteure williger, sich den starken politischen Kräften, die ein Wachstum statt einer Reduktion des Wohlfahrtsstaats fordern, geschlagen zu geben. Die Steuern des Wohlfahrtsstaats belassen jenen Haushalten zwar verringerte Einkommen, aber auch ein wirtschaftliches Wachstum, das den Schwund mehr als wettmacht. Der Haushalt erfährt zwar bei seinen Transaktionen mit dem Wohlfahrtsstaat ein Defizit, aber bei seinen Geschäften mit der Wirtschaft einen Mehrwert.

Wohltäter und Wohlfahrtsempfänger: das Rätsel der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie Die großzügigen Leistungen, welche die moderne Prosperität an das untere Ende der Einkommensverteilung übertragen hat, werden weitgehend als Folgen des Reaganismus47 verteufelt, aber ein Resultat dieser Entwicklung war, dass das konservative Anliegen, dem Wachstum des Wohlfahrtsstaats zu widerstehen, schwieriger wurde. Die Daten aus dem Haushaltsbüro des Kongresses zeigen, dass die wohlhabendsten Haushalte der Nation sich im relativen Gefüge verbessert haben (Tabelle 5.4).48 Es gilt festzuhalten, dass die Tabellen Vorsteuerdaten enthalten – also das, womit die Steuersenkungen von 1981, 1986 und 2001 sich beschäftigen durften – und nicht deren Auswirkungen auf die Einkommensverteilung nach Steuer. Diese Verteilung sehen wir erst in Tabelle 5.5.

46

Bernstein (2005). Weitgehend gleichbedeutend mit „Reaganomics“, d. Hrsg. 48 Die Daten der Tabellen 19–22 ergaben sich aus dem CBO-Bericht Historical Effective Federal Tax Rates: 1979 to 2005, erschienen im Dezember 2007. Die Tabellen im Appendix der CBO geben die Statistik der obersten Quintile in aggregierter Form wieder: die ersten 5, 10 und 20 Prozent. Ich habe die Werte für die 9. Dezile, die 91.–95. Perzentilen und die 96.–99. Perzentilen umgerechnet. Wie in Kapitel 4 erwähnt, definiert die CBO Einkommen expansiv, d. h. einschließlich der vom Arbeitgeber bezahlten Krankenversicherung und dem Arbeitgeberanteil an der Lohnsteuer. 47

203

Wohltäter und Wohlfahrtsempfänger Tabelle 5.4 Daten des Haushaltsbüros des Kongresses zur Vorsteuereinkommensverteilung, 1979 und 2005 1979 durchschnitt­ liches Vorsteuereinkommen in 2005 Dollar

1979 Anteil am gesamten Vorsteuer­ einkommen

2005 durchschnitt­ liches Vorsteuereinkommen in 2005 Dollar

Niedrigste Quintile

15.700

5.8 %

15.900

4.0 %

Zweite Quintile

34.000

11.1 %

37.400

8.5 %

Mittlere Quintile

51.000

15.8 %

58.500

13.3 %

Vierte Quintile

69.000

22.0 %

85.200

19.8 %

81te bis 90te Per­ zentile

89.700

15.0 %

120.600

14.2 %

91te bis 95te Per­ zentile

110.600

9.8 %

161.900

9.9 %

96te bis 99te Per­ zentile

162.300

11.4 %

269.700

13.0 %

100te Per­ zentile

517.800

9.3 %

1.558.500

18.1 %

Alle Haushalte

59.700

100.0 %

84.800

100.0 %

2005 Anteil am gesamten Vorsteuer­ einkommen

Die CBO berechnet noch zwei weitere wichtige statistische Angaben, nämlich wie hoch die gesamte effektive Bundessteuerrate ist und welchen Anteil die einzelnen Schichten der Einkommensverteilung an den gesamten Steuerverbindlichkeiten des Bundes tragen. Die erste Angabe beziffert die reale Steuerrate, die ein Haushalt einer bestimmten Quintile, Dezile oder Perzentile im Durchschnitt zahlt – das ist jener Anteil des Vorsteuereinkommens, den die Bundesregierung einzieht, wenn man die individuellen Einkommensteuern, Sozialversicherungssteuern, Körperschaftssteuern und Verbrauchssteuern zusammengerechnet betrachtet. Die zweite Angabe beziffert den Anteil an allen Bundessteuern, der von den jeweiligen Einkommensschichten getragen wird (Tabelle 5.6). Die Idee der National Review – multipliziere eine niedrigere Steuerrate mit einer breiteren Steuergrundlage – funktionierte für die wohlhabendsten Einkommens-

204

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

Tabelle 5.5 Daten des Haushaltsbüros des Kongresses zur Nachsteuer-Einkommensverteilung, 1979 und 2005 1979 durch­ schnitt­liches Nachsteuer­ einkommen in 2005 Dollar

1979 Anteil am gesamten Nachsteuer­ einkommen

Niedrigste Quintile

14.400

6.8 %

15.300

4.8 %

Zweite Quintile

29.100

12.3 %

33.700

9.6 %

Mittlere Quintile

41.500

16.5 %

50.200

14.4 %

Vierte Quintile

54.300

22.3 %

70.300

20.6 %

81te bis 90te Per­ zentile

68.700

14.8 %

96.100

14.2 %

91te bis 95te Per­ zentile

82.900

9.5 %

125.400

9.6 %

96te bis 99te Per­ zentile

117.400

10.6 %

200.500

12.1 %

100te Per­ zentile

326.400

7.5 %

1.071.500

15.6 %

Alle Haushalte

46.400

100.0 %

67.400

100.0 %

2005 durch­ schnittliches Nachsteuereinkommen in 2005 Dollar

2005 Anteil am gesamten Nachsteuer­ einkommen

schichten richtig, und ansonsten nur so la la. Für die höchste Einkommensperzentile wuchsen der Anteil am Vorsteuereinkommen zwischen 1979 und 2005 um 95,7 %, der Anteil am Nachsteuereinkommen um 108,7 % und der Anteil an den gesamten Steuerverbindlichkeiten des Bundes um 79,6 %. Im Vergleich dazu sank der Anteil an den gesamten Steuerverbindlichkeiten des Bundes, den die ärmsten 60 % der Bevölkerung (niedrigste bis mittlere Quintile) zahlen, in derselben Zeit von 22,5 % auf 14,2 %. Diese Steuersenkungen waren allerdings nicht so einschneidend, dass sie das Leben der Menschen in ³⁄5 aller Haushalte entscheidend verbessert hätten – und den Konservativen deren Loyalität eingebracht hätte. Ihr Anteil am Vorsteuereinkommen fiel zwischen 1979 und 2005 von 32,7 % auf 25,8 %, und der am Nachsteuereinkommen von 35,6 % auf 28,8 %. Das durchschnittliche inflationsbereinigte Nachsteuereinkommen eines Haushalts im mittleren Fünftel lag 2005

205

Wohltäter und Wohlfahrtsempfänger Tabelle 5.6 Daten des Haushaltsbüros des Kongresses zur effektiven Steuerrate aller Bundessteuern und zum Anteil der Einkommensschichten an den gesamten Steuerverbindlichkeiten des Bundes, 1979 und 2005 1979 effektive Gesamtbundessteuerrate

1979 Anteil an gesamten Steuerverbindlichkeiten des Bundes

2005 effektive Gesamtbundessteuerrate

8.0 %

2.1 %

4.3 %

0.8 %

Zweite Quintile

14.3 %

7.2 %

9.9 %

4.1 %

Mittlere Quintile

18.6 %

13.2 %

14.2 %

9.3 %

Vierte Quintile

21.2 %

21.0 %

17.4 %

16.9 %

81te bis 90te Per­ zentile

23.4 %

15.7 %

20.3 %

14.0 %

91te bis 95te Per­ zentile

25.0 %

11.0 %

22.5 %

10.8 %

96te bis 99te Per­ zentile

27.6 %

14.2 %

25.7 %

16.2 %

100te Per­ zentile

37.0 %

15.4 %

31.2 %

27.6 %

Alle Haushalte

22.2 %

100.0 %

20.5 %

100.0 %

Niedrigste Quintile

2005 Anteil an gesamten Steuerverbindlichkeiten des Bundes

21 % über dem von 1979. Dieser Zuwachs ist für das Familienbudget zwar spürbar, aber nicht umwerfend. Für die zweite Quintile betrug das Wachstum 15,8 %, für die niedrigste Quintile 6,3 %. Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika ein öffentlich gehandeltes Unternehmen wären, das nach dem Prinzip „Eine Stimme pro Aktie“ geführt würde, dann wären die angebotsorientierten Steuersenkungen für die Konservativen eine unschlagbare Taktik in ihrem Kampf gegen den Wohlfahrtsstaat. Die Direktoren der USA, Inc. würden ihre Position und Politik mit Steuersenkungen fördern, die den Großaktionären große Gewinne bescherten. In einer Demokratie, die jedem Bürger eine Stimme zubilligt, ist es weitaus schwerer, eine Koalition für solche Steuersenkungen zu schmieden. Für die ärmsten 60 % der Bevölkerung fiel zwischen 1979

206

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

und 2005 der Anteil an der gesamten Steuerlast des Bundes um ein Drittel. Für die unterste Quintile halbierte sich der Anteil, für die zweite Quintile reduzierte er sich fast um ein Drittel und für das mittlere Fünftel um fast ein Viertel. Diese Reduzierungen halfen den Konservativen politisch nicht viel weiter, weil sie den unteren 60 % aller Einkommensschichten wirtschaftlich kaum halfen – helfen konnten. Selbst wenn man diese drei Quintilen 2005 von allen Bundessteuern befreit hätte, wäre das verfügbare Jahreseinkommen eines Durchschnittshaushalts der untersten Quintile nur um $ 600-$ 50 pro Monat – größer gewesen. Das entspricht 3,9 %. Der zweiten Qunitile hätte es jährlich $ 3.700 mehr gebracht – eine Steigerung um 11 %. Und dem Durchschnittshaushalt der mittleren Quintile hätte eine dauernde Steueramnestie zusätzliche $ 8.000 pro Jahr belassen, also 16,5 % mehr. Ob sich eine politische Koalition für beschränkte Staatsgewalt zu günstig einkaufen lässt, darf bezweifelt werden. Im Gegenteil, die ärmsten ³⁄5 der Bevölkerung von allen Bundessteuern auszunehmen, würde das Wachstum des Wohlfahrtsstaats eher stimulieren als beschränken. Wenn die Wähler erst einmal mehrheitlich denken, dass die anderen mit ihren Steuern für die staatlichen Zuwendungen zahlen, die sie erhalten, dann haben sie einen großen Anreiz, mehr dieser Zuwendungen zu verlangen, bezahlt von höheren Steuern. An der Spitze der Einkommensverteilung mit Steuersenkungen politische Zustimmung zu erhalten, ist zwar wahrscheinlich, aber ohne große Wirkung. Der Anteil reicher Menschen in der Wählerschaft ist recht klein. Sie unterstützen die Republikaner und Konservativen ohnehin in außergewöhnlich hohem Maße, insofern kann man durch Steuersenkungen von ihnen nicht viele Stimmen hinzugewinnen. Folgt man CNN, dann gewann George Bush 63 % der Stimmen jener 3 % der Wählerschaft, die $ 200.000 und mehr verdient, während John Kerry 63 % der Stimmen jener 8 % aller Wähler gewann, die bis zu $ 15.000 verdienen.49 Diese Wahl war keine Ausnahme im Vergleich zu dem, was auch bei früheren Wahlen üblich war. Die Wahlanalysen des Politologen Marvin Wattenberg haben gezeigt, dass Dwight Eisenhower 1956 bei den oberen 10 % der amerikanischen Einkommensschichten 75 % der Stimmen gewann. Ronald Reagan gewann 1984 auch so viel. Die Wähler der oberen Mittelschicht – wozu nach Wattenberg die Dezilen 7–9 gehören – gaben Eisenhower 57 % der Stimmen und Reagan 64 %.50 Letzten Endes wurden die angebotsorientierten Steuersenkungen in einem wirtschaftlichen Umfeld angewendet, in dem das Maß der Einkommensgewinne in einer hohen Korrelation zum Einkommensniveau des Haushalts steht. Dieser Umstand macht die Politik gegen jene liberalen Anschuldigungen, wonach die Steuersenkungen denen am meisten helfen, welche die Hilfe am wenigsten brau-

49 50

CNN (2004). Edsall (1989), S. 283.

Wiederausgleich der Einkommen

207

chen, recht wehrlos. Er konterkariert auch der Konservativen Bemühungen, das Verhältnis der Dollarexporteure und Dollarimporteure zu ihren politischen Gunsten umzukehren, indem man denen am meisten hilft, welche die Hilfe am meisten zu schätzen wissen. Die Reichen verstehen wahrscheinlich etwas von Geld und sind sich wohl darüber im Klaren, dass die Gewinne, die sie am Ende des letzten und zu Beginn unseres Jahrhunderts gemacht haben, weit mehr mit der Wirtschaft zu tun haben als mit den Änderungen des Einkommensteuergesetzes. Hätte man z. B. die 1979 geltende effektive Rate der Bundessteuern von 37 % im Jahre 2005 auf die oberen 1 % der Einkommensgruppen angewendet (statt der 31,2 %, die von ihnen tatsächlich gezahlt wurden), dann hätte deren durchschnittliches Nachsteuereinkommen $  982.400 statt $ 1.071.500 betragen  – 201 % (statt 228 %) mehr als das durchschnittliche Nachsteuereinkommen der oberen 1 % des Landes im Jahre 1979. Bedenkt man, um wie vieles besser die Topperzentile in Folge der Änderungen der Vorsteuerrate gefahren ist, dann dürfte die Zahl der wohlhabenden Demokraten und Parteilosen, die ein weiterer Bonus von 27 % im Zuge der Änderungen im Einkommensteuergesetz eventuell dazu brächte, sich wieder in die Mitgliederlisten der Republikaner einzutragen, eher gering sein. Wenn man die effektive Steuerraten von 1979 für die 26 Folgejahre in Kraft gelassen hätte, dann wäre das Nachsteuereinkommen der 96.–99. Perzentilen auf $ 195.200 statt auf $ 200.500 gestiegen, und das der 91.–95. Perzentilen auf $ 121.400 statt auf $ 125.400.

Wiederausgleich der Einkommen Mickey Kaus behauptet in The End of Equality, dass mit der Zunahme an Produktionskomplexität für immer kompliziertere Produkte und Dienstleistungen notwendigerweise die wirtschaftliche Ungleichheit wachse: „Als die Mittelklasse noch aus Arbeitern bestand, die am Fließband die Schrauben festzogen, war der Unterschied zwischen einem Spitzenschraubendreher und einem nur fähigen Schraubendreher nicht sehr groß, wirtschaftlich betrachtet. Solange sich die Schrauben nicht gelockert haben, hatte die Geschäftsführung keinen zwingenden Grund, die beiden Arbeiter nicht gleich zu bezahlen. Aber wenn man diese Arbeiter zu Computertechnikern umschult, dann ändern sich die Dinge. Die Unterschiede zwischen einem guten und einem mittelmäßigen Computertechniker sind wahrscheinlich erheblich und es wert, entsprechend honoriert zu werden. Wenn man die Computertechniker zudem zu Programmierern umschult, dann ändern sich die Dinge noch mehr. Die Unterschiede zwischen einem richtig guten und einem nur passablen Programmierer sind enorm und die Geschäftsführung wird der großen Versuchung ausgesetzt sein, die enormen Unterschiede und die statt die mit ebenso enorm unterschiedlichen Bezahlungen zu honorieren.“51

51

Kaus (1992), S. 64 f.

208

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

Der zwingende Grund oder die große Versuchung, die Kaus anspricht, ergibt sich aus der Möglichkeit, dass andere Arbeitgeber die besten Kräfte in Ihrer Firma abwerben können. Es besteht wenig Aussicht auf einen Bieterkrieg um die Dienste eines Spitzenschraubendrehers, weil der Grenznutzen dieser Exzellenz so gering ist. Wenn der Spitzenmann weggeht und durch einen durchschnittlichen Kollegen ersetzt wird, dann ist der Schaden der Firma im Sinne einer reduzierten Qualität des Endproduktes oder zusätzlicher Produktionskosten vernachlässigbar gering. Der Grenznutzen eines Top-Computerprogrammierers im Vergleich zu einem mäßigen Kollegen ist jedoch beträchtlich. Andere Firmen, vor allem die Konkurrenten wissen das. Und der erstklassige Programmierer weiß, dass sie das wissen. Zunehmende Ungleichheit unter den Einkommen hat auch soziologische Gründe, nicht nur ökonomische. Alleinerziehende Mütter zählen heute wahrscheinlich genauso eher zu den Armen wie vor 25 oder 50 Jahre. Allerdings gibt es heute mehr solcher Haushalte. Eine Studie kommt zu dem Schluss, dass 1998 28,4 % der schwarzen Amerikaner und 11,4 % der weißen arm gewesen wären, wenn damals die Familien mit zwei Elternteilen so üblich gewesen wären wie 1960. Die tatsächlichen Prozentzahlen für 1998 belaufen sich auf 45,6 % bzw. 15,4 %. Im selben Zeitraum sank in den oberen Einkommensschichten die Zahl der Scheidungen. Kinder aus Haushalten mit zwei Elternteilen haben auf lange Sicht in der Schule und im Berufsleben Vorteile gegenüber denen, die von einem erschöpften Elternteil allein aufgezogen werden.52 Über kurz oder lang sind Haushalte mit zwei Elternteilen wahrscheinlich Doppelverdienerhaushalte, und die resultierenden Wirtschaftseinheiten erzeugen wirtschaftliche Ungleichheit. Die Vergütungskluft zwischen Lastkraftwagenfahrern und Kassiererinnen auf der einen Seite und Anwälten und Investmentbankerinnen auf der anderen Seite wächst, und zwar aus denselben Gründen, warum der Computerprogrammierer dem Schraubendreher davonzieht. Die Kluft zwischen einem Lkw-Fahrer, der mit einer Kassiererin verheiratet ist, und einem Anwalt, der eine Investmentbankerin zur Frau hat, ist gar noch weiter. Diese Quelle wirtschaftlicher Ungleichheit – „assortative Paarung“ im Soziologenjargon – wäre geringer, wenn es mehr Vermählungen zwischen Lkw-Fahrern und Anwältinnen oder zwischen Kassiererinnen und Wertpapierhändlern gäbe, aber man kann sich kaum die politischen Änderungen vorstellen, die diese Änderung befördern würden. Gleiches gilt für die soziologischen Veränderungen. Kaus definiert „Geld-Liberalismus“ als das Bemühen, „Einkommensdifferenzen vom Zerstören sozialer Gleichheit abzuhalten, und zwar durch das einfache Mittel, Einkommensdifferenzen zu reduzieren  – genauer: durch Unterdrückung der Einkommensdifferenzen, welche die kapitalistische Wirtschaftsform dauernd hervorbringt.“ Und er meint, die „bedenkliche Aussicht auf Wiederausgleich der Einkommen“ sei für den Geld-Liberalismus eine verlorene Schlacht.53 Mit Steuern 52 53

The Frayed Knot (2007), S. 22. Kaus (1992), S. 18, 77.

209

Wiederausgleich der Einkommen

und Transferprogrammen die Einkommen wieder auszugleichen, ist nicht sehr aussichtsreich. Wenn wir uns wieder die CBO-Daten für die Jahre 1979 und 2005 vergleichend anschauen und fragen, welche effektive Steuerrate 2005 nötig gewesen wäre, um jeder Einkommensschicht denselben Nachsteueranteil zu geben, den sie 1979 hatte, dann würden wir die Steuersenkungen unter Reagan und Bush liebend gern wieder rückgängig machen wollen (Tabelle 5.7). Das 1979-Déjà-vu-Gesetz wäre nicht nur ein New Deal: Statt den Spielern unterschiedliche Karten zu geben, nähmen wir einigen Spielern Pokerchips weg und gäben sie anderen. Viele Pokerchips. Tabelle 5.7 Konsequenzen infolge des Inkrafttretens des Gesetzes zur Wiedereinführung der Einkommensverteilung von 1979, das jeder Einkommensgruppe 2005 denselben Anteil am Nachsteuereinkommen gäbe, den es 1979 hatte. Durchschnittliches Nachsteuereinkommen 2005

Effektive Gesamtbundessteuerrate 2005

Durchschnittliches Nachsteuer­ einkommen 2005 nach dem ­Déjà-vu-Gesetz

Effektive Gesamtbundes­ steuerrate 2005 nach dem ­Déjà-vu-­Gesetz

Niedrigste Quintile

15.300

4.3 %

21.900

− 37.7 %

Zweite Quintile

33.700

9.9 %

43.000

− 15.0 %

Mittlere Quintile

50.200

14.2 %

57.600

1.5 %

Vierte Quintile

70.300

17.4 %

76.200

10.6 %

81te bis 90te Perzentile

96.100

20.3 %

100.100

17.1 %

91te bis 95te Perzentile

125.400

22.5 %

123.500

23.7 %

96te bis 99te Perzentile

200.500

25.7 %

175.800

34.8 %

100te Perzentile

1.071.500

31.2 %

513.400

67.1 %

Alle Haushalte

67.400

20.5 %

67.400

20.5 %

210

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

Der Gesetzesentwurf sieht die Umverteilung von $ 756,2 Milliarden der Topdezile vor, das sind 7,8 % der $ 9,71 Billionen, die 2005 von amerikanischen Haushalten als Einnahmen verbucht wurden. $ 690 Milliarden stammen von der reichsten Perzentile der Bevölkerung, $ 115,7 Milliarden von den nächsten 4 % und $ 11,6 Milliarden von den dann folgenden 5 %. Von den ¾ Billionen Dollar flössen $ 159,1 Milliarden an das ärmste Fünftel, $ 204,6 Milliarden an die zweite Quintile, $ 164 Milliarden an die mittlere und $ 132,3 Milliarden an die vierte Quintile – Menschen, denen es gut geht, deren Anteil am Nachsteuereinkommen der Nation 2005 ein Zehntel unter dem von 1979 lag. Das 1979-Déjà-vu-Gesetz lässt die mittlere Einkommensquintile nur ein Quäntchen der Bundessteuern zahlen, und listet die zweite Quintile bereits unter negativer Einkommensteuer, wobei deren Vorsteuereinkommen im Schnitt um ein Sechstel aufgebessert wird. Die negative Einkommensteuer bessert das durchschnittliche Einkommen eines Haushalts der niedrigsten Quintile fast um zwei Fünftel auf. Die vierte und fünfte Quintile sind immer noch Steuerzahler, aber ihre effektiven Raten sind nun um zwei Fünftel bzw. ein Sechstel kleiner. Erinnern wir uns an Kapitel 4: Die Liberalen wollten nach eigenem Bekunden Steuererhöhungen für die Reichen, die bei einem Grenzsteuersatz von 67 % halt machen sollten, d. h., von jedem ab da verdienten Dollar würden 67 Cents weggenommen. Wenn diese Bestrebungen auf vom Arbeitgeber gezahlte Steuern und Versicherungsbeiträge angewendet würden, dann erlegte das 1979-Déjà-vu-Gesetz den Top 1, 5 und 10 Prozent der Einkommensgruppen höhere effektive Steuern auf als je zuvor. Joseph Pechman von der Brookings Institution berechnete 1989 die effektive Steuerrate der obersten Einkommensdezile von 1966 mit 39,6 %. Diese Berechnung schloss die Steuern des Bundes, der Bundesstaaten und der Kommunen ein. Er zeigt, dass die Rate in den folgenden 25 Jahren kontinuierlich sank.54 Schweden hat wohl als einziges Land eine Steuerquote erreicht, die der nach dem Déjà-vu-Steuersatz nahekam. Kaus meinte dazu: „Von den Amerikanern zu verlangen, dass sie die Schweden bei den Steuern schlagen, heißt von ihnen zu verlangen, dass sie besser Cricket spielen als die Engländer und bessere Pasta kochen als die Italiener.“55 Egal, ob die Déjà-vu-Kur nun schlimmer ist als die Krankheit selbst oder nicht, sie würde lediglich die Einkommensverteilung der späten 1970er Jahre wieder herstellen, die viele Liberale als Ausgeburt der sozialen Gerechtigkeit hochlobten. Auf dem Parteitag der Demokraten 1976 gelobte man „eine Regierung, die sich der fairen Verteilung von Wohlstand, Einkommen und Macht verschreibt.“ Insbesondere wollte man „die Abgabenordnung so stärken, dass Bürger mit hohem Einkommen eine vernünftige Steuer auf alle geschäftlichen Einnahmen zahlen.“56 Die Liberalen sind über das Reicherwerden der Reichen sehr verärgert. Der frisch gewählte Senator Jim Webb war 2006 noch keine Woche im Senat, da lästerte er be 54

Pechman (1990), S. 4. Kaus (1992), S. 61 f. 56 1976 Democratic Party Platform (1976). 55

Wiederausgleich der Einkommen

211

reits im Wall Street Journal über das „stetige Abgleiten unserer Gesellschaft in ein Klassensystem, das seit dem 19. Jahrhundert seinesgleichen sucht. Amerikas Oberschicht ist in den letzten 25 Jahren unendlich reicher und abgehobener geworden.“ Der „gewöhnliche amerikanische Arbeiter hat ein anderes Leben und eine sorgenvolle Zukunft“, während die „sich immer weiter öffnende Schere von den Wohlfahrtsempfängern meisten ignoriert oder heruntergespielt wird. Unter den Eliten hat ein Anrechtsverständnis eingesetzt, das an Hybris grenzt.“57 Als Webb diesen Aspekt in seiner Antwort auf Präsident Bushs Rede an die Nation von 2007 wiederholte, lobte ihn der Kolumnist E. J. Dionne dafür, klargestellt zu haben, dass „ein Klassenkrieg im Gange ist, und dass die falsche Seite gewinnt“, weil „die Früchte einer wachsenden Wirtschaft nicht von allen Amerikanern genossen werden.“58 Rhetorik dieser Art verwischt den Unterschied zwischen wirtschaftlicher Ungleichheit und wirtschaftlicher Härte. Die Zahlen des CBO zeigen, dass jede Einkommensgruppe 2005 besser dran war als 1979, und zwar sowohl beim Vorsteuereinkommen als auch beim Nachsteuereinkommen. Gleichwohl waren die Armen nur ein wenig, die Mittelschichten etwas besser und die Reichen erheblich bessergestellt worden. Es versteht sich aber nicht von selbst, auf welche Weise genau asymmetrischer Fortschritt ein Problem ist. Im liberalen Diskurs vermutet oder behauptet man, versucht es aber kaum zu belegen, dass wachsende Ungleichheit eine regulierende und umverteilende Lösung brauche. Wenn ich mich in diesem Jahr nur um eine neue Spülmaschine verbessern kann, während mein Nachbar sich eine neue Küche einbauen lassen kann, dann ist nicht zu sehen, inwiefern diese Änderungen meine Position verschlechtern oder mir einen legitimen Grund für Trübsal liefern oder einen Grund dafür, vom Staat die Beseitigung meines „Kummers“ zu erwarten. Die Formulierung à la Webb-Dionne impliziert ganz klar, dass die unverhältnismäßigen Wohlstandsgewinne nicht allein oder gar primär das Ergebnis des Übergangs in eine Gesellschaft mit mehr Computerprogrammierern und weniger Schraubendrehern sind. Die wahre Geschichte ist nicht die von unintendierten ökonomischen Änderungen, sondern von dunklen politischen Machenschaften. „Wir hatten eine beabsichtigte Ressourcenverschiebung von der amerikanischen Mittelschicht und Arbeiterklasse, sowie den Armen, hin zu den sehr Reichen, unterstützt von unseren Steuergesetzen, verdrehten politischen Werten und einer ‚Der-Gewinner-kriegt-alles‘-Moral, die während der letzten 30 Jahre in den Chefetagen von Wirtschaft und Politik zu Hause war,“ schrieb Joan Walsh 2009.59 Diese Analyse passt zu dem von Yglesias gesteckten Rahmen, wonach die Alternative zu einer politisch dominanten Linken nicht der freie Markt ist, sondern eine entfesselte und gefräßige Oligarchie. Die Reichen haben allen anderen deren Einkommens-

57

Webb (2006). Dionne (2007). 59 Walsh (2009). 58

212

5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

anteile entrissen. Es ist an der Zeit und nur fair, dass die anderen sich diese Anteile zurückholen. Neben der Steuer- und Transferkur haben die Liberalen noch andere Antworten auf die wachsende Ungleichheit parat, darunter berufliche Weiterbildung, stärkere Gewerkschaften und wirtschaftlicher Protektionismus. Um die Einkommen der unteren Einkommensschichten zu verbessern, eignen sich diese Mittel laut Kaus eher weniger als die Kur via Steuern und Transfers, vor allem deshalb, weil es nicht in der Macht der Politik liegt, den Schraubendrehern wieder den wirtschaftliche Stellenwert zu verschaffen, den sie ein Vierteljahrhundert lang innehatten, als die amerikanische Industrie damals nach dem 2. Weltkrieg gegenüber allen ihren internationalen Konkurrentinnen einen noch nie da gewesenen Vorsprung genoss.60 Kurioserweise entschärft das asymmetrische Wirtschaftswachstum das liberale Problem, während es das konservative Problem verschärft. Aus ihm folgt nämlich, dass die Nettoexporteure der Wohlfahrtsstaatsdollars eine schrumpfende Gruppe bilden, während die Anzahl der von ihnen exportierten Dollars wächst. Die Liberalen können sich sozusagen den Luxus erlauben, nur einmal Steuern zu tanken. Und es hat zur Folge, dass es mehr Nettoimporteure gibt, aus denen die Liberalen eine Wählerkoalition zum Zwecke der Wohlfahrtsstaatsausweitung bilden können. Die Situation ähnelt der, in der die Bundesstaaten sind, die zur Raucherabschreckung die Zigaretten hoch besteuern und dann nach einigen Jahren merken, wie sehr ihr Haushalt inzwischen von den Einnahmen aus diesen Steuern abhängt. Egal ob Raucher oder gierige Kapitalisten: wenn sie ihr schädliches Verhalten aufgäben, wären die fiskalen Folgen fatal. Wenn die Liberalen die Anzahl der Dollars, die sie aus den Taschen der Wohlhabenden herausziehen können, maximieren wollen, dann müssen sie die unangenehme Möglichkeit bedenken, dass die höheren Steuern, mit denen sie ihr Missfallen am wirtschaftlichen Ungleichgewicht im Allgemeinen und am Lebensstil der Reichen und Unrühmlichen im Besonderen zum Ausdruck bringen, dazu führen können, dass die Gans künftig weniger goldene Eier legt. Wenn die Liberalen von den Reichen verlangen, „vernünftige Steuern“ zu zahlen, dann erklären sie nie, was sie mit „vernünftig“ meinen. Vor allem spezifizieren sie nie, ab welchem Punkt die auferlegten Steuern nicht mehr vernünftig sind. Bisher war der einzige schlüssige Versuch der von John Rawls. Gemäß seinem Differenzprinzip haben wir nur dann Grund zur Annahme, die Reichen zu hart anzugehen, wenn die Armen anfangen, darunter zu leiden. Die Konservativen verteidigen die veränderten Muster der Einkommensverteilung, aber sie täten sich leichter, Stimmen gegen den Wohlfahrtsstaat zu gewinnen, wenn das wirtschaftliche Wachstum bei der breiten Mitte stärker ausgeprägt wäre als am wohlhabenden rechten Rand der Kurve. Die Gruppe der Nettoimporteure wäre dann viel größer, und die Konservativen hätten eine beträchtliche Zuhörer 60

Kaus (1992), S. 63–71.

Wohlfahrtsökonomie: der beste und größte Nutzen

213

schaft, die dazu bereit wäre, über die Nachteile nachzudenken, die sie im Zuge des Wohlfahrtsstaats erleidet. Falls Sean Wilentz darin Recht hat, dass 70 % aller von Reagan hinterlassenen Einkommensteuerklassen politisch unmöglich sind, dann hat der Sieg der Konservativen wohl mehr damit zu tun, dass man die alten Argumente, wonach unbegrenzte Besteuerung grundsätzlich unfair ist, akzeptierte, als mit den angebotsorientierten Errungenschaften, die Steuergrundlage auszuweiten oder das Biest verhungern zu lassen. Peter Beinart vom New Republic bedauert die Unbeliebtheit der Erbschaftssteuer, die 98 % der Amerikaner nie zahlen werden. Er schrieb 2006, dass die Demokraten dann, wenn sie darauf verweisen, dass die Steuer nur von den Reichen gezahlt werden, „unabsichtlich der Grand Old Party recht geben. Ja, die Steuer ist unfair, gestehen sie zu, aber nur für andere. Genau damit verlieren sie ihre moralische Überlegenheit.“61

Wohlfahrtsökonomie: der beste und größte Nutzen In seinen Memoiren windet sich David Stockman bei der Frage, ob Senator Moynihan darin recht hatte, die großen Staatsdefizite der 1980er Jahre als Folge entsprechender Absichten darzustellen, anstatt nur deren Möglichkeit einzuräumen. In Stockmans Augen bedeutet angebotsorientierte Wirtschaftstheorie nicht, darauf zu hoffen, dass Steuersenkungen sich von alleine bezahlt machen und harte Entscheidungen hinsichtlich der Staatsausgaben hinfällig werden. Zumindest räumt er die Möglichkeit ein, dass die Senkungen sich nicht rentierten und insofern schwierige Entscheidungen erforderlich seien. Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, so schreibt Stockman, „funktioniert letzten Ende nur, indem man große Dellen in den Wohlfahrtsstaat tritt. Das bedeutete, bis in die Mitte des Jahrzehnts Jahr für Jahr in den politischen Gräben zu bleiben. Die Arbeit an der Verkleinerung der staatlichen Ausgabenschranken ging mit reduzierten Ansprüchen an die nationale Wirtschaft automatisch Hand in Hand, und zwar so lange, bis die jährlichen Steuersenkungen ihren Tiefpunkt erreicht hatten.“62 Stockman geht in seinen Schlussfolgerungen aber noch weiter. Er behauptet, dass die Fehler der Politiker, seine und Reagans eingeschlossen, nur Begleiterscheinungen waren. Der eigentliche Punkt ist, dass die Art von Dellen, die Stockman in den Wohlfahrtsstaat treten wollte, immer politisch unmöglich ist. Stockman schreibt, dass ein „Diktator“ die von ihm beabsichtigten Haushaltskürzungen sehr wohl hätte durchsetzen können, aber „die Politik der amerikanischen Demokratie ließ von meiner Anti-Wohlfahrtsstaatstheorie nur Scherben zurück,“ weil sie auf „der Illusion beruhte, dass der Wille des Volkes von den Handlungen der Politiker erheblich abwich.“ In Wirklichkeit aber „erwies sich die Reagan-Revolution als härtester Test der [konservativen] Doktrin, den es in einer heterogenen Demokratie 61 62

Beinart (2006). Stockman (1986), S. 113.

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5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

wie der unseren je geben kann. Und die anti-staatliche Auffassung wurde glänzend widerlegt. … Die abgebrochene Reagan-Revolution war der Beleg dafür, dass die amerikanische Wählerschaft eine moderate Sozialdemokratie will, die sie vor den rauen Winden des Kapitalismus schützt.“63 Die lange Rezension, die James Q.  Wilson seinerzeit von Stockmans Buch schrieb, war nicht nur eine Kritik an Stockmans Memoiren, sondern auch an seiner Amtszeit beim OMB. Laut Wilson beginnt das Problem, desillusioniert zu werden, damit, am Anfang überhaupt Illusionen gehabt zu haben. Nach seiner Auffassung begann Stockman mit überzogenen Vorstellungen darüber, wie weit der Wohlfahrtsstaat reduziert werden könne, und endete mit überzogenen Vorstellungen darüber, wie wenig man ihn reduzieren könne.64 Laut Wilson bringt Stockman in seinen Memoiren durch die Schilderung seiner Gedanken und Handlungen zwei Arten von Illusionen zum Ausdruck, eine politische und eine theoretische. Die politische Illusion sei der Glaube gewesen, dass 1981 für die Konservativen eine Chance zur Rückführung des Wohlfahrtsstaats gegeben war, so wie 1935 und 1965 für die Liberalen die Gelegenheit bestanden habe, denselben auszudehnen. In Wilsons Worten: „Die Wahlen von 1980 stellten keinen besonderen Moment in der Geschichte Amerikas dar.“ Die Amerikaner hätten die Geduld mit Präsident Carter verloren und einen konservativen Republikaner zum Präsidenten gewählt, dazu einen republikanischen Senat und ein demokratisches Repräsentantenhaus, in dem die Konservativen mehr Macht hatten als in den Jahren zuvor.65 Allerdings hatten die Republikaner 1980 ein Mandat für einen tiefen Einschnitt in den Wohlfahrtsstaat weder angestrebt noch erhalten. In seiner Dankesrede auf dem Parteikonvent in Detroit hatte Ronald Reagan z. B. ein Einstellungsstopp auf Bundesebene versprochen, und auch die sorgfältige Überprüfung der Bundesprogramme, um Vergeudung und Ineffizienz zu beenden. Er versprach, jedes Programm, das die Staaten und Kommunen effektiver durchführen konnten, an diese zurückzugeben, samt der Gelder, um sie zu finanzieren. Aber das war auch schon alles und ziemlich allgemein gehalten. Da gab es nichts auf dem Parteitag der Republikaner oder in Reagans Wahlkampf, das den Wählern klar gesagt hätte, dass die Wahl Reagans und der Republikaner bedeutet hätte, man wolle der Großen Gesellschaft oder dem New Deal mit der Abrissbirne zu Leibe rücken. Der Wahlvertrag mit Amerika von 199466 war im Hinblick auf die Reduzierung der Staatsaktivität nur geringfügig forscher. Von den 10 Klauseln forderte jene, die als einzige ausdrücklich einen kleineren Wohlfahrtsstaat anstrebte, ein Gesetz zur 63

Stockman (1986), S. 123, 376, 391, 394. Wilson (1986), S. 17–21. 65 Wilson (1986), S. 17. 66 Der Contract with America enthält die 1994 förmlich gegebenen Änderungspläne der Republikaner für den Fall eines Wahlerfolges, d. Hrsg. 64

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persönlichen Verantwortung, um die Wohlfahrtsberechtigungen und -leistungen einzuschränken  – ein Versprechen, das der republikanisch dominierte Kongress 1996 einlöste. Eine andere Klausel sah eine Verfassungsänderung vor, um einen ausgeglichenen Haushalt fordern zu können, und eine Vetoaushebelung bei einer 2/3-Mehrheit, eine Maßnahme, die mit Sicherheit auch einen Verfassungszusatz erfordert hätte. Der Zweck dieser Reformen war laut Wahlvertrag die „Wiederherstellung der Fiskalverantwortung“, aber diese Verfahrensänderungen verpflichteten die Republikaner zu keinen spezifischen Haushaltskürzungen und die Wähler zu keinerlei entsprechenden Zugeständnissen. Die anderen acht Klauseln betrafen ganz andere Dinge, einschließlich Kriminalität, nationale Verteidigung und Amtszeitbegrenzungen. Keine von ihnen hätte auch nur kleine Dellen in den Wohlfahrtsstaat getreten.67 Wie wir gesehen haben, sprechen Konservative, die im Begriff sind, eine Wahl zu gewinnen, sehr vorsichtig über die Beschneidung oder Beendigung wohlfahrtsstaatlicher Programme. (Barry Goldwater ist eigentlich keine Ausnahme, weil er gar nicht im Begriff war, eine Wahl zu gewinnen.) Die Konservativen feilen schon seit fast hundert Jahren an ihren Argumenten gegen mehr Staat. Und dennoch ist es, wie Wilson schreibt, „schwer, Unterstützung für eine breitangelegte Bewegung zugunsten eines Minimalstaats zu finden.“68 Die Aktivisten wie auch die Theoretiker unter den Konservativen werden die Hoffnung nicht aufgeben, dass man die Politik seit der Wahl von 1932 umkehren und den New Deal ungeschehen machen könne. Sie ärgern sich über die konservativen Politiker, die ihnen ohne Grundsätze und zu unbeholfen zu sein scheinen, genauso wie über die liberalen Politiker. Für einige dieser Aktivisten und Theoretiker, davon manche in gesicherter Position, ist die Bereitschaft, selbstmörde­ rische ­Botschaften zu verkünden, das einzige Kriterium, an dem sie den Mut jener Politiker bewerten, die nie weiter als eine Wahl davon entfernt sind, bei keiner Abstimmung mehr dabei zu sein und keine Politik mehr zu gestalten. Gewiss, wer den Wahlkampf verliert, kann den Kampf gegen die Politik nicht aufnehmen. Kein Konservativer, ob in den Schützengräben oder in der Kriegsberichterstattung, hat je eine Strategie für Politiker ersonnen, mit der sie tiefe Dellen in die Seite irgendwelcher Mittelschichtsanrechtsprogramme treten konnten, ohne eine Präsidentschaft oder eine Kongressmajorität zu verlieren. Die theoretische Illusion, der Stockman laut Wilson verfallen war, lag in der Annahme, eine Mélange dreier verschiedener konservativer Argumente gegen den Wohlfahrtsstaat sei besser als eine konsequente Verfolgung des klarsten und stärksten Arguments. Das überrascht umso mehr, als die beste Aufbereitung dieses Arguments von … David Stockman selbst stammt – zu finden in einem Artikel, den er 1975 für The Public Interest geschrieben hat, und zwar unter dem Titel „The 67 68

Garrett (2005), S. 13 f. Wilson (1986), S. 21.

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Social Pork Barrel“.69 Wilson nennt den Artikel „brillant“ und „anschaulich“, ein „Manifest darüber, wie man den Wohlfahrtsstaat am besten rekonstruiert.“70 Die Theorie, auf der Stockman seinen Artikel aufbaute, war, dass die Wohlfahrtsökonomie  – die Idee des Wohlfahrtsstaats  – wie jedes Unternehmen, ob Schuhgeschäft oder Haushalt, nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung habe. Ein wohldurchdachter und gut geführter Wohlfahrtsstaat sollte die Ressourcen dorthin leiten, wo sie am meisten Gutes anrichten können, indem sie Menschen helfen, die Hilfe am nötigsten haben. Die unmittelbare Folge dieses Grundsatzes ist, dass der Wohlfahrtsstaat aufhören muss, seine Ressourcen so zu verwenden, dass sie nicht das Beste und Höchste ausrichten, d. h. Programme zu beschränken und zu beenden, die Menschen helfen, die keine Hilfe dringend nötig haben. Anders als der Libertarianismus, trachtet diese Auffassung nicht nach der schlussendlichen Abschaffung des Wohlfahrtsstaats, sondern nach einer fairen und effektiven Aufgabe für denselben. David Stockman war Geschäftsführer des Fraktionsausschusses der Republikaner, als er „The Social Pork Barrel“ schrieb. Ein Jahr nach der Veröffentlichung gewann Stockman im ländlichen Distrikt von Michigan einen Sitz im Repräsentantenhaus. Es ist bezeichnend, dass sein Artikel keine republikanische Attacke auf die Demokraten war, sondern eine Kritik an beiden Parteien. Neue wohlfahrtsstaatliche Programme gehen immer auf Initiativen von Liberalen zurück, gefolgt vom Widerstand der Republikaner. Aber dieser Widerstand hält nie lange an, so Stockman. Das Problem sei, dass man auf dem Capitol Hill glaube, dass alles, was es wert ist, getan zu werden, auch 435-mal wert ist, getan zu werden – in jedem Kongressbezirk des Landes. Die Subventionen des Bundes würden wie feiner Nebel über die gesamte politische Landkarte versprüht, und selbst der erbittertste Widersacher des Programms im Kongress erinnere seine Wählerschaft mit Freude an all die Zuwendungen, die er für seinen Bezirk gesichert habe. Dieser Vorgang ist laut Stockman schlechte Politik und schlechte Taktik. Schlechte Politik sei es, weil jene in der konservativen Opposition, die noch an Grundsätzen festhalten, unterminiert würden, während die Republikaner mit Geschenken für ihren Wahlbezirk gekauft würden. Sozialgeschenke an den Wahlbezirk sind aber auch eine schlechte Taktik, weil sie sicherstellen, dass der Wohlfahrtsstaat viel weniger an Fairness und Effizienz dokumentieren wird, als er könnte und sollte. Als Beispiel führt Stockman das Gesetz für Primär- und Sekundärschulen (ESEA71) von 1965 an, das staatliche Zuschüsse an Schulen weiterleiten sollte, die „den Ärmsten der Armen“ dienen. Wenn die Ärmsten der Armen gleichmäßig auf die 435 Kongresswahlbezirke verteilt wären, dann würde das taktische Gebot, ihnen 69

Stockman (1975). Mit Pork Barrel sind Wahlbezirksgeschenke gemeint, die den Repräsentanten des Wahlbezirks gewogen machen sollen, d. Hrsg. 70 Wilson (1986), S. 18, 20. 71 Elementary and Secondary Education Act, d. Hrsg.

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zu helfen, mit dem politischen Gebot der Amtsinhaber, wiedergewählt zu werden, kollidieren. In Wirklichkeit sind die Ärmsten der Armen nicht so bequem aufgeteilt, sondern ballen sich in den Metropolen des Landes. Wenn die ESEA-Fördermittel denen zukämen, die sie am meisten brauchen, dann hätte nur ein Teil der 435 Kongressabgeordneten Nutzen von dem Programm. Die Lösung für dieses Problem war eine Umdefinierung des taktischen Problems, damit es dem politischen Problem gerecht wurde. 1975, so berichtet Stockman, wurden 80 % der Schulen im Lande gemäß ESEA gefördert. Sobald die Fördergelder bei den Kommunen angekommen seien, habe es im Belieben der dortigen Aufsichtsbehörden gelegen, „die Mittel in ausreichendem Maße vielen Schülern zugutekommen zu lassen.“72 Stockman ging in seinem Artikel nicht nur besonders hart mit den Republikanern ins Gericht, sondern auch sehr milde mit dem Wohlfahrtsstaat. Mehrmals weist er darauf hin, dass wir uns eine große Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats leicht erlauben könnten, wenn wir einen effizienteren Wohlfahrtsstaat hätten, der den Menschen hilft, die ihn wirklich brauchen, statt die politische Unterstützung derer auszubauen, die ihn nicht wirklich benötigen. Demgemäß bemängelt Stockman an den Demokraten nicht deren Willen, den Wohlfahrtsstaat auszudehnen, sondern die ebenfalls fehlende Disziplin und Gleichgültigkeit gegenüber Fairness und Effizienz, was schon den derzeitigen Wohlfahrtsstaat schwäche. Stockman stellt drei Behauptungen zu dem auf, was er „Capitol Hill Liberalismus“ nennt, aber alle drei treffen genauso gut auf die Worte und Taten des Liberalismus jenseits von Capitol Hill zu. Erstens, der Liberalismus ist vage und sentimental und zu sehr damit beschäftigt zu zeigen, dass das Herz der Liberalen am rechten Fleck ist, und zu wenig darum bekümmert, ob die Programme auch wirklich funktionieren und das Beste aus den Ressourcen herausholen. Dieser Liberalismus betont das gute Gefühl auf Kosten der guten Tat. Zweitens, der Liberalismus „enthält nur eine vage Vorstellung davon, wer wirklich öffentliche Unterstützung braucht.“ Begriffe wie „Mittelschicht“, „Durchschnittsamerikaner“ oder „arbeitende Familien“ werden dauernd beschworen, aber nie definiert. Sie „können eigentlich die gesamte Wählerschaft umfassen“. Für politische Zwecke tun sie das auch oft.73 Drittens, aus der Gleichgültigkeit der Liberalen hinsichtlich dessen, ob die Programme funktionieren oder nicht und ob sie denen, die sie wirklich brauchen, helfen oder nicht, folgt, dass „die liberalen Vorschriften normalerweise eher einschließen als ausschließen.“ Infolgedessen verteilen die „meisten Sozialprogramme des Bundes die Leistungen über einen weitaus größeren Teil der Einkommensschichten, als das ursprüngliche Ziel nahelegt.“ Stockman verhöhnt dabei eines der Projekte, die Hubert Humphrey nach seiner Rückkehr in den Senat 1970 verfolgte, nämlich ein Bundesprogramm, das jedem amerikanischen Schüler ein kostenloses Mittagessen 72 73

Stockman (1975), S. 22 ff. Stockman (1975), S. 28 f.

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anbieten sollte. Da es Schulessensprogramme für Arme schon gab, als Humphrey ihre Ausdehnung befürwortete, lag nach Stockman „der alleinige offensichtliche Vorteil des Vorschlags“ darin, dass er Familien mit Kindern und überdurchschnittlichen Einkommen „das Privileg gibt, einmal im Jahr das Mittagessen in der Schule zu kaufen, und zwar am 15. April jeden Jahres.“74

Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Konservativen Der Politologe Paul Pierson schrieb einmal: „Wenn die Konservativen ihren idealen Wohlfahrtsstaat entwerfen könnten, dann bestünde er aus nichts anderem als Berechtigungsnachweisen.“75 Es wäre passender zu sagen, dass sie Konservativen durchweg Berechtigungsnachweise vorziehen würden, wenn sie dem Wohlfahrtsstaat zuzustimmen hätten. Es entspricht der Logik des Libertarianismus, jede Reduzierung des Wohlfahrtsstaats zu begrüßen und in jedem verbleibenden Teil des Wohlfahrtsstaats etwas zu sehen, das noch seiner Kürzung harrt. Jene Konservative, die sich der Stockmanschen Argumente hinsichtlich der sozialen Geschenke an die Wahlbezirke bedienen und mithilfe umfangreicher Berechtigungsnachweise einen fairen und effizienten Wohlfahrtsstaat gestalten wollen, stoßen auf drei unterschiedliche Widerstände – einen von Libertären, einen von Liberalen und einen von Amerikanern, deren Sozialleistungen gekürzt würden. Keine der Auseinandersetzungen wird leicht sein. Weiter als bis zu dem Eingeständnis, dass der Wohlfahrtsstaat populär und folglich politisch unverwundbar ist, geht der Enthusiasmus der Konservativen für den Wohlfahrtsstaat nicht. Irving Kristol schrieb 1993, die Konservativen müssten sich die Frage gefallen lassen, „welche Art Wohlfahrtsstaat sie wollen – weil eine Form des Wohlfahrtsstaats in der politischen Landschaft unserer dynamischen, städtischen Industriegesellschaft immer zu finden sein wird.“76 James Q. Wilson kam in seiner Stockman-Rezension zur selben Auffassung: „In vielen politischen Bereichen, einschließlich Gesundheit, Erziehung, Rechtsdurchsetzung und Umweltschutz wollen die Menschen keine Ausgabenkürzungen.“ Folglich seien „der Libertarianismus und der Minimalstaat … keine zu verwirklichenden Ideen. Eine große, heterogene und demokratische Nation kann nicht auf der Grundlage einer Konzeption des öffentlichen Gutes regiert werden, für deren Erfolg die Nation klein, homogen und undemokratisch sein muss. Menschen, die saubere Luft, eine sichere Umwelt, weniger Drogendealer, eine auskömmliche Rente und einen Schutz vor astronomischen Arztrechnungen haben wollen, zu erzählen, dass der Staat für all diese Dinge nicht sorgen sollte, ist reines Wunschdenken oder politischer Selbstmord.“77

74

Stockman (1975), S. 29 f. 15. April: letzter Abgabetermin für die Steuererklärung, d. Hrsg. Pierson (1994), S. 6. 76 Kristol (1993a), S. A14. 77 Wilson (1986), S. 20. 75

Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Konservativen

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Sogar William Buckley, der 1955 die National Review aus der Taufe hob, damit es als Magazin „sich der Geschichte quer stelle und ‚halt‘ schreie“, riet zu guter Letzt zu einem bedachten Schreien. Die Konservativen „müssen kluge Zugeständnisse machen“, schrieb er 2001. Die Konservativen müssen sich damit abfinden, dass viele Kämpfe, die wir geführt haben, ganz einfach verloren sind. Es ist in Ordnung, wenn wir in unseren kleinen Seminaren Argumente gegen Sozialversicherungsprogramme ins Feld führen, aber es lohnt sich, uns in Erinnerung zu rufen, dass niemand außerhalb des Seminarraumes viel auf unsere platonischen Übungen gibt.“78 Überzeugte Libertäre sehen in den Auseinandersetzungen darüber, wie die Konservativen mit der Permanenz des Wohlfahrtsstaat ihren Frieden machen, letztlich einen Verrat an der Aufgabe, die Freiheit durch begrenzte Staatsgewalt zu schützen. Michael Tanner vom Cato Institute schrieb darüber ein Buch mit dem unmissverständlichen Titel Leviathan On the Right: How Big Government Brought Down the Republican Revolution. Tanner zufolge „sollten die Republikaner für begrenzte Staatsgewalt und individuelle Freiheit stehen, ganz einfach deshalb, weil es richtig ist, das zu tun.“79 Man käme recht leicht durch die Politik und das Leben im Allgemeinen, wenn man alles so einfach nach der Devise „einfach deshalb, weil es richtig ist“ tun könnte, wenn dies eine notwendige und hinreichende Grundlage für die Entscheidungsfindung wäre. In einer komplexen Welt erscheint es jedoch dubios, dass keine andere Devise gelten sollte. Insofern Libertäre wirklich an der Eingrenzung des Staates interessiert sind, wäre darauf zu verweisen, dass die Einfach-weil-esrichtig-ist-Strategie auf einer tautologischen Aussage gründet: Der Wohlfahrtsstaat wird zusammenschrumpfen, wenn die Konservativen unnachgiebig genug darauf drängen. Insofern belegt der Fortbestand bzw. das Wachstum des Wohlfahrtsstaats nur, dass die Konservativen nachlassen und ihre Anstrengungen verdoppeln müssen. Wenn man sich der Möglichkeit beraubt, sagen zu können, dass das Spiel verloren sei, dann wird die Logik des Libertarianismus letztlich nutzlos. Statt sich mit dem schmutzigen Geschäft des politisch Folgerichtigen abzugeben, kann der Libertäre sich mit einfachen Prinzipien seine moralische Standhaftigkeit beweisen. Sich unter diesen Bedingungen mit der Politik abzugeben, endet damit, Realismus mit Zynismus gleichzusetzen, und Irrelevanz mit Integrität. Macht korrumpiert, aber Machtlosigkeit auch. Die Angebotsorientierten haben in den 1980er Jahren zu den Libertären gesagt: „Wir haben es auf Eure Art versucht und versucht. Es hat einfach nicht geklappt.“ Um es mit David Frums Worten zu sagen: „Reagans Schachzug“ war es, die „hart-

78 79

Buckley (2001). Tanner (2008).

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herzige Knauserigkeit“ des Konservatismus aufzugeben und „aus der Ausgabensache einfach eine Steuersache zu machen.“ „Später, wenn der Zauber der Steuersenkungen seinen Dienst getan haben würde, bliebe noch genug Zeit, die Auswüchse des Staates zurecht zu stutzen. Reagans Innenpolitik war letztlich ein Glücksspiel, das darauf setzte, dass Reagan mit der richtigen Taktik die Bundesregierung unter seine Kontrolle brächte, ohne die Wahlbezirke gegen sich aufzubringen, die für Ausgaben sind und die sich gegen die Präsidenten Nixon, Ford und Carter durchgesetzt haben.“80

Frum, wie auch die Daten zu Beginn dieses Kapitels sprechen dafür, dass das Spiel der Angebotsorientierten sich nicht ausgezahlt hat. Steuersenkungen sowie die Durchbrechung der Inflation und die Abschaffung manch mühsamer und unnötiger Regulierung haben zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen Stärke nach der Stagflation der 1970er Jahre beigetragen. Außerdem hat die Steuerrevolte die Liberalen daran erinnert, dass verärgerte Wähler das Begrenzungsprinzip an deren Stelle suchen würden, auch wenn sie sich selbst nicht an der Suche beteiligen würden. Die Evidenz spricht jedoch weitgehend dafür, dass die angebotsorientierten Steuersenkungen nun mal nicht zeigten, dass die Absicht der Konservativen, den Wohlfahrtsstaat einzudämmen, politisch möglich oder notwendig war. Konservative, die dem Argument der sozialen Wahlbezirksgeschenke anhängen, sagen zu Libertären und Angebotsorientierten gleichermaßen: „Wir haben es auf beide Arten versucht, und keine davon hat funktioniert.“ Um sie zu überzeugen, müssen die Befürworter der Berechtigungsnachweise klar sagen, was sie mit „es“ meinen, das sie auf andere Weise versuchen wollen. Das innerkonservative Argument der Berechtigungsnachweise besagt, dass der Wohlfahrtsstaat in Teilbereichen kleiner werden mag, aber als Ganzes nie klein. Solange die Konservativen nicht anfangen, kleinere Strategiebrötchen zu backen, werden sie über Brotkrümel nicht hinauskommen.

Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Liberalen Wenn es das Ziel der Konservativen ist, den Wohlfahrtsstaat so weit wie politisch möglich zu reduzieren, und sie sich der Idee der Berechtigungsnachweise als dem verheißungsvollsten Weg zu diesem Ziel zuwenden, dann haben die Liberalen wohl allen Grund, mit aller Kraft zu widerstehen, so wie sie jedem Plan des Zurückschneidens Widerstand entgegensetzen würden. Wir haben schon gesehen, wie viel der Liberalismus in die Strategie gesteckt hat, den Himmel mit glitzernden Dollarnoten zu verdunkeln, und wie das Gebot, den Verletzlichsten unter uns zu helfen, einen Wohlfahrtsstaat hinterlässt, der dazu verpflichtet ist, enorme Vorteile denen zuzuschanzen, die am wenigsten verletzlich sind.

80

Frum (1994), S. 28.

Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Liberalen

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Es ist möglich, dass die Berechtigungsnachweise nichts anderes als das nächste Kapitel in einem endlosen Krieg wären: zwischen Konservativen, die den Wohlfahrtsstaat eindämmen, und Liberalen, die ihn ausdehnen wollen. Es gibt kaum Anlass, mit seinen Vorhersagen über den Ausgang des Kampfes hinterm Berg zu halten. Wie ein Sportreporter einmal formulierte: Wenn es zu einem Rückkampf käme, würden die Klugen ihr Geld doch auf Goliath setzen. Der Schaden, der durch eine Kürzung der Sozialleistungen mittels Berechtigungsnachweisen entsteht, wird immer leichter wahrzunehmen sein als der Schaden, der dem ungehemmten Wachstum dieser Leistungen folgt. Das heißt, dass die Konservativen dazu verdammt sind, bergauf zu kämpfen und, wie immer, zu verlieren. Dieses Ergebnis wäre aber nicht nur ein Verlust für die Konservativen, sondern auch für die Liberalen und das Land als Ganzes. Eine Debatte über Eignungstest wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit vorzuschlagen, dass die Amerikaner es mal mit verantwortungsvollem Regieren probieren sollten, wenn alles andere daneben geht. Die ältesten Babyboomer, die 1946 geboren sind, wurden 2008 62 Jahre alt und waren damit berechtigt, soziale Altersversorgungsleistungen zu erhalten. 2011 werden sie Medicare beantragen können, und 2012 volle Pensionsleistungen, wenn sie sich dazu entscheiden, ihre Pensionierung aufzuschieben. Die Reihen der Leistungsempfänger werden über Jahre hinweg sich füllen. Laut Statistikamt werden 2010 40,2 Millionen Amerikaner 65 oder älter sein, das entspricht 13 % der gesamten Bevölkerung. 2025 werden eineinhalbmal so viele Menschen 65 und älter sein, d. h. 63,9 Millionen, also 17,9 % der Bevölkerung.81 Die Verrentung der Babyboomer wird die am besten dokumentierte und am wenigsten überraschende Herausforderung der Politik in der amerikanischen Geschichte sein – und wir sind immer noch nicht darauf vorbereitet. „Herb Steins Gesetz“82 wurde zwar noch nicht aufgehoben, aber wenn etwas nicht ewig dauern kann, dann wird es das auch nicht. Ansprüche können nicht weiter unendlich lang gestellt werden. Sie nehmen einen immer größeren Anteil am Bundeshaushalt und am BIP in Beschlag. Die Liberalen haben sich darauf versteift, einen viel größeren Wohlfahrtsstaat zu bauen. Der Parteitag der Demokraten stöhnt alle vier Jahre unter der Last all der fabelhaften und leidenschaftlichen Pläne für neue Initiativen des Staates. Das Problem ist nur, dass die Aufrechterhaltung des jetzigen Wohlfahrtsstaats, vor allem der sozialen Sicherheit, Medicare und Medicaid, dazu führt, dass der Anteil des BIP, den die Bundesausgaben für Soziales beanspruchen, unbarmherzig wachsen wird, und das auch ohne Einbindung irgendwelcher neuen Programme. Das Haushaltsbüro des Kongresses berichtete 2007, dass die Bundesausgaben für jene drei Bereiche 8,4 % des BIP entsprächen. Es schätzte, dass dieser Anteil, sollte es

81

U. S. Census Bureau (2008b). Benannt nach der von dem Ökonomen Herbert Stein formulierten Tautologie: „Wenn eine Sache nicht ewig weitergehen kann, dann wird sie irgendwann enden.“ 82

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zu keinen Änderungen kommen, bis 2030 auf 14,2 % und bis 2050 auf 18,1 % anwachsen würde. Wenn man in den Kalkulationen „einige Politikänderungen einrechnet, die man aufgrund dessen, was die politischen Entscheidungsträger in der Vergangenheit beschlossen haben, erwarten kann“, dann steigen die Aussichten für 2030 auf 14,5 % des BIP und für 2050 auf 18,6 %.83 Die drei größten Berechtigungsprogramme würden fast denselben Anteil der Wirtschaftsleistung verschlingen, wie der gesamte Bundeshaushalt 2007 in Anspruch nahm. Wenn man sie weiter gewähren lässt, wird das für die nächsten 20 Jahre locker Steuererhöhungen im Bereich von 6 % des BIP notwendig machen und für die dann folgenden Jahre noch einmal 4 %. Derart enorme Zuwächse, um den Wohlfahrtsstaat am Leben zu erhalten, machen Ausdehnungen, wie sie den Liberalen vorschweben, politisch wie steuerlich unmöglich. Eine Handvoll liberaler Autoren ist aufrecht genug, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, und gewissenhaft genug, sie ein Problem zu nennen. So verlangte z. B. William Galston 2008 in seinem Buch The American Prospect nach einem größeren Wohlfahrtsstaat. Aber er sagte auch: „[W]ir werden einen neuen Ansatz hinsichtlich der großen Anrechtsprogramme brauchen – vor allem im Hinblick auf Medicare und Medicaid. Sie tragen so sehr zum langfristigen Wachstum des Bundeshaushalts bei … [W]as immer wir in diesem Bereich tun, eine liebgewordene Annahme müssen wir überdenken, nämlich die, dass der Gesellschaftsvertrag des 21. Jahrhunderts einfach nur einen neuen Flügel dem bestehenden Gebäude angliedert.“84 E. J. Dionne hat die Ambitionen der Liberalen einmal als „neue Ära des öffent­ lichen Investments in Dinge von wirklicher Bedeutung“ charakterisiert. Wenn diese Ära letztendlich die Agenda des New Deal und der Großen Gesellschaft verteidigen und zusammenfassen wird, dann müssen die Liberalen klarstellen, ob alle bedeutenden Dinge wirklich gleichermaßen dringend sind. Falls dem so ist – wenn die Sozialausgaben ununterscheidbare, austauschbare Einheiten sind –, dann werden die zusätzlichen Staatszuwendungen für die Pensionen und die medizinische Sicherheit der geburtenstarken Ruheständler, von denen viele an sich recht wohlhabend sind, für Liberale ein vollkommen zufriedenstellendes Ergebnis darstellen. Und falls nicht, dann eben nicht. Der Journalist Matt Miller hat, wenn auch mit wenig Erfolg, versucht, die Liberalen dazu zu bewegen, die Politik schlüssigen Argumenten anzupassen, und nicht Gefühlen oder Wunschdenken. Er stellt fest, wie die Ansprüche sich zunehmend am Fiskalkuchen schadlos halten. „Und dann ist da noch die Fülle an anderen Vorlieben der Demokraten, vom Schutz der Unversicherten, über Löhne und Erziehungsgeld der arbeitenden Armen, bis hin zu Forschung und Entwicklung und dem Ausbau der Infrastruktur.“ Alle führenden Demokraten wollen Bushs Steuersenkungen für Haushalte mit mehr als $ 250.000

83 84

Congressional Budget Office (2007b). Galston (2008).

Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Liberalen

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rückgängig machen. Das Problem liegt nach Miller darin, dass man sie nur einmal rückgängig machen kann.85 Es mag zwar eine gute Politik sein, jedes Mal mit sechs neuen Vorschlägen aufzuwarten, wie der Staat jeden zusätzlichen Dollar aus Steuereinnahmen ausgeben kann. Eine gute Staatsführung ist es nicht. Wer Liberale zur Einsicht bringen möchte, dass es von allem nur 100 % gibt, BIP für den Wohlfahrtsstaat eingeschlossen, der kann genauso gut versuchen, mit dem Ruderboot die Niagarafälle hinauf zu rudern. Das politische (und finanzielle) Kapital, das die Liberalen mithilfe von Steuererhöhungen für bestehende Anrechtsprogramme aufbrauchen, steht ihnen nicht noch einmal für Erziehungsgeld, grüne Technologien, Schutz der Arbeiter vor Globalisierungsfolgen etc. zur Verfügung. Wie kann Amerika für all die Anrechte aufkommen und die zahllosen Initiativen der Liberalen für die, die gar nicht alt sind, bezahlen, und all das ohne Zuflucht zu jener Art massiver Steuererhöhungen, die politische Unruhen und wirtschaftliche Debakel lostreten werden? Diese Frage hat Miller einem früheren Mitarbeiter der Clinton-Regierung gestellt, worauf dieser antwortete: „Ich glaube, dass bislang noch nicht viele demokratische Ökonomen sich damit gedanklich auseinandergesetzt haben.“86 Sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, wäre ein guter Anfang. Liberale, die einen größeren Wohlfahrtsstaat wollen, und Konservative, die einen kleineren wollen, haben einen großen Streitpunkt, aber nicht wirklich etwas, worüber sie reden könnten. Jedoch haben Liberale, die die Endlichkeit der zur Verfügung stehenden Ressourcen verstehen, und Konservative, die wissen, dass es sinnlos ist, diese Endlichkeit offenzulegen, sehr wohl etwas zu bereden. Wenn derlei Gespräche in Treu und Glauben stattfinden, dann nur, wenn die Konservativen zugeben, dass Amerika einen Wohlfahrtsstaat haben wird und sollte und dass die Austrocknung des Wohlfahrtsstaats nicht das Ziel der Konservativen ist, auch nicht in ferner Zukunft. Laut Wilson steht ein derartiger Konservatismus „nicht für einen kleinen oder schwachen Staat, oder einen, dem die Armen gleichgültig sind, … [sondern] für einen fairen und fähigen Staat.“ Die Liberalen am Tisch müssen indes sich von ihrem Glauben befreien, dass alles gut zu tun wäre und dass wir mit all dem Geld alles probieren können, für das zu träumen wir kühn genug sind. Stattdessen würde dieser Liberalismus eines bejahen, nämlich das, was Wilson so ausgedrückt hat: „Es reicht nicht, dass ein Programm einen edlen Zweck verfolgt oder von einem ehrenwerten Ziel getragen wird; um einen Anspruch auf die Ressourcen zu erhalten, sollte es den beabsichtigten Zweck tatsächlich erzielen, und zwar zu einem vernünftigen Preis.“87

85

Miller (2005). Miller (2005). 87 Wilson (1986), S. 18. 86

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Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Wähler Der Rahmen für die skizzierte Auseinandersetzung wäre eine Neufassung des Wohlfahrtsstaats, damit, um es mit David Stockman zu sagen, schwache Anspruchsteller Vorrang vor schwachen Ansprüchen erhalten. Wohlfahrtsstaatliche Programme mit Berechtigungsnachweisen bedeuten, dass die am meisten erhalten, welche die stärkste Berechtigung dazu haben, und zwar aufgrund der Tatsache, dass sie die Verletzlichsten unter uns sind. Sie bedeuten auch, dass die von Staatshilfen ausgeschlossen werden, deren Ansprüche am schwächsten sind, und zwar aufgrund der Tatsache, dass sie die am wenigsten Verletzlichen unter uns sind. In anderen Worten, eine Demokratie, die reich genug ist, sich einen Wohlfahrtsstaat zu halten, ist auch so reich, dass viele Mitglieder das meiste, was der Wohlfahrtsstaat bereitstellt, nicht brauchen. Die große Zahl derer, die keine staatliche Hilfe brauchen, ist indes auch eine große Zahl an Wählern. Ihre kaum berechtigten Ansprüche werden mit Erfolg von wohlhabenden Antragstellern durchgesetzt. Diese sind nicht nur zahlenmäßig stark, sondern können auch mit Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit die Stimmung erzeugen, die den Wohlfahrtsstaat veranlasst, mehr Einkommen in ihre Richtung zu verteilen. David Frum schrieb dazu 1994: „Weit mehr noch als in den 1980er Jahren sehen sich Gouverneure und Bürgermeister heutzutage Wählern gegenüber, die vorgeben, dass sie Ausgabenkürzungen Steuererhöhungen vorziehen. Aber genau diese Wähler erwarten auch weiterhin in den Vorstätten großzügig ausgestattete Oberschulen, subventionierte Studiengebühren an den staatlichen Hochschulen, mautfreie Autobahnen und eine verbesserte Umwelt auf Kosten anderer. Was könnte für einen Politiker verführerischer sein, als dem Wähler beizubringen, die Steuern und Regulierungen nicht den Anforderungen der Mittelschicht, sondern den überzogenen Forderungen der Armen anzuhängen? Was könnte leichtsinniger sein, als aufgeblasene Erziehung, Fernstraßen, Agrarsubventionen, die vornehmlich der Mittelschicht dienen, zu attackieren? Problematisch ist nur, dass mit der Ablehnung des offensichtlich leichtsinnigen Kurses auch alle anderen konservativen Hoffnungen zum Scheitern verurteilt sind.“88

Man kann die Abschlussresolution der Verhandlungen von jenen Konservativen, die Berechtigungsnachweise fordern, und jenen Liberalen, die angesichts begrenzter Ressourcen für den Wohlfahrtsstaat die Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen, anerkennen, schon erahnen. Der Friede sähe einen Wohlfahrtsstaat vor, der „sowohl zielgenauer als auch robuster“ wäre, um es mit den Worten von Josh Patashnik von der New Republic zu sagen.89 Um wie vieles zielgenauer und robuster wären natürlich entscheidende und schwierige Fragen, die eher zu einem Rahmen für langanhaltende Diskussionen führen als zu einer Dauerlösung. Für Liberale würde dieser Diskussionsrahmen bedeuten, dass „Ja“ eine Antwort auf die Fragen sein könnte. Die 75 Jahre an Rhe-

88 89

Frum (1994), S. 8. Patashnik (2007), S. 4.

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torik, mit der sie die verletzlichsten von uns verteidigt haben, hat die Amerikaner überzeugt: Sie sind zur Unterstützung der Armen durch staatliche Programme bereit, weil sie das Richtige sind. Der Wohlfahrtsstaat muss seine Stimmen nicht erst kaufen, er hat sie bereits. Für Konservative bedeutet der Diskussionsrahmen, dass eine anständige Gesellschaft dazu verpflichtet ist, einer kleinen Minderheit von Bürgern, die chronisch unfähig ist, für sich selbst zu sorgen, und eine größere Minderheit von Bürgern, die gelegentlich und übergangsweise dazu außerstande ist, davor zu bewahren, ein Leben in Elend zu führen. Staatliche Programme sind ein notwendiger Bestandteil dieses Anliegens. Die Konservativen werden von dieser Prämisse ausgehend durch Berechtigungsnachweise die wohlfahrtsstaatlichen Programme auf die Armen beschränken und die Anreize für Gesundheitskonten und Rentenkonten stärken, damit jene Menschen, die nicht arm sind, auch nicht in Armut verfallen oder als Antragsberechtigte der Programme erst in Frage kommen. Ein solches Arrangement wird nicht ohne Schwierigkeiten zu erzielen sein, ist aber leicht zu zerstören. Bei jeder Meinungsverschiedenheit können die Konservativen mit einem Abbruch der Gespräche drohen und damit, dass sie den Wählern mitteilen, welche Steuern ein robuster Wohlfahrtsstaat braucht. Die Liberalen wiederum können damit drohen, dass sie den Wählern verraten, welche Leistungskürzungen ein zielgerichteter Wohlfahrtsstaat nach sich zieht. In Wirklichkeit können wir den Wohlfahrtsstaat weder ohne genügend Steuern noch ohne genauere Zielsetzung erhalten. An sich brauchen wir beides. Besonders bezeichnend für die nutzlosen Verhandlungen ist, dass jede Seite diese übergreifende Realität als Problem der Gegenseite ansieht und nicht als ein Problem, das alle am Tisch angeht. In seinem Buch The Pact schildert der Historiker Steven Gillon, wie Bill Clinton und Newt Gingrich 1997 ein fragiles Arrangement trafen und wie dieses 1998 wieder zerbrach. Der Reformrahmen für soziale Sicherheit und Medicare schaffte letzten Endes den Sprung von den Think Tank-Seminaren auf die Agenda der mächtigsten Politiker des Landes: „In privaten Gesprächen mit Gingrich und dem texanischen Republikaner Bill Archer, seines Zeichens mächtiger Vorsitzender des für Steuern und Sozialprogramme zuständigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, versprach [Clinton] den Demokraten und Republikanern ‚politische Deckung‘, indem er seine Unterstützung für die Anhebung des für soziale Sicherheit notwendigen Mindestalters und für die Reduzierung der Lebenskostenanpassungen bekanntgab. Der Präsident war willens, gegen den Widerstand seiner Parteiführung die republikanische Forderung nach privaten Sozialkonten zu unterstützten. Obwohl die meisten Republikaner die aufkommenden Mehreinnahmen für massive Steuersenkungen nutzen wollten, akzeptierte Gingrich im privaten Gespräch die Position der Regierung, dass das Einnahmenplus dazu verwendet werden sollte, die soziale Sicherheit ‚für alle Zeiten‘ zu sichern. Was dann noch übrig bliebe, sollte für Steuererleichterungen genutzt werden.“90

90

Gillon (2008), S. xv.

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5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

Laut Gillon hatten Clinton und Gingrich Ende 1997 nicht nur den Reformrahmen der sozialen Sicherheit ausgehandelt, sondern auch einen Fahrplan, um Ende 1998 die Zustimmung des Kongresses zu gewinnen. Das Ergebnis der Medicare-Reform war weniger klar umrissen und der Fahrplan zu seiner Inkraftsetzung für Ende 1999 vorgesehen, gefährlich nahe am Beginn des Wahlkampfes um die Präsidentschaft. Aber die Umrisse waren auch hier die gleichen. Gingrich und Clinton vereinbarten die Bildung eines parteiübergreifenden nationalen Ausschusses für die Zukunft von Medicare. Clinton wollte „den Ausschuss zur Entwicklung kühner und kontroverser Vorschläge nutzen, und er war bereit, Druck auf die Demokraten auszuüben. Um ein Abkommen mit den Republikanern zu erzielen, sollten sie schmerzliche Kompromisse hinnehmen“, so Gillon.91 Die Empfehlungen des Ausschusses waren letzten Endes in der Tat umstritten und forderten Clintons ganzes Geschick, um sie den Demokraten im Kongress zu verkaufen. Josh Patashnik fasst es so zusammen, dass der Ausschuss unter Leitung des demokratischen Senators John Breaux und des republikanischen Abgeordneten Bill Thomas vorschlugen, „Medicare von einem allgemeinen privaten Gesundheitsplan mit leistungsbezogenen Entgelten in Leistungszuwendungen umzuformen, die als Zuschüsse beim Erwerb einer gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung gewährt werden.“92 Aber 1998 war natürlich nicht das Jahr, in dem die Bezahlbarkeit von sozialer Sicherheit und Medicare durch eine bessere Zielorientierung auf jene, die sie am meisten brauchten, gesichert wurde. 1998 war vielmehr das Jahr, in dem Clinton einem Amtsenthebungsverfahren entgegensah und Gingrich aus dem Kongress vertrieben wurde. Dass der Feuersturm um Monica Lewinsky entbrannte, war nicht unvermeidbar. Aber das leicht entflammbare Material, welches das Anrechts-Konkordat von Clinton und Gingrich umgab, bedeutete, dass das Feuer jederzeit hätte entflammen können. Es hätte alles letztlich klappen können, aber eine sichere Sache war es nie. Als Clinton und Gingrich sich im Oktober 1997 trafen, um die Anrechtereform zu besprechen, taten sie dies, ohne vorher Hillary Clinton, Vizepräsident Gore oder die Spitze der Demokraten im Kongress einzuweihen. Folgt man Clintons Berater Paul Begala, dann lehnte der Chef der Demokraten im Repräsentantenhaus, Richard Gephardt, jeglichen Handel zwischen einem demokratischen Präsidenten und Gingrich kategorisch ab, war Gingrich doch jemand, „der alles untergrub, wofür er [Gephardt] in der Öffentlichkeit stand: soziale Sicherheit, Medicare, Armenfürsorge, eine anständige Gesellschaft.“ Al Gore fürchtete, in den Vorwahlen um das Amt des Präsidenten, bei denen die liberalen Wähler stark überrepräsentiert gewesen wären, von Gephardt herausgefordert zu werden. Gore wäre gegen Änderungen bei den Anrechten gewesen, weil er sonst Gephardt einen weiteren Grund geliefert hätte, ihn – wie schon beim Nordamerikanischen Freihandelsabkommen und bei

91 92

Gillon (2008), S. 218–221, 266 ff. Patashnik (2008).

Berechtigungsnachweise: der Widerstand der Wähler

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der Wohlfahrtsreform die Clinton-Gore-Regierung – des Verrats liberaler Prinzipien bezichtigen zu können. Ähnliches gilt für Gingrich. Er hielt das Treffen vor allen geheim, außer vor seinen engsten Mitarbeitern, die andere republikanische Abgeordnete ablenken sollten, bevor diese es herausfänden. Viele von ihnen fanden es laut Gillon „unerhört, dass gerade Gingrich, der Architekt der republikanischen Revolution und der entschiedenste und effektivste Parteigänger im Kongress der letzten Dekade mit dem Präsidenten kollaborierte.“93 Als die Lewinsky-Geschichte im Januar 1998 die Titelblätter schmückte, dauerte es keine Stunden, bis die Annäherung zwischen Clinton und Gingrich bezüglich der sozialen Sicherheit und Medicare null und nichtig war. Der sorgfältige, detaillierte Plan einer „60 %-Koalition aus Gemäßigten beider Parteien“ erwies sich als hinfällig.94 Statt die liberalsten unter den Demokraten im Kongress – jene, die jegliche Einschnitte bei den Ausgaben für Anrechte verabscheuen – verärgern zu können, war Clinton nun auf deren guten Willen angewiesen, um einer Amtsenthebung oder einem erzwungenen Rücktritt zu entgehen. Und anstatt die konservativsten unter den Republikanern – jene, die jeden Dollar aus dem Haushaltsplus eher für Steuersenkungen als für Wohlfahrtsprogramme nutzen wollten – verärgern zu können, konnte Gingrich nicht anders, als ihnen beizupflichten, dass Bill Clinton für das Amt des Präsidenten moralisch ungeeignet sei und kein Mann, mit dem Republikaner gemeinsame Sache machen könnten. „Das Amtsenthebungsverfahren bestärkte jene Gruppen in beiden Parteien, die das geringste Interesse an einer Reform [der Anrechte] hatten: liberale Demokraten, die gegen Privatisierung waren, und Republikaner, die starke Steuerkürzungen unterstützten“, schreibt Gillon.95 1998 war nicht nur das Jahr einer verpassten Gelegenheit zur Anrechtereform, sondern auch der Beginn eines verlorenen Jahrzehnts. Verhandlungen unter Gegenspielern, die Kooperation mit Kapitulation gleichsetzen, sind nicht möglich. Angesichts des angespannten Verhältnisses, das 1997 in Washington zwischen Demokraten und Republikanern herrschte, überrascht es, dass es Clinton und Gingrich fast gelungen wäre, die Umrisse der Anrechte neu auszuhandeln. 2005, als George W. Bush sich mit einer Reform der sozialen Sicherheit ins Geschichtsbuch eintragen wollte, waren die parteilichen Animositäten noch verhärteter. Mit dem Kampf um Clintons Amtsenthebung 1998 und dem Wahlergebnis zwischen Bush und Gore 2000 war der Geist der Gegenseitigkeit vom Capitol Hill verschwunden. 2005 vertraten die Republikaner die Position, dass eine Reform der sozialen Sicherheit zumindest eine Teilprivatisierung beinhalten müsse, während die Demokraten den Standpunkt vertraten, dass jede Form der Privatisierung zur Beendigung der Gespräche führen müsse. An dieser unüberbrückbaren Differenz sollten keine Verhandlungen vorbeiführen.

93

Gillon (2008), S. 197, 203. Gillon (2008), S. 279. 95 Gillon (2008), S. 268. 94

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Der Historiker Howard Quint hat einmal gesagt, „Optimismus ist meistens das Ergebnis eines geistigen Irrtums.“96 Auf den Optimismus hinsichtlich der Finanzierbarkeit der amerikanischen Anrechtsprogramme trifft das immer zu. Bei ihrer Rahmenvereinbarung zur sozialen Sicherheit und zu Medicare kam Clinton und Gingrich der Zufall zugute: die zufälligen Mehreinnahmen des Bundeshaushalts in Clintons zweiter Amtszeit. Die Steuersenkungen, mit denen George W. Bush das Biest verhungern lassen wollte, entsprangen der politischen Einsicht, dass – „soweit das Auge sah“ – keine Mehreinnahmen auftauchen würden. Vorher gab es sie nur, weil sie Washington überraschend trafen. So überraschend sie kamen, so schnell waren sie in festen Händen und wurden entweder für einen größeren Wohlfahrtsstaat oder Steuersenkungen ausgegeben. Die Demokraten befürchteten natürlich, dass der Anteil am BIP, der sich in den erwarteten Mehreinnahmen widerspiegelte, am Wohlfahrtsstaat vorbeigelenkt würde, um die Steuern senken zu können. Al Gore beschwor die Wähler 2000, die Demokraten zu wählen. Sie würden die Mehreinnahmen für die soziale Sicherheit in ein Schließfach tun. Man solle nicht die Republikaner wählen, weil sie mit dem Einnahmeplus die zu erwartenden Steuersenkungen gegenfinanzieren würden. Nach Bushs umstrittenem Sieg über Gore 2000 und den großen Steuererleichterungen 2001 (bei der die Partei in beiden Häusern fast geschlossen abstimmte) waren die Chancen dafür, dass die Demokraten in der Stimmung gewesen wären, über die soziale Sicherheit zu verhandeln, gleich null. Patashnik rechtfertigt deren Ablehnung und verweist auf die Liquiditätsprobleme, die es für die soziale Sicherheit gab. „Nachdem er vier Jahre lang die Steuern für die Reichen gekürzt hatte und sich stur geweigert hatte, die großen Maschen im sozialen Sicherheitsnetz auszubessern, verlangte Bush von den Demokraten, die Sozialleistungen zu beschneiden. Vor diesem Hintergrund kann man den Liberalen wohl kaum verübeln, dass sie eines ihrer wenigen politischen Druckmittel nicht ohne Gegenleistung aus der Hand gaben.“97 Nun ja, einen Versuch war es wert. Die Kürzungen bei der sozialen Sicherheit, die sich Bush in den Kopf gesetzt hat, nachdem er sich die Idee der „progressiven Indexierung“ zu eigen gemacht hatte, waren „Kürzungen“ à la Washington: Steigerungen, aber geringere als erwartet. Niedriglohnarbeiter würden auch weiterhin Zuwendungen erhalten, indiziert am Lohnwachstum: die Zuwendungen für Hochlohnarbeiter sollten preisindiziert sein, weil die Preise langsamer zu steigen pflegen. Die daraus resultierende Differenz sollten die Hochlohnarbeiter aber kompensieren können, und zwar durch zurückhaltbare Steuern, die sie anderweitig als in den Fonds für soziale Sicherheit einzahlen konnten.98 Wenn man „den größten Teil der Last zur Rettung der sozialen Sicherheit den Wohlhabenden aufbürdet“, dann ist das ein Politikwechsel, den die Liberalen nicht als „nichts“ abtun sollten.99 96

Zitiert nach Lipset / Marks (2000), S. 16. Patashnik (2007). 98 Pozen (2005). 99 Ponnuru (2008). 97

Der Konservatismus und die Legitimität des Wohlfahrtsstaats

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Sollten sich die Parteien je wieder für eine Reform der Anrechte zusammenraufen, dann wird es aus Notwendigkeit heraus entstehen und nicht, weil die Gelegenheit günstig wäre. Denn riesige Schulden des Bundes stehen ins Haus, um die vom Programm vorgesehenen Leistungen finanzieren zu können – andere Aussichten als 1997, als große Mehreinnahmen des Bundes vorhanden waren, um den Schock der Leistungskürzungen abzufedern. Wenn es denn so kommt, dann werden die beiden ideologischen Widersacher jeweils an ihrem innenpolitischen Kurs festhalten. Die Liberalen sprechen für und über die Ablehnung eines kleineren Wohlfahrtsstaats durch die Öffentlichkeit. Die Konservativen sprechen für und über die Ablehnung höherer Steuern. Keine Seite will den Teil der öffentlichen Meinung, den sie im Griff hat, aufgeben, weil sie aus ihm ihre politische Kraft schöpft. Jede hofft, dass der widersprüchliche Wunsch der Öffentlichkeit nach einem großzügigen Wohlfahrtsstaat mit niedrigen Steuern sich zu ihren Gunsten in Wohlgefallen auflösen wird. Jedenfalls ist es nicht möglich, unendlich lange in entgegengesetzten Richtungen an der Wünschelrute zu ziehen, ohne dem Land großes Unheil zu bescheren.

Der Konservatismus und die Legitimität des Wohlfahrtsstaats Clintons Stabschef Erskine Bowles meinte, der Vorvertrag, den Newt Gingrich und Bill Clinton 1997 während ihres geheimen Treffens zur Reform der Anrechte abschlossen, habe die beiden Prinzipale zu „Partnern“ gemacht. Gillon schreibt dazu: „Gingrich zögerte und sagte: ‚Ich würde eher sagen, dass wir eine Koalition sind, aber keine Partner.‘ Für Gingrich war diese Unterscheidung wichtig. ‚Partner gehören zum selben Team. Wir werden nie demselben Team angehören.‘“100 Am Ende gehörten sie keine drei Monate später nicht einmal mehr derselben Koalition an. Gleichwohl sagt uns der Fortschritt, den Gingrich und Clinton bei der Neuordnung des amerikanischen Wohlfahrtsstaats machten, etwas über den Prozess, den der nächste Versuch einer Verständigung zwischen Liberalen und Konservativen wahrscheinlich durchlaufen wird, und über das Ergebnis, das er wahrscheinlich hervorbringen wird. Wie wir gesehen haben, fehlt es dem Liberalismus an einem Begrenzungsprinzip. Mehr noch, er steht der Idee, ein solches zu formulieren, grundsätzlich feindlich gegenüber. Eine Verständigung mit den Konservativen, die über ein marginales Zurechtstutzen des Wohlfahrtsstaats hinausginge, würden die Liberalen von vornherein vermeiden.

100

Gillon (2008), S. xv.

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Und die Konservativen werden mit ähnlich gemischten Gefühlen am Verhandlungstisch erscheinen. 1993 forderte Irving Kristol einen „konservativen Wohlfahrtsstaat“, und zwar aus dem pragmatischen Grund heraus, dass „der Wohlfahrtsstaat mit uns lebt, in guten wie in schlechten Zeiten, und dass die Konservativen versuchen sollten, ihn besser statt schlechter zu machen.“ Ihn besser machen heißt für Kristol, den Wohlfahrtsstaat in den Dienst der kulturellen Auseinandersetzungen zu stellen, und zwar indem man ihn „mit den moralischen Grundprinzipien unserer Zivilisation und den politischen Grundprinzipien unserer Nation in Einklang bringt.“ Die einzige „Reform“ von Anrechten, die diese Auseinandersetzung erforderte, war die, die soziale Sicherheit, wenn überhaupt, dann „etwas groß­ zügiger“ zu gestalten. „Unser soziales Sicherheitssystem ist äußerst beliebt. Wenn das amerikanische Volk sich gegenüber seinen Alten großzügig zeigen will, dann ist das, auch wenn es etwas extravagant sein sollte, sehr nett von ihm. Letztlich sind die Alten wunderbare und unproblematische Bürger. Sie sind patriotisch, haben keine illegitimen Kinder, begehen keine Straftaten, randalieren nicht auf den Straßen, ihre Vergnügungen sind bescheiden, nicht erniedrigend, und wenn sie ein bisschen mehr Geld in der Tasche haben, dann geben sie es gleich gutgelaunt an ihre Enkel weiter.“101

Konservative Sparsamkeit bzw. Begrenzung oder Ablehnung wohlfahrtsstaatlicher Gaben verlangte Kristol nur in solchen Fällen, in denen die Ansprüche von Leuten gestellt wurden, die illegitime Kinder hatten, Straftaten begingen, randalierten und erniedrigende Unterhaltung bevorzugten, etc. Nach libertärer Auffassung ist ein konservativer Wohlfahrtsstaat ein Widerspruch in sich. Die Mühe, einen zu erzielen, ist reine Zeitverschwendung und letztlich kontraproduktiv. Sich dem Wohlfahrtsstaat anzudienen, wird den Konservatismus weit mehr zum Schlechten wandeln als den Wohlfahrtsstaat zum Guten. Michael Tanner vom Cato Institute hat das so formuliert: „Es gibt keine Evidenz dafür, dass die Liberalen der Wachstumsbegrenzung des Wohlfahrtsstaats zustimmen, wenn die Konservativen versprechen, jeglichen Versuch der Beschneidung zu unterlassen. Viel eher werden die Konservativen in einen Bieterkrieg hineingezogen, in dem sie unweigerlich wie die Partei aussehen werden, die sich weniger kümmert. Nach Aufgabe ihrer Prinzipien, bleibt ihnen nicht viel mehr als die Argumente der Effizienz und begrenzten Ressourcen. Diese Sorte von Buchhalterkonservatismus muss es dann mit dem Aufruf der Linken zu größerem Mitgefühl aufnehmen.“102

Falls Tanner Recht hat und eine konservative Verständigung mit den Fürsprechern des Wohlfahrtsstaats unmöglich ist, dann bleibt nur noch eine Hoffnung für die begrenzte Staatsgewalt, nämlich eine lange Serie beeindruckender Wahlabsagen an den Wohlfahrtsstaat – ein Ergebnis, für das es in der Geschichte moderner Demokratien kein Beispiel gibt. Wenn wir davon ausgehen, dass der Tag, an dem jedes Schulkind Hayeks Verfassung der Freiheit frei aufsagen kann, nicht allzu 101 102

Kristol (1993b), S. A14. Tanner (2009), S. 4.

Der Konservatismus und die Legitimität des Wohlfahrtsstaats

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bald kommen wird, dann sollten wir uns an die allgemeine Regel erinnern, dass Abkommen zwischen Parteien, die sich nicht mögen oder einander nicht trauen, getroffen werden können. Der Schlüssel dazu ist, dass beide große Anreize haben, die Verabredung und Einhaltung des Abkommens als eine Verbesserung gegenüber dem Status quo zu sehen. Wenn Liberale und Konservative finden, dass sie gemeinsame Geschäfte machen können, dann nur, weil die Konservativen einsehen, dass die von ihnen angestrebten großen Leistungskürzungen keine Wählerstimmen bringen, und weil die Liberalen erkennen, dass sie nie die letzten Endes notwendigen großen Steuerhöhungen an den Mann kriegen werden. Für die Konservativen gibt es noch ein zusätzliches Hindernis. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, sehen sie im Wohlfahrtsstaat nicht nur ein Bündel politischer Irrläufer, sondern auch ein Unterfangen, das mit Amerikas fundamentalen Verfassungsprinzipien überkreuz liegt. So gesehen war die Kapitulation des Obersten Bundesgerichts vor dem New Deal 1937 – um es mit den Worten von Richard Ep­ stein, dem prominentesten libertären Rechtstheoretiker, zu sagen – „ein geistiger und politischer Fehler, der rückgängig gemacht werden sollte, wenn wir nur wüssten wie.“103 Folgt man Michael Greve vom American Enterprise Institute, der einige Bücher mit Epstein herausgegeben hat, dann war der „New Deal eine echte Transformation“, und „wenn die Konservativen die Legitimität dieser Verfassungstransformation zugestehen, wie können sie dann andere Transformationen – gewesene oder vorgeschlagene – anfechten?“104 Gemäß dieser Auffassung definieren die beiden Ziele, die Reagan 1981 in seiner Antrittsrede verkündet hatte, eine unteilbare Botschaft: Der Konservatismus wird nie „das Ausmaß und den Einfluss der bundesstaatlichen Einrichtungen zurückdrängen“, ohne „die Unterscheidung zwischen den Befugnissen, die der Bundesregierung zugedacht sind, und jenen, die den Bundesstaaten und dem Volk vorbehalten sind.“ Die Delegitimierung des New Deal ist eine weitere unüberbrückbare Differenz zwischen Konservativen und Liberalen. Angesichts der Ungeheuerlichkeit des politischen Unterfangens, schwankten die Konservativen lange Zeit, ob sie sich dazu aufraffen sollten oder nicht. Sogar William Buckley wich in seinem berühmten Grundsatzpapier der Erstausgabe der National Review, in dem er in allen anderen Punkten klar Stellung bezog, dieser Frage aus: „Die Konservativen in diesem Land – zumindest diejenigen, die ihren Frieden mit dem New Deal nicht gemacht haben (wobei man ernsthaft fragen muss, ob es auch andere gibt) – sind Nonkonformisten ohne Lizenz.“105 Die Konservativen haben sich selbst ins Abseits manövriert. Die Idee, den rechtlichen Status vor 1937 wiederherzustellen, erscheint nur mehr als eine Donquichoterie, mit der man sich weiter ins Abseits stellt. Man stelle sich eine konservative Bewegung vor, die stark genug wäre, genug Präsidentschafts- und Senatswahlen zu 103

Epstein (1988), S. 5. Greve (2005), S. 2. 105 Buckley (1955). 104

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gewinnen, um die Bundesgerichte, einschließlich des Obersten Bundesgerichtes, mehrheitlich mit Richtern zu besetzen, die willens wären, all die positiven Diskriminierungen umzukehren, die seit 1937 auf der langen Liste des umfangreichen Staates stehen. Solch eine konservative Bewegung würde die Hilfe der Gerichte nicht wirklich brauchen. Es hätte die zersetzenden Wohlfahrtsprogramme schon längst aufgeweicht und all die zweifelhaften staatlichen Behörden geschlossen, bevor die fraglichen Fälle vor dem Obersten Bundesgericht gelandet wären. Der Verzicht auf die Kritik an der Legitimität des New Deal kommt einem Zugeständnis der Konservativen an den schwerstwiegenden und gröbsten Fehler des Liberalismus gleich: Die Zerschlagung der Legitimitätsbarrieren, die in der Verfassung vor 1937 bestanden, und die Weigerung, neue an deren statt zu errichten. Wie Greve meint, machte die Anerkennung dieses liberalen Sieges die Konservativen zu Komplizen bei der Fortsetzung des neuen Regimes der Liberalen, das sich auf die Geschichte beruft, statt auf die Natur. In diesem Gemeinwesen sind die Befugnisse des Staates leicht zu verändern statt fest und abgezählt, die Rechte der Menschen Gegenstand ständiger Überprüfung statt unveräußerlich und die Meinungen der Regierten beratend statt weisend. Wenn die wahre Bedeutung der konservativen Kritik am Wohlfahrtsstaat die ist, dass der Wohlfahrtsstaat in seiner Gesamtheit wie auch in allen einzelnen Programmen verfassungswidrig ist, dann haben die Konservativen keine andere Wahl, als seine Zerstörung anzugehen. Dann stehen sie da wie Luther und können nicht anders. Diese Auffassung vertreten die beiden Libertären Robert Levy und William Mellor. Ihr Buch, The Dirty Dozen, ist ein Katalog der Entscheidungen des Obersten Bundesgericht. Durch „eine enorme Ausweitung der Bundesbefugnisse, geduldet von einem Obersten Bundesgericht, das einige ausgewählte – aber nicht alle – von der Verfassung garantierten Rechte verteidigt.“106 Levy und Mellor erweisen dem Fall Helvering vs Davis die zweifelhafte Ehre, ihre Schreckensliste anzuführen. Die richterliche Entscheidung in diesem Fall von 1937 erklärte das soziale Sicherheitsgesetz, das Sozialleistungen für Alte vorsah, für verfassungsgemäß. Die Autoren meinen, dass Programme, die „Geld von einigen Steuerzahlern einnehmen und es an andere weiterleiten“ verfassungswidrig seien, weil sie nicht zu den Befugnissen zählen, die in Artikel I der Verfassung aufgeführt sind. Eine Verfassung, die zu Steuern und Ausgaben autorisiere, die den Wohlfahrtsstaat anders als im Rahmen der abgezählten Befugnisse fördern, zerstört „jede sinnvolle Beschränkung der vom Kongress verabschiedeten Gesetze“ und macht „den Begriff der begrenzten Gewalt des Bundes zur Farce.“107 Michael Greve hingegen behauptet, dass im Fall Helvering korrekt geurteilt wurde, weil „die Verfassung keinen Hindernisgrund für Versicherungsprogramme des Bundes vorsieht, solange diese ordnungsgemäß strukturiert sind, wie z. B. die 106 107

Levy / Mellor (2008), S. 2. Levy / Mellor (2008), S. 19–36.

Der Konservatismus und die Legitimität des Wohlfahrtsstaats

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soziale Sicherheit.“ (Greve bezweifelt jedoch die Verfassungsmäßigkeit dessen, was das Gesetz zur sozialen Sicherheit an Vorkehrungen zur Arbeitslosigkeitsversicherung vorsieht, weil dadurch die Bundesregierung in die Lage versetzt wird, die Einhaltung und Durchführung seitens der Regierungen der Bundesstaaten zu „kommandieren“. Das Programm für Rentner ist ein reines Bundesprogramm.) Und generell, meint Greve, „Programme des New Deal, die einem erkennbaren öffentlichen Zweck dienten,“ liefen nie Gefahr, verfassungswidrig zu sein. „In der Verfassung steht nichts, das den New Deal davon hätte abhalten können, arbeitslose Künstler für das Ausschmücken amerikanischer Postfilialen mit Wandmalereien im Stile des Sowjetrealismus zu honorieren“.108 Greves Auffassung hat gegenüber der von Levy und Mellor einige Vorteile. Sie empfiehlt keine richterliche Passivität und sieht in der Verfassung so etwas wie ein Regelwerk des Sports und nicht die Regieanweisung eines Theaterstücks. Das heißt, Greves Position schafft Raum für die Idee, dass es viele gute politische Vorhaben gibt, welche die Verfassung nicht vorsieht, und viele schlechte, die sie nicht verbietet. Jede Politik sollte verfassungsgemäß sein, aber nicht jede politische Debatte sollte auf eine Verfassungsdebatte reduziert werden. „Es ist möglich,“ räumen Levy und Mellor ein, dass wohlfahrtsstaatliche Programme, einschließlich der sozialen Sicherheit „sowohl wünschenswert (im Sinne eines politischen Urteils) und verfassungswidrig (im Sinne eines rechtlichen Urteils) sind.“ „Wenn das der Fall ist, dann müssen entweder die Programme geändert werden, um mit der Verfassung in Einklang zu stehen, oder die Verfassung muss geändert werden, um die Programme zu autorisieren. Stattdessen geben unsere Politiker heutzutage mit Begeisterung unsere Steuergelder aus, ohne die entscheidende Frage zu stellen: Wo in der Verfassung wird die Bundesregierung autorisiert, Peter auszurauben, um Paul zu bezahlen?“109

Gemäß dieser Analyse ist die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur nationalen Sicherheit von 1947, das die Air Force als eine separate Einheit des Militärs eingeführt hat, mit Zweifeln behaftet. Abschnitt 8 des 1. Artikels gewährt dem Kongress die Macht, „Armeen aufzustellen und zu unterhalten“, „eine Flotte zu bauen und zu unterhalten,“ „Reglements für Führung und Dienst der Land- und Seestreitkräfte zu erlassen,“ und „Vorkehrungen für das Aufgebot der Miliz zu treffen.“ Verständlicherweise unterblieb seinerzeit auf dem Konvent in Philadelphia die explizite Autorisierung irgendeiner anderen militärischen Einheit. Man kann nun darauf bestehen, dass die Air Force in den letzten 60 Jahren in Sünde gelebt hat und ihre Ehre nur wieder hergestellt werden kann, indem man eine Verfassungsänderung herbeiführt, welche die Existenz der Air Force explizit autorisiert. Aber damit würde man den prinzipiengetreuen Konstitutionalismus auf ein überzogen rechtswissenschaftliches Durcheinander reduzieren. 108 109

Greve (2005), S. 2, Anm. 11. Levy / Mellor (2008), S. 19 f.

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5. Kap.: Das Dauerversagen des Konservatismus 

Der zweite Vorteil in Greves Ansatz liegt darin, dass mit ihm ein schwieriges politisches Anliegen davon abgehalten wird, zu einem unmöglichen Anliegen zu werden. Eine konservative Kampagne, die die Wähler von der Verfassungswidrigkeit der sozialen Sicherheit überzeugen soll, wird eher die Beliebtheit der Verfassung beeinträchtigen als die der sozialen Sicherheit. Sollte es den Konservativen gelingen, für ihre Idee eine Mehrheit am Obersten Bundesgericht zu erhalten, bevor sie im Volk eine Mehrheit dafür zusammenbekommen, dann werden sie letzten Endes die Wähler dazu kriegen, sich gegen den Konservatismus zu wenden. Es kann keinen konservativen Wohlfahrtsstaat geben, wenn die Konservativen darauf bestehen, dass es keinen verfassungskonformen Wohlfahrtsstaat geben kann. Konservative, die darauf bestehen, ziehen die Chance eines Lotterieloses, das im Gewinnfall den Wohlfahrtsstaat gänzlich ausradieren würde, der Möglichkeit vor, den Wohlfahrtsstaat auf eine solidere Grundlage zu stellen, und zwar in finanzieller, funktionaler, aber auch philosophischer Hinsicht. Die Liberalen hingegen, die sich der Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats in jedwede Richtung und zu allen notwendigen Kosten verschrieben haben, können derweil ungehindert ihren weiteren Kurs abstecken. Der dritte Vorteil des Ansatzes von Greve liegt darin, dass die politischen und konstitutionellen Argumente des Konservatismus gegen mehr Staat eher den regulierenden Staat als den Wohlfahrtsstaat betreffen. Die Konservativen sollten danach trachten, dass die Fußspuren des Staates so klein wie möglich bleiben. Peter auszurauben, um Paul zu bezahlen, ist nicht ideal, aber ein Dutzend Regulierungsbehörden dazu zu bringen, jeden Aspekt in Peters Verträgen mit Kunde Paul, Mitarbeiterin Paula und Nachbar Fred zu kontrollieren, zu monieren und umzugestalten, ist erheblich schlimmer. Dass der Kongress solche Behörden mit einer amorphen Fülle von Macht ausstatten kann, die äußerst komplizierte und permanent veränderte Regulierungen hervorrufen, ist noch schlimmer. Die Lohnauffüllung lässt den Staat einigen Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen und es anderen geben. Nach der Auffassung von Levy und Mellor verstößt schon allein diese Tatsache gegen die Verfassung. Dennoch ist die Lohnauffüllung jedem Gesetz zu Mindestlöhnen vorzuziehen. Wie Cass Sunstein hervorgehoben hat, reduziert die Steuergutschrift nicht die Arbeitsplätze für Niedriglohnarbeiter. Sie verzerrt nicht den Arbeitsmarkt und ermuntert dazu, Arbeit durch Kapital zu ersetzen, wo es sonst keinen wirtschaftlichen Sinn ergäbe. Außerdem leitet sie nicht einen großen Teil ihrer Zuwendungen an Jugendliche und Ehepartner fehl. Das heißt, kein Haushalt, der ohnehin schon über ein mittleres Einkommen verfügt, erhält noch auf Umwegen eine zweite oder dritte Lohntüte.110 Ginge es nach Greve, dann hätte Sunstein seinem politischen Argument eine verfassungsgemäße Lösung folgen lassen und die Entscheidung des Obersten Gerichtes im Fall West Coast Hotel vs. Parrish verwerfen sollen. Das Urteil im besag 110

Sunstein (2004), S. 196 f.

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ten Fall stützte ein Mindestlohngesetz: „[D]ie Armen, die einen lebenserhaltenden Lohn verdient haben, würden auch davon profitieren, wenn sie das Essen einfach aus den Regalen im Supermarkt greifen könnten, ohne dafür zu bezahlen, oder es sich in Ihrem Wohnzimmer gemütlich machen könnten, ohne eingeladen zu sein.“111 Das ist ein starkes Argument, und nicht ohne Wirkung. Gleichwohl sind die Chancen, dagegen bei Gericht zu gewinnen, bei weitem größer, wenn man mit Greves Distinktion zwischen den nach der Verfassung zulässigen und unzulässigen Teilen des New Deal anfängt als mit Levy und Mellor und ihrer Auffassung, dass von all dessen Teilen keines zulässig ist.

111

Greve (2005), S. 4.

6. Kapitel

Schlussfolgerungen: Wohin wollen die Fortschrittlichen fortschreiten und was wollen die Konservativen konservieren? „Obwohl Konservatismus und Liberalismus sich als Bewegungen gegenüberstehen“, so Joseph Cropsey, „scheinen die Namen kaum Notiz voneinander zu nehmen.“ „‚Konservatismus‘ steht für die Bewahrung des Erbes. ‚Liberalismus‘ für die Hingabe an die Freiheit. Die Spannungen zwischen den Bewegungen sollten, sofern diese ihre Namen zu Recht tragen, eigentlich verschwinden, wenn die Freiheit das Erbe ist. In den Vereinigten Staaten ist die Freiheit in der Tat das Erbe, aber die Spannungen bleiben.“1

Die Dichotomie von liberal und konservativ ergab im viktorianischen England mehr Sinn, weil dort die Freiheit nicht das Erbe war. Folgende Zeilen aus „Iolanthe“ schrieben Gilbert und Sullivan 1882. Damals hatten die Auseinandersetzungen zwischen Benjamin Disraeli und William Gladstone die britische Politik 15 Jahre lang geprägt. „I often think it’s comical, How Nature always does contrive That every boy and every gal That’s born into the world alive Is either a little Liberal Or else a little Conservative“2

Ganz anders Konservatismus und Progressivismus. Sie nehmen Kenntnis voneinander. Der Konservative schaut liebevoll und beschützend auf die Vergangenheit zurück. Er will einen Bruch vermeiden, der uns und die Zukunft, an der wir arbeiten, von der Überlieferung, welche die Zukunft lehren und zivilisieren soll, trennen würde. 1 2

Cropsey (1965), S. 42 f. Gilbert / Sullivan (o. J.). „Der Natur scheint’s ganz egal, sie richtet es wohl instinktiv bei Geschlechtern beider Wahl, die die Geburt ins Leben rief: das eine Kind wird liberal das andere konservativ.“

6. Kap.: Schlussfolgerungen

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Der Progressive schaut optimistischer in die Zukunft. Er glaubt, dass der Geschichte die Tendenz innewohne, mehr Freiheit, Wohlstand, Aufklärung sowie Eintracht innerhalb und zwischen den Nationen hervorzubringen. Der Progressive mag die Vergangenheit wegen ihrer Eigenschaft, den Tourismus und die Besuche im Museum zu befriedigenden Erlebnissen werden zu lassen, aber ansonsten unterstellt er ihr mehr Ignoranz, Dogmatik und Intoleranz als der Gegenwart. Statt sich um seine Wurzeln zu sorgen, ist es dem Progressiven ein dringendes Anliegen, die Vergangenheit davon abzuhalten, die Zukunft in einer Weise zu beeinflussen, die unser Rendezvous mit dem Schicksal entweder vorzieht oder hinauszögert. Im zweiten Kapitel haben wir drei Schwierigkeiten kennengelernt, die aus der Verschreibung der Progressiven an den Fortschritt hervorgehen. Erstens, es ist unmöglich, sich intelligent über das Unerkennbare zu streiten, und nichts ist so unbekannt wie die Zukunft. Die löblichen Qualitäten, welche die Progressiven der Zukunft zuschreiben, sind so allgemein und unverfänglich, dass man sich weder über sie streiten noch um sie bemühen kann. Drittens, die Progressiven können nicht einerseits darauf beharren, dass ihr Glaube an den Fortschritt objektiv wahr sei, und andererseits von allen anderen politischen Überzeugungen behaupten, sie seien überzogener Aberglaube. Zwar haben sie ihre eigenen politischen Vorlieben derselben scharfen Skepsis ausgesetzt wie jene ihrer politischen Gegner und damit den Progressivismus vor dem Vorwurf bewahrt, Sonderstatus für sich einzufordern, allerdings zu dem Preis, dass er trivial und in sich widersprüchlich wurde. James Ceaser hat gezeigt, dass das letzte und wahrscheinlich endgültige Stadium der liberalen Theorie darin besteht, die Trivialität und Widersprüchlichkeit willkommen zu heißen und hochleben zu lassen. Der klobige, aber recht nützliche Ausdruck für diese Position ist „idealistischer Non-Fundamentalismus“. Er verbrämt Mitleid und soziale Gerechtigkeit mit einer Erkenntnislehre, die diese Ideale als willkürliche und eigentümliche persönliche Werte versteht. Wenn es darum geht zu erklären, warum und wie wir vom „sich entwickelnden Standard des Anstandes, der eine heranreifende Gesellschaft auszeichnet“, geleitet werden oder wie wir so sicher sein können, dass eine bestimmte Entwicklung oder Reifung tatsächlich eine Verbesserung ist, oder auf welcher Grundlage wir sagen können, dass die heutigen Standards anständiger sind als die gestrigen, dann ist die Antwort des Non-Fundamentalisten laut Ceaser die, dass „die tieferreichenden theoretischen Grundlagen von der Art, welche die Konservativen gerne heranziehen, nicht wirklich in dem Sinne bestehen, dass sie irgendwelche objektiven Standards bereitstellten; sie sind nur das Vokabular ihrer Zeit. Aber was noch wichtiger ist: Wir wären besser dran, wenn diese theoretischen Argumente und der mit ihnen verbundene Wahrheitsanspruch keinen Eingang in die Politik gefunden hätten. Die ideale demokratische Gemeinschaft kann – und sollte – ohne sie errichtet werden.“3 Folgt man Ceaser, dann besagt die non-fundamentalistische Position, dass wir von nichts anderem geleitet werden als „unseren gegenwärtig geteilten Werten“, 3

Ceaser (2006), S. 5.

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6. Kap.: Schlussfolgerungen

welche „die konsensuale Auffassung der aufgeklärtesten Denker wiedergibt. Wenn nur genug dieser Denker sich und denen, die ihnen folgen, sagen, dass etwas ‚wahr‘ ist, dann muss es so sein.“4 So behauptet z. B. Alan Wolfe in seinem Buch The Future of Liberalism, dass die liberale Stimmung viel wichtiger sei als die Verpflichtung des Liberalismus zu bestimmten Inhalten und Verfahrensweisen. Den Liberalismus „sieht man am besten“ als „eine Reihe von Haltungen gegenüber der Welt“, die „uns nicht so sehr sagen, was, sondern, wie man denken soll.“5 Die von Wolfe gepriesenen Haltungen entpuppen sich jedoch als genau so banal wie der in einer Dekanatssitzung revidierte Pfadfinderschwur: „Der ‚Liberalismus‘ … will einschließen, nicht ausschließen, akzeptieren statt zensieren, respektieren statt stigmatisieren, begrüßen statt ablehnen, großzügig und verständnisvoll statt knauserig und gemein sein. Was ihr Gemüt angeht, so haben Liberale wenig Nachsicht mit Argumenten, die Angst und Selbstschutz entspringen. … [d]ie Tatsache, dass einigen Gesellschaften der Großmut des liberalen Geistes fehlt, ist für Liberale ein Grund mehr, nicht nur die Reform im öffentlichen und politischen Sinne mit Nachdruck zu verfolgen, sondern auch die im privaten und humanen Sinne.“6

Wenn der Liberalismus unter der Abwesenheit eines theoretischen Unterbaus leidet, dann kämpft der Konservatismus mit einem Übermaß davon. Der Sinn des Konservatismus liegt im Konservieren. Gleichwohl sind die Konservativen sich uneinig darin, was genau zu konservieren ihr Zweck ist. Ceaser nennt vier verschiedene Grundlagen des amerikanischen Konservatismus: 1. Traditionalismus, der das vorziehe, „was in der Politik wächst – also ‚Kultur‘, ein Begriff, der ursprünglich aus der Agrikultur kommt – und die menschliche Vernunft gängig gemacht hat;“ 2. Libertarianismus und die Beteuerung, dass aus den unerzwungenen Handlungen der Menschen eine „spontane Ordnung“ entspringt; 3. Naturrecht, d. h. die Überzeugung, dass der menschliche Verstand allgemeingültige Prinzipien menschlichen Verhaltens feststellen kann, wie z. B. die offenbaren Wahrheiten der Unabhängigkeitserklärung; und 4. Glaube, d. h. das Verlangen, den Kräften der Säkularisierung zu widerstehen und die Rolle der Religion bei der Gestaltung der amerikanischen Kultur zu verteidigen.7 Wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, kam in der Debatte um den Wohlfahrtsstaat – bzw. im Streit ausgreifende vs. begrenzte Staatsgewalt – der heftigste Widerstand gegen das liberale Ansinnen von jenem Konservatismus, der auf dem Libertarianismus fußt. Die Auffassung, dass die Regierung am besten regiert, wenn sie am wenigsten regiert, hat dem Libertarianismus den Vorwurf eingebracht, sich vom Anarchismus nicht zu unterscheiden. In dieser Debatte um den Wohlfahrtsstaat messen sich Liberale, die „für“ den Staat sind, ihn „mögen“, mit Konservativen, die „gegen“ den Staat sind, ihn „nicht mögen“. So schreibt z. B. James Fallows, dass 4

Ceaser (2006), S. 15. Wolfe (2009), S. 25. 6 Wolfe (2009), S. 19. 7 Ceaser (2006), S. 17–22. 5

6. Kap.: Schlussfolgerungen

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Konservative glauben würden, der „Staat sei ein Übel an sich, verschwenderisch, unterdrückend, fehlgeleitet und ineffizient.“8 Einige Konservative ähneln der von Fallows gezeichneten Karikatur, aber der zahlenmäßig stärkere und bedachtere Flügel der konservativen Bewegung sieht seine Aufgabe darin, den Staat eher zu verteidigen als ihn zu attackieren. Für ihn ist der Staat kein Übel an sich, sondern gut und notwendig. Dennoch ist er von innen heraus gefährlich. Was den umfangreichen Staat gefährlich macht, ist nicht die Mehrung von etwas Verdorbenem, sondern die Deformierung von etwas Zerbrechlichem. So sah es auch Alfred Marshall, der führende englische Ökonom des 19. Jahrhunderts: „Der Staat ist der wertvollste Besitz des Menschen, und keine Mühe kann groß genug sein, alles daran zu setzen, dass er im bestmöglichen Sinne seine Arbeit erledigen kann: Eine der wichtigsten Bedingungen, um dieses Ziel zu erreichen, ist, dass er nicht für etwas eingesetzt werden sollte, für das er unter den gegebenen zeitlichen und örtlichen Bedingungen nicht besonders gut qualifiziert ist.“9

Im Zusammenhang mit der amerikanischen Politik geht es um mehr. Dem Staat Aufgaben überlassen, für die er nicht qualifiziert ist – wie z. B. Städte zu entwerfen oder das Recht auf Erholung, Entspannung und Abenteuer zu gewähren –, gefährdet nicht nur den Staat als solchen, sondern auch den amerikanischen Versuch, sich selbst zu regieren. Am Progressivismus sind ja besonders jene Fortschritte betrüblich, die er gemacht hat, als er vergaß, wie schwierig die Selbstregierung ist. In den Federalist Papers ist diese Aufgabe als rätselhafte Aufgabe formuliert: den Staat in die Lage versetzen, die Regierten zu kontrollieren, und ihn zugleich zur Selbstkontrolle verpflichten. Als der Bürgerkrieg ausbrach, stellte Lincoln die Frage, ob man die Fragilität des Versuchs, sich selbst zu regieren, nicht eher als ein tragisches Manko betrachten solle. „Gibt es in allen Republiken diese inhärente, fatale Schwäche? Muss ein Staat nicht notwendigerweise entweder zu stark sein, um die Freiheit seines Volkes zu schützen, oder zu schwach, um sich selbst zu erhalten?“10 Was immer sonst die Konservativen als ihre Botschaft verstehen und welche philosophischen Bekenntnisse oder Politikvorschläge auch immer sie in die Runde werfen mögen, das Wagnis, das sie verteidigen, ist eben jenes amerikanische Experiment der Selbstregierung. Die in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Triumphe, die diesem Experiment in der Vergangenheit gelangen, sind keine Garantie dafür, dass diese Erfolgsgeschichte eine dauerhafte wird. Als der chinesische Premier Tschou En-lai in den 1970er Jahren nach der Bedeutung der französischen Revolution gefragt wurde, meinte er: „Es ist noch zu früh, um das zu sagen.“11

8

Fallows (1996), S. 27. Zitiert nach Wildavsky (1994), S. 81. 10 Lincoln (1967), S. 181. 11 Schama (1989), S. xiii. 9

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6. Kap.: Schlussfolgerungen

Die Konservativen stimmen zudem darin überein, dass die Verteidigung der Selbstregierung oft mehr Widerstand gegen als Zugeständnis an den Liberalismus erfordert. Die Gefahr, die vom Liberalismus für das amerikanische Experiment ausgeht, gründet in dessen Neigung, das für die Selbstregierung notwendige Kapital eher aufzuzehren als zu vermehren. Die Durchführung von Anrechtsprogrammen überfordert das Land finanziell, die Rhetorik und die Leitidee überfordern es indes politisch. Sie bieten neue „Rechte“ an, stacheln die Menschen dazu an, diese Rechte hartnäckig einzufordern und auszudehnen, und vernachlässigen über alle Werbung hinweg die Wahrheit über die Natur und das Ausmaß der neuen Schulden und Verpflichtungen, die mit den Rechten einhergehen. Damit das Experiment der Selbstregierung gelingt, braucht es ein moralisches und soziales Kapital, das im demokratischen Zeitalter die Tugenden der Nachsicht, Entschlossenheit, Aufopferung und Zurückhaltung kultiviert. Die Menschen, die diese Werte verinnerlicht haben, verstehen und akzeptieren, dass „man lange Zeit mehr in die Institutionen hineinstecken muss, als man aus ihnen herausholen kann,“ wie David Brooks meint.12 Selbstregierung funktioniert nur, wenn beide, Bürger und Regierende, sich selbst als Wächter betrachten, die über den Fortbestand der Selbstregierung wachen, und nicht als Kunden dessen, was der Staat bereitstellt und umverteilt. Der amerikanische Konservative betrachtet die Triumphe des Progressivismus und erkennt in ihnen eine Zukunft, die den ruinösen Pfaden, die von Frankreich und Argentinien beschritten wurden, auf unheilvolle Weise ähnelt. Wenn man dieses Schicksal vermeiden will, muss man jene Politik und Gesinnung vermeiden, welche die Mehrung des Wohlstands hemmt, dessen Aufteilung jedoch fördert. Und man muss dem hungrigen aber unsteten Individualismus, der immer größere Anrechte fordert, eine Absage erteilen, wie auch dem Progressivismus, der zu solchen Forderungen anstachelt und sie gutheißt. Das, was der amerikanische Konservative also zu konservieren wünscht, ist letztlich eine Verpflichtung, beim Experiment der Selbstregierung das Ruder in die Hand zu nehmen. Das erforderliche ökonomische, politische, soziale und moralische Kapital muss aufgefüllt und verteidigt werden, und zwar gegen jene, die es in Kavaliersmanier verteilen wollen. Die Verweigerung vor der Frage, wann es genug sei – vor allem, an welchem Punkt der Wohlfahrtsstaat alles getan hat, was wir von ihm erwarten können, und nicht mehr weiter segensreich ausgedehnt werden kann – lässt den Liberalismus auch weiterhin diese Verteilung erbitten oder gar einfordern … und zwar permanent. Die Konservativen haben einen großen Teil ihrer Pflicht, das Experiment der Selbstregierung zu beschützen, erfüllt, wenn sie die Liberalen dazu bewegen können, ihre Pflicht zu erfüllen – nämlich sich der oben genannten Frage ernsthaft stellen –, oder sie den politischen Preis für ihre Ablehnung zahlen lassen.

12

Brooks (2009).

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Index Abtreibungsrecht 137 Achtenberg, R.  106 f., 246 Ackerman, B.  102, 105, 121, 241 Ad-hoc-Kratie 10 AFDC 119–121 AFL-CIO  170, 241 Altersvorsorge 62 American Enterprise Institute  231 American Prospect  20, 95 f., 102, 121, 123, 134, 151, 160, 176, 182, 222, 241, 245, 247 f., 252–254 Americans for Democratic Action  91, 254 Anderson. E.  122 f., 241 Antragsberechtigte 225 Arbeiterbewegung 66 Arbeitslosenhilfe  19, 33, 35, 48 Arbeitsministerium 110 Arbeitsunfähigkeitsversicherung  33, 52 Archer, B. 225 Argentinien 240 Aristoteles 101 Armut  20, 62, 64, 112, 119, 126 f., 132, 148, 151, 155, 162, 176, 225 Armutsgrenze  63, 163 f. AT&T 170 Ausbildung  19, 33 f., 46, 114, 131 Australien 54–59 Babyboomer 221 Baer, K.  97, 241 Bai, M.  62, 241 Bank of America  170 Barone, M.  156, 241 Bartlett, B.  197, 199, 241 Befähigungstest  110, 118 Begala, P. 226 Beinart, P.  213, 241 Belgien 54–58 Bernstein, J.  20, 164, 201 f., 241 Besteuerung  26, 143, 161, 164, 166, 171 f., 193 f., 196, 213

Bethke Elshtain, J.  132 f., 241 Bickel, A.  88, 241 Biden, J. 164 Big Government  30, 219, 245 Bildung  50, 59, 62, 65, 78, 90, 133, 137, 147, 150, 157, 165, 177, 197, 226 Bill of Rights  11, 66, 88–90, 92–94, 98– 100, 102 f., 127, 252 BIP  39–41, 43–46, 49, 53 f., 56, 58–61, ­63–66, 102, 150, 180 f., 199, 221–223, 228 BLS  8, 53 f., 58, 60, 63 Bouillon, H.  5, 11 Bowles, E. 229 Breaux, J. 226 Brennan, W.  112, 129 Brinkley, A.  31 f., 98, 108, 153 f., 242 Brookings Institution  210 Brooks, D.  240, 242 Brown, P.  147, 156 Buckley, W.  174, 189, 219, 231, 242 Buffet, W. 176 Bundesausgaben für Soziales  34–39, 47, 49, 56, 221 Bundesbüro für Notfalllinderung  200 Bürgerrechtsbewegung 112 Bürgerrechtsgesetz  111 f., 117 Burke, E. 101 Burnham, W.  66, 158, 242 Burns, J.  32, 242 Bush, George H. W.  51 f., 180 f., 196 Bush, George W.  51 f., 129, 180, 196, 227 f., 252 Cannato, V.  119, 242 Cardozo. B. 81 Carter, J.  50–52, 135, 180, 194, 196, 214, 220, 244, 249 Cassidy, J.  63, 242 Cato Institute  219, 230, 243 CBO  162 f., 166, 202, 203, 209, 211

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Index

Ceaser, J.  69, 71, 73, 87, 96, 122, 136, 237 f., 242 Chait, J.  97–99, 136–138, 140, 168, 171, 242 Chancengleichheit  112, 124 Cherny, A.  97, 241 Chevron 170 Cisneros, H. 106 Citigroup 170 Citrin, J.  147 f., 252 Clinton, H.  160, 164, 226 Clinton, W.  29, 33, 50–52, 106, 113–116, 118–120, 160, 180, 182–185, 194–196, 223, 225–229, 242 f., 245, 249, 251, 254 Cohen, W.  176 f. Cohn, J.  149 f., 156, 176, 243 Comte, A. 71 Conoco-Phillips 170 Contract with America  214 Coolidge, C.  9, 69, 77, 243, 252 Cowen, T.  188, 243 Croly, H. 108 Cropsey, J.  124, 133 f., 191, 236, 243 Cuomo, M.  107 f., 243 Dänemark  54–60, 64, 149 f. Darlehensprogramm für die Landwirte  142 Darwin, Ch. 71 Déjà-vu-Gesetz  209 f. Demokraten  7, 20 f., 24, 60, 76, 78 f., 81 f., 89, 91, 96, 104, 106 f., 118, 120 f., 129, 131, 142, 145, 151, 156, 158, 160, 169, 175, 177, 185, 194, 207, 210, 213, 216 f., 221 f., 225–228, 245 Demokratische Partei  107, 142 Depression  23, 27, 30 f., 35, 85, 126, 154, 247 Deutschland 54–60 Dewey, J.  24, 108, 136, 244 f., 251 Dicey, A.  186, 244 Dionne, E.  159 f., 211, 222, 244 Diskriminierung, positive  109 f., 113–117, 129–131  Siehe Fördermaßnahmen Disraeli, B. 236 Doctorow, E.  123, 244 Economic Policy Institute  29, 164, 241 Edwards, J.  138, 175, 244

Effizienz 5 Ehrenhalt, A.  127, 244 Eisenhower, D.  24, 50 f., 76, 125, 154, 184, 194, 196, 206 Epstein, R.  83–86, 187, 231, 244 ExxonMobil 170 Fabianisten 66 Factbook (OECD)  53, 60, 249 Fair Housing Act  105, 244 Fallows, J.  238 f., 244 Faschismus  74, 89, 108 Federalist Papers  68–71, 141, 239, 253 Filburn, R.  84, 87 Föderalismus  68, 70, 84, 128 Fördermaßnahmen  110, 113, 115, 130 Ford, G.  50–52, 85, 170, 180, 194, 196, 220, 245 Frankreich  54–60, 91, 136, 240 Freedom Works  187 Friedman, M.  96, 146, 176, 186 f., 189, 245 Frum, D.  190, 198, 220, 224, 245 Furman, J.  165, 245 Galbraith, J.  125 f., 156, 243 Galston, W.  124, 129, 134 f., 222, 245 Garrett, M.  184 f., 215, 245 General Electric  170 General Motors  170 Geoghegan, T.  158, 245 Gephardt, R. 226 Gesamtnachfrage  32, 153, 155, 183 Gesundheitskonten 225 Gesundheitsversicherung 184 Gewaltenteilung  66, 68, 70 Gillon, St.  225–227, 229, 245 Gingrich, N.  157, 180, 183 f., 225–229, 245 Gitlin, T.  102 f., 105, 121, 241 Giuliani, R. 179 Gladstone, W. 236 Goldberg, J.  65, 74, 137, 245 Goldwater, B.  24, 144, 179, 188, 190 f., 215, 248 Goolsbee, A.  160, 164 f., 245 Gore, A.  117, 129, 226–228, 245 Granfalloons 135 Great Society  24, 156, 184, 243, 249  Siehe Große Gesellschaft

Index Greve, M.  231–235, 245 Große Gesellschaft  44, 127 f. Gulick, L.  81, 183, 252 Gutmann, A.  101, 108 Habermann, G. 5 Hacker, J.  186, 245 Hamilton, A. 89 Hands Across America  135, 254 Hansen, A.  97 f. Harlan, J.  86, 111 Harris, J. 182 Hart, G. 158 Haushaltsbüro des Kongresses  165, 202, 221 Hayek, F. A.  5, 101, 153, 171 Heath, J. 152 Hegel, G. W. F. 71 Helvering vs Davis  232 Hertzberg, H.  65, 246 Hofstadter, R.  72, 98, 246 Hopkins, H. 200 Humphrey, H.  93, 111, 117, 217 f.

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Kesler, Ch.  13, 73, 98, 247 Keynesianismus 153–155 Keynes, J. M.  31, 155, 183 Key, V. 75 Kinsley, M.  142, 247 Kirchwey, F.  154, 247 Kirk, P. 175 Kirk, R. 101 Klein, E.  160, 247 Kommunitarismus  10, 102, 121–124, 126, 129, 133 f., 136, 177 Krieg gegen die Armut  127 Kristol, I.  172, 218, 230, 247 Kucinich, D. 151 Kuttner, R.  65, 134 f., 139, 247

Jackson, H. 151 James, W. 135 Japan 54–59 Jefferson, Th.  24, 68, 77, 89, 99 Jencks, Ch.  102, 120, 174, 246 Johnson, L. B.  21, 51 f., 111 f., 128, 143 f., 155, 179, 194, 196, 246 Jones, E. 103 Jouvenel, B.  161–166, 168, 247

Laser, R. 137 lebendige Verfassung  11, 85–88 Lebensmittelmarken  33, 48 f. Leistungen, wohlfahrtsstaatliche (soziale)  8, 23 f., 26, 32, 38, 100, 104, 133, 143 f., 148 f., 173, 176, 183, 187, 200, 202, 217, 221, 229 Lekachman, R.  98, 247 Leuchtenburg, W.  80, 85, 200, 247 Leviathan  85, 219 Levy, R.  232–235, 248 Lewis, A.  29, 72, 248 Lewis, C. S. 72 Liberalismus 5 Libertarianismus  186, 188, 216, 218 f., 238 Lincoln, A.  239, 248 Lindsay, J.  119, 242 Lipset, S.  52, 65 f., 248 Loury, G.  200, 248 Lowi, Th.  83, 138, 186, 248

Kanada  54–58, 60 Kapitalismus  5, 19, 30–32, 66, 123, 126, 140, 150–155, 157, 159, 181, 186, 214 Kaus. M.  132, 177, 206–210, 212, 247 Kemp. J.  192, 194, 198 Kennedy, D.  80, 82, 169 Kennedy, J. F.  13, 52, 80, 82 f., 110 f., 132, 169, 180, 190, 194, 247 Kennedy, R.  157, 252 Kennedy, T.  157, 243 Kerry, J.  138, 206

Madison, J.  68, 89, 99, 101, 251 Marshall, A. 239 Marxismus 151 Marx, K. 136 McCain, J.  179 f., 248 McCloskey, R.  84, 248 McGovern, G.  118, 158 Medicaid  33, 35, 48, 52, 162, 221 f. Medicare  33, 45 f., 48–50, 52, 162, 177, 182 f., 185, 221 f., 225–228 Mellor, W.  232–235, 248

Inflation  24, 30, 37, 155, 183, 192, 194, 220 Italien  54–58, 60

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Index

Menand, L  188, 248 Menschenrechte  92, 103 Mietpreisbindung 132 Milkis, S.  75, 77, 81, 93, 99, 109, 182, 248 f. Miller, M.  222 f., 249 Mindestlohn 85 Ministerium für Bauwesen und Städte­ planung 105–107 Moley, R. 98 Molyneux, G. 134 Morton, B.  151 f., 249 Moynihan, D.  119 f., 155, 192, 198 f., 213, 246, 249 Moynihan Report  120, 246 Murray, Ch.  140, 189, 242, 249 National Review  5, 191 f., 197 f., 203, 219, 231, 241 f., 244 f., 250, 252 f. Nationalstiftung der Künste  128 Neoliberalismus  156, 158 f. Neustadt, R.  75, 249 New Deal  8 f., 11, 23–25, 27, 31, 35, 52, 67, 75–79, 81–83, 85–89, 95, 97–100, 109 f., 125 f., 143, 153 f., 157, 182 f., 186, 200, 209, 214 f., 222, 231–233, 235, 242, 244, 247–249, 254 New Yorker  63, 65, 119, 170, 242, 245 f., 248 New York Times  62, 106, 119, 241 f., 244, 250, 253 Niederlande 54–59 Nixon, R.  51 f., 148, 180, 194, 196, 220, 249 Nozick, R.  167 f., 249 Obama, B.  61, 160, 164 f., 245 Oberstes Bundesgericht  10, 72, 79 f., 82–88, 93 f., 111–113, 116, 139 OECD  21, 53–55, 57, 59–61, 64 f., 249 OMB  21, 33–36, 39, 43, 48, 53, 56, 63, 190, 192, 214 Ordnung, spontane  187, 238 Orwin, C.  129, 133, 249 Patashnik, J.  224, 226, 228, 249 PATCO-Streik 122 Pechman, J.  210, 250 Pells, R.  126 f., 250

Pestritto, R.  67–69, 71, 73, 250 Peters, Ch.  158, 234, 242 f., 245–247, 250 f. Philosophie der Geschichte  69, 71 Pierson, P.  13, 218, 250 Planung 5 Plessy vs Ferguson  111 Ponnuru, R.  178 f., 228, 250 Potter, A.  152, 246 Pragmatismus 136 Progressive Era  35 Progressiven  21, 67, 69, 71–75, 97, 108, 169, 237 Progressivismus  69, 72, 74, 77, 236 f., 239 f. Proposition 13  25 Proposition 82  159 f. Purdy, J.  123, 128, 134 Putnam, R.  133, 250 Quint, H. 228 Rassennormierung 110 Rawls, J.  101, 117 f., 127, 166 f., 171, 212, 250 Reagan, R.  25, 29 f., 41, 51 f., 60, 122, 142, 156 f., 179–187, 189–194, 196–199, 206, 209, 213 f., 220, 231, 241 f., 244, 246, 248–250, 252–254 Reich, R. 102 Reiner, R.  159, 244 Rentenkonten 225 Rockefeller, J. D. 68 Rodriguez, A.  167 f., 170 f. Romney, M.  179, 250 Roosevelt, F. D.  8 f., 19, 27, 30, 32, 75–80, 83, 86, 88–91, 93, 95, 97–99, 125, 127, 131, 169, 183, 241 f., 247, 249, 251 Rorty, R.  72, 97, 152, 250 f. Rothbard, M.  189, 242 Rousseau, J.-J.  132, 249, 251 Ryan, A.  108, 251 Sabathia, C. 170 Samuelson, R.  13, 60, 251 Sanders, B. 151 Saunders, B. 118 Sawicky, M.  29, 33, 182, 248 Schechter vs Vereinigte Staaten  79–81, 83, 87

Index Scheiber, N.  134, 137, 251 Schlesinger, A.  78, 80 f., 102, 109, 125 f., 136, 154 f., 157–159, 242, 251 f. Schrag, P.  147 f., 252 Schröder, G. 65 Schwartz, B.  83, 252 Schweden  54–61, 64 f., 67, 91, 150, 210 Sears, D.  147 f., 252 Selbstregierung  96, 239 f. Shane, P.  83, 252 Sicherheit, soziale  33, 48, 52, 88, 99, 122, 135, 143 f., 158, 175–178, 182 f., 198, 225 f., 228, 230, 233 Siegel, F.  119, 252 Smithsonian Institutions  34 Sowell, Th.  115, 130, 252 Sozialausgaben  25 f., 34, 39, 42–45, 47 f., 50–57, 59–62, 64, 179–183, 194, 222 Sozialdemokratie  27, 66, 85, 214 Soziales  33–36, 39, 47, 50, 52 f., 57–59, 61, 181 Sozialismus  66, 91, 102, 109, 151–153 Sozialkonten 225 Sozialversicherung  29, 165, 175, 183, 194 Spanien  54–58, 60 Staatsausgaben  35 f., 39, 145, 149, 155, 159, 191, 213 Starr, P.  151 f., 176 f., 252 Statistisches Bundesamt für Arbeit  8, 53 Steuerrevolte  25, 147 f., 159, 220 Steuersenkungen  190–192, 197 f., 202, 204 f., 209, 213, 220, 222, 225, 227 f. Stevenson, A.  76, 92, 151, 154 Stockman, D.  213–218, 224, 249, 252, 254 Stone, H. 86 Strauss, L. 101 Suellentrop, Ch.  175, 252 Sullivan, A.  123, 236, 245 Sunstein, C.  92–94, 99 f., 103, 153, 234, 252 Superbehörde 45 Tanner, M.  219, 230, 252 f. Teixeira, M.  170, 246 Thatcher, M.  60, 250 The Nation  20, 119 f., 123, 126, 149, 154, 243–245, 247, 249, 251 The New Republic  20, 97, 125, 148 f., 156, 173 f., 241–249, 251, 253 f.

259

The Public Interest  215, 249, 252 The Washington Monthly  123, 158, 244, 250 Thomas, B. 226 Tillerson, R. 170 Tobin, J.  173, 253 Tomasky, M.  74, 96 f., 102, 121 f., 133–135, 137, 145, 253 Truman, H.  51, 107, 156, 194, 196, 253 Überflussgesellschaft  126, 145–147 Unabhängigkeitserklärung  66, 69, 71, 77 f., 89 f., 99, 238 United States vs Carolene Products ­Company ​86  f. United Steelworkers of America vs Weber ​ 113, 116 University of California vs Bakke  113, 115 Unterbeschäftigung  10, 124, 126 f. Unterbeschäftigung, geistige  10 US-Notenbank 192 Vereinigtes Königreich  162 Verfassung, amerikanische  66, 68, 71 Verfassung, farbenblinde  111, 116 Verteidigungsausgaben  33, 41, 43, 45 Verteilungsgerechtigkeit  168, 171 Vietnamkrieg  41, 43, 156 Voegelin, E. 101 Vonnegut, K. 135 Wall Street Journal  106, 160, 211, 245, 247, 250, 254 Walmart 170 Walsh, J.  211, 254 Walzer, M. 101 Washington Post  107, 175, 244, 246, 251 f., 254 Wattenberg, M.  206 Webb, J.  170, 210 f., 254 Webb, S. 91 Weber, B.  112, 116 f., 129 Weede, E. 5 West Coast Hotel Co. vs Parrish  85, 234 Wiebe, R.  103, 108 f., 254 Wiederaufschwungsbehörde 79 Wiederaufschwungsgesetz  81, 139 Wilentz, S.  165, 213

260

Index

Will, G. 171 Wilson, J.  28, 67–69, 71, 73, 89, 91 f., 95, 186, 194, 214–216, 218, 223, 254 Wilson, W.  67, 73, 97, 250 Wirtschaftsbarone  31, 87, 154 Wirtschaftstheorie, angebotsorientierte  186, 190, 192, 195, 197 f., 202, 213 Wohlfahrtsleistungen  87, 119, 149, 156 Wohlfahrtsrechte  92, 94, 102, 108, 117 f., 121

Wohlstand  59, 61 f., 64, 90, 104 f., 117, 126 f., 147, 151, 153 f., 161, 166 f., 170 f., 181, 187 f., 197, 202, 210, 237 Wohnungsbauprogramm 124 Wolfe, A.  238, 254 WPA 200 Yglesias, M.  117 f., 120, 187 f., 211, 254 Zweite Bill of Rights  11, 88 f.