Der ewige, allgegenwärtige und allvollkommene Stoff, der einzige mögliche Urgrund alles Seyns und Daseyns: Band 2 [Reprint 2022 ed.] 9783112691403

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Der ewige, allgegenwärtige und allvollkommene Stoff, der einzige mögliche Urgrund alles Seyns und Daseyns: Band 2 [Reprint 2022 ed.]
 9783112691403

Table of contents :
Inhalt
V. Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen
19. Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung ihrer Dinge und des Wechsels in ihren Erscheinungs- und Bethätigungsweisen
20. Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge als das allgemeine Naturmittel zu allen in der Natur vorkommenden inneren Wesensentwickelungen und Wesenssteigerungen
VI. Raum und Zeit als die beiden natur- und vernunftnothwendigen Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns
21. Raum und Zeit in Bezug- auf die in sieh untheilbaren Einzeldinge und Einzelwesen der Natur
22. Raum und Zeit in Bezug- auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns
Verzeichniss

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DER EWIGE,

ALLGEGENWÄRTIGE

UND

A L L VOLLKOMMENE

STOFF, DER EINZIGE MÖGLICHE URGRUND

A L L E S S E Y N S UND D A S E Y N S . VON

EINEM FREIEN WANDERSMANN DURCH DIE GEBIETE

MENSCHLICHEN

W I S S E N S , D E N K E N S UND

ZWEITER

FORSCHENS.

BAND.

LEIPZIG, VERLAG

VON VEIT

1896.

&

COMP.

Drnck TOD M e t z g e r & W i t t i g in Leipzig.

Inhalt. Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen. Seite 19.

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung ihrer Dinge und des Wechsels

in

ihren Erscheinung^-

und Bethä-

tigungsweisen

No. No.

No. No.

No.

No.

No.

1

92.

Der Wechselverkehr als natnrgemässe Aus- und Einwirkungen natürlicher Kraftwirksamkeiten . . . . 1 93. Die natürliche Wesensgrundkraft der Dinge als gleichzeitige innerste Auswirkungsfähigkeit. Auswirkung und Einwirkung in dem Sinne von natürlichem Geben oder Wirken von der einen und von natürlichem Leben oder Leiden von der andern Seite . . . . 13 94. Die Einwirkung als innere Wesenserregung . . . 26 95. Die innere Wesenserregung als innere Kraftentbindung zu eigener innerer Kraftbethätigung gegenüber den von aussen erfahrenen Krafteinwirkungen . . 38 96. Die natürlichen Wechselwirkungen in ihren beiden naturnothwendigen Gegensätzen von Einwirkung und 97.

98.

Rückwirkung

43

Die rückwirkende Kraft als innerlich-natürlicher Grund für gleichzeitige Veränderungen in den innerliehen Wesenszuständen der Dinge

47

Der Zustandswechsel als Erscheinungswechsel Rückund Gegenwirkung

54

Seite

No.

99.

No. 100. No. 101.

64 72 79

No. 102.

Kraftsteigerungen. Übung als natürliches Mittel zu Kraftsteigerungen und Arbeit. Wechselseitige Umsetzungen der Arbeitsleistungen

94

No. 103.

Wesensträgheit und Beharrungsvermögen der stofflich-körperlichen Dinge

106

No. 104.

Wesensundurchdringlichkeit und innere Widerstandsfähigkeit

114

No. 105.

Uebergangswiderstand im gegenseitigen Wechselverkehr der Dinge. Ungleichzeitigkeit von Ursache Erfolg

123

Porosität körperlicher Massen

131

No. 106. § 20.

Kein gegenseitig lebendig-thatkräftiger Wechselverkehr zwischen den einzelnen körperlichen Dingen ohne thatsächliche Berührung derselben . . . . Massentheilchen und körperliche Massen . . . . Die Wechselwirkung und die allgemeine Weltordnung

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge als das allgemeine Naturmittel zu allen in der Natur vorkommenden inneren Wesensentwickelungen und Wesenssteigerungen

No. 107.

134

Das innere Wesen der Dinge als stofflich-körperliches Leben in Bezug auf dessen selbstthätiges inneres Wirken und Walten, wie in Bezug auf dessen lebenskräftige Selbstoffenbarung nach aussen. . . Wesenszustand und Wesensbeschaffenheit. — Das W e r d e n als Zustandswechsel, Beschaffenheitsveränderung und Wesensentwickelung

134

No. 109.

Entstehen.

163

No. 110.

Die allgemeine Stoff- und Körperwelt, die noch ungestaltete N a t u r , als der natürliche Urgrund und erste naturkräftige Ausgangspunkt auch für alles eigentliche Seelenleben

No. 108.

No. 111. No. 112.

No. 113.

Bestehen.

Vergehen

151

177

Stoffwelt, Seelenwelt und Geisterwelt in ihrer natürlich-untrennbaren Zusammengehörigkeit. . . ' 1 9 3 „Geist und N a t u r " oder „Geist und Körper" als die beiden äussersten Grenzpole alles natürlichen Daseyns

213

Die Monaden des Leibnitz

227

Inhalt. L

21.

Y

Raum und Zeit als die beiden natar- und vernunftnothwendigen Grundbedingungren alles natürlichen Daseyns. Raum und Zeit in Bezug auf die in sich untheilbaren Einzeldinge und Einzelwesen der Natur

Seite 244

No. 114. Der Raum als Ausdehnung, Umfang und Grösse der natürlichen Dinge. Die Dauer als deren Bestand, Beharrung und Selbstbehauptung im räumlichen Daseyn 244 No. 115.

22.

Kaum und Dauer als innerliche Wesensruhe. Innere Wesensstetigkeit, Wesensununterbrochenheit und Wesensungetheiltheit. — Untrennbarkeit von Raum und Dauer. — Raum und Dauer als unveräusserliches Wesenseigenthum der Dinge

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns

256 263

No. 116.

Der Raumbegriff als Ausser- und Nebeneinanderseyn der Dinge. — Die Zeit als Nacheinanderseyn der wechselnden Erscheinungsweisen der Dinge . . . 263

No. 117.

Der Raum- und Zeitbegriff in dem Gebiete der noch ungestalteten Stoff- und Körperwelt und in dem Gebiete des natürlichen Seelenlebens oder der drei Reiche der Natur

270

Der Mensch und die Begriffe des allgemeinen Weltraumes und der allgemeinen Weltzeit

281

No. 119.

Der vermeintliche leere Weltraum

291

No. 120.

Die vermeintliche leere Weltzeit

316

No. 121.

Der eigentliche Dauerbegriff als Begriff' des in sich ruhigen Bestehens im Daseyn, in seinem begrifflichnatürlichen Verhältniss zum eigentlichen Zeitbegriff, als dem Begriff des bewegten und veränderlichen Bestehens im Daseyn

328

No. 122.

Zeit, Raum und Bewegung in ihren wechselseitigen Bestimmungsverhältnissen

346

No. 123.

Die inneren Lebens- und Wesensbewegungen der Dinge als uranfänglicher Grund auch aller äusserlichen räumlich- körperlichen Bewegungen. — Die innere persönliche Zeit und allgemeine Weltzeit .

362

No. 118.

Inhalt. No. 124.

No. 125.

No. 126.

Der Zeitbegriff in der dreifachen Bedeutung von natürlicher Wesenssteigerung, Wesensentwickelung und Wesensvollendung Der Ortsbegriff in seinem besonderen natur- und vernunftgemässen Verhältniss zu dem eigentlichen Begriff des Raumes Der Ort als Stand, Lage oder Stelle, und als Platz Gegend oder Stätte. — Der körperliche Raum als Höhe, Breite und Tiefe

Seite

389

398

432

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen. § 19. Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung- ihrer Dinge und des Wechsels in ihren Erscheinungsund Bethätigungsweisen. No. 92.

Der Wechselverkehr als naturgemässe Aus- und Einwirkungen natürlicher Kraftwirksamkeiten.

n dein Bisherigen sind wir bereits vielfach in dem Fall gewesen auf die g e g e n s e i t i g e n W e c h s e l v e r h ä l t n i s s e und W e c h s e l b e z i e h u n g e n hinzuweisen, in welchen erfahrungsgemäss alle Dinge und Wesen dieser Welt ohne Unterlass zu einander stehen. Es wird nunmehr unsere Aufgabe seyn, uns mit diesem Gegenstand noch eingehender zu beschäftigen, als solches bis dahin möglich gewesen ist. Denn seither haben wir in erster Linie diejenigen Naturverhältnisse betrachtet, welche in der r e i n e n I n n e r l i c h k e i t der Dinge, und zwar so viel als möglich ohne Rücksichtnahme auf sonstige Ausserlichkeiten, vorkommen. Erst bei Gelegenheit unserer Betrachtungen über die n a t ü r l i c h e n E r s c h e i n u n g s w e i s e n der Dinge sind wir genöthigt gewesen, neben jener reinen Wesensinnerlichkeit derselben auch auf deren o b e r f l ä c h l i c h e A u s s e n s e i t e , als auf den eigentlichen Schauplatz W andersmann.

II.

1

2

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

für das gesammte natürliche H e r v o r t r e t e n jener I n n e r l i c h k e i t in das Ä u s s e r e , näher einzugehen. Dies ganze E r s c h e i n u n g s l e b e n der natürlichen Dinge, in welchem deren gesammte Innerlichkeit sich nunmehr auch nach aussen hin offen kund zu geben und in ihrer Weise auszusprechen im Stande ist: bildet somit die n a t ü r l i c h e B r ü c k e und den ersten Anknüpfungspunkt zu eben den Verhältnissen, denen wir nun im Folgenden unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen. „Der Stoff — sagt ULRICI — wäre schlechterdings Nichts, d. h. für uns so gut wie gar nicht vorhanden, wenn er nicht mittelbar oder unmittelbar sein Daseyn uns kund gäbe. Dies vermag er aber nur durch eine E i n w i r k u n g auf uns, d. h. nur durch eine Kraft, oder eine, wenn auch bedingte Thätigkeit, die er äussert. Ohne dieses würden wir nie zu einer Vorstellung, geschweige denn zu einer Gewissheit von D i n g e n a u s s e r uns gelangen." (ULKICI: Gott u. die Natur. Seite 4 6 4 ) . Ahnlichen Darstellungsweisen begegnen wir auch bei SPINOZA und bei SCHOPENHAUER (SPINOZA II. Seite 121 [Ethik]; SCHOPENHAUER: Welt als Wille u. Vorst. I. Seite 22). Was in dieser Hinsicht in Bezug auf uns selbst gilt, das gilt in seiner Weise auch ebensosehr für alle sonstigen Naturwesen. Die Natur — sagt ein bekannter naturwissenschaftlicher Ausspruch — thut nichts umsonst. So auch hier. Befänden die Einzelwesen sich so völlig getrennt von einander, dass gar keine Beziehungen zwischen ihnen möglich wären: so wären sie nicht nur für einander, sondern auch für sich selbst so gut wie nicht vorhanden. Denn in beiden Fällen fehlte es an aller und jeder natürlichen äusseren Anregung zur Bethätigung ihrer Kräfte über die Gränze des eigenen Wesens hinaus. Die Erfahrung stellt es in allen Fällen ohne Ausnahme als zweifellos dar, dass nur im lebendigen Wechselverkehr verschiedentlich gearteter Kräfte auch die im Inneren der Dinge mit eingeschlossenen Befähigungen, Vermögen und Anlagen zu höheren Kraftbethätigungen zu gelangen naturgesetzlich im

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc.

3

Stande sind. Es bliebe demnach an sich alles von Uranfang an genau so, wie es eben einmal seinem inneren Natur- und Wesensbegriff nach in das Daseyn getreten ist; es würde von irgendwelcher Art von Weiterentwickelung dieses inneren Wesens auch nicht im Entferntesten die Rede seyn können. Alles bliebe stumm, kalt und finster in sich selbst stets regungs- und bewegungslos an den Ort gebannt, den es einmal von Uranfang an eingenommen. KANT I I . Seite 2 1 3 ; CARtrs: Natur und Idee Seite 2 7 ; BAUMANN: Raum und Zeit. I . Seite 2 9 4 (HOBBES); DEOSSBACH: Genes, d. Bewussts. Seite 7). Eine jede Befähigung der Naturdinge, ihre innerlichen Wesensverhältnisse auch äusserlich in die Erscheinung treten zu lassen, müsste demgemäss geradezu als eine reine Verschwendung der Natur sich darstellen, wenn nicht auch jederzeit und allerorten noch andere Dinge und Wesen naturgemäss vorhanden wären, denen die Dinge durch ihre Erscheinung von ihrem Daseyn und Wesen Kenntniss zu geben hätten und Kenntniss zu geben vermöchten. Und somit müssen wir nach allem diesem sowohl aus Vernunft- wie aus Erfahrungsgründen schliessen, dass alle in dieser Welt vorhandenen natürlichen Einzeldinge und Einzelwesen schon in ihrem innersten Wesensgrundbegriff je nach ihrer stofflichen Art und je nach dem Kraftmaass, welches dieser zukommt, auch von Uranfang an naturgemäss so eingerichtet sind, dass die Wirksamkeit der Grundkräfte sich nicht nur auf die Darstellung und Erhaltung ihrer eigenen Wesensinnerlichkeit beschränkt, sondern auch in einer steten Möglichkeit sich befindet, ü b e r die s e l b s t g e z o g e n e i n n e r e W'es e n s - S c h r a n k e oder ä u s s e r l i c h e W e s e n s - G r ä n z e h i n auszugehen. Und nur dadurch kann überhaupt von der Möglichkeit einer noch weiteren Fortentwickelung auch bei anderen gleichzeitig mitvorhandenen und dem eigenen Daseyn fremden Einzeldingen und Einzelwesen die Rede seyn (HEGEL IV. Seite 141). Haben wir daher früher (IV. § 17, Nr. 80) gesehen, dass l*

4

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

jene drei untrennbar mit einander verbundenen Wechselbegriffe von U r s a c h e , W i r k s a m k e i t und W i r k u n g in erster Linie nur auf die innerlich-äusserliche Verwirklichung, Darstellung und Erhaltung der einzelnen Naturdinge sich beziehen und zwar in der Art, dass diese ihre erste und unmittelbarste Wirksamkeit mit der V e r w i r k l i c h u n g der W i r k u n g , als des eigentlichen Naturzweckes des gesammten Verhältnisses, zu ihrem naturgemässen ersten und unmittelbarsten Ziel gelangt ist: so haben wir nunmehr in der oben besprochenen Befähigung, selbst über diesen ersten und unmittelbarsten Wirkungskreis hinauszugehen, eine weitere und in gewissem Sinne zugleich auch höhere Art von Kraftwirksamkeit vor Augen, vermöge welcher die betreffenden Einzelwesen nun auch an andere und ihnen selber an sich fremde Wesenheiten heranzutreten und auch sie in den Kreis ihrer Wirksamkeit mit hereinzuziehen im Stande sind. Und so hat denn bekanntlich die Naturwissenschaft längst schon unterschieden zwischen jenen an sich noch rein i n n e r l i c h w i r k s a m e n oder sogenannten i m m a n e n t e n Kräften und den in ihrer Wirksamkeit von i n n e n h e r a u s nach a u s s e n gerichteten oder sogenannten e m a n e n t e n Kräften der Natur ( F R O H S C H A M M E B : Naturphilos. Seite 162). Während die ersteren den wesenhaften B e s t a n d der Dinge ein für allemal sichern, stellen die zweiten das v e r e i n i g e n d e B a n d dar, dadurch alles E i n z e l n e in dieser Welt untereinander naturgemäss verbunden sich zeigt. Denn auch für das gesammte Naturdaseyn gilt der Satz, dass das, was dem Einen Recht ist, auch für das Andere als billig muss anerkannt werden. Sind einmal alle Dinge und Wesen dieser Welt naturgemäss im Stande aus-' sich s e l b s t h e r a u s auf alle anderen Naturwesen kräftig e i n z u w i r k e n , so müssen umgekehrt alle auch befähigt dazu seyn, von aussen und von fremder Seite her an sie herantretende Kraftwirksamkeiten auf s i c h e i n w i r k e n zu lassen. Und eben dieses unausgesetzte und allseitige A u s - s i c h - h e r a u s - W i r k e n und I n - s i c h - h e r -

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc.

5

e i n w i r k e n - L a s s e n ist es denn auch, worauf eben dasjenige sich gründet, was die Naturwissenschaft allgemein als die eigentlichen W e c h s e l w i r k u n g e n in der Natur zu bezeichnen pflegt, eben weil alle derartigen äusseren Einwirkungen — wie S c h ö l l i n g dies ausdrücklich hervorhebt — niemals einseitig seyn können (SCHELLING IV. Seite 35). Und so zeigt sich denn auch von diesem Gesichtspunkt aus ein jegliches in sich selbständige Daseyn nicht nur von der einen Seite als ein D a s e y n in u n d f ü r s i c h s e l b s t , d. h. als ein D a s e y n um s e i n e r s e l b s t w i l l e n , sondern gleichzeitig von der anderen Seite auch ebensosehr als ein Daseyn f ü r a l l e s A n d e r e und um d e s A n d e r e n w i l l e n (HEGEL XVIII. Seite 95; GÖTH£ XV. Seite 40). „Sind die Dinge in Gesellschaft mit einander — sagt D r o s s b a c h — so befinden sie sich in Beziehungen, in Wechselwirkungen, in gesellschaftlichen Verhältnissen zu einander: so sind alle Dinge f ü r e i n a n d e r da" (DROSSBACH: Genes, d. Bewussts. S. 108). Dass aber eben diese hier gegebene Darstellung jener gegenseitigen Naturverhältnisse auch in der That eine richtige ist: dafür haben wir den einleuchtendsten und überzeugendsten Beweis an uns selber durch unsere eigenen Erfahrungen in unserem persönlichen Verkehr mit den übrigen Dingen und Wesen der uns umgebenden Aussenwelt. Wären diese an sich uns fremden Aussendinge nicht thatsächlich im Stande natürliche Einwirkungen auf unsere leiblichen Sinneswerkzeuge und durch deren Vermittelung zugleich auch auf unsere eigene Seele auszuüben, — und wären von der anderen Seite, nicht auch wir innerlich dazu angelegt, diese Einwirkungen selbstthätig in uns aufzunehmen und unser geistiges Urtheil danach zu bilden: der menschliche Geist würde nie und nimmermehr dazu gelangen, weder von irgend einem Wesen seiner Umgebung die geringste Kenntniss zu erlangen, noch richtige Schlüsse in Bezug auf deren eigentliche Wesensbeschaffenheit zu ziehen. Wenn wir einen warmen oder kalten Gegenstand

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

angreifen oder einen schweren oder leichten Körper in unserer Hand haben: so erfährt unser persönliches Ich und Selbst es auf dem Wege des natürlichen Gefühls oder Tastsinnes handgreiflich an sich selber, dass irgend eine uns augenblicklich fremde Kraft auf uns eingewirkt und dadurch von dem Vorhandenseyn wie von den besonderen Eigenschaften eben jenes Gegenstandes uns Kenntniss gegeben habe. Was aber in solcher Weise für das thatsächliche Yerhältniss zwischen unserem eigenen Ich und der es umgebenden Aussenwelt gilt: dass muss nothwendig in einer ganz ähnlichen Weise auch für alle übrigen Naturgebiete seine volle Geltung haben. In diesem Sinne sagt auch J. G. F i c h t e : „Ich werde afficirt (d. h. von aussen her in meinem Innern sinnlich erregt): es muss sonach doch etwas geben, dass mich auf diese Weise erregt (mich afficirt). Jede Masse aber mit ihren Eigenschaften ist selbst Wirkung und Äusserung der inneren Kraft (durch welche deren einzelne Theilchen zu dieser Masse verbunden sind). Diese Kraft aber hat zwei Wirkungen: eine, wodurch sie sich selbst erhält und sich diese bestimmte Gestalt gibt, in der sie erscheint, und eine a n d e r e , in der sie auf eine bestimmte Weise auf m i c h einwirkt und erregt (mich afficirt)" (J. G. FICHTE II. S. 237). So sagt auch D r o s s b a c h : „Wir können nur die Beziehungen wahrnehmen, in denen die Dinge zu uns und untereinander stehen; aber gerade aus diesen Beziehungen lernen wir das Wesen der Dinge kennen. Denn dieses Beziehen und Wirken der Dinge aufeinander ist das Leben und das wahre Seyn derselben. Wer das Ding an sich wahrnehmen will, verlangt etwas Unmögliches. Wer aber die Kräfte eines Dinges in ihren verschiedensten Wirkungen und unter den verschiedensten Verhältnissen kennen gelernt hat, der hat das Wesen des Dinges erschaut" (DROSSBACH: Genes, d. Bewussts. Seite 108—110). Aus obigem Ausspruch FICHTE'S geht hervor, dass er auch für die ganze stofflich-körperliche Masse bestimmt unter-

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc.

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scheidet zwischen einer ursprünglich und an sich rein innerlichen Kraftwirksamkeit, dadurch diese Masse als Masse sich erhält und der sie ihre äussere Gestaltung mit zu verdanken hat, und einer weitergehenden und daher nach aussen auf die sie umgebende Aussenwelt gerichtete Wirksamkeit, dadurch eben jene Kräfte in einer ganz ähnlichen Weise auf die Umgebung der betreffenden Masse einwirken, wie solches auch zwischen den einzelnen stofflich-körperlichen Grundbestandt e i l e n dieser Letzteren der Fall seyn muss. Durch ihre eigene innerliche Kraftwirksamkeit erhalten sie sich im wesenhaften Daseyn, und durch ihre nach aussen gerichtete Kraftwirksamkeit bilden sie gemeinschaftlich die Masse, welche in Folge hiervon zwar ebenfalls eine Einheit darstellt, aber in ihrem Inneren wieder aus Einzeltheilen zusammengesetzt ist, nehmlich den letzten in sich selber einheitlichen und darum auch in sich nicht weiter mehr theilbaren Ur- und Grundbestandtheilen. Auch bei S c h e l l i n g finden wir obige Darlegung FICHTE'S vertreten, wenn er sagt, dass wir zu allen unseren Sinnesempfindungen stets auch eine Ursache annehmen miissten, welche von aussen her eben diese Empfindungen in uns bewirke und errege. (SCHELLING: II. Seite 2 6 . ) Mögen derartige Ursachen, wie bei körperlichen Schmerzen, auch innerhalb unserer eigenen Leiblichkeit sich befinden: immerhin müssen sie in Bezug auf unser eigentliches und persönliches Ich und Selbst als ausserhalb desselben gelegen von uns betrachtet werden. So sagt auch U l r i c h „Jede Naturkraft ist als eine Thätigkeit zu fassen, die an sich nach aussen, also auch auf A n d e r e s a u s s e r i h r gerichtet ist und deren Bestimmtheit darin besteht, dass sie auf ein bestimmtes Anderes geht, und welche also auch in einer bestimmten Beziehung zu anderen Dingen oder Kräften steht." (ULRICI: Gott und Natur, Seite 461.) Und W i e n e r sagt: „Der Stoff hat die Eigenschaft auf die Sinne und auf andere Stoffe zu wirken." ( W I E N E K : Grundz. d. Weltordnung, S. 6 9 8 . ) „Wenn ein Natur-

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

wesen (ein Reales) — sagt H e r b a r t — Erscheinungen tragen soll, so muss es in Gemeinschaft mit anderen Naturwesen (realen Wesen) stehen, und wenn die Erscheinung wechselt, so wechselt auch diese Gemeinschaft" (vielmehr die Erscheinung wechselt in Folge des stattfindenden Wechsels dieser äusserlichen Gemeinschaft). (HERBABT: IV. Seite 127.) Ritter drückt über denselben Gegenstand sich dahin aus, dass „alle Erscheinung" als „Gesammtergebniss (Produkt) mehrerer aneinander scheinender Dinge" zu betrachten sey. (RITTEE: Unsterbliche, Seite 83.) Und endlich sagt H u b e r in Bezug auf eben diese beiderseitigen Wechselverhältnisse: „Die Wechselwirkung stellt sich als eine durch die einzelnen stofflichkörperlichen Urwesen (durch die Atome) sich vollziehende dar. Das eine derselben wirkt auf das andere, wird aber zugleich auch durch dies andere zu seiner eigenen Wirksamkeit erregt. Nur g e g e n s e i t i g und in e i n a n d e r vermögen sie thätig (oder wirksam) zu seyn. (HUBER: Forschungen und die Materie, Seite 90.) Besitzen die Naturdinge des untersten Daseynsgebietes auch nicht die eigentlich leiblichen Sinneswerkzeuge, mit denen die höheren Seelen- und Geisteswesen zum Behuf ihrer sinnlichen Wahrnehmung der sie umgebenden Dinge ausgerüstet sind: so muss doch auch ihnen auf irgend eine Art in ihrem eigenen Wesen der natürliche Weg geboten seyn, auf welchem auch bei ihnen eine thatsächliche innerliche S e l b s t e r f a h r u n g alles dessen möglich ist, was um sie herum ist und vorgeht. Die natürliche Ausdehnung, welche alle Dinge durch die Nähe wärmender Körper an sich erfahren, ist ein zu sprechendes, in keiner Weise zu bezweifelndes Zeugniss für das wirkliche Vorhandenseyn eines solchen Verhältnisses, auch selbst im Bereiche des alleruntersten Naturgebietes. Darum spricht auch schon A r i s t o t e l e s davon, „dass ein jeder sinnlich wahrnehmbarer Körper eine Kraft habe, sowohl Einwirkungen a u s z u ü b e n als auch zu e r f a h r e n , oder b e i d e s z u g l e i c h " .

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc.

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Und an einer anderen Stelle findet sich der gleiche Gedanke nur wenig abgeändert, in folgender Weise ausgedrückt: „Es haben die Einen der Dinge die Fähigkeit, Einwirkungen ausz u ü b e n , und andere die Fähigkeit, sie von diesen zu erf a h r e n . " (AEISTOTELES: Himmelsgeb. S. 55; Entsteh, und Vergeh. S. 425. 435.) — Denn gerade in diesem wechselseitigen A u s ü b e n und E r f a h r e n von E i n w i r k u n g e n besitzt die gesammte, noch auf der untersten Stufe alles Daseyns sich befindende Stoff- und Körperwelt das zweckentsprechendste, weil einfachste Naturmittel, dadurch bei den hier noch waltenden einfachen Naturverhältnissen die zugehörigen Wesen sich einander bemerkbar und nach ihrer Weise wahrnehmbar zu machen im Stande sind. Alles B e m e r k e n und W a h r n e h m e n beruht ja in seinem tiefsten und allgemeinsten Grunde auf nichts anderem, als auf einem eigenen innerlichen S e l b s t e r f a h r e n von aussen her empfangener Eindrücke fremder Krafteinwirkungen in das eigene natürliche Ich und Selbst. Alle unsere früheren Betrachtungen, welche wir über das gegenseitige Wechselverhältniss der Begriffe von U r s a c h e , W i r k s a m k e i t und W i r k u n g angestellt haben, hielten in erster Linie an dem inneren Standpunkt in dem für uns wahrnehmbaren eigenen Wesen der Dinge fest. Es war ihr an sich rein innerliches Wirken und Walten in der eigenen selbstgegründeten Räumlichkeit und Häuslichkeit, auf das wir unser Augenmerk richteten. Jetzt sehen wir dieselben Einzeldinge aus dieser ihrer eigenen innerlichen Häuslichkeit heraustreten in die Öffentlichkeit des gemeinschaftlichen Weltlebens. Keines kommt nunmehr nur für sich allein in Betracht: es kommt auch in Betracht in Bezug auf die gesammte es umgebende und an sich ihm gegenüberstehende Aussenwelt. Ward daher jenes erstere an sich noch rein innerliche Wirken und Walten der Dinge am einfachsten und entsprechendsten gekennzeichnet durch eben jene drei für die Erkenntniss jener

10

f>ie natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Verhältnisse so bedeutungsvollen Grundbegriffe von U r s a c h e , W i r k s a m k e i t und W i r k u n g : so entsprach der Begriff der Wirkung, als der Bewirkung der oberflächlichen selbständigen SelbstumI n - s i c h - E i n s c h l i e s s u n g und oberflächlichen h ü l l u n g , auch gleichzeitig damit dem Begriff der stofflichkörperlichen E r s c h e i n u n g ; denn nur vermittelst der innerlich-äusserlichen Oberfläche der Dinge ist überhaupt ein wirkliches Erscheinen ihres Inneren nach aussen hin möglich. Ebenso haben wir auch gesehen, dass kein Ding der Welt jemals im Stande seyn würde, anderen Naturwesen zu erscheinen und dadurch von seinem Daseyn und Wesen Kenntniss zu geben, wofern ihm die Befähigung abginge, auf diese Dinge in irgendwelcher Weise eine bestimmte Art von Krafteinwirkung auszuüben. Und so gestaltet sich demnach jene oben erwähnte dreifache Wechselwirkung von Ursache, Wirksamkeit und Wirkung, oder was dasselbe ist, von Ursache, Wirksamkeit und Erscheinung, nunmehr für unseren jetzigen Standpunkt in das ihm verwandte und ebenfalls dreifache Wechselverhältniss von innerster U r s a c h e , innerer W i r k s a m k e i t und E i n w i r k u n g n a c h a u s s e n auf die übrigen Daseynsformen der es umgebenden Naturwirklichkeit. Wir haben hier ein Wechselverhältniss, welches für das beobWechselachtende Auge des Geistes als A u s w i r k u n g , w i r k u n g und E i n w i r k u n g in der eigentlichen und reinsten Bedeutung dieser Worte sich darstellt, indem es ausschliesslich das naturgesetzmässige Verhalten des I n n e r e n gegenüber dem A u s s e r e n berücksichtigt und die an sich rein innerlichen Vorgänge ausser Betracht lässt. Denn nur das „ a u s s e r sich W i r k e n " ist — wie Herbart sagt — gleichbedeutend mit „ W i r k e n auf (und in) ein Anderes, Fremdes." (HEHBAET IV. S. 603.) In der Kraftauswirkung der Einen liegt der Grund und die Ursache, wie die natürliche Möglichkeit auch für die entsprechende Einwirkung auf die Anderen; und wie in dem Kraftmaass einer jeden Wirksamkeit auch allewege das Maass

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 11

und die Grösse der Wirkung schon im voraus mitenthalten und mitbestimmt liegt: so das Maass der Einwirkungsfähigkeit in das Fremde und Andere in dem Maass der Auswirkungsfähigkeit der Ersteren. Wie dort der Begriff und das Wesen der natürlich-thätigen Kraftwirksamkeit es ist, welche das eigentlich-bindende Mittelglied bildet zwischen Ursache und Wirkung: so hier der Begriff und die natürliche Thatsache der gegenseitigen W e c h s e l w i r k u n g e n , darinnen naturgemäss Auswirkung wie Einwirkung zu einer gemeinschaftlichen und zugleich einheitlichen Naturthatsache sich verschmolzen zeigen. Auch hier gilt daher dasselbe allgemeine Wahrheitsgesetz wie dort: das Eine steht und fällt mit dem Anderen, und wo auch nur Ein.es dieser Drei fehlen würde, da wären auch die beiden Anderen eine natürliche Unmöglichkeit. In diesen soeben dargelegten wechselseitigen Naturverhältnissen gründet denn auch so recht eigentlich der begriffliche Unterschied zwischen W i r k e n und Bewirken. Die mit dem innersten Urgrund der Dinge in Eins zusammenfallende natürliche Wesensgrundkraft w i r k t durch ihre naturgesetzmässige unmittelbare Wirksamkeit das wesenhafte Dasein der Dinge als ihre n a t u r g e s e t z m ä s s i g e W i r k u n g . Zwar haben wir schon damals auch von einem B e w i r k e n eben dieser ersten und ursprünglichsten Wirkung gesprochen; aber mehr in sinnbildlicher Bedeutung, insofern wir damals das Hervorbringen jener an sich noch einfachen Wirkung vom Standpunkt dieser letzteren aus ebenfalls als ein B e w i r k e n derselben, vom Standpunkt der Ursache aus aber als ein V e r u r s a c h e n der zu ihr gehörigen Wirkung bezeichneten. In unserem gegenwärtigen Fall aber bezieht sich der Begriff des Bewirkens in seiner eigentlichsten Bedeutung auf die durch das Einwirken auf Fremdes und Äusseres hervorgebrachte Wirkung, wie solche in den veränderten Wesenszuständen eben dieses Fremden und Ausseren sich uns kundgibt. Der Begriff des Bew i r k e n s vertritt demnach hier gewissermassen die einheitliche

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t der über das eigene Ich und Selbst der Dinge h i n a u s g e h e n d e n A u s - und E i n w i r k u n g e n von Kraftwirksamkeiten. Er fällt daher auch folgerichtig in Eins zusammen mit dem Begriff der g e g e n s e i t i g e n W e c h s e l w i r k u n g selbst, für den er nur eine veränderte geistige Anschauung in unserem Denken andeutet. Die Naturforschung nimmt bekanntlich fast ausschliesslich, wenn sie von dem Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen redet, Rücksicht auf diese letzteren Verhältnisse, und versteht dabei unter U r s a c h e n die von einem Körper a u s g e h e n d e n K r a f t w i r k s a m k e i t e n ; unter W i r k u n g e n dagegen diejenigen V e r ä n d e r u n g e n in d e r E r s c h e i n u n g , welche in Folge von jenen an eben den Körpern wahrgenommen werden, welche jene Veränderungen durch die Einwirkungen jener von aussen her an sie herantretenden Kraftwirksamkeiten an sich erfahren. Es hat dieser Standpunkt auch insofern seine volle Berechtigung, als die Naturforschung als solche sich ausdrücklich nur mit thatsächlichen Beobachtungen der Natur und ihrer Erscheinungsweisen beschäftigt und solche Naturbeobachtungen überhaupt allein nur auf dem Wege reinsinnlicher Wahrnehmungen durch uns bewerkstelligt werden. Daher denn auch der von der neueren Naturwissenschaft allgemein anerkannte Satz, dass es k e i n e W i r k u n g gibt, es ständen denn m i n d e s t e n s zwei einfachste Naturwesen oder Grundstoffe (Atome oder Elemente) mit einander in wechselseitiger Verbindung. Es ist dies „ein t h a t s ä c h l i c h e r W a h r h e i t s s a t z , welchen die Naturwissenschaft •— wie Bau man II dies ausdrücklich hervorhebt — aus der W i r k l i c h k e i t (der Natur und ihrer Dinge) gelernt hat." (BAUMANN: Philos. Seite 346. 350.) Wenn daher Meister E c k h a r t sagt, dass „kein Ding wirken könne ü b e r sein Wesen" (BACH: Meister Eckhart. Seite 67), so hat dieser Ausspruch in zweifacher Bedeutung seine ganz richtige und natürliche Geltung. Einmal, wenn es sich um jene an sich noch rein innerliche

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 13

Kraftwirksamkeit handelt, darauf die Darstellung des gesammten Wesens und Daseyns der Dinge beruht, und womit denn auch gleichzeitig die eigentliche Selbstverwirklichung dieser letzteren ihr natürliches Ziel und ihre natürliche Grenze gefunden hat. Und zum anderen, insofern es sich um die nach aussen gerichteten Wechselwirkungen der Dinge unter sich handelt, bei welchen die KrafteinWirkungen des einwirkenden Körpers das demselben in seinem innersten Wesensgrundbegriif zugetheilte natürliche Kraftmaass ebensowenig zu überschreiten vermögen, wie solches auch schon für dessen noch erste und unmittelbarste, an sich noch rein innerliche Kraftwirksamkeit seine Geltung hat.

N o . 93. Die natürliche Wesensgrundkraft der Dinge als gleichzeitige innerste Auswirkungsfähigkeit. Auswirkung und Einwirkung in dem Sinne von natürlichem Geben oder Wirken von der einen und von natürlichem Nehmen oder Leiden von der anderen Seite. Alle ursprünglichen Wesensgrundkräfte der Natur — so haben wir früher gesehen (IV. § 15. Nr. 69) — sind in Bezug auf ihr natürliches Kraftmaass von Uranfang an nicht allein allseitig und ausnahmslos b e s t i m m t e und b e d i n g t e , sondern zugleich auch für alle Zeiten und für alle besonderen .Fälle v o l l g ü l t i g e , d. h. für die besonderen Daseinszwecke eines jeden Einzeldinges je nach seiner besonderen Wesensart vollkommen a u s r e i c h e n d e . Es umfasst daher eben dieses uranfängliche Kraftmaass nicht etwa bloss die einfache Art und Weise, in welcher eine jede Grundkraft der Natur ihren ursprünglichsten und allgemeinsten Naturzweck, die Darstellung des von ihr zu verwirklichenden Naturwesens, zur Ausführung bringt: sondern ebensosehr alle die besonderen, jedem natürlichen Einzelwesen zuzuerkennenden blossen F ä h i g k e i t e n , V e r m ö g e n und A n l a g e n , welche von Uranfang an dazu be-

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

stimmt sind, als thatsächlich wirksame Naturkräfte in die Erscheinung zu treten. Denn da wir von dem Daseyn irgend einer Kraft nur dadurch Kenntniss haben können, dass sie als Ursache einer Wirkung durch thatsächliche Wirksamkeit uns gegenüber in die Erscheinung zu treten vermag: so ist auch eine Kraft, die n i c h t durch irgend eine Wirksamkeit auch wirklich thatkräftig uns entgegentritt, für unser menschliches Urtheil im Grunde noch ganz ebenso gut wie keine K r a f t , weil wir selbst auch nicht die geringste Wahrnehmung und damit auch weder die geringste Kenntniss noch das geringste Bewusstsein von ihr haben können. Daher ist es auch ganz der Natur der Sache entsprechend, wenn wir eben jene Kräfte, welche nur unter gewissen äusseren Verhältnissen zur Möglichkeit einer Kraftbethätigung gelangen, nicht allein sinnbildlich als bloss s c h l u m m e r n d e K r ä f t e bezeichnen, sondern ihnen auch das Recht, als Kraft von uns bezeichnet zu werden, dadurch absprechen, dass wir sie während der ganzen Zeit ihrer schlummerähnlichen Unthätigkeit nicht als Kräfte, sondern nur als Fähigkeiten, Vermögen und Anlagen bezeichnen, welche den Dingen innewohnen. So lange ein Körper nicht schallt, nicht wärmt, nicht leuchtet u. s. w., tritt bei ihm auch keine Schallkraft, keine Wärmekraft, keine Leuchtkraft u. s. w. zu Tage. Diese natürlichen Fähigkeiten, Vermögen und Anlagen erwachen jedoch in den Naturwesen nicht von selbst, sondern sie bedürfen alle, wie Beobachtung und Erfahrung uns lehren, stets irgend welcher Art von äusserlicher E i n w i r k u n g . Und mit dieser ist stets eine äusserliche A n r e g u n g und innerliche E r r e g u n g verbunden; die Gemeinschaft beider bildet alsdann die äussere wie innere Veranlassung zu einer naturwirksamen und naturgesetzmässigen B e t h ä t i g u n g und der damit in Verbindung stehenden Ä u s s e r u n g eben jener erwachenden Kräfte. Von solchem Gesichtspunkt ausgehend sagt denn auch schon Plato: „Ich sage euch, was nur irgend ein Ver-

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 1 5

mögen (oder eine Fähigkeit) besitzt, sey es, ein A n d e r e s zu irgend etwas zu machen (oder verändernd auf dasselbe einzuwirken) oder auch s e l b e r nur das allergeringste (von einem Anderen) zu erleiden, dass dieses alles wirklich sey", wie auch — wie er hinzufügt — „alles Seyende nichts anderes ist als V e r m ö g e n oder K r a f t . " (PLATO: Schleiermacher II. Abth. II. S. 139. 140.) So sagt auch TIEDEMANN in Bezug auf Leibnitz: „Allem wesenhaften Daseyn (aller Substanz) legt derselbe eine K r a f t bei. Diese Kraft," lehrt er, „sey z w e i f a c h e r Art: theils nehmlich 1) blosse M ö g l i c h k e i t zu handeln oder thätig (und wirksam) zu seyn, welche f r e m d e n A n t r i e b e s (und äussere Einwirkung) bedarf, um in wirkl i c h e T h ä t i g k e i t (oder Wirksamkeit) überzugehen; — theils 2) wirkliche Thätigkeit (oder Wirksamkeit), zwischen dem Vermögen zu handeln und der Handlung selbst in der Mitte stehend und ein Bestreben enthaltend, das von s e l b s t (d. h. ohne einer sonstigen Einwirkung und Anregung von aussen her zu bedürfen) in H a n d l u n g (oder Wirksamkeit) ü b e r g e h t und mehr nicht hierzu erheischt als Aufhebung (oder Nichtvorhandensein) jeglichen Hindernisses." (TIEDEMANN: Geist der spek. Phil. VI. S. 386.) — Wie treffend in dieser Darstellung in dem zweiten Fall die uranfängliche natürliche Selbstverwirklichung der Dinge durch deren eigene unmittelbar-innerliche Kraftwirksamkeit bezeichnet ist; im ersten Fall dagegen die weiteren Kraftwirksamkeiten nach aussen hin im gegenseitigen Wechselverkehr der Dinge: dies ist wohl kaum zu verkennen. In gleichem Sinn sagt auch Herbart gerade in Bezug auf diesen letzteren Fall: „Alle Kräfte haben ein angebornes Bestreben sich zu ä u s s e r n und sie r e g e n sich, sobald sich nur V e r a n l a s s u n g dazu bietet." (HERBABT VI. S. 79.) Und ähnlich sagt K. V. Dalberg: „In jedem Strahlenbüschel" — d. h. mit anderen Worten: in einem jeden, durch die von seinem innersten Wesensmittelpunkt ausgebildeten einzelnen und in sich selbständigen Naturwesen oder Atom) —

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen,

„ist eine gewisse Menge (oder ein gewisses Maass) l e b e n der K r a f t : das Übrige ist s c h l a f e n d e F ä h i g k e i t ; denn das, was wir E i n w i r k u n g äusserer Wesen nennen, ist im Grunde nichts als Gelegenheit zur inneren Entwickelung (oder Entbindung bis dahin noch schlummernder Kräfte" (K. v. DALBERG, S. 8. 9. 13). — „Die Erfahrung" — sagt CORNELIUS — „deutet vielfach darauf hin, dass die stofflich-körperlichen (materiellen) Dinge erst d u r c h i h r Z u s a m m e n k o m m e n und zwar unter gewissen Umständen zu bestimmten K r a f t ä u s s e r u n g e n gebracht werden. Jedes Theilchen des stofflich - körperlichen Daseynsgebietes (der Materie) findet den G r u n d und die V e r a n l a s s u n g zu seiner Thätigkeit (oder Wirksamkeit) in den b e n a c h b a r t e n T h e i l c h e n " (CORNELIUS: ßild u. Malerei. S. V I I ) . — Ebenso D r o s s b a c h : „Jedes Wesen ist selbstthätig, hat seine eigenen Kräfte. Aber diese Kräfte gelangen (in vielen Fällen) erst in Bewegung (oder Wirksamkeit) d u r c h die W e c h s e l w i r k u n g mit den K r ä f t e n a n d e r e r W e s e n , und in dieser Wechselwirkung mit allen anderen Wesen bringt es seine (eigenen Kräfte) zur Entwickelung (oder Auswirkung)" (DROSSBACH: Genes, d. Bewusstseins. S. 7. 8). — In demselben Sinne sagt auch Fr. Fischer: „Die Natur der Körperwelt und ihr Wesen besteht in denjenigen Eigenschaften, welche (wie die Wesensschwere, die Wesensdichte und die räumlich-wesenhafte Grösse) den körperlichen Grundwesen (Elementen) an und für sich und ohne Kücksicht auf ihre Wechselwirkungen zukommen. Die Erscheinung der Körperwelt dagegen besteht in den Veränderungen (Modificationen), welche erst durch die Wechselwirkungen der körperlichen Grundbestandtheile (Elementarbestandtheile) und der Körper untereinander bestehen. Denn das Wesen eines Dinges ist dasjenige, was es an und für sich ist, seine Erscheinung dagegen das, was es (zugleich auch) f ü r und d u r c h A n d e r e s ist" (F. FISCHER: Leben der Körpers. S. 28). Und endlich bezeichnet es auch Ulrici als

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 17

einen „allgemein anzuerkennenden Satz, dass alle Kraft in der Natur nur eine b e d i n g t e ist, indem die Naturkräfte nur (nach aussen hin) wirken unter der M i t w i r k u n g , der Anr e g u n g oder dem E i n f l u s s anderer (d. h. den Ersteren fremder) K r ä f t e oder S t o f f e (Materien). Kein Körper, kein bestellendes Naturwesen (keine Substanz), also auch kein stofflich-körperliches Einzelwesen (kein Atom) wirkt (nach aussen hin) selbständig und unabhängig für sich allein. K e i n e m Stoff kommt an und für sich eine Kraft oder Thätigkeit (nach aussen) zu, die er u n m i t t e l b a r und u n b e d i n g t ausübte." Und an einem späteren Orte fügt U L K I C I ausdrücklich noch hinzu, „dass aus der Unmöglichkeit der ä u s s e r e n Bethätigung (oder Wirksamkeit) einer Kraft noch k e i n e s w e g s folge, dass die Kraft (selbst und an sich) g a r n i c h t bestehe (existire) oder v ö l l i g u n t h ä t i g sey. Eine Kraft — sagt er — kann von Natur so beschaffen seyn, dass sie, wenn ihre Wirkungen zur E r s c h e i n u n g kommen sollen, des M i t w i r k e n s a n d e r e r K r ä f t e als Mittel zu ihrer Äusserung bedarf, wie z. B. die Elektrizitätskraft der körperlichen (mechanischen) Keibung u. s. w. Andererseits kann eine Kraft durch entgegenwirkende Kräfte in ihrer Äusserung dergestalt gehemmt werden, dass ihre Thätigkeit (oder Wirksamkeit) zum blossen unwahrnehmbaren Streben (oder zur blossen Möglichkeit oder Fähigkeit) herabsinkt, wie z. B. die Schwerkraft nur als Streben nach dem Mittelpunkt der Erde erscheint, wo der Bewegung des Fallens der Widerstand fester Körper entgegentritt. Denn in der ganzen Natur, weil sie eben eine Werkstätte b e d i n g t e r K r ä f t e ist, gilt das Gesetz, dass die Wirkung nur e r f o l g t , wenn die Bedingungen dazu e i n t r e t e n , und dass sie sich ä n d e r t , wenn die Bedingungen a n d e r e werden. Denn nur in und kraft seiner Bestimmtheit steht jedes Ding als ein a n d e r e s dem a n d e r e n gegenüber. Nur auf ihrer thatsächlichen (reellen) B e s t i m m t h e i t beruht auch die S o n d e r u n g und beziehungsweise (respective) T r e n n u n g der Dinge, und Wandersmann. II.

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

nur kraft dieses ihres Sonderns von einander können sie in Beziehung zu einander treten, und können je nach ihrer verschiedenen Bestimmtheit v e r s c h i e d e n e V e r h ä l t n i s s e eing e h e n , d. h. sie können je nach Umständen m i t - , a u f - und gegen e i n a n d e r wirken" (ULBICI, Gott u. Natur, S. 48. 54. 321—323. 456. 457. 467). — Wenn nun aber Ulrici dieser an sich so richtigen Darstellung weiterhin gleichsam ergänzend hinzufügt, dass „eine bedingte Kraft, eine bedingte Selbstständigkeit keine rein von innen heraus" lebendige „Kraft sey", weil das, „was von einer Bedingung abhänge, nicht selbständig sey", und weil das, „was einer nicht von ihm selbst entspringenden sondern anders woher stammenden Anregung bedarf, n i c h t von i n n e n h e r a u s wirke" (ULKICI, a. a. 0. S. 646) so bedarf dieser Ausspruch doch einiger Einschränkung. Er entspricht nehmlich nur den Erfahrungen, die wir von rein ä u s s e r l i c h e m Standpunkt aus zu machen gewohnt sind; keineswegs aber auch denjenigen, die uns entgegentreten, sobald wir mit dem Auge des Geistes in das I n n e r e der Dinge uns versetzen. Eine bedingte Kraft vermag freilich auch nur eine b e d i n g t e S e l b s t ä n d i g k e i t des Wesens zu bewirken und keineswegs eine völlig unbedingte, deren Wirksamkeit einzig und allein nur aus ihr selbst hervorginge und demgemäss durchaus keiner fremden und äusseren Mitwirkung bedürfte, um zu ihrer in sich selber völlig selbständigen Bethätigung veranlasst zu werden. Aber alle unsere Naturkräfte, obgleich an sich b e d i n g t e Kräfte, erweisen sich, soweit wir sie durch die Erfahrung kennen zu lernen vermögen, sämmtlich nur in e i n e m gewissen G r a d und bis zu e i n e r gewissen G r ä n z e bedingt. Sie sind aber im Stande, innerhalb dieser Gränze ihre natürliche Wirksamkeit im Innern der Dinge völlig selbständig von innen heraus auszuüben, ohne dass jemals andere und ihnen fremde Naturkräfte sie hieran verhindern könnten. Erst von dieser der inneren und unmittelbaren Wirksamkeit der innersten Grundkräfte der Dinge gezogenen Gränze

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 1 9

an beginnen nunmehr für diese Grundkräfte die natürlichen und naturgesetzmässigen besonderen B e d i n g u n g e n , unter deren steter Mitwirkung es ihnen allein vergönnt und ermöglicht ist,- nunmehr auch über diese ihre Gränze, d. h. über das eigene Ich und Selbst h i n a u s z u w i r k e n in die ihnen an sich fremde Weite der sie umgebenden Aussenwelt. Nur zu diesen E i n w i r k u n g e n auf f r e m d e und ä u s s e r e Dinge bedürfen sie sowohl der Anwesenheit als auch der thatsächlichen Mitwirkung dieser ihnen an sich fremden Mitwesen, und nur insofern vermögen daher die in ihren eigenen Inneren wirksamen Kraftbethätigungen als wirklich b e d i n g t e , weil nicht bloss an i n n e r l i c h e , sondern auch an ä u s s e r l i c h e Bedingungen geknüpfte Wirksamkeiten sich darzustellen. Wohl bildet ein jedes in sich selbst begründete besondere Einzelwesen durch seine selbstbewirkte natürliche Selbstumschränkung und Selbstbeschränkung ein an und in sich ges c h l o s s e n e s und also auch in sich selbst a b g e s c h l o s s e n e s und v e r s c h l o s s e n e s Daseyn. Hätte es aber hierbei ein für allemal sein natürliches Bewenden, so würde, wie wir früher dargethan, ein jedes dieser Einzelwesen einzig und allein nur in B e z u g auf sich s e l b s t ein wirkliches Daseyn darstellen. Um einem derartigen Zustand einer allseitig-durchgehenden und durch nichts vermittelten V e r e i n z e l u n g aller Dinge und Wesen dieser Welt entgegenzutreten, erweisen alle diese unzähligen Einzelwesen und zwar ein jedes für sich im besonderen, in ihren innersten Wesensgründen in völlig naturgemässer Weise sich befähigt, durch gegenseitigen innerlichäusserlichen Wechselverkehr ohne Unterlass wechselseitig in und auf einander einzuwirken. Und eben dadurch wird ein natürliches, lebendig-wirksames e i n h e i t l i c h e s B a n d hergestellt, dadurch das Einzelne unter sich in immer weiterem Umfang zu grösseren N a t u r g a n z e n der verschiedensten Arten und Beschaffenheiten sich zu verbinden und zu vereinigen in den Stand gesetzt ist. In Folge eben dieser ihrer natürlichen 2*

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Befähigung zu gegenseitigem Wechselverkehr ö f f n e n und vers c h l i e s s e n sich die Dinge gewissermassen w e c h s e l s e i t i g f ü r e i n a n d e r ; und das auf den ersten Anblick scheinbar völlig in sich Verschlossene und Abgeschlossene tritt mit seinen an sich verborgenen inneren Kraftwirksamkeiten zu Tage und vermag dadurch nunmehr ü b e r sich s e l b s t h i n a u s e i n z u g r e i f e n und e i n z u w i r k e n in das innere Wesensheiligthum seiner übrigen Mitwesen, mit denen es in irgendwelche nähere oder entferntere Beziehung gesetzt zu werden vermag. Denn eben dadurch, dass nicht die g a n z e Kraftfülle, welche von Uranfang an einem jeden einzelnen Naturwesen und Naturding je nach dessen besonderer Wesensart in seinem innersten Wesensgrundbegriff zugetheilt ist, auch sofort schon in ihrem ganzen Umfang in unmittelbare Wirksamkeit tritt, sondern für solange als i n n e r l i c h - g e b u n d e n e oder l a t e n t e K r a f t für besondere Fälle zurückgehalten ist: eben dadurch sind die natürlichen Einzeldinge befähigt, eben diesen bis dahin gebundenen und unbenutzten Kraftüberschuss, sey es ganz oder nur theilweise zu e n t b i n d e n und in thatsächliche Wirksamkeit eintreten zu lassen, sobald äussere Umstände und Verhältnisse solches zulassen, erheischen oder ermöglichen. Haben unsere früheren Betrachtungen über das gegenseitige Verhältniss zwischen den drei natürlichen Wechselbegriffen von U r s a c h e , W i r k s a m k e i t und W i r k u n g sich in einfachster und ursprünglichster Weise einzig und allein auf die I n s t a n d s e t z u n g und das I n s - D a s e y n - S t e l l e n der einzelnen stofflich-körperlichen Ur- und Einzelwesen bezogen: so treten wir bei unserem nunmehr gewonnenen erweiterten Standpunkt auch in einen erweiterten Gesichtskreis für unsere Betrachtungen ein. Wir sehen nunmehr eben jene erste Grundwirkung in ein neues und erweitertes Wechselverhältniss auch mit allen übrigen natürlichen Einzeldingen und Einzelwesen der sie umgebenden Aussenwelt eintreten. Sie wird somit selber wieder zu einer U r s a c h e für jene natürlichen

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 21

Einwirkungen auf ihre nächste Umgebung, darauf ja von Uranfang an der natürliche Wechselverkehr der Dinge und Wesen untereinander gegründet sich zeigt. Was dort die K r a f t w i r k s a m k e i t war, welche die Ursache mit ihrer Wirkung verband, dass stellt, sich uns nunmehr dar als eben jene wechselseitige A u s w i r k u n g und E i n w i r k u n g von Kraftwirksamkeiten, darinnen wir das eigentliche Grundgepräge jener innerlich-äusserlichen Wechselbeziehungen vor Augen haben. Alle Wechselwirkung und aller Wechselverkehr der Dinge unter einander ist darauf von Uranfang an ebenso naturgemäss und naturgesetzmässig erbaut und gegründet, wie die einzelner Naturdinge selbst auf das früher betrachtete rein innerliche Wechselverhältniss von Ursache, Wirksamkeit und Wirkung. Stellen wir uns im Geiste mitten in dies gegenseitige Wechselverhältniss von Auswirkung und Einwirkung und richten unsern Blick r ü c k w ä r t s nach dem Einzelding, von dem eine Wirksamkeit über seine eigene Wesensgränze hinausgeht auf andere Einzeldinge, die es umgeben: so haben wir nach dieser Richtung hin die a u s w i r k e n d e K r a f t w i r k s a m k e i t vor uns. Richten wir dagegen unsern Blick nach v o r w ä r t s auf das Einzelwesen, auf welches eben diese Kraftauswirkung sich hinrichtet: so ist es die e i n w i r k e n d e K r a f t w i r k s a m k e i t , die uns entgegentritt. Jene innerliche Erregung aber, zu welcher eben diese von aussen her einwirkende Kraftwirksamkeit die naturgemässe V e r a n l a s s u n g und Anr e g u n g gibt, haben wir so recht eigentlich als dasjenige zubetrachten und anzuerkennen, was eben jener an sich noch einfachsten W i r k u n g entspricht, mit welcher ein jedes in sich selbständige einzelne Naturwesen die vollendete InsWerk-Stellung seines eigenen wesenhaften Daseyns findet. Was in jenem noch ersten und ursprünglichsten Verhältniss als erste U r s a c h e , unmittelbare K r a f t w i r k s a m k e i t und erste U r w i r k u n g sich uns darstellte, das hat nunmehr zu innerlichäusserlicher K r a f t a u s w i r k u n g , zu gegenseitiger W e c h s e l -

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Wirkung und zu äusserlich-innerlicher K r a f t e i n w i r k u n g sich gestaltet. Es ist dasselbe begrifflich-natürliche Verhältniss wie im vorigen Fall, nur mit dem bedeutungsvollen Unterschied, dass der ganze Vorgang nicht mehr wie vorhin in und an ein und d e m s e l b e n n a t ü r l i c h e n E i n z e l w e s e n vor sich geht, sondern dass nunmehr zum mindestens stets zwei in sich s e l b s t ä n d i g e N a t u r d i n g e zu dessen Darstellung und Vollendung naturnothwendig erforderlich sind. Und so haben wir denn, wenn wir so sagen dürfen, jetzt zum ersten mal auch so recht eigentlich den Begriff eines wirklichen innerlich-örtlichen H ü b e n und D r ü b e n vor unseren Augen. Und zwar ein H ü b e n in Bezug auf dasjenige Naturding, welches wir als den natürlichen Grund und Ausgangspunkt für irgend eine thatsächliche K r a f t a u s w i r k u n g zu betrachten haben, und ein D r ü b e n für das andere, diesem fremde und äusserliche Naturding, welches als Ziel und Gegenstand der mit jener Kraftauswirkung unmittelbar verbundenen K r a f t e i n w i r k u n g uns entgegentritt. Haben wir in jener innerlichäusserlichen Kraftauswirkung, in dem H ü b e n , im Grunde nur die thatsächliche B e t h ä t i , g u n g und ein thatsächliches I n W i r k s a m k e i t - T r e t e n jenes geheimnissvollen innerlich-äusserlichen W e c h s e l v e r h ä l t n i s s e s vor Augen, so tritt dagegen in der entsprechenden äusserlich-innerlichen K r a f t e i n w i r k u n g , in dem D r ü b e n , eben jenes ursprüngliche i n n e r l i c h ä u s s e r l i c h e W e c h s e l v e r h ä l t n i s s als ein ihm naturgesetzmässig entsprechender und thatsächlicher ä u s s e r l i c h - i n n e r l i c h e r W e c h s e l v e r k e h r uns entgegen. Beide Gegensätze sind vereinigt in eben der einzigen wirklichen N a t u r t h a t s a c h e , welche eben in der das Hüben und Drüben verbindenden natürlichen W e c h s e l w i r k u n g zwischen beiden bereits ihren naturgemässen Ausdruck gefunden hat. In allem und jedem Hüben ist ein stetes M i t t h e i l e n und G e b e n , in allem und jedem Drüben dagegen ein stetes E m p f a n g e n und N e h m e n aus- und einwirkender Kräfte oder Kraftanreguugen

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 2 3

enthalten. So sagt Oersted: „Jeder Körper, auf welcher Stelle im Weltall er sich auch befindet, leidet Einwirkungen von einer Mannigfaltigkeit anderer Kräfte. Unaufhörlich steht er in Wechselwirkung mit der ganzen übrigen Welt in Hinsicht auf Wärme, Elektricität, Magnetismus etc. Ein stets erneutes G e b e n und N e h m e n von E i n w i r k u n g e n ist unzertrennbar vom körperlichen Seyn" (OEBSTED: Geist in der Natur I. Seite 13). Sehr nahe verwandt mit eben diesen beiden Wechselbegriffen von G e b e n auf der einen und E m p f a n g e n oder N e h m e n auf der anderen Seite zeigen sich diejenigen des W i r k e n s von der einen und des L e i d e n s von der anderen Seite, ohne dass sie jedoch sich völlig einander deckten. Das thatsächliche E i n w i r k e n auf ein Anderes entspricht dem Begriff des äusserlichen M i t t h e i l e n s oder G e b e n s : das E m p f a n g e n dieser äusserlichen Einwirkung dem Begriff des innerlichen E r f a h r e n s und E r l e i d e n s jener fremden Einwirkung und damit dem Begriff des L e i d e n s überhaupt. Und insofern sehen wir denn auch, dass beide Wechselbegriffe von G e b e n und N e h m e n , sowie von W i r k e n und L e i d e n nicht selten als wenig verschieden von einander pflegen betrachtet zu werden. F ü r jetzt halten auch wir uns, wenn auch nicht an die völlige Gleichheit, so doch an die nicht zu verkennende Ähnlichkeit beider Wechselbegriffe. Auf deren Verschiedenheiten einzugehen, werden wir im weiteren Verfolg dieser Untersuchungen ebenfalls noch Veranlassung finden. Betrachten wir daher für jetzt dies ganze Wechselverhältniss von seiner noch einfachsten Seite, nämlich als allein nur zwischen zwei stofflich - körperlichen Einzelwesen A und B stattfindend, so haben wir in A dasjenige vor Augen, von dem

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Weehselverhältnissen.

aus eine Einwirkung auf B ausgeht; B dagegen ist dasjenige, welches diese Einwirkung in sich empfängt und demgemäss erleidet. Es liegen hiernach sowohl das Einwirken oder das Geben von der einen Seite, wie das Empfangen oder das E r l e i d e n von der anderen vollständig von einander örtlich getrennt und geschieden. In dem Einzelwesen A ist nur allein das Erstere, in dem andern Einzelwesen B das Letztere vertreten. Die verbindende Mittellinie ab zwischen den besonderen Mittelpunkten der beiden Einzelwesen zeigt uns dagegen die R i c h t u n g an, in welcher die gemeinschaftliche wechselseitige K r a f t d u r c h w i r k u n g stattfindet. Das gegenseitige Wechselverhältniss von Auswirkung und Einwirkung zeigt sich in dieser Mittellinie gleichsam verschmolzen in ein- und dieselbe einheitliche Kraftwirksamkeit. Wir haben hiermit in dieser sinnbildlichen Andeutung ebensowohl die begriffliche G e t r e n n t h e i t und U n t e r s c h i e d e n h e i t , wie zugleich auch deren natürliche untrennbare Zusammengehörigkeit vor Augen. Alles und jedes naturgesetzmässige Geschehen beruht im allgemeinen auf eben dieser Grundlage. So berichtet uns A r i s t o t e l e s , dass „bereits Demokrit nachgedacht habe über das Erleiden von Einwirkungen." (ARISTOTELES: Entstehen und Vergehen. Seite 353.) Und auch P l a t o sagt, dass „ein Leiden oder eine Einwirkung aus irgend einer Kraft in dem entstehe, was (in natürlicher Wechselwirkung) mit einander z u s a m m e n t r i f f t " (PLATO [SCHLEIERMACHER] II11. Seite 140). Eingehender jedoch hat Plotin mit diesen Verhältnissen sich beschäftigt. Nach ihm muss sowohl das Wirkende als das Leidende vor Allem die natürliche Befähigung zum Wirken oder zum Leiden in sich selbst besitzen. Da aber überall in der irdischen Natur ein Ding das andere erfahrungsgemäss stösst und anregt, so wirft er die Frage auf, ob die Bewegung oder Anregung in das Bewegende oder Anregende oder in das Bewegte oder Angeregte zu setzen sey_? Und seine Antwort lautet: jedenfalls

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 2 5

kommt sie z u n ä c h s t dem E r s t e n zu; allein sie ist z u g l e i c h a u c h im Z w e i t e n . Sie trennt sich also nicht von jenem, aber sie strömt wie ein Hauch in das Andere über. Wirken und Leiden bilden also nach dieser Darlegung E i n - und Dies e l b e S a c h e : das Leiden ist nur die in das Andere gesetzte Thätigkeit, und dasselbe, was in einer Beziehung Wirken oder Thun ist, ist in der anderen Beziehung Leiden. So bedingten sich also nach PLOTIN Wirken und Leiden gegenseitig: es ist nur E i n e W i r k s a m k e i t oder T h ä t i g k e i t , und eine Wirksamkeit oder Thätigkeit ohne Leiden ist ebensowenig zu denken, wie ein Leiden ohne eine es veranlassende Thätigkeit oder Wirksamkeit (KIKCHNEE, PLOTIN S. 92. 93.) Hobbes spricht sich, wie folgt aus: „Man sagt, dass ein Körper auf denjenigen w i r k t , in welchem er eine z u f ä l l i g e E i g e n s c h a f t {eine Accidenz) erzeugt oder zerstört, und dass er l e i d e t von dem Körper, von welchem in ihm eine zufällige Eigenschaft erzeugt oder zerstört wird. So wird das die Hand wärmende Feuer t h ä t i g (oder wirkend), die Hand, welche durch dasselbe erwärmt wird, dagegen l e i d e n d genannt. Die zufällige Eigenschaft (das Accidenz) aber, welche in dem Leidenden erzeugt wird (also in diesem Beispiel die durch das Feuer erzeugte Wärme der Hand) nennt man W i r k u n g " (BAUMANN, Raum u. Zeit I. S. 300). Nach L e i b n i t z besteht das Wesen (die Substanz) der Dinge — wie SENGLEE anführt — in der K r a f t oder T h ä t i g k e i t und des L e i d e n s . Dieses ist die eigentliche Wesenheit der natürlichen Dinge (der Geschöpfe). Eine Thätigkeit kann nicht ohne eine Kraft der Thätigkeit gedacht werden, und hinwiederum ist die Kraft unnütz, welche niemals ausgeübt werden kann. Weil aber T h ä t i g k e i t (oder Wirksamkeit) und K r a f t doch nichtsdestoweniger (begrifflich) verschieden sind, so ist jene das F o r t s c h r e i t e n d e (d. h. die in ihrer Wirksamkeit eintretende, sich bethätigende und bewegende Kraft), dieses aber das B e h a r r e n d e (d. h. die im Wesensmittelpunkt der Dinge als noch ruhende, noch unwirk-

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

same und noch gebundene Kraft)" — (SENGLEE, Philos. u. Theologie, S. 186). Und in ähnlicher Weise wird auch von J.

G.

Fichte,

von

Schelling

und

von

Suabedissen

und

Anderen die Thatsache einer wirkenden und einer leidenden Seite des gegenseitigen Verhaltens im natürlichen Wechselverkehr der Dinge als etwas in der Natur der Sache Liegendes anerkannt. ( J . G . FICHTE VI. S. 3 0 8 . SCHELLING IV. S . 2 8 1 . SUABEDISSEN, Grundzüge d. Methopf. S . 45.)

NO. 9 4 .

Die Einwirkung als innere Wesenserregung.

Wir haben in dem Vorigen alle Krafteinwirkung, welche von aussen her auf ein körperliches Einzelding gerichtet ist, auf Seiten dieses Letzteren als ein E m p f a n g e n oder N e h m e n , und damit zugleich als ein E r l e i d e n oder L e i d e n anerkennen müssen. Doch dürfen wir nunmehr nicht unbeachtet lassen, dass hierzu eine gewisse eigene und selbständige M i t w i r k u n g von Seiten des die Einwirkung empfangenden oder erleidenden Körpers unumgänglich erforderlich ist. Diese Mitwirkung ist ebenso nothwendig als jene erste thatkräftige Aus- und Einwirkung. Alles E r l e i d e n ist seinem Begriff nach als nichts anderes zu betrachten, denn als ein „ A u f s i c h - w i r k e n - L a s s e n " . Und in eben diesem Begriff des auf sich wirken „ L a s s e n s " liegt es schon sprachlich angedeutet, dass es sich hierbei nicht etwa um ein in sich t o d t e s , m ü s s i g e s und darum auch an sich völlig theilnahmloses oder einzig und allein nur l e i d e n d sich verhaltendes „ U b e r - s i c h e r g e h e n - L a s s e n " handelt: sondern im Gegentheil um ein eigenes, innerlich-thatkräftiges E n t g e g e n k o m m e n von Seiten des die Einwirkung erleidenden Gegenstandes, wie solches allein nur einer an sich kraft- und lebensvollen Naturwirklichkeit entsprechen kann. Das Leiden oder Erleiden darf allewege nur als ein in sich l e b e n d i g e s und t h a t k r ä f t i g e s

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 2 7

betrachtet werden, das bereit und fähig ist, auch von seiner Seite und aus eigener Machtvollkommenheit an den unmittelbaren Folgen und Wirkungen eben jener von aussen her stammenden Einwirkung m i t w i r k e n d sich zu betheiligen. Auch in den beiden Wechselbegriffen von G e b e n und Nehmen, welche den Begriffen von Wirken und Leiden so nahe verwandt sind, liegt dies^eben dargelegte Yerhältniss in dem Begriff des N e h m e n s sprachlich schon mit eingeschlossen. Denn in dem Worte „nehmen" ist seiner wahren und eigentlichen Bedeutung nach von vorneherein auch der Begriff einer dabei stattfindenden eigenen thätigen Betheiligung mit enthalten. Dies tritt in der Bezeichnung des „Annehmens" oder des „in Empfang-Nehmens" noch deutlicher hervor, gerade wie in dem Begriff des „Erleidens" gegenüber demjenigen des blossen „Leidens". Dass aber auch dem „Leiden" als Hauptwort der Begriff eines eigenen Mitwirkens nicht ganz und gar ferne liegt: dies wird alsbald ersichtlich, wenn wir das gleiche Wort als Zeitwort in das Auge fassen. „Ich mag dies wohl leiden" oder „ich mag es nicht leiden" sind, ganz gebräuchliche Redensarten, welche deutlich darthun, dass in dem richtig verstandenen Begriff von „Leiden" oder „leiden" stets auch derjenige einer selbstthätigen eigenen inneren Z u s t i m m u n g oder N i c h t z u s t i m m u n g zu dem, was wir von aussen her an uns erfahren, mit enthalten ist. Wenn J. G. F i c h t e in Bezug auf den angeborenen Gesellschaftstrieb des Menschen sagt, „dieser Trieb gehe auf W e c h s e l w i r k u n g , auf gegenseitige E i n w i r k u n g , auf gegenseitiges G e b e n und N e h m e n , auf gegenseitiges T h u n und L e i d e n ; nicht aber auf blosse (einseitige) Thätigkeit (des einen Theiles), wogegen der andere Theil sich nur leidend zu verhalten hätte" (J. G. F I C H T E VI, S. 308), so entspricht diess nicht etwa bloss unseren menschlichen Gesellschaftsverhältnissen. Es entspricht vielmehr auch ganz den ihnen verwandten, weil ihnen von Uranfang an zu Grunde liegenden Wechselverhältnissen auch des an sich zwar

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DIE natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

noch untersten, aber eben darum auch allgemeinsten Daseynsgebietes der noch rein stofflich-körperlichen Natur. „Haben die endlichen Dinge" — sagt Herbart — „der Erfahrung zu Folge jedes ein gesondertes Daseyn, so muss im Lauf der Naturwirkungen eines auf das andere wirken. Die Dinge, welche Ursachen sind oder enthalten, müssen (gewissermassen) aus sich hinausgehen oder eine Kraft aus sich binausschicken, hingeben oder loslassen. Und das L e i d e n d e muss dies Fremde in s i c h a u f n e h m e n , mit sich v e r e i n i g e n und als einen Theil oder eine Bestimmung seines eigenen Daseyns sich a n e i g n e n , so dass nun das Fremde k e i n F r e m d e s mehr sey, sondern gleich zufälligen Eigenschaften (Accidenzen) und Kräften in ihm wohne. Die LEIBNiTz'sche Schule sagt, das Leiden sey zugleich ein H a n d e l n des l e i d e n d e n W e s e n s (Substanz) selbst: so gibt es also ein Z u s a m m e n w i r k e n . " Und an einem früheren Orte bezeichnet HERBART: „Handeln (und demgemäss also auch Wirken) als dasjenige, wodurch »Veränderung eines Zustandes durch e i g e n e Kraft,« — Leiden dagegen als dasjenige, wodurch »Veränderung durch f r e m d e Kraft« hervorgerufen wird. Die Handlung (und also auch das Wirken)" — so fügt er hinzu — „ist innerlich-innewohnend (immanent), wenn sie nicht in ein anderes Naturdaseyn (Substanz) übergeht: wenn ein solcher Übergang dagegen angenommen wird, heisst sie übergehend (transient) oder E i n f l u s s " . (HERBART: III. S. 85. 198. 199; IV. S. 143.) — Vergleichen wir, um uns des bereits vorhin gebrauchten Bildes zu bedienen, das gesammte aus- und einWechselverhältniss, wirkende wie solches zwischen den beiden Einzeldingen A und B besteht, als einen von A ausgehenden und auf B abzielenden Ausfluss und Einfluss von Kraftwirksamkeit, von dem Mittel-

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 2 9

punkt a des Einzeldinges A auf den Mittelpunkt b des Einzeldinges B, wie solches die Verbindungslinie a b andeutet: so bezeichnet uns derjenige Theil der Linie ab, welcher von dem Mittelpunkt von A bis zu dessen Oberfläche reicht, den von A ausgehenden und auf B hin gerichteten K r a f t a u s f l u s s oder dessen K r a f t a u s w i r k u n g ; der andere Theil der Verbindungslinie dagegen, welcher von der Oberfläche von B zu dessen Mittelpunkt hinführt, den K r a f t e i n f l u s s oder die K r a f t e i n w i r k u n g . Der beiden Einzelwesen gemeinschaftlich zukommende Berührungspunkt c dagegen zeigt uns in Bezug auf A dessen äusseren oberflächlichen W e s e n s a u s d r u c k an, unter welchem A dem B gegenübersteht, wogegen er in Bezug auf B den ebenfall äusserlichoberflächlichen E i n d r u c k uns veranschaulicht, den B in Folge der stattfindenden K r a f t a u s w i r k u n g von A nunmehr an sich in seinem eigenen Wesensmittelpunkt als thatsächliche K r a f t e i n w i r k u n g e r f ä h r t oder e r l e i d e t . Stellt uns daher das ganze gegenseitige Wechselverhältniss in seiner dreifachen Abgliederung von der einen Seite als natürliche A u s w i r k u n g , dann als wechselseitige D u r c h w i r k u n g und von der anderen Seite als thatsächliche E i n w i r k u n g sich dar, so ergibt sich für das Einzelding B, welches jene Einwirkung an sich erfährt, folgendes Verhältniss. In dem beiden Einzeldingen gemeinsamen Berührungspunkt c empfängt B VON A den ersten Eindruck der von A ausgehenden Kraftwirksamkeit. Dieser erste an sich noch rein oberflächliche Eindruck gestaltet sich nunmehr für B zur ersten äusseren V e r a n l a s s u n g oder Anr e g u n g , um von seiner Seite jener von A ausgehenden Einwirkung den Einlass und Eintritt in das eigene innere Wesensheiligthum zu gewähren. Bestand aber jener erste oberflächliche Eindruck in c nur in äusserlicher A n r e g u n g , so gestaltet sich derselbe in dem innersten Wesensmittelpunkt von B, also in b, als dem Ursitz der gesammten diesem eigenthümlich zukommenden Wesensgrundkraft, als innerste

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechsel Verhältnissen.

K r a f t - und W e s e n s e r r e g u n g , deren unmittelbarste Folge in Bezug auf das Einzelding B nur allein in einer selbstt ä t i g e n E n t b i n d u n g gewisser besonderer bis dahin noch in Unthätigkeit befindlicher Kräfte und Fähigkeiten zu eigener Wirksamkeit besteht, entsprechend der besonderen Art und Weise von Krafteinwirkung, welche B von Seiten von A an sich erfahren hat. In eben dieser naturgesetzmässigen Entbindung und dem damit zusammenhängenden ,,In-WirksamkeitTreten" bis dahin noch schlummernder Kräfte haben wir somit das eigentliche Endziel der gesammten, seither in Betracht gezogenen Wechselverhältnisse zu erblicken. Und waren jener erste äussere Eindruck, jene erste äussere Anregung, welche von A auf B ausging, zugleich auch die nächste und ebenfalls an sich noch ä u s s e r l i c h e V e r a n l a s s u n g oder V o r b e d i n gung zu der E r r e g u n g des i n n e r s t e n W e s e n s g r u n d e s in B selbst: so bildete eben diese Erregung gleichzeitig auch für B die eigentlich-innerliche V e r a n l a s s u n g , U r s a c h e und V o r b i n d u n g zu eben jener thatkräftigen E n t b i n d u n g von K r a f t w i r k s a m k e i t e n , welche bis dahin nur als blosse Möglichkeit unthätig in B geschlummert hatten. Es ist bekanntlich ein von der heutigen Naturwissenschaft allgemein anerkannter und schon von den alten griechischen Denkern und Naturbeobachtern ausgesprochener Wahrheitssatz dass nur A h n l i c h e s auf A h n l i c h e s , oder V e r w a n d t e s auf V e r w a n d t e s einzuwirken im Stande ist (ARNOLD: Syst. d. plat. Philos. Seite 273). In Bezug auf diesen Punkt sagt Prantl in seiner Einleitung zu der ARiSTOTELEs'schen Schrift über das Entstehen und Vergehen: „Das Ausüben und Erfahren von Einwirkungen soll nach Ansicht aller Übrigen nur bei u n g l e i c h e n Dingen stattfinden, nach jener des DEMOKRIT aber nur bei gleichen. Beide Ansichten haben einseitig recht. Denn zum Behuf einer Einwirkung müssen die Dinge gewissermassen der G a t t u n g nach die n e h m l i c h e n , der A r t nach aber v e r s c h i e d e n seyn. Denn in den Arten liegen die

D er Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 3 1

Gegensätze und damit die Möglichkeit der Einwirkung. So ist das zu Grunde liegende S t o f f l i c h e das N e h m l i c h e ; der Ubergang aber in die Gegensätze enthält die V e r s c h i e d e n h e i t " (ARISTOTELES: Entstehen und Vergehen (PRANTL). Seite 344). Eben dieses an sich einander G l e i c h e und doch zugleich auch U n g l e i c h e ist aber das einander Verwandte, und ohne eine derartige innerliche Wesensverwandschaft alles natürlichen Daseyns unter sich würde ein thatsächlicher Wechselverkehr zwischen denselben in keiner Weise möglich seyn. Nur dadurch, dass ohne Ausnahme alle Naturwesen in ihren innersten Daseynsgründen als wirkliche K r a f t w e s e n sich darstellen, nur dadurch sind sie — wie Meister E c k h a r d sich ausdrückt, in ihrem Inneren auch „ g l e i c h e d e l " (BACH: Meister ECKHARD. Seite 84), oder — wie K r a u s e noch bestimmter es ausspricht — dadurch sind „alle endlichen Wesen und endliche Wesenheiten" unter sich einander „ w e s e n s ä h n l i c h " . In Folge hiervon sind sie denn auch schon in ihren innersten Naturanlagen dieser ihrer inneren Wesensähnlichkeit gemäss für einander begrifflich derart bestimmt und wesenhaft bedingt, dass „in dem Verhältniss dieser ihrer (wechselseitigen) Bedingtheit" sie sich nun auch „wechselseitig vermöge dieser ihrer Wesensähnlichkeit zu bestimmen vermögen" (KRAUSE: Vöries, üb. Syst. d. Philos. Seite 438. 439). „Von Wesen ausser mir — sagt S c h ö l l i n g — die sich mit mir im Leben auf gleichen Fuss setzen, zwischen welchen mit mir Empfangen und Geben, Leiden und Thun völlig wechselseitig ist, erkenne ich an, dass sie (ebenfalls) g e i s t i g e r A r t (also auch wesensähnlich und wesensverwandt mit mir) sind. Wie aber auf e t w a s , das nicht ursprünglich K r a f t (und damit also auch geistverwandter Art) ist, g e w i r k t werden kann, begreifen wir gar nicht" (SCHELLING II. Seite 23. 53). Und in der That, wäre nicht alle Kraft und alle Kraftäusserung, wie wir solche an den Dingen dieser Welt wahrnehmen, thatsächlich und ohne Ausnahme von irgendwelcher geistverwandter Art: es

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

wäre gar nicht abzusehen, wie dieselben, sey es unter sich oder sey es auf unser eigenes geistiges Ich, irgendwie auch nur die geringste Kraftwirksamkeit ausüben und durch deren natürliche Yermittelung in einen thatsächlichen Wechselverkehr eintreten könnten. Schliesst doch schon der blosse Begriff des Mittheilens von der einen Seite von vornherein zugleich auch den einer selbständigen Mit- und S e l b s t b e t h e i l i g u n g in sich. Ohne eigene Selbstbetätigung und Selbstbetheiligung von Seiten des eine fremde Kraftwirksamkeit an sich Erleidenden ist daher auch weder eine eigene innere Wesenserregung noch eine dadurch bewirkte und hervorgerufene Entbindung schlummernder Kräfte und Fähigkeiten zu lebendiger eigener Regsamkeit möglich. Alles innerliche E r r e g t w e r d e n ist aber als etwas, das in dem Inneren und Innersten des betreffenden Gegenstandes sich z u t r ä g t , in demselben s t a t t h a t und vor sich g e h t , in ihm g e s c h i e h t , für diesen Gegenstand selbst ein wirkliches E r e i g n i s s , ein eigentliches innerliches E r l e b n i s s oder, wie bereits erwähnt, eine thatsächlich innere W e s e n s - und L e b e n s e r f a h r u n g , welche der betreffende Gegenstand an und in sich selbst gemacht hat. Der Grad und das Maass derselben, oder deren mehr oder minder klares Bewusstwerden von Seiten des betreffenden Naturdaseyns ist nur abhängig von der mehr oder minder vergeistigten Wesens- und Daseynsstufe, welche dasselbe in dem Gesammthaushalte der Natur einnimmt. Und eben diese eigene innerliche Selbsterfahrung dessen, was durch äusserlich erfahrene Einwirkungen in einem Naturwesen vorgegangen ist, ist denn auch so recht eigentlich das, was man im gemeinen Leben als ein I n n e w e r d e n von Etwas zu bezeichnen pflegt. Aber gerade dieses natürliche Innewerden ist in seiner tieferen Bedeutung zugleich auch dasjenige, was wir mit einem vielgebräuchlichen fremden Worte als „ I n t e r e s s e " zu bezeichnen gewohnt sind. Dieses Wort stammt aus dem Lateinischen und ist seiner Wort-

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 3 3

bildung nach gleichbedeutend mit inter-esse, d. i. „Innerlichseyn"; bezeichnet demgemäss den natürlichen A n t h e i l , den wir selbst in unserem eigenen Inneren an dem nehmen, was von aussen her an uns herantritt. Daher sagt auch N o v a l i s : „Interesse ist T h e i l n a h m e an dem Leiden und der Thätigkeit eines Wesens. Mich interessirt etwas, wenn es mich zur Theilnahme zu e r r e g e n weiss" (NOVALIS III. Seite 304). Weigand übersetzt in seinem Wörterbuch der Synonymen „interessant" sowohl mit „wichtig" wie mit „ g e m ü t h l i c h " und demgemäss mit „Verlangen oder Beziehung zu sich err e g e n d " (WEIGAND: Syn. II. Seite 140). Auch F. A. W e b e r verdeutscht in seinem Handbuch der Fremdwörter „Interesse" sowohl durch „ T h e i l n a h m e " und auch durch „ R e i z " ; ,,interessiren" durch „ T h e i l n a h m e e r w e c k e n d , r e i z e n d " , und „interessant" ebenfalls durch „ r e i z e n d " oder „ w i c h t i g " (J. A. W E B E R : Handb. d. Fremdwörter. Seite 140). Und ebenso bezeichnet Aug. W e b e r den „ R e i z " als das Mittel, welches E r r e g u n g b e w i r k t . Aus allem diesem geht aber unzweideutig die begriffliche Stellung hervor, welche den verwandten Worten „Interesse", „interessiren" oder „interessant" auch für unsere gegenwärtige Untersuchung zukommt. Interesse in seiner Bedeutung als „Reiz", dadurch die innere Wesenserregung irgend eines Naturdaseyns vermittelt wird, besitzt sowohl eine ä u s s e r e wie eine i n n e r e Beziehung. Erstere weist uns auf den von aussen her stammenden und darum an sich auch noch rein oberflächlichen E i n d r u c k hin; letztere dagegen, insofern damit gleichzeitig jene innere W e s e n s e r r e g u n g selbst vermittelt und verwirklicht ist, muss als das eigentliche Schlussergebniss von Aus- und E i n w i r k u n g betrachtet werden. „Alle Weisen — sagt S p i n o z a —, wie ein Körper von einem anderen erregt (afficirt) wird, erfolgen zugleich aus der Natur des e r r e g t e n (afficirten) Körpers und aus der des e r r e g e n d e n (afficirenden), so dass ein und derselbe Körper Wandersmann. II.

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

auf verschiedene Weise bewegt (oder erregt) wird, je nach der Verschiedenheit der bewegenden Körper; und im gegentheiligen Fall so, dass verschiedene Körper von einem und demselben Körper auf verschiedene Weise bewegt (oder erregt) werden" (SPINOZA III. S. 100 [Ethik]). — Und ebenso spricht Fr. Fischer von einer „ruhenden oder vielmehr ruhigen (d. h. nur in ihrer eigenen innerlichen Verschlossenheit wirksamen) Kraft gegenüber von deren ausserordentlichen und vorübergehenden Erregungen, die wir Thätigkeiten (oder vielmehr äusserliche Wirksamkeiten) nennen" (F. FISCHEB, Natur u. Leben d. Körpers. S. 119). — So sagt auch Drossbach: Dass alle Wesen ohne Ausnahme Wirkungen von anderen aufnehmen, finden wir durch Beobachtung, weil jedes Wesen durch die Einwirkungen anderer in Unruhe, in Bewegung versetzt wird; denn es könnte nicht in Unruhe versetzt werden, wenn es nicht die Einwirkungen anderer vorher empfangen hätte, oder wenn es für diese Einwirkungen nicht empfänglich, nicht aufnahmefähig gewesen wäre". Und weiterhin: „Alle die verschiedenen Erscheinungen in der Natur verdanken ihre Entstehung den verschiedenen Kraftentfaltungen der Einzeldinge, zu welchen sie durch die Anregung und die Mitwirkung anderer getrieben werden und welche sie selbst in anderen anregen und hervorrufen" (DEOSSBACH, Genes, d. Bewussts. S. 40. 218. 219). — Und in eben diesem Sinn sagt denn auch Lotze — wie ULRICI solches berichtet — „dass nicht bloss das (augenscheinlich) Lebendige, sondern auch ein jeder einfacher Stoff wie alles Naturdaseyn (alles Seyende) überhaupt eine R e i z b a r k e i t besitzt, vermöge deren es ankommenden Einwirkungen nicht als ein völlig widerstandsloses, bloss duldendes oder leidendes Etwas (als bloss passives Material) sich zu beliebiger Gestaltung darbietet, sondern d u r c h s e i n e N a t u r das Maass (die Form) und die Grösse der Veränderungen (d. i. der Wesensregungen) mitbestimmt". Und an einem anderen Orte fügt Lotze diesen Darlegungen noch

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 3 5

weiter hinzu: „Die Befähigung oder Nöthigung, eine bestimmte Wirkung (in einem anderen Naturdaseyn) hervorzubringen, liegt niemals in der Natur (nur) eines einzelnen einheitlichen Naturwesens (Atoms) oder eines einzelnen Körpers abgeschlossen und fertig vorhanden. Wie vielmehr die Notwendigkeit eines Wirkens nur aus der g e g e n s e i t i g e n B e z i e h u n g (mindestens) zweier Grundstoffe (Elemente) hervorgeht: so liegt auch die Entscheidung darüber, ob das Eine sich z. B. anziehend oder abstossend verhalten werde, zugleich mit in der N a t u r des a n d e r e n , gegen welches es diese Thätigkeit richtet. Die G r ö s s e des Einflusses aber (oder die innere Wesenserregung), den jedes ausübt, wird ihm theils durch dasselbe Verhältniss zu der eigenthümlichen Natur seines Gegners, theils durch seine Entfernung von ihm, also durch augenblicklich obwaltende Umstände zugemessen". Und weiterhin: „Was in Einem Theil sich regte, ist nicht abgeschlossen in diesem und fremd für die übrigen. „Jede E r r e g u n g des E i n z e l n e n ist zugleich E r r e g u n g a l l e r ü b r i g e n , und jedes vermag deshalb mit seiner Wirkung auch überzugreifen in das andere" (ULRICI, Gott und Natur, S. 235, 236. LOTZE, Mikrokosm., I. S. 40. 415). — Aus allem Bisherigen geht hervor-, dass bei derartigen Wechselvorgängen nicht eigentlich die mitwirkenden K r ä f t e selbst es sind, welche aus dem einen körperlichen Stofftheil in den anderen wirklich als solche ü b e r g e h e n , sondern dass ihnen durch ihre innerlichen wie äusserlichen aus- und einwirkenden Wirksamkeiten nur allein eine natürliche V e r m i t t l e r r o l l e zukommt. Durch dieselbe wird von Seiten desjenigen Körpertheils, von welchem aus das ganze Wechselverhältniss ursprünglich eingeleitet ist, nunmehr auch der andere Körpertheil, auf welchen diese Einwirkung sich richtet, naturgemäss a n g e r e g t , sodass er nun auch seinerseits denjenigen Grad eigener innerer Wesenserregung selbstthätig in sich hervorzurufen vermag, wie dies dem gegebenen Verhältniss naturgemäss und naturgesetzmässig 3*

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

zukommt. Und so vermögen wir denn schliesslich alle diese gegenseitigen Wechselverhältnisse zwischen Auswirken und Einwirken in ihrem natürlichen Zusammenhang mit den dadurch bewirkten und hervorgerufenen natürlichen W e s e n s e r r e g u n g e n kaum anders oder besser unserer geistigen Anschauung zu vergegenwärtigen, denn als thatsächliche W e s e n s e n t z ü n d u n g e n in den innersten Wesensgründen der von aussen her erregten und beeinflussten Einzeldinge. Denn es stellen alle Wesensmittelpunkte, darinnen einerseits die in ihnen wirksamen Kräfte und die von ihnen nach aussen hin hervorgehenden Kraftwirksamkeiten ihren Ursitz haben, und auf welche andererseits alle von aussen einwirkenden Kraftbethätigungen gerichtet sind, gewissermassen die natürlichen W e s e n s b r e n n p u n k t e dar, welche unter dem Einfluss aller dieser Wechselverhältnisse nunmehr innerlich erregt und zu eigener Selbstbethätigung gleichsam e n t z ü n d e t und e n t f l a m m t werden. Sagen wir doch auch in ganz ähnlicher Weise von einem recht herzlichen Händedruck, dass er im Innern unserer eigenen Seele gezündet habe; oder dass ein Gedanke in andern Geistern zu zünden vermöge und neue Gedanken in ihnen wach- und hervorzurufen im Stande sey. Und so vermag denn auch in diesem Fall das Höhere, das wir auf den Gebieten unseres eigenen Seelen- und Geisteslebens an uns selbst erfahren können, als ein S p i e g e l und als eine E r k l ä r u n g zu dienen für das, was auf einem niederen Daseynsgebiet unserer unmittelbaren Erfahrung als verhüllt und unzugänglich sich darstellt. Wie aber schon jene noch rein innerlichen Kraftwirksamkeiten, darauf das wesenhafte Daseyn der Dinge sich gründet, für unser beschränktes menschliches Erkenntnissvermögen als eine geheimnissvolle Z a u b e r k r a f t , als ein natürliches W u n der sich darstellen musste: ganz ebenso ist nun das Gleiche der Fall in Bezug auf diese gegenseitigen Aus- und Einwirkungen von Kräften, dadurch die einzelnen Naturdinge sich

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wechselseitig in ihren tiefsten inneren Wesensgründen zu erregen, und in Folge dessen vorher nicht zu Tage getretene Wirkungs- und Erscheinungsweisen zu veranlassen im Stande sind. Diesen gesammten gegenseitigen Wechselverkehr, wie er sich schon für das unterste und noch allgemeinste aller natürlichen Daseynsgebiete unverkennbar kund gibt, und wodurch die einzelnen Naturdinge über ihre eigene innere Leiblichkeit und damit zugleich über ihren eigenen inneren Wirkungskreis hinaus in fremde Wirkungskreise, Leiblichkeiten und Körperlichkeiten hinein zu wirken befähigt sind, wissen wir daher in der That kaum besser zu bezeichnen, als eben durch jenes so geheimnissvolle, trotz alledem aber für uns Menschen so anziehende und so bedeutungsvolle Wort „ Z a u b e r " . Denn wie der Blick des menschlichen Auges, wie die Erfahrung dies so vielfach zeigt, nicht nur auf Menschen, sondern selbst auf Thiere einen wunderbaren, weil in seinen einzelnen Anlässen und Vorgängen uns unerklärbaren Eindruck zu machen im Stande ist, den wir kaum besser als durch die Worte „Zauber" oder „Bezauberung" näher zu bezeichnen vermögen: ganz ebenso findet ein sehr Ahnliches, um nicht zu sagen Gleiches, statt auch in Bezug auf eben jene Vorgänge und Thatsachen im Bereiche der noch ungestalteten Natur, dem Gegenstand unserer gegenwärtigen Betrachtung. Auch hier finden wir durch jene geheimnissvollen Wesenserregungen aus dem tiefsten und verborgensten Innersten der Dinge Kräfte, die hier bis dahin unthätig und wie in Schlummer gefesselt lagen, mit Einem Schlag, wie durch ein Zauberwort e n t f e s s e l t , h e r v o r g e l o c k t und h e r v o r g e z a u b e r t , an das helle Licht des Tages treten und so unserer sinnlichen Wahrnehmung zugänglich werden. Wir erinnern zur besseren Veranschaulichung eben dieser Verhältnisse beispielsweise nur an die elektrischen Erregungen, in welche körperliche Dinge je nach ihrer besonderen Wesensart und Wesensbeschaffenheit durch bloss wechselseitige Reibung oder Berührung mit andern Körpern versetzt werden.

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Und so erscheinen denn auch alle jene wechselseitigen Kraftauswirkungen und Krafteinwirkungen, auf welchem besonderen Daseynsgebiet sie auch vorkommen mögen, im vollen Sinne des Wortes für uns z a u b e r h a f t , und zwar ebensowohl in Bezug auf den Theil, von dem eine Anregung hierzu ausgeht, als auf denjenigen, welcher sie an sich erfährt. Und eben hierin müssen wir denn auch schliesslich den ersten an sich tief verborgenen Grund für einen jeden so w u n d e r b a r e n Z a u b e r erblicken, welchen alles Naturdaseyn ohne Ausnahme nicht nur auf den denkenden Geist, sondern zugleich auch ebensosehr auf das Gemüth und das innere Gefühl des Menschen von jeher ausübt.

N o . 95. Die innere Wesenserregung als innere Kraftentbindung zu eigener inneren Kraftbethätigung gegenüber den von aussen erfahrenen KrafteinWirkungen. Jene tief-innerlichen W e s e n s e r r e g u n g e n , denen alle Naturdinge und Naturwesen ohne Ausnahme, wie wir eben gesehen, in ihrem natürlichen Wechselverkehr mit der Aussenwelt unausweichlich unterworfen sind, können nun aber auch an sich unmöglich ohne alle und jede weitere Folge bleiben in Bezug auf die inneren Wesensverhältnisse eben des Naturdaseyns selber, welches irgend eine Einwirkung von Aussen und durch diese auch eben jene Wesenserregung in sich selbst erfahren hat. Finden wir uns aber durch alle jene Naturerscheinungen dazu aufgefordert, auch nach der besonderen Art und Weise eben jener Vorgänge uns umzusehen, welche als natürliche Folge einer jeden derartigen inneren Wesenserregung eintreten müssen: so bleibt uns hierfür nur Eine Antwort. Und eben diese Antwort muss als eine um so richtigere und den gegebenen Verhältnissen entsprechendere von uns betrachtet werden, als sie bei genauer Beobachtung nicht nur in der uns umgebenden Natur, sondern auch in unserem

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eigenen Inneren den ganz natürlichen Erfahrungsbeweis für sich hat. Diese Antwort lautet: Die natürliche Folge einer jeden derartigen inneren Wesenserregung kann in Bezug auf eben das Naturwesen, welches dieselbe an sich erfahren, keine andere seyn, als allein nur eine thatsächliche i n n e r l i c h e E r r e g u n g u n d E r w e c k u n g von b i s d a h i n im e i g e n e n I n neren gebunden liegenden K r ä f t e n und F ä h i g k e i t e n zu e i n e r n u n m e h r e i g e n e n l e b e n s k r ä f t i g e n W i r k s a m k e i t . Ganz in diesem Sinne sagt D a h l b e r g : „Jedes Wesen hat verschiedene Eigenschaften. Diese Eigenschaften sind (zum Theil wenigstens) schlafend, bis gewisse Verhältnisse in Bezug auf ihre Mitwesen (Verhältnisse der Coexistenz) sie rege machen. Dann erst werden sie l e b e n d i g e K r a f t " (DAHLBERG: Univers. Seite 13). Und ebenso sagt L o t z e , dass von mancherlei Kräften, die „fertig aber unthätig in den Einzeldingen (Atomen) schlummeru, in jedem Augenblick diejenigen zur Ausübung kommen, die in den eben vorhandenen Umständen die B e d i n g u n g e n ihrer W e c k u n g finden" (LOTZE: Mikrokosm. Seite 43). Alle diese Thatsachen dürfen aber keinesfalls in dem Sinn aufgefasst werden, als ob bei derartigen wechselseitigen Vorgängen jemals von einem wirklichen K r a f t ü b e r g a n g aus dem einen Einzelding in das andere, von einer thatsächlichen K r a f t a b g a b e oder K r a f t m i t t h e i l u n g von Seiten des einen oder von einer K r a f t a u f n a h m e von Seiten des anderen die Rede seyn kann. K e i n e K r a f t a l s s o l c h e wird zugeführt, abgegeben oder mitgetheilt. Nur bis dahin schlummernde oder in Unwirksamkeit gebundene Kräfte werden in Folge von aussen her herantretender Anregung oder Heizung zu nunmehriger eigenen Bethätigung innerlich e r r e g t und b e s t i m m t zu e i g e n e r i n n e r e n S e l b s t b e t h ä t i g u n g . Läge nicht die natürliche Befähigung zu allem diesem von Uranfang an in den Dingen selber, welche jene Einwirkungen an sich erfahren, so dass sie nur der äusserlichen Anreizung zur Entbindung

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

bis dahin gebundener Kräfte oder Fähigkeiten zu harren brauchen, damit diese Umwandlung auch in Wirklichkeit sich vollziehe: eine andere fremde Kraft würde niemals dazu im Stande seyn. Eine jede Naturkraft, gleichviel ob in gebundenem oder wirksamem Zustand, hat allewege ihren einheitlichen naturgesetzmässigen Ursitz in dem natürlichen Wesensmittelpunkt eben des einzelnen und in sich selbständigen Naturdaseyns, welchem sie als innerstes Wesenseigenthum von Uranfang an zukommt. Nur in diesem einheitlichen kraftbegabten Wesensmittelpunkt der Dinge kann eine wirkliche innere Entbindung und Bethätigung bis dahin gebundener und unwirksamer Kräfte vor sich gehen. Ganz das Gleiche muss nothwendig auch in Bezug auf diejenigen besonderen Kräfte und Fähigkeiten gelten, welche nicht wie jene allgemeinen einheitlichen Grundund Daseynskräfte der Dinge ohne Unterlass im Inneren der betreffenden Dinge sich wirksam erweisen und deren zeitlichen Bestand bedingen, sondern nur unter der äusserlichen Mitwirkung ganz besonderer Umstände und Verhältnisse im Verlaufe des allgemeinen Naturzusammenhanges zu eigener Bethätigung gelangen. Aber hier liegt denn auch der alleinige innere Knotenpunkt, wo und wodurch die ursprünglich immerhin mehr in einer bloss l e i d e n d e n W e i s e aufgenommenen Einwirkung nun plötzlich u m z u s c h l a g e n vermag in vollgültige eigene S e l b s t b e t h ä t i g u n g von Seiten desjenigen Naturwesens, welche eine derartige Einwirkung von aussen her an sich erfahren hat. Wir haben bereits an einem früheren Ort darauf hingewiesen, wie schon der allgemeine Sprachgebrauch uns als ein Fingerzeig dafür gelten darf, dass mit dem Begriff des L e i d e n s oder des äusserlich-innerlichen E r f a h r e n s an sich s e l b e r gleichzeitig ein gewisser Anklang auch von eigener innerer S e l b s t b e t h e i l i g u n g unverkennbar verbunden ist. Aber nunmehr müssen wir noch bestimmter darauf hinweisen,

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 4 1

wie sehr gerade unsere deutsche Sprache zwischen einer wirklich l e i d e n d e n oder p a s s i v e n und einer wirklich t h ä t i g e n oder a c t i v e n Bedeutung des Wortes „Leiden" unterscheidet. W e i g a n d umschreibt die eigentlich leidende Bedeutung als das „Empfinden eines Übels, was man nicht abwenden k a n n oder nicht abwenden will: überhaupt als ein u n t h ä t i g e s G e s c h e h e n l a s s e n oder u n t h ä t i g e s Z u l a s s e n , es mag Unangenehmes oder Angenehmes seyn." Die thätige Bedeutung bezeichnet er als „eine Einwirkung auf sich z u l a s s e n , sowohl in Beziehung auf ein Unangenehmes wie ein Angenehmes." In der ersteren Bedeutung des Wortes nähert sich demnach der Begriff des Leidens dem des Duldens, nur mit der Unterscheidung — bemerkt WEIGAND — dass der Begriff des Leidens sowohl auf Unangenehmes wie Angenehmes Bezug nimmt, der Begriff des Duldens oder Ertragens nur auf Unangenehmes, das man ohne vorsätzliche Gegenwirkung zulässt oder über sich ergehen lässt (WEIGAND a. a. 0 . II. Seite 299). In beiden Fällen, d. h. sowohl für den Begriff von Leiden wie für Dulden, muss es aber als bezeichnend betrachtet werden, dass sie aus ihrer leidentlichen Bedeutung in die thätige übergehen, sobald sie im verneinendem Sinne gebraucht werden; z. B. „das leide ich nicht", oder „das dulde ich nicht", d. h. das kann ich nicht erlauben, nicht gestatten, nicht zugeben; „das v e r b i e t e ich also und muss mich ihm nöthigenfalls w i d e r s e t z e n " . Dagegen findet das Wort „Leiden", auch ohne Verneinung, Anwendung in seiner thätigen Bedeutung, wenn wir z. B. sagen, dass wir „jemanden gut oder nicht gut leiden mögen", d. h. dass wir ihm unsere Zuneigung e n t g e g e n b r i n g e n oder nicht, und demzufolge auch gerne oder nicht gerne mit ihm u m g e h e n und v e r k e h r e n . Kommen wir von dieser sprachlichen Abschweifung nunmehr wieder zurück zum eigentlichen Gegenstande, der uns dazu veranlasste, so ist die Nutzanwendung auf denselben wohl kaum zu verkennen. Jene äussere Einwirkung, welche

42

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

in dem ersten äusseren Anstoss, den sie auf die Oberfläche des betreffenden stofflich-körperlichen Einzelwesens ausübte, und durch den sie gleichsam Einlass in dessen Inneres begehrte, ward zwar anfangs im leidentlichen Sinn zugelassen; aber schon in der aus eben dieser leidentlichen Zulassung gleichzeitig mit hervorgegangenen inneren Wesenserregung und mit der damit verschwisterten innerlichen Kraftentbindung sehen wir jenes frühere leidentliche Zulassen übergehen in die vollgültigste eigene innerliche Selbstbethätigung. Mit vollem Eecht sagt daher Leibnitz, dass „alles was leidet, auch umgekehrt handeln müsse", weil — wie er ausdrücklich hinzufügt — „alles Leiden des natürlichen Wesens (der Substanz) im Grunde nur ein ebenso grosses H a n d e l n aus sich" sey (BORNEMANN: Raum und Zeit IL Seite 161). Und in ganz ähnlichem Sinne sagt auch J. G. Fichte, dass aller Naturtrieb oder Naturdrang „auf Wechselwirkung, d. h. auf gegenseitiges Einwirken, auf gegenseitiges Geben und Nehmen, auf gegenseitiges Leiden und Thun gehe, und nicht auf eine bloss äusserliche Verkettung von Ursachen und Wirkungen (auf blosse Causalität), nicht (einseitig) auf blosse T h ä t i g k e i t , bei welcher der andere Theil nur leidend sich zu verhalten hätte ( J . G. FICHTE VI. Seite 308). Auf den ersten Anblick könnte es scheinen, als ob dieser Ausspruch einen Widerspruch in sich enthielte. Dem ist aber in der That nicht so. Denn ist es nicht in den natürlichen Dingen eine und dieselbe Grundkraft, welche in dem einen Fall als ausdehnende Kraft oder als ein kraftwirksames Streben von innen heraus nach der Weite, in dem andern Fall aber gerade umgekehrt als zusammenziehende Kraft, d. h. als thatkräftiges Streben von aussen herein nach innen sich kundgiebt? In einem ganz ähnlichen Verhältniss aber, wie in diesem Beispiel ausdehnende und zusammenziehende Kraftwirksamkeit zu einander stehen: in ganz demselben Verhältniss stehen auch die Begriffe und die Wirkungsrichtungen von T h ä t i g k e i t und von Leiden zu

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 4 3

einander; die T h ä t i g k e i t als von dem innersten Wesensgrund aus nach aussen hin wirksam, das L e i d e n aber als von dem Ausseren nach dem gleichen innersten Wesensgrund, als dem einheitlichen Urgrund aller und jeder Kraftwirksamkeiten ohne Ausnahme abzielend. Schon das blosse A u f n e h m e n der von aussen herantretenden fremden Kraftwirksamkeit und der in ihr ruhenden Wirkungs- und Anregungsbefähigung in das eigene Innere, schon dieses noch scheinbar völlig leidentliche „In-sich-wirken-Lassen" schliesst den natürlichen Keim und ersten Anfang, wir möchten sagen das erste Dämmerlicht, auch einer eigenen selbstthätigen M i t w i r k u n g schon bei dem ersten Einlass jener fremden Einwirkung in sich ein. „Die Thatsache der inneren Wesenserregungen (Sensationen) — sagt Huber — beweist, dass die Wechselwirkung der natürlichen Einzeldinge (der Atome) nicht bloss in äusserlich-körperlichen (bloss mechanischen) Bewegungserscheinungen aufgeht, sondern dass die Dinge (durch ihre natürliche Einwirkungs- und Aufnahmefähigkeit) auch zu einer Art von (thatkräftiger) Einwohnung in eineinander gelangen können. Die Wechselwirkung ist überhaupt nur möglich, insofern die Dinge auch eine (lebendige und von eigener Kraftbethätigung erfüllte) Innerlichkeit besitzen und nicht bloss an sich, sondern auch in sich eine Einwirkung erfahren und gegen dieselbe (selbsthätig auch) zurückwirken (reagiren) können" (HUBEE: Forschen n. d. Mat. Seite 70).

N o . 9 6 . Die natürlichen Wechselwirkungen in ihren beiden naturnothwendigen Gegensätzen von Einwirkung und Rückwirkung. Wird eine weiche Kugel, etwa ein Apfel, von einem Pfeil dergestalt durchschossen, dass dieser Letztere genau durch den Mittelpunkt der Kugel hindurch geht: so ist die Bewegung des Pfeiles von dem Augenblick an, wo dessen Spitze die

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Kugeloberfläche berührt und hier in dieselbe eindringt, bis zu dem, wo die Spitze des Pfeiles den Mittelpunkt der Kugel erreicht hat, von der Oberfläche der Kugel nach deren Mittelpunkt gerichtet. Von dem Augenblick an, wo die Spitze des Pfeiles den Mittelpunkt der Kugel überschritten hat, findet das umgekehrte Verhältniss statt; der Pfeil bewegt sich nunmehr von dem Mittelpunkt aus nach der Oberfläche, durch welche er dann wieder, falls die Kugel an einem anderen festen Gegenstand gehörig befestigt ist, wieder zur Kugel hinaus geht. Es ist uns hierin gewissermassen ein Sinnbild dafür gegeben, was im Innern eines jeden einzelnen Naturdaseyns vorgeht, wenn es in Wechselwirkung mit einem anderen Naturdaseyn sich befindet. Der Pfeil in seiner Bewegung von der Oberfläche der Kugel bis zu deren Mittelpunkt versinnlicht uns die natürliche E i n w i r k u n g , welche ein Naturdaseyn von einem anderen erfährt. Das Erreichen des Kugelmittelpunktes durch die Spitze des Pfeiles weist uns dagegen hin auf jenen Augenblick, da der innere Wesensmittelpunkt des betreffenden Einzeldinges die erste und noch unmittelbarste eigene innere W e s e n s r e g u n g an sich erfährt, und zwar als Wesenserregung, die mit einer gleichzeitigen E n t b i n d u n g und B e t h ä t i g u n g von bis dahin im Inneren dieses Körpertheils unthätigen Kräften und Fähigkeiten naturgemäss Hand in Hand geht. Mit eben dieser Kraftentbindung tritt nun auch gleichzeitig das eigene innere Wesen des betreffenden Naturdinges in ein ganz verändertes Verhältniss gegenüber jener Kraftein Wirkung, welche es von aussen her an sich erfahren. Während es vor der eigenen Kraftentbindung dieser gegenüber in einem mehr l e i d e n t l i c h e n Verhalten sich b e f u n d e n , ist es nunmehr übergegangen zu vollgültiger eigenen inneren S e l b s t b e t h ä t i g u n g . Es hat somit in Folge des beiderseitigen Gegensatzes, in welchem die Begriffe von Thätigkeit und Leiden zu einander stehen, in dieser Beziehung ein wirklicher H i c h t u n g s w e c h s e l in Bezug auf die eigene

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 4 5

innere Kraftwirksamkeit des betreffenden Einzelwesens sich vollzogen. War die von aussen her erfahrene Krafteinwirkung von der O b e r f l ä c h e n a c h dem W e s e n s m i t t e l p u n k t , als dem einheitlichen Ursitz der gesammten eigenen Kraft- und Fähigkeitsfülle, gerichtet: so mussten nunmehr die zu eigener Kraftbethätigung erwachten Fähigkeiten in ihrer eigenen Wirksamkeit als von dem innersten W e s e n s m i t t e l p u n k t n a c h der O b e r f l ä c h e gerichtet sich erweisen. Ganz die entsprechenden Verhältnisse gewahren wir jedoch auch bei dem den Kugelmittelpunkt durcheilenden Pfeil. Denn findet hier auch der Durchgang vom Eintritt bis zum Austritt in gerader Linie, also für den Pfeil selbst in völlig unveränderter Richtung statt: so ist dies doch in Bezug auf die Kugel, durch welche er hindurchgeht, ein ganz anderes Yerhältniss. Es zeigt sich nämlich auch hier der erste Theil des Durchganges von der Oberfläche zum Mittelpunkt, der zweite Theil dagegen umgekehrt vom Mittelpunkt zur Oberfläche gerichtet. Wir haben also auch hier einen ganz ähnlichen Richtungswechsel, wie solcher uns soeben in Bezug auf das innerliche Wechselverhältniss zwischen erfahrener E i n w i r k u n g von aussen nach innen, und der daraus hervorgehenden selbstthätigen R ü c k w i r k u n g von innen nach aussen unverkennbar entgegentritt. Doch hiermit sind wir nunmehr auch an dem Punkt angelangt, wo es heisst, dass „ein jeder Vergleich hinkt". Denn von einer eigentlichen „Rückwirkung" kann, wie wir gesehen, bei dem die Kugel durchschneidenden Pfeil in Folge der thatsächlichen Nichtveränderung seiner. Gesammtrichtung in keiner Weise die Rede seyn. In den Wechselverhältnissen und Wechselwirkungen der Natur dagegen, wo der einheitliche Wesensmittelpunkt auch gleichzeitig den einheitlichen Ursitz aller dem betreffenden Naturwesen innewohnenden, sowohl unmittelbar und ununterbrochen wirksamen, wie gebundenen und nur unter besonderen Verhältnissen in Wirksamkeit tretenden Kraftfülle bildet, muss auch eine jede neu hervorgerufene

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Kraftentzündung oder Kraftbethätigung als gleichmässig nach allen Seiten und Richtungen um ihren innersten Ursitz herum wirksam sich erweisen. Zwar ist unter allen diesen vielfachen Eichtungen auch die der ersten Einwirkungslinie gerade gegenüberliegende, welche der unveränderten Richtung des Pfeiles entsprechen würde, nicht ausgeschlossen; aber es kommen ihr keinerlei Vorrechte zu gegenüber allen anderen vom Mittelpunkt strahlenförmig ausgehenden sonstigen Richtungen, unter denen selbstverständlich auch jene sich befinden muss, welche mit der eigentlichen Eintrittsrichtung der stattgehabten Krafteinwirkung von aussen in Eins zusammenfällt. Und von diesem Gesichtspunkt aus zeigt es sich daher auch vollkommen berechtigt, wenn bis dahin noch unthätige Kräfte in Folge der im Wechselverkehr der Dinge erfahrenen Krafteinwirkungen im Gegensatz zu diesen letzteren allgemein als R ü c k w i r k u n g e n pflegen bezeichnet zu werden. Wo Auswirkung ist: da ist auch allewege Einwirkung; und wo umgekehrt Einwirkung ist: da ist allewege auch Auswirkung. Beide sind in der Natur ebenso untrennbar an einander gebunden und mit einander verbunden, wie Inneres mit Äusserem und Äusseres mit Innerem. Daher denn auch sowohl für die Natur- wie für die Vernunftwissenschaft der allgemein anerkannte Grundsatz, dass in dem gesammten Haushalte der Natur „ j e d e r W i r k u n g a u c h s t e t s i h r e G e g e n w i r k u n g " zukommt, oder wie man sich auch vielfach ausdrückt, dass „ j e d e A c t i o n von i h r e r R e a c t i o n " müsse begleitet seyn. Keines von beiden kann einseitig für sich allein und ohne das Andere, als seinen naturgemässen G e g e n s a t z auftreten. Und wie die Wirkung stets ihrer Ursache entsprechen muss: ganz ebenso auch die Rückwirkung der ursprünglichen Einwirkung, aus welcher sie hervorgegangen. Daher müssen auch beide Gegensätze an sich und ohne Rücksicht auf die Mitwirkung etwaiger anderer störenden Einflüsse in Bezug auf das natürliche Maass ihrer gegenseitigen Kraft-

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 4 7

Wirksamkeiten allewege als völlig g l e i c k w e r t h i g betrachtet werden. (ARISTOTELES, Himmelsgeb. S. 121. W E E N E R , Thom. v. Aquino II. S. 234, 235. BÄUMANN, Raum u. Zeit II. S. 410. H E G E L , XVIII. S. 107 I. S. 363. SCHELLING, III. S. 418. MOLITOR, Gesch. d. Philos. IV. S. 136. BAADER, VIII. S. 221. XII. S. 186. W I E N E R , Grundz. d. Weltord. S . 22. SPILLER, Urkraft S. 40.) „Das Seyn in Gesellschaft — sagt Dl*0SSbach — ist nothwendig E i n w i r k u n g und R ü c k w i r k u n g (Action und Reaction). Denn es liegt in der Beschaffenheit, in der Verfassung der Natur, als einer Vielheit lebendiger Wesen, das gegenseitige Geben und Empfangen ihrer Wirkungen. Wo daher eine Mehrheit lebendiger Wesen, da ist ein gegenseitiges H i n g e b e n und E m p f a n g e n , E i n w i r k e n und Gegenwirken (oder Zurückwirken)". Und wenn DROSSBACH weiterhin eben dieses Wechselverhältniss von Hingeben und Entgegennehmen, von Einwirkung und Rückwirkung zwischen einfachen Naturwesen als eine „ K r a f t e n t w i c k e l u n g in zwei entgegengesetzten Richtungen" bezeichnet, und dabei ausdrücklich noch hervorhebt, dass nicht „allein das Empfangen zur Entwickelung gehöre, sondern auch das Ausüben (oder Rückwirken)" (DROSSBACH a. a. 0. 88, 172): so stimmt dies völlig, wie wir gesehen, mit der Naturwirklichkeit überein, insofern ja eben die von aussen her empfangene Krafteinwirkung es ist, durch-welche bis dahin noch gebundene innere Kraftbefähigung nunmehr auch zu eigener Rück- und Gegenwirkung veranlasst werden.

N o . 97. Die rückwirkende Kraft als innerlich - natürlicher Grund für gleichzeitige Veränderungen in den inneren Wesenszuständen der Dinge. Schon in jener inneren W e s e n s e r r e g u n g , welche eine jede von aussen herstammende Krafteinwirkung mit N o t wendigkeit in ihrem Gefolge haben muss, lag eine V e r ä n d e -

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

r u n g , wenn auch vorerst nur im tiefsten innersten Wesensinittelpunkt des betreifenden Einzelwesens mit eingeschlossen. Denn es kann in nichts eine besondere Erregung eintreten, das nicht vorher vergleichungsweise wenigstens in einer gewissen Ruhe sich befunden hätte. Zwar muss alles innerliche Wirken und Walten jener Daseyn und Wesen wirkenden Urund Grundkraft der Dinge an, in und für sich als ein thatsächlich innerliches R e g e n und B e w e g e n einer innerlich wirksamen Kraft betrachtet werden. Allein ohne besondere Einwirkungen von aussen fehlt aller Grund zu irgendwelcher Veränderung in eben dem inneren Wesenszustand, in welchem das betreffende Ding in vollkommen uranfänglicher Weise ein für allemal sich befindet. Erst in Folge des steten Wechselverkehres, in welchem eine jede Vielheit von endlichen Dingen verschiedener inneren Wesensarten sich jederzeit befinden muss, ist es möglich, dass in Bezug auf eben jenes uranfängliche Grundverhältniss zwischen jener einheitlichen Grundkraft und deren unmittelbarer Kraftwirksamkeit eines Naturwesens in irgend einer Weise von einer R e g u n g s v e r ä n d e r u n g , sey es in erhöhender oder in herabstimmender Richtung, wirklich die Rede seyn kann. Dies wird erst möglich, wenn im lebendigen Wechselverkehr der Dinge unter einander und in Folge dadurch bewirkter Einwirkungen von aussen her eben jene ursprüngliche innere Wesens- und Lebensregung nunmehr auch zu einer eigentlichen W e s e n s e r r e g u n g , und dadurch im ursprünglichen Wesenszustand eines Dinges eine thatsächliche U m w a n d l u n g oder V e r ä n d e r u n g vor sich gegangen ist. Und so ist also durch jede derartige neue Wesenserregung im inneren Wesensgrund der Dinge auch zugleich der damit Hand in Hand gehenden und ihr genau entsprechenden thatsächlichen V e r ä n d e r u n g auch in Bezug auf den inneren W e s e n s z u s t a n d der erste innere Anstoss gegeben. Das natürliche Mittel hierzu bildet aber die mit einer jeden derartigen inneren Wesenserregung verbundene innere F r e i -

Der Wechselverkchr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 4 9

w e r d u n g bis dahin gebundener Kraftfähigkeiten im einheitlichen Kraftmittelpunkt der Dinge. Und dadurch schreiten nunmehr, im Gegensatz zu der erfahrenen Einwirkung von aussen, sowohl die ursprüngliche Wesen und Daseyn begründende Kraftwirksamkeit wie auch die durch die stattgehabte Kraftentbindung hinzugekommene neue Kraftwirksamkeit gemeinschaftlich vom Mittelpunkt zur Oberfläche gerichtet voran. Erst in und mit diesem inneren R i c h t u n g s Wechsel zwischen der vorangegangenen E i n w i r k u n g ihrer nunmehr erfolgten R ü c k w i r k u n g hat auch der damit in Eins zusammenfallende, weil untrennbar damit verbundene innere Z u s t a n d s w e c h s e l seine vollgültige Verwirklichung gefunden. Schon A r i s t o t e l e s erblickte den wahren Grund der V e r ä n d e r u n g e n , die wir an den Dingen wahrnehmen, nur in den E i n w i r k u n g e n von aussen (ABISTOTELES: Entstehen und Vergehen. Seite 435). Und ebenso findet sich auch bei PLOTIN die Uberzeugung ausgesprochen, dass eine Veränderung sich nicht immer auf ein bloss Ausserliches zu beziehen brauche; dieselbe sey vielmehr oft nur eine V e r w a n d e l u a g des Z u s t a n d e s eines Naturwesens (Subjectes) und erscheine in diesem Fall als die einfache V e r w i r k l i c h u n g einer in ihm ruhenden blossen M ö g l i c h k e i t (zu eben solchem Zustandswechsel)" (KIRCHNER: Plotin. Seite 93). Auch K a n t erkennt diese „Veränderungen" in den inneren Wesenszuständen der Dinge ausdrücklich an unter der Hinzufügung, dass sie als eine natürliche Folge der naturgesetzmässigen „Verknüpfung von Ursache und Wirkung" zu betrachten seyen (KANT II. Seite 195). Und wenn J a c o b i die mit jenen Wechselverhältnissen verbundenen Krafteinwirkungen als ein „ E i n - und U m b i l d e n " bezeichnet, so kann auch diese Ausdrucksweise augenscheinlich nur auf eine Anerkennung einer durch jene Einwirkungen hervorgerufenen thatsächlichen Umbildung bisheriger Wesenszustände in einen entsprechenden neuen Wesenszustand sich beziehen (JAKOBI I. Seite 288). — „ H a n d l u n g Wandersmann.

II.

4

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechsel Verhältnissen.

— sagt Herbart — „ist V e r ä n d e r u n g des Z u s t a n d e s durch eigene Kraft, L e i d e n durch f r e m d e Kraft. Die Handlung ist innewohnend (immanent), wo sie nicht in ein anderes Naturdaseyn (Substanz) übergeht: hingegen wenn ein solcher Übergang stattfindet, heisst er übergehend (transcendent) oder Einfluss (HERBAKT III. Seite 85). Hegel sagt: „Was etwas an sich seyn soll, das ist seine (innere Wesens-) Bestimmung als (Selbst-)Zweck. Was es aber f ü r A n d e r e s i s t . wie es also mit Anderem zusammenhängt, also an sich auch d u r c h A n d e r e s gesetzt (d. i. bestimmt oder beeinflusst) ist, so ist seine W e s e n s b e s c h a f f e n h e i t " . Dass die Bezeichnung „Wesensbeschaffenheit" in diesem Fall für gleichwerthig zu erachten ist mit den von äusseren Umständen und Einwirkungen mit beeinflussten und darum auch allewege dem Wechsel unterworfenen inneren Wesenszuständen: dies ergibt sich aus dem gesammten Gedankengang, wie er in diesem Ausspruch zu Tage tritt (HEGEL XVIII. Seite 96). Und ebenso wird es auch von Seiten Sc Helling's bestimmt und ausdrücklich anerkannt, dass nur in Folge „ihrer Wechselwirkungen unter einander die Körper sich verändern" und also auch zu solchen Veränderungen in ihrem eigenen Inneren befähigt seyn müssen (SCHELLING IV. Seite 43). — „Wäre der thätige und angeborene innerliche Wesensgrund (Princip) der Körper ein einiger oder der n e h m l i c h e in der ganzen Natur: — sagt Baader — so müsst« er auch überall e i n f ö r m i g (d. h. allenthalben in ein und derselben und überall gleichen WTeise) wirken, und in den verschiedensten, (d. h. nur räumlich- und örtlich von einander geschiedenen, sonst aber innerlich einander völlig gleichgearteten) Körpern ohne Unterlass einf ö r m i g (weil in völlig gleicher Weise) zum Vorschein kommen" (BAADER XII. Seite 118). — Auch durch diesen Ausspruch findet sich somit die Thatsache anerkannt, dass nur in den Unterschiedenheiten der natürlichen Dinge in Bezug auf ihre besondere innere Wesensart der Grund und der Schlüssel kann

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 51

gefunden werden nicht nur für einen jeden thatsächlichen Wechsel verkehr, für eine jede gegenseitige Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Einzeldingen, sondern gleichzeitig damit für jeden zu Tage tretenden inneren Zustandswechsel, der uns in unserem eigenen Verkehr mit der übrigen Natur allenthalben entgegentritt. Wenn alle Kräfte durchweg einander völlig gleich wären, und demgemäss auch alle Ein- und Auswirkungen von Kräften völlig gleich seyn müssten: so bliebe folgerichtig alles immerdar beim Alten, und von irgend welcher Veränderung im allgemeinen Naturverlauf vermöchte nirgends auch nur die leiseste Spur zu finden seyn. Daher sagte auch K. V. Dahlberg in ganz dem gleichen Sinne wie Schölling, dass „die eigentümliche (individuelle) Mannigfaltigkeit (in den äusseren Erscheinungsweisen der Dinge) darin liege, dass in jedem Wesen immer nur ein T h e i l seiner Eigenschaften lebt: wären die Letzteren i m m e r und alle l e b e n d e K r a f t , so liesse sich auch k e i n e Ä n d e r u n g denken" (Dahlberg: Univ. Seite 9). — Sehr treffend sagt Lotze: „Die Bedingungen für die Entstehung eines Ereignisses liegen niemals vollständig in der Natur eines einzigen Dinges, sondern stets in Verhältnissen, in welchen m e h r e r e Dinge gegen einander gerathen. Eingetreten in eine bestimmte gegenseitige Beziehung können die verschiedenen Eigenschaften, welche die wesentliche Natur eines Dinges bilden, n i c h t g l e i c h g ü l t i g fortbestehen (fortexistiren); sondern die allgemeinen Gesetze der Natur knüpfen an diesen Zusammenhang die Entstehung eines n e u e n Z u s t a n d e s oder (was im Grunde ja dasselbe ist) eines neuen Ereignisses" (Ulbici: Gott und Natur. Seite 40. L o t z e : Allg. Phys. d. körp. Lebens. Seite 85ff.). Und ebenso vernehmen wir auch Ulrici. „Alle Kräfte und Stoffe — sagt er — sind (vielfach) in so ferne bedingte Kräfte oder blosse V e r m ö g e n , als sie nur unter Bedingungen, d. h. unter bestimmten U m s t ä n d e n und V e r h ä l t n i s s e n im G e g e n ü b e r - oder Z u s a m m e n t r e t e n , sowie im Z u s a m m e n -

52

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

w i r k e n mit anderen Stoffen und Kräften zu (eigener und selbstthätiger) Wirksamkeit kommen. Dies aber setzt ein Ü b e r g e h e n a u s U n t h ä t i g k e i t in T h ä t i g k e i t und somit nothwendig eine V e r ä n d e r u n g in den Stoffen selbst voraus. Eine unbedingte (absolute) Unveränderlichkeit der stofflichkörperlichen Einzelwesen (Atome), wie solche gegenwärtig die meisten Naturforscher annehmen, kann mithin n i c h t behauptet werden. Warum aber, so müssen wir fragen, soll es nicht Kräfte geben können, die a l s K r ä f t e v e r ä n d e r l i c h sind oder durch die Wirksamkeit anderer Kräfte v e r ä n d e r t w e r d e n , womit auch Veränderungen in den Eigenschaften der Dinge (qualitative Veränderungen) entstehen würden und nicht bloss Veränderungen ihrer räumlichen Verhältnisse?" Und an einem anderen Orte sagt er: „Bei den stofflich-körperlichen Einzeldingen (elementaren Atomen) ist jede Form- (oder Erscheinungs-) Veränderung nothwendig zugleich auch K r a f t v e r ä n d e r u n g . So gewiss sie nur als einfache K r a f t m i t t e l p u n k t e (Kraftcentren) aufgefasst werden können, so gewiss können sie sich in keiner Beziehung ändern, ohne dass nicht auch das, woraus sie ganz und gar bestehen, nehmlich die K r a f t und deren gesammte W i r k u n g s w e i s e m i t g e ä n d e r t werden. Jedenfalls können die natürlichen Einzelwesen (Atome) keine Wirkung üben noch irgendwelche Wirkung erfahren, ohne in u n d m i t d e r s e l b e n , wenigstens zeitweise (temporär), sich irgendwie zu v e r ä n d e r n . Denn die K r a f t , die vorher r u h t e und jetzt in Folge einer Anregung oder Einwirkung in T h ä t i g k e i t ü b e r g e h t geht eben damit aus dem Seyn (aus ihrer bisherigen ruhenden und unthätigen Daseynsweise) in ein A n d e r s s e y n , d. h. a u s d e m e i n e n Z u s t a n d in e i n e n a n d e r e n ü b e r . Und ein solches U b e r gehen nennt man eine Veränderung" (ULRICI: Gott und Natur. Seite 34. 55. 736. FKOHSCHAMMEE: Athen. II. Seite 574). In ähnlicher Weise wie ULRICI hebt auch J. H. F i c h t e es hervor, dass die mit Wechselwirkungen verbundenen V e r -

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 5 3

ä n d e r u n g e n in den W e s e n s z u s t ä n d e n „niemals bloss durch äussere Einwirkung, sondern durch von I n n e n h e r durch die s e l b s t ä n d i g e G e g e n w i r k u n g wider den von aussen kommenden Einfluss" ihre naturgemässe Erklärung finden können (J. H. F I C H T E : Seelenfortd. Seite 243). Und ganz der gleichen Anschauungsweise begegnen wir auch bei R. Zimmermann in seiner Schrift über die LEiBNiTz'sche Monadologie: „Ohne Zweifel — sagt er — ist das Ding, welches jetzt w i r k t , ein a n d e r e s (d. h. ein verändertes) geworden gegen dasjenige, welches vorher nur w i r k e n k o n n t e " . Und wenn dann weiterhin die diesem Ding innewohnende Kraft als eine solche bezeichnet ist, die nur „wirken k ö n n t e und wirken w ü r d e , wenn eine andere b e l e b e n d und bewegend auf sie einwirkte": so geht aus eben dieser Darstellung deutlich hervor, dass unter dem, was hier „Kraft" genannt ist. nicht diejenige innerste Grund- und Daseynskraft der Dinge zu verstehen ist, auf deren von Uranfang nie rastende und nie ruhende unmittelbare Wirksamkeit das ganze Daseyn und Wesen der Dinge sich gründet; sondern nur die ihr ebenfalls von Uranfang an mit beigesellte und untrennbar mit ihr verbundene blosse Fähigkeit zum Wirken. Beide müssen gerade deshalb von eben jenen unter allen Umständen und ohne Ausnahme in ihrer ununterbrochenen Wirksamkeit beharrenden Ur- und Grundkräften der Dinge unterschieden werden, weil sie nur unter bestimmten äusseren Umständen in thatsächliche Wirksamkeit überzugehen im Stande sind ( R . ZIMMERMANN: LEIBNITZ, Monadol. Seite 90). Jene innersten Wesensgrundkräfte selbst müssen im Gegensatz zu ihnen allewege als völlig unabhängig von irgendwelchen sonstigen äusseren Umständen und Verhältnissen sich darstellen, weil ohne diese unbedingte Ununterbrochenheit ihrer Wirksamkeit das Daseyn der Dinge selber auf die Dauer eine natürliche Unmöglichkeit seyn würde.

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

No. 9 8 .

Der Zustandswechsel als Erscheinungswechsel. Bück- und Gegenwirkung.

Wir haben bereits früher bei Gelegenheit der allgemeinen Erscheinungsverhältnisse der Dinge darauf hingewiesen, wie in denselben nicht nur die eigentliche und an sich unveränderliche Wesenheit der Dinge j e nach ihrer besonderen W e s e n s art

sich

nach aussen hin kundgibt und offenbart,

sondern

gleichzeitig damit auch ebensosehr jene veränderlichen inneren Wesenszustände,

durch

welche ein jedes Naturdaseyn

je

nach seiner besonderen Wesensart in den Stand gesetzt ist, unbeschadet der allgemeinen Unveränderlichkeit seines Wesens doch auch gleichzeitig innerlich wie äusserlich dem ununterbrochenen Wechsel

und Wandel äusserlicher Umstände und

der von ihnen ausgehenden natürlichen Krafteinwirkung naturgesetzmässig

sich

anzupassen

und anzubequemen.

sind wir nunmehr in unseren gegenwärtigen

Und

so

Untersuchungen

über den allgemeinen Verlauf, welchen eine jede von aussen her auf ein Naturdaseyn ausgeübte fremde Krafteinwirkung auf das innere Wesen desselben zu seiner natürlichen Folge hat, an eben dem Punkt angekommen, wo jene, gewordene innere Wirksamkeit bis dahin Kraftfähigkeiten

in ihrer natürlichen

durch die frei

unthätig

gewesene

Rückwirkung von dem

einheitlichen Wesensmittelpunkt nach der körperlichen

Ober-

fläche nunmehr in deren äusserer Seite auch als ä u s s e r l i c h wahrnehmbare

Erscheinung

an

den Tag

treten.

Denn

dem inneren Z u s t a n d s w e c h s e l muss der ihm entsprechende äussere E r s c h e i n u n g s w e c h s e l unausweichlich auf der Ferse folgen und damit auch für die gesammte übrige Umgebung ein unverkennbares Zeugniss ablegen für eben jene inneren Vorgänge, welche eine jede Krafteinwirkung von aussen in den inneren Wesens Verhältnissen eines Naturdinges je nach dessen Wesensart zur natürlichen Folge haben muss.

Jede Kraftein-

wirkung stellt sich für das Auge des Geistes somit gewisser-

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 5 5

massen als eine an die Naturwesen von aussen her gerichtete F r a g e dar, um von ihnen zu erfahren, was sie ihrer inneren Wesensart nach seyn mögen, z. B. ob Gold oder Silber, ob Kupfer oder Blei etc. In ihrer naturgesetzmässigen R ü c k w i r k u n g auf jene Einwirkung und in der mit dieser unmittelbar verbundenen Veränderung in Bezug auf die bisherige Erscheinungsweise ertheilen die Dinge dann auch auf jene Anfrage von aussen ihre ganz bestimmte R ü c k a n t w o r t in der zuverlässigsten, weil naturgesetzmässigsten Weise. Denn diese Rückantwort entspricht sowohl der Natur und Wesensart des einwirkenden Stoffes und des von diesem zum Zweck dieser Einwirkung verwendeten Kraftmaasses, als auch ebensosehr der inneren Natur und Wesensart des jene Einwirkung an sich erfahrenden Stoffes, sowie dem Maasse der hierdurch mitbedingten eigenen inneren Erregung. Aber eben diese R ü c k a n t w o r t gibt uns nicht bloss sichere Auskunft darüber, was das betreffende Naturding ist, d. h. über seinen unwandelbaren Wesensinhalt im Allgemeinen, sondern ebenso zuverlässig auch darüber, wie und in welchen besonderen W e s e n s z u s t ä n d e n es sich in Folge eben jener fremden Einwirkung nunmehr befindet. J e nach der Besonderheit dieser seiner inneren Wesenszustände und je nach der besonderen stofflichen Art seines Wesens im Allgemeinen gestaltet es sich, schallt, schmeckt und riecht es, tönt, wärmt oder leuchtet es in anderer Weise. Alle diese an die Mitwirkung äusserer Zufälligkeiten gebundenen besonderen Eigenschaften erweisen sich daher auch allewege ebenso veränderlich im Inneren wie nach aussen, wie eben diese äusseren Zufälligkeiten selbst im allgemeinen Naturverlauf fortwährenden Veränderungen naturgemäss unterworfen sind. Nur^Eine Eigenschaft ist bei allem diesem Wechsel äusserer Zufälligkeiten und deren besonderer Mitwirkungen sich immerdar völlig g l e i c h b l e i b e n d : jene u r a n f ä n g l i c h e i n n e r e und an sich von keinen äusseren Verhältnissen abhängige W e s e n s s c h w e r e oder das sogenannte innere

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

A t o m g e w i c h t der einzelnen stofflich-körperlichen Dinge. Ob ein Stoff im festen, flüssigen oder luftförmigen Zustand sich befindet, ob er kalt oder warm sich anfühlt, ob er tönt oder nicht, leuchtet oder nicht etc.: seine stoffliche Wesensschwere, sein Atomgewicht, wird davon erfahrungsgemäss nicht berührt. Es bleibt dasselbe unter allen äusseren Umständen und Verhältnissen; auch ist es für das A t o m g e w i c h t ganz gleichgültig, von welcher stofflichen Art diejenigen Stoffe und Körper seyn mögen, mit denen es seiner eigenen Wesensart nach geeignet ist, sich innerlich-wesenhaft zu einer neuen Stoffart zu verbinden und zu vereinigen. Diese Ausnahmestellung, welche ihm hiernach einzig und allein zukommt, kann uns aber nicht wundern, sobald wir bedenken, dass diese innere W e s e n s s c h w e r e der Dinge es ist, dadurch die gesammte eigene Wesensart von Uranfang an naturgemäss sich bestimmt erweist, und dass es als solche auch alle die besonderen und einzelnen Zustands- und Erscheinungsverhältnisse in sich einschliesst, denen die Naturdinge im natürlichen Wechselverkehr mit ihrer Umgebung sich nur irgendwie jemals unterworfen zeigen mögen. „Bei allem Wechsel — sagt Herbart — beharrt das Wesen (die Substanz)" (HEEBAKT V. Seite 127). Der eigentliche Urgrund und die Ur- und Grundbestimmung alles natürlichen Wesens dieser Welt liegt aber in eben jenen ganz bestimmten wechselseitigen Gewichts- und Zahlenverhältnissen, welche zu ermitteln der Wissenschaft bereits gelungen ist und durch welche erfahrungsgemäss auch die einzelnen stofflichen Wesensarten sich bekanntlich wechselseitig von einander unterscheiden. „Die Zahl ist das Wesen der Dinge," sagten die alten Pythagoräer. Was sie nur von ferne geahnt, hat die spätere Erfahrung als Thatsache erwiesen. So hat demnach selbst ein jedes stofflich-körperliche Einzelding, so gering und unbedeutend es in seiner allgemeinen Weltstellung dastehen mag, als natürliches Zeitwesen

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 5 7

auch durchgehends seine eigenen inneren W e s e n s e r f a h r u n g e n und damit zugleich auch seine eigenen E r l e b n i s s e und seine eigene L e b e n s g e s c h i c h t e . Dieselben sind zwar noch sehr einfacher Art, aber dennoch in keiner Weise zu bezweifeln, so dass wir in denselben auch gleichzeitig die ersten, wenn auch noch uranfänglichsten Naturgrundlagen zu betrachten haben selbst für alle so mannigfachen Erlebnisse, Lebenserfahrungen und eigentlich geschichtlichen Lebensentwickelungen, wie solche die höheren Daseynsgebiete des Seelenund noch mehr des eigentlichen Geisteslebens uns vor Augen stellen. Aristoteles berichtet, dass schon Demokrit und Leukipp die Ansicht ausgesprochen, dass die körperlichen Dinge in Bezug auf ihre E i g e n s c h a f t e n (qualitativ) dadurch geä n d e r t werden, dass ihre Z u s t ä n d e sich verändern (ARISTOTELES, Entstehen u. Vergehen. S. 353. 355.). So sagt auch H e r b a r t , „dass jedes einfache Ding der Erscheinung (Element) als Andeutung einer Abänderung (Modification) seines Wesens d u r c h ein A n d e r e s betrachtet werden müsse". Und an einem anderen Orte: „Zustände eines Naturdinges (Realen) sind nicht das eigentlich Wirkliche (das Reale), sondern das Ges c h e h e n in ihm." (HERBART, V. S. 311. VII. S. 1 7 7 . S u a bedissen drückt über dieselben Verhältnisse sich folgendermassen aus: „Der Fortgang eines Wesens in seiner Daseynswirklichkeit stellt sich dar in einer R e i h e von V e r ä n d e r u n g e n . Als ihnen zu Grunde liegend wird das Wesen an sich gedacht als seyend was es ist, d. h. als das (an und für sich) U n v e r ä n d e r l i c h e . Wiefern es aber als w i r k e n d und als Wesen eines besonderen Dinges auch als l e i d e n d in w e c h s e l n d e n W e s e n s z u s t ä n d e n vortritt, e r s c h e i n t es n a c h a u s s e n in s t e t e r V e r ä n d e r u n g , demnach als das V e r ä n d e r l i c h e . Dasselbe ist also veränderlich und unveränderlich: es trägt seine Veränderungen als seine D a s e y n s m a n n i g f a l t i g k e i t in sich." (SUABEDISSEN, Grundz. d. Meta-

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

phys. S. 44). So sagt auch Fr. Fischer: „Die Natur der Körperwelt oder ihr Wesen besteht in denjenigen Eigenschaften, welche den körperlichen Grundwesen (Elementen) an und für sich, d. h. ohne Rücksicht auf ihre Wechselwirkung (unter einander) zukommt. Die E r s c h e i n u n g s w e i s e (Erscheinungsform) der Körperwelt dagegen besteht in den A b ä n d e r u n g e n (Modificationen), welche erst durch die Wechselwirkung der körperlichen Grundbestandteile (Elementarbestandtheile) der Körper unter einander an ihnen entstehen" (FISCHEE, Natur u. Leben d. Körperw. S. 28). Sehr eingehend spricht J. H. Fichte über diese Verhältnisse sich aus. „Bei jedem eigentlichen G e s c h e h e n — sagt er —, bei jeder wahrhaften V e r ä n d e r u n g in und für sich bestehender Weltwesen zeigt sich übereinstimmend, dass sie n i e m a l s lediglich auf ä u s s e r e n Einwirkungen, auf blossem E i n d r u c k beruhen, sondern zugleich aus einer von i n n e n herstammenden ( R ü c k oder) G e g e n w i r k u n g des Wesens hervorgehen, mit der es jeglichen Eindruck b e a n t w o r t e t , und wodurch jede bloss einseitige Verbindung von Ursache und Wirkung (Causalnexus) überhaupt aufgehoben ist und wir in allen Veränderungen das g e m i s c h t e E r g e b n i s s (Produkt) von W i r k u n g und G e g e n w i r k u n g , überhaupt eine ä u s s e r e u n d e i n e i n n e r e U r s a c h e (Faktor) anzuerkennen haben. — Wir werden nehmlich in jenem innersten Urgrund (Element) der Selbständigkeit und der Gegenwirkung, welcher jedem Weltwesen eingeboren ist, zugleich die Möglichkeit eines A n d e r s s e y n k ö n n e n s anerkennen müssen, wodurch der stetige und streng gesetzmässige Verlauf von Ursachen und Wirkungen unterbrochen oder wenigstens von dem eigentlich vorgeschriebenen Erfolg a b g e l e n k t wird." Und weiterhin: „Allem V e r ä n d e r l i c h e n , wie es in die äusseren Sinne fällt und wie die innere Selbstbeobachtung es uns darbietet, hegt ein U n v e r ä n d e r l i c h e s , in seinem Wesen B e h a r r e n d e s , mit ebenso b e h a r r l i c h e n E i g e n s c h a f t e n zu Grunde, welche i n n e r h a l b j e n e s W e c h -

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 5 9

sels nur die E r s c h e i n u n g s w e i s e wechseln, an sich s e l b s t aber die g l e i c h e n bleiben, oder wenigstens aus den eintretenden Veränderungen, welche hervorgerufen sind durch die neu eingegangenen und wieder gelösten Verbindungen mit anderen Naturwesen (Realwesen), in ihren ursprünglichen Zustand sich wieder herzustellen vermögen" (J. H. FICHTE, Seelenfortl. S. 258. 260. 438). In der äusseren Erscheinung der Dinge tritt deren innere Daseyn und Wesen bildende Kraftwirksamkeit auch äusserlich für ihre übrige Naturumgebung zu Tage. Und somit haben wir, wie wir dies früher bereits gesehen, in den äusseren Erscheinungsweisen der Dinge zugleich auch die erste Einleitung und das erste naturgesetzmässige Entgegenkommen vor Augen, dadurch die Dinge zugleich durch die Natur selbst befähigt sich erweisen durch dieses ihr äusserliches Erscheinungsvermögen mit ihrer innerlich-unmittelbaren Kraftwirksamkeit nunmehr auch aus sich selbst und über ihre äusserlich-körperliche Oberfläche hinaus auch auf und in die sie umgebenden Aussendinge eine den Kräften ihrer eigenen natürlichen Wesensart entsprechende Krafteinwirkung auszuüben. Wir sind mit dem, durch den inneren Zustandswechsel mit verbundenen äusseren Erscheinungswechsel an der Schwelle angelangt, wo alle Naturdinge, welche eine thatsächliche Einwirkung durch ein anderes ihnen fremdes und äusserliches Naturdaseyn an sich erfahren haben, nun diesem in einer im Vergleich zu ihrer früheren Erscheinungsweise gerade um soviel und in soweit veränderten Weise gegenüber stehen, als sie selbst durch jene vorhergegangene Einwirkung von aussen je nach der besonderen Natur ihrer eigenen Wesensart in ihren eigenen inneren Wesenszuständen sich selber innerlich verändert haben. Auf diese Weise sind sie im Stande sowohl innerlich wie äusserlich den Zuständen ihrer äusseren Umgebung naturgemäss sich anzupassen und anzubequemen und dadurch schliesslich auch auf diese Umgebung von ihrer Seite

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnisaen.

in einer ganz ähnlichen Weise s e l b s t t h ä t i g v e r ä n d e r n d e i n z u w i r k e n , wie solches vorher an ihnen selbst geschehen war. Ihre bisher noch rein innerlich an sich selbst erfahrene R ü c k w i r k u n g auf die von aussen her erfahrene E i n w i r k u n g ist somit nunmehr zu einer thatsächlichen G e g e n w i r k u n g nach aussen hin geworden. „Die Wechselwirkung — sagt Hegel — besteht darin, dass das, was W i r k u n g ist, sich gegenseitig U r s a c h e , und was U r s a c h e ist, sich gegenseitig W i r k u n g ist. Insofern aber, als die Wirkung auch Ursache ist, ist sie R ü c k - (und Gegen-)wirkung". (HEGEL, XVIII. S. 107). Und in der That, verfolgen wir das gesammte Wechselverhältniss nochmals in gedrängter Kürze von seinem ersten Anfang an bis zu seinem letzten Abschluss: so erhalten wir die folgende Reihe, sowohl von äusserlich-innerlichen wie von innerlich-äusserlichen Kraftwirksamkeiten, in welcher jede neue äussere oder innere Thatsache an ihre V o r g ä n g e r i n als deren W i r k u n g , an ihre N a c h f o l g e r i n aber als deren U r s a c h e sich darstellt: Die äussere E r s c h e i n u n g verhält sich zur äusseren A u s w i r k u n g wie die äussere A u s w i r k u n g zur äusseren A n r e g u n g ; die äussere A n r e g u n g zur inneren E r r e g u n g wie die innere E r r e g u n g zur innneren K r a f t e n t b i n d u n g ; die innere K r a f t e n t b i n d u n g zur inneren R ü c k w i r k u n g wie die innere R ü c k w i r k u n g zum inneren Zus t a n d s w e c h s e l ; der innere Z u s t a n d s w e c h s e l zum äusseren E r s c h e i n u n g s w e c h s e l wie der äussere E r s c h e i n u n g s wechsel zur äusseren Aus- oder G e g e n w i r k u n g . Alles reiht sich ganz ebenso einfach und naturgetreu aneinander an, wie solches auch in Bezug auf die einzelnen Zahlenglieder des sogenannten „Kettensatzes" der Rechenkunst der Fall ist. Wir sollten meinen, dass wenn uns nur von der einen Seite die inneren Wesensgrundzahlen der beiden in Wechselverkehr stehenden stofflich-körperlichen Einzelwesen je nach deren beiderseitigen besonderen Wesensarten genau bekannt wären, und ebenso auch von der anderen Seite sowohl die genaue

Der Wechsel verkehr in der Xatur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 61

Zahl des ersten aus- und einwirkenden Kraftmaasses als auch diejenige der in dem zweiten Einzelding durch eben jene äussere Einwirkung bewirkten innerlichen Kraftentbindung: wir alsdann ebenso leicht im Stande seyn müssten, auch das letzte End- und Schlussergebniss des ganzen beiderseitigen Wechselverhältnisses so genau in Zahlen auszurechnen und zu bestimmen, wie solches auch für das wechselseitige Zahlenverhältniss eines jeden gewöhnlichen Kettensatzes möglich ist. Allein dem ist eben leider doch nicht so. Denn ganz abgesehen von unserer menschlichen Unkenntniss eben der für eine solche Berechnung erforderlichen eigentlichen Wesensgrundzahlen der natürlichen Dinge, tritt auch noch der weitere Umstand hindernd in den Weg, dass eben das gesammte Wechselverhältniss sich in der Naturwirklichkeit keineswegs so einfach gestaltet zeigt, als dies hier auf dem Papier den Anschein hat. Denn wir fassten, zum besseren Uberblick des Gesammtvorganges und zum Zweck der Fernhaltung aller sonstigen mitwirkenden Störungen von aussen, den gegenseitigen Wechselverkehr stets als einzig und allein nur zwischen zwei natürlichen Einzelwesen statthabend in das Auge, während eine derartige Verkehrsbeschränkung in der Naturwirklichkeit selber durchaus nicht vorkommt. Im Gegentheil findet jedes Einzelwesen rund um seine ganze körperliche Wesensoberfläche herum sich von ihm fremden Einzeldingen aller Art umgeben. Dieselben wirken nicht allein alle und zwar ein jedes für sich nach dem Maasse seiner besonderen stofflichen Wesensart von aussen her auf das betreffende Einzelwesen ein, sondern haben auch alle ihrerseits Rück- und Gegenwirkungen von demselben an sich selber zu erfahren. Aber eben hierdurch ersehen wir auch, wie unrichtig es seyn würde, wenn wir diese gegenseitigen Wechselverhältnisse in der Weise auffassen wollten, als ob es gewisse Klassen von Naturwesen gäbe, die nur Wirkungen auf andere ausübten, und andere, die diese Wirkungen nur als l e i d e n t l i c h e E i n -

Q2

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Wirkungen von jenen an sich zu erfahren hätten. Eine solche Naturauffassung würde dem wirklichen Naturzusammenhang aller Dinge völlig zuwider seyn. Auch hat es jede genauere Beobachtung hierin unzweifelhaft festgestellt, dass alle Naturdinge und Naturwesen in ihrem allseitigen Wechselverkehr in jedem Augenblick bald mehr bald weniger sich ändernde Einwirkungen nicht nur an sich erfahren, sondern solche ebenso auch von sich aus auf ihre Umgebung ausüben; dergestalt, dass sowohl Geben als Nehmen, sowohl Aus- wie Einwirken in jedem einzelnen Naturwesen allewege gleichzeitig in dieser oder jener Weise stattfinden. In dieser Beziehung sagt daher Spinoza: „Alle Weisen, wie ein Körper von einem anderen erregt (afficirt) wird, erfolgen zugleich (d. h. ebensosehr) aus der Natur des e r r e g t e n (afficirten) Körpers und aus der Natur des e r r e g e n d e n (afficirenden) Körpers, so dass ein und dieselbe Weise auf verschiedene Weise bewegt (oder in sich verändert) wird, je nach der Verschiedenheit der Natur der bewegenden (oder seine Wesenszustände verändernden) Körper; und im Gegentheil so, dass verschiedene Körper von einem und demselben Körper auf verschiedene Weise bewegt (oder verändert) werden" (SPINOZA III. Seite 100). So sagt auch K. P. F i s c h e r : „In der Wechselwirkung webt sich alles zum Ganzen und Eines wirkt und lebt in dem Anderen. So wird die Vorstellung des bloss todten und leblosen Zusammenseyns, der blossen Zusammenlegung und Zusammenhäufung der Dinge (des blossen Aggregates) durch den Gedanken der Wechselwirkung überwunden, durch welche das Z u s a m m e n w i r k e n und Z u s a m m e n l e i d e n erkannt und eingesehen wird, dadurch a l l e s E i n z e l n e d u r c h a l l e s A n d e r e b e d i n g t ist und auf a l l e s z u r ü c k w i r k t " (K. P. FISCHER: Grundz. d. Logik. Seite 94). — Hegel sagt: „Die erregende (sollicitirende) Thätigkeit ist selber Kraft, und muss dazu, erregt zu seyn, erregt werden. Indem die Beziehung beider Thätigkeiten auf einander dies w e c h s e l s e i t i g e A u s t a u s c h e n i h r e r Be-

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 6 3

S t i m m u n g e n ist, ist jede der G r u n d der Thätigkeit oder der Äusserung auch der a n d e r e n " (HEGEL XYIII. Seite 156). Und in demselben Sinne spricht auch D r o s s b a c h sich aus, wenn er sagt: „ A l l e Wesen ohne Ausnahme nehmen die Einwirkungen der anderen in sich auf, und a l l e Wesen ohne Ausnahmen theilen Einwirkungen an andere aus. Da also jedes Wesen ohne Ausnahme und ohne Rücksicht auf seine Verbindung oder Gesellschaftsweise (-form), in der es sich mit anderen vorübergehend befindet, ein wirkendes, thätiges ist, und da alle Wesen gegenseitig auf einander wirken: so folgt hieraus, dass auch alle Einwirkungen erleiden. Daher sind a l l e W e s e n t h ä t i g u n d l e i d e n d z u g l e i c h . Denn das Zusammenseyn mehrerer lebendiger Wesen ist eben nichts anderes als ein beständiges Geben und Empfangen von Wirkungen, ein g e g e n s e i t i g e s t h ä t i g e s u n d l e i d e n d e s (actives und passives) V e r h a l t e n , und die Erfahrung zeigt auch, dass j e d e W i r k u n g des e i n e n e i n e n E i n d r u c k im a n d e r e n h e r v o r b r i n g t " (DBOSSBACH: Genes, d. Bew. S. 84. 85). Zugleich betrachtet D r o s s b a c h eben diese beiden Hauptthätigkeiten „des G e b e n s und E m p f a n g e n s " als die zwei g e s c h l e c h t l i c h e n t g e g e n g e s e t z t e n P o l e d e s L e b e n s bereits schon für das Bereich des noch ungestalteten oder rein stofflichkörperlichen Naturdaseyns. Durch den gegenseitigen Wechselverkehr der Dinge „entsteht in jedem Einzelwesen die d o p p e l t e W i r k u n g s w e i s e des Gebens und Empfangens". Und „so ist — fügt er hinzu — das t h ä t i g e u n d l e i d e n d e V e r h a l t e n (das active und passive Princip) oder das M ä n n l i c h e und das W e i b l i c h e , als das G e s c h l e c h t s l e b e n , in der Natur eines jeden Wesens u r s p r ü n g l i c h b e g r ü n d e t . " Alles Geschehen in der Natur ist Kraftentwickelung, und jede Kraftentwickelung hat zwei P o l e , einen anziehenden und einen abstossenden, einen nehmenden und einen gebenden. Denn es liegt in der Beschaffenheit, in der Verfassung der Natur, als einer Vielheit lebendiger Wesen, das gegenseitige Geben und

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Empfangen ihrer Wirkungen. Wo eine Mehrheit lebendiger Wesen: da ist ein gegenseitiges Hingeben und Empfangen, Einwirken und Gegenwirken, ein Bemerkbarmachen und Bemerken. Es liegt in der Natur, einer Gesellschaft lebendiger Wesen, die Scheidung aller Thätigkeiten (und Wirksamkeiten) in zwei Geschlechter" (DBOSSBACH: a. a. 0 . Seite 49. 86). — Bei einer späteren Gelegenheit wird uns die Richtigkeit dieser Anschauung noch weiterhin entgegentreten.

N o . 9 9 . Kein gegenseitig lebendig - thatkräftiger Wechselverkehr zwischen den einzelnen körperlichen Dingen ohne ^tatsächliche Berührung derselben. Es ist bekanntlich ein allgemein angenommener naturwissenschaftlicher Grundsatz, dass zwischen einer Mehrheit von Dingen, welche in ihren besonderen Wesenheiten oder Wesensanlagen einander so völlig ungleich sind, dass auch nicht die geringste Spur von etwas ihnen innerlich irgendwie G e m e i n s a m e s oder mit einander Ü b e r e i n s t i m m e n d e s zukommt, auch selbstverständlich nicht der allergeringste natürlichwesenhafte Wechselverkehr statthaben kann. Oder mit anderen Worten, dass nur solche Dinge, welche wesenhaft in irgend einer Weise oder in irgendwelchen Punkten auch thatsächlich sich einander wenigstens ä h n l i c h oder v e r w a n d t zeigen, auch gegenseitig in natürliche lebendig-thatkräftige Wechselwirkungen zu treten im Stande sind. Daher auch der weitere Grund- und Erfahrungssatz: nur A h n l i c h e s vermag auf A h n l i c h e s , nur V e r w a n d t e s vermag auf V e r w a n d t e s naturgesetzmässig einzuwirken. Dieser Ausspruch bezieht sich zwar in erster Linie auf die an sich rein i n n e r l i c h e n Wesensund Daseynsverhältnisse der natürlichen Dinge: aber bei der untrennbaren Zusammengehörigkeit, in welcher allenthalben in der Natur Inneres und Äusseres zu einander stehen, dürfen wir schon von vorneherein der Vermuthung Raum geben, dass

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 6 5

wohl etwas ganz Ähnliches seine natürliche Geltung haben müsse auch in Bezug auf die ä u s s e r l i c h e K ö r p e r l i c h k e i t der betreffenden Dinge. Oder mit anderen Worten, dass die körperlichen Dinge, um im Stande zu seyn wechselseitig auf einander einzuwirken, in einer ähnlichen Weise wie in Bezug anf ihre Innerlichkeit, so auch in Bezug auf ihre o b e r f l ä c h l i c h e A u s s e r l i c h k e i t irgend etwas G e m e i n s a m e s und einem jeden einzelnen von ihnen g l e i c h a r t i g Z u k o m m e n d e s müssen aufzuweisen haben, damit auch thatsächlich ein ebenso innerlich - äusserlicher wie äusserlich-innerlicher Wechselverkehr zwischen ihnen statthaben könne. Es müsste eben dieses den O b e r f l ä c h e n b e i d e r D i n g e g e m e i n s a m Zuk o m m e n d e als eine v e r b i n d e n d e M i t t e zwischen beiden sich darstellen, dem eine natürliche Möglichkeit dazu müsste zuerkannt werden'können, eine wirkliche Vermittelungsrolle zu übernehmen zwischen eben den wechselseitigen Aus- und Einwirkungen von Kraftwirksamkeiten, darauf, wie wir gesehen, aller gegenseitige Wechselverkehr der einzelnen Dinge beruht. Schon durch den blossen Gedanken einer V e r m i t t e l u n g , sowie durch das beiden Theilen g e m e i n s c h a f t l i c h Z u k o m m e n d e fühlen wir uns hingewiesen auf eine gewisse beiderseitige Theilnahme an irgend etwas, das in dem Begriff einer Oberfläche muss mitenthalten und eingeschlossen liegen. Und wo dürften wir nun wohl hoffen in Wirklichkeit dies geheimnissvolle, wenn auch nur begriffliche Etwas zu finden, das im Stande wäre zwei mit einander in gegenseitiger Wechselwirkung stehende Einzeldinge auch in eine derartige äusserlichoberflächliche Beziehung und Verbindung mit einander zu setzen, dass die oben erwähnten Bedingungen dadurch auch wirklich in einer vollgültigen Weise erfüllt wären? Über die Beantwortung dieser Frage können wir wohl kaum im Zweifel seyn. Denn nirgends anders vermag eine solche Möglichkeit sich zu zeigen, als an denjenigen ö r t l i c h e n P u n k t e n der O b e r f l ä c h e n , an denen körperliche Dinge sich auch thatWandersmann. II.

5

66

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

sächlich gegenseitig k ö r p e r l i c h zu b e r ü h r e n im Stande sind. Und in der That ist einzig und allein nur der beiderseitige B e r ü h r u n g s p u n k t der Ort, welcher zweien in körperlicher Beziehung getrennten Einzeldingen in äusserlich-oberflächlicher Beziehung in Wirklichkeit g e m e i n s c h a f t l i c h zukommen kann. Denn würde hier noch irgend etwas anderes, und wäre es auch nur ein vermeintlich leerer Raum, zwischen den beiden Körperlichkeiten gedacht, so fände auch keine wechselseitige Berührung statt. Beide Körperlichkeiten wären durch keine oberflächliche Gemeinschaftlichkeit mit einander verbunden und die nicht zu umgehende Hauptbedingung für alle Wechselwirkung würde fehlen. Nur allein dadurch, dass die betreffenden Dinge thatsächlich einander oberflächlich berühren, fallen beide, der oberflächliche Endpunkt des einen und der oberflächliche Anfangspunkt des anderen, darinnen eben die Berührung stattfindet, auch begrifflich wie thatsächlich so vollkommen in Eins zusammen, dass von einer noch engeren Verbindung zwischen den beiden Dingen auch in keiner Weise mehr die Eede seyn kann. Denn P u n k t e können weder jemals getheilt werden oder sich selber theilen, noch vermögen sie jemals einander zu berühren: sie vermögen nur allein a u f - und i n e i n a n d e r zu fallen, derart, dass zwei mit einander vereinigte Punkte allewege nur einen e i n z i g e n P u n k t begrifflich wie natürlich darzustellen im Stande sind. Jene innerliche Wesensähnlichkeit oder Wesensverwandtschaft der Dinge besitzt daher schon von Natur aus ihren vollgültigen äusserlichen Gegenpol in eben dieser wechselseitigen äusserlichoberflächlichen Berührungsfähigkeit, vermöge welcher sie je nach dem Wechsel äusserer Verhältnisse bald an diesem, bald an jenem Punkt in eine thatsächliche wechselseitige Kraftverbindung sich zu setzen oder zu erhalten vermögen. Bereits Aristoteles hat sich über alle die hier in Rede stehenden Verhältnisse auf eine ebenso eingehende, wie der Natur der Sache vollkommen gemässe Weise ausgesprochen.

Der Wechsel verkehr in der liatur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 6 7

Er sagt: „Es hat DIOGENES (von Apollonia) Hecht, dass, wenn nicht aus Einem Alles (d. h. wenn nicht alles innerlich wesensverwandt) wäre, es ein wechselseitiges Erfahren von Einwirkungen n i c h t gäbe, wie z. B. jenes, dass das Warme erkalte und dieses wieder warm werde. Denn nicht das Warme oder Kalte verändern sich wechselseitig, sondern das ihnen zu Grunde liegende (d. h. das innere Wesen der Dinge selbst). Folglich muss für jene Dinge, in welchen es das Ausüben und Erfahren von Einwirkungen gibt, nothwendig die ihnen zu Grunde liegende Natur Eine (d. i. eine in sich ähnliche oder verwandte) seyn. — Nun aber muss ja, wofern betreffs des Ausübens und Erfahrens von Einwirkungen eine Betrachtung anzustellen ist, dies nothwendig auch betreffs der B e r ü h r u n g geschehen; denn weder Einwirkungen ausüben noch erfahren kann im eigentlichen Sinne dasjenige, was nicht im Stande ist, einander zu berühren. Wenn also das Sichb e r ü h r e n darin besteht, dass die äussersten Enden ö r t l i c h z u g l e i c h sind, so möchten wohl diejenigen Dinge sich wechselseitig berühren, welche a b g e g r ä n z t e G r ö s s e n sind und ihre ä u s s e r s t e n E n d e n ö r t l i c h z u g l e i c h haben. Die derartigen Dinge sind es, welche die F ä h i g k e i t haben, E i n w i r k u n g e n zu e r f a h r e n und a u s z u ü b e n . Dies aber tritt bei denjenigen ein, bei welchen die Bewegung (oder Veränderung) in dem blossen Zustand einer Einwirkung besteht; einen blossen Zustand einer Einwirkung aber gibt es nur an denjenigen, woran eine V e r ä n d e r u n g in i h r e n E i g e n s c h a f t e n (eine qualitative Änderung) vor sich geht" (ARISTOTELES: Entst. u. Verg. Seite 395. 397). Und wenn ABISTOTELES etwas weiterhin auch noch darauf aufmerksam macht, „dass wir ja auch zuweilen sagen, das uns Betrübende r ü h r e uns", so liegt darin wohl ein unverkennbarer Hinweis darauf, wie das Herantreten einer Einwirkung von aussen her nicht auf die äusserlich-oberflächliche Berührungsstelle allein beschränkt bleibe, sondern damit zugleich auch das innere Wesen der Dinge selber, indem es

68

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

dadurch zu eigener Selbstbetätigung e r r e g t werde, gleichsam als i n n e r l i c h g e r ü h r t oder innerlich-wesenhaft b e r ü h r t aufzufassen seyn dürfte. — In Bezug auf eben diesen Begriff des Berührens sagt Hume, dass „alle Gegenstände (objects), welche als Ursache und Wirkung betrachtet werden, stossende

aneinander-

(contiguous) sind, und dass nichts in einer Zeit

oder an einem Orte wirken kann, welche auch um weniges von den seinigen (d. h. von seiner eigenen Zeit und von seinem eigenen Ort) e n t f e r n t sind. manchmal

scheinen

können,

Wiewohl entferntere Gegenstände einander

hervorzubringen

(oder

auf einander einzuwirken), so wird man bei Prüfung gewöhnlich finden, dass sie durch eine Kette von (dazwischen liegenden) Ursachen verbunden

sind, welche unter sich aneinander

stossen und an die entfernten Gegenstände. nach Verbindung wesentlich

Wir können dem-

der Berührung (Relation der contiguity) als

f ü r die V e r u r s a c h u n g

Raum u. Zeit I I . 581. 586).



betrachten" (BAUMANN:

Auch

Kant

bestimmt

den

Begriff der Berührung in dem gleichen Sinne, wenn er sagt: „Berührung

ist

die

gemeinschaftliche

Gränze

zweier

(körperlichen) Räume, die also w e d e r i n n e r h a l b dem einen noch

dem anderen Raum (oder Körper) sind" (KANT V I I I .

Seite 498).

Und ebenso sagt auch J. J. W a g n e r ,

dass die

Berührung den Körpern etwas „ G e m e i n s c h a f t l i c h e s "

gäbe

(WAGNEE: Natur d. Dinge Seite 112). — H e r b a r t sagt: „Eine Wesenheit (Substanz), welche auf eine andere näheren Einfluss hat, ist derselben g e g e n w ä r t i g , und die einander unmittelbar gegenwärtigen b e r ü h r e n sich.

Die Erfahrung lehrt fast all-

gemein nur mit höchst wenigen sehr zweifelhaften Ausnahmen, dass Dinge, die auf einander wirken sollen, einander g e g e n wärtig

seyn

müssen"

ähnlichem Sinne

spricht

Thätigkeit (Action)" e i n g r e i f e n können.

— Je

(HERBART I I I . Seite 93. 101). — auch S c h ö l l i n g sagt

er —

„muss

In

sich

aus.

„Eine

in

eine

andere

für zwei verschiedene

Thätigkeiten

(Actionen) muss es einen g e m e i n s c h a f t l i c h e n P u n k t geben.

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 6 9

in welchem sie sich v e r e i n i g e n " (SCHELLING III. Seite 27). — Den gleichen Anschauungen begegnen wir bei D r o s s b a c h [DROSSBACH : Harm. d. Ergebnisse d. Naturforsch. Seite 4 9 ) . — Und endlich müssen wir in dieser Hinsicht auch noch einer Anmerkung von Franz H o f f mann in dem 14. Band von BAADEB'S Werken gedenken, in welchen er sagt, dass „in der Regel das I n n e r e eines Körpers n i c h t unmittelbar das I n n e r e eines anderen Körpers berühre, sondern dass jener seine B e r ü h r u n g (des Inneren des anderen Körpers) v e r m i t t e l e d u r c h d a s Ä u s s e r e des Letzteren. Und ebenso umgekehrt" (BAADER XIV. Seite 4 6 3 ) . Wenn zwei kugelförmige Körper sich äusserlich an ihrer Oberfläche berühren, so liegt der B e r ü h r u n g s p u n k t nach den Gesetzen der Raum- und Grössenlehre stets in der ger a d e n L i n i e , welche die Mittelpunkte beider Kugeln mit einander verbindet. Daraus folgt, dass ein jeder von dem Mittelpunkt eines stofflich-körperlichen Einzelwesens ausgehende K r a f t s t r a h l , welcher zu jenem Berührungspunkt hinführt, den es mit einem anderen stofflich-körperlichen Einzelwesen gemein hat, in seiner geraden Richtung fortgesetzt genau auf den Mittelpunkt des letzteren ausgeht. Die beiden Kraftstrahlen, welche von jedem der zwei Mittelpunkte ausgehen und nach dem gemeinsamen Berührungspunkt hingerichtet sind, treffen daher in diesem nicht nur wechselseitig aufeinander und wirken kraftthätig wechselseitig aufeinander ein, sondern sie sind auch im Stande, die erfahrene Kraftwirksamkeit selbstthätig nach dem innersten Wesensmittelpunkt des eigenen Körpertheiles weiter fortzuleiten; und zwar dergestalt, dass die daraus hervorgehende Zustandsveränderung in den innersten Wesensgründen der beiderseitigen Wesensmittelpunkte durch thatsächliche innerste Wesenserregung in vollkommen naturgesetzmässiger Weise stattzufinden vermag. Und somit beruht denn auch in eben diesem innerlich -äusserlichen, wie äusserlich-innerlichen Wechselverhältniss so recht eigentlich

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

das ganze Gekeimniss aller und jeder Wechselwirkung ohne Ausnahme, und zwar in der noch allereinfachsten, ursprünglichsten und urwüchsigsten Weise. Die wechselseitigen Berührungspunkte stellen sich für uns gewissermassen als die natürlichen, wenngleich an sich völlig raumlosen Thüren und Fenster dar, dadurch die einzelnen Naturdinge ihre wechselseitigen Eindrücke und Einwirkungen auf einander auszuführen und zu ihrer natürlichen Geltung zu bringen im Stande sind. „Wenn diese einfachen Wesen" — sagt S u a b e d i s s e n — „nicht ursprünglich t h ä t i g w ä r e n , sie könnten auch durch ihre Berührung nicht thätig w e r d e n . Sie würden als n u r s e y e n d , d. h. unthätig und todt aneinander liegen" (SUABEDISSEN: Metaph. S. 116). Und ebenso sagt Wagner: „Die Berührung der Körper ist nie todt und wirkungslos: sie ist vielmehr ein k r ä f t i g e s E i n g r e i f e n der Körper in einander" (WAGNEB: Natur d. Dinge Seite 218). Durch die Berührung an der Oberfläche finden sich die Dinge gewissermassen äusserlich z u s a m m e n . Aber dieses nur rein ä u s s e r l i c h e S i c h - f i n d e n würde ohne jede weitere Bedeutung und ohne jede weitere Folge für die betreffenden Dinge seyn und bleiben, wofern dieselben nicht auch in ihrem innersten Ich und Selbst in der oben angedeuteten Weise durch eben jene innigen Verkettungen von Ursachen und deren Wirkungen auch in eine thatsächliche innerliche Wechselverbindung zu treten vermöchten. Denn nur dadurch ist eben jenem ursprünglich bloss äusserlichen Sich-finden die natürliche Fähigkeit dazu geboten, sich nunmehr auch in ein thatsächlich i n n e r l i c h e s S i c h - f i n d e n , oder mit anderen Worten in irgend ein gegenseitiges S i c h - e m p f i n d e n umzuwandeln. Gerade in diesem Letzteren, von welcher besonderen Natur und Art dasselbe auf jenem noch alleruntersten und einfachsten Naturgebiet sein mag, liegt das natürliche Dämmerlicht dafür, dass allen Einzeldingen eine natürliche Befähigung zukommt, auch an sich selber, d. h. in ihrem eigenen Inneren

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 71

alle jene inneren Zustandsveränderungen gleichsam m i t z u s p ü r e n , welche in den sie berührenden Mitgenossen vor sich gehen. Sie empfangen somit jederzeit eine gewisse, wenn auch noch so dunkle Kunde von denjenigen jeweiligen Veränderungen, auf welche gleichzeitig das jeweilige wesenhafte Bef i n d e n ihrer nächsten Nachbarn sich gründet. Können wir in diesem allem auch nur den ersten Keim und Anfang erblicken zu jenen höheren Empfindungsweisen, wie solche in den höheren Daseynsgebieten uns entgegentreten, so dürfen wir eben hieraus doch immerhin den Schluss ziehen, dass eben jene Daseynsweisen selbst des noch untersten Naturgebietes von uns nicht für so gänzlich u n e m p f ä n g l i c h und u n e m p f i n d l i c h gegenüber von fremden Einwirkungen dürfen gehalten werden, wie solches so vielfach geschieht. „Unsere Empfindungen" — sagt Berkeley — „sind innere Wahrnehmungen der Seele: das, was sie von aussen her a n r e g t , kann kein jeder Empfindung und Wahrnehmung (völlig) unf ä h i g e s Ding seyn" (WILMERSDORF : Jenseits I. Seite 24). — Ebenso sagt Baader: „Was sich b e r ü h r t , e m p f i n d e t sich, und alles Berühren ist Verbindung (Conjunction) von Hülle und Fülle (d. h. der inneren Wesensfülle durch die natürliche Vermittelung der äusserlich-oberflächlichen Hülle (BAADER I . Seite 188). Und in ganz ähnlichem Sinne spricht auch Drossbach sich aus. „Ein jedes Wesen" — fügt er noch hinzu — „wird durch die Einwirkung anderer in U n r u h e versetzt; es könnte aber nicht in Unruhe versetzt werden, wenn es nicht die Einwirkungen anderer zuvor empfangen hätte oder wenn es für diese Einwirkungen nicht empfänglich, nicht a u f n a h m s f ä h i g wäre" (DROSSBACH: Genes, d. Bewussts. Seite 40. 88).

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen .Wechselverhältnissen.

No. 100.

Massentheilchen und körperliche Massen.

In einzelnen Zellenbildungen im Innern der Pflanzen- und Thierkörper besitzen wir — wie wir schon an einem früheren Ort darauf hingewiesen (I. § 4 No. 6) — gleichsam einen natürlichen Wink und einen Hinweis darauf, dass auch bei den körperlichen Massen der noch ungestalteten Natur ein ähnliches, dem allgemeinen Charakter derselben entsprechendes Verhältniss aus wissenschaftlichen Gründen anzunehmen seyn dürfte. Es sind dies jene ersten und in sich noch einfachsten, aus einer Mehrheit von untheilbaren stofflich - körperlichen Grundwesen oder Atomen zusammengesetzten Urbildungen der noch ungestalteten Natur, welche die Naturwissenschaft bekanntlich als M a s s e n t h e i l c h e n oder M o l e k ü l e zu bezeichnen pflegt. „Der Unterschied, der zwischen Atomen und Molekülen gewöhnlich gemacht wird" — sagt F r o h s c h a m m e r — „besteht darin, dass die Atome als eigentlich untheilbare letzte Theilchen gelten, die Moleküle aber als Theilchen, die selbst aus noch kleineren Theilchen, den Atomen, zusammengesetzt sind. F e c h n e r bezeichnet dieselben daher auch ala »zusammengesetzte Atome« oder als »kleine Gruppen von Atomen«" (FKOHSCHAMMEE: Naturphil. S . 128. 129; FECHNEB: Atom. Lehre S. 79). Aus diesen wissenschaftlichen Andeutungen über den Begriff und die innere Beschaffenheit dieser Massentheilchen tritt uns nun aber auch sofort der Unterschied entgegen, welcher zwischen . ihnen und den eigentlichen Zellenbildungen im Pflanzen- und Thierreich naturgemäss stattfindet. Die pflanzlichen und thierischen Zellbildungen sind nehmlich eine augenfällige naturwissenschaftliche Erfahrungsthatsache: sie können unter gehöriger Vergrösserung dem Auge wahrnehmbar gemacht werden. Jene an sich noch ersten und einfachsten Massentheilchen der allgemeinen Stoff- und Körperwelt dagegen haben durchaus keine thatsächliche wissenschaftliche

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 7 3

Beobachtung und Erfahrung zu ihrer Grundlage, sondern beruhen nur auf wissenschaftlichen V e r n u n f t g r ü n d e n - , zu denen der Verstand durch Schlussfolgerungen gelangt. Auf die natur- wie vernunftgemässe Notwendigkeit einer Annahme von an sich völlig untheilbaren stofflich-körperlichen Ur- und Einzelwesen, aus denen alle körperlichen Massen zusammengesetzt seyn müssen, indem nur das, was aus wirklichen und wahren Theilen besteht, auch als wirklich theilbar darf betrachtet werden, ist bereits an einem früheren Orte ausführlich hingewiesen. Findet sich aber die unbedingte Naturnothwendigkeit eben solcher innerlich untheilbaren Ur- und Einzelwesen überhaupt einmal wissenschaftlich festgestellt: so kann auch die weitere Annahme nicht mehr befremden, dass alle solche stofflich-körperlichen Ureinheiten, welche wechselseitig in a l l e r n ä c h s t e r und u n m i t t e l b a r s t e r äusserer Um- und A n e i n a n d e r l a g e r u n g sich befinden, auch mit Nothwendigkeit zu weit i n n i g e r mit e i n a n d e r v e r b u n d e n e n G r u p p e n oder G e s a m m t e i n h e i t e n sich vereinigen müssen, als dies zwischen solchen möglich seyn kann, die nicht so unmittelbar nahe bei einander stehen. Schon dieser Umstand zeigt, dass gegen die wissenschaftliche Annahme von einfachsten Massentheilchen im Innern aller eigentlichen, d. h. auch sinnlichwahrnehmbaren Körpermassen keine eigentlichen Bedenken vorliegen dürften. Das natürliche Mittel zur Bildung dieser ersten Massentheilchen kann uns nach dem, was die Betrachtung der natürlichen Wechselwirkungen im Allgemeinen an unserem geistigen Auge hat vorüberziehen lassen, nicht zweifelhaft seyn. Die den natürlichen Einzeldingen innewohnenden und von deren Mittelpunkt nach ihren Oberflächen und auch wiederum von den Oberflächen nach den Mittelpunkten gerichteten Grundkräfte müssen nothwendig in den äusseren B e r ü h r u n g s s t e l l e n in ihrer nach aussen gerichteten Kraft Wirksamkeit wechselseitig auf e i n a n d e r t r e f f e n . Sie müssen durch die

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Eindrücke, die sie auf diese Weise gegenseitig auf einander auszuüben die unmittelbare Gelegenheit haben, gewissermassen gegenseitig sich e r f a s s e n . Und in eben diesem beiderseitigen S i c h e r f a s s e n müssen sie sodann auch je nach der Beschaffenheit ihrer inneren Natur nicht nur mehr oder weniger sich kräftig aneinander anschliessen, sondern auch mehr oder weniger fest und innig z u s a m m e n - und a n e i n a n d e r h a l t e n . Was die Zahl der Einzeldinge betrifft, welche in solcher Weise zu ersten Massentheilchen sich mit einander verbinden und äusserlich zu vereinigen vermögen: so können wir hierüber ein Genaueres nicht sagen, weil nichts von allem diesem dem leiblichen Auge zugänglich ist. Soviel aber muss selbstverständlich als feststehend betrachtet werden: wie von der einen Seite nothwendig wenigstens zwei solcher Einzeldinge erforderlich sind (ULRICI: Gott u. Natur. S. 29. 472. 474), um ein gemeinsames Massentheilchen zu bilden, so kann von der anderen Seite auch diejenige Zahl nicht überschritten werden, in welcher kugelförmige Körper einen anderen kugelförmigen Körper je nach der verschiedenen Grösse ä u s s e r l i c h zu u m g e b e n und u n m i t t e l b a r zu b e r ü h r e n im Stande sind. Wie die Einzeldinge aber zu dem Massentheilchen sich verhalten, dem sie angehören: in einem ähnlichen Verhältniss stehen nun auch die Letzteren zu den unserer sinnlichen Wahrnehmung zugänglichen eigentlichen k ö r p e r l i c h e n Massen, die im gemeinen Leben geradezu auch als K ö r p e r pflegen bezeichnet zu werden. Jeder Fels, jeder Berg, jeder See bildet im eigentlichen Sinne des Wortes eine solche k ö r p e r l i c h e Masse. Denn sie alle verdanken ihre äussere Gestalt nicht einer einheitlichen von innen heraus wirksamen Gestaltungskraft, wie solches bei den Quarzen, Pflanzen und Thieren der Fall ist, sondern nur der rein zufälligen Zahl der in ihrer Gesammtheit sie darstellenden Einzeldinge im Verein mit sonstigen rein zufälligen äusserlichen Umständen und Verhältnissen , von denen die äusseren Formen und Gestalten

DerWechselverkehrin der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 7 5

solcher Massen jederzeit wesentlich abhängig sind. Aber eben aus diesem Grunde sollten wir alle diese Ausgestaltungen innerhalb des noch alleruntersten Naturgebietes nicht eigentlich als „Körper" bezeichnen, sondern als „Körpermassen". Die Bezeichnung „Körper" dagegen sollten wir nur für die von innen h e r a u s urwüchsig sich bildenden Angehörigen der eigentlich „gestalteten Natur" in Anwendung bringen. Wenn wir hier von Quarzkörpern, von Pflanzenkörpern und von Thierkörpern reden, so ist dies vollkommen am Orte; wogegen eine Bezeichnung derselben als Quarzmassen, Pflanzenmassen oder Thiermassen sofort als verfehlt sich darstellen würde. Aus eben jenen inneren Bildungsverhältnissen aller körperlichen Massen geht nun aber gleichzeitig auch hervor, dass alle die besonderen einzelnen Kräfte und Eigenschaften, die wir an ihnen wahrnehmen, nicht diesen Massen als solchen innerlich zukommen, sondern einzig und allein nur den einzelnen einfachen Körpertheilchen, aus deren Gesammtheit sie bestehen. Denn sie allein stellen als die natürlichen Träger aller dieser Kräfte und Eigenschaften sich dar, wogegen die Massen, an denen wir dieselben wahrnehmen, gleichsam nur die äusserliche Verkörperung der Gesammtsumme von allen Kräften und Eigenschaften darstellen, wie sie den betreffenden Einzeldingen ihrer besonderen Natur nach zukommen. So stellt z. B. das Gewicht oder die Schwere eines Felsblockes, einer "Wassermasse und dergl. nichts anderes dar als die Gesammtsumme aller der Einzelgewichte, welche deren Einzeltheilchen je nach ihrer besonderen stofflichen Wesensart innerlich zukommen. In diesem Sinn sagt daher auch ReimarilS, dass „alle fortdauernden Kräfte der Natur ihren beständigen und wesenhaften Sitz in den untheilbaren Urstoffen haben, und dass dieselben nicht erst durch die Zusammensetzung derselben entstehen, noch mit derselben aufhören. Denn wenn jeder dieser Urstoffe n i c h t sein M a a s s der K r ä f t e zur Z u s a m m e n s e t z u n g m i t b r ä c h t e , sondern in sich unkräftig

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

wäre, so würde durch die Zusammensetzung noch so vieler unkräftiger Urstoffe ebensowenig eine Kraft entstehen, als durch die Zusammensetzung vieler Nullen eine Z a h l werden kann" (REIMABUS: Natürl. Relig. Seite 683). — Und ebenso sagt J. G. F i c h t e : ..Die Masse mit ihren Eigenschaften ist selbst W i r k u n g und Ä u s s e r u n g der inneren Kraft. Diese Kraft hat zwei Wirkungen: eine, wodurch sie sich e r h ä l t und sich diese bestimmte Gestalt gibt, in der sie erscheint; und eine andere auf mich, da sie mich auf eine bestimmte Weise erregt (afficirt)" ( J . Gr. FICHTE II. Seite 237). — So auch U l r i c i : „Nur dadurch — sagt er — dass die stofflich-körperlichen Einzeldinge (die Atome) mittelst der Anziehungskraft (Attractionskraft) sich zu grösseren Massen verbinden, entstehen die Körper, entsteht ihre Handgreiflichkeit. Wenn Massen sich anziehen, so müssen sich auch ihre Einzelwesen (Atome) anziehen; denn die Massen bestehen aus jenen (den Atomen). Ja die Anziehungskraft muss sogar an sich den Einzeldingen (Atomen) zukommen, und kann durch deren Vereinigung zu einer Masse nur v e r s t ä r k t , aber den Einzeldingen n i c h t e r s t zu T h e i l w e r d e n " (ULBICI: Gott u. Nat. Seite 56. 84). — In gleichem Sinne sagt S c h ö l l i n g : „Wenn die Einzeldinge (Atome) keine Eigenschaften (Qualitäten) hätten: wie sollte eine solche durch deren Zusammen Wirkung e r z e u g t werden?" (SCHELLING III. Seite 24). — D r o s s b a c h spricht in dieser Hinsicht in ganz ähnlicher Weise sich aus, indem er sagt: „Es ist kein Theil eines Körpers (oder einer Körpermasse) mit seinen Eigenschaften an den anderen untrennbar verbunden, sondern jeder Theil hat seine eigenen K r ä f t e f ü r sich, hat sein eigenes Daseyn (Existenz), ist ein selbständiges Wesen, welches nur z e i t w e i l i g mit anderen in Verbindung tritt und diese Verbindung auch zeitweilig a u f g i b t , um andere Verbindungen einzugehen. Aus diesen Thatsachen geht hervor, dass der Körper (d. h. die körperliche Masse) n i c h t das D i n g s e l b s t i s t , sondern nur eine zeitweilige

Der Wechselverkehr in der Katur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 77

(temporäre) Versammlung von Dingen, — dass er k e i n e Eigenschaften oder Kräfte (für sich als Masse) besitzt, sondern dass diese das E i g e n t h u m derjenigen Dinge sind, a u s w e l c h e n der K ö r p e r z u s a m m e n g e s e t z t ist. Die Summe von Thätigkeiten, welche wir am Stein beobachten, ist nicht Eigenthum des Steins (als solchen), sondern seiner einzelnen Theile. Die Körper (oder Massen) haben keine (besonderen) Kräfte, keine (besonderen) Eigenschaften: sie zeigen nur die Kräfte ihrer Bestandtheile und sind nicht im Stande, andere Kräfte zu zeigen, als ihre Bestandtheile haben, und sie hätten überhaupt kein Vorhandenseyn (Existenz) ohne diese. So spricht aus dem Körper nur das, was in seinen Ur-theilen liegt" (DROSSBACH: Herrn d. Ergeh, d. Naturforsch. Seite 24. 25. 51). Wenn P y t h a g o r a s . bekanntlich die ganze Natur als eine sichtbare Verkörperung ursprünglicher Z a h l e n v e r h ä l t n i s s e betrachtete, so zeigen sich auch die hier erwähnten Naturverhältnisse einer solchen Anschauung keineswegs ungünstig. Um körperliche Massen in Bezug auf ihre verschiedenen inneren wie äusseren Massenverhältnisse mit einander zu vergleichen, müssen wir dieselben entweder räumlich messen oder sie nach ihrer inneren Schwere wägen. Wollten wir sie aber in Bezug auf die Menge der in ihnen enthaltenen Einzeldinge oder der durch diese gebildeten einzelnen Massentheilchen prüfen, so müssten wir diese — wenn deren unwahrnehmbare Kleinheit solches nicht zur Unmöglichkeit machte — zählen. Zum Zählen aber bedürfen wir der E i n e r und zwar vor allem der Einer von noch einfachster und ursprünglichster Art, wie solche uns in den Zahlen von 1 bis 9 gegeben sind. Eben diese noch ersten, einfachsten und ursprünglichsten Einer weisen uns in Bezug auf die erwähnten inneren Zusammensetzungsverhältnisse einer jeden körperlichen Masse auf jene ebenfalls noch einfachsten und ursprünglichsten stofflich-körperlichen Einzeldinge hin, welche ebenso die urnothwendigste Grundlage für alle Massenbildungen darstellen,

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechsel Verhältnissen.

wie jene noch einfachsten Zahleneinheiten die urnothwendigsten Grundlagen für alles weitere Zählen und Rechnen mit höheren Zahleneinheiten. Denn sind wir mit diesen ersten Grundzahlen bis zur Zahl 9 gekommen, so sind wir ausser Stande in derselben Weise wie bis dahin noch weiter fortzuzählen. Wir sind vielmehr genöthigt, uns einer n e u e n und h ö h e r e n , weil alle Zahlen von 1 bis 9 in sich enthaltenden und eben dadurch i n h a l t s r e i c h e r e n E i n h e i t zu bedienen, die wir nicht mehr als Eins, sondern als eine Einheit von höherer Art und Bedeutung, nehmlich als 10 m a l E i n s oder als 10 bezeichnen. Versinnbildlichten uns daher jene ersten Zahlen von 1 bis 9 die an sich noch einfachsten Ur- und Grundbestandtheile aller körperlichen Dinge, so hätten wir nun in den folgenden Zahlen von 10 bis 19, sowie ferner von 20 bis 29 etc. jene ersten wirklichen M a s s e n t h e i l c h e n vor Augen, die uns in ganz ähnlicher Weise höhere s t o f f l i c h k ö r p e r l i c h e N a t u r e i n h e i t e n darstellen, wie die sämmtlichen auf 10 folgenden Zahlen uns höhere Z a h l e n e i n h e i t e n vorführen. Und wie wir endlich, bei 99 angelangt, nun mit 100 eine dritte, noch h ö h e r e und i n h a l t s r e i c h e r e Z a h l e n r e i h e beginnen: so haben wir in eben dieser nunmehr einen ganz natürlichen und begrifflichen Hinweis zu erblicken auf jene eigentlichen k ö r p e r l i c h e n M a s s e n im eigentlichen Sinn des Wortes. Denn wir haben ja bei ihnen gesehen, dass sie ebenso nothwendig ganz bestimmte, wenn gleich uns gänzlich unbekannte Mengen oder Zahlen von Massentheilchen in sich einschliessen müssen, wie auch diese Letzteren ebenfalls eine ganz bestimmte, aber uns völlig unbekannte Menge oder Zahl von wirklich stofflich-körperlichen Einzeldingen in sich bergen müssen. — So ist in der gesammten Natur alles wechselseitig, ein Hinweis und eine Erklärung für das andere: Das Körperliche für das Geistige, das Geistige für das Körperliche. Denn „das Spätere und Höhere —,wie E n n e m o s e r sagt — ist in

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 7 9

dem Früheren und Niederen in potentia enthalten" Geist d. Menschen. Seite 739).

(ENNE-

MOSER:

N o . 101. Sie Wechselwirkungen und die allgemeine Weltordnung. Das „ G e s e t z der W e c h s e l w i r k u n g " bezeichnet Ritter sehr treffend als das „ G e s e t z des W e l t z u s a m m e n h a n g e s " (RITTER: Unsterblichkeit. Seite 172). Und in der That liegt in diesem Ausspruch das natürliche Geheimniss des gesammten einheitlichen Weltganzen. Wie die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen stofflich-körperlichen Urund Einzelwesen es sind, in denen wir soeben die erste Grundlegung nicht nur zu den ersten einheitlichen M a s s e n t h e i l c h e n , sondern weiterhin auch zu allen k ö r p e r l i c h e n M a s s e n der noch ungestalteten Natur haben erblicken müssen: so erscheinen sie nunmehr einen Schritt weiter auch als die natürlichen Begründer des gesammten stofflich-körperlichen W e l t z u s a m m e n h a n g s und damit der gesammten naturgesetzlichen W e l t o r d n u n g . Dort unmittelbarer Zusammenhang nur mit den allernächsten und darum auch sämmtlich einander sich unmittelbar berührenden Einzeldingen: hier dieselbe Weise eines stofflich-körperlichen Zusammenhangs der natürlichen Dinge, aber durch lange Reihen von körperlichen Massen und Einzeldingen hindurch, die nicht mehr in bloss u n m i t t e l b a r e r , sondern zum grössten Theil in nur m i t t e l b a r e r Verbindung mit einander stehen. Aber auch in diesen letzteren Fällen bleiben allewege jene ersten und urwüchsigen Grundverhältnisse die natürlichen Säulen und Träger auch für den gesammten stofflich-körperlichen Verkehr, in welchem alle Dinge dieser Welt bis in die weitesten Entfernungen zu einander stehen. Als einen der einfachsten Belege hierfür dürfen wir ohne Zweifel den gegenseitigen Wechselverkehr betrachten, welcher erfahrungsgemäss unausgesetzt zwischen der Sonne

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

und unserer Erde statt hat. Es ist ein bekanntes Naturgesetz, dass alle Welt- und Himmelskörper sich wechselseitig nach dem Gewicht oder der Schwere ihrer Massen anziehen. Es kann diese wechselseitige Anziehung der Himmelskörper ihren ersten Grund und Ursprung jedenfalls nur allein aus eben jenen ersten, ursprünglichsten und unmittelbarsten Wechselanziehungen herleiten, aus deren Bethätigung nicht allein jene ersten und noch einfachsten Massentheilchen, sondern auch alle grösseren Körpermassen, mithin auch alle Weltund Himmelskörper, nach unwandelbaren Naturgesetzen einmal müssen hervorgegangen seyn. Da aber alle Wechselwirkungen in erster' Linie nur auf wechselseitiger B e r ü h r u n g der betreffenden Körper oder Körpertheile beruhen: so ist es selbstverständlich, dass auch von gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen der Sonne und unserer Erde in keiner Weise die Rede seyn könnte, wofern nicht von der Natur selbst irgend eine Art von vermittelnder Verbindung zwischen beiden sich thatsächlich hergestellt fände. Eine solche von der Sonne bis zur Erde reichende und einen thatkräftigen Wechselverkehr zwischen beiden Weltkörpern ermöglichende Vermittelung kann aber auf keinem anderen Wege in befriedigender Weise sich verwirklicht zeigen als dadurch, dass die ganze Entfernung zwischen Sonne und Erde von hierzu geeigneten stofflichkörperlichen Massen und deren Einzeldingen derart sich erfüllt findet, dass sie alle durch den ganzen Raum hindurch in einer fortlaufenden Wechselverbindung durch wechselseitige Berührung unter einander sich befinden. Und fragen wir nun auch noch weiter nach der eigentlichen stofflich-körperlichen Natur eben jener zwischen Sonne und Erde befindlichen Fortleiter von wechselseitigen Kraftaus- und Krafteinwirkungen: so können wir in keinem Zweifel darüber seyn, dass nur die l u f t f ö r m i g e n S t o f f e mit ihren ebenfalls luftförmigen Einzelbestandtheilen, von welchen wir den ganzen Himmelsraum erfüllt wissen, es sein können, welchen diese Rolle zufallen

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 8 1

muss. Denn wären jene Stoffe nicht von luftförmiger Natur, so würde auch nicht der allergeringste Lichtstrahl jemals von der Sonne bis auf unsere Erde zu gelangen im Stande seyn. Nur dadurch, dass in einer jeden geraden von der Sonne bis zur Erde reichenden Strahlenlinie von der Sonnen- bis zur Erdoberfläche eine lange Reihe von unmittelbar sich berührender Lufttheilchen gebildet wird, findet sich auch thatsächlich eben jene fortlaufende allseitige W e s e n s S t e t i g k e i t durch die ganze Entfernung von der Sonnen- bis zur Erdoberfläche hergestellt, ohne welche ein wechselseitiger Austausch von Kraftauswirkungen und Krafteinwirkungen in keiner Weise könnte gedacht werden. Schon bei den S t o i k e r n findet sich nach T i e d e m a n n die Ansicht ausgesprochen, dass „alle Körper in unmittelbarer Berührung stehen und dass somit die Welt überall e i n e u n u n t e r b r o c h e n e S t e t i g k e i t (ein Kontinuum)" darstelle, in Folge dessen denn auch gleichzeitig „ein einziges in a l l e n T h e i l e n z u s a m m e n h ä n g e n d e s G a n z e ausmache" (TIEDEMANN: Geist d. spek. Phil. II. S. 459.) — So sagt auch S u a b e d i s s e n , dass „mit dem Begriff der Wechselwirkung zugleich der Begriff einer w i r k l i c h e n G e m e i n s c h a f t " , und zwar einer „ G e m e i n s c h a f t a l l e r D i n g e " sich ergebe, in welch Letzterer er denn auch zugleich die eigentliche „Begründung des B e g r i f f s d e r W e l t " erblickt (SUABEDISSEN: Grundz. d. Metaphys. S . 2 2 . 2 3 . ) — Ebenso H e r b a r t . „Nach allen naturphilosophischen Grundsätzen" — sagt er — „müssen alle n a t ü r l i c h e n E i n z e l w e s e n (Substanzen) d e r W e l t in Wechselwirkung stehen." Und an einem anderen Orte, diesen Ausspruch gleichsam noch ergänzend: „Die A l l h e i t erfordert, dass von dem Vielen, welches als v e r e i n i g t aufzufassen ist, nichts als u n v e r e i n i g t übrig blibe" (HEBBAET V. S. 519. VII. S. 551. — S c h ö l l i n g bezeichnet das „ W e l t a l l (Universum)" als eine „ a l l g e m e i n e W e c h s e l w i r k u n g der natürlichen Einzeldinge (Substanzen) überhaupt, „die S c h w e r e " aber (und folglich auch die allen Einzeldingen ebenso ausnahmslos zukommende Anziehungskraft) als Wandersmann. II.

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„ein B a n d des einzelnen Dinges mit a l l e n anderen D i n g e n " (SCHELLINU III. S. 481. 515. IV. S. 36. VII. S. 234). — „Die Erklärung der Erscheinungen" — sagt R i t t e r — „hat uns angewiesen, die besonderen Einzeldinge (Substanzen) der Welt nicht ohne ihre Verbindung unter einander zu denken. Sie stehen unter dem allgemeinenGesetze der Wechselwirkung: nur dadurch erscheinen sie einander. Sie sind nicht allein für sich bestehende Dinge, sondern auch G l i e d e r der W e l t , und indem sie in die Erscheinung eintreten, sollen sie einander g e g e n s e i t i g h e l f e n , die Erscheinungen als ihr g e m e i n s a m e s W e r k hervorzubringen" (BITTER: Unsterblichkeit S. 142). Bereits bei unseren Betrachtungen über das gegenseitige Wechselverhältniss zwischen bloss zwei körperlichen Einzeldingen haben wir darauf hingewiesen, wie eine jede Kraftwirksamkeit, welche ein solches Einzelding von dem anderen an und in sich erfährt, in diesem Letzteren selber plötzlich in der Weise umschlägt, dass diese Einwirkung in seinem eigenen Innern in eine neue Ursache eigener selbstthätiger Kraftwirksamkeit nach aussen hin sich umwandelt. Eben dieses selbe Verhältniss tritt aber nunmehr noch augenscheinlicher uns entgegen, wenn wir jene ununterbrochenen Aneinanderreihungen in das Auge fassen, durch welche eine jede Kraftwirksamkeit bis in die weitesten Fernen hinaus ihre natürliche Yermittelung zu finden hat. H 0 b b e 3 sagt in dieser Beziehung: „Wenn das Thätige und das Leidende einander b e r ü h r e n , so nennt man Handlung und Leiden u n m i t e l b a r , sonst m i t t e l b a r . Der Körper, welcher (in diesem letzteren Fall) zwischen dem Handelnden und dem Leidenden in der Mitte liegt, an beide anstossend, ist sowohl t h ä t i g als l e i d e n d : thätig rücksichtlich des f o l g e n d e n , auf welches er wirkt, leidend rücksichtlich des v o r h e r g e h e n d e n , von welchem er leidet. Wenn nun mehrere Körper so gereiht sind, dass immer die zwei nächsten aneinanderstossen, so

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sind alle in der Mitte zwischen den ersten und letzten sowohl t h ä t i g als l e i d e n d : der erste h a n d e l t nur, der letzte aber l e i d e t nur" (BAUMANN: Raum u. Zeit I . S . 3 0 0 ) . Ebenso sagt auch Jacobi: „Wenn Einzeldinge (Individuen) ausser der innerlichen (immanenten) Handlung, wodurch ein jedes sich in seinem Wesen erhält, auch das Vermögen haben, a u s s e r sich zu wirken, so müssen sie, wenn die Wirkung erfolgen soll, andere Wesen m i t t e l b a r oder u n m i t t e l b a r berühren" (JACOBI II. S. 212. HEGEL I. S. 56). So sehen wir also hieraus deutlich, wie auch in diesen unübersehbar-vielfach zusammengesetzten Verhältnissen von Wirkungen in die weite Ferne hinaus eine jede von dem Vorgänger erfahrene K r a f t e i n w i r k u n g in dem Körpertheil, das dieselbe an sich erfährt, eine natürliche U r s a c h e wird zu eigener Krafteinwirkung gegenüber dem nächsten N a c h f o l g e r in der Reihe, in welchem dieselbe alsbald ebenfalls wieder als K r a f t e i n w i r k u n g auftritt, und so fort durch die ganze Reihe hindurch vom ersten Körpertheil bis zum letzten. In Folge eben dieses Umschlagens der in einem fremden Körperwesen hervorgebrachten Wirkung in eine neue Ursache sagt denn auch Novalis ganz richtig, dass eine j e d e U r s a c h e wieder n e u e U r s a c h e n e r w e c k e (NOVALIS III. S. 2 9 0 ) . Und ebenso S c h ö l l i n g , dass „wie auf jede Ursache ihre Wirkung folgt," so auch „jede W i r k u n g wieder zur U r s a c h e werde" (SCHELLING I. S . 3 8 4 ) . Desgleichen V i r c h o w . „Die Ursache" — sagt er — „hat die Wirkung in ihrem nothwendigen Gefolge, und die W i r k u n g wird wieder zur U r s a c h e einer n e u e n W i r k u n g " (FBOHSCHAMMEB: Athenä. III. Seite 126). So wären wir denn nunmehr bei dem eigentlichen Schlussergebniss unserer ganzen Untersuchung angelangt. Dasselbe lautet folgerichtig dahin, dass kein einziges in dieser Welt vorhandene in sich selbständige Einzelding oder Einzelwesen ausschliesslich nur um seiner selbst willen da ist, noch da 6*

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

seyn kann. Jedes Ding, das nur allein für sich und ausser aller und jeder Verbindung mit seinen übrigen Mitwesen wäre, würde für das Weltganze so gut wie todt oder wie gar nicht daseyend zu betrachten seyn. Denn es fände weder etwas, auf das es einwirken könnte, noch etwas, dem ein Vermögen zukäme, auf es selber eine Einwirkung irgendwie auszuüben. Es müsste Alles ohne Unterbrechung stets beim Alten verbleiben, wie es von jeher gewesen ist, und zwar ebensowohl in Bezug auf die Einzeldinge als solche, als auch in Bezug auf das allgemeine Weltganze. Nur in Folge davon, dass alle Dinge und Wesen dieser Welt durch eben jene ununterbrochenen, das ganze Weltall nach allen Seiten hin durchwaltenden Wechselwirkungen und Wechselverhältnisse in einem steten Abhängigkeitsverhältniss zu einander stehen, kann nicht nur von einem einheitlichen Weltzusammenhang, sondern auch von einer einheitlichen naturgesetzmässigen Weltordnung die Rede seyn. Aber eben hieraus folgt auch des Weiteren, dass selbst ein jedes einfachste stofflich-körperliche Naturwesen, wo immer es sich in dem Bereiche der Welt befinden mag, auf mittelbaren Wegen von allen Seiten und Richtungen her nicht nur K r a f t e i n w i r k u n g e n von a l l e n s e i n e n M i t w e s e n , wo sich dieselben auch befinden mögen, an sich s e l b s t e r f ä h r t , sondern dass es selbst unausgesetzt und auf ebenso mittelbaren Wegen und in ganz ähnlicher Weise K r a f t e i n w i r k u n g e n ohne Unterlass auf alle ü b r i g e n W e s e n d i e s e r Welt ausübt. Da nun aber jedes von allen diesen unzählbaren Einzelbestandtheilen dieser Welt einen a n d e r e n Ort im gesammten Weltall einnimmt, als selbst sein allernächster Nachbar, so geht hieraus gleichzeitig noch hervor, dass es im ganzen Haushalte der Natur auch n i c h t zwei in sich selbstständige Einzeldinge geben kann, welche in aller und jeder Beziehung ganz genau dieselben und einander völlig gleichen Einwirkungen von aussen her an sich zu erleiden haben, noch selbstthätig einander völlig gleiche Einwirkungen auf ihre Um-

D e r Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 8 5

gebung ausführen. Und aus eben diesen Umständen geht denn auch noch weiter ganz folgerichtig hervor, dass es n i r g e n d s in dieser Welt auch nur zwei in a l l e r und j e d e r B e z i e h u n g e i n a n d e r völlig gleiche Einzeldinge geben kann, sey es hinsichtlich ihrer äusseren Gestalt und Grösse oder hinsichtlich ihrer besonderen inneren Wesensbeschaffenheit. Es beruht dies auf ganz denselben Naturgründen, in deren Folge auch nirgends jemals zwei einander in jeder Beziehung völlig gleiche Quarze, noch Pflanzen, noch Thiere erfahrungsgemäss können aufgewiesen werden. Bereits die Stoiker haben diesen Wahrheitssatz ebenso richtig erkannt und mit aller Bestimmtheit ausgesprochen. In gleicher Weise

Spinoza,

Leibnitz,

J. G. F i c h t e ,

Hegel,

Ulrici

und viele Andere (HEINZE: LOGOS. S. 121; SPINOZA: [Ethik] I I . S. 7; ZIMMERMANN: LEIBNITZ Monadol. S. 12; TIEDEMANN: Grundzüge d. spek. Philos. S. 378; B A U E S : Dreieinigkeit I I I . S. 548; J . G. F I C H T E I I . S. 182; V I . S. 373; V I I I . S. 275; HEGEL I Y . S. 45; V I . Seite 234; U L E I C I : Gott u. Nat. S. 593). Ganz dieselbe Thatsache erkennt auch Fechner an in den Worten: „Die Natur wiederholt sich nirgends ganz" (FECHNER: Natur. S. 41). Indem alle Dinge aus dem ganzen Weltall Eindrücke und Einwirkungen an sich erfahren, müssen sie nothwendig auch alle ohne Ausnahme in irgend einer, wenn ihnen selber auch nicht zu eigenem geistigen Bewusstsein kommender Weise wechselseitig etwas von allem dem an und in sich m e r k e n , s p ü r e n oder gew a h r e n , was in stofflich-körperlicher Beziehung im ganzen Weltall stattfindet. Leibnitz hat in dieser Beziehung die Überzeugung ausgesprochen, dass „da alle Dinge in der Welt auf einander Einfluss haben, auch jedes derselben von einer endlosen Menge anderer Bestimmungen annehme, so dass jeder Körper nicht nur von den ihn u n m i t t e l b a r berührenden innerlich erregt (afficirt) wird und so empfindet," was diesen begegnet, sondern auch mittelbar das empfindet, was die

86

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Ersteren berührt, von denen er selbst unmittelbar berührt wird. Die Folge hiervon sey, dass diese Mittheilung sich zu jeder Entfernung erstrecke und dass somit" — fügt LEIBNITZ ausdrücklich hinzu — »jeder Körper alles f ü h l e , was im Weltall vor sich gehe" (TIEDEMANN: Geist d. spek. Philos. VI. S . 414. 468; SENGLEE: Phüos. u. Theol. S. 182). Diese unzweifelhafte Thatsache eines unausgesetzten Wechselverkehrs zwischen allen Naturdingen ohne Ausnahme findet denn auch bei den namhaftesten Denkern wie Kant, H e r b a r t , S c h ö l l i n g , U l r i c i , O e r s t e d und Anderen ihren übereinstimmenden Ausdruck (KANT I L S. 211; YIII. S.

542;

HEEBABT

IV.

S.

460;

SCHELLING

III.

S.

118;

ULEICI: Gott u. Natur. S. 432. 631; OEBSTEDT: Geist u. d. Natur. I. S. 13; IV. S. 116). Dahlberg bezeichnet diesen allgemeinen Weltverkehr aller Dinge unter sich als den „ K n o t e n , der alle Wesen und alle Theile in ein G a n z e s zusammenbindet", darinnen Eines dem Anderen unentbehrlich wird" (DAHLBEEG: Univ. S. 29. 14). Und D r o s s b a c h sagt in Bezug auf dieselben Weltverhältnisse, darinnen die Dinge „sich gegenseitig erscheinen, sich wahrnehmbar machen und sich gegenseitig wahrnehmen", dass in Folge hiervon „ein jeder Körpertheil seine eigene persönliche (individuelle) Geschichte habe, die von der G e s c h i c h t e eines jeden anderen v e r s c h i e d e n i s t " (DEOSSBACH: Genes, d. Bewussts. S. 20. 40. 174).

Nachdem wir uns in dem Vorangehenden mit den Gründen beschäftigt haben, welche dafür sprechen, dass ohne wechselseitige, sey es unmittelbare oder nur mittelbare, körperliche Berührung aller stofflich-körperlichen Einzeldinge auch an keine thatkräftigen Wechselwirkungen zwischen denselben zu denken seyn kann, haben wir nunmehr auch einer diesem entgegenstehenden Ansicht zu gedenken, welche bekanntlich selbst bei Naturforschern nicht selten bis in die Jetztzeit ihre Vertreter findet. Es ist die Ansicht nehmlich, dass derartige

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 8 7

Wechselwirkungen durchaus an keine g e g e n s e i t i g e n Ber ü h r u n g e n der betreffenden Dinge unter sich gebunden seyen, sondern dass im Gegentheil alle körperlichen Dinge ohne Ausnahme selbst durch völlig s t o f f f r e i e B ä u m e bis in die weitesten Entfernungen wechselseitig auf einander einzuwirken vermöchten. Diese Anschauung wird bekanntlich ebensowohl für jene ersten Wechselbeziehungen, dadurch die einzelnen stofflich-körperlichen Urdinge durch ihre wechselseitigen Anziehungen zu ersten und noch einfachsten Massentheilchen sich zusammen gruppiren, geltend gemacht, wie auch für den gegenseitigen Wechselverkehr selbst durch die weitesten Entfernungen hindurch, in welchen die einzelnen Welt- und Himmelskörper, von denen unser Weltall erfüllt ist, erfahrungsgemäss von einander abstehen. So stellte z. B. in Bezug auf jenen ersteren Fall F a r a d a y den Grundsatz auf, dass die körperlichen Einzeldinge, um sich frei in den zusammengesetzten Massen, in denen sie sich befinden, bewegen zu können, sich einander durchaus n i c h t b e r ü h r e n dürfen, sondern dass ein R a u m z w i s c h e n i h n e n seyn müsse, der sie von e i n a n d e r e n t f e r n t h a l t e (DROSSBACH: Harmonie d. Ergb. d. Naturf. S. 47). Es ist jedoch sofort ersichtlich, dass FAKADAY dabei nur an lauter äusserlich gleich grosse und innerlich völlig todte und leblose und darum innerlich völlig unveränderliche einfachste Naturdinge oder Atome gedacht hat. Denn für solche würde es allerdings schwierig erscheinen müssen, sich frei und ungehindert untereinander zu bewegen, wofern ihnen nicht durch freie stoffleere Zwischenräume die erforderliche Möglichkeit hierzu gegeben wäre. Allein diese Schwierigkeit muss sofort als beseitigt sich darstellen, sobald wir jene einfachsten stofflich-körperlichen Urund Grundbestandtheile aller stofflich-körperlichen Massenbildungen als innerlich nicht todt, sondern im Gegentheil in ihrem Innern als natürliche Schauplätze unausgesetzter innerlich-lebendiger Kraftwirksamkeiten in das Auge fassen, womit

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

dann gleichzeitig auch die Möglichkeit für sie gegeben ist, im allgemeinen Wechselverkehr je nach Umständen nicht nur in ihren inneren Wesenszuständen, sondern -auch in ihren gegenseitigen äusseren Grössenverhältnissen in einer solchen Weise sich zu ändern, dass in Folge hiervon auch eine fortdauernde V e r s c h i e b b a r k e i t unter einander sich für sie als naturgemäss ermöglicht darstellen muss. „Wir bedürfen des leeren Raumes zwischen den Einzeldingen n i c h t " — sagt Ulrici. „Die Bewegung kann sehr wohl ohne ihn stattfinden, sobald wir voraussetzen, dass die Widerstands- (oder Ausdehnungs-) kraft der Einzeldinge nicht nur nach aussen (extern) sey, sondern auch im Inneren (intensiv) eine verschiedene (und in Folge dessen unter Umständen auch veränderliche) sey: äusserlich (extensiv), sofern sie einen g r ö s s e r e n oder ger i n g e r e n K a u m erfüllt, innerlich (intensiv), sofern sie denselben mit g r ö s s e r e m oder g e r i n g e r e m N a c h d r u c k (Energie) behauptet" (ULKICI: Gott u. Nat. S. 468. 469). In Bezug auf eben diesen Einwand FABADAY'S darf ein Ausspruch von Descartes nicht ausser Acht gelassen werden, nach welchem der Gedanke auch nur an die Möglichkeit derartiger stoffloser Abstände zwischen den betreffenden einzelnen Körpertheilchen als dem Reiche der Träume zugehörig muss erkannt werden. „Wenn zwischen zwei Körpern" — sagt nehmlich Descartes — „ n i c h t s in der M i t t e liegt, so m ü s s e n sie einander berühren, und es ist ein offenbarer W i d e r s p r u c h , dass sie von einander abstehen sollten oder dass zwischen ihnen ein A b s t a n d sey, und dieser Abstand doch n i c h t s sey (oder nichts seyn solle). Denn" — so fügt er ausdrücklich hinzu — „jeder A b s t a n d ist eine Weise von A u s d e h n u n g und er kann daher n i c h t ohne eine a u s g e d e h n t e W e s e n h e i t (Substanz) seyn (oder überhaupt ohne eine solche vorhanden seyn oder bestehen)" (DESCARTES: Oeuvres S. 310; Princip IL S. 18). Dass „Nichts-seyn" und „Nicht-seyn" einander völlig deckende Begriffe sind, muss

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 89 DESCAETES doch sicher zugestanden werden. Stellt der stofflose leere Raum also jedenfalls auch ein wirkliches N i c h t s dar, so ist selbstverständlich, dass er selber in Wirklichkeit gar n i c h t seyn, noch irgendwie b e s t e h e n kann. Es vermag also auch der wesenlose leere Raum oder das reine wesenlose Nichts die Dinge in keiner Weise räumlich von einander zu trennen oder zu scheiden. Den gleichen Standpunkt vertritt auch Ulrici. „Der leere Raum" — sagt er — „vermag offenbar n i c h t zu leisten, was ihm zugemuthet wird. Er vermag die Einzeldinge (Atome) nicht auseinander zu halten, ohne s e l b s t eine scheidende, trennende, entfremdende Kraft zu besitzen: und b e s ä s s e er eine solche Kraft, so wäre er vielmehr ein D i n g , ein K ö r p e r oder S t o f f , aber n i c h t m e h r der blosse leere Raum. Es leuchtet ein, dass, wenn zwischen den Einzeldingen (Atomen) stets und überall ein leerer Raum sich befände, von einem Zusammentreffen derselben nicht die Rede sein könnte. Es wäre unmöglich, dass ein Einzelding das andere je berührte: es wäre unmöglich, dass ein Einzelding, ein Massentheilchen (Molekül), ein Körper, einen Stoss oder Druck auf einander ausüben könnte. Die ganze Natur wäre und bliebe nothwendig ein zersplittertes Durcheinander (Chaos) von Einzeldingen, die niemals zu Massen und zu bestimmten Körpern zusammengehen könnten. Denn ein solches Zusammengehen setzt die A n z i e h u n g s (Attractions-) oder Schwerkraft und diese ein gegenseitiges Sich-Berühren und Drücken voraus" (ULRICI: Gott u. Natur. S. 487. 438. 468).

Was den zweiten Punkt betrifft, die Möglichkeit eines gegenseitigen Wechselverkehrs der Welt- und Himmelskörper durch einen aller ihn erfüllenden stofflich-körperlichen Wesenheiten baaren und vollkommen leeren Weltraum hindurch: so galt bekanntlich längere Zeit N e w t o n als einer der hauptsächlichsten Vertreter dieser Ansicht (SCHELLING II. S . 204). Allein ebenso bekannt ist es auch, dass NEWTON selber in

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

einem Briefe an B E N T L E Y diese Ansicht als durchaus n i c h t die seinige bezeichnet. E r spricht nehmlich in diesem Briefe sich bestimmt dahin aus, dass es ihm eine so grosse U n g e r e i m t h e i t zu seyn scheine, dass ein Körper auf einen anderen in die F e r n e durch einen l e e r e n R a u m (ein vacuum) wirken könne, ohne Vermittelung von Etwas, w o m i t und w o d u r c h die Wirkung und die Kraft von einem zum andern f o r t g e f ü h r t werde: dass er glaube, dass K e i n e r , der in philosophischen Dingen eine ausreichende (competente) Fertigkeit des Denkens besitze, jemals in dieselbe verfallen könne" (NEWTON [ E D . MOBSHLEY 1 7 8 3 ] : IV. S . 4 3 8 ; U L K I C I : Gott u. Nat. S. 4 8 6 . 4 8 7 ; H E T T I N G E B : Apolog. I. S. 1 7 6 ; H E R BABT III. S. 95). Dieser scheinbare Widerspruch in Bezug auf NEWTON'S Denkweise über diese Frage erklärt sich bekanntlich einfach dadurch, dass N E W T O N , welcher Berechnungen in Bezug auf die Bewegungen der Himmelskörper anstellte, seine ganze Aufmerksamkeit ausschliesslich auf die wechselseitigen Verhältnisse bezüglich deren Schwere in das Auge fasste. E r nahm keine Rücksicht auf etwaige körperliche Stoffe, welche den zwischen den Himmelskörpern befindlichen Weltraum erfüllen könnten, um nicht durch sie im Hauptzweck seiner Berechnungen gestört zu werden (HEBBABT III. S. 449; IV. S. 445). Bau mann spricht sich über diese F r a g e , ob Wirkungen in die Ferne durch einen von stofflich-körperlichen Dingen völlig freien Raum hindurch überhaupt möglich seyn möchte oder nicht, folgendermaassen aus: „Ob zwei Einzeldinge (Elemente) einander b e r ü h r e n oder durch einen Zwischenraum von vielen Meilen g e t r e n n t sind, das macht das Einwirken des einen auf den anderen n i c h t einl e u c h t e n d e r (plausibler). Der Satz: »es kann etwas nicht da wirken, wo es nicht ist,« hat keine begriffliche N o t wendigkeit. Der Magnet wirkt, wo er nicht ist: er zieht die Eisenspäne über einen sichtbaren Raum hinüber von sich aus an. Heutzutage ist die Naturlehre (Physik) geneigt, alle

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 9 1

Wirkungen sich ins Unendliche durch den leeren Raum erstrecken zu lassen, nur mit abnehmender Stärke und zwar abnehmend mit der Entfernung" (BAUMANN: Philos. S. 349; Raum u. Zeit. II. S. 581. 586). Dass der Magnet die Eisenspäne selbst aus merklicher Ferne anzieht, ist allerdings Thatsache. Aber bei allen Versuchen, die wir mit ihm anstellen, selbst bei solchen unter der Luftpumpe, ist jederzeit der zwischen ihm und den Eisenspänen vorhandene Raum erfahrungsgemäss mit Lufttheilchen angefüllt. Denn auch der Raum in der Glocke der Luftpumpe kann nie so völlig von aller Luft befreit werden, dass er wirklich im vollen Sinne des Wortes als luftleer dürfte bezeichnet werden. Der Satz, dass etwas nicht da wirken könne, wo es nicht ist, wird also durch das Beispiel des Magneten ebensowenig entkräftet, wie der bereits oben erwähnte Satz von Descartes, dass der reinen stofflosen Leere, also dem reinen wesenlosen Nichts ein Vermögen sollte zukommen können, wirkliche Dinge auseinander zu halten (DESCARTES: Oeuvres. S. 310). „ L i c h t und S c h w e r e " — sagt Herbart — „durchwandern die für l e e r gehaltenen Zwischenräume; das heisst mit anderen Worten: diese Räume sind n i c h t l e e r und nicht alle ür- und Grundbestandteile der Dinge (Elemente) haben sich zu Weltkörpern verdichtet. Man wird nun, da einmal (zur Fortpflanzung des Lichts) eine allgemeine W e l t l u f t (Aether) angenommen wird, eher dem Gedanken Platz gestatten, dass wohl diese nehmliche Weltluft auch noch eine besondere Aufgabe (Function) haben möchte, nehmlich die wechselseitige Anziehung der Himmelskörper (die Gravitation) zu vermitteln. Und hierauf wird man wohl kommen müssen, wenn nicht der l e e r e R a u m , der N i c h t s i s t und also auch n i c h t s v e r m a g , zum Träger des Gesetzes der allgemeinen Weltschwere (Gravitation) soll gemacht werden." Und hieraus zieht Herbart denn auch mit allem Grund den Schluss, dass „die Naturkunde (Physik) schwerlich nöthig habe, eine Wirk-

92

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

samkeit in die (unvermittelte) Ferne oder ein actio in distans anzunehmen" (HEHBABT II. S. 194; III. S. 34; IY. S. 260; I. S. 291). In gleichem Sinne spricht J. H. Fichte sich aus {J. H. F I C H T E : Anthrop. S. 202) und ebenso auch S c h ö l l i n g , welcher ähnlich wie NEWTON selbst jeden Gedanken an eine Wirkung in die Ferne durch einen stoffleeren Raum (actio in distans) geradezu als ein Hirngespinnst (Chimäre) bezeichnet (SCHELLING XI. S. 254). „Die wechselseitige Anziehung der Himmelskörper (die Gravitation)" — sagt R. Schmid — „ist so entschieden eine W i r k u n g in die F e r n e , dass sie uns geradezu als das B a n d erscheint, welches die gesammte stofflich-körperliche (materielle) Welt zusammenhält. Jedes einzelne stoffliche Körperwesen (Atom) ist ihrer Kraft unterworfen. Aber das W i e und W a r u m , d. h. wie und warum ins Besondere Stofflich-Körperliches auf Stofflich-Körperliches (Materielles) in die Ferne wirkt, das vermag uns die Naturlehre (Physik) nicht mehr zu sagen: sie verweist uns auf n i c h t s i n n l i c h e (metaphysische) U r s a c h e n " (R. SCHMID: DAEWIN-Theorie. S. 338. 339). Wo anders könnten wir diese nichtsinnlichen Ursachen suchen und zu finden hoffen, als in «ben der unserer sinnlichen Wahrnehmung unzugänglichen krafterfüllten inneren Wesenheit der stofflich - körperlichen Einzeldinge, welche erfahrungsgemäss als allgemeine W e l t l u f t , sogenannter Ä t h e r , das gesammte Weltall erfüllen? Und so erweist sich denn durch alle Räume dieser Welt hindurch alles E i n z e l n e ebensowohl f ü r d a s G a n z e bestimmt, wie das G a n z e f ü r a l l e s E i n z e l n e . Nur auf diesem Wege zeigt es sich ermöglicht, dass Alles, das Ganze wie das Einzelne, wechselseitig, je nach den besonderen Wesensarten und Wesensbeschaffenheiten in der beiderseitigen Entfaltung der Kräfte und Fähigkeiten durch immer gesteigertere Krafteinwirkungen mehr und mehr sich zu fördern, zur Verwirklichung der allgemeinen wie besonderen Daseynszwecke gegenseitig sich zu unterstützen, zu kräftigen und

Der Wechsel verkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 9 5

einander wechselseitig zu dienen im Stande ist. Nur auf diesem Wege vermag jedes einzelne Naturdaseyn den eigenthümlichen und besonderen W e r t h seines eigenen Wesens und Daseyns seinen Mitwesen gegenüber immer vollständiger an den Tag zu legen. „Was g e l t e n soll" — sagt Göthe — „muss w i r k e n und muss d i e n e n " (GÖTHE: TASSO). Wohin wir im Weltall unsere Blicke lenken mögen, überall herrscht Ordnung, Übereinstimmung und wechselseitige Ausgleichung inmitten eines unausgesetzten Wechsels und Wandels in dem, was ist und geschieht. „Die innerlich-wesenhafte Zusammenstimmung (die Sympathie) der Wechselwirkung" — sagt Ennemoser — »liegt a l s o schon in dem natürlichinnerlichen Einklang (in der Harmonie) der stofflich-körperlichen (physischen) Anlage, d. h. in der G e s a m m t g l i e d e r u n g (Gesammtorganik) der Welt" (ENNEMOSEB: Geist d. Mensch. S. 451). Daher sind auch Krause, J. H. Fichte und Andere wohl gewiss in ihrem vollen Rechte, wenn sie die Überzeugung aussprechen, dass eben diese von Uranfang an allseitig so wohl geordneten und die ganze Natur durchwaltenden Wechselverhältnisse es seyn möchten, welche LEIBNITZ bei seiner Annahme einer von jeher feststehenden allgemeinen Ubereinstimmung aller natürlichen Kraftbethätigungen oder — wie LEIBNITZ selbst sich ausdrückt — einer alle Dinge unter sich in innerer Wesenszusammenstimmung erhaltenden „ p r ä s t a b i l i r t e n (d. h. von jeher im voraus festgestellten) H a r m o n i e vor Augen mochten geschwebt haben. „Jedes einheitliche Naturwesen (Realwesen)" — sagt J. H. Fichte — „hat zufolge der inneren Bestimmtheit seiner Anlagen einen scharfbegränzten W i r k u n g s k r e i s (Wirkungssphäre) in A n d e r e s , wie eine Befähigung der E m p f ä n g l i c h k e i t f ü r A n d e r e s , beides nach g e n a u b e s t i m m t e r V o r a u s a n l a g e (Präformation). Diesen doppelseitigen Begriff einer allgemeinen Vorausfeststellung (universellen Präformation) hat schon Leibnitz mit sinnreicher Bezeichnung ausgedrückt (formulirt): »dass ein

94

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen,

jedes natürliche Einzelwesen (jede Monade) für sich, S p i e g e l des g a n z e n W e l t a l l s (Universums)«, in einen nichtsinnlichen (idealen) Zusammenhang mit dem Ganzen hineingestellt sey, dass aber gerade darum eine »vorausbestimmte Harmonie« alle einfachen Einzelwesen (Monaden) umfasse, durch deren im voraus festgestellte Eintracht sie das Bild eines wohlgeordneten (harmonischen) Weltganzen hervorzubringen vermöge" (J. H. FICHTE: Seelenfortd. S. 178. 179; Anthrop. S. 43; KRAUSE: Vorl. üb. d. Syst. d. Philos. S. 4 4 0 ) .

N o . 102.

Kraftsteigerungen. Übung als natürliches Kittel zu Kraftsteigerungen. Kraft und Arbeit. Wechselseitige Umsetzungen der Arbeitsleistungen.

Ein einzelnes Einzelwesen, ausser aller und jeder verbindenden Berührung mit noch anderen Einzelwesen, wäre so gut wie todt oder gar nicht vorhanden. Es hätte nichts vor sich, um mit seiner es innerlich durch waltenden Kraft auch nach aussen hin darauf einzuwirken, und hätte auch nichts neben sich, welches auf es selber eine Einwirkung auszuüben im Stande wäre. Erst durch jene unübersehbaren Verkettungen von Ursachen und Wirkungen allert Art, darauf der einheitliche Zusammenhang aller Dinge vermittelst der allenthalben ohne Unterbrechung statthabenden Wechselwirkungen zu einem einigen grossen Weltganzen von Uranfang an sich gründet, sind wechselseitige Einwirkungen der Dinge unter einander und mit diesen zugleich eben jener stete Wechsel von inneren Kraftbindungen wie Kraftentbindungen überhaupt ermöglicht. Denn wenn auch die natürliche G e w i c h t s g r u n d z a h l , auf deren stetiger Wirksamkeit nicht nur das in sich selbständige Daseyn der Dinge, sondern auch deren besondere stoffliche W e s e n s a r t beruht, eine unter allen Umständen völlig u n v e r ä n d e r l i c h e Z a h l bildet, so sind doch die be-

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 9 5

sonderen W i r k u n g s w e i s e n ,

unter

denen

dieselbe

sich

im

wechselnden Verkehr mit der • Aussenwelt befindet, bald als Anziehungs- oder Abstossungskraft, bald als Schall-, Wärmeoder Leuchtkraft, als magnetische oder elektrische Kraft, v e r änderlich.

Sie

sind

je

nach

der

Gunst

oder

Ungunst

äusserer Verhältnisse ebenso veränderlich, wie jene gleichzeitig damit Hand in Hand gehenden besonderen

Wesenszustände,

welche die betreifenden Dinge im allgemeinen Wechselverkehr in

ihrem

dieser,

eigenen

bald

wesenhaften Innern

unausgesetzt

in jener Richtung an sich erfahren.

bald in So wird

z. B. ein kalter Körper, der in die Nähe eines warmen gebracht

wird,

in

Folge

Wechselwirkungen,

der

zwischen

erwärmt,

beiden

indem

der

Körper an seiner bisherigen Wärme verliert. bindung

irgend

gebundener

eines

bestimmten

statthabenden

bis

dahin warme

Dort also

Maasses

und unwirksamer wärmender Kraft,

kehrt B i n d u n g

bis

Entdahin

hier umge-

eines bis dahin in Wirksamkeit befindlichen

Maasses derselben Kraft.

Bei Körpern von der gleichen stoff-

lichen Art und von gleicher Anzahl der in ihnen enthaltenen Einzelbestandtheile werden beide, das Maass der Wirksamkeitszunahme auf der einen und das der Wirksamkeitsabnahme auf der anderen Seite, einander völlig die Waage halten müssen. Bei Körpern von ungleicher Wesensart oder von Anzahl

der

in

ihnen

enthaltenen

ungleicher

Einzelbestandtheile

wird

selbstverständlich ein durch die Mitwirkung sonstiger äusseren Umstände und Verhältnisse mitbedingter U n t e r s c h i e d schen beiden Seiten stattfinden.

zwi-

Und somit wird auch in der

äusseren Erscheinung z. B . die E i g e n s c h a f t zu erwärmen in dem einen Körper als eine z u n e h m e n d e oder s t e i g e n d e , in dem anderen dagegen als eine a b n e h m e n d e oder s c h w ä c h e r werdende

sich

darstellen.

Denn j e

stärker

im Innern

das

Maass der entbundenen wärmenden Kraftwirksamkeit oder die I n t e n s i t ä t derselben zunimmt, in demselben Verhältniss muss sie auch nach aussen hin, oder in ihrer E x t e n s i t ä t ,

indem

96

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

sie hier als wärmende Eigenschaft an den Tag tritt, zunehmen. Oder mit anderen Worten: der Menge oder der Q u a n t i t ä t des innerlich wirksamen K r a f t m a a s s e s muss auch im Äussern die darauf sich gründende besondere E i g e n s c h a f t oder die Q u a l i t ä t der betreffenden Dinge entsprechen. Denn allewege ist das innerlich wirksame Kraftmaass das Begründende der ihm entsprechenden Eigenschaft, mit welcher wir jene Dinge thatsächlich in die äussere Erscheinung eintreten sehen. Die besonderen Maasse oder Grade, mit welchen die Dinge auf Grund eben dieser Zu- und Abnahme von innerlichen Kraftwirksamkeiten nach aussen hin aufzutreten vermögen, finden folgerichtig auch in einer jeden gebildeten Sprache ihren begrifflichen Widerhall durch entsprechende besondere Namen, welche wir diesen Gradverschiedenheiten beilegen. Und sehen wir genauer zu, so werden wir finden, dass diese sprachliche Bezeichnung für die in Rede stehenden Maassverhältnisse sich im Allgemeinen auf jene drei HauptVergleichungsstufen gründet, welche von der Sprache die drei Maasssteigerungen von „ v i e l , m e h r und am m e i s t e n " bezeichnet werden. M a c h t , S t ä r k e und G e w a l t sind bekanntlich die drei sprachlichen Bezeichnungsweisen, womit wir jenen drei verschiedenen Steigerungen von inneren wie äusserlichen Kraftwirksamkeiten im Allgemeinen Ausdruck geben. Der Begriff der M a c h t , als dessen Grundwurzeln die Begriffe von mögen und vermögen zu betrachten sind, ist nach W e i g a n d gleichbedeutend mit dem Begriff eines „grossen Vermögens" oder einer „grossen Wirkungstüchtigkeit": er entspricht unserem Allgemeinbegriff des „ v i e l " . In dem Begriff der S t ä r k e dagegen findet der Begriff der ursprünglichen „Macht" oder einfachen „ W i r k u n g s t ü c h t i g k e i t " sich gesteigert zu dem der „ W i d e r s t a n d s t ü c h t i g k e i t " oder der „Tüchtigkeit, jedem Widerstand zu trotzen": ihm entspricht somit der Begriff des „ m e h r " . Und in dem Begriff der G e w a l t endlich

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 97

steigert sich der ursprüngliche Machtbegriff nochmals von der gleichsam noch in sich verschlossenen „Widerstandstiichtigkeit" der „Stärke" zu dem einer „ z w i n g e n d e n M a c h t " , die selbst jeden Widerstand zu brechen und zu vernichten im Stande ist: die „ G e w a l t " bezeichnet also den h ö c h s t e n G r a d von S t e i g e r u n g , wie solcher auch in dem Begriff des „am m e i s t e n " mit eingeschlossen liegt. In dem bekannten Erfahrungssatz, dass „Gewalt vor Recht" gehe, findet sich eben diese zwingende Bedeutung des Gewalt-Begriffes unverkennbar ausgeprägt (WEIGANG: Syn. II. S. 342; III. S. 988). Wie sehr nahe diese drei Begriffssteigerungen von Macht, Stärke und Gewalt mit den dreifachen aristotelischen Wechselbegriffen von „Dynamis", „Entelechie", „Energie" sich zeigen: dies dürfte wohl ebenfalls kaum zu verkennen sein. So gründen sich alle G r a d u n t e r s c h i e d e allenthalben auf M a a s s u n t e r s c h i e d e , diese aber in letzter Quelle auf Zahlenunterschiede. Auch hier also Hinweise auf jene allgemeinen Wesensgrundbegriffe von Innerstem, Innerem und Äusserem. Die Z a h l entspricht dem Innersten, als die eigentliche Wesensgrundzahl begrifflich in sich einschliessend; das Maass dem Inneren, als dem eigentlichen Schauplatz aller thatsächlichen Wirksamkeit der in eben jener innersten Wesensgrundkraft mit eingeschlossenen einheitlichen Kraftfülle; der G r a d entspricht dem Ausseren, in welchem dies innerliche Maass von thatsächlicher Kraftwirksamkeit äusserlich in die Erscheinung tritt. Durch die Unterschiede zwischen den innersten W e s e n s g r u n d z a h l e n der Dinge, die allewege auch in Eins zusammenfallen mit den innersten W e s e n s g e w i c h t e n dieser Letzteren, finden sich gleichzeitig auch die Unterschiede mitbegründet in Bezug auf jene einheitlichen K r a f t m a a s s e , deren unmittelbarer Wirksamkeit die Dinge, wie wir früher gesehen, sowohl die unausgesetzte Verwirklichung ihres Daseyns wie auch ihres gesammten stofflichen Wesensinhaltes verdanken. Wie daher die Unterschiede Waiidersmauu.

II.

1

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zwischen jenen, auf die einheitlichen innersten Wesensgrundzahlen sich gründenden, Kraftmaasse zugleich die eigentlichen Wesensverhältnisse der Dinge in Bezug auf die Verschiedenheiten ihrer besonderen stofflichen Wesensarten vor die Augen stellen: so weisen uns dagegen diejenigen Unterschiede in den Kraftmaassen, welche erst in Folge des allgemeinen Wechselverkehrs in Bezug auf blosse Bindung oder Entbindung von besonderen Arten von Kraftwirksamkeiten eintreten, darauf hin, dass sie ausschliesslich nur für Veränderungen in den besonderen Wesenszuständen der Dinge eine natürliche Geltung haben, ohne dass damit das stoffliche Wesen selbst oder die besondere s t o f f l i c h e A r t dieses Letzteren irgendwie könnte berührt werden. Dasselbe, was für das Pflanzen- und Thierreich die einzelnen P f l a n z e n - und T h i e r a r t e n sind, das sind in dem Gebiet der noch ungestalteten Natur die besonderen s t o f f l i c h e n W e s e n s a r t e n . Was dort die durch besondere äussere Umstände bewirkten S p i e l a r t e n innerhalb dieser Arten darstellen , das sind hier die ebenfalls durch den Wechsel äusserer Umstände und Verhältnisse herbeigeführten besonderen Wesens z u s t ä n d e , welche innerhalb ihrer einheitlichen stofflichen Wesensart ganz die gleiche begriffliche wie natürliche Kolle spielen, wie die Spielarten der Pflanzen und Thiere innerhalb der besonderen Pflanzen- oder Thierart, welcher sie angehören. In beiden Fällen sind es die Verschiedenheiten in den äusserlichen Kennzeichen und Merkmalen, darinnen die einzelnen Spielarten wie auch die besonderen Wesenszustände nicht nur unter einander, sondern auch von dem allgemeinen Grundgepräge ihrer Arten sich wechselseitig unterscheiden. Wir sprechen häufig von der „Art und Weise", wie etwas ist oder geschieht. Auch in dieser Wortzusammenstellung liegt in dem Begriff der „ A r t " der des H a u p t s ä c h l i c h e n , des F e s t s t e h e n d e n oder F e s t b e s t i m m t e n , des A l l g e m e i n e n , des G e w ö h n l i c h e n oder des G e w o h n t e n mitenthalten, wie in

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dem Begriff der Wesensart; wogegen dem Begriff der „ W e i s e " mehr das N e b e n s ä c h l i c h e , das Z u f ä l l i g e und das V e r ä n d e r l i c h e zukommen. Wenn wir also vorhin von besonderen G r a d - und M a a s s v e r s c h i e d e n h e i t e i i gesprochen haben, in welchen die inneren Kräfte der Dinge sowohl in deren Innerem zu wirken wie auch äusserlich in die Erscheinung zu treten vermögen: waren es in solchem Fall nicht auch nur besondere W i r k u n g s - und E r s c h e i n u n g s w e i s e n , in welchen eben jene innerlichen Grad- und Maassverschiedenheiten unserer sinnlichen Wahrnehmung sich bemerklich machten? Alle diese Gradunterschiede in den Wirkungs- und Erscheinungsweisen der Dinge sind aber erfahrungsgemäss innerhalb gewisser Gränzen ebensowohl der S t e i g e r u n g als einer S c h w ä c h u n g zugänglich, welche sowohl von der inneren Natur und Wesensart der Dinge selbst wie von der Art und Weise der Einwirkungen, die sie von aussen her an sich erfahren, abhängig sind. Ein allbekanntes Natur mittel zur Bewirkung von Kraftsteigerungen besteht in der mehr oder weniger nachhaltigen Ü b u n g in den betreffenden Wirkungsweisen: wogegen durch V e r n a c h l ä s s i g u n g derselben eine Schwächung oder Herabstimmung eintritt. Durch die Übung also wird die natürliche Kraftwirksamkeit vermehrt, verstärkt und angespannt und die Dinge g e w i n n e n an innerer wie äusserer Thatkraft; wogegen bei Mangel an Übung, wie auch in Folge von naturwidriger Überanstrengung Abnahme und Erschlaffung derselben eintritt. „Leise Spuren von der lebenserhöhenden Macht der Übung" — sagt Molitor — „zeigen sich schon in der unteren Natur. So wird die magnetischelektrische Kraft durch Übung verstärkt und die Beweglichkeit der Theilchen (die Mobilität) in den elastischen Körpern dadurch vermehrt, dass sie längere Zeit in Bewegung gesetzt werden, wie z. B. der Schallboden (Resonanzboden) eines länger gespielten Tonwerkzeuges (Instrumentes)" (MOLITOK: Phil.

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d. Gesch. IV. S. 397). Ebenso sagt R ei mar US: „Eine endliche, eingeschränkte Kraft kann ermüden und erschöpft werden; sie kann aber auch durch Ausübung stufenweise zunehmen. Und in gleichem Sinne Ritter ( R I T T E E : Unsterblichk. S. 182): „Alle seine Fertigkeiten soll ein Einzelwesen (Individuum) erst e r w e r b e n ; nur Anlagen zu ihnen bringt es mit zur Welt" (REIMAEUS: Natürl. Relig. S. 684). Auch hier also das Niedrige Vorstufe zum Höheren und das Geistige Erklärung auch für verwandte stofflich - körperliche Verhältnisse. Jede Kraft, insofern sie als eine wirksame K r a f t in ihrer Wirkung auch stets auf ein ganz bestimmtes Ziel und damit auch auf einen bestimmt vorgesteckten Zweck gerichtet ist, heisst A r b e i t . Jede A r b e i t s k r a f t ist somit gleichbedeutend mit w i r k s a m e r K r a f t ; eine gebundene Kraft ist keine Arbeitskraft. In dem Haushalt der Natur geschieht freilich nichts ohne Zweck. Wie jede U r s a c h e ihre W i r kung haben muss, so hat auch eine jede Kraft ihre bestimmte A r b e i t zu verrichten. Die Tropfen eines Wasserfalles, indem sie allmählich das Gestein, gegen das sie aufprallen, aushöhlen, verrichten damit eine n a t ü r l i c h e A r b e i t . Und wie kein Naturding, da es ausser für sich auch allezeit als um des allgemeinen Ganzen willen vorhanden ist, von uns als umsonst daseyend darf betrachtet werden: ebenso auch keine in der Natur wirksame Kraft jemals als eine v e r l o r e n e K r a f t oder v e r l o r e n e A r b e i t . Der Müller hält zwar eine jede in einem herabfallenden Wassertropfen enthaltene Kraft für eine verlorene, wenn der Tropfen nicht auf das Mühlrad, sondern neben dasselbe fällt, und somit durch seine Fallschwere nicht dazu beiträgt, das Rad in seiner Bewegung zu erhalten. Für den Müller kommt nicht in Betracht, ob der für seinen besonderen Zweck verlorene Tropfen statt dessen nicht doch irgend einen anderen Naturzweck erfüllt; denn die menschlichen Zwecke und die wirklichen Naturzwecke pflegen

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nicht immer wechselseitig sich zu decken. Wie aber eine jede Kraftwirkung in eben dem Naturding, auf welches sie einwirkt, auch stets eine Gegenwirkung hervorruft, veranlasst sie dieses Ding zu einer dieser Gegenwirkung genau entsprechenden G e g e n a r b e i t . „Den Satz: die Wirkung ist gleich der Gegenwirkung" — sagt Wiener — „kann man sowohl auslegen: K r a f t ist gleich Gegenkraft, als auch Arbeit ist gleich Gegenarbeit" (WIENER: Grundz. d. Weltordnung. S. 22). Die wirklich a u s g e f ü h r t e A r b e i t , wie sie mit der v o l l b r a c h t e n W i r k u n g auch ihren v o r g e s t e c k t e n Z w e c k erreicht hat, bezeichnen wir als A r b e i t s l e i s t u n g . Wie die U r s a c h e zu ihrer W i r k s a m k e i t und diese zu ihrer W i r k u n g sich verhält: so auch die K r a f t zu ihrer A r b e i t und durch diese zu ihrer L e i s t u n g . Daher sagt auch H e r b a r t , dass „ i m Verkehr (der Dinge unter sich) Leistungen gewechselt werden" (HERBART VIII. S. 1 2 7 ) . Und wenn L a m e n n a i s sagt, dass es „keine Thätigkeit gebe ohne K r a f t a u f w a n d " (LAMENNAIS: Phil. II. S. 150), so ist dieser Ausspruch gewissermaassen als ein Hinweis darauf zu betrachten, dass eine jede Arbeitsleistung auch als das Maass sowohl für den sie vermittelnden K r a f t a u f w a n d , wie auch für die diesem zu Grunde liegende K r a f t a n s t r e n g u n g darf angesehen werden. Und so bezeichnet denn auch eben diese Grösse eines Kraftaufwandes sowie die Kraftaastrengung, welche demselben zu Grunde liegt, um eine bestimmte Arbeitsleistung zu verwirklichen, auch recht eigentlich den ganzen K r a f t b e d a r f , welcher naturgemäss erfordert wird, um irgend eine bestimmte Wirkung oder Arbeitsleistung auszuführen. Mit dem erreichten Ziel, mit dem verwirklichten Zweck ist auch die darauf verwendete Arbeit beendet, und was vorhin auf Seiten der veranlassenden Ursache als K r a f t b e d a r f sich dargestellt hat, erscheint nunmehr nach gethaner Arbeit auf Seiten der hervorgebrachten Wirkung als K r a f t v e r b r a u c h oder als die durch vollführte Arbeit v e r z e h r t e K r a f t (WIENER: Grundz.

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d. Welt. S. 26) oder als K r a f t v e r l u s t . Dass wir aber unter eben diesen „verzehrten Kräften" nichts anderes zu verstehen haben, als die während der zu leistenden Arbeit in thatsächlicher Wirksamkeit befindlichen, in Folge der vollendeten Arbeit nunmehr in Unthätigkeit zurückgetretenen und darum in Folge des stattgehabten Wechselverkehres nunmehr wieder g e b u n d e n e n Kräfte; dies bedarf wohl kaum der Erwähnung. Indem wir selbst nach Vollbringung irgend einer etwas schwierigeren Arbeit uns ermüdet und ermattet fühlen, ist dies nichts anderes als durch die mit der Ausführung jener Arbeit verknüpfte B i n d u n g eines vorher in Wirksamkeit befindlichen Kraftmaasses, welches wir in unserem Körper nunmehr als einen wirklichen Kraftverbrauch und Kraftverlust empfinden. Aber wenn wir auch in solchen Fällen ein derartiges Gefühl in uns verspüren, so ist doch damit in Wirklichkeit durchaus nicht gesagt, dass damit auch nur das Allergeringste des uns persönlich von Natur aus zukommenden Kraftmaasses wirklich aus unserem innersten Ich und Selbst v e r s c h w u n d e n wäre. Nur weil dasselbe nunmehr gebunden und unthätig in uns geworden, erscheint es uns als innerlich abhanden gekommen, als innerlich nunmehr gar nicht mehr in uns vorhanden. Wir haben bereits früher darauf hingewiesen, dass dasjenige, was im Wechselverkehr der Dinge von der einen Seite als Mitt h e i l e n von Kraftwirksamkeiten sich uns «darstellt, von der anderen Seite als ein E m p f a n g e n derselben von uns pflegt aufgefasst zu werden. Aber es verhält sich hierin im Haushalte der Natur wie in einem jeden Geschäft mit der doppelten Buchhaltung. Ganz der nehmliche Betrag von Waaren, den wir aus unserem Lager entnehmen, um sie einem Kunden zu senden, erscheint uns in Bezug auf unseren Vorrath an Waaren als eine Abnahme unseres bisherigen Vorrathes und damit als ein Verlust an Waaren: auf Seiten unserer Ausstände bei unseren Kunden aber als Zunahme unserer Ausstände. Und ganz so verhält es sich mit dem Wechselverkehr

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in der Natur. Dasselbe Kraftmaass, welches auf der einen Seite in dem einen Körpertheil gebunden wird, und darum als scheinbarer Kraftverlust sich für uns darstellt, wird auf der anderen Seite, d. h. in einem anderen oder auch wohl in mehreren anderen Körpertheilen als entbunden oder als scheinbare Kraftzunahme von uns aufgefasst. Weder die Gesammtsumme aller in der Naturwirklichkeit vorhandenen Kräfte, noch die Gesammtsumme der den Einzelwesen zukommenden inneren Kraftfülle wird hierdurch berührt: dieselbe bleibt an sich, d. h. was deren eigenes natürliches Maass betrifft, unausgesetzt dieselbe. Daher sagt auch Aristoteles: „Einwirkungen wechselseitig auszuüben und zu erfahren, ist Sache der Gegensätze: sie heben sich g e g e n s e i t i g e i n a n d e r a u f " (ARISTOTELES : Himmelsgeb. S. 121). Und in gleichem Sinne sagt Baco VOtl Verulam: „Alle Dinge wechseln, aber nichts ist verloren" (BACON S. 1 1 7 ) . Eine aufmerksame Naturbetrachtung hat dargethan, oder lässt es wenigstens als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass alle jene Einwirkungen, welche die Aussendinge auf unsere körperlichen Sinne ausüben, und die wir theils als Schall, theils als Wärme, theils als Licht u. s. w. in uns empfinden und wahrnehmen, von gewissen sehr feinen und raschen Beweg u n g e n oder S c h w i n g u n g e n eben der Einzeldinge herrühren, aus welchen die auf unsere Sinne einwirkenden grösseren körperlichen Dinge oder Massen bestehen. Bei einem gewissen Grad der Stärke und der Schnelligkeit dieser Schwingungen vermag unser Ohr dieselben, wenn sie zu ihm durch die jene Bewegungen weiterleitenden anderen Dinge gelangen, als S c h a l l und als Töne wahrzunehmen. Noch rascher und kräftiger müssen diese Schwingungen seyn, wenn sie statt der Schall- und Toneindrücke das Gefühl der W ä r m e in uns erregen sollen. Und die raschesten und thatkräftigsten von allen müssen diejenigen seyn, für deren Aufnahme unser Auge eingerichtet ist, und deren Einwirkungen auf uns wir

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als L i c h t wahrzunehmen vermögen. Es ist immer jene einheitliche Daseynskraft der Dinge, auf deren unmittelbarer Wirksamkeit zugleich mit dem Daseyn auch das gesammte innere Wesen derselben sich gründet, aus welcher in letzter Quelle auch alle die eben erwähnten Kraftwirksamkeiten allein hervorgehen oder auf welche allein sie zurückgeführt werden können, wenngleich allezeit auch die Mitwirkung äusserlicher Anregungen in Folge des allgemeinen Weltverkehrs aller Dinge unter sich als dazu förderlich muss betrachtet werden. Es ist immer Eine Grundkraft, welche als völlig unveränderlich sich darstellt in Bezug auf jene innerste Wesensgrundzahl und jenes uranfängliche innerste Kraftmaass, darauf, je nach deren besonderen Maass- und Gewichtsverschiedenheiten auch zugleich alle s t o f f l i c h e n W e s e n s a r t e n der stofflich-körperlichen Dinge sich gründen. Die Art an sich bleibt unter allen äusserlichen Umständen und Verhältnissen vollkommen unveränderlich; denn auch die durch die unausgesetzte Mitwirkung dieser Letzteren hervorgerufenen inneren wie äusseren Zustandsveränderungen finden sich sowohl in dem Grundbegriff wie in dem natürlichen Wesen der Dinge als natürliche Möglichkeiten und wesentliche Befähigungen zu denselben von Uranfang an mit eingeschlossen. Aber eben hieraus geht auch gleichzeitig ganz unzweideutig hervor, dass alle jene gradweise sich verstärkenden Bewegungs- und Schwingungsverhältnissen der Dinge, darauf die Unterschiede von Schall-, Wärme- und Lichterscheinungen für unsere sinnliche Wahrnehmung sich gründen, in Bezug auf jene Einzeldinge selbst als nichts Anderes dürfen betrachtet werden, denn nur allein als die verschiedenen W i r k u n g s w e i s e n jener innersten einheitlichen Grundkraft der Dinge. Im Wechsel äusserer Umstände und Verhältnisse, durch theilweise Bindungen oder Entbindungen von bestimmten inneren Kraftmaassen, treten diese Wirkungsweisen in die äussere Erscheinung und in dieser vermögen sie in Bezug auf die be-

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sonderen Verschiedenheiten in ihren Erscheinungsweisen sich naturgemäss geltend zu machen. Was sind nun aber alle diese in den verschiedensten Grad- und Maassverhältnissen vor sich gehenden besonderen Weisen von Kraftwirksamkeiten, welche Schall, Wärme oder Licht erzeugen, anders als ebenso viele natürliche A r b e i t s l e i s t u n g e n ? Sie alle müssen nach jenen allgemeinen Naturgesetzen, darauf sie fussen, den bestimmten Maassen von entbundenen Kraftwirksamkeiten, auf das genaueste entsprechen, und es kann dabei in Bezug auf den allgemeinen Haushalt der Natur weder etwas an Kraft hinzukommen noch etwas an Kraft verloren werden. Und somit offenbart sich für uns nunmehr auch jede natürliche A r b e i t s l e i s t u n g ganz einfach als blosse A r b e i t s u m s e t z u n g . Haben wir nicht schon früher gesehen, dass eine jede nach aussen gerichtete Kraftwirkung eines Dinges, indem sie auf ein oder mehrere andere einwirkt, in diesen alsbald in eine Ursache zu neuen Kraftwirkungen sich umwandelt, umsetzt oder umkehrt, ohne dass dabei dem allgemeinen Naturgesetz, dass eine jede Ursache ihren Gesammtwirkungen jederzeit vollkommen gleich seyn müsse, jemals auch nur der geringste Eintrag hierdurch geschehe? Und ganz das Gleiche zeigt sich auch in Bezug auf den Fall, der eben unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt: eine jede vollbrachte A r b e i t s l e i s t u n g s e t z t sich a l s b a l d um in eine n e u e K r a f t - oder A r b e i t s l e i s t u n g , und mag auch die Zahl der Einzeldinge, von denen eine gemeinsame Arbeitsleistung ausgeht, oder die Zahl derer, auf die sie einwirkt, noch so klein oder so gross seyn, so müssen stets die gesammten Arbeitsleistungen den gesammten aufgewendeten Arbeitskräften und Kraftmaassen allewege völlig das G l e i c h g e w i c h t h a l t e n . „Bei der Wechselwirkung der Naturkräfte" — sagt S p i l l e r — „zeigt sich überall das Gesetz der ungestörten E r h a l t u n g der l e b e n d i g e n K r a f t . Jede Kraft bewirkt eine A r b e i t und jede Arbeit wirkt als

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n e u e K r a f t " (SPILLER: Imponderab. S. 2 5 ) . Und in gleichem Sinne sagt auch U l r i c i in Bezug auf eben diese natürliche Gleichwertigkeit zwischen Ursache und Wirkung, oder was dasselbe ist, zwischen Kraftaufwand und Arbeitsleistung sehr treffend: „Mag man dies »Wechselwirkung« oder »Aequivalent der Actionen (d. h. Gleichwertigkeit der wechselseitig aus einander hervorgehenden natürlichen Arbeitsleistungen)« oder »Verwandlung« der Kräfte in einander nennen, jedenfalls ist die Thatsache von hoher Bedeutung, weil sie die Mögl i c h k e i t des Z u s a m m e n w i r k e n s verschiedener Thätigkeiten zu d e m s e l b e n E r f o l g verstärkt und das lebendige Spiel der Kräfte selbst im Ganzen erhält. Auch für diese Wirksamkeit der Kräfte auf einander bestehen nicht nur bestimmte Bed i n g u n g e n , sondern auch ein bestimmtes M a a s s , eine gesetzlich feststehende V e r h ä l t n i s s m ä s s i g k e i t (Proportionalität), nach welcher die G r ö s s e des K r a f t a u f w a n d e s bei allen verschiedenen Kräften g l e i c h m ä s s i g der Grösse der erfolgten L e i s t u n g e n entspricht. Und so steht auch die Wechselwirkung der Kräfte auf einander unter M a a s s und G e s e t z , das ihre Erfolge regelt und eine Vertretung der einen durch die anderen, eine gegenseitige E r g ä n z u n g ihrer Thätigkeiten ermöglicht. Diese Ergänzung, dies m a a s s v o l l e I n e i n a n d e r g r e i f e n ihrer Wirksamkeiten (Actionen) ist die G r u n d b e d i n g u n g , unter der allein aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Stoffe und ihrer Vermögen ein z u s a m m e n h ä n g e n d e s g e o r d n e t e s G a n z e s hervorgehen kann" (ULRICI: Gott u. Natur. S. 183. 184).

N o . 103.

Wesensträgheit und Beharrungsvermögen der stofflich-körperlichen Dinge.

Keine körperliche Masse, so gross oder so klein sie auch seyn mag, ist erfahrungsgemäss im Stande, sich aus eigener Kraft von der Stelle zu bewegen, an welcher sie sich z. B.

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auf der Oberfläche unserer Erde befindet. Es muss eine andere, von aussen her wirkende und ihr selber fremde Kraft dazu kommen, um sie von dieser Stelle, sey es durch Druck, Stoss oder in irgendwelcher sonstigen Weise hinwegzubringen oder sie hinweg zu bewegen. Eine abgeschossene Kugel vermag aus eigener Kraft sich keine andere Richtung und keine andere Geschwindigkeit zu geben, als welche sie eben vom ersten Anfang an durch das betreffende Wurfgeschoss erhalten hat. Eine andere fremde Kraft muss von aussen her dazu kommen, sey es um die einmal erhaltene Richtung zu ändern, sey es um die Geschwindigkeit ihrer Bewegung zu vermehren oder zu vermindern. Dieses Unvermögen stofflich - körperlicher Dinge, sich ohne Mitwirkung fremder Kräfte allein durch sich selbst nach einem anderen Orte zu bewegen, oder, wenn dieselben durch eine fremde Kraft in Bewegung gesetzt sind, von sich aus dieser ihrer Bewegung eine andere Richtung oder Geschwindigkeit zu geben oder sich irgendwie selber wieder zur Ruhe zu bringen, hat man bekanntlich als eine Eigenschaft, und zwar als Eigenschaft der „ T r ä g h e i t " oder „ B e h a r r u n g " , oder auch als „ B e h a r r u n g s v e r m ö g e n " oder „ B e h a r r u n g s k r a f t " bezeichnet (MÜLLER-POUILLET: Lehrb. d. Phys. I. S. 14; FEIEDLEBEN: Experimentale Phys. S. 14; WIENER: Grundz. S. 6. 17. 18. 675. 715).

Richten wir unseren Blick zuerst auf die in R u h e befindliche körperliche Masse, so kann die wahre Ursache dieses Unvermögens, sich aus eigener Kraft allein von ihrem Orte hinwegzubewegen, nur allein in . der ü b e r m ä c h t i g e n Anz i e h u n g liegen, welche der Erdkörper unausgesetzt auf alle diejenigen körperlichen Dinge ausübt, welche in unmittelbarer Berührung mit dessen körperlicher Oberfläche sich befinden, und welche wir demnach wie festgebannt an der einmal innehabenden Stelle unbeweglich liegen sehen. Denn der übermächtigen Anziehung des Erdkörpers gegenüber erscheint die geringfügige Anziehung, welche jene aufliegenden Körper-

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massen auf ihre Unterlage ausüben, nur als eine fast nichtige. Soll eine solche Masse also nach einem anderen Orte versetzt werden, so muss die fortbewegende äussere Kraft eine natürliche Macht besitzen, welche die anziehende Kraft der Erde zum mindesten um etwas übersteigt. Zugleich wird sie aber auch um so grösser seyn müssen, je grösser und je schwerer einerseits die betreffende Körpermasse selber, und je ausgedehnter andererseits die Grundfläche ist, mit der sie in allen Punkten auf dem Erdkörper aufliegt. Eine nur mit einem einzigen Punkt auf einem anderen Körper aufliegende Kugel ist bekanntlich, selbst bei gleicher Schwere, weit leichter von ihrem Orte wegzurollen oder wegzuziehen als Massen, die mit breiter Grundfläche allenthalben fest aufliegen. Jede Veränderung in dem äusseren örtlichen E u h e - oder Beweg u n g s z u s t a n d der Dinge erscheint uns demnach als auf demselben inneren Wesensgrund beruhend, wie eine jede Veränderung in deren inneren W e s e n s z u s t ä n d e n . Muss demnach, wie Wiener hier hervorhebt, die Trägheit oder das Beharrungsvermögen überhaupt einmal als eine im S t o f f g e l e g e n e selbstwirkende U r s a c h e von H e m m u n g e n gegen jede derartige Zustands-, Orts- oder BewegungsVeränderungen von uns aufgefasst werden: so ist es daraus ersichtlich, dass alle diese Veränderungen gemeinschaftlich auch auf einem wirklichen K r a f t v e r m ö g e n im Innern der Dinge selbst beruhen müssen. Denn jede Ursache gründet auf einem Kraftvermögen, welches aus einem theilweise noch gebundenen und unthätigen Zustand übergeht in den einer freigewordenen Wirksamkeit. Aber eben hieraus geht gleichzeitig weiter hervor, dass aus ganz dem gleichen Grund, weshalb in Bezug auf die i n n e r e n Z u s t a n d s v e r ä n d e r u n g e n der Dinge, wie solche aus deren allgemeinem Wechselverkehr unausgesetzt hervorgehen, Einwirkung und Rückwirkung hinsichtlich des in wechselseitiger Wirksamkeit befindlichen K r a f t m a a s s e s einander als allewege völlig gleichwerthig zu betrachten sind:

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ebenso auch ein ganz gleiches Verhältniss stattfinden muss in Bezug auf ä u s s e r l i c h e O r t s v e r ä n d e r u n g e n . „Jeder Körper" — sagt Newton •— „beharrt in seinem Z u s t a n d d e r R u h e oder der g l e i c h f ö r m i g e n B e w e g u n g , ausser soferne er von eingedrückten (d. h. einwirkenden) Kräften gezwungen wird, jenen Zustand zu verändern." Und weiterhin: „Die A c t i o n (d. i. die Zustands- oder Bewegungsveränderung bewirkende Wirksamkeit) ist stets e n t g e g e n g e s e t z t und g l e i c h der R e a c t i o n " (oder dem natürlichen Erfolg, wie solcher in der inneren Rück- oder Gegenwirkung gegen eben jene verändernden äusseren Einwirkungen zu Tage tritt) (BÄUMANN: Raum u. Zeit. I. S. 490). Alles wesenhafte Daseyn lässt sich nun einmal ohne eine ganz bestimmte Daseyns- und Beharrungskraft im Daseyn nicht denken. Und von eben dieser im Inneren der Dinge allewege sich wirksam erweisenden ersten und allgemeinsten Ur- und Grundkraft der Dinge sagt Leibnitz, dass sie es sey, welche in den T r ä g h e i t s e r s c h e i n u n g e n als W i d e r s t a n d , d. i. als W i d e r s t a n d s k r a f t gegen alle jene Kräfte, welche sie durch ihre Einwirkung von ihrem bisherigen Platz zu vertreiben strebten, sich äussern (TIEDEMANN: Geist d. spek. Phil. VI. S. 433). Und was in dieser Hinsicht in Bezug auf das Verdrängen vom bisherigen Ort der Ruhe gilt, das muss in gleicher Weise auch gelten für jede äussere Kraft, durch welche ein sich im Raum bewegender Körper wieder zur Ruhe oder zum Stillstand soll gebracht werden. Kant sagt: „Jede Veränderung eines stofflichen Körpers (der Materie) hat eine äussere Ursache, d. h. ein jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der Bewegung, in derselben Richtung und Geschwindigkeit, wenn er nicht durch äussere Ursache genöthigt wird, diesen Zustand zu verlassen. Dieses rein mechanische (oder bloss äusserlich-körperliche) Gesetz muss allein das G e s e t z der T r ä g h e i t genannt werden, das Gesetz der einer Wirkung entgegengesetzten G e g e n w i r k u n g kann diesen Namen n i c h t

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führen. Denn dieses sagt, was der stoffliche Körper (die Materie) t h u t , jenes aber nur, was er n i c h t thut, welches dem Ausdruck der » T r ä g h e i t « besser angemessen" (KANT VIII. S. 540. 541). Halten wir daran fest, dass Kant ausdrücklich von einem Gesetz der Trägheit spricht, und dass in der Naturwirklichkeit allen N a t u r g e s e t z e n gleichzeitig G e s e t z e s k r a f t zukommt, und jede N a t u r k r a f t auch ihr eigenes N a t u r g e s e t z von Uranfang an in sich selber trägt: so ergiebt sich hieraus nothwenaig, dass auch alle jene Trägheitserscheinungen, die wir an den Dingen wahrnehmen, nur in dem innersten Wesen der betreffenden Dinge selber ihre eigentliche und erste Ursache enthalten können. Es bezeichnet dies denselben Standpunkt geistiger Anschauung, welchem wir auch bei Wiener begegnen, wenn er sagt: „Der Stoff ist ein undurchdringliches räumliches Etwas mit T r ä g h e i t und m i t K r a f t " (WIENEB: Grundz. d. Welt. S. 715). Es herrscht also auch hierin ganz das gleiche begriffliche Wechselverhältniss wie zwischen „Leiden" und „Wirken", von dem wir an einem früheren Orte gesehen haben, dass keines derselben in der Naturwirklichkeit getrennt von anderen vorkommt, da selbst das Leiden keineswegs als ein an sich völlig unthätiges Uber-sich-Ergehenlassen kann betrachtet werden, sondern vielmehr nur als ein ebenfalls selbstthätiges E n t g e g e n k o m m e n und selbstthätiges In-sich-Aufnehmen der von aussen her herantretenden Kraftwirksamkeiten. Dürfen wir daher im Allgemeinen von einer T r ä g h e i t der körperlichen Dinge sprechen als von thatsächlichem W i d e r s t a n d gegen fremde Krafteinwirkungen: so dürfen wir nunmehr von eben diesem t h a t sächlichen Widerstand auch sprechen als von einem t h a t k r ä f t i g e n , d. h. als von einer den natürlichen Dingen von Uranfang zukommenden W i d e r s t a n d s b e f ä h i g u n g , welche sodann im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge auch als thatsächliche W i d e r s t a n d s k r a f t in die sinnlich-wahrnehmbare Erscheinung einzutreten im Stande ist. Daher auch

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Herbart ausdrücklich einen jeden derartigen Widerstand als eine wirkliche K r a f t ä u s s e r u n g bezeichnet (HERBART V . S. 15). Eben diese untrennbare Zusammengehörigkeit des leidenden Trägheitsbegriffes und des thätigen Kraftbegriffes findet sich auch schon sprachlich in der von Ulrici gebrauchten Bezeichnung als „ T r ä g h e i t s w i d e r s t a n d " (ULRICI: Gott u. Natur. S. 474) sehr deutlich ausgeprägt. Eben darum, weil mit dem Begriff der Trägheit weit eher auch der einer inneren völligen Kraftlosigkeit verbunden erscheint als mit dem auf eine thatsächlich innere Kraftwirksamkeit hinweisenden Begriff eines Beharrungsvermögens, schlägt Czolbe vor, hierfür ausschliesslich den Ausdruck „ B e h a r r u n g s v e r m ö g e n " beizubehalten, nicht aber, weil begrifflich minder passend, den Ausdruck „Trägheit" zu gebrauchen (CZOLBE: Sensualidee. S. 122). Wenn daher auch Redtenbacher von der Trägheit als von einem stofflich-körperlichen B e h a r r u n g s v e r m ö g e n spricht und hinzufügt: „Dieses Beharrungsvermögen könnte man auch die » F ä h i g k e i t d e r S e l b s t e r h a l t u n g « des ruhigen und bewegten Systems des stofflich-körperlichen Daseyns (der Materie) nennen" (ULRICI: Gott u. Nat. S. 60): liegt es da in diesem Ausspruch nicht mit eingeschlossen, dass wir im Grunde auch in allen jenen Trägheitsäusserungen nichts anderes vor Augen haben dürften, als allein nur eine b e s o n d e r e W i r k u n g s w e i s e eben jener ureinheitlichen Daseynskraft, welche in ihrer unmittelbaren Kraftwirksamkeit nicht bloss als Daseyn und Wesen b i l d e n d e , sondern gleichzeitig damit auch als im Daseyn und Wesen e r h a l t e n d e Kraft sich zu erkennen gibt? Betrachten wir die Dinge als wirklich derart t r ä g e , dass sie so gut als wie an sich todte und leblose Massen müssten betrachtet werden, welche einzig und allein n u r durch ä u s s e r e Ursachen und Kräfte in Bewegung könnten versetzt werden, ohne von sich und aus ihrem eigenen Inneren heraus auch nur das allergeringste dazu mitzuwirken: so läge der

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Gedanke nicht allzuferne, dass alle Dinge in Folge einer solchen eigenen inneren Wesensträgheit oder völligen K r a f t und W i r k u n g s l o s i g k e i t , welche alles eigene E n t g e g e n k o m m e n gegen äussere Einwirkungen und Anregungen ein für allemal verböte, sich diesen Letzteren gegenüber gewissermaassen nur als ein wirkliches und unübersteigliches H i n d e r niss oder eine thatsächliche H e m m n i s s für ein jedes Wechselverhältniss zwischen den einzelnen Dingen unter sich verhielten. Kraft wie Leben von der einen Seite verlangen auch Kraft wie Leben, d. h. ein lebendig-wirksames E n t g e g e n k o m m e n von der anderen Seite, wenn ein natürlicher Wechselverkehr in Wirklichkeit zu Stande kommen soll. Wo aber solch innerlich-lebendige Kraftwirksamkeiten in den Dingen selber einmal wirklich anerkannt sind: da mögen sich dem gegenseitigen Wechselverkehr der Dinge wohl allewege Hindernisse, Schwierigkeiten und Hemmnisse einstellen, aber ohne dass dieselben darum auch in der Erfahrung als völlig unübersteigbar sich erweisen müssten. Die körperliche Masse, die unbeweglich an der Stelle liegen bleibt, an die sie einmal durch die Anziehungskraft der Erde für kürzere oder längere Zeit wie festgebannt ist, legt einer jeden fremden äusseren Kraft, die sie von dieser ihrer bisherigen Stelle entfernen möchte, Schwierigkeiten entgegen, die wir eben mit einem Worte als W i d e r s t a n d zu bezeichnen pflegen. Sobald aber diese fremden von aussen her einwirkenden Kräfte durch andere Ursachen einmal bis zu einer solchen Stärke und Gewalt gelangt sind, dass sie der anziehenden Kraft der Erde zum mindesten das Gleichgewicht halten, sehen wir sie auch die bisherigen Hemmnisse ihrer Wirksamkeit überwinden und beseitigen. J a wir können sogar hinzufügen, dass eben dieses natürliche Erforderniss zu immer höheren Kraftanstrengungen zur Beseitigung jener Hindernisse im allgemeinen Haushalte der Natur auch als ein thatsächliches Mittel zu immer höheren Kraftbethätigungen, wirklichen Kraftsteigerungen und

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Kraftleistungen zu betrachten seyn dürfte, da ja erfahrungsgemäss, wie früher schon erwähnt, alle K r a f t l e i s t u n g e n d u r c h Ü b u n g verstärkt und vermehrt werden. Und ebenso lehrt uns die Erfahrung, dass zur Fortbewegung körperlicher Massen von durchgehends verschiedener Wesensart selbst, bei sonst gleichem räumlich-körperlichem Umfang, dennoch bald eine grössere, bald eine geringere Kraftanstrengung oder Kraftleistung erforderlich ist. Die von aussen her erforderliche grössere oder geringere Kraftleistung deutet auf eine entsprechende grössere oder geringere Widerstandskraft von Seiten der ruhenden Masse. Der Begriff der T r ä g h e i t ist sehr nahe verwandt mit dem der S c h w e r f ä l l i g k e i t , sich aus sich selbst heraus zu eigenem Thun und Handeln zu bestimmen oder durch fremde Einwirkung dazu bestimmen zu lassen. Ebenso verwandt wie T r ä g h e i t und S c h w e r f ä l l i g k e i t von der einen Seite sind auch von der anderen Seite S c h w e r f ä l l i g k e i t und S c h w e r e . In der inneren W e s e n s s c h w e r e der Dinge gründet das G e s e t z ihrer natürlichen wechselseitigen A n z i e h u n g ; in dieser aber, als Massenanziehung, gründet das Wesen und der Begriff der körperlichen T r ä g h e i t . Nur der Mitwirkung äusserer, der Wirkungsrichtung dieser wechselseitigen Anziehung von irgend einer Seite her entgegentretenden und entgegenwirkenden Kräfte vermag es daher bei bei gehöriger Stärke und Gewalt zu gelingen, jene Wirkung der Schwere und damit zugleich den inneren Trägheitswiderstand der betreffenden Massen derart zu überwinden, dass für dieselben nunmehr auch die Möglichkeit zu einer wirklichen W e g b e w e g u n g von deren bisherigen Stelle gegeben ist, gleichviel ob dieselbe auf dem Wege des Ziehens, des Drückens oder des Hebens bewirkt wird. Und was in dieser Beziehung von körperlichen Massen als solchen gilt, muss selbstverständlich auch ebensosehr seine Geltung haben in Bezug auf den gegenseitigen Wecliselverkehr, in dem auch schon die stofflich-körperlichen Einzelwesen unter VViunlersiiKinn.

II.

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Hie natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

einander stehen. Denn wie in jenen noch ursprünglichsten aller Anziehungsverhältnisse der erste Grund liegt zunächst zur Bildung besonderer Massentheilchen und im Weiteren durch deren Vermittelung auch zu wirklichen Massenbildungen: ebenso ist von der grösseren oder geringeren Kraft, mit welcher jene ersten Ur-Theilchen einander wechselseitig anziehen, auch die grössere oder geringere F e s t i g k e i t abhängig, mit welcher dieselben in den von ihnen gebildeten körperlichen Massen äusserlich aneinander haften. Aber von dieser F e s t i g k e i t im wechselseitigen Zusammenhalten hängt auch zugleich das grössere oder geringere Maass von äusserem K r a f t a u f w a n d ab, welches erforderlich ist, um eine solche Körpermasse zu zertrümmern, zu zerschlagen oder in einzelne Bruchstücke zu zertheilen. Also auch hier A n z i e h u n g , Trägheitswiderstand und T r ä g h e i t s ü b e r w i n d u n g im Kleinen ganz ebenso wie dort in den bisher betrachteten Fällen im Grossen; und zwar aus ganz den gleichen Gründen und nach ganz den gleichen Gesetzen, in dem einen Fall wie in dem anderen.

No. 104.

Wesensundurchdringlichkeit und innere Widerstandsfähigkeit.

Haben wir in dem Vorigen das B e h a r r u n g s v e r m ö g e n als Trägheit in Bezug auf äusserlich-örtliche Verhältnisse betrachtet, so werden wir dasselbe nunmehr auch ebensosehr in Bezug auf dessen i n n e r e Wirkungsverhältnisse in das Auge zu fassen haben: nehmlich in Bezug auf die innere W e s e n s u n d u r c h d r i n g l i c h k e i t der stofflich-körperlichen Dinge. Müller - Pouillet bestimmt den Begriff derselben wie folgt: „Zum Wesen eines Körpers ist nothwendig, dass er einen begrenzten Baum einnimmt, dass er also eine A u s d e h n u n g hat und dass in demselben Eaum nicht zu gleicher Zeit zwei Körper vorhanden seyn können" (MÜLLEB-POUILLET:

Der Wechselverkehr in der Natur alsG-rund der äusseren Erscheinung etc. 1 1 5

Lehrb. d. Phys. I. S. 5; FEIEDLEBEN: Experimentalphys. S. 8). Und ganz in dem gleichen Sinne sagt auch schon L e i b n i t z , dass der Begriff des A u s g e d e h n t s e y n s nichts anderes aussage als „im Raum seyn"; den Begriff der U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t dagegen bestimmt er dahin, dass „ein Ding mit einem anderen nicht in ein und demselben Raum seyn könne" (LEIBNITZ [ed. ERDMANN] S. 54; BAUMANN: Raum u. Zeit. II. S. 169). Schon bei einer früheren Gelegenheit haben wir die den Einzeldingen zu Grunde liegende einheitliche Grundkraft, wie solche im innersten Wesensmittelpunkt derselben ihren Sitz hat, als eine nicht nur das w e s e n h a f t e D a s e y n , sondern gleichzeitig damit auch den demselben eigenthümlich zukommenden k ö r p e r l i c h e n R a u m begründende Kraft erkannt. Ein Daseyn aber, dessen Daseyn und Wesen bildende Kraft nicht zugleich auch als thatsächliche Dauerkraft, d. h. als eine auch in zeitlicher Beziehung in ihrer daseynbildenden Wirksamkeit b e h a r r e n d e K r a f t sich bewährte, würde so gut wie nicht vorhanden seyn. Denn ein Daseyn, das einer jeden Dauerkraft ermangelnd, in demselben Augenblick, in dem es entstanden, auch sofort wieder in das Nichtseyn zurückkehren müsste, würde nie und nimmermehr für ein wirkliches Daseyn gelten können. Erst durch die zeitliche Wesensdauer erhalten die Dinge ihren wirklichen Bestand wie in ihrem Wesen so auch in ihrem Daseyn. Es ist hier in zeitlicher Beziehung ganz ein gleiches Verhältniss wie dies in räumlicher Beziehung der Fall seyn würde, wenn wir uns die Dinge zwar wohl mit einer Dauer in der Zeit ausgerüstet denken wollten, aber o h n e W e s e n s a u s d e h n u n g im R a u m . Mögen wir dem raumlosen Punkt auch eine noch so lange Dauer zuerkennen: er ist und bleibt ein wesenloses Nichts, ein Nichtseyn. Wirksame Ausdehnung von der einen Seite und wirkliche D a u e r - oder B e h a r r u n g s k r a f t von der anderen Seite bilden daher auch so recht eigentlich die beiden natürlichen W e s e n s p o l e für alles 8*

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

räumlich-zeitliche Daseyn ohne Ausnahme. Dieses durch eigene innere Kraftwirksamkeit gebildete und fortdauernd erhaltene Heiligthum des eigenen innerlich-wesenhaften Ich und Selbst der Dinge, dieses einem jeden einzelnen derselben eigenthümlich zukommende Heim in sich selber bildet daher ein Etwas, dessen die Dinge in keiner Weise sich jemals zu entäussern im Stande sind. Dasselbe nun aber auch im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge unter sich gegen jeden etwaigen gewaltsamen Eingriff von aussen her unangefochten und unverletzt zu e r h a l t e n und zu b e w a h r e n : dies muss nothwendig so vollkommen urwüchsig in dem natürlichen Wesen der Dinge mit begründet liegen, dass wir auch schon auf dem noch untersten Naturgebiet den S e l b s t e r h a l t u n g s t r i e b als den ersten und hauptsächlichsten natürlichen Grundtrieb für alles zu demselben gehörige Daseyn zu betrachten haben. Und so bilden denn auch eben jene beiden Grundbegriffe der räumlichen Ausdehnung und zeitlichen Dauer in ihrer untrennbaren Zusammengehörigkeit so recht eigentlich den Begriff einer allen Dingen ausnahmslos zukommenden D a s e y n s b e h a u p t u n g , kraft welcher denn auch ein jedes Ding in seiner Weise sich als natürlich befähigt dazu darstellt. auch selbst von aussen her an dasselbe herantretenden fremden An- und Eingriffen, die seinen Bestand im Daseyn bedrohen könnten, aus eigener Kraft und von innen heraus den erforderlichen W i d e r s t a n d entgegen zu stellen. Und gerade diese innerliche W i d e r s t a n d s f ä h i g k e i t ist es denn auch so recht eigentlich, welche von Seiten der Naturwissenschaft als gegenseitige U n d u r c h d r i n g l i c l i k e i t der Dinge pflegt bezeichnet zu werden. „Die U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t " — sagt daher K a n t — „ist eine K r a f t . Denn sie äussert einen W i d e r s t a n d , d. i. eine einer äusseren Kraft entgegengesetzte Handlung. Und die Kraft, die einem Körper (oder einer körperlichen Masse) zukommt, muss seinen einzelnen Theilchen zukommen. Demnach erfüllen die Grundbestand-

Der Wechselverkehr in derNatur alsGrund der äusserenErscheinungetc.

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theile (Elemente) eines Körpers ihren Raum durch die (ihnen innewohnende) Kraft der Undurchdringlichkeit. Was aber für sich gesetzt einen Raum erfüllt, ist a u s g e d e h n t . " Aus eben diesem Ausspruch geht augenscheinlich hervor, dass KANT die an sich rein innerliche Ausdehnungskraft der Dinge und die nach aussen hin gerichtete Widerstandskraft derselben als in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einander stehend betrachtet. Daher sagt er auch an einem späteren Orte: „Die Kraft, durch welche ein einfacher Grundbestandteil eines Körpers seinen Raum einnimmt, ist dieselbe, welche Andere Undurchdringlichkeit nennen" (KANT I. S. 79; VIII. S. 416. 417). Und wie K A N T , SO setzt auch S c h o p e n h a u e r Raumerfüllung und Undurchdringlichkeit für gleiehwerthige Begriffe, indem er zugleich beide auf den Begriff der Wirksamkeit und damit auf die Wirksamkeit einer beiden gemeinsam zu Grunde liegenden Kraft zurückführt (SCHOPENHAUER: Welt a. Wille u. Vorst. I. S. 12). So sagt auch Ulrici: „Ausgedehntseyn heisst überhaupt nur, einen Raum erfüllen, irgendeine Stelle im Raum einnehmen und sich über diese verbreiten, das heisst: Ausgedehntseyn ist die B e d i n g u n g der U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t der stofflich-körperlichen Dinge (der Materie). Denn wo keine Ausdehnung ist, da kann auch keine Undurchdringlichkeit seyn. Alles Ausgedehntseyn setzt mithin eine ihm entsprechende und zu Grunde liegende Kraft voraus. Die Ä u s s e r u n g dieser Kraft aber besteht darin, dass sie W i d e r s t a n d leistet gegen jede andere Kraft, die sie aus ihrer Stelle im Raum zu verdrängen sucht. J a die W i d e r s t a n d s k r a f t fällt bei allem Stofflichen unmittelbar in Eins zusammen m i t d e r K r a f t d e r A u s d e h n u n g . Sonach muss auch die Widerstandskraft nothwendig allem Seyenden (oder Daseyenden), wenn auch in verschiedenen Maassen, zukommen" (ULRICI: Gott u. Nat. S. 466. 467). Und in ganz dem gleichen Sinne sagt auch Oersted, dass das, „was man Undurchdringlichkeit genannt hat, eigentlich ein Ergebniss der Ausdehnungskraft"

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DIE natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

sey (OERSTED: Geist u. d. Natur. S. 151). St. M a r t i n spricht über diese Verhältnisse sich folgendermaassen aus: „Indem wir die körperlichen Massen (corps) als Ergebniss einer Zusammenhäufung von ursprünglichen Einzelbestandtheilen (de molécules primitives) betrachten, ist es sicher, dass die stofflich-körperlichen Dinge (la matière) uns als u n d u r c h d r i n g l i c h erscheinen. Indem wir dieselben aber als Ergebniss einer K r a f t und eines W i d e r s t a n d e s in das Auge fassen, so erscheint dies Gesetz der Undurchdringlichkeit nicht mehr so allgemein, und es verwandelt sich (se réduit) dasselbe in den Satz, dass zwei stofflich-körperliche Dinge (deux portions de matière) nicht einen und denselben R a u m einnehmen können" (ST. MAETIN, Espr. d. choses. I. S. 232. 233). Bereits bei einer früheren Gelegenheit, als wir uns mit der natürlichen Unzerstörbarkeit der stofflich-körperlichen Einzeldinge durch fremde äussere Naturgewalten beschäftigten, haben wir darauf hingewiesen, wie jene einheitliche Ur- und Grundkraft der Dinge, auf deren unmittelbarer Wirksamkeit nicht allein deren wesenhaftes Daseyn, sondern gleichzeitig damit, als deren unveräusserliches Eigenthum, auch der ihnen zukommende R a u m sich gründet, den Angriffen oder Einwirkungen fremder Naturkräfte gegenüber geradezu als eine K r a f t d e r R a u m b e h a u p t u n g müsse betrachtet werden. Beide, B e h a r r u n g und B e h a u p t u n g i m D a s e y n , wie B e h a r r u n g und B e h a u p t u n g im eigenen selbst gebildeten und vom eigenen Wesen erfüllten R a u m , bilden demnach in der Naturwirklichkeit von einander untrennbare Begriffe. Daher sehen wir jeden körperlichen Widerstand der Dinge stets gleichmässig auf beide Verhältnisse zugleich hingerichtet zu dem bestimmten Zweck, das innere R e c h t d e s D a s e y n s u n d B e s t e h e n s , das allem in dieser Welt Vorhandenen von Anfang an in ursprünglichster Weise zukommt, auch immerdar nach aussen hin zu s c h ü t z e n und zu v e r t h e i d i g e n . Denn gerade in jener inneren W e s e n s - S e l b s t ä n d i g k e i t , die

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wir keinem Naturdaseyn absprechen können, gründet gleichzeitig auch jene unveräusserliche S e l b s t b e r e c h t i g u n g zum D a s e y n , welche gleichzeitig das natürliche Recht des Widerstandes und der Abwehr gegenüber von äusseren Eingriffen in sich einschliesst. „Die Körper — sagt in dieser Beziehung K. P. Fischer — „die nur durch die B e h a u p t u n g (Affirmation) ihres in sich selbständigen (und individuellen) Daseyns und durch den W i d e r s t a n d (die Reaction) gegen entgegengesetzte (negative) Wirkungen der Aussenwelt bestehen, erweisen die Wirksamkeit ihres inneren Wesens (ihrer Substanz) schon durch B e h a r r l i c h k e i t und mechanische U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t , mithin durch die Thatkraft (Energie), mit welcher sie den oder vielmehr i h r e n Raum in bestimmter Weise erfüllen und ihre besondere (individuelle) Daseynsbestimmtheit durch den W i d e r s t a n d , welchen sie anderen Körpern entgegensetzen, b e h a u p t e n " (K. P. FISCHER: Grundz. d. spek. Theol. S. 244). So sagt auch Cornelius: „Die Und u r c h d r i n g l i c h k e i t der stofflich-körperlichen Dinge (der Materie) ist nur ein besonderer Ausdruck für die Thatsaclie, dass jedes Theilchen eines Körpers die Raumstelle, die es im Yerhältniss zu den übrigen Theilchen desselben einnimmt, zu b e h a u p t e n sucht" (CORNELIUS: Bild. d. Materie. S. 4. 5). Und in dem gleichen Sinne sagt Fr. Fischer: „ U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t (Impenetrabilität) bezeichnet den Widerstand, den wir im Tastsinn von den Körpern erfahren. Die Beobachtung durch den Gesichtssinn vervollständigt denselben, indem sie zeigt, wie die Körper, die durch ihr Daseyn unserem Körper Widerstand leisten, auch u n t e r e i n a n d e r und w e c h s e l s e i t i g sich diesem W i d e r s t a n d e n t g e g e n setzen. Die gewöhnliche naturwissenschaftliche Bestimmung (physikalische Definition) der U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t ist die: dass die Körper nicht bloss vermöge ihrer Ausdehnung einen Raum e i n n e h m e n , sondern ihn auch e r f ü l l e n und ihn vert h e i d i g e n gegen jeden anderen Körper, der in den von ihnen

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

eingenommenen (und ihnen eigenthümlich zukommenden) Raum eindringen will" ( F . FISCHEK: Natur u. Leben d. Körperw. S. 466). Und ebenso bezeichnet auch Ulrici die Widerstandskraft, darauf die innere Wesensundurchdringlichkeit der Dinge beruht, als eine „ K r a f t d e r A b w e h r gegen Angriffe von aussen", mit als eine eigentliche „ S e l b s t e r h a l t u n g s k r a f t " (ULRICI: Gott u. Natur. S. 466). Aus dem Bisherigen geht unverkennbar hervor, dass sowohl die w e s e n h a f t e Daseynsverwirklichung durch e i g e n e i n n e r e K r a f t w i r k s a m k e i t als auch die innere W e s e n s u n d u r c h d r i n g l i c h k e i t gegenüber von etwaigen, den fortdauernden Bestand im Daseyn bedrohenden Angriffen von aussen her, gemeinschaftlich nur ein und dieselbe Naturkraft darstellen, deren natürliche Wirkungsweise jedoch nothwendig als eine verschiedene sich darstellen muss. Und zwar verschieden, je nachdem ihre Wirksamkeit selbst entweder bloss auf die rein innerlichen Daseynsverhältnisse der betreffenden Dinge sich beschränkt, oder im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge auch übergreift in die inneren Daseynsverhältnisse anderer, sie äusserlich umgebender Naturdinge. In ihrer an sich rein innerlichen Daseyn und Wesen bildenden Wirksamkeit stellt jene einheitliche Ur- und Grundkraft, wie wir früher schon gesehen, als thatsächliche Selbstausdehnungs-, S e l b s t a u s w e i t u n g s - oder S e l b s t a u s b r e i t u n g s k r a f t sich dar, deren natürliche Wirksamkeit selbstverständlich von ihrem Ursitz, dem Mittelpunkt des betreffenden Dinges, nach dessen Oberfläche gerichtet ist. So wie deren Wirksamkeit jedoch im Wechsel verkehr mit der Aussen weit auch als a b w e i s e n d e W i d e r s t a n d s k r a f t in die Schranken tritt, — von da an kann ihre Fortwirkung über die eigene Wesensoberfläche hinaus, den von ihr zu bekämpfenden Aussendingen gegenüber, einzig und allein nur als a b s t o s s e n d e oder z u r ü c k t r e i b e n d e K r a f t auftreten. Daher sagt Schölling: „Was an den stofflich-körperlichen Dingen (der Materie) allein

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u n z e r s t ö r b a r ist, das ist die ihnen innewohnende K r a f t , welche sich dem Gefühl durch U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t ankündigt." Und an einem anderen Orte: „Dem Gefühl gemäss schreibe ich den stofflich-körperlichen Dingen (der Materie) überhaupt eine repulsive, d. i. z u r ü c k t r e i b e n d e K r a f t zu; das Bestreben aber, das sie einer jeden auf sie wirkenden Kraft e n t g e g e n g e s e t z t , denke ich als U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t " (SCHELLING I. S. 379; II. S. 229). Auch Hegel, nachdem er die innere Wesensselbständigkeit der Dinge als das „Fürsichseyn" derselben bezeichnet, sagt von eben diesem Fürsichseyn, dass „es Eins sey, dass sich nur auf sich bezieht und sich gegen a l l e s A n d e r e als z u r ü c k t r e i b e n d (repellirend) verhält" (HEGEL XVIII. S. 96. 97). Fr. Fischer bezeichnet die Undurchdringlichkeit als eine „ z u r ü c k s t o s s e n d e (repulsive) Eigenschaft der Dinge" (F. FISCHER: Natur u. Leben d. Körperw. S. 48): eine Ausdrucks weise, welche den gegebenen Verhältnissen wohl noch genauer sich anpassen dürfte als der Begriff des „Zurücktreibens", insoferne mit dem Begriff eines äusserlichen Z u r ü c k s t o s s e n s oder des Zur ü c k d r ä n g e n s auch der Begriff einer ungestört fortdauernden wechselseitigen Berührung mehr gewahrt erscheint, als dies bei dem Begriff des „Zurücktreibens" der Fall seyn möchte. Auch Ulrici erklärt den Begriff der Widerstandskraft durch z u r ü c k s t o s s e n d e Kraft (Repulsionskraft), indem er hinzufügt: „Sie ist für jedes Seyende (oder vielmehr Daseyende) die Bed i n g u n g des Daseyns überhaupt. Sie kann nie fehlen, nie aufgehoben, sondern nur im Maass (quantitativ), dem Grad nach verändert, erhöht oder verringert werden" (ULRICI: Gott u. Natur. S. 737). Aus allen diesen Verhältnissen, wie wir dieselben soeben an uns haben vorübergehen lassen, bestätigt sich uns auch von neuem die früher schon erwähnte Anschauung, dass alle die mannigfachen, untereinander so verschiedenen Kräfte, Fähigkeiten oder Eigenschaften, welche wir den Dingen je

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nach ihren verschiedenen äusseren Erscheinungsweisen mit Recht innerlich zuschreiben und demgemäss zu besserer gegenseitiger Unterscheidung mit verschiedenen Namen belegen, dennoch keineswegs aus einer bereits von Anfang an in den Dingen vorhandenen Vielheit von in sich selbständigen Kraftwirksamkeiten bestehen: sondern dass sie vielmehr sämmtlich auf eine und dieselbe innere Wesen und Daseyn bildende und erhaltende e i n h e i t l i c h e G r u n d k r a f t müssen zurückgeführt werden, von deren ebenso einheitlichen und unmittelbaren Wirksamkeit auch das wesenhafte Vorhandenseyn der Dinge von Uranfang an sich gegründet zeigt. Betrachten wir diese einheitliche Grundkraft in Bezug auf ihre weitere Wirksamkeit nach aussen hin, so scheidet sie sich, wie wir gesehen, in drei ganz bestimmte und durch ihre Verschiedenheit auch naturgemäss gesonderte W i r k u n g s w e i s e n , die aber sämmtlich in irgend einem Bezug auf eben jene einheitliche Grundkraft als ihren ersten Ausgangspunkt zurückweisen. Wenn wir nehmlich jene nach aussen gerichtete Wirksamkeit in Bezug auf das r e i n - ä u s s e r l i c h - k ö r p e r l i c h e V e r h ä l t n i s s betrachten, so erscheint sie uns als ö r t l i c h e s B e h a r r u n g s v e r m ö g e n oder als T r ä g h e i t ; betrachten wir sie hingegen im Hinblick auf ihr inneres Wesen, aber zugleich mit Berücksichtigung nicht nur der damit verbundenen S e l b s t e r h a l t u n g im Daseyn, sondern auch des in und mit diesem verwirklichten Daseyn unmittelbar verbundenen e i g e n e n R a u m e s : so bezeichnen wir sie als U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t ; und geben wir endlich, wie solches bereits an einem früheren Orte geschehen, noch um einen Schritt weiter und ziehen ausschliesslich nur das reine innere Wesen in Betracht, so erblicken wir jene einheitliche Grundkraft als Z u s t a n d s b e h a u p t u n g gegenüber dem im steten Wechsel und Wandel der äusserlichen Dinge unausbleiblichen Zustandswechsel derselben. Daraus geht nun aber gleichzeitig auch noch ferner mit Nothwendigkeit hervor, dass für alle diese drei Naturverhältnisse im

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Allgemeinen auch nur die g l e i c h e n N a t u r g e s e t z e Geltung haben können; für die einzelnen Fälle aber vorbehaltlich der besonderen Auswirkungsweisen, welche durch die Verschiedenheit eben jener besonderen Wirkungsweise veranlasst und verlangt werden. Obenan steht in dieser Beziehung das allgemeine Grundgesetz, nach welchem allenthalben im Haushalte der Natur U r s a c h e und W i r k u n g in Bezug auf Maass und Grad der aufgewandten Kraft einander völlig g l e i c h seyn müssen. Aus eben diesem einheitlichen Allgemeingesetz sehen wir nunmehr in Bezug auf jene oben erwähnten drei besonderen Wirkungsweisen das besondere Naturgesetz hervorgehen, dass dem K r a f t m a a s s der von aussen her einw i r k e n d e n K r a f t auch allewege das Kraftmaass der daraus hervorgehenden G e g e n w i r k u n g , oder — was nunmehr dasselbe aussagt — dass dem Kraftmaass, mit welchem ein Körper auf einen anderen von aussen her einzuwirken bestrebt ist, allewege von der anderen Seite auch dasjenige Kraftmaass genau e n t s p r e c h e n muss, welches in Folge eben jener fremden Einwirkung als thatsächliche W i d e r s t a n d s k r a f t hervorgerufen und in Wirksamkeit versetzt wird. Es können weder die Trägheitserscheinungen, noch die Undurchdringlichkeitserscheinungen, noch die Erscheinungen der Zustandsveränderungen jemals hierin eine Ausnahme machen, „Wirkung und Gegenwirkung (Action und Reaction), Stand und Widerstand, Druck und Gegendruck, Zwingen und Gezwungenwerden sind g l e i c h stark," sagt H e g e l (I. 363. 364).

N o . 105.

Übergangswiderstand im gegenseitigen Wechselverkehr der Dinge. Ungleichzeitigkeit von Ursache und Erfolg.

Kein zu leistender W i d e r s t a n d ist denkbar oder möglich ohne innere K r a f t a n s t r e n g u n g . Wo also irgendwelcher Widerstand stattfindet, in welchen besonderen äusseren oder

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

inneren Verhältnissen er auch seine Begründung finden möge: da ist, wenn von einer wirklichen Krafteinwirkung und deren weiteren Ergebnissen die Bede sein soll, zuvor eben dieser e r h ö h t e K r a f t a u f w a n d zu ü b e r w i n d e n , welcher im Inneren eben des Körpers oder Körpertheiles als W i d e r s t a n d s k r a f t sich geltend macht. Einem jeden gewaltsamen Druck von aussen setzt ein jedes Naturding einen entsprechenden Gegendruck entgegen, der es vor völliger Erdrückung, d. h. vor völliger Zusammendrückung bis zum raumlosen P u n k t und damit vor völliger Wesens- und Daseynsvernichtung zu schützen und zu bewahren hat. Dies ist die natürliche Waffe, welche die Mutter Natur einem jeden einzelnen ihrer Kinder zu seiner selbständigen Behauptung im Daseyn von Uranfang an mit auf den W e g gegeben hat. E s muss also in allen Fällen ohne Ausnahme, wo einer von aussen herantretenden Kraftein Wirkung ein innerer Kraftwiderstand entgegentritt, vor allem und in erster Linie dieser Widerstand überwunden werden, wenn überhaupt für einen wirklich auszuübenden Druck oder für irgendwelche sonstige Krafteinwirkung, im eigentlichen und engeren Sinne des W o r t e s , eine natürliche Möglichkeit soll gegeben seyn. In Bezug auf eben dieses wechselseitige Verhältniss sagt beispielsweise Friedleben: „ I n d e m der elektrische Strom aus den metallischen Leitern in eine Flüssigkeit übergeht, erleidet er einen Widerstand, den man U b e r g a n g s w i d e r s t a n d n e n n t " (FEIEDLEBEN: Experimentale Phys. S. 522). W i r haben bereits an einem früheren Orte gesehen, dass eben jene einheitliche Grundkraft der Dinge, welche wir als Wesen und Daseyn bildende K r a f t haben voraussetzen und anerkennen müssen, in ihrer innerlichen Wirksamkeit zwei stets gleichzeitig vorhandene und gleichzeitig wirksame Gegensätze in sich einschliesst, nehmlich eine ursprünglich erste und unmittelbarste Kraftwirksamkeit, welche von ihrem Ursitz, dem Wesensmittelpunkt der betreffenden Dinge aus, nach

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dessen Oberfläche hin gerichtet ist; ferner eine zweite auf diese erste mitgegründete Wirksamkeit, welche in entgegengesetzter Richtung von der Oberfläche nach dem Mittelpunkt, als dem gemeinschaftlichen Einheitspunkt, zurückgeht. Die Erste tritt bekanntlich als a u s d e h n e n d e K r a f t in die Erscheinung, die zweite dagegen als rückwirkende oder zusammenziehende Kraft. Beide, als blosse G e g e n p o l e einer und derselben einheitlichen Grundkraft, müssen nothwendig, so lange wir die betreffenden Dinge ausser allem Verkehr mit der Aussenwelt in das Auge fassen, als völlig gleichwerthig sich darstellen, eben weil sie gemeinschaftlich auf einem und demselben ursprünglichen Kraftmaass beruhen und gemeinschaftlich aus demselben hervorgegangen sind. Als z u s a m m e n z i e h e n d e oder nach dem einheitlichen Wesensmittelpunkt hinziehende Wirksamkeit findet jene innere Grundkraft der Dinge ihren natürlichen Ausdruck in der inneren E i g e n o d e r n a t ü r l i c h e n W e s e n s s c h w e r e der Dinge; als ausdehnende Wirksamkeit dagegen in deren r ä u m l i c h e r A u s d e h n u n g oder körperlicher G r ö s s e . Die Wirksamkeit der S c h w e r e , je nach den besonderen stofflichen Wesensarten der Dinge in deren Wesensgrundbegriff ein für allemal unabänderlich festgestellt, ist ununterbrochen thätig und lebendig, und zwar unausgesetzt in ihrer ganzen, sich unter allen Verhältnissen immerdar gleichbleibenden Stärke. Sie schläft nicht und schlummert nicht, ähnlich wie auch der Blutumlauf in unserem Leibe niemals eine Unterbrechung zu erleiden im Stande ist. Die a u s d e h n e n d e W i r k s a m k e i t dagegen vermag je nach äusseren Umständen ulid Verhältnissen in den verschiedensten Maassen und Graden der Stärke zur Geltung zu gelangen, indem sie in Folge äusserer Einwirkungen bald theilweise in ihrer Wirksamkeit g e b u n d e n und v e r m i n d e r t , oder auch durch theilweise E n t b i n d u n g v e r m e h r t und vers t ä r k t werden kann. Ausdehnung und Zusammenziehung wirken ihren Grundbegriffen nach einander entgegen. Soll

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

daher z. B. einem einfachen Körperwesen durch äussere Einwirkung ein Theil seiner bis dahin gebundenen Ausdehnungsfähigkeit entbunden werden, so findet die einwirkende Kraft, in dem einheitlichen Kraftsitz beider einander entgegengesetzten Kraftwirksamkeiten, einen gewissen W i d e r s t a n d von Seiten der mit der ausdehnenden Kraft verbundenen zusammenziehenden Kraftwirksamkeit. Und eben dieser in der Natur des ganzen Sachverhältnisses begründete innerliche Widerstand oder dies innerliche W i d e r s t r e b e n muss von Seiten der von aussen her einwirkenden Kraft zuvor ü b e r wunden werden, ehe überhaupt von einer wirklichen innerlichen Wesenserregung und damit zugleich auch von einer wirklichen inneren Zustandsveränderung soll die Rede seyn können. Dies eine Beispiel darf genügen für alle anderen verwandten Fälle. Und so erscheint demnach schon innerhalb dieser an sich noch so einfachen Urverhältnisse von der einen Seite eine jede auf die Abwehr oder Zurückweisung einer fremden Einwirkung abzielende K r a f t a n s t r e n g u n g oder K r a f t s t e i g e r u n g auf der anderen Seite, von welcher die betreffende Einwirkung ausgeht, als ein entsprechender K r a f t v c r l u s t , als eine K r a f t s c h w ä c h u n g oder K r a f t v e r m i n d e r u n g . „Alles, worauf die Wirksamkeit einer Kraft geht, was Gegenstand derselben ist" — sagt J. G. Fichte: — „schränkt durch seinen Widerstand diese Wirksamkeit nothwendig ein" (J. G. FICHTE I. S. 397). Und ebenso T i e d e m a n n : „Des leidenden Gegenstandes Widerstand s c h w ä c h t allemal die Kraft; daher Bewegungen und andere Veränderungen in ihrer Fortpflanzung (durch eine längere Reihe von leidenden Mitteldingen hindurch) alle von ihrer ersten Stärke etwas einb ü s s e n " (TIEDEMANN, Geist d. spek. Philos. I . S. 4 1 4 ) . Und in eben dieser Erscheinung gründet denn auch das grosse Geheimniss der Natur, dass sie in Folge des gesammten gesetzund ordnungsmässigen Ineinandergreifens aller in ihr wirksamen Kräfte, selbst durch G e g e n s a t z und scheinbaren

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 1 2 7

W i d e r s t r e i t ja durch theilweise gegenseitige H e m m u n g e n und S c h w i e r i g k e i t e n ihren eigentlichen Zweck um so sicherer, weil mit um so einfacheren Mitteln zu errreichen im Stande ist. Immer vollständigere innere Wesensvollendung und damit allgemeineres Wohlseyn für Alles, was zu ihr gehört, dürfen wir auf allen Naturgebieten als den ersten und allgemeinsten Zweck alles Naturdaseyns im Ganzen wie im Einzelnen betrachten. Gegenseitig abwechselnder K r a f t a u f w a n d von der einen und K r a f t s c h w ä c h u n g von der anderen Seite bilden in Gemeinschaft mit der damit verbundenen Abwechselung von W i r k s a m k e i t und R u h e , von T h ä t i g k e i t und E r h o l u n g allenthalben das natürliche Mittel, dadurch solches alles unausgesetzt bewirkt wird. Befänden die ursprünglichen Einzeldinge sich von Anfang an in voller Abgeschlossenheit in sich selber und ohne alle äusseren und damit auch ohne alle inneren Beziehungen und Berührungen unter einander: jede Orts- wie jede Zustandsveränderung wäre rein unmöglich. In der Naturwirklichkeit sind aber allewege die Einzeldinge in ein unausgesetztes Wechselspiel versetzt von gegenseitigen Krafteinwirkungen und Kraftaus Wirkungen; von einem beständigen Beharren in den gleichen Zuständen und an den gleichen Orten kann unter solchen Umständen nicht mehr die Rede seyn: da herrschen ohne Unterlass Ortsund Zustandsveränderungen aller Art. Selbst Massen, die scheinbar festgebannt sind an den einmal auf der Oberfläche der Erde eingenommenen Orten und Stellen, machen hiervon keine Ausnahme. Die Wasser eines Sees verdunsten, und ohne neuen Zufluss vertrocknet der See. Schnee- und Eismassen scmelzen und verdunsten gleichfalls. Und selbst die härtesten Felsmassen schwinden durch Verwitterung und die damit verbundenen Zerbröckelungen. Da ist nirgends dauernde Ruhe, aber allenthalben Bewegung und Veränderung. Richten wir unser Augenmerk ausschliesslich auf das rein innerliche Verhältniss, wie jene einheitliche Grundkraft der

128

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Dinge durch ihre unausgesetzte unmittelbare Wirksamkeit deren wesenhaftes Daseyn begründet und erhält, ohne dabei zugleich Rücksicht zu nehmen auf irgend welche fremde und äussere Naturverhältnisse und deren mögliche Einwirkung: so ist es einleuchtend, dass insoweit von irgend einem fremden H i n d e r n i s s oder H e m m n i s s , von irgend einem fremden W i d e r s t a n d oder fremder E n t g e g e n w i r k u n g in keiner Weise die Rede seyn kann. Daher haben wir auch schon an einem früheren Orte (IV. § 17, No. 79) darauf hingewiesen, dass in solchem Fall an irgend eine Z e i t v e r s c h i e d e n h e i t zwischen U r s a c h e und W i r k u n g nicht zu denken seyn kann. Denn wie wir vorhin angeführt, bilden Ursache und Wirkung hier gewissermaassen nur die beiden entgegengesetzten Pole eben jener einheitlichen daseyn- und wesenbildenden Kraftwirksamkeit, wie solche den Raum vom Mittelpunkt der Dinge bis zu deren Wesensoberfläche unausgesetzt durchwirkt und durchwaltet. So wie aber bei einer jeden elektrischen Erregung beide Pole, der anziehende oder t Pol, wie der ihm entgegengesetzte, abstossende oder — Pol sich stets g l e i c h z e i t i g und m i t g l e i c h e r S t ä r k e erregt zeigen, oder wie wir an jedem Wagebalken, wenn der eine Arm sich senkt, gleichzeitig auch den anderen Arm sich heben sehen: ganz ebenso auch in dem obenangeführten Fall in Bezug auf ein gleichzeitiges Eintreten von Ursache und Wirkung. Wir dürfen daher, ohne Gefahr zu irren, es wohl als einen Wahrheitssatz aufstellen, dass in allen Fällen, wo Ursache und Wirkung als an ein und dasselbe Körpertheil gebunden zu betrachten sind, naturgesetzmässig auch k e i n Z e i t u n t e r s c h i e d zwischen beiden kann angenommen werden. Sobald wir dagegen die Dinge als in ihrem natürlichen Wechselverkehr mit ihrer äusseren Umgebung betrachten, ändert sich dies Verhältniss sofort: die Gleichzeitigkeit hat aufgehört und eine je nach Umständen kleinere oder grössere Z e i t v e r s c h i e d e n h e i t sehen wir erfahrungsgemäss an deren Stelle

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusserenErscheinungetc. 1 2 9

treten. In dem oben angenommenen rein innerlichen Verhältniss liegt kein Widerstand vor, der zu überwinden wäre, dalier thatsächlich auch kein U b e r g a n g s w i d e r s t a n d zu überwinden ist. Hier dagegen im unausgesetzten Wechselverkehr der Dinge unter sich, ist das Verhältniss ein ganz anderes: hier ist an die Stelle des ursprünglich einfachen Verhältnisses zwischen Ursache und Wirkung ein wirkliches und eigentliches Doppelverhältniss getreten, nehmlich dasjenige von A u s w i r k u n g und E i n w i r k u n g von Kraftwirksamkeiten. Diese kann niemals in ein und demselben Körpertheil statthaben, sondern immer nur zwischen verschiedenen, von einander getrennten, zugleich aber einander berührenden Körpertheilen ihre Geltung haben. Aber aus eben diesem Grund kann daher auch in Folge des vorhin besprochenen Ü b e r g a n g s w i d e r s t a n d e s , den ein jedes Naturding einer jeden von aussen her an dasselbe herantretenden fremden Krafteinwirkung aus seinem eigenen Inneren heraus entgegensetzt, für den eben besprochenen Fall von einer wirklichen G l e i c h z e i t i g k e i t von Ursache und Wirkung oder vielmehr von Auswirkung und Einwirkung unmöglich mehr gesprochen werden. Wie daher die Überwindung eben dieses Widerstandes einen demselben entsprechenden K r a f t v e r l u s t auf Seiten des einwirkenden Körpertheiles nothwendig zur natürlichen Folge haben muss: ganz ebenso für das gemeinschaftliche Verhältniss einen diesem entsprechenden Z e i t v e r l u s t . Das heisst mit anderen Worten: die U r s a c h e muss der E i n w i r k u n g im fremden Körper und diese wiederum der Auswirkung aus demselben der Z e i t n a c h v o r a u s g e h e n und umgekehrt. Daher sollten wir in allen diesen letzteren Fällen, wo zwischen Ursache und Wirkung ein Zeitunterschied stattfindet, im Grunde auch nicht sowohl von Ursachen und Wirkungen sprechen, als vielmehr von U r s a c h e n und i h r e n E r f o l g e n . Die Ursache erscheint folgerichtig als begrifflich wie naturgemäss g l e i c h z e i t i g mit ihrer Wirkung; in dem Wandersmann.

II.

130

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen,

Wechselverhältniss zwischen Ursachen und ihren Erfolgen dagegen gehen erstere den letzteren um ebensoviel voraus, als ihre Erfolge den Ursachen nachfolgen. Schon begrifflichsprachlich weisen die Worte „Erfolg" und „Folge" auf ein solches Verhältniss hin. „Der Grundsatz des Wirküngsverhältnisses (Causalverhältnisses) in der Folge der Erscheinungen" — sagt Kant — „gilt von allen Gegenständen der E r f a h r u n g unter der Bedingung der Aufeinanderfolge (Succession), weil er selbst der Grund aller Möglichkeit der Erfahrung ist" (KANT II. S. 205). So sagt auch J. G. F i c h t e , dass „in der Sinnenwelt, die an der Kette der stofflich-körperlichen (materiellen) Ursachen und Wirkungen fortläuft, das, was erfolgt, von dem abhängt, was vorher geschah" (J. G. FICHTE II. S. 281). Und wenn Schelling sagt: „Nun ist aber gewiss, dass die Ursache niemals zugleich mit ihrer Wirkung ist," und dann weiter noch hinzufügt: „Zwischen der Ursache und ihrer Wirkung findet nicht nur A u f e i n a n d e r f o l g e (Continuität) der Zeit, sondern auch A u f e i n a n d e r f o l g e (Continuität) im Baum statt" (SCHELLING I. S. 377. 378): so kann es nach dieser Darstellungsweise keinem Zweifel unterliegen, dass auch er bei diesem Auspruch eben nur dasjenige Verhältniss im Auge hatte, wo Ursache und Wirkung nicht dem gleichen Einzelding, sondern vielmehr, wie bei allen Wechselwirkungen, verschiedenen Einzelwesen angehören. Sehr bezeichnend für unseren gegenwärtigen Fall ist jedoch ein Ausspruch Philippi's. „Eine innere und eine äussere Wirkung" — sagt er — „sind u n t e r s c h i e d e n e Dinge. Da folget also der Schluss nicht, dass, weil eine innere mitwesentliche und u n m i t t e l b a r ausfliessende W i r k u n g mit deren U r s a c h e einerlei Z e i t r a u m seyn kann: also gehe dies auch bei einer äusseren, besonders bestehenden Und zufälligen Wirkung an" (PkiLrppi: Unmöglichkeit d. ewig. Welt. S. 63). In diesem Ausspruch liegt die Unterscheidung zwischen inner-

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusserenErscheinungetc. 131

lieh bleibender Wirkung als g l e i c h z e i t i g mit ihrer Ursache, von der ä u s s e r e n Wirkung, als ihrer Ursache zeitlich n a c h f o l g e n d , ausdrücklich und auf das bestimmteste anerkannt. N o . 106.

Porosität körperlicher Massen.

Wir haben früher gesehen, dass den einfachsten Einzeldingen des untersten Naturgebietes auch n u r . die einfachste körperliche Gestaltung, d. i. die K u g e l g e s t a l t kann zuzuerkennen seyn. Da nun aber keine Kugel an ihrer Oberfläche mit mehr als 12 Kugeln von derselben Grösse erfahrungsgemäss in unmittelbarer Berührung stehen kann (ULE: Natur. S. 30): so folgt hieraus weiter, dass auch kein einfaches Körpertheil an seiner ganzen Oberfläche, sondern stets nur an 12 vereinzelten Punkten derselben mit anderen einfachen Körpertheilen gleicher Grösse in unmittelbarer Wechselwirkung sich befinden kann. Und eben daraus ist denn auch ersichtlich, dass alle körperlichen Massen oder Massentheilchen, mögen sie nun so gross oder so klein angenommen werden, als man will, durchweg von, wenn auch noch so verschwindend kleinen Räumen müssen durchzogen seyn, welche von aller natürlich - stofflichen Erfüllung völlig frei sind. Die hier beigesetzte Zeichnung stellt uns das ähnliche Verhältniss vor Augen in Bezug auf blosse Kreisflächen. Hier gilt bekanntlich das Gesetz, dass eine Kreisfläche äusserlich nur allein mit sechs Kreisen gleicher- Grösse in unmittelbarer Berührung stehen kann. Die um den inneren Kreis herumgelagerten nicht schraffirten Stellen zeigen uns eben diese zwischen den sechs Berührungspunkten frei bleibenden Räume, und es können dieselben somit auch zu einer besseren geistigen Veranschaulichung jenes gewissermaassen ähnlichen und verwandten Verhältnisses 9*

132

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

dienen, wie solches bei kugelförmigen Körpern stets der Fall seyn muss. Diese hiernach von k e i n e m N a t u r s t o f f eingenommenen, dem leiblichen Auge ebenso unzugänglichen Zwischenräume wie die einander berührenden Körpertheilchen selber, pflegten von Seiten der Wissenschaft bekanntlich als P o r e n bezeichnet zu werden. So sagt Müller-Pouillet: „Die Zwischenräume, welche sich zwischen den verschiedenen Theilchen der Körper befinden, nennt man P o r e n . Bezieht man diesen Namen auf die Zwischenräume zwischen den einzelnen stofflich-körperlichen Grundbestandtheilen (den Atomen) der Körper, so ist j e d e r K ö r p e r p o r ö s und die Porosität eine allgemeine Eigenschaft" ( M Ü L L E R - P O U I L L E T : Lehrb. d. Phys. S. 9). Auch Aristoteles spricht schon von solchen „Poren" im Inneren körperlicher Massen, z. B. in Luft, Wasser und dergl., welche aber „wegen ihrer Kleinheit unsichtbar" seyen (ARISTOTELES: Entstehen u. Vergehen. S. 4 0 7 ) . Als Erfahrungszeugniss dafür, dass solche von Naturstoffen freien Räume oder Poren sich auch thatsächlich selbst in den festesten Körpermassen befinden müssen, darf nach Müller-Pouillet unter anderem der Umstand gelten, dass „eine mit Wasser gefüllte Kugel von Gold, welche einem starken Druck ausgesetzt wird, sich auf ihrer ganzen Oberfläche mit kleinen thauähnlichen Tröpfchen bedeckt" (MÜLLEKPOUILLET a. a. 0 . S. 11). Wie aber das Hindurchpressen von Flüssigkeiten durch feste Körper hindurch für ein wirkliches Yorhandenseyn von solchen stofffreien Zwischenräumen Zeugniss ablegt: so umgekehrt auch das V e r s c h l u c k t - oder gleichsam A u f g e s a u g t w e r d e n von flüssigen oder luftförmigen Stoffen durch feste Körper, die in pulverförmiger Vertheilung sich befinden. Auch enthält bekanntlich nicht nur das Wasser stets Lufttheilchen mehr oder weniger in sich eingeschlossen, sondern selbst die uns umgebende Luft enthält erfahrungsgemäss die mannigfachsten gasförmigen Stoffe aufgelöst in sich. Das Verdunsten von Wasser z. B. liefert einen äugen-

Der Wechselverkehr in der Natur als Grund der äusseren Erscheinung etc. 1 3 3

scheinlichen Beweis hierfür. Dagegen macht Ulrici darauf aufmerksam, dass es bei „einigen Körpern, wie z. B. bei dem Glas, noch nicht gelungen ist, eine Porosität derselben wahrzunehmen oder thatsächlich zu erweisen, dadurch dass es gelungen sey, eine tropfbare oder gasförmige Flüssigkeit durch sie hindurchzutreiben" (ULRICI: Gott u. Natur. S. 59). Der eigentliche Grund dieser allerdings auffallenden Verschiedenheit scheint bis jetzt noch nicht ermittelt zu.seyn; er dürfte wohl jedenfalls in irgend, einer bis jetzt noch unbekannt gebliebenen Eigenthümlichkeit des inneren Gefüges zu suchen seyn. Ob nicht vielleicht innere krystallinische Verhältnisse von einer dem Auge unzugänglichen Kleinheit und Feinheit hierbei mitwirkend seyn dürften? Diese hier vertretene Ansicht von einer thatsächlichen im Innern der körperlichen Massen vorkommenden Porosität derselben, d. h. von Räumlichkeiten zwischen den einzelnen einander berührenden Körpertheilchen, welche von uns als völlig frei von allem Naturstoff müssten zu betrachten seyn, scheint allerdings im ersten Augenblick im offenen Widerspruch sich zu befinden mit unseren früheren Darlegungen über die natürliche Unmöglichkeit wirklich leerer ßäume im Innern der stofflich-körperlichen Massen. Allein wir dürfen hierbei eben doch einen sehr wesentlichen Unterschied zwischen beiden Fällen nicht ausser Acht lassen. Dort handelte es sich um leere Räume, welche durchgehends derart im Innern der körperlichen Massen zu dem Zweck sollten angenommen werden, um die Einzeltheilchen vollständig a u s s e r a l l e r und j e d e r w e c h s e l s e i t i g e n B e r ü h r u n g zu erhalten, weil man der Ansicht war, dass sonst eine jede freie Beweglichkeit derselben unter einander als unmöglich sich darstellen müsse. In dem gegenwärtigen Fall dagegen ist die Rede von Einzelbestandtheilen der körperlichen Massen, welche ausdrücklich in s t e t e r o b e r f l ä c h l i c h e r B e r ü h r u n g derart zu e i n a n d e r stehen, dass durch eben jene verbleibenden

134

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechsel Verhältnissen.

Zwischenräume durchaus keine wechselseitigen Kraftein- und Auswirkungen von Seiten der betreffenden Einzelwesen zu vermitteln bleiben; während damals gerade jene angenommenen, die Einzelwesen von einander entfernt haltenden leeren Räume dazu bestimmt seyn sollten, eine natürliche Fortleitung jener Kraftwirksamkeiten durch sich hindurch zu vermitteln. Indessen werden wir an einem späteren Ort Gelegenheit haben, nochmals auf eben diese Fälle zurückzukommen, da es uns bis dahin möglich seyn wird, eben diese Frage betreffs wirklich leerer Räume innerhalb der uns umgebenden Naturwirklichkeit auch von einem noch erweiterteren Standpunkt in das Auge zu fassen, als solches auf unserem gegenwärtigen noch möglich gewesen ist.

§ 20. Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge als das allgemeine Naturmittel zu allen in der Natur vorkommenden inneren Wesensentwickelungen und Wesenssteigerungen. N o . 107. Das innere Wesen der Dinge als stofflich-körperliches Leben in Bezug auf dessen selbstthätiges inneres Wirken und Walten, wie in Sezug auf dessen lebenskräftige Selbstoffenbarung nach aussen. Wir haben bereits mehrfach Gelegenheit gehabt, darauf hinzuweisen, dass es in dem ganzen Haushalt der Natur kein an sich Todtes und Lebloses im eigentlichen Sinne des Wortes geben könne, da als wirklich in sich todt und leblos allein nur dasjenige gelten kann, was unter allen Umständen und Verhältnissen auch als völlig k r a f t - u n d w i r k u n g s l o s sich erweisen würde. Da wir uns aber mehr und mehr davon haben überzeugen müssen, dass alles in dieser Welt Vorhandene, selbst innerhalb der noch ungestalteten allgemeinen

Der allgemeine Wechselverkehr der Dinge etc.

135

Stoff- und Körperwelt, sein wirkliches Daseyn und Wesen nur der unmittelbaren W i r k s a m k e i t einer, einem jeden natürlichen Einzelding für sich im Besonderen zukommenden einheitlichen, dessen Daseyn und Wesen begründenden Urund Grundkraft kann zu verdanken haben: so ist schon hieraus ersichtlich, dass es überhaupt nichts in dieser Welt geben kann, dem in Wirklichkeit ein bestimmter, und wenn auch noch so geringer, Grad von eigenem innerem L e b e n und von eigener innerer L e b e n d i g k e i t vollkommen dürfte abgesprochen werden. Schon der Umstand, dass nicht nur von Seiten der Wissenschaft, sondern auch selbst im gewöhnlichen Leben so häufig von „lebendigen Kräften" gesprochen wird (KANT VIII. S. 14. 15), ist in dieser Beziehung nicht ohne Bedeutung. Die ganze Natur steht als ein Reich des beständigen W i r k e n s , Bewegens, V e r ä n d e r n s und W e r d e n s vor unseren Augen da: wo dies alles sich aber vorfindet, da kann dasselbe auch nur aus einem innerlich in sich S e l b s t k r ä f t i g e n und darum auch innerlich in sich L e b e n d i g e n hervorgehen, dem die Wirkungsfähigkeit, die Bewegungsfähigkeit und die Veränderungsfähigkeit, als von Uranfang an mit zu seinem natürlichen Wesen gehörend, zukommen muss. Daher kann aber auch nur in eben jener einheitlichen Grundkraft, welche als der natürliche Grund und die natürliche Ursache, als der Anfang und erste Ausgangspunkt des Daseyns und Wesens der Dinge muss betrachtet werden, gleichzeitig der natürliche Grund und die natürliche Ursache ihrer innerlichen B e l e b t h e i t oder ihres innerlichen L e b e n s gesucht und gefunden werden. Denn eben diese innere Kraft, dieser innere selbstthätige Urgrund alles Daseyns , Wesens und Lebens kann * unmöglich als etwas nur zufällig von aussen her in die Dinge Hineingekommenes betrachtet werden, als ob dieselben "anfänglich gleichsam als ein an sich todtes Naturdaseyn wären vorhanden gewesen, das erst nachträglich durch eine von aussen in sie hinein-

136

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechsel Verhältnissen.

gekommene fremde Kraft wäre belebt worden. Wie ohne natürlich-innerliche Kraft auch kein natürliches Daseyn und kein innerliches Wesen seyn kann: so auch kein innerliches Leben. Denn sie allein ist es ja eben, welche durch ihre eigene naturnothwendige Wirksamkeit dies alles s e l b e r setzt, schafft, gründet und bildet. Aber eben weil dieser innerste Daseyns-, Wesens- und Lebensgrund allewege in sein eigenes Werk, in seinen eigenen, in sich selbst geschlossenen Wirkungskreis sich e i n h ü l l t und in Folge dessen jedem fremden Auge sich entzieht (FROHSCHAMMER : Athenä. III. S. 52 [FR. HOFFMAN]): eben deshalb kann er auch nur in den einzelnen Erscheinungsweisen, in denen er nach aussen hin hervortritt, von uns erkannt werden. Und dieser Umstand bildet denn auch den ganz natürlichen Erklärungsgrund dafür, dass wir so leicht geneigt sind, alles dasjenige, woran wir im Ausseren nicht fortwährend in die Augen fallende Veränderungen in den Erscheinungsweisen wahrnehmen, demzufolge für innerlich wirklich todt und leblos zu halten. Nach TIEDEMANN soll bereits D e m o k r i t die B e l e b t h e i t aller stofflich-körperlichen Dinge oder Atome sowie aller leblos scheinenden Wesen ausgesprochen haben (TIEDEMANN : Geist d. spek. Phil. I. S. 274). Und ebenso berichtet derselbe auch von dem arabischen Weltweisen Tophail, dass er mit ARISTOTELES die innere Gestaltungskraft oder Form der Dinge als Grundursachen oder Principien aller Thätigkeiten, die wir an ihnen wahrnehmen, bezeichnet habe. In Ubereinstimmung hiermit habe er daher auch gelehrt, dass alles, was gar keine solche gestaltende Thätigkeit oder Form in sich habe, auch ohne Leben sey; was dagegen einige habe, das besitze auch nur e i n i g e s , d. h. ein dem Grade nach nur s c h w a c h e s Leben, wie solches bei den natürlichen Grundstoffen (Elementen) der Fall sey (TIEDEMANN a. a. O . IV. S. 139 [TOPHAIL]). S p i n o z a sagt: „Wenn das Leben auch den körperlichen Dingen beizulegen ist, so wird nichts des

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

137

Lebens untheilhaftig seyn. Deshalb verstehen wir unter Leben die Kraft, wodurch die Dinge in ihrem Seyn v e r h a r r e n . Und weil jene Kraft (begrifflich wenigstens) von den Dingen selbst verschieden ist, so sagen wir recht eigentlich, dass die Dinge selber L e b e n h a b e n " (SPINOZA I. S . 230. 231). So sagt auch Kant: „Die Grundstoffe (Elemente) haben wesentliche K r a f t , einander in Bewegung zu versetzen, und sind sich s e l b e r eine Quelle des L e b e n s " (KANT VIII. S. 267). Ebenso St. Martin: „Im ganzen Bereich der Natur gibt es nichts, was nicht innerlich e r f ü l l t und l e b e n dig wäre (qui ne soit plein et vif)" (ST. MARTIN: Esprit des choses. I. S. 306). In gleichem Sinn sagt auch Baader, dass „in jeder Stufe des Lebens die L e b e n d i g k e i t auf Einheit des Stoffes und der ihn bildenden Kraft (der Form) beruhe", und dass „die Bedeutung (das Moment) des Lebens überall eins sey mit dem Begriff (Moment) der I n n i g k e i t e'ben dieser Vermählung (des inneren Stoffbegriffes nehmlich mit dem ihm zu Grunde liegenden Kraftbegriff)" (BAADER III. S. 271). Auch Sengler sagt in dieser Beziehung: „Nach Baader ist Alles Leben, Thätigkeit, Wirksamkeit. Das Wesen bewegt sich selbst durch seinen Inhalt und seine Form. Dieses ist die erfüllte oder sich in seiner Thätigkeit hervorbringende (producirende), mit Gehalt und Gestalt erfüllende Bewegung des Wesens" (SENGLER: Idee Gottes. II. S. 265. 266). „Jedes Wesen" — sagt Drossbach — „ist l e b e n d i g e s K r a f t w e s e n . Was wir Stoff (Materie) zu nennen gewohnt sind, ist nichts dem Unsinnlichen (Immaterielle) Entgegengesetztes, ist nicht etwas Anderes als Kraft: es ist das N i c h t s i n n l i c h e , L e b e n d i g e , K r ä f t i g e selbst in gewissen Zuständen" (DROSSBACH: Genes, d. Bewussts. S. 10; Harmonie d. Ergebnisse d. Naturforsch. S. 19). So auch Lotze: „Kein Theil des Seyenden" — sagt er — „ist unbelebt und unbeseelt; nur ein Theil des Geschehens, nehmlich jene Bewegungen, welche die Zustände des einen mit denen des

138

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

anderen vermitteln, schlingen sich als ein äusserlicher Mechanismus (oder als äusserliche Anregung) durch die Fülle des Beseelten, allem die Gelegenheiten und Anregungen zu wechselnder E n f a l t u n g des i n n e r e n L e b e n s zuführend" (LOTZE: Mikrokosmos. S. 393). Endlich sagt F r a n z H o f f m a n n mit Bezug auf SCHELLING'S Naturanschauung: „Nach S c h e l l i n g ist es ein und dieselbe Grundkraft (Princip), welche die ungestaltete und gestaltete (unorganische und organische) Natur verbindet. Alle Thätigkeiten (Functionen) des Lebens sind nur Zweige e i n e r und d e r s e l b e n K r a f t , und der Eine Naturgrund (Naturprincip), welcher die U r s a c h e des L e b e n s ist, tritt in ihnen nur als einzelne Erscheinungen (oder besondere Erscheinungsweisen) hervor. Nicht aber in einer blossen Kraft liegt das (eigentliche) Wesen des Lebens, sondern in einem (wechselseitigen) f r e i e n S p i e l der K r ä f t e " (FKOHSCHAMMER: Athenä. I I I . S. 5 2 [ F E . HOPFMANN]). Wo K r a f t ist, da ist demnach auch L e b e n , und Wo Leben ist, da ist es auf eine innerlich wirksame Kraft gegründet. In dem Worte „Lebenskraft" liegt die Zusammengehörigkeit von Kraft und Leben begrifflich wie sprachlich ausgedrückt. In der Erscheinung tritt die Art und Weise zu Tage, wie der Stoff durch die ihm zu Grunde liegende Kraft jm Innern der Dinge gewirkt und gewoben wird. Was aber für den Kraftbegriff in seiner Weise gilt: dass muss ebenso auch für den Lebensbegriff als solchen seine Geltung haben, und was für jenen das Wechselverhältniss von Kraft, Stoff und Erscheinung darstellt: das erscheint für diesen als L e b e n , R e g s a m k e i t und B e w e g u n g . Das Leben entspricht wie die Kraft dem innersten Wesensgrund der Dinge; die Regsamkeit dagegen der das stoffliche Wesen ins Daseyn stellenden inneren Kraftwirksamkeit; und die Bewegung endlich der äusseren Erscheinung, darinnen die innere Wirksamkeit wie die ihr entsprechende innere Regsamkeit auch nach aussen hin zu Tage tritt. „Das L e b e n " — sagt Ule —

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

139

„ist ein Geheimniss: es ist ein Spielgeheimniss voller Kräfte. Dem Naturforscher (Physiker) kann es nicht entgehen, dass die Naturkräfte aus dem Innern heraus wirken, und dass es Bewegungen gibt, die nicht durch äussere Mittel bewirkt werden" (ULE: Natur. S. 25. 27). Dieser Ausspruch zeigt uns in der That den allein richtigen Weg, wo wir nicht allein den wahren Begriff, sondern auch den eigentlichen Sitz des Lebens selbst in den noch rein stofflich-körperlichen Dingen zu suchen haben. Er weist uns auf das Innere, d. i. auf das eigentliche Wesen der Dinge hin und gibt uns zugleich damit den Wink, dass hier ein Herd rein innerlicher Bewegungsverhältnisse bestehen müsse, welche, nicht von aussen her bewirkt oder angeregt, allein nur hier im Innern der Dinge ihren Ursprung nehmen können. Vergegenwärtigen wir uns nun aber zugleich, dass wir bereits früher eben jene einheitliche innere Grundkraft der Dinge, auf deren unmittelbarer Wirksamkeit das gesammte Daseyn und Wesen derselben beruht, gleichsam als eine unausgesetzte S t r a h l e n b e w e g u n g haben auffassen müssen, welche von ihrem Ursitz, dem einheitlichen Mittelpunkt der Dinge, bis zu deren äusserlichkörperlichen Oberfläche hin gerichtet ist: so kann uns nunmehr auch kein Zweifel mehr darüber bleiben, dass der eigentliche und wahre Begriff alles Lebens ohne Ausnahme mit dem Begriff eigener innerer S e l b s t b e w e g u n g , S e l b s t g r ü n d u n g und S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g in Eins zusammenfallen muss. Ganz in diesem Sinn sagt denn auch L a s s a l l e , dass „die u n s i n n l i c h e (also rein innerliche und darum der sinnlichen Wahrnehmung unzugängliche) B e w e g u n g die allein u r a n f ä n g l i c h e (principielle) Bewegung H e r a k l i t ' s sey. Daher sey auch jede Ortsbewegung und jede sinnliche Bewegung und Veränderung erst von dieser die Folge und Wirkung" (LASSALLE: Heracleitos. I. S. 184). Ebenso lag auch schon für PlatO der Ursprung und Anfang oder das Princip aller Bewegung nur in dem „ S i c h - s e l b e r - B e w e g e n d e n " ,

140

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

das nicht erst durch einen Anstoss von aussen in Bewegung gesetzt wird, und welches er demzufolge auch als

„Seele",

d. h. als ein in sich S e e l i s c h e s oder S e e l e n h a f t e s n e t e ( P L A T O [SCHLEIEEMACHER].

sagt N i c o l a u s

Leben" — wegung.

2 Th.

von

Bd. I I .

Cusa —

bezeich-

S. 141).

„Das

ist eine A r t

Be-

Eine nicht sich selbst bewegende Bewegung ist nur

ein Z u f ä l l i g e s (ein Accidenz); das S i c h - s e l b s t - B e w e g e n d e aber ist ein W e s e n (eine Substanz)" (SCHARPFF: NIE. V. CUSA. S. 221. 222).

Leibnitz

Auch

wenn er sagt: inneren

Kraftwirksamkeiten

Uberall

sind

weil

die

spricht

in

ähnlichem

Sinne,

„ D i e Bewegungen können nur mit Hülfe von erste

(Entelechien)

innere

Grundlagen

erklärt

Kraftwirksamkeiten

(Principien)

der

werden.

(Entelechien),

Bewegung

durch

die

ganze Körperwelt (durch die Materie) verstreut sind" (LEHNITZ [ e d . ERDMANN]

S. 438).

In

Bezug

ung über den gleichen Gegenstand

auf KANT'S

Anschau-

Braniss:

„Durch

sagt

KANT ist die Philosophie zu einem viel tieferen Begriff des Lebens

gekommen.

wesentlich

Diesem

Begriff

Selbstthätigkeit

nach

und

ist

das

Leben

Selbstbewegung.

Es

kann niemals Ergebniss (bloss) äusserlich-körperlicher (mechanischer) Vorgänge seyn, sondern immer nur G r u n d und U r sache (Princip) solcher Vorgänge" (BRANISS: Atom. U. Dyn. Naturauffassung. S. 313. 314). sagt

Franz

Hoffmann:

Und mit Bezug auf S c h e l l i n g

„Ein

"Wesen,

Grund (ein Princip) der Bewegung in solches Wesen heisst l e b e n d i g .

das

sich

einen

selbst

Sowie es eine Stufenfolge in

der gestalteten Natur (in der Organisation) gibt, auch

eine Stufenfolge

Athenä. I I I .

des Lebens

bewegendes, Dinges.

geben"

so wird es

(FROHSCHAMMER:

S. 32 [ F R Z . HOFFMANN : G o t t e s l e h r e

Endlich sagt D r o s s b a c h :

inneren hat, ein

SCHELLING'S]).

„Jedes Ding ist ein sich

und Selbstbewegung

daher

selbst

das Wesen jedes

Es ist ein bewegtes und bewegendes, weil es in Ge-

sellschaft mit anderen lebendigen Wesen i s t " (DROSSBACH: Harmonie d. Ergeb. d. Naturf. S. 14. 15; Genes, d. Bewussts. S. 188).

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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Fassen wir nunmehr jene Wesen und Daseyn bildende Kraft in ihrer inneren Wirksamkeit noch genauer in das Auge, so stellt sich uns dieselbe — wie schon früher erwähnt — sowohl nach Vernunft- wie Erfahrungsgründen dar als in doppelter Richtung vor sich gehend, nehmlich einmal in ihrer ursprünglichen Weise vom Mittelpunkt zur Oberfläche wirkend, als sich selbst a u s b r e i t e n d e oder a u s d e h n e n d e K r a f t w i r k s a m k e i t , und sodann in ihrer natürlichen Rückwirkung von der Oberfläche zum Mittelpunkt, als sich in sich selbst wieder zurückziehende oder als z u s a m m e n z i e h e n d e K r a f t w i r k s a m k e i t . Führte nur allein die ausdehnende Kraft als stoff- und wesenbildende Kraft Wirksamkeit die Herrschaft, so würde auch nur sie allein nach aussen hin wirksam seyn können und zwar einzig und allein nur als abstossende Kraft, und eine Massenbildung auf dem Wege wechselseitiger Anziehung wäre unmöglich. Herrschte dagegen jene einheitliche Grundkraft nur allein als zusammenziehende Kraft, so besässe sie nicht die geringste Macht, jemals aus ihrem Ursitz heraus in eine daseynbildende Wirksamkeit einzutreten: sie bliebe stets in ihrem Ursitz eingeschlossen und vermöchte auch nicht die allergeringste wesenhafte Wirklichkeit in das Daseyn zu stellen. So bilden demnach die a u s d e h n e n d e und die zus a m m e n z i e h e n d e K r a f t w i r k s a m k e i t , als die beiden naturwie vernunftnothwendigen, allezeit lebendig-wirksamen G e g e n pole im Innern der Dinge, gewissermassen die untrennbaren G r ä n z s ä u l e n alles wesenhaft-körperlichen Daseyns, deren keine fehlen darf, wenn überhaupt von einer Körperwelt soll die Rede seyn. Schon „nach der K a b b a l a h " — sagt Molitor — „ist alles Seyn ein L e b e n und B e w e g e n in seiner Weise. Die Lebensbewegung aber besteht (von der einen Seite) in einem A u s - s i c h - H e r a u s g e h e n , in einem Auss i c h - s e l b e r - W i r k e n und sich O f f e n b a r e n , und (von der anderen Seite) einem beständigen I n - s i c h - E i n g e h e n " (MOLITOE: Geschichte d. Philos. I. S. 494). Ganz in demselben

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Sinn sagt Oetinger, dass „in allen Dingen zwei ursprüngliche Kraftwirksamkeiten (zwei Principien) walten, ein wirksames und ein leidendes, Geist und Stofflichkeit (Materie)". Dass OETINGER unter Geist hier nicht den Begriff des Geistes in seiner höchsten und edelsten Bedeutung im Auge hat, sondern in dem Sinn der vom Mittelpunkt der Dinge aus wirkenden geistverwandten wesenbildenden Grundkraft der Dinge, unter Materie aber die Gränze setzende und damit das Wesen verkörperlichende Kraft der Zusammenziehung, ist daraus ersichtlich, dass er ausdrücklich hinzufügt, in dem Ineinandergreifen dieser beiden Kraftwirksamkeiten (Principien) bestehe „das L e b e n d e r N a t u r " als ein „unsichtbares Band von Kräften, welche in W i r k u n g und G e g e n w i r k u n g mit einander s t r e i t e n " ( A U B E R L E N : OETTINGER. S. 2 0 3 ) . Und dem gleichen Gedankengang begegnen wir auch bei Franz Hoffmann mit Bezug auf Schelling's Weltanschauung. „Wo stofflich-körperliche (physische) Kräfte sich e n t z w e i e n , bildet sich belebtes stoffliches Wesen (belebte Materie); in diesem Kampf entzweiter Kräfte dauert das Lebendige fort und darum betrachten wir es als ein dem Geiste Verwandtes(Analogon des Geistes)". Daher bezeichnet er auch an einem anderen Ort den „ W i d e r s p r u c h " als des Lebens „ T r i e b w e r k und I n n e r e s " (FROHSCHAMMER: Athenä. III. S. 5 0 . 5 6 4 [ F R . HOEEHANN : Gottesl. SCHELLING'S]). Wie aber eine jede Zustandsveränderung im Innern nie auf das Innere allein beschränkt bleibt, sondern auch nach aussen in einer entsprechend veränderten Erscheinungsweise sich kundgibt: so muss auch in seiner Weise ein gleiches Yerhältniss obwalten in Bezug auf eben jene innerlichen Selbstbewegungen und Selbsterregungen im stofflich-körperlichen Wesen der Dinge, darauf deren natürliche Ansprüche auf Zuerkennung eines auch ihnen zukommenden Antheiles an den allgemeinen Lebensverhältnissen der Natur sich gründen. Mit eben jenem im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge nie

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fehlenden bald Zu- und b a l d A b n e h m e n von a u s d e h n e n den oder z u s a m m e n z i e h e n d e n K r a f t w i r k s a m k e i t e n , mit jenen stets wechselnden Verhältnissen von K r a f t a n s p a n n u n g e n und von K r a f t a b s p a n n u n g e n im Wesensinnern der einzelnen Dinge muss nun aber freilich auch eine stete innere W e s e n s u n r u h e Hand in Hand gehen. Oder mit anderen Worten: es muss gewissermassen ein steter wechselseitiger K a m p f und S t r e i t zwischen jenen beiden in ihrer Wirkungsrichtung einander stets entgegengesetzten Kraftwirksamkeiten zu natürlicher innerlicher Geltung kommen, und zwar als eben jenes innere „Spiel geheimnissvoller Kräfte", in dessen naturgesetzmässigem Zusammen- und Ineinanderwirken U l e , wie wir angeführt, nicht mit Unrecht das ganze innere Geheimniss des Lebens erkannt hat. Hat ferner Heraklit „den Streit den Vater aller Dinge" genannt, oder hat Empedokles das gleiche Naturverhältniss als „Freundschaft und Streit" bezeichnet (Schwegler: Gesch. d. Philos. in Umrissen. S. 14. 16), so liegt auch diesen Aussprüchen eine tiefe Bedeutung zu Grunde. Aber eben diese innere Wesensunruhe, dieser ununterbrochene Streit entgegengesetzter Kräfte kann nicht auf das Innere allein beschränkt bleiben. Denn alle inneren Vorgänge streben naturgesetzmässig auch nach ordnungsmässiger O f f e n b a r w e r d u n g durch ihr Äusseres n a c h a u s s e n hin. Denn nur durch sein eigenes Äusseres vermag das Innere auch dem ihm fremden Ausseren von sich und seinem inneren Walten Kunde zu geben. Vermögen wir nun aber kaum diese inneren Wesensvorgänge unserem Geiste anders zu vergegenwärtigen und zu veranschaulichen, denn als ein unausgesetztes A u f - und A b w a l l e n innerlicher Lebensbethätigungen: so bleibt uns, demselben Verhältniss entsprechend, für die ä u s s e r e E r s c h e i n u n g s w e i s e wohl kaum ein anderes vergleichendes Bild übrig als jenes A u f und A b w o g e n w e c h s e l n d e r , bald s t e i g e n d e r und bald h i n a b s i n k e n d e r W e l l e n b e w e g u n g e n , wie solche unter

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Weehselverhältnissen.

Umständen aus der Tiefe herauf die Oberfläche von Landseen in bald mehr bald weniger aufgeregte wellenförmige Schwingungen zu versetzen vermögen. Was das Herz mit seinen regelmässig von ihm ausgehenden abwechselnden Zusammenziehungen und Wiederausdehnungen für die Pulsschläge des Blutes im thierischen Leib ist, was die Lungen für die Ein- und Ausathmung sind: das stellen uns hier im Gebiet der noch ungestalteten Natur eben jene i n n e r e n Wesenswallungen im Verein mit den daraus hervorgehenden und ihnen genau entsprechenden ä u s s e r l i c h - o b e r fläch liehen W e s e n s e r z i t t e r u n g e n der stofflich - körperlichen Dingö vor unsere geistige Anschauung. „Alle u r s p r ü n g l i c h e Bewegung" — sagt Wagner — „ist eine innere, bei Körpern also i n n e r h a l b der Gränzen ihres k ö r p e r l i c h e n Umfanges (Volumens)'1 (WAGNER: Natur d. Dinge. S. 197). Und gerade diese Selbstbewegung in dem inneren Wesen der Dinge ist es denn auch, welche in dem eben erwähnten äusserlichen Erzittern ihrer körperlichen Oberfläche in die äussere Erscheinung übertritt. Von eben diesem Gesichtspunkt ausgehend sagt daher auch J. P. Lange: „Jede höhere Einheit bedingt den Gegensatz. Der Gegensatz fordert die Wechselwirkung; diese aber verlangt die schwingende oder e r z i t t e r n d e Bewegung (die Oscillation), d. h. eine bestimmte Wechselfolge der beiderseitigen Einwirkungen. Mithin gehört es zur Naturordnung auch des Menschenlebens, dass abwechselnd seine Naturtriebe den Geistestrieben, bald diese wieder den Naturtrieben voraneilen" (J. P. LANGE: Dogm. II. S. 343). Was im Menschenleben die Geistestriebe sind, das stellt sich im Körperleben als Ausdehnungstrieb dar, d. h. als vom Mittelpunkt nach der Oberfläche hintreibende Kraft; was dagegen im Menschenleben als Naturtrieb erscheint, das tritt im Körperleben als Verkörperungstrieb uns entgegen, d. h. als Zug von der Oberfläche nach dem Mittelpunkt. In beiden Fällen ist es

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also gewissermassen die ausdehnende Kraftwirksamkeit, welche im Wechselverkehr mit der Aussenwelt die zusammenziehende K r a f t überholt, bald ist es diese, welche im allgemeinen Wettlauf der Natur den Vorrang über jene gewinnt. B a a d e r , indem er den Ausspruch JACOB B Ö H M E ' S a n f ü h r t , dass „alles Leben in der A n g s t q u a l oder in der E n g e entstehe" — fügt demselben erläuternd hinzu: „ A n g s t oder Engea n g u s t i a " , und als Erläuterung zu dem Begriff der Qual: „ Q u a l , Q u a l i t ä t , Q u e l l e n , W a l l e n " ( B A A D E R II. S. 302). Wenn also JACOB BÖHME in seiner oft schwerfälligen, aber darum nicht weniger tiefsinnigen Ausdrucksweise sagt: „Alles Leben entsteht in der Angstqual oder in der Enge," so kann ihm dabei nur der Gedanke zu Grunde liegen, dass alles L e b e n im i n n e r s t e n u n d e n g s t e n T h e i l d e s W e s e n s , also in dessen Mittelpunkt selbst seinen Grund habe, und von hier aus h e r v o r q u e l l e , um in derselben Weise, wie es im Inneren die E i g e n s c h a f t e n oder Q u a l i t ä t e n bedingt, so auch im Ausseren als der innersten Wesensenge der Dinge entstammendes oberflächliches, wellenförmig erzitterndes W a l l e n , oder als A n g s t q u a l für das Auge des Geistes in die Erscheinung zu treten. — Und wenn S e n g l e r sagt: „ L e b e n als Wirksamkeit ist B e w e g u n g , ist Veränderung, V e r ä n d e r u n g ist A n d e r s w e r d e n " , und hinzufügt: „Bewegung ist durch K a u m u n d Z e i t vermittelt; denn sie ist das Übergehen von Einem zum Andern, und also durch den Begriff des A u s s e r - , Nebenund Nacheinander vermittelt" ( S E N G L E R : Idee Gottes. II. S . 270) — so weist uns auch hier namentlich der Schlusssatz so recht eigentlich auf eben jenes innerlich-äusserliche wellenförmige Auf- und Abpulsiren im inneren Wesen wie in der äusseren Erscheinungsweise der Dinge hin, welches JACOB B Ö H M E , wie wir eben gesehen, gleichsam wie in einem sinnbildlich-dichterischen Flug der Gedanken nach der ihm eigenthümlichen Weise als „ A n g s t q u a l " bezeichnet hat. Das örtliche Ausser-, Neben- im Wandersmann. II.

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Verein mit dem zeitlichen Nacheinander SENGLER'S bezeichnet sehr treffend eben jene wellenförmig erzitternde Bewegungserscheinung, dadurch in dem natürlichen Daseyn alle innerlichen Wesenserregungen in äussere Bewegungszustände sich vermitteln. Von allen diesen Vorgängen aber, selbst den äusserlich zu Tage tretenden, sind wir freilich der fast verschwindenden Kleinheit aller jener ersten stofflich-körperlichen Einzeldinge wegen gänzlich ausser Stande, auch nur das Geringste zu gewahren. Aber eine leichte Andeutung und Hinweisung dürfte doch auch für diesen Fall die Natur selber uns entgegenbringen in dem e r z i t t e r n d e n G l a n z u n d S c h i m m e r , welchen manche körperliche Massen im auffallenden Sonnenlicht unverkennbar auf ihren Oberflächen an den Tag legen. Weigand, indem er die drei Begriffe von Sich-bewegen, Sich-regen und Sich-rühren eingehend mit einander vergleicht, bezeichnet das „ S i c h - r e g e n " als „das entstehende, beginnende Bewegen; besonders bei einer geringen und selbst unmerklichen Bewegung". Das „ S i c h - r ü h r e n " dagegen bestimmt er als das „sich-in-Bewegung-Setzen", sodass „Wendungen nach verschiedenen Seiten sich zeigen". „ E s r e g t sich kein B l a t t " will demnach sagen, dass noch kaum die geringste Bewegung an den Blättern wahrzunehmen ist; „es r ü h r t sich kein Blatt" will dagegen sagen, dass an den Blättern noch kein Schwanken nach verschiedenen Seiten hin eine vollgültige Bewegung der Blätter anzeigt. „Es b e w e g t sich keines" umfasst nach WEIGAND beides, das Sich-regen wie das Sich-rühren und ist nur ganz allgemein gesagt (WEIGAND: Synom. I. S. 221). Wollen wir eben diese Begriffsbestimmungen nun aber mit den Ergebnissen vergleichen, welche wir in dem Bisherigen über die innerlich - äusserlichen Wesens- und Lebensverhältnisse der stofflich-körperlichen Dinge gewonnen haben, so würden wir sagen: das erste „ S i c h - r e g e n " bezeichnet jenen Augenblick, da der ursprüng-

Dur allgemeine Weeliselverkehr aller Dinge etc.

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liehe, an sich bloss in geistiger Bedeutung aufzufassende einheitliche Ur- und Grundbegriff der natürlichen Dinge als wirkliche N a t u r k r a f t sich zu bethätigen b e g i n n t , und demgemäss als eigentliche innerlich-lebendige U r s a c h e nunmehr durch ihre eigene unmittelbare Kraftwirksamkeit das natürliche Daseyn der Dinge sowohl begründet, als dieselben auch fortdauernd darin erhält. Das „ S i c h - r ü h r e n " dagegen würde auf jenen Zeitpunkt sich beziehen, wo jenes erste Regen der inneren Lebenskraft bereits in unverkennbarer Weise begonnen hat, auch als innerlich-äusserliche W e s e n s u n r u h e aufzutreten, welche wir oben als pulsirende oder erzitternde Oberflächenbewegung zu veranschaulichen gesucht haben. „Lebendig" — sagt bezeichnend T h o m a s von A q u i n o — „nennen wir das, was sich r e g t ; was sich nicht mehr regt, ist todt. Leben heisst also sich regen, d. h. von i n n e n h e r a u s s i c h b e w e g e n . " Hierzu macht H e t t i n g e r , indem er diesen Ausspruch anführt, die weitere Bemerkung: „Keine der neueren Begriffsbestimmungen (Definitionen) kommt der seinigen gleich an Schärfe und Tiefe: der lebendige Körper hat den Grund (das Princip) d. h. die Kraft in sich, aus welcher alle seine Bewegungen, seine ganze Thätigkeit hervorgeht" (HETTINGEH: Apolog. I . S. 2 8 2 . 2 8 3 [THOM. V. AQUINO]). Wie nun aber endlich im allgemeinen Weltverkehr der Dinge unter einander keine Art von Kraftäusserung allein auf die körperliche Oberfläche der Dinge sich beschränkt, sondern wie unausgesetzt gerade hierin das natürliche Mittel liegt, dadurch die körperlichen Dinge auch unausgesetzt wechselseitig auf einander einwirken: ganz ebenso muss auch ganz das Gleiche gelten in Bezug auf eben jene äusserlichen Oberflächen-Bewegungen, die wir soeben eingehender in das Auge gefasst haben. Auch sie können im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge nicht ausschliesslich auf die Oberfläche der einzelnen Dinge beschränkt bleiben: auch sie müssen von hier aus zu neuen Ursachen und Veranlassungen zu immer weiter 10*

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

gehenden Bewegungen durch das gesammte Weltall hindurch sich gestalten, gleichviel ob wir dieselben je nach Umständen als blosse O r t s v e r ä n d e r u n g e n oder als körperliche U m f a n g s - oder G r ö s s e n v e r ä n d e r u n g e n oder auch als innere Z u s t a n d s v e r ä n d e r u n g e n in das Auge fassen. Denn im allgemeinen Weltganzen sind, wie alle Erscheinungsweisen, so auch alle Bewegungserscheinungen auf das innigste mit einander verbunden. Schallschwingungen wandeln sich um in Wärmeschwingungen und diese sehen wir in Lichtschwingungen übergehen. Und gleiche Verhältnisse nehmen wir wahr zwischen magnetischen und elektrischen Erscheinungen und Bewegungen. Wo wir ein B e h a r r e n d e s , K u h e n d e s und U n v e r ä n d e r l i c h e s vor Augen zu haben glauben: da gewahren wir bei genauerer Inbetrachtnahme aller in der Natur mitwirkenden Verhältnisse W e c h s e l n d e s , B e w e g t e s und in irgend einer Weise V e r ä n d e r l i c h e s . „Unbedingte (absolute) R u h e " — sagt daher auch C a r u s — „würde durchaus nur mit der Vorstellung des Todes sich vereinigen lassen, und kommt in der Wirklichkeit so wenig vor als das unbedingte (absolute) Nichts oder der vollkommen leere Raum. Daseyn und Bewegung sind Eins" (CARUS: Erdenleben. S. 59. 60). Und so ist es also Ein einziger innerer Lebens-, Wesens- und Daseynsgrund, welcher in allen diesen auf den ersten Anblick von einander so verschiedenen äusseren Erscheinungs - und Wirkungsweisen sich kundgibt. Daher stimmen sie auch alle drei ausnahmslos darin überein, dass sie sich je nach der Natur und Wesensart der zunächst auf einander einwirkenden Stoffe gleichzeitig ebensowohl als Ort- und Raum-, wie als Zeit- und Zustandsveränderungen für das geistige Auge darstellen. Jeder Übergang von einem Ort zum andern ist auch ein Ubergang von einem Zeitpunkt in( einen anderen, aber ebenso auch von einem Zustand in einen anderen; denn schon durch den natürlichen Ubergangswiderstand, wie solcher durch die vom Ort oder von der Stelle hinwegbewegende äussere

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Gewalt hervorgerufene wird, muss nothwendig auch irgendwelche Veränderung im Inneren des bewegenden wie des bewegten Körpers Hand in Hand gehen. Das Gleiche gilt von der Grössen Veränderung; denn jede Bindung oder Entbindung von ausdehnender oder zusammenziehender Kraftwirksamkeit muss ausser der damit verbundenen Veränderung in dem inneren Wesenszustand auch eine Veränderung in den ebenfalls an Raum und Zeitverhältnisse gebundenen wellenförmigen Oberflächenbewegungen zur natürlichen Folge haben. Und ganz ein Ahnliches muss endlich auch statthaben in Bezug auf die eigentlichen Zustandsveränderungen; denn auch sie müssen nach aussen hin entweder als Grössen- oder als Ortsveränderungen in die Erscheinung treten, also ebenfalls schon aus diesem Grund an die Bedingungen von Raum und Zeit gebunden sich darstellen. Wie daher die O r t s b e w e g u n g e n auf das W o , die Z e i t b e w e g u n g e n aber auf das W a n n im allgemeinen Weltzusammenhang sich beziehen: so die Z u s t a n d s v e r ä n d e r u n g e n auf das W i e alles dessen, was irgendwie in dieser Welt sich ereignet. Schon A r i s t o t e l e s spricht daher den Satz aus, dass alle Bewegung (in ihrem wahren Grund und Ursprung) nicht ausserhalb der vorhandenen (factischen) Dinge liegt. Denn dasjenige, was sich verändert, verändert sich entweder an seinem Wesen oder an dem wirksamen Kraftmaass (an den Quantitäten), oder an den Eigenschaften (den Qualitäten), oder an dem (dem betreifenden Ding selbst angehörigen) Raum. Die Veränderung wie die Bewegung eines jeden Einzelnen ist daher in d e m D i n g s e l b s t , welches sich verändert. Ebenso sagt auch T i e d e m a n n , dass nach ARISTOTELES „eine jede Veränderung im engeren Sinn drei Gattungen (oder Bethätigungs- und Erscheinungsweisen) unter sich habe: 1) Die Veränderung des O r t e s , d. i. Bewegung (im eigentlichen Sinn); 2) die Veränderung der G r ö s s e , d. i. Wachsthum oder Abnahme; und 3) die Veränderung der B e s c h a f f e n h e i t , d. i. Verwandlung (oder

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D i e natürlichen D i n g e in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

eigentliche Zustandsveränderung). Bewegung ist daher auch nach ARISTOTELES die erste Quelle aller Verwandlung und alles Wachsens" (ARISTOTELES: Phys. S. 105. 203). Auch P l o t i n spricht in ähnlichem Sinn sich aus. Nach ihm bezeichnet der Begriff der B e w e g u n g den Weg (oder den Ubergang) von der inneren B e f ä h i g u n g zur Wirksamkeit (Dynamis) zur eigentlichen t h a t k r ä f t i g e n Wirksamkeit (Energeia): man kann sie daher als den wachsenden Gegensatz der noch schlummernden oder ruhenden K r a f t bezeichnen. „Die Bewegung des Veränderns ist nach PLOTIN das Thun (oder Bewirken); die des Verändertwerdens das Leiden. Die Veränderung braucht sich nicht immer auf etwas Äusseres zu beziehen: sie ist oft nur eine Verwandlung des Zustandes eines Gegenstandes (Subjekts) und erscheint dann als einfache Verwirklichung einer in demselben liegenden Möglichkeit" ( K I R C H N E R : P L O T I N . S. 92. 93). So sagt auch B a a d e r , ,,dass kein stofflich-körperliches Daseyn (keine Materie) ohne innere und äussere Bewegung bestehe: ein Grund der Bewegung sey durch die ganze Körperwelt (die Materie) hindurch verbreitet. Denn die äussere Bewegung, insofern sie dem sich Bewegenden natürlich ist, sey nur die Folge einer inneren Bewegung" (BAADER X I V .

S. 3 9 0 ;

II.

S. 3 9 5 .

396).

Schon P l a t o und A r i s t o t e l e s haben bekanntlich ausser den anziehenden und zuriickstossenden Kräften oder Bewegungen in der Natur auch noch einer dritten, nehmlich des U m s c h w u n g e s oder der R o t a t i o n gedacht, als aus den beiden ebengenannten gemeinschaftlich hervorgehend. So stellt z. B. A r i s t o t e l e s drei Bewegungsarten auf: 1) die Bewegung von unten nach oben oder vom Mittelpunkt zur Oberfläche; 2) von oben nach unten oder von der Oberfläche zum Mittelpunkt; und 3) die Bewegung um den Mittelpunkt herum, welche er als „Kreisbewegung" bezeichnet (FEOHSCHAMMER: Athenä. I I I . S. 1 8 1 [ L U T T E R B E C K : BAADER'S Naturphilos. I . ] ; ARISTOTELES: Himmelsgeb. S. I ß . 25). Auch bei B a a d e r

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begegnen wir der gleichen Anschauung. Lutterbeck sagt in dieser Beziehung, dass nach BAADEK mit der Anziehungskraft (Attraktion) ausser „ihrem Gegensatz, der Ausdehnungskraft (Expansion), immer auch noch ein Drittes, die U m s c h w u n g s k r a f t (oder Rotation) als der W i d e r s t r e i t (Confiikt) b e i d e r gesetzt und gegeben s e y " (BAADER I I I . S. 320 ff.). Augenscheinlich hatten sowohl PLATO und ARISTOTELES wie auch BAADER hierbei ausschliesslich die Bewegungen der Planeten um die Sonne im Auge, welche in Folge des allgemeinen Wechselverkehrs schliesslich ebenfalls nur auf jenen ersten und ursprünglichen Lebensregungen und Lebensbewegungen im Inneren wie Ausseren der einzelnen Körperwesen natur- und vernunftgemäss zurückgeführt werden können. Ob aber auch schon jenen ersten und noch einfachsten Einzeldingen selber ein solcher U m s c h w u n g u m s i c h s e l b e r darf zuerkannt werden, dies ist jedenfalls schwer zu entscheiden, und zwar schon aus dem Grund, weil bei einem unausgesetzten Wechsel der äusserlichen Berührungspunkte wohl kaum an eine erfolgreiche Bildung, weder von besonderen Massentheilchen noch von wirklichen Körpermassen, dürfte zu denken seyn.

No. 108.

Wesenszustand und Wesensbeschaffenheit. —

Das Werden als Zustandswechsel,

Beschaffenheitsveränderung

und Wesensentwickelung. W e i g a n d unterscheidet die beiden einander sehr nahe verwandten Begriffe von Z u s t a n d und Beschaffenheit dahin, dass Ersterer „den Inbegriff der v e r ä n d e r l i c h e n B e s t i m m u n g e n " in Bezug auf das Daseyn eines Dinges bezeichnet; die Zweite dagegen „den I n b e g r i f f a l l e r M e r k m a l e , die ein Ding an sich t r ä g t " (WEIGAND: Syn. I I I . S. 726; I. S. 213). Diese Unterscheidung entspricht somit derjenigen, welche gemacht wird, je nachdem man ein Ding in seinem eigenen inneren Wesen selbst in das Auge fasst

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

oder von einem ausserhalb desselben befindlichen Standpunkt aus. Aber wir dürfen hierbei nicht ausser Acht lassen, dass alles, was in der äusseren Erscheinung der Dinge nicht nur unserem leiblichen, sondern auch unserem geistigen Auge entgegentritt, nicht sowohl in der oberflächlichen Aussenseite der Dinge seinen wahren Grund und seine eigentliche Ursache hat, sondern allewege nur als dass äussere Abbild oder die oberflächliche Offenbarwerdung irgend eines entsprechenden inneren Wesensverhältnisses darf betrachtet werden. Demgemäss sehen wir uns nunmehr durch die oben erwähnten Begriffsbestimmungen darauf hingewiesen,' zum Behuf eines richtigeren Verständnisses eben jener Naturverhältnisse auch den begrifflichen Unterschied zwischen innerem W e s e n s z u s t a n d und innerer oder äusserer W e s e n s b e s c h a f f e n h e i t noch etwas näher in das Auge zu fassen. Als Beispiel diene uns das Wasser, das bekanntlich nicht bloss in • tropfbar flüssiger Erscheinungsweise, sondern auch in fester und in luftförmiger, d. h. als Eis oder als Wasserdampf sich unserer Beobachtung darstellt. Seine flüssige Erscheinungsweise reicht vom Gefrierpunkt bis zum Siede- oder Verdampfurigspunkt. Zwischen diesen beiden äussersten Gränzpunkten können seine einzelnen Theilchen je nach Umständen alle Wärmegrade von beinahe dem Gefrierpunkt bis zu beinahe dem Siedepunkt durchlaufen, ohne dadurch irgendwie aufzuhören, in ihrer Gesammtheit für unsere sinnliche Wahrnehmung als eine flüssige Wassermasse sich darzustellen. Das F l ü s s i g s e y n muss daher jedenfalls als zu den ä u s s e r e n M e r k m a l e n des Wassers gehörend betrachtet werden. Da aber die äussere Erscheinungsweise einer körperlichen Masse immer nur als das gemeinsame Ergebniss von all den besonderen Wesens Verhältnissen sich darstellen kann, welche ihren Einzeltheilchen in deren eigenem stofflichen Innern zukommen: so folgt hieraus, dass auch in Bezug auf alle diese wässerigen Einzeldinge dasselbe Yerhältniss gilt wie auch für deren Gesammtmasse, nehmlich dass auch ihnen der

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Begriff i n n e r e r W e s e n s f l ü s s i g k e i t von uns muss zuerkannt werden, gleichviel in welchem Wärmegrad von beinahe Gefrierpunkt bis zu beinahe Siedepunkt sie sich in Wirklichkeit auch befinden mögen. Einem jeden dieser möglichen Wärmegrade muss aber gleichzeitig ein ganz bestimmter, nur ihm allein zukommender Wesenszustand entsprechen. Hieraus geht nun aber auch hervor, dass der flüssigen Erscheinungsweise als solcher folgerichtig eine weit grössere oder längere zeitliche Dauer zukommt, als den einzelnen Wärmegraden, welche je nach Umständen sowohl der ganzen Wassermasse wie deren Einzeltheilchen müssen zuerkannt werden. Im Anschlüsse an den Ausspruch von WEIGAND, dass der Begriff des Z u s t a n des vorherrschend auch den der V e r ä n d e r l i c h k e i t s e i n e r W e s e n s b e s t i m m u n g e n in sich einschliesse, derjenige der Beschaffenheit dagegen vorherrschend den Inbegriff a l l e r s e i n e r (äusserlichen) M e r k m a l e : werden wir hiernach wohl kaum der Gefahr eines Irrthums uns aussetzen, wenn wir das F l ü s s i g s e y n des Wassers oder irgend welchen sonstigen tropfbar flüssigen Körpers, oder auch eines jeden einzelnen ihrer besonderen Körpertheilchen, als zu dem Begriff der W e s e n s b e s c h a f f e n h e i t gehörig und als diese bedingend betrachten; die einzelnen W ä r m e g r a d e dagegen, welche eine flüssige Masse oder deren einzelnen Theilchen noch im Besonderen unter Umständen zu zeigen vermögen, als besondere W e s e n s z u s t ä n d e in das Auge fassen. Zugleich ergibt sich aber auch aus eben diesem begrifflichen Wechselverhältniss, dass mit dem Begriff der W e s e n s b e s c h a f f e n h e i t in der Regel und vorherrschend auch der einer längeren und gleichmassigeren D a u e r verbunden seyn wird, wogegen dem des W e s e n s z u s t a n d e s in der Regel und vorherrschend der eines sich stets wiederholenden W e c h s e l s und sich A n d e r n s der betreffenden Zustände wird zuerkannt werden müssen. Ein noch anderes Beispiel wird diese Unterscheidung bestätigen. Ziehen wir in Betracht, ob ein Feldstück sandig oder felsig

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

oder lehmig und dergl. ist, so reden wir von dessen B o d e n b e s c h a f f e n h e i t ; wenn wir dagegen von dessen Z u s t ä n d e n sprechen, so denken wir dabei an die fast beständig wechselnden Verhältnisse in Bezug auf Feuchtigkeit oder Trockenheit, denen ein jeder Boden, der fruchtbarste wie der unfruchtbarste, in Folge von Witterungseinflüssen fortwährend ausgesetzt ist. Beide, der Begriff der Beschaffenheit wie der des Zustandes, gehören somit gemeinschaftlich zu dem Begriff der innerlichen wie äusserlichen V e r ä n d e r l i c h k e i t e n , die wir erfahrungsgemäss an den Dingen in Bezug auf ihre verschiedenen äusserlichen Erscheinungsweisen wahrnehmen. Und damit sind wir nun zugleich zu einer weiteren Begriffsgruppe gelangt, deren nahe Verwandtschaft mit den eben besprochenen Begriffen zwar nicht zu verkennen ist, die aber doch auch manche, in verändertem begrifflichen Standpunkt begründete Verschiedenheiten in sich einschliesst. Es ist dies jener Allgemeinbegriff des W e r d e n s , welcher im allgemeinen Naturverlauf allenthalben uns entgegentritt, und zwar in seinen dreifachen Erscheinungsweisen als W e c h s e l oder Ä n d e r u n g der W e s e n s z u s t ä n d e , als V e r ä n d e r u n g der W e s e n s b e s c h a f f e n h e i t e n und als eigentliche W e s e n s e n t wickelung. Sie alle zeigen im Vergleich mit den bereits oben betrachteten Begriffen der Wesensbeschaffenheit und des Wesenszustandes das Ubereinstimmende und Gemeinschaftliche, dass sie ebenso wie diese Letzteren nicht nur den Stempel der V e r ä n d e r l i c h k e i t an sich tragen, sondern auch darin, dass sie alle ebenfalls auf die beiden Gegensätze eines an und in sich B e h a r r l i c h e n von der einen, und einer in und mit dieser untrennbar verbundenen V e r ä n d e r l i c h k e i t s - B e f ä h i gung von der anderen Seite sich gründen, ohne dass dadurch der Unveränderlichkeit des Wesens als solchen auch nur der geringste Abbruch geschehen könnte. Und zwar dies Letztere aus dem ganz natürlichen Grund, weil in dem an sich

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unveränderlichen geistigen Grundbegriff der Dinge, je nach deren besonderer Wesensart, von Uranfang an auch bereits die natürliche Befähigung zu allen den inneren wie äusseren W e s e n s a n p a s s u n g e n mit eingeschlossen liegt, welche in Folge des allgemeinen Wechselverkehres aller Dinge unter sich durch den unausgesetzten Wechsel äusserer Umstände und Verhältnisse herbeigeführt werden. Schon Aristoteles sagt: „Das W e r d e n d e scheint zu werden wie der Gesunde aus dem Kranken." Schwegler macht hierzu die Bemerkung, „diese Darlegung (Deduction) steure sichtbar auf den Satz los, dass »alles Werden ein Werden aus E t w a s « sey" (AEISTOTELES : Methaphys. IV. S. 119; II. S. 77. 78). Jener Ausspruch des ARISTOTELES hat wohl insoferne seine Berechtigung, als wir allerdings sagen, „ein Kranker sey wieder gesund g e w o r d e n . " Allein er trifft deshalb nicht zu, weil nicht der Krankheitszustand als der regelmässige zu betrachten ist, und daher das Gesund werden des vorher krank Gewordenen nur die Rückkehr in den naturgemässen Zustand bezeichnet. An einem anderen Orte spricht sich Aristoteles in etwas veränderter Weise dahin aus, „alles Werdende erhalte sein Entstehen von etwas zu etwas" (AEISTOTELES: Theile d. Thiere. S. 22). Dies Etwas ist eben das Beharrende im Wesen, an dem eine Änderung oder Veränderung als etwas ihm Neues und bloss Hinzugetretenes vor sich geht. Denn wie der Begriff des W e c h s e l s oder der Ä n d e r u n g in erster Linie Rücksicht nimmt auf einen bis d a h i n b e s t a n d e n e n Z u s t a n d , der sich ändert: so der Begriff des W e r d e n s vorherrschend auf den durch die eingetretene Änderung nunmehr neu h e r v o r g e r u f e n e n W e s e n s z u s t a n d . Es herrscht also in dieser Beziehung ein ganz gleiches Verhältniss wie dasjenige, welches uns bereits bei Betrachtung des Wechselverhältnisses von Ursache und Wirkung entgegengetreten ist. Auch damals fanden wir, dass von einer V e r u r s a c h u n g pflegt gesprochen zu werden, wenn wir nach

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnisgen.

rückwärts auf die U r s a c h e schauen; dagegen von B e w i r k u n g , wenn wir den Blick nach vorwärts auf die W i r k u n g der betreifenden Ursache richten. In derselben Weise aber, wie wir von „krank werden" oder „gesund werden" sprechen, so auch von „ k a l t oder warm werden", von „grösser oder kleiner werden", von „ f e s t , flüssig oder luftförmig werden". Denn das W e r d e n bildet j a den Allgemeinbegriff, welcher die Begriffe des W e c h s e i n s oder A n d e r n s , des V e r ä n d e r n s und des E n t w i c k e i n s als nur besondere Ausdrucksweisen für bestimmtere Fälle in sich einschliesst. Daher hat auch schon H e r a k l i t den gesammten Wechsel und Wandel, den wir an den erscheinenden Dingen wahrnehmen, auf ein derartiges unausgesetztes W e r d e n oder A n d e r s w e r d e n zurückgeführt. Sein „ F l u s s d e r D i n g e " , wie er eben dieses Verhältniss nannte, war ein regelmässig und naturgesetzmässig verlaufendes Übergehen aus bereits vorhandenen Daseynsoder Erscheinungsweisen in neue, bis dahin an den betreffenden Dingen noch nicht wahrgenommene (LASSALLE: Heracleitos I. S. 286), eine Anschauung, zu welcher L u t t e r b e c k die Bemerkung macht, dass er damit „ d e n G r u n d b e g r i f f der N a t u r im W e r d e n " richtig erkannt habe (FROIISCHAMMER: Athenä. I I I . S. 1 8 0 [LUTTERBECK: BAADER, Naturphilos.]). Und F r o h s c h a m m e r sagt in Bezug auf den gleichen Gegenstand: „ B e i dem S t r o m d e s W e r d e n s ist trotz der Änderung ein allgemeines beharrendes Wesen gegeben, und mitten im W e r d e n muss doch auch gesagt und bestimmt werden können, w a s w i r d und w a s d a s W e r d e n d e i s t " (FROHSCHAMMER: Phantasie. S. 1 1 5 ) . So sagt auch S u a b e d i s s e n : „Aller Fortschritt des W e r d e n s stellt sich, äusserlich betrachtet, als eine V e r ä n d e r u n g dar. Dieselbe ist, an sich betrachtet, der Ubergang eines Dinges aus einer A r t zu seyn in eine andere. In jeder Veränderung ist also zu unterscheiden das, w o r i n oder w o r a n oder w o m i t die Veränderung vorgeht, und eine Verschiedenheit auf einander folgender

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Daseynszustände desselben; — jenes als das Eine, das Bleibende, dieses als das Mannigfaltige, das Wechselnde" (SUABEDISSEN: Methaphys. S. 30). W e i g a n d bestimmt die allgemeine Bedeutung von A n d e r n und V e r ä n d e r n als „machen, dass etwas nicht mehr so ist, d. h. dass es a n d e r s ist, als es vorher war, o h n e dass es das Wesentliche verliert; daher v e r ä n d e r n auch gesagt wird »von dem Wechsel des Ortes und dem Übertreten in andere Verhältnisse«" (WEIGAND: Synon. I. S. 56; III. S. 923). Versuchen wir es nunmehr aber auch, die soeben gewonnenen Ergebnisse in Bezug auf die begrifflichen Unterscheidungen zwischen W e c h s e l n oder A n d e r n von der einen und V e r ä n d e r n von der anderen Seite mit den vorhin gewonnenen Ergebnissen in Bezug auf die Begriffe von „Wesenszustand" und „Wesensbeschaffenheit" in eine gewisse nähere Beziehung zu bringen, so gelangen wir zu dem folgenden Schlussergebniss. Der eigentliche Begriff der V e r ä n d e r u n g bezieht sich, wenn wir genau reden wollen, auf die W e s e n s b e s c h a f f e n h e i t der Dinge; der Begriff des W e c h s e i n s oder des A n d e r n s dagegen auf die W e s e n s z u s t ä n d e derselben. W e i g a n d sagt in Bezug auf den Begriff des V e r ä n d e r n s : „Verändern, ursprünglich F o r t ä n d e r n " bezeichnet ein „gänzliches, völliges Andern"; und an einem anderen Ort: „Verändern" bezeichnet das Andern mit dem in der Vorsylbe »Ver« beruhenden Begriff des völligen Umsetzens in ein Anderes, wodurch es sich von dem einfachen Andern unterscheidet" (WEIGAND : Syn. I. S. 56; III. S. 770. 924). Wenn das Wasser zu Eis gefriert oder beim Sieden in Dampfgestalt übergeht, so verschwindet in beiden Fällen dessen flüssige Beschaffenheit. Daher müssen wir, wenn wir den Angaben WEIGAND's folgen, sagen, das Wasser hat sich nicht etwa bloss in irgend einem Nebenpunkt geändert, sondern es hat sich, wenigstens für den äusseren Anschein, völlig und gänzlich geändert, d. h. es hat seine bisherige Beschaffen-

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Wie natürlichen Dingo in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

heit völlig v e r ä n d e r t . Eichten wir dagegen unser Augenmerk auf die besonderen Wärmegrade, die es, sey es als Masse oder in seinen einzelnen Theilchen, je nach Umständen während seiner flüssigen Beschaffenheit anzunehmen im Stande ist, so ist es in der Hauptsache, dem Flüssigseyn, sich gleich geblieben und nur die besonderen Wärmezustände sind durch abwechselndes Steigen oder Fallen der betreffenden Wärmegrade a n d e r e geworden, d. h. die Wärmezustände des Wassers haben, als eine besondere Weise seiner mannigfachen ihm möglichen Wesenszustände, sich g e ä n d e r t . So ändert man auch das äussere Aussehen eines Hauses, indem man ihm einen neuen Anstrich gibt; aber man verändert es in seinem Inneren oder Äusseren, indem man es mehr oder weniger umbaut. Diese Beispiele genügen uns, die näheren Beziehungen der Begriffe einerseits von „Wesensbeschaff'enheit" und von „Verändern", andererseits von „Wesenszustand" und von blossem „Andern oder Wechseln" zu einander erkennen zu lassen. Wie den Wesensbeschaffenheiten der Dinge im Allgemeinen eine durchgehends längere Dauer zukommt als den blossen Wesenszuständen, so ereignen sich im allgemeinen Haushalte der Natur auch die Fälle seltener, in welchen das Wasser zu Eis oder zu Dampf wird, als die Änderungen in den besonderen Wesenszuständen der Dinge, die der Natur der Sache nach fast in jedem Augenblick irgend einem Wechsel unterliegen. Eine jede Flüssigkeitsinasse gebraucht zum Gefrieren wie zum Verdunsten, je nach ihrem Umfang und ihrer besonderen Wesensart, eine gewisse Zeit, bis die ganze Masse völlig gefroren oder verdunstet ist. Es hat dies seinen natürlichen Grund darin, dass es stets nur die an der äussersten Oberfläche befindlichen und also hier den Wärme- oder Kälteeinflüssen von aussen am meisten ausgesetzten Theilchen sind, an und in welchen der Ubergang von flüssig in fest oder luftförmig zuerst vor sich geht; erst wenn dies geschehen,

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kommen auch die nachfolgendeil an die Reihe nnd so fort, bis die ganze Masse gefroren oder verdunstet ist. Ein anderes muss aber der Fall seyn in Bezug auf die e i n z e l n e n T h e i l c h e n , aus denen die Masse besteht. Ist in einem solchen Theilchen überhaupt einmal durch Einwirkung von aussen soviel bis dahin wirksame Wärmekraft gebunden oder bis dahin gebunden gewesene entbunden worden, dass überhaupt der Ubergang aus der einen Wesensbeschaffenheit in die andere naturgemäss ermöglicht ist: so muss auch a l l s o g l e i c h u n d in d e m s e l b e n A u g e n b l i c k , in welchem solches stattgefunden, die Veränderung der bisherigen flüssigen Wesensbeschaffenheit der betreffenden Einzeldinge in die feste oder luftförmige Gestalt statthaben. Es beruht dies auf dem schon früher erwähnten Satz, dass in allen den Fällen, wo Ursache und Wirkung innerhalb ein und desselben Körpertheilchens stattfinden und also auch keinen äusseren Widerstand in Bezug auf die die Ursache mit ihrer Wirkung vermittelnde Kraftwirksamkeit zu überwinden haben, stets Ursache und Wirkung in Eins, d. h. in einen und denselben Augenblick zusammenfallen müssen. Alle derartigen Veränderungen in Bezug auf die inneren wie äusseren W e s e n s b e s c h a f f e n h e i t e n der Dinge müssen daher, sobald es sich um die einzelnen stofflich - körperlichen Grundbestandteile handelt, p l ö t z l i c h und sozusagen wie mit E i n e m Z a u b e r s c h l a g vor sich gehen. Ein ganz anderes Verhältniss muss aber stattfinden in Bezug auf den Wechsel oder die Änderungen in den inneren wie äusseren W e s e n s z u s t ä n d e n solcher Einzeldinge. Wie hier einem jeden einzelnen Wärmegrad auch allewege ein ihm genau entsprechender innerer wie äusserer Wärmezustand entspricht, so müssen in derselben Weise, wie die äusseren Wärmeeinwirkungen nicht in Sprüngen, sondern je nach Umständen nur ganz stetig und allmählich zu- oder abnehmen, nothwendig auch die damit zusammenhängenden Änderungen in den betreffenden Wesenszuständen völlig gleichen Schritt

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Di« natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

halten. Oder mit anderen Worten: Die Änderungen in Bezug auf die einzelnen Wesenszustände der Dinge können nur als mit j e d e m A u g e n b l i c k sich ä n d e r n d e und b e s t ä n d i g w e c h s e l n d e sich darstellen, gleichviel ob der Wechsel als eine Steigerung oder Minderung in Bezug auf die thatsächliche Wirksamkeit der betreffenden Kräfte zu betrachten ist. Auch hierin bewährt sich für unseren gegenwärtigen Standpunkt der Vorrang, welchen die Wesensbeschaffenheit in Bezug auf längeres Beharren in den einmal gegebenen inneren Wesensverhältnissen vor den blossen Wesenszuständen voraus hat. Und eben in dieser Hinsicht, in welcher wir dem Begriff der „Wesensbeschaffenheit" einen nicht zu übersehenden Vorrang gegenüber dem Begriff des „Wesenszustandes" zuerkennen müssen, wird nun auch der Begriff der Wesensbeschaffenheit weit überragt von dem der „ W e s e n s e n t w i c k e lung". Denn die Wesensentwickelung umfasst die ganze zeitliche Dauer, welche einem Naturdaseyn überhaupt nur irgendwie zukommen kann; sie schliesst daher nicht etwa bloss alle nur irgend möglichen, im Laufe der Zeit an den Tag tretenden Wesenszustände in sich ein, sondern ebenso auch alle die verschiedenen Wesensbeschaffenheiten, in welchen die Dinge im allgemeinen Naturlauf sich darzustellen im Stande sind. „Entwickeln" — sagt W e i g a n d — „bedeutet eigentlich » a u s e i n a n d e r w i c k e l n « . Daher figürlich: etwas in seinen einzelnen Theilen, so wie diese auseinander hervorgehen, nach einander zur Kenntniss oder auch zur Anschauung bringen, sodass zugleich der innere Zusammenhang des Dinges vor unserem Geiste steht. Man entwickelt z. B. einen Begriff, wenn man seine einzelnen Theile, wie sie aus einander hervorgehen, vor den Geist treten lässt" (WEIGAND: Syn. I. S. 355). In ähnlichem Sinn sagt S u a b e d i s s e n : „ I n j i n n e r e r Verbindung würden die Daseyns- (oder Wesens-)zustände eines Dinges stehen, sowohl

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wenn der vorhergehende Zustand die unmittelbare Ursache des folgenden wäre (wie z. B. bei der an sich rein innerlichen Daseyn und Wesen bildenden Kraftwirksamkeit der stofflichkörperlichen Einzeldinge), als auch wenn die einander folgenden Zustände der E n t w i c k e l u n g s f o r t g a n g eines und desselben Wesens wären. Die zweite Annahme fällt zusammen mit dem Begriff der S e y n s - (oder D a s e y n s - ) e n t w i c k e l u n g : denn Entwickelung ist das fortgehende Vortreten des Innern ins Daseyn. Sie nimmt aber die erste Annahme in sich auf. Denn das Wesen des Dinges geht nicht für sich, d. i. in Geschiedenheit von seiner gewonnenen Daseynswirklichkeit, also nicht in Geschiedenheit von Zuständen, in seiner Entwickelung fort, sondern in und mit seiner Daseynswirklichkeit. Alle einander folgenden Zustände eines Dinges, . wiefern sie innerlich gebunden gedacht werden müssen, haben also ihren gemeinsamen Grund in dem T r i e b des Dinges, dessen Zustände sie sind, als dem innersten Grund- und Ausgangspunkt (als dem Princip) seiner Entwickelung. Sie stehen also auch selbst mit einander in nothwendiger Verknüpfung, einer in den anderen übergehend, aber von i n n e n h e r " (SUABEDISSEN : Methaphys. S. 30. 31). Der ununterbrochen fortlaufende Gang einer jeden natürlichen Wesensentwickelung umfasst somit die ganze Daseynsdauer eines jeden Naturwesens, gleichviel welchem besonderen Wesensgebiet es auch angehören möge. Sein ganzer Wesensinhalt sammt allen darin nach dem Urund Grundbegriff seiner Wesensart mit eingeschlossenen Fähigkeiten, Vermögen und Anlagen muss — zufällige äusserliche Hemmnisse vorbehalten — in dem natürlichen Verlaufe des einheitlichen Entwickelungsganges genau d i e s e l b e R e i h e n f o l g e von i n n e r l i c h - ä u s s e r l i c h e n E n t w i c k l u n g s s t u f e n e i n h a l t e n , wie solche vorausbestimmend auch bereits in eben jenem einheitlichen geistigen Wesensgrundgedanken mit enthalten oder gleichsam eingewickelt liegen. Denn eben dieser Wesensgrundgedanke würde seinem eigenen Begriff widerWandersmann, II.

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sprechen, wenn er nicht gleichzeitig auch als vollständiger, die ganze Daseynsdauer umfassender E n t w i c k e l u n g s p l a n aufzufassen seyn würde. Aber hieraus geht denn auch weiter hervor, dass selbst alle jene besonderen W e s e n s Steiger u n g e n , zu denen die natürlichen Dinge in Folge eben jenes ihnen zu Grunde liegenden Wesensgrundbegriffes naturgemäss von Anfang an innerlich befähigt seyn mögen, ebenfalls in jenem geistigen Entwickelungsplan schon von Uranfang an mit eingeschlossen liegen müssen und demzufolge auch in derselben Stufenreihe, sobald der richtige Augenblick im allgemeinen Weltverkehr dazu gekommen ist, ihre thatsächliche Verwirklichung finden werden. In diesem Sinn ist es daher auch aufzufassen, wenn L e i b n i t z sagt, dass „die Formen (oder die äusseren Erscheinungsweisen) aus der Kraft der stofflichen Dinge (der Materie) hervorgehen, nicht aber in der Weise, dass sie etwas Neues hervorbringen, sondern nur dass sie das A l t e (d. h. irgend eine in den stofflichen Dingen bereits vorhandene Kraft oder Anlage zu höheren Bethätigungsweisen) e m p o r h e b e n (sed tantum vetus tollendo)" (LEIBNITZ [ed. EBDMANN] S. 5 0 ) . Die wahre und eigentliche Bedeutung dieses Naturverhältnisses vermögen wir uns am besten dadurch geistig zu veranschaulichen, wenn wir ein und denselben körperlichen • Stoif ins Auge fassen, so lange er noch dem Gebiete der ungestalteten Natur angehört, und ihn sodann mit dem vergleichen, wie er vor unseren Augen dasteht, nachdem im allgemeinen Naturverlauf nunmehr auch die höhere Gestaltungskraft des untersten der drei wirklich gestalteten Naturreiche innerlich erwacht und zu naturwüchsiger Bethätigung gelangt ist. Denn das Quarzreich ist unter den drei gestalteten Naturreichen gerade dasjenige, welches in Folge seiner noch einfachsten, weil nach den noch einfachsten Gestaltungsgesetzen hervorgehenden Körpergestaltungen am nächsten an die noch ungestaltete Natur sich anschliesst. Dort nur kugelige oder kugelähnliche Gestaltungen oder un-

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regelmässige, durch bloss äusserliche Zufälligkeiten bewirkte Massenbildungen, hier aber regelmässige, nach höheren, bis dahin noch völlig unbekannten Gestaltungsgesetzen von innen heraus regelrecht gebildete und von ganz bestimmten Flächen-, Winkel- und Kantenverhältnissen umschlossene Gestaltungen, wie solche in der noch ungestalteten Natur vergebens gesucht werden. Und eben dieses rein innerliche Erwachen von bis dahin nur als höhere Bildungs- oder Gestaltungsvermögen vorhandenen Kraftanlagen, zu eigener Bethätigung im Innern wie nach aussen, dürfte daher auch so recht eigentlich als das von uns betrachtet werden, was L E I B N I T Z in jenem Ausspruch als ein E m p o r h e b e n von bis dahin nur als Anlage vorhandenen Kräften zu neuen und höheren Wirkungsweisen geistig mochte vorgeschwebt haben.

No. 109.

Entstehen.

Bestehen.

Vergehen.

Verwandt mit dem Begriff des W e r d e n s , aber doch von ihm verschieden, ist der Begriff des E n t s t e h e n s . Beide haben das gemeinschaftlich, dass sie ein H e r v o r g e h e n oder H e r v o r t r e t e n einer anderen Daseynsweise aus der bisherigen anzeigen. Bei dem W e r d e n bleibt jedoch das betreffende Daseyn seinem Wesen nach dasselbe, nur in Bezug auf gegebene Wesenszustände oder auf die bisherige Wesensbeschaffenheit findet ein Wechsel statt. Anders ist dies jedoch in Bezug auf den Begriff des E n t s t e h e n s . Wenn 1 Theilchen Sauerstoff sich stofflich mit 2 Theilchen Wasserstoff verbindet oder sich vielmehr wesenhaft mit demselben vereinigt, so geht aus dieser Vereinigung bekanntlich Wasser hervor; oder mit anderen Worten: es e n t s t e h t Wasser. Denn das Wasser stellt einen von Sauerstoff als solchem wie von Wasserstoff als solchem völlig verschiedenen Stoff dar mit gänzlich verschiedenen Eigenschaften und Wesensbeschaffenheiten. Wasser lässt sich durch Kälte in einen festen, durch ll*

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Hitze in einen luftförmigen Körper verwandeln; aber weder bei Sauerstoff noch bei Wasserstoff ist solches möglich, denn beide Stoffe lassen sich weder durch die höchsten Kältegrade noch durch den grössten Druck so weit verdichten, dass sie jemals in die tropf barflüssige oder gar in die feste Beschaffenheit übergingen. Das Wasser stellt somit gegenüber dem Sauerstoff wie dem Wasserstoff einen völlig a n d e r e n , d. i. einen wirklich n e u e n Stoff oder stofflichen Körper dar, und dieser neue Stoff ist in dem Augenblick entstanden, in welchem sich die beiden Theilchen Wasserstoff mit dem Theilchen Sauerstoff zu einem Theilchen Wasser vereinigt haben. Der natürliche Gegenpol des E n t s t e h e n s ist das Verg e h e n ; die verbindende Mitte zwischen beiden bildet der Begriff des B e s t e h e n s , als der zeitlichen Dauer zwischen Entstehen und Vergehen. A r i s t o t e l e s sagt, dass „alles Entstehende aus etwas entstehe, das ihm zu Grunde liegt" (ABISTOTELES: Himmelsgeb. S. 27). Das dem Wasser als solchem zu Grunde Liegende ist somit gebildet oder entstanden aus der innigen Verbindung oder Vereinigung des betreffenden einen Sauerstofftheilchens und der betreffenden beiden Wasserstofftheilchen. Mit anderen Worten: wie vorher das natürliche Wesen des Sauerstofftheilchens als das ihm und seinem Daseyn zu Grunde Liegende muss betrachtet werden, und wie ein Ahnliches oder Gleiches auch in Bezug auf die beiden Wasserstofftheilchen der Fall ist: ganz ebenso stellen nunmehr die zu einem neuen Wassertheilchen zusammengetretenen Sauer- und Wasserstofftheilchen in eben dieser ihrer innersten Wesensvereinigung das dem Wasser als solchem und seinem gesammten Daseyn stofflich zu Grunde Liegende dar. Wird nun aber im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge eben diese neue, wasserbildende Wesensvereinigung wieder aufgehoben, indem Wasserstoff und Sauerstoff in Folge veränderter äusserer Umstände und Verhältnisse oder der dadurch bedingten veränderten Krafteinwirkungen von aussen

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aus ihrer seitherigen Vereinigung wieder auszutreten genöthigt, so kann damit nothwendig auch das Wasser, seiner natürlichen inneren Wesensgrundlage beraubt, nicht länger als solches fortbestehen. Das Wasser ist in dem Augenblick „ v e r g a n g e n " , in welchem seine eigene stoffliche Wesensgrundlage sich wieder in ihre beiden besonderen Grundlagen aufgelöst hat und als wirklicher Sauerstoff und wirklicher Wasserstoff wieder stofflich-wesenhaft nach ihren eigenen besonderen Naturen auseinander getreten sind. Aber wenn nunmehr das vorherige Wasser auch scheinbar v e r s c h w u n d e n und als solches v e r g a n g e n ist: so hat der Gesammthaushalt der Natur doch keine Einbusse dadurch erlitten. Aus ihm ist nichts verschwunden, denn in ihm ist nichts aus dem Daseyn derart herausgetreten, dass auch nur ein allergeringstes zu ihm gehöriges wesenhaftes Etwas einem wahren und wirklichen, d. h. w e s e n l o s e n N i c h t s e y n hätte anheimfallen können. An die Stelle des vorigen Einen Wassertheilchens sind wieder genau 1 Theilchen Sauerstoff und 2 Theilchen Wasserstoff getreten. bezieht diese Begriffe des „Entstehens" und des „Vergehens" auch geradezu auf die freilich in gewisser Beziehung sehr verwandten Verhältnisse der blossen Beschaffenheitsveränderungen, indem er sagt: „Wie z. B. aus dem Wasser Luft und aus Luft Wasser e n t s t e h t , so ist eben das Derartige ein E n t s t e h e n des E i n e n und ein V e r g e h e n des A n d e r e n " (AKISTOTELES : Entstehen u. Vergehen. S. 377; Himmelsgeb. S. 447). In einem erweiterten Sinn ist auch diese Anwendung der Begriffe von Entstehen und Vergehen nicht ohne Berechtigung, daher wir auch im gewöhnlichen Leben gar nicht selten sagen, dass z. B. Eis und Wasserdampf aus Wasser entstehen. Doch dürfte immerhin für alle derartigen blossen Beschaffenheitsveränderungen die Bezeichnung „ V e r ä n d e r u n g " als die den gegebenen Verhältnissen entsprechende zu betrachten seyn; wogegen für wirklich Aristoteles

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s t o f f l i c h e N e u b i l d u n g e n der Begriff des „ E n t s t e h e n s " als der geeignetere sich darstellt. Denn der wahre und eigentliche Begriff des E n t s t e h e n s „von E t w a s a u s einem A n d e r e n " , sowie umgekehrt des V e r g e h e n s „von E t w a s in A n d e r e s " verlangt eben doch stets eine durchgehende, thatsächliche W e s e n s u m w a n d l u n g , dadurch etwas dem Wesen nach ganz Neues an die Stelle von Bisherigem getreten ist. Wie daher der Begriff des W e r d e n s einen Allgemeinbegriff darstellt, der alle Zustandswechsel, alle Beschaffenheitsveränderungen und alle Wesensentwickelungen in sich einschliesst: so gilt gewissermassen auch der Begriff des E n t s t e h e n s als ein ähnlicher Allgemeinbegriff, den man ohne Bedenken, namentlich im gewöhnlichen Leben, auch auf andere, mehr oder weniger verwandte Fälle überträgt. So sagen wir z. B. auch häufig, dass die Wirkung aus ihrer Ursache entstehe; obgleich für dies Verhältniss der Begriff des „ H e r v o r g e h e n s " die entsprechendere Ausdrucksweise seyn dürfte. So hätten wir demnach die dreifache Begriffsreihe von Entstehen, Bestehen und Vergehen, und von Entstehen, Werden und Hervorgehen, welche der Begriffsreihe von Ursache, Wirksamkeit und Wirkung, von Grund, Wesen und Erscheinung, von Innerstem, Innerem und Äusserem und von Anfang, Mitte und Ende auf das engste sich anschliessen. Es könnte vielleicht wundern, dass hier der Begriff des „Vergehens" sich gewissermassen in eine Linie mit dem des „Hervorgehens" gestellt findet. Allein das Befremdende hiervon wird verschwinden, wenn wir bedenken, dass hier der Begriff des Vergehens keineswegs den Sinn und die Bedeutung besitzt, als ob die betreffenden Dinge damit völlig aus dem wesenhaften Daseyn ausscheiden und also in ihrem Inneren

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gleichsam in einem bodenlosen Nichtseyn aufgingen. Der wirkliche Sinn kann vielmehr der Natur der Sache nach nur der seyn, dass in dem Augenblick, wo jene zeitweise Vereinigung von Sauerstoff und Wasserstoff in Folge veränderter äusserer Umstände und Verhältnisse sich wieder auflöst, auch sofort das aus jener Verbindung hervorgegangene Wasser als solches aufgehört hat zu bestehen und also als etwas an sich .(Vergangenes" zu betrachten ist, an dessen Stelle dafür nunmehr die Sauerstoff- und Wasserstofftheilchen als solche wiederum getreten sind. So entspricht auch der Begriff des „Hervorgehens" in der zweiten Reihe nur dem e n d g ü l t i g e n A b s c h l u s s jenes an sich noch rein innerlichen Wechselverhältnisses zwischen Ursache, Wirksamkeit und Wirkung, wie dasselbe in der äusserlich-oberflächlichen E r s c h e i n u n g s w e i s e der Dinge zu Tage tritt. Denn wie der Begriff innerer Kraftwirksamkeit an sich nichts anderes darstellt als das durch sie ins Daseyn gestellte i n n e r e Wesen der Dinge: ganz ebenso gilt das Gleiche von dem Begriff des W e r d e n s , sofern auch dieser in erster Linie auf die durch äussere Einwirkungen bewirkten Änderungen in dem besonderen inneren Wesenszustande der Dinge sich bezieht. Aus dem Wesen als solchem geht aber die äusserlich- körperliche Erscheinung der Dinge h e r v o r , ganz ebenso wie wir ja auch sagen, dass die Augenscheinlich Wirkung aus ihrer Ursache h e r v o r g e h e . ergibt sich hieraus, dass in allen diesen Begriffsreihen den letzten Schlussbegriffen von Vergehen, Hervorbringen, Wirkung, Erscheinung, Äusserem und Ende im Grunde keine andere Bedeutung zukommen kann als diejenige eines natürlichen l e t z t e n Abschlusses für eine jede der betreffenden Reihen, eines Abschlusses jedoch, in welchem im allgemeinen Naturzusammenhang auch wieder der erste Anfang zu irgend einem neuen Wechselverhältniss verwandter Art wie keimartig mit enthalten und eingeschlossen liegt. Im Vorigen haben wir gesehen, dass ein jeder Übergang

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aus der festen Wesensbeschaffenheit in die flüssige und aus dieser in die luftförmige, und ebenso umgekehrt, nur allein für wirklich körperliche M a s s e n als den Gesetzen der Zeitfolge unterworfen kann betrachtet werden; für die einzelnen Körpertheilchen als solche dagegen nur als a u g e n b l i c k l i c h , p l ö t z l i c h und mit E i n e m S c h l a g vor sich gehend. Das Gleiche muss festgehalten werden für den Begriff des E n t s t e h e n s als ersten A n f a n g s eines völlig neuen und vorher in dieser Weise noch nicht bestandenen inneren Wesensverhältnisses. Denn ein a l l m ä h l i c h e r A n f a n g wäre ein Widerspruch in sich selbst. Die Erfahrung lehrt, dass erkaltendes Wasser bis zu + 4 ° C. Wärme sich beständig mehr und mehr zusammenzieht; von da an bis zum Nullpunkt dehnt es sich dagegen wieder aus, ungeachtet die Erkaltung als solche fortwährend bis zu 0 ° zunehmen muss, wenn ein wirklicher Ubergang in den festen Eiszustand statthaben soll. Ist dieser Punkt aber erreicht: dann gehen die auf der Oberfläche des Wassers befindlichen Wassertheilchen, soweit sie in ihrem Inneren auf den Gefrierpunkt gelangt sind, auch augenblicklich in die feste Wesensbeschaffenheit über. Jene auffallende Ausdehnung des Wassers von + 4 ° bis zu 0° kann nur in einer für unsere sinnliche Wahrnehmung unbemerkbaren Umlagerung der einzelnen Theilchen unter sich ihren Grund haben, und in sofern kann daher auch die hierüber vergehende Zeit als eine thatsächliche Zeit allmählicher Vorbereitung für das Festwerden selbst von uns betrachtet werden. Allein das Festwerden als solches bleibt hiervon unberührt; sobald der richtige Zeitpunkt und die richtigen äusseren wie inneren Verhältnisse dafür eingetreten sind, muss auch die Umwandlung aus den bereits im Vorigen angegebenen Gründen mit Einem Schlag stattfinden. Von einem allmählichen Festwerden kann nicht die Rede seyn, ausser wenn wir eine ganze Masse in das Auge fassen und nicht ausschliesslich nur die einzelnen Grundbestandtheile, aus

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denen sie besteht. „Das Eis" — sagt F r i e d l e b e n — „braucht 79° Wärme, um in den flüssigen Zustand überzugehen, oder von einer gleich grossen Menge Wassers werden beim Gefrieren 79° Wärme entwickelt. Deshalb steigt ein Wärmemesser (Thermometer), wenn man ihn in u n t e r 0° erkaltetes Wasser getaucht hat und dieses durch Umrühren nun p l ö t z l i c h zu Eis erstarrt" (FEIEDLEBEN: Experimentalphys. S. 48). Äussere Verhältnisse im Verkehr mit der übrigen Natur müssen den richtigen Z e i t p u n k t für eine solche Veränderung allerdings erst allmählich herbeiführen, und bevor dies geschehen ist, kann die betreffende Veränderung nicht eintreten. Ist er aber g e k o m m e n , ist er wirklich da: dann kann von einem weiteren „allmählich" in Bezug auf die Veränderung selbst k e i n e Rede mehr seyn. Denn wie dem örtlich - raumlosen Punkt durchaus keine auch noch so geringe räumliche Ausdehnung kann zuerkannt werden: ganz e b e n s o w e n i g dem blossen Z e i t p u n k t irgendwelche wenn auch noch so geringe zeitliche D a u e r . Wo aber alle zeitliche Dauer vollständig fehlt, da kann vernünftiger Weise an irgendwelche Art von a l l m ä h l i c h e m G e s c h e h e n auch nicht im allerentferntesten gedacht werden. Soll daher innerhalb eines blossen Zeitpunktes irgend etwas wirklich vor sich gehen oder geschehen: so kann dieses einzig und allein nur in dem Sinn und in der Weise der Fall seyn, dass d i e s e s Ge s c h e h e n s e l b s t mit dem z e i t l o s e n Z e i t p u n k t in E i n s z u s a m m e n f ä l l t , d. h. mit anderen Worten, dass es nicht allmählich, sondern ebenfalls in völlig z e i t l o s e r Weise, also so zu sagen mit einem j ä h e n A b s a t z p l ö t z l i c h , oder, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, „in Einem Augenblick" oder „mit Einem Schlage" statt hat. Beziehen wir dies nunmehr aber im Besonderen auch auf den Begriff des E n t s t e h e n s , mit dem wir uns soeben beschäftigen, so bezeichnet derselbe im Grunde ebenfalls einzig und allein nur den A n f a n g des B e s t e h e n s , wie umgekehrt auch das V e r g e h e n nur allein

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das E n d e desselben anzeigt. Auch hier herrscht also in zeitlicher Beziehung ganz das Gleiche wie in räumlicher Beziehung. Denn die beiden Anfangs- und Endpunkte einer Linie bezeichnen ja, als an sich völlig raumlos, ebenfalls nur den räumlichen Anfang und das räumliche Ende der betreifenden Linie. So wenig also Punkte, sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Beziehung, sich jemals unter wechselseitiger Berührung aneinanderreihen lassen: ebenso vernunftwidrig würde es seyn, von einem a l l m ä h l i c h e n E n t s t e h e n oder von einem a l l m ä h l i c h e n A n f a n g sprechen zu wollen. Sehen wir diese beiden Begriffe mit dem des „Allmählichen" irgendwie in Verbindung gebracht, so dürfen wir im Voraus überzeugt seyn, dass eben dieser Begriff des Allmählichen sich nur allein entweder auf ein dem wirklichen Entstehen oder dem wirklichen Anfang v o r a n g e h e n d e s u n d v o r b e r e i t e n d e s G e s c h e h e n , oder auf einen damit beginnenden und also erst n a c h f o l g e n d e n w e i t e r e n V e r l a u f des neu eingeleiteten Verhältnisses sich beziehen oder überhaupt eine wirkliche Gültigkeit haben kann. Vergleichen wir eben diese Thatsachen, wie solche die Verhältnisse der ungestalteten Natur uns bieten', mit solchen, welchen wir innerhalb des Bereiches des eigentlichen natürlichen Seelenlebens begegnen, so finden wir auch hier Erscheinungen, welche sich sehr nahe anschliessen an jene drei verschiedenen Wesensbeschaffenheiten der festen, flüssigen und luftförmigen Daseynsweise, zu welchen die meisten stofflichkörperlichen Dinge sich befähigt zeigen. Wir erinnern nur an die Raupen-, Puppen- und Schmetterlingszeit einer grossen Klasse von Insekten. Wüssten wir nicht von Kindheit an aus eigener Erfahrung und Beobachtung, dass ein und dasselbe Insekt es ist, welches als Raupe sich selber wie in ein Gefängniss einpuppt, um hier ganz heimlich und unbemerkt von der Aussenwelt in ein in allen einzelnen Beziehungen so völlig verschiedenes Naturwesen sich umzuwandeln, als welches

Der allgemeine Weekselverkehr aller Dinge etc.

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der Schmetterling im Vergleich zu dessen ursprünglicher Beschaffenheit als Raupe sich darstellt: wir würden auf den bloss oberflächlichen Anblick hin schwerlich beide für wesenhaft ein und dasselbe Naturwesen zu halten geneigt seyn. Es ist dies also innerhalb des Bereiches des thierischen Seelenlebens ein ganz ähnliches Verhältniss wie zwischen dem festen Eis, dem flüssigen Wasser und dem luftförmigen Wasserdampf. Wüssten wir nicht auch hier aus altgewohnter Erfahrung, dass diese drei von einander auf den ersten Anblick ebenfalls so sehr verschiedenen Erscheinungsweisen nichtsdestoweniger nur natürliche Beschaffenheitsveränderungen eines und desselben Naturstoffes darstellen: wir würden bei bloss oberflächlicher Betrachtung uns ebenso davon überzeugt halten, es seyen hier drei ebenfalls ganz verschiedene körperliche Grundstoffe, mit denen wir es zu thun haben. Doch findet zwischen beiden Fällen auch ein nicht zu übersehender Unterschied statt, welcher in der höheren W e s e n s e n t w i c k e l u n g seinen Grund hat, zu welcher im allgemeinen Naturverlauf und Naturzusammenhang einzelne, uranfänglich bloss in stofflich-körperlicher Weise wirksame Wesensgrundkräfte Gelegenheit gefunden haben, nunmehr in ihrem innersten Wesensgrund auch zu eben den höheren natürlichen Lebensbethätigungen sich zu erheben, wie solche erfahrungsgemäss ausschliesslich nur dem eigentlichen Seelenleben in der engeren Bedeutung des Wortes zukommen. Daher haben wir auch hier nicht mehr bloss mit natürlichen Veränderungen aus einer Wesensbeschaffenheit in eine andere zu thun: wir haben es hier im Gegentheil mit einer, mit dem ganzen natürlichen E n t w i c k e l u n g s g a n g der betreffenden Naturwesen im innigsten Zusammenhang stehenden und auf den ersten Anblick wenigstens scheinbar völligen W e s e n s u m w a n d l u n g zu thun, in deren Folge alle bisherigen Körper- und Daseynsverhältnisse zu ganz neuen und völlig anderen sich umgestaltet zeigen" (WEIGAND: Syn. I. S. 233; III. S. 923). Dass aber

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhiiltnissen.

trotz dieses auffallenden Vorganges dennoch die eigentliche Natur und das eigentliche innerliche Wesen des betreffenden Insektes von diesen Veränderungen ebenso völlig unberührt geblieben ist, wie die des Wassers in seinem Übergang in Eis oder Wasserdampf, das geht augenscheinlich daraus hervor, dass aus den Eiern des Schmetterlings wieder ganz dieselbe Raupenart hervorgeht, wie die frühere, und dass diese dann auch allewege wieder in ganz dieselbe Schmetterlingsart sich umwandelt, zu welcher eben der Schmetterling gehört, von welchem die Eier der neuen Raupen abstammten. Sind die Schmetterlingseier aber gelegt, so ist die Entwickelung des gesammten Insektes von seinem Eizustande an bis zu seinem Schmetterlingszustand nunmehr auch vollständig durchlaufen: die Zeit für das natürliche Bestehen des betreffenden Insektes ist a b g e l a u f e n , und damit ist zugleich auch dessen natürliche innere Lebenskraft als solche, sowie die darin mitbegründete innere Lebensdauer desselben nach ihrer bisherigen Bethätigungsweise e r s c h ö p f t ; sie ist zu E n d e , ist ein nunmehr „ V e r g a n g e n e s " . Also auch in diesen höheren Daseynsverhältnissen bezeichnet der Begriff des Vergehens nur den natürlichen Abschluss in Bezug auf die vergangenen einheitlichen Entwickelungsverhältnisse der betreffenden Einzelwesen. Welches dann aber wohl weiter noch das persönliche Schicksal der betreffenden Thierseele seyn mag, dies ist ein uns von der Natur selbst verborgen gehaltenes Geheimniss. Doch haben wir damit noch durchaus keinen Grund dafür, dieselbe nunmehr etwa als völlig herausgetreten aus allen natürlichen Daseynsverhältnissen, noch als völliger Vernichtung anheim gefallen, zu betrachten. Immerhin ersehen wir aus allen diesen hier vorgeführten Beispielen, dass jene drei natürlichen Begriffe von E n t s t e h e n , B e s t e h e n und V e r g e h e n , oder — wenn wir wollen — auch von Entstehen, Bestehen und V e r s t e h e n , sobald wir sie nur in ihrem richtigen Sinn und ihrer richtigen Bedeutung für die einzelnen Fälle in das

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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Auge fassen, durchweg vollkommene Berechtigung für das allgemeine Naturleben behalten. Denn nur durch das „Verg e h e n " , d. h. durch den völligen und gültigen A b s c h l u s s eines gegebenen Naturverhältnisses können wir im Grunde auch ein richtiges V e r s t ä n d n i s s oder ein wirkliches und eigentliches „ V e r s t e h e n " desselben natur- und vernunftgemäss erwarten. Denn erst damit ist auch ein einheitlicher Uberblick über den gesammten Verlauf eben des Entwickelungsganges gewonnen, welchen das betreffende Verhältniss von seinem ersten Entstehen und Anfang an bis zu seinem letzten Abschluss und Ende gewonnen hat. W e i g a n d bestimmt den Begriff des „ E n t s t e h e n s " als ein „Hervorgehen aus etwas und somit anfangen zu seyn", indem er noch besonders darauf hinweist, dass mit dem Begriff der Sylbe „ent" zugleich der Begriff von „aus dem Innern heraus" verbunden sey, unterdess in dem Begriff von „stehen" namentlich das „stehen im Daseyn" hervorgehoben liege (WEIGAND: Syn. I. S. 362. 363). Darnach läge also der allgemeine Begriff des Entstehens in seiner allgemeinsten Beziehung in einem natürlichen Hervorgehen irgend eines neuen Verhältnisses aus einem bis dahin bereits bestandenen. J. H. F i c h t e stellt in Bezug hierauf die Frage auf, „wie überhaupt jenes allgemeine E n t s t e h e n und V e r s c h w i n d e n der Sinnendinge zu erklären sey? ob das scheinbar Entstandene in Wahrheit wie a u s dem N i c h t s e r s t e r s t a n d e n , und ebenso ob es, indem es scheinbar v e r g e h t , damit auch vern i c h t e t , in dies N i c h t s zurückgeschwunden sey? Mit anderen Worten: ob Entstehen und Vergehen w a h r e , w i r k l i c h e (reale) E r e i g n i s s e , oder selbst nur s c h e i n b a r e V o r g ä n g e seyen, welche das Wirkliche (Reale) in seinem eigentlichen Bestände nicht anzutasten vermögen?" (J. H. FICHTE: Seelenfortdauer. S. 79.)

Eben diese Frage, welche FICHTE hier aufwirft, hat bekanntlich schon seit den ältesten Zeiten das Denken des

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

menschlichen Geistes in Anspruch genommen. In dem grossen einheitlichen Naturganzen, wie solches uns von allen Seiten umgibt, kann an ein E n t s t e h e n oder H e r v o r g e h e n aus einem reinen und thatsächlichen, also an sich völlig wesenlosen N i c h t s selbstverständlich in keiner Weise gedacht werden. Denn dem Nichts als solchem kann nicht einmal nur die allergeringste Kraft zu irgend welchem eigenen Bestehen zuerkannt werden, geschweige denn eine K r a f t , um isgend welche, das innere oder äussere Wesen der Dinge betreifende Veränderung oder gar ein, wenn auch noch so geringes wesenhaftes Daseyn als solches aus sich hervorgehen zu lassen. Die Ansicht also, als ob innerhalb der bestehenden Natur als solcher irgendwelche Möglichkeit vorhanden seyn könne, dass jemals aus einem an sich ungreif- und unfassbaren N i c h t s irgend ein handgreifliches E t w a s solle hervorgehen oder entstehen können, muss allewege als ein Irrthum oder ein Fehlschluss betrachtet werden. Der allbekannte Satz, den wir schon den alten griechischen Denkern verdanken, dass „aus N i c h t s auch n i c h t s werden" könne, hat demnach auch für diesen Fall seine vollgültige Berechtigung. Was aber in so bestimmter Weise für den Begriff des Entstehens innerhalb dieser unserer natürlichen Weltordnung seine volle Geltung haben muss: das muss dieselbe auch ebenso behaupten, wenn es sich umgekehrt um den Begriff des Vergehens handelt. Mit anderen Worten: wenn aus dem thatsächlichen wesenlosen Nichts kein wesenhaftes Verhältniss oder Daseyn, von welcher Art und Beschaffenheit wir uns dasselbe auch denken mögen, entstehen kann: so kann innerhalb unseres gemeinschaftlichen Weltganzen auch unmöglich selbst das geringste Naturdaseyn, das überhaupt einmal darin vorhanden ist, jemals zu einem völlig wesenlosen Nichts zusammenschrumpfen oder in einem solchen jemals untergehen. Schon die alten griechischen Denker und Weltweisen haben sich der Richtigkeit dieser Anschauung nicht ver-

Der allgemeine Wecliselverkelir aller Dinge etc.

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schliessen können. Aristoteles sagt in dieser Beziehung: „Die meisten der frühesten Philosophen sagten, dass dasjenige, woraus alles Seyende (oder Daseyende) ist, das Erste, w o r a u s es e n t s t e h t , und das Letzte, worin es beim Vergehen z u r ü c k k e h r t , d. h. dass dasjenige, was als Dauerndes im Wesen und Daseyn (als Substanz) v e r h a r r t und nur in seinen Wesenserregungen (Affectionen) sich ändert, — dass dieses die Grundlage und der erste Ausgang (das Grundelement und Princip) des Seyenden (oder Daseyenden) ist. Sie sind darum auch der Ansicht, dass n i c h t s schlechthin e n t s t e h t und n i c h t s schlechthin v e r g e h t , indem ein Naturwesen (eine Natursubstanz) der eben bezeichneten Art sich immer b l e i b e n d erhalte." Hierzu fragt ARISTOTELES nun weiter: „Wenn auch allerdings alles V e r g e h e n und E n t s t e h e n aus Etwas ist, sey dies nun ein einziger Grundstoff oder mehrere: warum findet es statt und was ist die U r s a c h e davon?" (ARISTOTELES: Metaphys. IV. S. 6. 7; Phys. S. 25.) Diese von ARISTOTELES sich selbst gestellte Frage beantwortet er durch den Hinweis auf die desfallsigen Anschauungen früherer Naturforscher. Bereits Empedokles hatte gelehrt, dass es kein W e r d e n oder wirkliches Entstehen der Dinge gebe, sondern dass alles nur aus M i s c h u n gen bereits vorhandener Grundstoffe oder aus W i e d e r - Z e r s e t z u n g oder Entmischung des so Gemischten hervorgehe (ARISTOTELES: Metaphys. S. 75 [EMPEDOKLES]). Und in dem gleichen Sinn hatte — nach TIEDEMANN -— auch A n a x a g o ras sich ausgesprochen: „Alles E n t s t e h e n und A u s b i l d e n " —• so lehrte er — „ist nichts denn Z u s a m m e n s e t z e n von gewissen Urstoffen und zwar in dem Maasse, dass gewisse derselben die Oberhand erlangen." Verwandlung im eigentlichen Sinn findet dabei nach TIEDEMANN nicht statt: das E n t s t e h e n ist V e r b i n d u n g , das Vergehen aber ist T r e n nen (TIEDEMANN: Geist d. spekul. Philos. I. S. 824 [ANAXAGORAS]). Ganz derselben Anschauungsweise begegnen wir

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B i o natürlichen D i n g e in ihren gegenseitigen Wecihselverhiiltnissen,

auch bei L u c r e t i u s C a r u s (LUCBETIUS CAEUS: Natur d. Dinge. S . 1 0 4 ) und ebenso bei P l o t i n (KIKCHNEK: P L O T I N S. 66). Alles V e r g e h e n ist nach diesem Letzteren die A u f l ö s u n g einer Z u s a m m e n s e t z u n g . Und bis auf die neueste Zeit hat diese Ansicht, nach welcher alles E n t s t e h e n nur auf M i s c h u n g e n , Z u s a m m e n s e t z u n g e n oder Z u s a m m e n s i c h t u n g e n (wie ARISTOTELES sich ausdrückt) von bereits vorhandenen einfachsten körperlichen Grundstoffen, alles V e r g e h e n dagegen auf W i e d e r a u f h ö r u n g , auf T r e n n u n g oder (nach ARISTOTELES) auf A u s e i n a n d e r s i c h t u n g ebensolcher Stoffmischungen oder Stoffzusammenlegungen sich gründe, sich bekanntlich erhalten, und zwar ebensowohl auf Seiten der Philosophie wie auf Seiten der Naturforschung, namentlich der allgemeinen Stofflehre (Chemie). So sagt z. B. J. H. Fichte: „Was man E n t s t e h e n und V e r g e h e n nennt, besteht (existirt) nur in der äusseren Erscheinungsweise (in phänomenaler Weise) als Wirkung wechselnder Verbindungen und Lösungen unter den einfachsten Urwesen (unter den Realwesen)" (J. H . F I C H T E : Seelenfortdauer. S. 2 9 5 ) . Und in gleichem Sinn sagt Huber: „Innerhalb des Weltverlaufes (des Weltprozesses) ist alles Eitstehen nur ein V e r b i n d e n von stofflich-körperlichen Einzeldingen (von Atomen) und alles Vergehen nur eine T r e n n u n g derselben." Aus allen diesen eben angeführten Darstellungsweisen geht augenscheinlich hervor, dass bei allen diesen stofflichen Mischungen und Zusammensetzungen, sowie bei deren Wiedertrennungen es sich ausschliesslich um nur rein äusserliche Neben- und Unter- oder Aneinanderlagerungen der betreffenden Einzeldinge handelt. Dass aber in Folge von eben solchen blossen Nebeneinanderlagerungen sich wirklich auch die inneren wie äusseren Wesensbeschaffenheiten und Erscheinungsweisen der Dinge sollten so verändern können, wie solches z. ß . beim Entstehen des Wassers aus Sauerstoff und Wasserstoff der Fall ist: dies ist eine Frage, die bekanntlich

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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von anderer Seite nicht ohne gute Gründe mit aller Entschiedenheit verneint wird, auf die wir aber von unserem gegenwärtigen Standpunkt aus noch nicht näher eingehen können und deren Beantwortung wir daher auf einen späteren und zugleich auch erweiterten Gedankengang verschieben müssen. Nur das Eine dürfen wir hier noch hinzufügen, dass in einer Natur, wie die unsrige, wo nur das L e b e n und nicht der Tod die Herrschaft führt, auch alles wesenhaft lebendig in sich B e s t e h e n d e thatsächlich untrennbar verbunden seyn muss mit einem thatsächlich-lebendigen G e s c h e h e n , und dass mit ganz derselben Berechtigung, mit welcher wir von einem natürlichen E n t s t e h e n , B e s t e h e n und V e r g e h e n sprechen dürfen, auch ganz das Gleiche der Fall seyn muss in Bezug auf Entstehen, G e s c h e h e n und Vergehen. Werden aber die beiden Anfangs- und Endglieder, nehmlich das Entstehen und Vergehen, für natürlich unmöglich erklärt, so müsste damit zugleich auch das Mittelglied in dem einen wie in dem anderen Sinn, d. h. ebensowohl als Bestehen wie als Geschehen, in sich selbst zerfallen. Oder mit anderen Worten: sie würden versinken in das wesenlose Nichts blosser Täuschung und natur- wie vernunftwidriger Einbildung. So aber hat im allgemeinen grossen Weltganzen ein jedes einzelne Naturwesen, auf welcher höheren oder niederen Daseynsstufe es sich auch befinden mag, nicht nur eine eigene D a s e y n s e n t w i c k e l u n g , sondern auch seine ihm ausschliesslich zukommende besondere L e b e n s g e s c h i c h t e , von der es in seinen äusseren Erscheinungsweisen uns Kunde gibt. N o . 110. Die allgemeine Stoff- und Körperwelt, die noch ungestaltete Natur, als der natürliche Urgrund und erste naturkräftige Ausgangspunkt auch für alles eigentliche Seelenund Geistesleben. Nach Meister E c k h a r t ist „Wesen" „die allgemeinste Bestimmung des Seyns" (BACH: Meister ECKHART. S. 66). Wandersmann. II.

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D ' e natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechsel Verhältnissen.

Wie das Wort „ D a s e y n " , so schliesst auch das Wort „ W e s e n " alles ohne A u s n a h m e in sich ein, was nur irgendwie in dieser Welt vorhanden ist, gleichviel welchem besonderen, niedrigeren oder höheren Naturgebiet etwas angehören mag. Während jedoch der Begriff des blossen Daseyns ein noch sehr a r m e r und sozusagen ganz i n h a l t s loser Begriff ist, indem er nur allein sagt, dass etwas wirklich da sey, ohne dabei auch nur im entferntesten davon Kunde zu geben, was dies Vorhandene auch zugleich seyn möge: zeigt sich uns der Begriff des W e s e n s als unverkennbar inhaltsreicher, denn gerade er ist es, welcher uns nicht bloss sagt, dass etwas in Wirklichkeit und Wahrheit da sey, sondern welcher ausserdem uns auch Aufschluss gerade über dasjenige gibt, was der blosse Begriff des Daseyns uns vergeblich in sich suchen lässt. Denn gerade er ist es, welcher schon seiner blossen Wortbildung nach die begriffliche Bestimmung in sich einschliesst, Aufschluss zu ertheilen über den eigentlichen W e s e n s i n h a l t der Dinge, oder mit anderen Worten, über dasjenige, was die Dinge sind und wodurch sie sich demgemäss auch von ihren übrigen Mitwesen unterscheiden oder nicht. Selbst darüber, ob dasjenige, was wirklich da ist, auch innerlich als l e b e n d oder an sich t o d t müsste zu betrachten seyn, lässt uns der Begriff des blossen Daseyns völlig im Dunkeln. In dem Begriff des Wesens dagegen als eines innerlichen „ W i r k e n s und W a l t e n s " , liegt — wie wir früher gesehen — auch bereits der Begriff des „ L e b e n s " von Anfang an mitenthalten und eingeschlossen. Was aber die Unterschiede betrifft, unter welchen die verschiedenen einzelnen Daseynsformen je nach ihren besonderen Wesensarten erfahrungsgemäss uns entgegentreten: so können diese ihren tieferen natürlichen Grund nur in einer Verschiedenheit in Bezug auf das natürliche K r a f t m a a s s finden, welches den einzelnen besonderen stofflichen Wesensarten von Uranfang an in dem natürlich-geistigen allgemeinen Grund-

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begriff ihres Wesens ein für allemal zugemessen seyn muss; da nur hierdurch die natürliche Unveränderlichkeit des Wesens als solche ihre natur- und vernunftgemässe Erklärung finden kann. Von je grösserem U m f a n g und G e h a l t eben dieses innerlich-einheitliche Kraftmaass sich darstellt: um so k r ä f t i g e r und um so f o l g e n r e i c h e r muss es auch in dem allgemeinen Wechselverkehr alles natürlichen Daseyns auf seine Umgebung einzuwirken im Stande seyn. Und je mehr Wesen von verhältnissmässig niedrigeren Wesensarten in den Fall kommen, Krafteinwirkungen auch von Wesen höherer Arten in sich aufzunehmen und innerlich in sich wirken zu lassen: um so mehr werden in eben diesen Letzteren auch K r a f t b e f ä h i g u n g e n , K r a f t v e r m ö g e n und K r a f t a n l a g e n , die bis dahin nur noch gebunden und unthätig in ihnen geschlummert hatten, zu e i g e n e r S e l b s t b e t h ä t i g u n g erweckt und erregt werden. Denn alle Kräfte der Natur mit Einschluss alles dessen, was von ihnen unter Umständen nur als Fähigkeiten, Vermögen oder Anlagen muss betrachtet werden, erweisen sich für das Auge des Geistes bei näherem Eingehen als an sich nur b e d i n g t e K r ä f t e , und zwar als bedingt nach zwei entgegengesetzten Seiten hin: einmal nehmlich als i n n e r l i c h b e d i n g t durch das endlich - beschränkte Maass ihrer natürlichen Wesensgrundkraft, über das kein Naturdaseyn hinauszugehen jemals im Stande seyn kann; und zum Andern von a u s s e n her durch die Gunst oder Ungunst äusserer Umstände und Verhältnisse, von welchen es stets abhängig bleibt, mit welchen höheren Arten von Naturwesen sie im Verlauf der Zeit in Berührung kommen mögen oder nicht. J e günstiger jene Verhältnisse sich gestalten, um so mehr werden, in Folge des innerlichen Wesensverkehres mit Einwirkungen höherer Art, in den niedriger stehenden Wesensarten auch immer höhere, immer edlere, immer inhaltsreichere und eben darum auch immer vergeistigtere Kräfte beginnen, zu eigener Kraftwirksamkeit und zu eigenen Kraftbethätigungen 12*

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

immer lebhafter sich zu regen. Es zeigt sich uns in diesen kurzen und gedrängten Umrissen somit der Weg, auf welchem es den einzelnen Dingen und Wesen dieser Welt, je nach ihren besonderen Wesensarten, durch die Natur selbst ermöglicht ist, von den noch untersten Daseyns- und Wesensstufen im Verlauf der allgemeinen Naturentwickelung zu immer höheren Lebensstufen sich zu erheben, und zwar nicht etwa bloss bis zu solchen des eigentlichen Seelenlebens, sondern selbst das Gebiet des natürlichen Geisteslebens nicht hiervon ausgeschlossen. Bestände das Wesen der Dinge allewege nur in reiner Kraftwirksamkeit oder in reinen Kraftbethätigungen, dergestalt, dass durchaus kein noch irgendwie gebundener Antheil ihres natürlichen Kraftmaasses als bis dahin noch unthätige blosse Fähigkeit, blosses Vermögen oder blosse Anlage in ihnen vorhanden wäre: so wäre — wie Schelling ausdrücklich hierauf hinweist — auch aller F o r t g a n g , alle W e s e n s e n t w i c k e lung und damit auch alle und jede innere W e s e n s Steiger u n g ein für allemal unmöglich. Denn ohne eine solche ganz bestimmte innerliche E r w e c k u n g s b e f ä h i g u n g bis dahin noch unwirksam oder unthätig gebliebener Kraftvermögen würde nicht im Entferntesten an irgend eine natürliche Möglichkeit auch nur der allergeringsten Veränderung in Bezug auf besondere Wesenszustände, geschweige denn in Bezug auf eigentliche, vom Niederen zu immer Höherem voranschreitende innere wie äussere Wesensentwickelungen zu denken seyn. Selbst jede noch allereinfachste Wesenserscheinung müsste hiervon ausgeschlossen seyn (SCHELLING: 2. Abth. I. S. 418). ,,Die Seele" — sagt Herbart — „ist ein e i n f a c h e s Wesen. Aber dieses E i n e r l e i (oder vielmehr diese innere Wesenseinfachheit), was die Seele ist" — fügt er an einem anderen Orte hinzu — „darf nicht mit dem Vielerlei vermengt und verwechselt werden, was sie k a n n " (HERBABT V. S. 108; VII. S. 361). Eben dieses Vielerlei dessen, was ein Natur-

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wesen naturgesetzmässig wohl k a n n , das aber trotzdem nicht allezeit auch in thatsächlicher Thätigkeit oder Wirksamkeit sich befinden m u s s : das sind eben jene besonderen Fähigkeiten, Vermögen und Anlagen, von denen wir soeben sprechen. So sagt auch K r a u s e : „Das Ich, als Mensch, findet sich zugleich als b l e i b e n d und zugleich auch als sich ä n d e r n d ; und zwar findet es sich bei diesem Übergehen s e l b s t als Grund seiner Änderung, d. h. als lebend, als Vermögen, als Thätigkeit und Kraft" (KBAUSE: Vöries, über d. Syst. d. Philos. S. 58). Was wir in beiden Aussprüchen, sowohl in Bezug auf Verhältnisse der Seelenwelt wie auch in Bezug auf solche der Geisterwelt, anerkennen müssen: das muss nach allem Bisherigen nothwendig auch für das Gebiet der noch ungestalteten Natur ebensosehr seine Geltung haben. S e n g l e r drückt darüber sich wie folgt aus: „Es gibt verschiedene Wesen. Die Verschiedenheit der geistigen Grundbegriffe des Wesens (die verschiedene wesentliche Form) begründet die Verschiedenheit des Wesens. Diese innerste begriffliche Grundbestimmung des Wesens (diese Form) ist die Art und Weise, wie sich das Wesen, als E i n h e i t s e i n e r s e l b s t , auf sich bezieht, oder wie es eben E i n h e i t s e i n e r s e l b s t ist. J e t i e f e r und deshalb u m f a s s e n d e r dieselbe ist, d. h. je mehr sich das Wesen in sich v e r t i e f t , und durch diese Vertiefung in sich e r w e i t e r t , und so u m f a s s e n der und a u s g e d e h n t e r (extensiver) es ist: desto vollk o m m e n e r ist dasselbe. Der I n h a l t und U m f a n g , die innere und äussere Wirksamkeit (Intensität und Extensität) des Wesens besteht also in der V e r t i e f u n g und E r w e i t e r u n g durch diese und in der sich so vermittelnden S e l b s t b e z i e h u n g und S e l b s t e r f a s s u n g . — Das Wesen erzeugt jede Naturstufe mit gleicher Ursprünglichkeit, oder jede geht in beider Beziehung unmittelbar aus ihm hervor; nicht aber erzeugt die Natur selbst, sich s t u f e n w e i s e s t e i g e r n d (potenzirend), so dass die niedere Stufe die U r s a c h e des

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Höheren wäre. Jede Stufe ist vielmehr unmittelbar vom Wesen verursacht, aber v e r m i t t e l t durch die vorhergehende. Dass aber die Natur ein G a n z e s ist, und also in sich zusammenhängt und durchgängig in sich vermittelt ist, Alles mit J e d e m und J e d e s m i t Allem zusammenhängt: davon ist wieder der Grund (nur) im Wesen zu suchen. Es ist der ordnende Grund (das organisirende Princip). Ohne dass das Wesen aber E i n h e i t s e i n e r s e l b s t wäre, gäbe es auch keine Einheit ausser ihm. Jede E i n h e i t a u s s e r ihm ist nur möglich durch diese w e s e n t l i c h e E i n h e i t (wie solche allem einzelnen Naturdaseyn zukommt)." Und an einem anderen Orte sagt er: „Soll das N i e d e r e mit dem H ö h e r e n in Wechselwirkung stehen, so kann dies nur durch ein Gem e i n s a m e s geschehen. Freilich muss das Höhere das Niedere u m b i l d e n , sich v e r ä h n l i c h e n und theilweise in seine Natur u m w a n d e l n . Aber dieses wäre nicht möglich, wenn das Höhere nicht mit dem Niederen irgend eine gem e i n s a m e N a t u r hätte, durch welche beide auf einander einwirken und so in Wechselwirkung treten können" (SENGLER: Idee Gottes. II. S. 113. 225; II.11- S. 411). In dieser lebensvollen Darstellung entrollt sich nicht nur das ganze Geheimniss der wesenhaften S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g eines jeden stofflich-körperlichen Einzelwesens in seiner noch einfachsten Naturweise, sondern gleichzeitig auch das Bild aller und jeder höheren W e s e n s - und D a s e y n s e n t f a l t u n g überhaupt. Wie der Begriff des Wesens das gesammte Naturdaseyn umfasst, so umfasst auch dieses auf ihn sich gründende Bild die gesammte natürliche S e l b s t e n t w i c k e l u n g und S e l b s t e n t f a l t u n g eines jeden einzelnen Naturdaseyns von seinem ersten, untersten und noch allgemeinsten Ausgangspunkt an bis zu den höchsten Stufen des Daseyns, auf welche sich emporzuschwingen ihm vergönnt ist. In je grösserer Tiefe seines eigenen Ich und Selbst ein Naturwesen , angeregt durch die Mithülfe bereits höher gearteter

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Kräfte, hinabsteigt, und mit dieser V e r t i e f u n g in sich s e l b s t gleichsam auch sich s e l b e r um so t i e f e r e r g r ü n d e t und damit seinen eigenen wahren Wesensinhalt gewissermassen selber erst recht kennen lernt: um so h ö h e r gea r t e t e Fähigkeiten, Vermögen oder Anlagen vermag es nun auch aus seiner bis dahin in ihm verschlossenen und verborgenen Wesens- und Lebensfülle hervorzuzaubern und dadurch sich, sowohl in sich selber wie nach aussen hin, zu einer immer höheren, edleren und vollendeteren Daseynsweise oder Daseynsstufe je nach dem besonderen inneren Kraftmaass seiner Art erheben. Es ist dies der ganz naturgemässe Vorgang, wie zu solcher einer jeden inneren Wesenserhöhung zu irgendwelcher höheren Daseynsordnung vorhergeht. Ein jedes natürlicheinfache Stoff- und Körperwesen oder — wie S c h ö l l i n g sich ausdrückt — die gesammte an sich scheinbar noch „todte" (SCHELLING II. S . 215) Stoff- und Körperlichkeit stellt uns auf dieser seiner noch einfachsten und untersten Naturstufe gewissermassen nur die erste N a t u r s t a f f e l vor Augen, von der aus dasselbe seiner gesammten inneren Bestimmung und Wesensanlage nach im Verlaufe der Zeit und unter der Mitwirkung des steten Wechsels aller Zeitverhältnisse, wofern diese als begünstigend sich darstellen, zu immer höheren Rangstufen im Gesammthaushalt der Natur sich zu erheben vermag. Daher mag es auch nicht als unpassend erscheinen, wenn man die Angehörigen des noch untersten, weil noch nicht nach höheren Gestaltungsgesetzen gebildeten Naturgebietes gleichsam als die natürlichen „ S a m e n " für das eigentliche Seelen- wie auch Geistesleben betrachtet hat. Denn wie der Same, der in den Boden der Erde fällt, hier oft lange Zeit scheinbar völlig todt und leblos liegen mag, ohne dass die in ihm noch gebundenen besonderen pflanzlichen Lebens- und Daseynskräfte zu einer in sich selbständigen Thätigkeit zu erwachen vermöchten; wie aber eben jene höheren Kräfte und Vermögen sich zu regen beginnen, sobald

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die dazu nöthige Feuchtigkeit den Boden gelockert und die Sonne denselben in der erforderlichen Weise zu erwärmen begonnen hat: ebenso sehen wir ein ganz Ahnliches, um nicht zu sagen Gleiches, eintreten, sobald die unter dem Banne noch ungünstiger äusserer Verhältnisse bis dahin noch gebundenen Kräfte, Vermögen oder Anlagen im weiteren Verlauf des allgemeinen Naturlebens nunmehr von aussen her zu immer weiter gehender eigener innerer Selbstentwickelung und Selbstentfaltung geweckt, veranlasst und erregt werden. So zeigen sich beispielweise bekanntlich alle dem untersten Naturgebiete angehörigen Naturwesen, wie schon früher bemerkt, nur allein zur Darstellung von kugelförmigen oder kugelähnlichen, oder von sonst völlig unregelmässig gestalteten körperlichen Massenbildungen natürlich geschickt und geeignet. Sobald aber durch irgendwelche äussere Veranlassungen auch jene höheren Gestaltungskräfte und Gestaltungsgesetze, durch welche bereits das noch unterste der drei regelrecht gestalteten Naturreiche so augenscheinlich vor allen Gestaltungen der allgemeinen Stoff- und Körperwelt sich auszeichnet, in den betreffenden, bis dahin noch einfach stofflich-körperlichen Einzelwesen erwacht: dann können wir bekanntlich mit Hülfe geeigneter künstlicher Vorrichtungen sogar mit unseren eigenen Augen von dem lebendigen Kegen und Treiben uns überzeugen, welches eben jene neu erwachten höheren Gestaltungskräfte alsbald wie durch eine natürliche Zaubermacht in dem vor unseren Blicken sich entfaltenden Bilde auf überraschendste Weise darstellen. In derselben Weise aber, wie ein jeder Grundstoff der Natur von Uranfang an, und zwar in erster Linie, den natürlichen Keim oder die natürliche Bef ä h i g u n g zu eben diesen höheren Ausgestaltungen des noch untersten der drei Naturreiche in sich birgt, in derselben Weise dürfen wir annehmen, dass ein ganz Ähnliches oder Gleiches auch in Bezug auf die beiden höheren der drei Naturreiche, nehmlich in Bezug auf die natürlichen Aus-

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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Wirkungen selbst von pflanzlichen wie thierischen Lebens- und Gestaltungskräften, ja selbst von solchen, welche ausschliesslich den menschlichen Daseynsverhältnissen angehören, stattfinden möge. Was zu solcher Annahme berechtigt, dies sind die allgemeinen Ahnlichkeitsverhältnisse, welche in der gesammten Natur dem tiefer blickenden Auge in einer so unverkennbaren Weise entgegentreten, dass selbst die Wissenschaft hierauf den Satz gegründet hat, dass alles Niedrigere in der Natur als ein Vorbild und damit zugleich auch als ein Hinweis und eine Erklärung für das Höhere darf betrachtet werden (WAGNEB: Natur d. Dinge. S. 1 7 1 ) . Daher bezeichnet auch nach Reil, in ganz dem gleichen Sinne wie oben, der Begriff des K e i m e s zwar noch nicht das eigentliche Leben selbst, - wohl aber die eigene innere L e b e n s b e f ä h i g u n g , ähnlich wie solches auch der Fall ist bei dem zwar befruchteten , aber noch nicht bebrüteten Ei, oder wie bei dem noch nicht keimenden, aber doch keimfähigen Samen (ULTUCI: Gott u. Natur. S. 208). Und in ähnlichem Sinn sagt auch Möller, dass der Keim des Lebens noch der Entwickelung bedarf, denn erst durch die Entwickelung werde er lebensfähig (MÖLLER: Leben d. Atome. S. 26). Dürfen wir also überhaupt einmal jene an sich noch einfachsten Daseynsweisen der noch ungestalteten Natur betrachten als die natürlichen und an sich naturnothwendigen K e i m e oder S a m e n auch für alle übrigen höheren Daseynsweisen ohne Ausnahme: dann wird es nach den eben erwähnten Naturthatsachen auch zugleich ersichtlich, wie ein jeder körperlicher Stoff von Uranfang an die natürliche Entwickelungs- und Erhebungsbefähigung und damit zugleich auch eine natürliche Berechtigung zu allen höheren Wesensordnungen in sich tragen mag, ohne dass er darum auch schon thatsächlich ein wirklich ausgeprägtes höheres Gestaltungs-, Seelen- oder Geistesleben in sich einschlösse: es sey denn, dass bereits die Natur selbst in ihrem allgemeinen Verlauf ihm die natürliche Gelegenheit und die natürlichen

186

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Mittel dazu geboten hätte, eben jene Keime unter der Mithülfe höherer Krafteinwirkungen von aussen nun auch vollgültig zu befruchten und zu beleben. Aber nicht bloss die natürliche Möglichkeit innerer Wesenssteigerungen und Wesenserhöhungen vermag in den eben geschilderten Naturverhältnissen eine einheitliche Erklärung und Lösung zu finden: es verhält sich dies ganz ebenso namentlich auch in Bezug auf das Geheimniss der Erhaltung der verschiedenen Pflanzenund'Thiergeschlechter und ihrer Arten, gleichviel ob diese auf dem Wege der Theilung, der Sprossung oder Zeugung vor sich geht. Doch sind wir auf unserem gegenwärtigen Standpunkt noch nicht in dem Fall, auch auf diese letzteren Verhältnisse bereits jetzt schon näher einzugehen. Schon L e i b n i t z hielt — wie J . H. FICHTE solches hervorhebt — an der Möglichkeit fest, dass nach dem Gesetze der Stetigkeit und des sprunglosen Zusammenhanges aller Weltwesen unter sich, unter begünstigenden Umständen, niedere Einzelwesen oder Monaden — wie er dieselben bekanntlich nannte — durch allmähliche Steigerung auch zu Seelen h ö h e r e r O r d n u n g , ja bis zur vergeistigten Menschenseele hinauf könnten erhoben werden (J. H. FICHTE: Seelenfortd. S. 1 6 7 . 1 6 8 ; HEKBAET I I I . S. 9 6 ; KANT I I I . S. 4 4 4 ; WILMARSHOF: Jenseits I. S. 75). Denn eben jene einfachsten Naturwesen oder Monaden, welche die eigentlichen Grundlagen der gesammten stofflich-körperlichen Weltordnung bilden, betrachtete er bekanntlich als gleichsam noch in schlafendem, schlummerndem oder sozusagen traumartigem Zustand sich befindend, aber zugleich auch als natürlich befähigt, in den Thierkörpern als empfindend, in den Menschenkörpern dagegen als wirkliche Vernunft» und Geisteswesen aufzutreten. So sagt auch C r u s i u s , dass dem Stoff als solchem sine ihm bewusste Kraft zu denken zwar nicht zukommen könne, weil er, mit einer solchen begabt, aufhören würde, Stoff in der eigentlichen und engeren Bedeutung dieses Wortes zu seyn, dass es

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

187

aber nichtsdestoweniger durchaus nicht als etwas s c h l e c h t e r d i n g s U n m ö g l i c h e s dürfe betrachtet werden, dass die Naturwesen, unbeschadet ihrer innerlichen D i e s e l b i g k e i t , von der Stufe wirklicher und sozusagen ausschliesslicher Stofflichkeit auch selbst auf die Stufe wirklicher natürlicher G e i s t i g k e i t sich erheben (HAMBERGER: Physica. S. 77). Und in gleichem Sinn sprechen auch Franz Hoffmann und Ulrici sich aus. So sagt der Erstere mit Bezug auf SCHELLING'S Naturauffassung, dass die Stufenfolge, welche wir namentlich in den höheren Daseynsformen (Organisationen) wahrnehmen, sowie der Übergang von der unbelebten zur belebten Natur, deutlich eine h e r v o r b r i n g e n d e (produktive) K r a f t v e r r a t h e , die allmählich erst zu ihrer vollen F r e i h e i t (und immer vollendeteren wesenhaften Ausgestaltung) sich entwickele (FROHSCHAMMER: Athen. I I I . S . 3 2 [ F R . HOEEMANN: Gotteslehre SCHELLING'S]). Und U l r i c i sagt: „Es ist nicht nur begrifflich (logisch), sondern auch den Thatsachen gegenüber s e h r wohl d e n k b a r , dass es stofflich - körperliche Einzelwesen (Atome) gebe, die im Laufe der Entwickelung der Welt Kräfte gewinnen oder sich aneignen, die sie vorher nicht besassen: nur die Anlage zu einer solchen Veränderung muss in der Anlage der Welt selbst vorausgesetzt werden. Und es ist ebensowohl denkbar, dass das Zusammenwirken verschiedener Kräfte nicht bloss eine innerlich festgesetzte (fixirte), nur von aussen her veränderbare Wirkung erzeuge, sondern dass die Wirkung eine n e u e K r a f t sey, die mit ihrer Thätigkeit in das Triebwerk der Welt eintritt und weitere Veränderungen hervorzurufen vermag" (ULRICI: Gott und Natur. S. 7 3 7 ) . Wie die Kohle oder vielmehr der reine und noch ungestaltete pulverförmige, schwarze, glanzlose und völlig undurchsichtige reine K o h l e n s t o f f zum blendend-weissen, hellstrahlenden, vollkommen durchsichtigen D i a m a n t e n und dessen edlerer naturwüchsigen Ausgestaltung (ST. MARTIN: Esprit des choses. I. S. 230. 231) sich verhält: so verhält sich

188

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

ganz ähnlich der noch rohe und ungestaltete Stoff zu den Daseynsformen des Seelen- und des Geisteslebens. Läge die natürliche Anlage jener edleren Eigenschaften, durch welche der Diamant so augenfällig und wesentlich vor seinem natürlichen Grundstoff, der Kohle, sich auszeichnet, nicht bereits schon von Uranfang an gebunden und gleichsam wie eine noch in blossem Keimzustand befindliche, schlummernde Naturbefähigung in dem Kohlenstoff als solchem thatsächlich vorhanden: keine Gewalt der Welt wäre jemals im Stande, den Kohlenstoff in einen wirklichen Diamanten umzuwandeln. Ganz ähnlich oder ebenso rnuss es sich aber auch in Bezug auf alle jene höheren Wesenseigenschaften verhalten, durch welche die Gebiete des eigentlichen natürlichen Seelenlebens wie auch diejenige des natürlichen Geisteslebens sich so wesentlich von allem an sich noch rein stofflich-körperlichen Daseyn unterscheiden und auszeichnen. Was für den Kohlenstoff im Besonderen die schwarze Finsterniss, die vollkommene Undurchsichtigkeit und der Mangel jeder höheren körperlichen Ausgestaltung ist: das ist für den Stoff im Allgemeinen dessen Mangel an jeglicher höheren E m p f i n d u n g s f ä h i g k e i t , an jedem höheren S e l b s t b e w u s s t s e y n und an jeder eigentlichen, d. h. selbstbewussten D e n k - und E r k e n n t n i s s f ä h i g k e i t , wie solche in der allgemeinen Weltordnung ausschliesslich nur in der eigentlichen S e e l e n - und G e i s t e s w e l t erfahrungsgemäss zu Tage treten. Wenn nun aber alle jene Vorzüge, welche den Diamanten so hoch über seine noch ungestaltete stoffliche Grundlage, den Kohlenstoff, erheben, diesem Letzteren als solchem gänzlich abgehen, ihm aber nichtsdestoweniger die natürliche Befähigung erfahrungsgemäss innewohnen muss, sich thatsächlich unter günstigen Umständen in einen wirklichen Diamanten u m z u w a n d e l n : sollten wir nach derartigen unzweifelhaft feststehenden Thatsachen nicht berechtigt seyn, ganz ähnliche Grundverhältnisse auch in Bezug auf alle diejenigen höheren Wesenseigenschaften zu

189

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

vermuthen, welche nicht nur die beiden anderen Gebiete des natürlichen Seelenlebens,

sondern auch dasjenige des eigent-

lichen Geisteslebens vor allen noch rein stofflich-körperlichen Daseynsformen

so

wesentlich

unterscheiden?

Ja,

wenn wir

gleichzeitig auch noch jene früher schon erwähnten Ahnlich keitsverhältnisse berücksichtigen, denen zufolge alles Niedrigere auch als in gewissen verwandtschaftlichen Wesensbeziehungen zu dem Höheren befindlich sich darstellt: müssen wir uns da nicht geradezu genöthigt fühlen, dasjenige, was wir eben noch als etwas bloss Wahrscheinliches auffassten,

geradezu

entsprechende

als

und

eine

demgeinäss

Naturthatsache zu betrachten?

oder nur zu Vermuthendes

der allgemeinen auch

in

ihr

Weltordnung mitbegründete

Sehen wir uns also überhaupt

einmal durch ganz bestimmte Thatsachen der Erfahrung genöthigt,

die

stofflich-körperlichen Einzeldinge der noch un-

gestalteten Natur als

natürliche

Keime

auch für das an

sich zwar noch einfachere, aber nichtsdestoweniger, im Vergleich mit dem allgemeinen Naturleben der noch rein stofflichkörperlichen Daseynsweisen, schon auf wesentlich höherer Entwicklungsstufe

sich

befindende

Gestaltungsleben

des

Q u a r z r e i c h e s , als des noch untersten der drei Naturreiche, mit Naturnothwendigkeit anzuerkennen:

so können wir nach

dem oben Dargelegten nunmehr auch nicht umhin,

dieselben

gleichzeitig — nur in. einer noch höheren Bedeutung — als die natürlichen kraftbegabten Keime nicht nur für die höheren Gestaltungsvermögen menschlich-geistigen

des pflanzlichen, Daseyns

thierischen

zu betrachten,

wie

auch

sondern gleich-

zeitig damit auch als die keimartigen Grundlagen für alle die mannigfachen

Erscheinungen

pflanzlichen Wachsthums,

pflanzlicher

Ernährung

thierischer Empfindung,

Bewusstseyns und thierischen Denkens, j a lichen Vernunft- und Geistesthätigkeiten

selbst

thierischen der eigent-

des Men s chen.

aber jene vergleichungsweise noch niedrigere und Gestaltungskraft

des

untersten

Naturreiches

und

der

Wie

einfachere Mithülfe

190

DIE natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

günstiger äusserer Verhältnisse bedarf, um auch thatsächlich in ihre gestaltende Wirksamkeit einzutreten: so muss folgerichtig auch ganz ein Gleiches statthaben in Bezug auf die höheren Gestaltungskräfte, Vermögen und Anlagen, wie solche im Pflanzenreich im Thierreich und im Menschenleben zu Tage treten. Die beiden stattfindenden Unterschiede können allein nur darin liegen, dass eben jene ursprünglich nur in noch keimartigem Zustand in den Dingen vorhandenen Vermögen und Anlagen auch zu seelischen und geistigen Lebensverrichtungen zu ihrer naturgemässen Bethätigung der Mithülfe um so günstigerer äusserer Bedingungen und Verhältnisse bedürfen und demgemäss denn auch dem wirklichen Eintreten der für ihre Entbindung erforderlichen Verhältnisse vergleichungsweise um so l ä n g e r werden entgegenzuharren haben, von um je höherer, edlerer und vergeistigterer Art eben jene noch schlummernden Vermögen und Anlagen überhaupt seyn mögen. Und so müssen wir anerkennen, dass im Grossen und Ganzen der Natur alles Niedrigere uns als eine natürliche V o r a u s s a g e eben des Höheren gelten darf, auf welches jenes uns hinweist, wie umgekehrt auch alles Höhere als ein natürliches E r k l ä r u n g s m i t t e l und als ein Fingerzeig nach rückwärts, uns zu immer tieferem Eindringen in die inneren Wesensverhältnisse und darum auch zu einem richtigeren Verständniss auch des Niedrigeren naturgemäss auffordert. Eben dieser Naturauffassung entsprechend sagt denn auch O e t i n g e r , dass die S t o f f w e l t (die Materie) schon aus dem Grund für nothwendig zu erachten sey, weil ohne sie auch kein G e i s t entstehen könnte, sofern ja dieser selbst nicht ohne Leiblichkeit ist und „sich aus dieser sondert". Die Erhebung des Stoffes (der Materie) in den Geist geschieht auch nach ihm durch die verschiedenen G e s c h l e c h t e r und •Stufen der N a t u r hindurch ( AUBERLEN: OETINGER. S. 1 9 3 . 194). Unter eben dieser letzteren Bezeichnung haben wir wohl kaum etwas anderes zu verstehen, als eben jene ver-

D e r allgemeine Wechselverkehr aller D i n g e etc.

191

schiedenen stofflichen Wesensarten, dadurch die einzelnen stofflich-körperlichen Dinge sich, bald mehr oder weniger in die Augen fallend, in ihrem Wesen von einander unterscheiden. „Wo ist denn der Stoff (die Materie)" — fragt Herbart — „welchem die Merkmale des Lebens widerstreiten? Wer sagt denn, dass die Seele ein demselben fremdartiges Wesen (Princip) sey? Die Natur muss gleich anfangs als dasjenige gedacht werden, was sich selbst lebensvoll gestaltet und abgliedert (sich organisirt); dann werden auch Stoff (Materie) und Geist als besondere Wesensstufen (Formen) und Gränzen zu betrachten seyn, welche das allgemeine Naturleben (der allgemeine Organismus) ebenso gut annehmen kann, als im Thiere e i n Theil (der körperlichen Stoffe) die Eolle des Knochens, der a n d e r e die der Nerven für das Ganze übernimmt" (HEKBAKT I I I . S. 1 3 7 ) . Ahnlich spricht Schelling sich aus: „Der Stoff (die Materie) — sagt er — „ist das allgemeine Samenkorn der Welt (des Universums), worin alles v e r h ü l l t ist, was in den späteren Entwickelungen sich e n t f a l t e t . Gebt mir ein Theilchen (Atom) des Stoffes, könnte man sagen, und ich lehre euch die Welt daraus zu begreifen" (SCHELLING II. S. 2 2 3 ) . Und Fr. Hoffmann sagt mit Bezug auf eben diese Weltanschauung SCHELLING'S: „Der ganze Zauber, der das Räthsel (Problem) vom Ursprung aus sich selbst gestalteter (organischer) Körper umgibt, rührt daher, dass in den Dingen Nothwendigkeit und Zufälligkeit (d. i. die Unabänderlichkeit des Wesens nach der besonderens Wesensart und die Veränderlichkeit der Wesensbeschaffenheit und der Wesenszustände je nach der Gunst oder Ungunst äusserer Verhältnisse) innigst vereinigt sind. Dadurch wurde der Mensch frühzeitig auf den Gedanken (Idee) einer sich selbst gestaltenden Stofflichkeit (organisirenden Materie) und einer ursprünglichen V e r e i n i g u n g des Geistes und des Stofflichen (Materie) in diesen Dingen geführt" (FEOHSCHAMMER:

192

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Athen. III. S. 53). So ist es also auch nach H O I T M A N N Ein und derselbe natürliche Urgrund alles Daseyns und Wesens, welcher beide, die gestaltete wie die noch ungestaltete Natur, in ihren innersten Wesensgründen mit einander verbindet, und alle Bethätigungen des Lebens sind für ihn nur Abzweigungen und verschiedene Grade von Kraftsteigerungen, bedingt und bewirkt durch das allgemeine Spiel zusammen- und ineinander wirkender Kräfte. „Alles, was wir als Thätigkeit oder Wirksamkeit des Stofflichen (der Materie) denken können" — sagt Lotze in demselben Sinn — „bringt nicht aus sich selbst das geistige Leben hervor, sondern veranlasst nur sein Hervortreten durch die Anregung zur Äusserung, die es einem anders gearteten körperlichen Grundstoff (Element) zuführt. Kann aus denjenigen Eigenschaften, um deren willen wir die Stofflichkeit Stoff (Materie) nennen, das Auftreten eines geistigen Zustandes nicht abgeleitet werden, was hindert uns, in den körperlichen Grundstoffen (Elementen) noch neben jenen Eigenschaften einen Schatz inneren Lebens anzunehmen, der unserer Aufmerksamkeit sonst (d. h. unter gewöhnlichen Verhältnissen) entgeht und eben nur in dem, was wir geistiges L e b e n nennen, G e l e g e n h e i t zur Ä u s s e r u n g findet? Könnte nicht der sichtbare Stoff unmittelbar ein d o p p e l t e s L e b e n f ü h r e n , als S t o f f l i c h k e i t (Materie) nach aussen erscheinend und keine Fähigkeit verrathend, als die rein körperlichen (mechanischen) Eigenschaften, die wir kennen; i n n e r l i c h dagegen g e i s t i g bewegt, den Wechsel seiner Zustände empfindend und mit Strebungen die Wirksamkeit begleitend, deren allgemeine Gesetzlichkeit er freilich nicht mit Freiheit zu ändern vermag? Auch hier würde die stofflich-körperliche (materielle) Veränderung nur desshalb eine geistige nach sich ziehen, weil sie auf der anderen Seite dieses Doppelwesens die geistige Natur schon v o r f ä n d e , welche sie wecken kann. Sind in demselben Stoffe zwar thatsächlich, aber unableitbar auseinander, die Eigenschaften

Der allgemeine Wechßelverkehr aller Dinge etc.

193

der Stofflichkeit (Materialität) und der Geistigkeit vereinigt, so werden alle auf die einzelnen Erscheinungen gerichtete Untersuchungen die Veränderungen der stofflich-körperlichen (physischen) Seite dieses Doppelwesens doch nur als V e r a n l a s s u n g für das Hervortreten a u c h der g e i s t i g e n Z u s t ä n d e fassen können" (LOTZE: Mikrokosm. I. S. 163. 165). Nur in einer immer entschiedeneren Anerkennung eben dieser inneren untrennbaren Einheit sowohl einer stofflichen wie geistigen Seite im Wesen alles natürlichen Vorhandenen kann in der That auch der Schlüssel zu einem immer richtigeren Verstäaidniss alles inneren Naturlebens und Naturzusammenhanges zu suehen seyn. N o . 111. Stoffwelt, Seelenwelt und Geisteswelt in ihrer natürlich - untrennbaren Zusammengehörigkeit. Was deutliche und unzweifelhafte Spuren i n n e r e n L e b e n s an sich zur Schau trägt, nennen wir b e s e e l t . Daher bilden auch im gewöhnlichen Leben B e l e b t s e y n , L e b e n d i g s e y n und B e s e e l t s e y n gleichbedeutende und sozusagen gleichwerthige Ausdrücke, von denen ein jeder für den anderen ohne Bedenken gebraucht wird. Die eigentlichsten Gebiete des natürlichen Seelenlebens bilden freilich das Pflanzen- und noch mehr das Thierreich; schon das unter dem Pflanzenreich stehende Reich der Quarze glaubt man vielfach nicht mehr zu der eigentlich beseelten Natur rechnen zu dürfen. Der natürliche Grund hierfür liegt eben einfach darin, dass der Quarz, wie er fix und fertig ausgestattet vor unseren Augen dasteht, uns leicht verführt, ihn in Folge seiner scheinbar starren Unveränderlichkeit, in ganz ähnlicher Weise wie die noch ungestaltete Natur, für völlig todt und leblos zu halten, und demgemäss sind wir auch geneigt, ihn eher der ebenfalls scheinbar todten und leblosen noch ungestalteten Natur beizugesellen, als ihm innerhalb des eigentWandersmann. II. 13

194

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

liehen natürlichen Seelenlebens als dessen noch unterste Erscheinungsweise seine Stellung anzuweisen. Aber wir haben bereits früher darauf hingewiesen (I. § 4, No. 10), wie irrthümlich und oberflächlich eine solche Anschauung sofort sich darstellen muss, sobald wir nur mittelst einer bedeutenden Vergrösserung den Vorgängen zugesehen, und bewundernd uns von dem regen und lebensvollen Getümmel überzeugt haben, von welchem der natürliche Ubergang aus der noch ungestalteten in die gestaltete Natur in allen den Fällen sich begleitet zeigt, wo wir dieselben thatsächlich mit unseren Augen zu belauschen Gelegenheit haben. Einen jeden irgendwie scheinbar gegründeten Zweifel oder Einwurf gegen die thatsächliche Zugehörigkeit auch des untersten der drei Naturreiche zu dem Gebiet des eigentlichen Seelenlebens im engeren Sinn hat somit in den eben erwähnten Erscheinungen die Natur selber vollgültig widerlegt und zu Schanden gemacht. Aber nicht bloss für das Reich der Quarze hat das Ebengesagte seine Geltung, sondern auch für das Gebiet der noch ungestalteten Natur gilt es, wie wir ebenfalls bei einer früheren Gelegenheit gezeigt haben, in ganz ähnlicher Weise. Auch hier tritt dem Auge des Geistes ein, wenn auch noch so einfaches und ursprüngliches eigenes inneres Leben entgegen, indem in der inneren Rührigkeit unausgesetzt wirksamer Kräfte ein eigener innerer L e b e n s f u n k e nicht verkannt werden kann, welcher je nach den besonderen Wesenszuständen als bald schwächere und bald stärkere Lebenswallungen im inneren Wesen der Dinge sich geltend macht. Zwar ist es unserem Forschen nicht vergönnt, auf dem Wege thatsächlicher Einblicke in das innere Wesen der Dinge dies alles so vollgültig sicher zu stellen, dass jeder Einwurf des Zweifels dadurch sofort als aus dem Felde geschlagen dürfte betrachtet werden; allein von der anderen Seite treten allenthalben um uns her äusserliche Bewegungs-

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

195

erscheinungen sowie Erscheinungen der mannigfachsten sonstigen äusserlichen Veränderungen an den Dingen uns entgegen, welche mit Naturnothwendigkeit auf Verhältnisse und Thätigkeiten zurückweisen, die nur allein im Inneren der natürlichen Einzeldinge selber ihren alleinigen Sitz und ihre alleinige Quelle haben können. Und somit dürfte sich von diesem Standpunkt aus die Wirklichkeit und Richtigkeit eben jener natürlich-innerlichen Wesensbewegungen wohl keinesfalls in irgendwelchen berechtigten Zweifel ziehen lassen. Ist der Schauplatz eben dieser natürlichen Wirksamkeit oder dieser an sich noch rein stofflich - körperlichen Lebensbethätigung auch vergleichungsweise in weit engeren Gränzen eingeschlossen, als solches im Bereich des eigentlich natürlichen Seelenlebens im engeren Sinn der Fall ist, so können wir in den eben angeführten Thatsachen doch keine, weder natürliche noch vernunftgemässe, Berechtigung dazu finden, den Angehörigen des untersten Naturgebietes auch diesen ihnen von der Natur selbst zugewiesenen geringen Gehalt von eigener lebendig-wirksamer innerer Kraftfülle und damit auch von eigener innerer B e l e b t h e i t wie von eigener innerer B e s e e l t h e i t abzusprechen. B e l e b t h e i t und B e s e e l t h e i t oder Bel e b t s e y n und B e s e e l t s e y n sind aber der Sache nach gleichbedeutende Begriffe: an sich das Gleiche bezeichnend und nur begrifflich unterschieden je nach dem Standpunkt, von dem wir dasselbe in das Auge fassen. Denn während der Begriff des B e l e b t s e y n s sich allgemeiner anf alles Daseyn ohne Ausnahme bezieht, ohne Rücksicht auf irgendwelche Unterschiede in Bezug auf höhere oder niedere Daseynsstufen: bringen wir den Begriff des B e s e e l t s e y n s vorherrschend lieber in Anwendung für das eigentliche natürliche Seelenleben im engeren Sinn, sowie für unser eigenes Geistesleben, indem wir hier den Begriff der Seele in erster Linie mit Rücksicht auf den belebenden Einfluss der Seele auf ihre, ihr wesenhaft fremde äussere Leiblichkeit in das Auge fassen. Von dem Begriff 13*

196

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

des L e b e n s sagt W e i g a n d , er bezeichne die „Wirklichkeit eines D i n g e s in der F o r t d a u e r " im Daseyn, indem er erläuternd noch weiter hinzufügt: „Leben wird von solchen Wesen gesagt, die eine i n n e r l i c h b e w e g e n d e K r a f t haben, durch welche sie f o r t f a h r e n zu seyn." Den Begriff der Seele dagegen bestimmt er als „das l e b e n s t h ä t i g w i r k e n d e Wesen im Menschen". Durch den Grundbergriff der bewegenden K r a f t — fügt WEIGAND hinzu — ist der Begriff der Seele auch mit „ S e e " verwandt und bezeichnet somit „die b e w e g e n d e , wogende K r a f t eines zum L e b e n bestimmten (geschlossenen) Wesens, mit einem Wort: das L e b e n s p r i n c i p " oder in unserer Sprachweise ausgedrückt: die untrennbare Einheit der natürlichen Grundbegriffe von Daseyn und Leben. In diesem Sinn sagt daher auch Schiller: „Ein grosses Lebendiges ist die Natur, und alles ist F r u c h t und alles ist S a m e " (WEIGAND: Syn. I. S . 3 6 2 ; II. S. 2 8 6 ; III. S . 6 9 2 ; SCHILLER: Braut v. Messina). Und so ist denn auch der S t o f f , wie er in seiner Weise L e b e n hat, auch in seiner Weise Seele. Steht sein Leben und seine Seele auch nicht auf gleicher Höhe, namentlich mit dem Leben der Pflanzen, der Thiere und des Menschen, und können demnach beide auch diesem Letzteren nicht vollgültig an die Seite gestellt werden: so hat er doch immerhin nicht bloss sein eigenes inneres s t o f f l i c h e s L e b e n und seine eigene s t o f f l i c h e Seele, sondern er ist auch im vollen Sinne des Wortes an und in sich s e l b e r , d. h. seinem gesammten inneren Wesen nach noch rein „stoffliche Seele", genau angepasst den Bedingungen der niedrigeren Naturstufe, welche er in dem allgemeinen Haushalte der Natur vor unseren Augen einnimmt, welche besondere Stellung sich denn auch vielfach durch die Bezeichnungen als „Stoff an sich",.Stoff „als solcher" oder auch bloss „Stoff" schlechthin bezeichnet findet. Was aber in dieser Beziehung gewissermassen n a c h vorw ä r t s seine kaum zu bezweifelnde Geltung hat, das muss

197

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

umgekehrt gelten.

in

Das

seiner heisst:

Weise muss

ebensosehr

nach

der Stoff als

rückwärts

die noch unterste

Stufe des allgemeinen natürlichen Seelenlebens, nehmlich als noch rein s t o f f l i c h e S e e l e betrachtet werden, so wird sich nunmehr umgekehrt auch ein jedes eigentliche Seelenwesen im engeren Sinne des Wortes auch als ein natürlich

beseelter

S t o f f dem Auge des Geistes darstellen; und ebenso wie für einen jeden

Stoff

ausser

seelische

einer

stofflichen

Seite

muss

seines

Wesens

eine

werden:

so haben wir umgekehrt auch ebensosehr für eine

jede eigentliche n a t ü r l i c h e

desselben

Seite

anerkannt

S e e l e neben ihrer wirklich und

eigentlich s e e l i s c h e n S e i t e auch stets eine s t o f f l i c h e S e i t e derselben zu berücksichtigen.

Beide Begriffe, die „stoffliche

Seele" wie der „beseelte Stoff" bezeichnen daher im Grunde oder der Sache nach völlig Ein und dasselbe, und die Veranlassung zu dieser gedoppelten Auffassung eines und desselben Naturverhältnisses

finden

wir

nur

in

den

beiderseitigen

geistigen Stand- und Gesichtspunkten begründet, von welchen aus wir dies Verhältniss in das Auge fassen.

Denn eine jede

S e e l e , die ihrer eigenen inneren Wirksamkeit und Lebendigkeit vielleicht nur kaum, oder jedenfalls nur noch völlig unklar

(nach

bewusst

unseren

ist;

einfachheit

welche

nach

menschlichen in

aussen

ihrer

Begriffen

gesammten

zu

reden)

inneren

hin nur in der einfachsten

sich

WesensKugel-

gestalt sich zu verkörpern im Stande ist, und welcher alle höheren Befähigungen des eigentlichen Seelenlebens zu selbstständiger Fortpflanzung nach ihrer Art, jedes höhere Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen, jedes bewusste Wollen und Denken zwar nicht unbedingt abgehen, aber doch allewege nur in einer innerlich wie äusserlich völlig gebundenen und unthätigen Weise zukommen: wir einfach „ S t o f f " .

eine solche Seele nennen

Einen Stoff aber, in welchem ausser

und neben den allgemeinen Kräften, Fähigkeiten und Eigenschaften, wie solche der noch ungestalteten Natur als solcher

198

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

ausnahmslos zukommen, auch bereits jene eben genannten höheren Vermögen des Empfindens, Wollens, Denkens u. s. w. ihrer uranfänglichen Gebundenheit entnommen und zu lebensvoller Selbstbethätigung erwacht sind: einen solchen Stoff nennen wir ebenso einfach „ S e e l e " . Schon an einem früheren Orte (IV. § 14, No. 62. 65. 66. 67) haben wir darauf hingewiesen, dass jene allgemeine Daseynskraft, auf deren ununterbrochener unmittelbarer Wirksamkeit alles vorhandene Naturdaseyn sich gründet, nicht nur als eine Wesen und Daseyn bildende, sondern gleichzeitig damit auch als eine wirklich raumbildende Kraft muss betrachtet werden. Dieser von den natürlichen Einzeldingen durch ihre eigene Daseynskraft nur allein für sich selber, als deren unveräusserliches Eigenthum, gegründete und hervorgebrachte Kaum, in welchem alles endliche Daseyn sich in sich selber umgränzt und einschliesst, und welcher mit dem Begriff der einheitlichen innerlich-äusserlichen Wesensverkörperung unbedingt in Eins zusammenfällt, kann daher ebensowenig dem b e s e e l t e n Stoff im eigentlichsten Sinn des Wortes fehlen, wie er jemals dem noch einfachsten stofflichkörperlichen Grundbestandtheil dieser Welt fehlen kann. Auch der n a t ü r l i c h e n Seele oder dem b e s e e l t e n Stoff kann daher eine derartige eigene innerlich-äusserliche Selbstumgränzung oder Selbstverkörperung des eigenen einheitlichen Ichs und Selbsts niemals abgehen, und ganz ebensowenig kann dies der Fall seyn in Bezug auf den v e r g e i s t i g t e n Stoff oder die v e r g e i s t i g t e Seele, d. i. für unseren eigenen Menschengeist. Den besten Beweis für die Thatsächlichkeit eines derartigen Verhältnisses, sowohl für das Gebiet des natürlichen Seelen- wie des natürlichen Geisteslebens, finden wir an und in uns selbst, nehmlich in unserem inneren seelischen Gefühl von dem, was in unserer eigenen äusseren Leiblichkeit oder Körperlichkeit vorgeht und vermittelst der Nerven unserem persönlichen Bewusstseyn zugeführt wird. Haben wir eine

199

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

schmerzhafte Stelle oder Wunde auf irgend einer Seite unseres äusseren Körpers, so empfinden wir auch in einer nicht zu bezweifelnden Weise, dass der durch sie in uns verursachte Schmerz

von eben dieser Körperseite herrührt.

Dies alles

kann aber einzig und allein nur dadurch unserer eigenen Natur ermöglicht seyn, dass unser eigenes Ich und Selbst, d. h. unsere d. h.

eigene ein

Seele

nach

ein

wirklich

aussen

hin

räumlich-körperliches,

oberflächlich

begränztes

N a t u r w e s e n darstellt.

Denn wäre dem nicht so, d. h. wäre

unsere

ein

Seele

Wesen,

wirklich

unausgedehntes,

nur ein sogenannter r a u m l o s e r

raumloses

Kraftpunkt,

wie

man früher gar manchmal geglaubt hat, solches annehmen zu sollen: dann müssten auch alle aus unserer äusseren Leiblichkeit herrührenden Schmerzempfindungen u n a u f g e h a l t e n zu eben jenem r a u m l o s e n

Kraftpunkt,

wahren, einheitlich-persönlichen Ich und Selbst gelangen. blosser Punkt aber,

bis

als unserm einzig Ein

und vereinigte er eine noch so grosse

Fülle von Kräften in sich, kennt begreiflicher Weise weder ein Hechts noch ein Links, weder ein Oben noch ein Unten, weder

ein Yornen

dungen

kennt

noch

allein

ein Hinten:

nur

der

alle diese Unterschei-

wirklich

körperliche

Raum.

Käme daher ein solcher nicht allewege auch unserer Seele, als unserem eigentlichen Ich und Selbst, mit ebensolcher unzweifelhaften Gewissheit

zu,

wie

solches in Bezug auf alle

stofflich-körperlichen Einzeldinge der noch ungestalteten Natur der Fall ist: wir vermöchten in solchem Fall wohl, ein jedes aus unserer äusseren Leiblichkeit stammendes vielleicht

Schmerzgefühl

als ein solches wirklich zu empfinden,

aber ganz

und gar unmöglich würde es für uns seyn, uns gleichzeitig auch nur das allergeringste richtige Urtheil darüber zu bilden, von w e l c h e r unseres

Seite

äusseren

oder von welcher b e s o n d e r e n

Körpers

her

unsere Seele herantreten mag.

dasselbe

Gerade dadurch aber,

unsere Seele, ganz ebenso wie ein jedes

Stelle

in Wirklichkeit

an dass

stofflich-körperliche

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechsel Verhältnissen.

Einzelwesen der noch ungestalteten Natur, auch als ein wirklich r ä u m l i c h - k ö r p e r l i c h e s N a t u r d a s e y n von uns muss anerkannt werden: erst hierdurch ist uns ein natürliches Mittel dazu geboten, auch über alle Ortsverschiedenheiten eine richtige Kenntniss durch die Natur selber zu erhalten. Wir haben bereits an einer früheren Stelle darauf hingewiesen (Y. § 19, No. 105), dass im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge unter sich alle diejenigen Einzelwesen, auf welche fremde äussere Kräfte e i n z u w i r k e n streben, diesen fremden Einwirkungen jederzeit einen bestimmten W i d e r s t a n d an den betreffenden Berührungsstellen entgegensetzen, und dass eben dieser Widerstand auf der einen Seite vermittelst einer ihm entsprechenden Kraftleistung von der anderen Seite ü b e r w u n d e n werden muss, bevor irgend eine thatsächliche Krafteinwirkung wirklich statthaben kann. Ganz ein ähnliches Verhältniss muss nun aber auch in allen den Fällen, bei welchen es sich um irgendwelche, von unserer äusserlichen Leiblichkeit ausgehende Einwirkung auf unsere eigene Seele handelt, stattfinden. Auch hier wird unsere Seele an jeder äusserlichen Berührungsstelle, an welche eine von ihrer äusserlichen Leiblichkeit herrührende schmerzerregende Krafteinwirkung an sie herantritt, dieser Letzteren einen ganz ähnlichen, dem Kraftmaass jener äusseren Einwirkung entsprechenden Widerstand entgegenstellen müssen, welcher durch eben diese äussere Krafteinwirkung erst zu ü b e r w i n d e n i s t , bevor überhaupt von einer thatsächlichen Einwirkung auf unser eigentliches Seeleninnere die Rede seyn kann. Es tritt somit auch hier ein gewisses gebieterisches „ H a l t ! " zu Tage, durch welches unsere Seele selber dem äusseren Eindringling von sich aus thatkräftig entgegentritt. Und eben dieses eigene innere thatkräftige Entgegentreten ist es nunmehr, wodurch unsere Seele in ihrem eigenen inneren Selbstbewusstseyn nicht nur genau den Ort und die S t e l l e i h r e r ä u s s e r e n W e s e n s o b e r f l ä c h e k e n n e n l e r n t , an welcher jene äusserlich-leibliche

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Einwirkung unmittelbar an sie herantritt, sondern wodurch sie zugleich auch eben dieser Letzteren, wenn wir so sagen dürfen, einen bestimmten Riegel d a g e g e n vorschiebt, d a s s sie n i c h t , alles u n d j e d e s r ä u m l i c h - ö r t l i c h e n A u f e n t haltes unterwegs entbehrend, geradezu unmittelbar bis zu u n s e r e m i n n e r s t e n W e s e n s m i t t e l p u n k t ohne alles und jedes Hinderniss vorzudringen im Stande sey. Was somit jenem innersten Kraftmittelpunkt unserer Seele, rein nur als solcher in das Auge gefasst, an sich völlig u n m ö g l i c h gewesen wäre, eben dieses zeigt sich für sie nunmehr als naturgesetzmässig e r m ö g l i c h t durch die Dazwischenkunft eben jenes, an ihrer eigenen Wesensoberfläche statthabenden Aufe n t h a l t e s im Verein mit der natürlichen Mitwirkung der übrigen damit in Verbindung stehenden Vorgänge im eigenen Wesensinnern. Denn indem die Seele in solcher Weise genöthigt ist, auf jeden besonderen einzelnen Punkt ihrer äusserlichen Oberfläche, an welchem derartige Einwirkungen von aussen her an sie herantreten mögen, nunmehr auch s e l b s t t h ä t i g sich zu b e z i e h e n , muss sie nothwendig hierdurch auch zu einer gewissen e i g e n e n i n n e r e n K e n n t n i s s nicht nur von O r t s v e r s c h i e d e n h e i t e n überhaupt, sondern ebensosehr auch von all den ganz bestimmten ö r t l i c h e n S t e l l e n , L a g e n und P u n k t e n gelangen, wo eben jene Vorgänge von aussen her zuerst mit ihrer eigenen Wesensoberfläche in unmittelbare Berührung getreten sind. Und aus allem diesem dürfen wir nunmehr den Schluss ziehen, dass unserer Seele allewege ein gewisses Wissen zukommen muss nicht nur von dem, was Schmerzerregendes überhaupt in ihrer äusseren Leiblichkeit sich ereignen mag, sondern gleichzeitig damit auch von den betreffenden O r t e n , S e i t e n oder k ö r p e r l i c h e n R i c h t u n g e n , wo und an welchen solches vorgeht und von w e l c h e n a u s ein solches Schmerzgefühl an sie herantritt, nehmlich ob von da oder d o r t , von r e c h t s oder l i n k s u. s. w.

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Der Ansicht, dass auch der eigentlichen Seelenwelt eine stoffliche Seite als deren ursprüngliche Wesensgrundlage zukommt, begegnen wir bereits bei A r i s t o t e l e s , indem er in seiner Metaphysik sich dahin ausspricht, dass „die Seele t h e i l w e i s e in die N a t u r l e h r e (Physik) gehöre, nehmlich soweit i h r «vXrj» (d. i. stoffliche Wesenheit) zukomme" (ARISTOTELES: Metaphys. II. 1 2 , 1 3 . IV. 1 0 2 ) . Oder mit anderen Worten: soweit alle ihre eigentlichen Seelenkräfte und Seelenvermögen in ihrem tieferen Grunde nur als n a t ü r liche S t e i g e r u n g e n entsprechender Kräfte und Fähigkeiten zu betrachten seyn dürften, welche auch bereits in dem an sich noch rein stofflich-körperlichen Daseyn sich vorfinden. Daher hebt auch C a m p e n e l l a es ganz ausdrücklich hervor, dass auch selbst „die empfindende und denkende Seele s t o f f l i c h e r (materieller) A r t " sey (TIEDEMANN: Geist der spek. Philos. V. S . 5 5 8 [CAMPANELLA]). Auch bei B a c o von V e r u lam begegnen wir ganz der gleichen Anschauung ( R £ M U S A T : Bacon, S. 261). Wenn S p i n o z a sagt, „dass alle natürlichen Einzelwesen (Individuen) b e s e e l t seyen, wenn auch in verschiedenen Abstufungen" (SPINOZA III. S. 5 1 7 [Ethik]), so gilt dieser Ausspruch folgerichtig ebensosehr für die an sich noch rein stofflich-körperliche Natur, wie auch für die eigentlichen Seelenwesen der höheren Daseynsgebiete. Aber ungeachtet aller, wenn auch noch so nahen inneren verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Naturgebieten bleiben doch in der Naturwirklichkeit auch die zwischen ihnen unverkennbar uns entgegentretenden U n t e r s c h i e d e völlig unverwischt. Mit vollem Hecht weist daher C r u s i u s ausdrücklich darauf hin, wie der eigentliche und höhere Begriff der Seele keineswegs dadurch geschädigt oder zu einer Stofflichkeit im blossen Sinn der noch ungestalteten Natur herabgedrückt oder herabgewürdigt werde, indem man sage, dass auch der Seele eine ebensolche k ö r p e r l i c h e R ä u m l i c h k e i t zukommen müsse (HAMBERGER: Phys. sacra.

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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S. 76 [CEÜSIÜS]), wie solches auch in dem Bereich des noch untersten Daseynsgebietes der Fall ist. Auch bei Baader begegnen wir derartigen Anklängen, wenn er sagt: „Das Leben will Fülle und Hülle; es will e r f ü l l t , d. i. b e s e e l t , und u m h ü l l t , d. i. g e s t a l t e t seyn. Der Grundtrieb des Lebens ist sohin weder Gestaltungs- oder Bildungstrieb allein noch Beseelungs- oder Erfülltseynstrieb allein, sondern er geht auf beide, auf Empfinden und auf Schauen und zwar in ihrer Eintracht" (BAADER I I . S. 3 2 5 , 3 3 8 ) . Ebenso weist auch Wilmarshof darauf hin, dass, wenn man von einer „ S t o f f l i c h e i t der S e e l e " rede, man darunter namentlich ,,ihre Ausdehnung" in einem „bestimmten Kaum oder ihre (wesenhafte) R a u m e r f ü l l u n g " verstehe, weshalb er die Seele, als ein Raumerfüllendes, auch ausdrücklich als einen ..Körper" oder ein körperliches Nattirdaseyn bezeichnet (WILMARSHOF: Jenseits I. S. 3 1 , 3 3 . II. S. 77, 1 6 4 . III. S. 83FF.). Ahnlich sagt Drossbach: „Die atomistische Seele (d. i. die Seele in ihrer inneren Wesenseinheit und Wesensuntheilbarkeit) ist ein m e s s b a r - r ä u m l i c h e s Wesen" (DROSSBACH: Genes, d. Bewussts. S. 110). Und ebenso begegnen wir dieser Anschauungsweise bei Ulrici, indem auch er von einer „der Seele wesentlich (fundamental) zukommenden und i h r e S t o f f l i c h k e i t d a r s t e l l e n d e n (repräsentirenden) K r a f t der A u s d e h n u n g " spricht (ULRICI: Gott u. Natur. S. 3 1 4 ) . Was nun aber weiter auch noch im Besonderen das begrifflich-natürliche Yerhältniss zwischen Seele und G e i s t betrifft, so weist uns schon die vermittelnde Stellung, welche der Begriff und das Wesen der Seele zwischen dem Begriff und dem Wesen sowohl des S t o f f l i c h - K ö r p e r l i c h e n nach der einen, wie dem Begriff und dem Wesen des G e i s t i g e n nach der anderen Seite hin einnimmt, auf den Weg zu einem richtigen Verständniss auch eben dieses, zwar ebenfalls nahe verwandten, aber doch gleichzeitig auch sehr entschieden

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

ausgeprägten Wechselverhältnisses. Wenn unter den altgriechischen Denkern H e r a k l i t , D e m o k r i t und Andere das F e u e r nicht nur als begriffliches, sondern auch als natürliches Sinnbild alles Lebens und damit namentlich auch alles eigentlichen Seelenlebens betrachteten, ja die Seelenwesen selbst für natürliche Einzelwesen erklärten, deren natürlichem Inneren geradezu eine f e u r i g e oder f e u e r ä h n l i c h e Beschaffenheit müsse zuerkannt werden: so dürften gegen diese ihre Anschauungen im Grunde wohl kaum wesentliche Einwendungen zu machen seyn. Denn das Feuer in seiner beweglichen Lebendigkeit entspricht in dieser Beziehung nicht allein vollständig dem Begriff namentlich des eigentlichen S e e l e n l e b e n s , sondern dadurch, dass es keinen eigentlich in sich selber selbständigen körperlichen Stoff darstellt, sondern nur als eine vorübergehende äusserliche Erscheinung zu betrachten ist, welche bekanntlich in sehr vielen Fällen die inneren Wesensvereinigungen stofflich entgegengesetzter Körper zu begleiten pflegt, stellt dasselbe sich gleichzeitig auch als ein sehr treffend sich darbietendes Sinnbild und Gleichniss dar für die allem natürlichen Seelenleben in dessen innerstem Wesensgrund zukommende g e i s t i g e oder g e i s t v e r w a n d t e Seite desselben. Für HEEAKLIT war das Feuer daher so recht eigentlich das natürliche Bild alles l e b e n digen W e r d e n s und aller daraus hervorgehenden lebenskräftigen B e w e g u n g , und es kann daher auch nur als ein aus ebendieser Anschauung sich gleichsam von selbst ergebender Schritt weiter betrachtet werden, wenn die älteren Stoiker — wie L a s s a l l e solches ausdrücklich hervorhebt — das heraklitische „Feuer" in dem Sinn „ e i n e r a l l e n D i n g e n zu G r u n d e l i e g e n d e n , i h n e n i n n e w o h n e n d e n u n d sie von innen h e r a u s b e w e g e n d e n L e b e n s k r a f t " auffassten. wie dies ja namentlich in dem Bereiche des thierischen Seelenlebens so unverkennbar entgegentritt (LASSALLE, I. S. 147, 180. II, 4. 5. SCHWEGLER: Gesch. d. Philos. in Um-

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

rissen.

S. 15.

TIEDEMANN, II.

BBANDIS: Gesch. d. griech. Philos. I.

205 S. 141.

S. 490).

Der Begriff und das Wesen der Seele bildet somit die verbindende Mitte oder das natürliche Mittelglied zwischen der an sich noch rein stofflich-körperlichen und der eigentlich geistigen Welt. „Im anscheinend Todten das L e b e n — sagt B a a d e r — und in der alle Augenblicke (scheinbar) schwindenden Stofflichkeit (Materie) den schaffenden und bauenden G e i s t zu sehen, zu ahnen, ist Werk der V e r n u n f t " (BAADEB, IX. S. 87). Denn die Vernunft, als eigentliches Erkenntnissvermögen des Geistes vergegenwärtigt uns denselben so recht eigentlich von Seiten seiner höchsten natürlichen Würde, d. h. im Lichte seiner höchsten natürlichen Entwickelungsstufe. Nun sind wir aber bereits bei unseren früheren Untersuchungen darauf hingeführt worden, dass nicht nur innerhalb des Gebietes der noch ungestalteten Natur dessen Angehörigen, sondern damit zugleich auch allem Naturdaseyn überhaupt ein ganz bestimmter g e i s t i g e r oder geistverwandter einheitlicher Grundgedanke oder G r u n d b e g r i f f je nach den besonderen Wesensarten muss zuerkannt werden, und dass eben dieser innerste geistige Grundbegriff der Dinge es auch ist, welcher als innerlich treibende N a t u r k r a f t alles natürliche Wesen und Daseyn der Dinge von Uranfang an thatsächlich vermittelt und verwirklicht. Damit geht aber auch zugleich in Folge des so innig verwachsenen Wechselverhältnisses zwischen „Grundgedanken" und „Grundkraft" augenscheinlich hervor, dass auch dieser Letzteren unabweislich ein ganz ebenso g e i s t i g e s oder g e i s t v e r w a n d t e s G r u n d g e p r ä g e muss zuerkannt werden, wie auch Jenem. Schon in der untrennbaren Einheit von F o r m und S t o f f der alten griechischen Denker, d. h. von innerlicher Daseyn und Wesen bildender Kraft und von wirklich wesenhaftem stofflich-körperlichem Daseyn tritt dies Verhältniss, wie ebenfalls früher dargethan, unverkennbar

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

zu Tage. Was wir in Bezug auf die allgemeine Stoff- und Körperwelt daher K r a f t nennen, bezeichnet im Grunde nichts anderes als den G e i s t von Seiten seiner noch e i n f a c h s t e n , a l l g e m e i n s t e n und u r s p r ü n g l i c h s t e n D a r s t e l l u n g s - u n d W i r k u n g s w e i s e . So erklärte bereits Erigena (nach HUBEB) die K r a f t für den G e i s t in dem S t o f f (der Materie) (HUBEB: EEIGENA. S. 278). Ebenso sagt Baco von Ver Ulam: „Die gestaltende Kraft (the form) ist das Ding in seinem wahren g e i s t i g e n G r u n d (in its very essence)" (BACON S. 466). Auch Baader erkennt es ausdrücklich an, „dass hinter aller s t o f f l i c h e n (materiellen) Natur eine durchwirkende n i c h t s t o f f l i c h e (immaterielle) Natur als reine K r a f t oder als G e i s t " anzunehmen sey (FBOHSCHAMMEE: Athenä. II. S. 391). Und in gleichem Sinn sagt Franz Hoffmann mit Bezug auf eben diese Anschauung BAADEE'S: „Der G e i s t der Stoffwelt (Materie) ist s t o f f l i c h e r (materieller) Natur, wie der Thiergeist (oder die Thierseele) t h i e r i s c h e r Natur ist" (BAADER II. S. 532. Anm.). So sagt auch Sen gier: „Die ersten Ausgangspunkte (Principien) der N a t u r sind in ihrem letzten Grunde auch die ersten Ausgangspunkte (Principien) des G e i s t e s . Denn der Geist geht der Natur, nicht die Natur dem Geist voraus. Die Natur ist die Verwirklichung eines G e d a n k e n s . Alles Beharrende (also alles natürliche Daseyn und Wesen überhaupt) ist innerlich ein g e i s t i g B e w e g t e s . " Und an einem anderen Orte: „Es gibt keinen Stoff ohne Form, sondern immer nur bestimmte und (nach dieser ihrer inneren Bettimmtheit gebildete und verwirklichte) Stofflichkeit (Materie). So ist das Wesen der stofflichen (materiellen) Natur durchaus ideeller, d. i. g e i s t i g e r Natur" (SENGLEE: Idee Gottes. I. S. 96. 97. 692; II 11 . S . 415). Auch D r o s s b a c h bezeichnet in derselben Weise die stofflichkörperlichen Wesenseinheiten (Atome) als in sich selbständige und g e i s t i g e K r a f t w e s e n (DBOSSBACH: Genes, d. Bewussts. S. 23; Ergebnisse d. Harmonie d. Naturk. S. 117. 154). So

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sagt auch Ule, dass „der G e i s t das S c h a f f e n d e , der Stoff (die Materie) aber seine S c h ö p f u n g sey" (ULE, S. 82). Desgleichen Fechner. „Alles Leben" erklärt er in „seinem Ursprung und Wesen" für „ g e i s t i g " (FECHNER: Zendavesta. S. 239). Ebenso sagt auch M. Meyer: „Das wahre Innere verhält sich zu dem äusseren als g e i s t i g (übermateriell). Ohne G e i s t i g k e i t (Ubermaterialität) keine lebendige Innerlichkeit, kein Leben, keine Gestaltung (kein Organismus)". Und wenn German von dem „Wehen und W e b e n " des Stoffes (der Materie) spricht, so bezeichnet auch er damit eben nur von der einen Seite die g e i s t i g e und von der anderen Seite die s t o f f l i c h e Seite seines Wesens (GERMAN: Schöpfergeist. S. 28). Oersted, nachdem er von der innerlich g e i s t i g e n V e r n u n f t e i n h e i t der Natur gesprochen, welche als B e g r i f f dem Wesen eines jeden Dinges zu Grunde liege, fügt hinzu: „Fast scheint es mir, dass man diese (innerste) V e r n u n f t e i n h e i t eines jeden Dinges auch dessen S e e l e nennen könnte. So hat denn ein jeder (der Natur angehörige) Gegenstand, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine S e e l e " (OEKSTED: Geist i. d. Nat. IX. S. 116). Leibnitz bezeichnet bekanntlich die einfachsten Naturwesen oder Monaden, welche zusammen das Weltall bilden, als lebendige g e i s t i g - d e n k e n d e Wesen, als Seelen oder als den Seelen verwandte Wesen, welche überall in lebendigen Beziehungen zu einander stehen. Wenn dieselben in ihrem Verkehr mit der Aussenwelt von dieser Letzteren und den von ihr ausgehenden Eindrücken und Einwirkungen keine klaren und deutlichen Begriffe, sondern nur d u n k l e und verw o r r e n e , u n k l a r e und u n d e u t l i c h e Vorstellungen zu gewinnen vermögen: so stehen sie nach LEIBNITZ noch auf der allgemeinsten und untersten Naturstufe der S t o f f l i c h k e i t . Der Stoff ist demnach auch an sich G e i s t oder geistverwandter Art, aber G e i s t noch in dem Zustand der Gebundenheit. Und eben hierauf beruht denn auch nach

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

der natürliche Zusammenhang zwischen der natürlichen thierischen Seele wie auch der vergeistigten Menschenseele mit deren äusserer Leib- und Körperlichkeit. Im Gegensatz zu diesen, aus lauter an und für sich selbst nur unklarer und undeutlicher Vorstellungen fähigen stofflichkörperlichen Grundbestandteilen der äusseren Leiblichkeit ist es eine M o n a d e h ö h e r e r O r d n u n g , zu deutlichen und klaren Vorstellungen von fremden und äusserlichen Verhältnissen und Einwirkungen befähigt, welche innerhalb eben dieses äusserlichen Leibes die erste, hervorragendste und die ganze Leiblichkeit beherrschende Stellung einnimmt und um welche alle übrigen ihr untergeordneten und in ihrer Gesammtheit den äusseren Leib bildenden Monaden niederen Ranges sich sammeln, ordnen und bewegen (BAUE: Dreieinigk. III. S. 549. 551; SCHWEGLER: Geschichte d. Philos. S. 180). Wenn LEIBNITZ sagt, dass „es kein vernünftiges Naturwesen gibt ohne irgendwelche äussere stofflich-körperliche Leiblichkeit (sans quelque corps organique) und keinen natürlichen Geist, der von aller Stofflichkeit (matière) losgelöst oder entblösst (détaché) wäre" (LEIBNITZ: Théodicée. I. S. 250; Edit. EKDMANN. S. 540): so hatte er dabei wohl jedenfalls in erster Linie unser eigenes menschliches Wesen im Auge als ein geistiges Seelenwesen im eigentlichsten Sinn des Wortes, aber in Verbindung mit dessen äusserlicher Leib- oder Körperlichkeit. Allein auch für diese Annahme kann dem seelischgeistigen Theil unseres eigentlichen persönlichen Ichs wohl ebensowenig eine ganz bestimmte s t o f f l i c h e S e i t e abgesprochen werden, wie den einzelnen stofflich-körperlichen Bestandtheilen unserer äusseren Leiblichkeit eine gewisse G e i s t i g k e i t als natürlich-geistige S e i t e ihres Wesens. Wäre dem nicht so: wie würde unsere Seele auf den äusseren stofflich-körperlichen Leib oder dieser auf unser geistiges Ich und Selbst, unsere geistige Seele, irgendwelchen thatkräftigen Einfluss auszuüben im Stande seyn? Wie in einem jeden LEIBNITZ

Der allgemeine Wectiselverkehr aller Dinge etc.

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einzelnen stofflich-körperlichen Grundbestandtheil dieser Welt dessen ihm innerlich zu Grunde liegende natürliche D a s e y n s k r a f t es ist, welche in ihrer unausgesetzten lebensvollen Wirksamkeit als die innerste g e i s t i g e oder g e i s t v e r w a n d t e S e i t e eines jeden dieser Körpertheilchen von uns muss anerkannt werden: ganz ebenso müssen wir auch im innersten Wesensmittelpunkt unseres eigenen Seelen-Ichs den g e i s t i g e n W e s e n s g r u n d unseres gesammten seelisch-geistigen Daseyns und Wesens erblicken. Und nur weil unsere eigene Seele mit innerer Nothwendigkeit ganz ebenso wie ein jedes einzelne stofflich-körperliche Grund wesen der Natur ein nach aussen hin sich allewege nicht anders denn nur als ein thatsächlich räumlich-körperliches Wesen darzustellen vermag, nur derartige räumlich-körperliche Wesen und Dinge aber im Stande sind, sich in Folge dessen auch wechselseitig wirklich zu ber ü h r e n und wechselseitig auf einander e i n z u w i r k e n : nur allein hierdurch ist es uns möglich, nicht nur seelisch-geistig auf alle stofflich-körperlichen Einzeldinge unserer äusseren Leiblichkeit thatkräftig einzuwirken, sondern auch ebensosehr «

jederzeit von den Einzeldingen dieser Letzteren Einwirkungen auf unser eigenes Innere zu erfahren. Ohne diese Möglichkeit beiderseitiger wirklicher Berührungen bliebe ein jedes derartige Wechselverhältniss zwischen unserem Seelen-Ich und dessen äusserer Leiblichkeit ein für allemal für uns unerklärlich. Auch nach Oetinger „waltet das S t o f f l i c h e (Materielle) und das G e i s t i g e (Ideelle) in allen Dingen". In ihrem wechselseitigen Ineinanderwirken besteht das „ L e b e n der N a t u r " als ein „unsichtbares Band von Kräften", die „in ihrer Wirkung und Gegenwirkung mit einander streiten". „ G e i s t und S t o f f " — sagt er — „ist in E i n e m b e i sammen. Das Leben jedes Naturdaseyns (jeder Creatur) ist ein Geist oder eine L e b e n s f l a m m e , welche sich nach den ihm innewohnenden (ihm gegebenen) Kräften einen Leib bildet. Jedes Naturwesen (Creaiur) hat demnach einen Lebensgeist, Wandersmann. II.

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und dieser bildende Geist ist eines jeden Leibes innerstes Ding (oder Seele), worin seine Einheit steht. Daher H i p p o krates dieses zum Grund seiner ganzen Weltanschauung (aller seiner Philosophie) annimmt, dass alles aus f e u r i g e r E r d e (d. i. aus lebendig-wesenhafter Stofflichkeit) und aus G e i s t w a s s e r (oder aus seelenhaftem Geist) bestehe, und also eine Wirkung und Gegenwirkung oder innere Wesensübereinstimmung (Sympathie) aller Dinge gegen einander sev" (AUBEULEN : OETINGEE. S. 2 0 3 . 2 0 4 ) . Ganz ähnliche Anschauungen finden sich auch bei S e h e H i n g , wenn er sagt, dass „man wohl auf gewisse Weise sagen könne, a l l e s sey bes e e l t " . Denn „in jeglichem Ding, soweit in ihm das ganze Seyende, also ins Besondere auch die zwecksetzende U r s a c h e ist, wird n i c h t das Stoffliche (Materielle), sondern das S e e l i s c h - G e i s t i g e (Immaterielle), es selbst, d. i. das (in ihm) eigentlich S e y e n d e seyn" (SCHELLING : 2. Abth. I. S. 408; IX. S. 94). J. H. F i c h t e sagt mit Bezug hierauf, dass „das Wesen der Seele an sich ebenso s t o f f l i c h - k ö r p e r l i c h e r (physischer) wie g e i s t i g e r Natur sey; denn jedes Geistige habe ebensowohl stofflich - körperliches, ja örtliches Daseyn (Existenz), wie umgekehrt auch die s i n n l i c h e W e l t in ihrer Art g e i s t i g sey" (J. H. FICHTE: Seelenfortd. S. 67). So auch German: „Die Thätigkeiten (Funktionen) beider, G e i s t und Stoff (Materie), sind überall auf das innigste mit einander verbunden. Der Geist ist das Leben des Stoffes, der Stoff das Leben des Geistes. Ohne Geist wäre ¿er Stoff eine todte Schlacke; ohne Stofflichkeit (d. h. ohne eine stoffliche Seite seines Wesens) wäre der Geist ohne Darstellung, ohne (wesenhaftes) Daseyn — ein Nichtseyn. In diesem Sinn erkennen wir beide als überall zusammengehörig und als zusammen und aufeinander wirkend und rückwirkend. Überall immer Einer des Anderen bedürftig, um sich in seiner Kraft äussern zu können, v e r k ü n d i g t sich der G e i s t in der S t o f f w e l t (Materie) als in s e i n e r l e i b l i c h e n E r s c h e i n u n g s f o r m und

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ist h i n w i e d e r u m die S t o f f w e l t der H e r o l d des G e i s t e s , der sie in sich trägt, der sie fortwährend belebt, und der alle ihre Körper zu kraft- und lebenserfüllten Räumen macht" (GERMAN: Schöpfergeist. S. 23). Und so wären wir nunmehr in unserer Untersuchung auf dem Standpunkt angekommen, von dem aus wir den Geist nicht nur als den ersten G r u n d und A u s g a n g s p u n k t , sondern gleichzeitig auch als das eigentliche Ziel und den eigentlichen E n d z w e c k aller Naturentwickelung erblicken: als ersten Grund und Ausgangspunkt in eben jener für's Erste nur noch als g e i s t ä h n l i c h oder g e i s t v e r w a n d t auftretenden einheitlichen natürlichen D a s e y n s k r a f t , auf deren unmittelbarer Wirksamkeit alles Wesen und Daseyn der natürlichen Einzeldinge und Einzelwesen dieser Welt sich gegründet zeigt; als letztes Ziel und letzter Abschluss aller Naturentwickelung dagegen in dem Wesen der eigentlichen natürlichen G e i s t e r w e l t in der eigentlichsten Bedeutung dieses Wortes, wie diese namentlich auf unserer Erde in dem m e n s c h l i c h e n G e i s t vor unseren Augen dasteht. Dort nur noch dunkler H i n w e i s : hier immer klarere E i n s i c h t und E r k e n n t n i s s . „Willst du dich selber erkennen, so sieh' wie die Andern es treiben: willst du die Andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz!" sagt S c h i l l e r . Dieser Wahrheitssatz hat auch hier seine Geltung. Dort nur Symbol, Sinnbild, hier dessen Deutung, Erklärung und Verständniss. Ganz in diesem Sinne sagt daher auch St. Martin: „Wahrlich, man will nicht begreifen, welcher nahe Zusammenhang zwischen den Irrthümern über das Wesen des Menschen und jenen über das Wesen der Stoffwelt obwaltet. Wessen Geist hellsehend genug ist, über die Körper richtig zu urtheilen, der wird auch bald heller in den Menschen und in den Menschengeist und sein Verhältniss zur Stoffwelt) schauen" (BAADER XII. S. 108 [ST. MARTIN]). sagt in Bezug auf eben dieses Doppelverhältniss, welches dem Geist in der gesammten Natur zuJacob

Böhme

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kommt: „Jeder G e i s t wohnt in dem tiefsten A b g r u n d seines Wesens: so er ihm selber das Wesen machen muss, so kann er in nichts Fremdem wohnen, sondern er wohnt in sich s e l b e r , in seinem e i g e n e n W e s e n " (JACOB BÖHME: 40 Fragen. S. 74). Auch nach Schölling ist die Kraft, die sich in die Natur ergiesst, dem Wesen nach d i e s e l b e mit der, die sich auch in der g e i s t i g e n W e l t darstellt. „ G e i s t , als Urgrund (Princip) des Lebens (und damit auch alles Beseeltseyns) gedacht" — sagt SCHELLING — „heisst S e e l e " (SENGLEE: Philos. u. Theol. S. 2 2 6 ) . So sagt auch ]. P. L a n g e : „Die jetzige Naturwissenschaft, namentlich die allgemeine Stoff lehre (Chemie), hat den Begriff der scheinbar todten Stofflichkeit (Materialität) überwunden. Schon das ist ein Zeugniss für die G e i s t e s g e m ä s s h e i t des Stoffes (Materie), dass überall, wo derselbe erscheint, er, von dem Zuge des Geistes bewegt, in den Zusammenhang des Lebens und somit in den D i e n s t des G e i s t e s gestellt ist. So steigt der Stoff immer empor dem Geist entgegen. Er macht immer mehr seinen Lebensdurst und Lebenstrieb offenbar. Sobald er aber das Gebiet des Lebendigen erreicht hat, beweist sich dies durch g a n z n e u e K u n d g e b u n g e n . Schon in der Pflanze verräth der Stoff einen fast seelenartigen schwärmerischen Lichtdurst" (J. P. LANGE: Dogm. II. S. 357. 358). Was somit für das s t o f f l i c h e D a s e y n dessen s t o f f liches Wesen ist, das ist für unsere eigene g e i s t i g e P e r s ö n l i c h k e i t unsere Seele. Und in demselben Verhältniss, in welchem in der Stoffwelt jene innerste W e s e n s g r u n d k r a f t zu der durch ihre Wirksamkeit ins Daseyn gestellten stofflichkörperlichen Wesenheit steht, in demselben Verhältniss steht dieselbe auch in unserem eigenen Ich und Selbst als dessen g e i s t i g e W e s e n s g r u n d k r a f t zu unserem eigenen S e e l e n oder Geisteswesen. Und ebenso wie — nach Stein bei s — jene tief-innerliche allgemeine Daseynskraft sich einerseits gleichsam als das i n n e r s t e M a r k alles stofflich-körperlichen

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Daseyns anzeigt, so bezeugt sie sich auch für unser eigenes Innere als das innerste lebensvolle M a r k unseres gesammten s e e l i s c h - g e i s t i g e n Daseyns und Lebens. Dort erscheint uns der Stoff in seiner natürlichen Wirksamkeit nach aussen als der wesenhafte T r ä g e r der gesammten wirkenden stofflich-körperlichen Daseynskräfte: hier als d e r s e l b e T r ä g e r , aber nicht bloss aller stofflich-körperlichen, sondern auch aller seelisch-geistigen Kräfte, die wir aus eigener Erfahrung an uns selber wie an Anderen wahrnehmen" (STEINBEIS: Diesseits und Jenseits. S. 12). Daher sagt auch German: „Der Geist ist nichts anderes als das klar gewordene denkende Leben, d. i. v e r g e i s t i g t e r S t o f f " (GERMAN: Schöpfung. S. 100); wie j a auch die eigentliche natürliche Seele nichts anderes darstellt als den n a t ü r l i c h - b e s e e l t e n S t o f f ; der Geist aber, als vergeistigter Stoff, erscheint auch ebensosehr als v e r g e i s t i g t e Seele. Daher zeigt sich uns auch der Geist als natürliches Glied der allgemeinen Weltordnung, von seinem eigenen Standpunkt aus betrachtet als das „ l e t z t e K i n d des S t o f f e s " — wie Cotta sich ausdrückt (WILMABSHOF, Jens. I I . S. 1 3 1 [COTTA: Briefe ü. HUMBOLDT'S Cosmos. S. 3 3 6 ) ; aber einzig und allein nur dadurch, dass der Stoff, seine Mutter, selber in seinem innersten Wesensgrund als von geistiger Natur und geistigem Ursprung sich darstellt.

N o . 112. „Geist und Natur" oder „Geist und Körper" als die beiden äussersten Grenzpole alles natürlichen Daseyns. Aus dem Bisherigen haben wir bereits ersehen, wie alles Daseyn dieser Welt sowohl in Bezug auf die natürlichen Einzeldinge und Einzelwesen als solche, wie auch in Bezug auf das allgemeine Naturganze in seinem gemeinschaftlichen Entwickelungsgang zwischen zwei einander begrifflich entgegengesetzten G r e n z p o l e n sich eingeschlossen zeigt, welche im Allgemeinen als den Begriffen des I n n e r s t e n und

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

A u s s e r s t e n in ihrer Weise vollkommen entsprechend sich erweisen. Dieselben pflegen von Seiten der Wissenschaft allgemein durch die begrifflichen Wortzusammenstellungen „ G e i s t und N a t u r " oder auch „ G e i s t u n d K ö r p e r " bezeichnet zu werden. An sich und in ihrem tieferen Grunde besagen beide Ausdrucksweisen das Gleiche, nehmlich nach der einen Seite hin alle einzelnen Grundwesen der Natur, wie auch der gesammten Naturentwickelung im Grossen und Ganzen e r s t e n G r u n d und A n f a n g , und nach der anderen Seite hin deren l e t z t e n A b s c h l u s s und E n d e . Allein ungeachtet eben dieser begrifflichen Gemeinschaftlichkeit und Einheit beider Begriffsverhältnisse bestehen doch durch die Naturverhältnisse selbst berechtigte Unterscheidungen, je nach dem geistigen Standpunkt, von dem aus wir diese begrifflichen Wechselverhältnisse in das Auge fassen. Sprechen wir von „ G e i s t und K ö r p e r " , so stellen wir uns in Gedanken in eben jene beiden Gränzpole des Innersten und des Aussersten, also in den Wesensmittelpunkt und die Wesensoberfläche der betreffenden Dinge, lassen aber die ganze dazwischen liegende Mitte, d. h. das eigentliche innere Wesen dieser Dinge sammt allem, was in diesem vorgehen mag, mehr oder weniger, wo nicht völlig ausser Betracht. Und zwar bleibt es sich dabei ganz gleich, ob es sich um Angehörige der allgemeinen Stoffwelt, der Seelenwelt oder der Geisteswelt handelt. Innerhalb des Gebietes der noch ungestalteten Natur erscheint uns freilich der Begriff des Geistes noch auf seiner untersten und uranfänglichsten Stufe, nehmlich als blosse N a t u r k r a f t , wie sie durch ihre eigene Wirksamkeit den ihr zu Grunde liegenden natürlich-geistigen Grundbegriff ihrer besonderen stofflichen Wesensart im räumlich-körperlichen Daseyn verwirklicht und erhält. Nicht ganz so einfach wie in Bezug auf das in sich selbständige Einzeldaseyn gestaltet sich jedoch dieses nehmliche begriffliche Wechselverhältniss von „ G e i s t und K ö r p e r " , wenn wir das-

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selbe in seiner Anwendung auf die allgemeine Naturentwickelung in das Auge fassen. An die Stelle jener noch einfachsten geistverwandten Wesensgrundkraft der besonderen Einzelwesen sehen wir nunmehr hier die gesammte noch ungestaltete allgemeine Stoff- und Körperwelt in ihrer Gesammtheit treten, als ersten und noch einfachsten und allgemeinsten U r g r u n d und Ausgangspunkt für die ganze Gesammtentwickelung alles natürlichen Wesens dieser Welt; an die Stelle jener noch einfachsten Wesensverkörperung in der Bedeutung von eigener innerlich - äusserlichen S e l b s t v e r k ö r p e r u n g sehen wir dagegen für den wesentlich erweiterten Standpunkt, den wir nun einnehmen, eine V e r k ö r p e r u n g h ö h e r e r A r t treten, von welcher das ganze Gebiet der noch ungestalteten Natur kein Beispiel aufzuweisen hat. Es ist dies jene besondere, zu dem eigentlichen persönlichen Ich und Selbst der betreifenden Naturwesen nicht mehr unmittelbar und unbedingt zugehörige f r e m d e ä u s s e r e L e i b - oder K ö r p e r l i c h k e i t , mit welcher nicht nur jedes Einzelwesen der gesammten natürlichen Seelenwelt, sondern auch jede einzelne Menschenseele sich k ö r p e r l i c h u m h ü l l t und gegen die übrige Aussenwelt in immer höheren Gestaltungs- und Erscheinungsweisen abg r ä n z t . Fechner fasst die beiden Gegensätze von K ö r p e r und G e i s t — und ebenso auch von Leib und Seele — von einer ganz ähnlichen Seite auf, wie es auch hier geschehen ist. Dieselben sind auch für ihn „nicht im letzten Grund und Wesen, sondern nur nach dem S t a n d p u n k t der A u f f a s s u n g oder Betrachtung verschieden". „Was sich selbst" — sagt er — „auf i n n e r e m Standpunkt geistig, seelisch (psychisch) erscheint, vermag einem Gegenüberstehenden vermöge dessen dagegen ä u s s e r e m Standpunkt nur in einer anderen Gestalt (Form) zu erscheinen, welche eben die des leiblich-stofflichen (oder vielmehr körperlichen) Ausdrucks ist" (FECHNEK: Zandavesta. II. S. 321. 322. 353. 362). „Der Grundfehler aller (bisherigen) Lehrgebäude (Systeme)" — sagt Schopenhauer

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in Bezug auf die soeben berührten Wechselverhältnisse — „ist das Verkennen der Wahrheit, dass die G e i s t i g k e i t und die S t o f f - o d e r K ö r p e r l i c h k e i t (der Intellect und die Materie) in Wechselbezug stehende Begriffe (Korrelate) sind, d. h. dass E i n e s n u r f ü r d a s A n d e r e da ist, und beide mit einander stehen und fallen: dass Eines nur der Widerschein oder Gegenpol (nur der Reflex) des Anderen ist; ja dass sie eigentlich E i n e s u n d D a s s e l b e sind, nur von zwei e n t g e g e n g e s e t z t e n S e i t e n betrachtet" (SCHOPENHAUEB: Welt a. Wille u. Vorst. II. S. 78). Und in ganz dem gleichen Sinn sprechen auch S e n g l e r und Oersted sich aus. „Es gibt drei Gattungen ursprünglicher allgemeiner Begriffe" — sagt Ersterer — „erstens den Begriff des G e i s t e s , zweitens den des K ö r p e r s und drittens den der V e r b i n d u n g b e i d e r " (d. i. des Begriffes der Seele). Und an einem anderen Orte: „Geist und Natur sind nur beziehungsweise und wechselseitige (relativ und correlative) Begriffe; jeder ist nur in Bezug auf den anderen, und durch diese Beziehung des einen auf den anderen hat jeder seine Bestimmung, oder einer ist durch den andern bestimmt. Damit hat weder die Natur noch der Geist ein selbständiges Wesen und Bestehen, sondern Eins ist durch das Andere bestimmt" (SENGLEB: Philos. u. Theol. S. 28; Idee Gottes. II 1 . S. 142). Und OEBSTED sagt ebenso: „Geist und Natur sind Eins, angesehen von zwei verschiedenen Seiten" (OEBSTED: Geist i. d. Nat. S. 87). Lenken wir nun unseren Blick auch auf die beiden Wechselbegriffe von „ G e i s t u n d N a t u r " , so nimmt unsere geistige Betrachtung nicht mehr ihren Standpunkt in jenen beiden Gränzpolen, sondern statt dessen in der sie verbindenden Mitte, d. h. in Bezug auf die natürlichen Einzeldinge und Einzelwesen in deren eigenem Inneren und also auch inmitten aller ihrer stets wechselnden inneren Wesenszustände und Wesensbeschaffenheiten. Richten wir nun von diesem unserem inneren Standpunkt aus unseren Blick nach

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u n t e n oder in die T i e f e : so gewahren wir auch in diesem Fall den G e i s t , gleichsam wie aus der Ferne, wieder in derselben noch untersten und einfachsten Wirkungsweise wie vorhin, aber doch zugleich auch mit einem ganz bestimmten Hinweis darauf, wie er nicht bloss das Daseyn und Wesen der Dinge begründet und erhält, sondern zugleich auch darauf, wie er als innerste natürliche Triebkraft und lebendige Kraftquelle als der erste, und eigentliche Naturgrund sich darstellt auch für alles dasjenige, was nur irgendwie im inneren Wesen der Dinge naturgemäss vorzugehen vermag, und damit auch für jede Veränderung, welche mit eben diesen inneren Vorgängen verbunden ist. Schauen wir aber nach o b e n oder in die H ö h e , so tritt zwar auch hier in erster Linie dieselbe innerlich-äusserliche S e l b s t v e r k ö r p e r u n g der Dinge im Allgemeinen uns entgegen wie vorhin. Fassen wir nunmehr aber auch, von dem gleichen Standpunkt ausgehend, die Natur im Grossen und Ganzen in ihrem gesammten einheitlichen Entwickelungsgang in das Auge: so haben wir dasselbe Bild vor uns wie vorhin in Bezug auf die beiden Wechselbegriffe von „ G e i s t u n d K ö r p e r " . Allein in unserem jetzigen Fall tritt eben doch noch entschiedener als in dem vorigen der Begriff der Natur als eines stets lebendigen W e r d e n s hervor, darinnen aus jenem noch untersten geistigen Naturgrund der allgemeinen Stoff- und Körperwelt immer neue und immer höher sich steigernder Daseynsformen als Angehörige der drei Reiche der Natur hervortreten, um schliesslich im M e n s c h e n g e i s t und dessen äusserer leiblichen Verkörperung die gesammte einheitliche Naturentwickelung, wie oben bemerkt, wenigstens in Bezug auf unsere Erde in ihrem höchsten uns bekannten Abschluss uns vor Augen zu stellen. A r i s t o t e l e s bezeichnet den Begriff der „ N a t u r " als den „in den Körpern selbst vorhandenen G r u n d (Princip) d e r B e w e g u n g " , wobei er jedoch wohl in erster Linie an den Lauf der Gestirne am Himmelszelt dürfte gedacht haben

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Himmelsgeb. S. 207). Und in Bezug auf die Weltanschauung der Stoiker sagt H e i n z e , dass dieselben unter N a t u r (Physis) „an nichts Anderes gedacht hätten, als an die Allem gemeinsame, überall wirkende und bildende G r u n d k r a f t (Princip) selbst". Und weiterhin fügt er noch hinzu: „Demnach ist für die Stoiker die N a t u r (Physis) auch die Urkraft (Princip), welche das Weltall (Universum) regiert, immer wieder Neues bildend aus dem Stoff des früher Geformten, die Kraft, von der alle Bewegung in der Welt ausgeht und die fortwährende Veränderung liebt. Der unausgesetzte (ewige) F l u s s der D i n g e kommt hier bei dem Begriff der Natur (Physis), die von einem zum anderen eilt, am deutlichsten in der stoischen Weltanschauung (Philosophie) zu Tage, während sonst dieser Vorgang (Process) nicht so stark hervorgehoben wird wie bei H e r a k l i t (dem Epheser)" (HEINZE: Logos. S. 103). Aus eben dieser Darstellung geht wohl hervor, dass auch die Stoiker, ähnlich wie AKISTOTELES, den Begriff der N a t u r hier wohl nur in seiner engsten Bedeutung dürften aufgefasst haben, nehmlich als vorherrschend nur auf Verhältnisse der noch ungestalteten Natur sich beziehend. Bei dem nahen verwandtschaftlichen Verhältniss, in welchem schon der blossen Wortbildung nach das griechische Wort P h y s i s , d. i. N a t u r , zu dem ihm sprachlich entsprechenden Wort P h y s i k , d. i. a l l g e m e i n e N a t u r l e h r e , steht, indem letztere bekanntlich ebenfalls nur ausschliesslich mit den Kräften, Erscheinungen und Gesetzen der noch rein stofflich-körperlichen Natur sich beschäftigt, finden jene Aussprüche auch noch eine gewisse sprachliche Bestätigung. Allein von der anderen Seite darf hierbei doch wohl nicht übersehen werden, dass nach HEINZE'S Hinweisung auf H E EAKLIT'S allgemeinen „Fluss der Dinge", wenigstens für die Weltanschauung der Stoiker, auch bereits ein gewisser Übergang von dem in sich scheinbar Todten und Leblosen oder von dem scheinbar Regungs- und Bewegungslosen zu dem (ARISTOTELES:

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Begriff des wirklich und eigentlich B e l e b t e n oder L e b e n d i g e n , als des in und durch sich selbst Bewegten und eben dadurch auch alles Andere Bewegenden, also, mit anderen Worten, ein Ubergang auch zu dem Begriff des eigentlichen Seelenlebens dürfte anzunehmen seyn. Denn nach LASSALLE galt für H 6 r a k I i t dessen stetiger und ununterbrochener F l u s s der E r s c h e i n u n g e n ebenso wie auch alles natürlichen W e r d e n s überhaupt als eine Einheit des Seyns im Kampfe mit seinem unbedingten Gegensatz, dem Nichtseyn. und demzufolge zugleich als die Einheit eines unausgesetzten Überganges aus Einer Daseyns- oder Erscheinungsweise in eine andere. Immer — sagt P l a t o — fliesst für HERAKLIT A l l e s n a c h oben und n a c h u n t e n , d. h. das Fliessen ist nichts Anderes als das immerwährende Umschlagen des Weges nach Oben und nach Unten. Alles Seyn, oder vielmehr Daseyn, ist somit nach H e r a k l i t ein unausgesetztes W e r d e n , ist unausgesetzte B e w e g u n g , ist F l u s s . Oder nach unserer Anschauungs- und Ausdrucksweise: alles natürliche Leben, Wesen und Daseyn ist ein beständiges Heraustreten aus dem innersten Wesensmittelpunkt und Wirken nach seinem Gegenpol oder nach der der Aussenwelt zugekehrten Wesensoberfläche, um sodann von dieser aus, beeinflusst durch äussere Einwirkungen, in entsprechender Rückwirkung nach dem Mittelpunkt zurückzukehren. H e r a k l i t schreibt diesen beständigen Fluss von unten nach oben und von oben nach unten — oder nach unserer Auffassungsweise dieses beständige Auf- und Abwogen im Inneren der betreffenden Einzelwesen — ausdrücklich allem Naturdaseyn zu. Dass er aber unter eben dieser letzteren Bezeichnung wirklich auch etwas in sich S e e l i s c h e s oder Seelenhaftes dürfte im Auge gehabt haben: dies geht aus dessen näheren Bestimmungen des Begriffes der „ S e e l e " und zwar des Beseeltseyns im eigent liehen Sinn des Wortes wohl unverkennbar hervor. Die Seele ist für ihn, wie bereits früher angedeutet, gewissermassen eine

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f e u r i g e oder feuerähnliche Verflüchtigung des Daseyenden und damit nach LASSALLE eine V e r m i t t e l u n g des s i n n l i c h b e s t i m m t e n Seyns (oder D a s e y n s ) m i t dem t h a t s ä c h l i c h e n a l l g e m e i n e n W e r d e n ; daher nach ARISTOTELES die Seele für HERAKLIT auch geradezu das „ i m m e r F l i e s s e n d e " selber bezeichnete (LASSALLE: Heracleitos. I . S . 2 8 6 — 3 0 4 . 143—154).

Wie die Begriffe des K ö r p e r s , der K ö r p e r l i c h k e i t oder der K ö r p e r w e l t uns vorhin zugleich auch den Begriff der N a t u r in seiner noch engsten Bedeutung vor Augen gestellt haben: so haben wir nunmehr in dem Begriff des e i g e n t l i c h b e s e e l t e n L e b e n s oder der eigentlichen S e e l e n welt, wie solche namentlich in den sogenannten „drei B,eichen der Natur" uns entgegentritt, zugleich den Begriff der „ N a t u r " in seiner w e i t e r e n Bedeutung vor uns. Denn hier haben wir so recht eigentlich die Begriffe des unausgesetzten W e r d e n s und des nie rastenden F l u s s e s der D i n g e im eigentlichsten Sinn des Wortes in ihrer natürlichen Ausgestaltung vor uns. In seiner w e i t e s t e n Bedeutung stellt jedoch der Begriff der „ N a t u r " sich uns dar, wenn wir denselben als die begriffliche E i n h e i t a l l e s d e s s e n auffassen, was ü b e r h a u p t in d i e s e r Welt v o r h a n d e n ist: also das ganze Gebiet des stofflich-körperlichen Daseyns, der Seelenwelt und der Geisteswelt in sich einschliessend. Es herrscht also hierin auch für den Naturbegriff ein ganz ähnliches Yerhältniss wie für die ihm verwandten Begriffe von Wesen, Leben, Stoff, Körper, Seele und Geist, wie solche ja auch in bald engerem bald weiterem oder selbst weitesten Sinn aufgefasst und demgemäss auch angewendet werden dürfen. Und so gestaltet sich für unsere geistige Anschauung denn auch schliesslich eben jener heraklitische Begriff des „ F l u s s e s der D i n g e " ebenfalls zu dem eines ganz allgemeinen, alles natürliche Daseyn ohne Ausnahme umfassenden regungs-, bewegungs- und lebensvollen W e r d e n s , ohne dass dadurch seine

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Zulassung auch in minder umfassendem Sinn hierdurch aufgehoben wäre. In diesem Sinn sagt auch Franz Hoff mann in Bezug auf SCHELLING'S Weltanschauung: „Die Stufenfolge der Naturreiche (Organisationen) und der Übergang von der (scheinbar) unbelebten zur belebten Natur verräth deutlich eine hervorbringende (produktive) Kraft, die erst allmählich sich zur vollen Freiheit entwickelt." Und weiterhin: „Man muss annehmen, dass auch in den Dingen ausser uns ein G e i s t herrsche, der dem unseren verwandt und ähnlich (analog) ist. Denn nur in einem Geist von schöpferischem Vermögen kann B e g r i f f und W i r k l i c h k e i t oder G e i s t und N a t u r (Ideales und Reales) sich so durchdringen und vereinigen, dass zwischen beiden keine Trennung möglich ist. D i e O r d n u n g u n d die G e s e t z e (das System) d e r N a t u r s i n d s o m i t z u g l e i c h a u c h die O r d n u n g u n d die G e s e t z e d e s G e i s t e s " (FEOHSCHAMMEB: Athenä. III. S. 32. 42. 45). Ebenso sagt Baader, dass es wohl „einen n a t u r f r e i e n " (d. h. über das bloss-gewöhnliche Naturdaseyn erhobenen und dasselbe beherrschenden), „aber k e i n e n n a t u r l o s e n G e i s t gebe". Und weiterhin: „Die bisherige unbestimmte und vielwendige Deutung des Wortes „ G e i s t " im Gegensatz zu dem Worte „ N a t u r " bat viele Missverständnisse veranlasst. Wer nehmlich einen geistigen Grund (Princip) i m m e r der stofflichen Körperlichkeit (der Materie) anerkannte, glaubte hiermit schon einen zu bewusster Vernunftthätigkeit entwickelten (intelligibeln) Geist anzuerkennen und vermengte also Jene mit Letzterem." Und ebenso sagt er an einem anderen Orte mit Bezugnahme auf HEGEL'S Weltanschauung: „Wenn H E G E L schon den richtigen Begriff des Verhältnisses (Relation) des G e i s t e s zur N a t u r aufstellte, indem er zeigte, dass der Geist nur durch E i n g e h e n in d i e N a t u r und durch aufhebendes Durchgehen durch die Natur seine Verwirklichung (als thatsächlich in sich vollendeter Geist) gewinnt: so bemerkt er doch nicht, dass und wie mittelst dieser Aufhebung

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die N a t u r s e l b s t e r h o b e n , v o l l e n d e t und v e r g e i s t i g t wird, weil die selbstlose (d. i. ihrer selbst noch unbewusste) Natur n i c h t ohne den G e i s t und dieser n i c h t ohne j e n e fertig wird. Darin hat HEGEL Recht, dass er, die Begriffe des G e i s t i g e n (Ideen) und der N a t u r unterscheidend, Ersteres als ein T i e f e r e s auffasste. Das Tiefere bedeutet hier eigentlich das (begrifflich) Höhere, weil der Geist (die Idee) und die Natur als H ö h e und T i e f e in Bezug auf den G r u n d , als ihre Mitte (oder gemeinsamen Mittelpunkt) zu fassen sind, wie sie denn auch nur in diesem Bezug Bedeutung haben." Und wenn BAADER etwas weiter fort eben dieses Aufsteigen (Ascensus) aus der T i e f e , d. h. aus der noch untersten Daseynsstufe der allgemeinen Stoff- und Körperwelt, als die W u r z e l , die Höhe dagegen oder das letzte Endziel, auf welches die gesammte Weltentwickelung abzweckt, als die K r o n e , und die beide verbindende M i t t e , d. i. die Natur in ihrer weitesten Bedeutung, als den S t a m m bezeichnet, den gesammten Entwickelungsgang der Natur daher gewissermassen dem natürlichen Wachsthum der Pflanzenwelt vergleichend an die Seite stellt: so hätte er wohl kaum ein entsprechenderes Bild für eben dieses wechselseitige Naturverhältniss zwischen „Geist und Natur" e i n e r s e i t s und „Natur und Geist" a n d e r e r s e i t s wählen können. Endlich sagt BAADER an einem anderen Ort, an den Begriff des Wesens anschliessend: . „Das Wort «Wesen» schliesst immer den Begriff eines U n t e r g e o r d n e t e n oder N a c h f o l g e n d e n (eines Secundären) in Bezug auf dessen ü b e r n a t ü r l i c h e n G e b ä r e r (d. i. in Bezug auf den eigentlich geistigen Grundbegriff der Dinge, durch welchen, als zugleich geistig treibende Naturkraft, das natürliche Wesen der Dinge bewirkt wird) in sich. Wobei ich nur bemerke, dass dieser Unterschied des g e i s t i g e n und w e s e n t l i c h e n (des essentiellen und substantiellen) Zustandes nicht minder für den G e i s t als für dessen N a t u r oder Leib gilt; und 2) dass beide hierin als Ganzes

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(in solidum) verbunden sind, oder dass d e r G e i s t n i c h t o h n e die N a t u r , D i e s e n i c h t o h n e J e n e n zur wesenhaften Vollendung (zur Substanzirung) des Seyns gelangt. Um daher den Begriff der Natur eines Dinges uns klar zu machen, brauchen wir nur den Begriff dieses Letzteren (d. h. den Begriff von dessen besonderer Wesensart) uns klar zu machen" (BAADER I I . S . 3 7 7 ; I V . S . 3 4 ; I X . S . 9 4 . 3 0 2 . 3 0 5 ; X . S. 3 3 .

319; FROHSCHAMMER: Athenä. II. S . 54. 547 [BAADER: Naturphilos.]). Mit Bezugnahme auf eben diese Darlegungen von von Seiten BAADER'S sagt L u t t e r b e c k , aus dieser Lehre BAADER'S gehe hervor, „dass jedes G e i s t i g e ein Sinnbild und sichtbares Wahrzeichen (ein Symbol) an dem S i n n l i c h e n habe, und umgekehrt jedes S i n n l i c h e über sich hinausweise auf ein G e i s t i g e s . Es ertheilt dies — fügt LUTTERBECK hinzu — in den Augen des sinnigen Beobachters allem N a t ü r l i c h e n e i n e g e i s t i g e V e r k l ä r u n g und allem G e i s t i g e n e i n e V e r d e u t l i c h u n g im S i n n l i c h e n " . Und an einem weiteren Orte bezeichnet er: „Das L e b e n d i g e als Mitte eines Inneren und Ausseren," indem er ausdrücklich hinzufügt, dass dieser „allgemeine Begriff offenbar nicht bloss auf den menschlichen (den intelligenten) Geist passt, sondern ebensogut auch auf den noch nicht bis zu seiner ganzen und vollen Geistigkeit erhobenen (den nicht intelligenten). Es versteht sich, dass, wenn man in diesem letzten Sinn auch der N a t u r als solcher G e i s t beilegt, man sie nicht als ein Ausserliches ohne Innerliches aufgefasst wissen will, und in ihr also nicht bloss etwas B e s e e l t e s , sondern auch etwas B e s e e l e n d e s , d. h. Kraft von innen Ausübendes. Ist es aber unzweifelhaft, dass in der uns unmittelbar entgegentretenden Natur lebende Naturwesen (Organismen) vorhanden sind, und dass in einigen dieser auch thierische (animalische) Erscheinungen höherer Art, wie Sinneswahrnehmungen, Begierden u. s. w. zu Tage treten: so kann alles dieses den ursprünglichen Grundbestandt e i l e n (dem Urelemente) der Natur, d. h. jenem (noch unent-

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wickelten) Natur-, Stamm- oder Elementargeist keineswegs abgesprochen werden; sondern ist vielmehr als Keim demselben als von vornherein innewohnend zu betrachten, weil sonst die Natur Wesen dieser Art offenbar n i c h t hervorbringen könnte" (FROHSCHAMMER: Athenä. II. S. 385; III. S. 183. 184). Dass unter der Bezeichnung von Natur-, Stamm- oder Elementargeist hier unmöglich ein Anderes kann verstanden seyn, als eben jene einheitliche geistverwandte Ur- und Grundkraft der Natur, auf deren uranfänglicher Wirksamkeit alles natürliche Daseyn dieser Welt besteht: dies ist nach dem ganzen hier dargelegten Gedankengang wohl deutlich zu ersehen. So sagt auch C a r u s : „Bei so vielen, ja unzähligen Versuchen, das Wesen des G e i s t e s und der N a t u r zur vollständigen Klarheit der Erkenntniss zu bringen, blieb es allemal eine empfindliche Lücke, schlechterdings nicht erklären zu können, wie zwei Wirkungsgebiete von so entgegengesetzter Beschaffenheit wie Natur und Geist doch fortwährend in einander wirken könnten, und zwar dergestalt, dass selbst die Möglichkeit des Entstehens beider nur an diese Wechselwirkung geknüpft sey. Und gewiss ist es, dass, wenn man davon ausgeht, beide nur in reiner ursprünglicher V e r s c h i e d e n h e i t zu denken, man nie und n i m m e r m e h r begreifen wird, wie ein Uberwirken des Einen in das Andere irgendwie möglich seyn könne. Anders dagegen freilich da, wo die u r s p r ü n g liche E i n h e i t b e i d e r als erste unbedingte Wahrheit, als die e i g e n t l i c h e G r u n d l a g e j e d e r E r k e n n t n i s s allem vorausging und nicht aufgegeben wurde. In diesem Fall versteht sich die i n n i g s t e W e c h s e l w i r k u n g b e i d e r nothwendig von selbst, und für immer ist es klar, dass N a t u r ohne G e i s t ein ebensolches Ding der U n m ö g l i c h k e i t bleibt, wie G e i s t ohne N a t u r " (CARUS: Natur und Idee. S. 7. 8). S c h ö l l i n g weist endlich auch noch darauf hin, dass niemand sage: „ S e e l e und Körper," wohl aber „ S e e l e und L e i b , " und dass, „wer wissenschaftlich spreche," „ G e i s t

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und K ö r p e r " sage (SCHELLING II. Abth. I. S. 4 6 0 ) . Dieser Ausspruch bezieht sich augenscheinlich auf die äusserliche Leiblichkeit oder Körperlichkeit, wie solche den Angehörigen sowohl des natürlichen Seelen- wie des Geisteslebens zukommt, und das nahe Verhältniss, in welchem die beiden Begriffe von „Seele" und von „Geist" zu einander stehen, erklärt und rechtfertigt zugleich auch vollkommen, weshalb schon der Sprachgebrauch, wie durch ein inneres richtiges Gefühl geleitet, sich stets des Ausdruckes „Seele und Leib" oder auch „Leib und Seele", nicht aber des Ausdrucks „Seele und Körper" oder „Körper und Seele" bedient. Denn der Begriff der Seele bezeichnet das lebendig-wesenhafte I n n e r e eines jeden Naturdaseyns, und da wir bereits bei einer früheren Gelegenheit darauf hingewiesen (IV. § 18, No. 90), dass wir unsere eigene äussere Leib- oder Körperlichkeit im Allgemeinen als „Leib" zu bezeichnen pflegen, wenn wir uns im Geiste wie der Arzt in das I n n e r e derselben versetzen, als „ K ö r p e r " aber, wenn wir dieselbe von aussen her betrachten, wie z. B. der Bildhauer sein Werk: so geht aus eben dieser Verschiedenheit auch hervor, dass dem Begriff der Seele als des einen Daseynspoles auch nur allein der Begriff des L e i b e s als des anderen Poles, als begrifflich-richtiger Gegensatz sich darstellen kann. Und ähnlich verhält es sich in Bezug auf den Begriff des G e i s t e s und seines natürlichen Gegenpoles. Wie der Begriff der Seele dem des I n n e r n entspricht: so der Begriff des G e i s t e s dem des I n n e r s t e n . Dem I n n e r s t e n aber entspricht als natürlicher wie begrifflicher Gegenpol das A u s s e r s t e , und dies ist für das Einzelding oder Einzelwesen dessen eigene und unmittelbare und darum zu seinem eigenen Wesen noch unbedingt zugehörige äusserlich-oberflächliche W e s e n s v e r k ö r p e r u n g , für das Gebiet der eigentlichen Geisteswelt dagegen dessen aus fremden stofflichen Körpern aufgebaute ä u s s e r e K ö r p e r l i c h k e i t oder sein „ K ö r p e r " . Daher für diesen Fall der Ausdruck „ G e i s t Wandersmauu.

II.

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und K ö r p e r " oder „ K ö r p e r und G e i s t " auch als das allein Richtige sich darstellt. Gleichzeitig aber weisen diese eben besprochenen begrifflich-natürlichen Verhältnisse uns auch noch darauf hin, wie für unsere menschlich-geistige Persönlichkeit die beiden Begriffsverbindungen von „ G e i s t und K ö r p e r " und Von „ G e i s t und N a t u r " gewissermassen in Eins zusammenfallen und wechselseitig in ganz ähnlicher Weise sich decken, wie für das Bereich des natürlichen Seelenlebens die Begriffe von „ S e e l e und N a t u r " und von „ S e e l e und L e i b " . Es bleibt daher nach allem diesem ganz ebenso richtig, ob wir sagen: „Der G e i s t verhalte sich zur Seele, wie der L e i b zum K ö r p e r , oder der G e i s t verhalte sich zu seinem K ö r p e r , wie die Seele zu ihrem L e i b . " Dabei bleibt dieses begriffliche Wechselverhältniss ganz dasselbe, ob wir die Begriffe von Leib und Körper auf jene noch rein innerliche Leiblichkeit und auf jene äusserlich-oberflächliche Wesensverkörperung der natürlichen Einzeldinge und Einzelwesen beziehen, oder auf jene dem Seelenwesen selber nicht mehr angehörige fremde äussere Leib- oder Körperlichkeit, wie solche allem eigentlichen Seelen- und Geistesdaseyn zukommt. Denn wie in dem ersteren Fall das Wesen oder die Seele, sey sie stofflicher, seelischer oder geistiger Natur, allewege genau jenem uranfänglichen Wesensgrundbegriff entspricht, als dessen wesenhafte Verwirklichung sie in jeder Beziehung muss betrachtet werden: ganz ähnlich oder ebenso muss auch in dem anderen Fall die fremde äusserliche Leiboder Körperlichkeit jenem innersten Wesensgrundbegriff in allen Stücken als entsprechend anerkannt werden; denn auch die natürliche wie die vergeistigte Seele kann ihre äussere Leib- oder Körperlichkeit, auch wenn sie zu deren Darstellung fremder stofflicher Körperwesen sich bedienen muss, allewege nur auf Grund ihrer eigenen inneren Natur, d. i. ihres eigenen inneren Wesens und ihres eigenen innerlichen Seelenleibes, verwirklichen. Dieses hat seinen einfachen Grund darin, dass

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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dieser höhere Selbstoffenbarungstrieb vermittelst eines fremden äusseren Leibes oder Körpers nur auf demselben begrifflichgeistigen Wesens- und Daseynsgruncl beruhen und aus dessen Wirksamkeit hervorgegangen seyn kann, von welchem auch jene an sich rein innerlich bleibende, innerlich-oberflächliche Selbstverleiblichung oder äusserlich-oberflächliche Selbstverkörperung der einfachen Naturwesen ausgeht; gleichviel ob eben diese einfachen Naturwesen noch dem Gebiet der noch ungestalteten Natur angehören oder bereits zum Range wirklicher Seelen- oder Geisteswesen sich innerlich-wesenhaft erhoben haben.

N o . 113.

Die Monaden des Leibnitz.

Wir haben bereits der Ansicht F e c h n e r ' s erwähnt, nach welcher die stofflich-körperlichen Einzelwesen keine räumliche Grösse und Ausdehnung besitzen, sondern nur als einfache, völlig r ä u m - , grossen- und a u s d e h n u n g s l o s e K r a f t p u n k t e zu betrachten seyn sollen. Befangen in dem irrthümlichen Wahne einer vermeintlichen unendlichen Theilbarkeit aller gegebenen endlichen Körpergrössen hatte man lange Zeit geglaubt, die von der Vernunft gebotene Untheilbarkeit aller stofflich-körperlichen Ur- und Einzelwesen nur dadurch retten zu können, dass man sie zu blossen Punkten herabwürdigte, und weil man wohl fühlte, dass aus reinen räum- und wesenlosen Punkten, d. h. aus völligen Nichtsen, selbst wenn man deren noch so viele bei einander denkt, keine wirkliche Grösse, ja nicht einmal eine an sich wesen- und inhaltlose Raumgrösse gewonnen werden kann, geschweige denn eine wirklich wesenhafte Körpergrösse: so machte man jene raumund wesenlosen Punkte zu eben solchen raumlosen K r a f t p u n k t e n , meinend, aus solchen Kraftpunkten, ohnerachtet sie selber weder Raum noch Grösse noch Ausdehnung besitzen sollen, nunmehr für das vernunftgemässe Denken wirklich 15*

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

ausgedehnte körperliche Grössen nicht nur von bestimmtem räumlichen Umfang, sondern auch von bestimmtem stofflichen Inhalt und von eigenem inneren Wesen gewinnen zu können. Auf die Irrthümlichkeit dieser Anschauung haben wir bereits früher hingewiesen. Doch finden wir uns genöthigt, hier nochmals darauf zurückzukommen und zwar in Folge des Verhältnisses, in welchem eben jene an sich noch rein stofflich-körperlichen Einzelwesen nothwendig auch zu den seel i s c h e n o d e r b e s e e l t e n E i n z e l w e s e n , nehmlich zu den eigentlichen natürlichen S e e l e n w e s e n und ebenso auch zu den eigentlichen G e i s t e s w e s e n stehen müssen. Denn bekanntlich hat bereits L e i b n i t z , von der damaligen Grundanschauung ausgehend, dass alles, was einen R a u m erfüllt, auch nothwendig bis ins Unendliche müsse g e t h e i l t werden können, für die ganze stoffliche wie seelische und geistige Natur ähnliche völlig raumlose und eben darum auch völlig untheilbare natürliche U r - E i n h e i t e n oder K r a f t p u n k t e angenommen, welche er nach dem Worte m o n a s , d. i. das Eins, M o n a d e n nannte, und welche nach seiner Ansicht allem natürlichen Daseyn ohne Ausnahme zu Grunde liegen sollten. Es ist dies also bereits dieselbe Grundanschauung wie diejenige, zu welcher neuerlich auch F E C H N E K sich bekannt hat, nur mit dem Unterschied, dass F E C H N E K seine raumlosen Kraftpunkte, welche er nach alter Sitte A t o m e , d. h. die U n z e r s c h n e i d b a r e n nannte ( F E C H N E K : Atomenl. S. 132. 135. 136), im Grunde nur auf die ungestaltete Natur bezogen hat. Ein ganz ähnliches Yerhältniss hat es mit H e r b a r t ' s sogenannten „ R e a l e n " , d. h. w i r k l i c h e n Natureinheiten, welche er sich ebenfalls als derartige raumlose Kraftpunkte vorstellte. HERBAKT glaubte an der völligen Raumlosigkeit der letztgültigen Grundbestandtheile alles Vorhandenen ebenfalls festhalten zu müssen, indem auch er der irrthümlichen Anschauung sich hingab, dass nur auf diesem Wege allein eine vollgültige Untheilbarkeit jener letzten Grundeinheiten der

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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Natur könne gerettet werden. Freilich in dem blossen Punkt gibt es selbst in Gedanken nichts mehr zu theilen. Die Gründe, welche überhaupt gegen die Annahme solcher raumloser Kraftpunkte oder Atome für die stofflich-körperliche Natur sprechen, haben wir bereits an einem früheren Orte (III. § 12, No. 49, 50, 51, 52) eingehend dargethan. Sie müssen selbstverständlich, wie für die noch ungestaltete Natur, so auch für alle Einzelwesen der eigentlichen Seelen- wie der Geisterwelt ihre volle Geltung unverändert beibehalten. Doch kommen nichtsdestoweniger gerade in Bezug auf die eigentlichen Seelen- und Geisteswesen noch einige weitere Bedenken und Schwierigkeiten hinzu, welche geeignet seyn dürften, die Unhaltbarkeit einer jeden derartigen Naturanschauung noch um so mehr an den Tag zu legen. Ein jeder Kraftpunkt, mag er als solcher von stofflicher, seelischer oder geistiger Art seyn, würde als ein völlig zweckloses D a s e y n sich darstellen, falls die ihm zukommende Kraftfülle allewege in ihrem an sich raumlosen Ursitz vollständig eingeschlossen bliebe. Denn es würde einem derartigen Kraftpunkt unter solchen Umständen jedes Vermögen dazu abgehen, sich in Wirklichkeit und Wahrheit auch nur als dasjenige kundzugeben und zu bewähren, was er seinem N a m e n n a c h seyn soll, nehmlich als ein wirklicher und wahrer K r a f t p u n k t . Eine Kraft, die nicht aus sich selbst herausgeht, die nicht aus eigener Machtvollkommenheit in thatkräftiger Wirksamkeit aus und über sich selbst und ihren raumlosen Ursitz hinaus sich selbständig einen eigenen wesenhaften Raum um sich selbst herum als natürlich - eigenes Heim gründen und auf solche Weise auch als eine wirklich Raum-Wesen und Daseyn begründende Kraft und Macht sich kund zu geben vermöchte: eine solche Kraft wäre im Grunde so gut wie g a r k e i n e K r a f t . Denn ihrer wirklichen und thatsächlichen Bedeutung nach würde sie sich als nichts mehr darstellen wie auch das reine Nichts selber, weil ihr alles Vermögen, als ein wirklich wesenhaftes Daseyn

230

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

in irgendwelche äussere Erscheinung zu treten, von Haus aus ein für allemal gänzlich abginge. L e i b n i t z , der diesen Einwand wohl erwarten mochte, glaubte demselben einfach dadurch zu entgehen, dass er annahm, dasjenige, was diesen raumlosen Kraftpunkten im Einzelnen nicht möglich sey, werde als möglich sich darstellen, sobald wir diese Kraftpunkte nicht in ihrer Vereinzelung ins Auge fassen, sondern dieselben in kleineren oder grösseren G r u p p e n oder Z u s a m m e n h ä u f u n g e n von solchen einzelnen Kraftpunkten uns geistig vergegenwärtigen. Bekanntlich drückt er sich über eben diese Verhältnisse folgendermassen aus: „Die M o n a d e ist eine e i n f a c h e S u b s t a n z , welche V e r b i n d u n g e n mit anderen ebensolchen zusammengesetzten Substanzen eingeht: e i n f a c h e , d. i. ohne Theile. Einfache Substanzen muss es geben, weil es zusammengesetzte gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts als eine Anhäufung oder ein aggregatum von Einfachem. Wo k e i n e T h e i l e sind, da ist auch keine A u s d e h n u n g , k e i n e Ges t a l t , k e i n e m ö g l i c h e T h e i l b a r k e i t ; die Monaden sind die wahren Atome der Natur, mit einem Wort, die E l e m e n t e der D i n g e " (ZIMMERMANN: LEIBNITZ, Monadol. S. 1 1 . § 1. 2. 3 ; LEIBNITZ S. 7 0 5 ) . Die Art und Weise, wie LEIBNITZ es sich selber vorgestellt haben mag, dass durch blosse Zusammenhäufungen oder Zusammengruppirungen solcher an sich selber raumloser Kraftpunkte oder Monaden wirklich wesenhaft ausgedehnte Bäume oder wesenhaft ausgedehnte Körper sollen hervorgehen können, während eine jede Befähigung hierzu den an diesen Gruppirungen theilhabenden einzelnen raumlosen Kraftpunkten oder Monaden nothwendig abgeht; dies ist in Folge der gedrängten Kürze der gesammten Darstellung des einheitlichen Gedankens schwer ersichtlich. Denn da seine Monaden nach seiner eigenen Annahme nur völlig raumlose Punkte darstellen, Punkte als solche sich aber weder a n e i n a n d e r r e i h e n lassen, noch demzufolge jömals Wechsel-

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

231

seitig sich b e r ü h r e n können: so ist es klar, dass alle diese in einer derartigen Monadengruppe beisammen befindlichen Kraftpunkte allewege durch irgend einen ganz bestimmten und an sich messbaren Raum von einander getrennt und geschieden seyn müssen. Es bleibt sich dabei ganz gleich, wie klein oder wie gross derselbe von uns mag gedacht werden. Da nun aber einzig und allein nur die raumlosen Kraftpunkte als wirkliche Träger von irgendwelcher Kraft sich darstellen, so geht unmittelbar und folgerichtig hieraus hervor, dass alle diese die einzelnen Monaden von einander trennenden Räume nur allein als an sich völlig k r a f t l o s , darum auch völlig wesenlos und völlig u n v e r m ö g e n d zum Bewirken auch nur des allergeringsten, was man denken mag, müssen aufgefasst werden. Derartige Räume aber, wenn es derselben thatsächlich innerhalb der bestehenden Naturordnung geben könnte, würden in keiner Weise als T r ä g e r oder als thatsächliche F o r t l e i t e r von Kräften oder von Kraftwirksamkeiten gelten können. Denn das an sich wesenlose Nichts vermag auch nichts zu tragen noch durch sich hindurch von einem Ort nach einem anderen irgend etwas hinüber zu leiten. Eine jede Möglichkeit für irgendwelche K r a f t a u s w i r k u n g von der einen wie für eine jede K r a f t e i n w i r k u n g von der anderen Seite muss unter solchen Umständen ein für allemal a u s g e s c h l o s s e n bleiben. Denn wollten wir auch annehmen, irgend ein solcher raumloser Kraftpunkt wollte es versuchen in irgend eine Wechselwirkung mit seinen Nachbarn zu treten: der ihn von diesen trennende kraft- und wesenlose Raum, wenn er auch noch so klein sei, müsste ihm alsbald als ein unübersteigbares Hinderniss entgegentreten. Aber eben hieraus muss es sich auch als letztes Schlussergebniss für alle derartigen Verhältnisse ergeben, dass die einzelnen Monaden oder raumlosen Kraftpunkte in allen möglichen Zusammengruppirungen oder Zusammenhäufungen zu irgendwie bestimmten Sondergruppen sich allewege wechselseitig in ganz ebenso

232

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

v e r e i n z e l t e n und v e r e i n s a m t e n Lagen oder Stellungen befinden müssen, als wenn sie völlig allein und ohne diese Zusammengruppirungen gedacht werden. Keine auch noch so kleine wechselseitige Einwirkung zwischen den Monaden unter sich kann stattfinden und an jede irgendwelche w e s e n h a f t e R a u m - o d e r K ö r p e r b i l d u n g vermag in dem einen Fall ganz ebensowenig gedacht zu werden, wie in dem anderen. Auch hier also muss der Satz gelten, dass dem G a n z e n als solchem keine Kräfte, keine Vermögen und keine Eigenschaften zukommen können, die nicht schon an sich s e i n e n e i n z e l n e n B e s t a n d t h e i l e n zukommen. Vermögen die einzelnen Monaden als raumlose Kraftpunkte es nicht, einen wesenhaften Raum durch ihre eigene Kraft darzustellen, so ist dies auch keiner Vielheit derselben möglich: in dem einen wie in dem anderen Fall also kommt man über die den Einzelmonaden angeblich anhaftende oder anklebende Raumlosigkeit nicht hinaus. Tiedemann macht zu der oben angeführten Darstellung von Seiten des LEIBNITZ folgende Bemerkung: „Es gibt (nach LEIBNITZ) zwar k e i n e stofflich-körperlichen (keine materiellen) Einzeldinge oder A t o m e d e r A u s d e h n u n g , wohl aber einzelne K r a f t p u n k t e (formelle Atome), d. i. wahre Wesenseinheiten (Einheiten der Substanz), w a h r e M o n a d e n . Aber aus solchen Grundeinheiten (Grundsubstanzen) wird nie ein Ausgedehntes. Ist das stetig Verlaufende (Continuum)' ohne Ende t h e i l b a r , und sind Punkte n i c h t Grundbestandtheile (Elemente) der Ausdehnung, so folgt unmittelbar, dass die Monaden n i c h t G r u n d b e s t a n d t h e i l e (Elemente) der Ausd e h n u n g , nicht M a s s e n b e s t a n d t h e i l e (oder atomi molis) sind, d. h., dass die Körperausdehnung n i c h t aus Wiederholung von mehrerem Unausgedehntem und Undurchdringlichem entsteht. Die einfache Wesenheit (Substanz) hat nach LEIBNITZ zwar k e i n e A u s d e h n u n g : sie hat aber doch eine S e t z u n g (positionem), d. i. örtliche Lage oder Stellung,

D e r allgemeine Wechselverkehr aller D i n g e ete.

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welche der G r u n d der Ausdehnung ist (oder vielmehr seyn soll). Denn A u s d e h n u n g ist (nach LEIBNITZ) g l e i c h z e i t i g e (simultane) und an e i n a n d e r h a n g e n d e W i e d e r h o l u n g der S e t z u n g (simultana continua positionis repetitio); wie wir sagen, d a s s aus der B e w e g u n g des P u n k t e s e i n e L i n i e w i r d . " TIEDEMANN reiht hieran noch die weitere Bemerkung: „Dass aber dies der Lehre, d a s s P u n k t e n i c h t G r u n d b e s t a n d t e i l e (Elemente) d e r A u s d e h n u n g sind (noch seyn können), und dass die einfachen Wesenheiten (Substanzen) n u r als K r ä f t e (oder blosse K r a f t p u n k t e ) gelten, widerspricht, scheint LEIBNITZ nicht beachtet zu haben. Weit richtiger drückt er sich aus, wenn er die zusammengesetzte Wesenheit (Substanz) bloss als ein Haufwerk (Aggregat) von einfachen Wesenheiten betrachtet, welcher die Ausdehnung n u r dem S c h e i n n a c h zukommt. Dass mehrere Punkte, auch wenn sie Undurchdringlichkeit haben (d. h. reine Kraftpunkte sind), k e i n e A u s d e h n u n g hervorbringen, behauptet LEIBNITZ anderswo (Opp. T. II. ps. I. p. 284) durch folgenden Beweis: man theile ein Dreieck oder eine Pyramide von der Spitze bis auf die Basis, so entstehen mehrere, sogar unendliche (d. h. unendlich viele) Dreiecke, die aber alle einen g e m e i n s c h a f t l i c h e n P u n k t zur S p i t z e haben. Also machen die einzelnen Punkte an der 'Spitze jedes besonderen Dreiecks oder jeder besonderen Pyramide k e i n e A u s d e h n u n g aus. Ein scharfsinniger, aus der Tiefe geschöpfter Beweis, der aber strenge Prüfung schwerlich aushalten dürfte. Die Ausdehnung" [— setzt LEIBNITZ an eben diesem Orte hinzu — „entsteht aus der Lage, und das will wohl sagen: aus dem Auseinanderseyn. Kurz, LEIBNITZ wende sich wie er will, er entgeht einem Widerspruch mit sich selbst und mit den deutlichsten und richtigsten Begriffen nicht. Diese gleichzeitig zusammen bestehenden (coexistirenden) Monaden haben (nach LEIBNITZ) k e i n e Nähe oder Entfernung, die sich auf den Raum bezieht; sie sind w e d e r

234

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

in Einem Punkt zusammengehäuft, noch im Räume zerstreut. Wer das g l a u b t " — fügt TIEDEMANN hinzu — „bedient sich e r d i c h t e t e r V o r s t e l l u n g e n , weil er sich bildlich vorstellen will, was doch nur durch den blossen Verstand gedacht (oder vielmehr sich eingebildet) werden kann" (TIEDEMANN: Geist d. spek. Philos. VI. S. 398. 400—403). Es ist wohl kaum zu verkennen, wie sehr LEIBNITZ in seinen Darstellungen sich in Widersprüche verwickelt. E i n e r seits behauptet er eine völlige R a u m l o s i g k e i t seiner Monaden , und gründet : die Nothwendigkeit einer solchen Annahme auf den bekannten Satz der allgemeinen Raum- und Grössenlehre, dass eine jede räumliche Grösse, so klein wir dieselbe auch denken mögen, bis ins Unendliche theilbar seyn müsse, weil man dieselbe in unserer Vorstellung fortwährend halbiren und immer weiter halbiren und wieder halbiren könne, ohne damit jemals bis zu irgendeinem bestimmten Ende und Abschluss zu kommen. A n d e r e r s e i t s behauptet er aber auch ebenso bestimmt, dass seine raumlosen Monaden als die natürlichen G r u n d l a g e n und natürlichen G r u n d b e s t a n d t e i l e alles Vorhandenen und also auch einer jeden räumlichen Körpergrösse angenommen werden müssen. Nun sagt aber, wie wir schon früher angeführt, ein alter Wahrheitssatz, dass, was a u s T h e i l e n b e s t e h t oder zusammengesetzt ist, auch in eben diese seine körperlichen Bestandtheile müsse g e t r e n n t oder z e r l e g t werden können, und zwar — wenn auch nicht immer thatsächlich, so doch wenigstens in Gedanken der Möglichkeit nach — in genau dieselbe A n z a h l von Theilen oder Theilchen, welche in dem betreffenden Körper seiner bestimmten Zusammensetzung nach thatsächlich vorhanden sind. Wenn also nach LEIBNITZ ein jeder Körper, von welcher räumlichen Grösse und Ausdehnung wir uns denselben auch denken mögen, aus unendlich vielen Theilchen bestehen soll: so stehen hier A n n a h m e und wirkliche A u s f ü h r u n g , auch wenn wir solche nur in Gedanken

Der allgemeine Wecliselverkehr aller Dinge etc.

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vorzunehmen versuchen, in einem offenbaren W i d e r s p r u c h , eben weil einerseits die A n n a h m e oder B e h a u p t u n g und andererseits die A u s f ü h r u n g der hierdurch gleichsam zur Probe auf die Richtigkeit jener Behauptung gestellten A u f g a b e nimmermehr im Stande sind oder vernunftgemäss im Stande seyn können, einander jemals wechselseitig zu decken. Denn nach dem eben angeführten alten Wahrheitssatz müssten wir, wenn der Körper wirklich a u s u n e n d l i c h vielen r a u m losen P u n k t e n b e s t ä n d e , schliesslich bei fortgesetzter Theilung auch wirklich einmal bis zu einem solchen u n e n d l i c h k l e i n e n T h e i l c h e n , d. h. bis zu einem solchen w i r k l i c h r a u m l o s e n K r a f t p u n k t oder einer w i r k l i c h r a u m l o s e n M o n a d e v o r d r i n g e n , was aber nie und nimmermehr, auch selbst nicht in Gedanken oder in unserer Vorstellung, zu vollziehen ist, aus dem ganz einfachen Grund, weil nach einem andern Ausspruch der Raum- und Grössenlehre es überhaupt ganz undenkbar und unmöglich ist, dass ein in räumlicher Beziehung wirklich A u s g e d e h n t e s — mögen wir dasselbe nun als blossen Raum an sich und als solchen in das Auge fassen, oder als irgendwelche räumlich-wesenhafte Körperlichkeit, — jemals a u s bloss r a u m l o s e n P u n k t e n zusammengesetzt seyn könnte. Daher ist es auch ganz richtig, wenn Tiedemann gerade in Bezug hierauf noch die weitere Bemerkung hinzufügt: „Übel ist bei dem ganzen Schluss, dass LEIBNITZ dabei die endlose Theilbarkeit der Körper vertheidigt, mithin dem Schluss seine ganze Kraft nimmt. Nur dadurch ist es möglich, das D a s e y n des E i n f a c h e n u n d Z u s a m m e n g e s e t z t e n zu e r w e i s e n , dass das Zusammengesetzte einen letzten Grund haben muss; wo aber T h e i l b a r k e i t ohne a l l e s E n d e ist (oder angenommen wird), da laufen die Gründe ohne Stillstand fort, und da ist (oder da ergibt sich vielmehr) auch k e i n E i n f a c h e s " (TIEDEMANN, a. a. 0 . VI. S. 4 1 5 ) , d. h. kein Einfaches im Sinn von LEIBNITZ als völlig raumlose Punkte, daraus ein Zusammengesetztes

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechsel Verhältnissen.

von wirklich räumlicher Ausdehnung angeblich soll gebildet oder zusammengesetzt seyn, und also auch umgekehrt soll gebildet oder zusammengesetzt werden können. Kant sagt, dass, wo ein Etwas seiner Oberfläche oder räumlichen Umschränkung nach unendlich klein sey, auch dessen (ihm zu Grunde liegende und ihm innewohnende) Kraft u n e n d l i c h k l e i n seyn müsse, und wenn dieses Etwas nur ein P u n k t sey, so könne auch dessen K r a f t nur völlig gleich Null seyn („Adeoque si superficies sit infinite parva, erit etiam haec vis infinite parva, et si tandem sit punctum, plane nulla"): Steht demnach der durch eine Kraft gebildete R a u m allewege mit dem natürlichen M a a s s dieser Kraft dergestalt in einem geraden Verhältniss, dass, wo gar keine räumliche Grösse vorhanden ist, solch einem raumlosen blossen Punkt überhaupt gar keine wirkliche Kraft innewohnen oder zu Grunde liegen kann, so geht hieraus augenscheinlich hervor, dass es auch selbst einer unendlichen Anzahl von solchen blossen Punkten nie gelingen kann, durch ihr Zusammenseyn einen wirklichen Raum, eine wirkliche Grösse zu bilden. Nur da, wo diesem Punkt eine Kraft innewohnt, welche die Fähigkeit besitzt, auch aus diesem ihrem raumlosen Ursitz heraus durch eigenen innewohnenden Selbsterhaltungstrieb zu wirken und je nach ihrem besonderen Kraftmaass sich auch selber und für sich allein den diesem ihrem inneren Kraftmaass entsprechenden Raum selbstthätig zu begründen: nur da kann von thatsächlicher Möglichkeit wirklicher Raumbildung die Rede seyn. Die uns umgebende Naturwirklichkeit zeigt uns allenthalben nur Naturdinge und Naturwesen oder Daseynsweisen überhaupt von irgendwelcher bestimmten räumlichkörperlichen Grösse und Ausdehnung. Daraus ergibt sich aber mit Nothwendigkeit, dass auch allen jenen Einzeldingen oder Einzelwesen, aus deren Gesammtheit sie bestehen, gleichfalls eine ihrem eigenen Kraftmaass entsprechende ganz bestimmte körperliche Grösse und Ausdehnung zukommen muss,

237

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

welche schliesslich selber nur allein als die naturnothwendige Folge und Wirkung der ihnen innerlich zu Grunde liegenden und einheitlich ihr "Wesen und Daseyn unausgesetzt webenden und verwirklichenden allgemeinen Daseynskraft sich erweisen können. der

Was aber in dieser Beziehung für alle Angehörigen

noch

ungestalteten Natur

als

natur- und vernunftnoth-

wendige Thatsache muss anerkannt werden: das muss folgerichtig auch allewege seine Geltung behaupten für alle Seelenwie Geisteswesen Grösse

und

dieser Welt.

Ausdehnung

kommen muss:

Dass

auch

das bezeugt

eine solche räumliche

unserer

uns

eigenen

Seele

zu-

auf das Zweifelloseste die

bereits oben angeführte Thatsache,

dass wir bei einer jeden

inneren oder äusseren Verletzung oder örtlichen

Erkrankung

einzelner besonderer Theile unserer äusseren Leiblichkeit alsbald durch das damit verbundene Schmerzgefühl sichere Nachricht über die Seite unserer äusseren Körperlichkeit erhalten, wo diese Verletzung entstanden ist.

Dies wäre rein unmög-

lich, wenn unsere Seele wirklich nur als ein einfacher raumloser Kraftpunkt müsste betrachtet werden. Nur dadurch, dass dem nicht so ist, sondern dass im Gegentheil auch alles, was nur irgendwie als ein Seelisches sich für uns darstellt, als ein in und für s i c h s e l b e r t h a t s ä c h l i c h liches Naturdaseyn,

muss anerkannt werden: nur dadurch

kann es als möglich erscheinen, äusserlich-räumlichen

räumlich-körper-

dass unsere Seele auch von

Ortsverschiedenheiten

eine

mehr

weniger genaue Kenntniss zu erhalten im Stande ist.

oder Daher

sagt auch C r u s i l i s mit vollem Recht: „Man macht die S e e l e nicht zum S t o f f , wenn man sagt, dass sie einen R a u m einnehme und sowohl berühren könne als berührt werden;

eben-

sowenig als man sie aus einem e i n f a c h e n W e s e n zu einem zusammengesetzten

macht,

wenn

man

eine

Mannig-

f a l t i g k e i t von Kräften und Thätigkeiten in ihr unterscheidet. Die Seele besteht (existirt) j a weder in einem blossen (mathematischen) Punkt

noch

in

einer

bloss

vorstellenden

Kraft.

238

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

sondern sie ist ein selbständig bestellendes Wesen (Substanz) und Trägerin nicht bloss von einer Kraft, sondern von vielen, oder richtiger ausgedrückt: sie ist Besitzerin einer Kraft, welche nicht bloss in einer einzigen Wirkungsweise, sondern in vielen verschiedenen Wirkungsweisen sich zu bethätigen und zu äussern im Stande ist" (HAMBEBGEK: Phys. sacra. S. 76. 77). Müssen wir aber aus den angeführten Gründen auch die Seelen, und zwar die natürlichen wie die vergeistigten, ganz ebenso wie die stofflichen Dinge nicht nur für wirklich räumliche, sondern auch wesenhafte in sich selber endliche und beschränkte natürliche Daseynsformen erklären: dann ist es folgerichtig, auch unseren Seelen ganz ebensowohl eine eigene innerliche Wesenskörperlichkeit zuzuerkennen, wie wir solches auch für die an sich noch rein stofflichen Naturwesen zu thun genöthigt sind. Wir laufen desshalb keine Gefahr, sie zum Range bloss stofflich-körperlichen Daseyns herabzuwürdigen: denn das Eine ist nur die ganz natur- \£ie vernunftnothwendige Folge des Anderen. Im weiteren Verlauf der Darlegung seiner Anschauungsweise sagt Leibnitz ferner: „Zu erklären, wie es möglich sey, dass eine Monade in ihrem I n n e r n durch eine andere einen W e c h s e l oder eine V e r ä n d e r u n g erfahre, haben wir durchaus kein M i t t e l . Denn es lässt sich weder aus der einen in die andere etwas übertragen, noch in dieser Letzteren durch die Erstere eine innerliche Bewegung erzeugen, die von aussen geweckt, geleitet, vermehrt oder vermindert werden könnte, wie dies bei z u s a m m e n g e s e t z t e n D i n g e n möglich ist, wo die Theile eine Vertauschung oder Verschiebung untereinander gestatten. Indessen müssen die Monaden nothwendig E i g e n s c h a f t e n (Qualitäten) an sich haben; sonst wären sie k e i n e Wesen (etres, entia). Unterschieden sich die einfachen Wesen nicht durch ihre Eigenschaften, so würde uns jedes Mittel fehlen, irgend einen Wechsel an den Dingen wahrzunehmen, weil dasjenige, was an dem Zusammengesetzten

D e r allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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e r s c h e i n t , nur von den e i n f a c h e n Bestandteilen (ingrediens) kerrühren kann. Für ausgemacht nehme ich an, dass jedes wirkliche (jedes erschaffene) Wesen, folglich auch die Monade, ein Gegenstand der V e r ä n d e r u n g , wie auch, dass dieser Zustand des Wechsels ein stetig fortdauernder (continuirlicher) sey. — Daraus folgt, dass die naturgemässen Veränderungen der Monaden aus einem i n n e r e n G r u n d (Princip) in denselben abfolgen müssen, weil ja eine ä u s s e r e Ursache k e i n e n E i n f l u s s auf das Innere der Monas auszuüben vermag." Und weiterhin sagt er: „Weil der ganze Raum (der aus einfachen Monaden zusammengesetzten stofflichen Körper) e r f ü l l t , daher alle Stofflichkeit (Materie) dicht (plein) ist. ferner im erfüllten Raum jede Bewegung auf entfernte Körper eine dieser Entfernung entsprechende (proportionirte) Wirkung ausübt, so dass j e d e r K ö r p e r nicht nur von j e d e m K ö r p e r erregt (afficirt) wird, der auf ihn w i r k t , und gewissermassen alles mitempfindet, was diesem zustösst, sondern durch dessen Vermittelung auch an den Zuständen jener Körper theilnimmt, die mit dem ersten, von dem er u n m i t t e l b a r b e r ü h r t wird, in Verbindung gerathen: so fcflgt, dass diese Mittheilungen auf was immer für eine Entfernung hinaus sich fortpflanzen können" (ZIMMEBMANN: LEIBNITZ' Monadenlehre. S. 11. 12. 1 3 . 2 5 . § § 7. 8 . 1 0 . 1 1 . 6 1 ;

LEIBNITZ (ED. EBDMANN) S .

705.

720; TIEDEMANN: Geist d. spek. Phil. VI. S. 417. 418; HEGEL XV. S. 409. 411). Auch diese ganze Darstellung kann nicht umhin, die mannigfachsten Bedenken gegen sich zu erregen. Einmal muss es auffallend erscheinen, dass LEIBNITZ von einem „ I n n e r n " der Monaden spricht, während diese doch an sich nur einen vollkommen r a u m l o s e n P u n k t darstellen sollen. Denn bei dem an sich räum- und also auch wesenlosen Punkt, d. h. dem räum- und wesenlosen Nichts, kann von einer eigenen I n n e r l i c h k e i t oder einem eigenen I n n e r e n ebensowenig die Rede seyn, wie von einer eigenen A u s s e r l i c h k e i t oder einem eigenen A u s s e r e n . Alle diese

240

Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen.

Begriffe vermögen nur auf solche Naturwesen Anwendung zu finden, denen auch eine wirklich räumliche Grösse und Ausdehnung zukommt, und welche gerade hierdurch auch selber einen wirklich-körperlichen Raum einnehmen. Darauf aber, wie unvorstellbar es ist, dass raumlosen Kraftwesen, die als solche a u s s e r a l l e r M ö g l i c h k e i t sich befinden, wechselseitig irgendwie Kraftwirkungen auf einander auszuüben, dennoch die M ö g l i c h k e i t zukommen soll, z u s a m m e n g e s e t z t e Monadengruppen zu bilden, die dann auf andere ähnlich zusammengesetzte Monadengruppen bis in die weitesten Fernen derartige E i n w i r k u n g e n wirklich a u s z u ü b e n fähig seyn sollen: auf diesen Widerspruch haben wir bereits vorhin hingewiesen. Als ebenso unverständlich muss es aber auch erscheinen, wie Monaden, die als solche nicht wechselseitig auf einander einwirken sollen, und denen dies auch sogar eine innere wie äussere Unmöglichkeit ist, nichtsdestoweniger Veränderungen aus einem inneren Grund thatsächlich an sich sollten erfahren können. Sollen überhaupt einmal die einzelnen letzten einfachen Grundbestandteile der Welt nicht im Stande seyn, aus eigener Kraft wechselseitig auf einander einzuwirken und auf diesem Wege Veränderungen in ihren wechselseitigen Inneren hervorzurufen, wo soll unter solchen Verhältnissen ein auch nur einigermassen triftiger G r u n d zu V e r ä n d e r u n g e n von i n n e n h e r a u s zu finden seyn? Denn ein bekanntes durch die Erfahrung bestätigtes Naturgesetz sagt, dass eine jede Kraft unter g l e i c h e n ä u s s e r e n Ums t ä n d e n auch immer nur auf d i e s e l b e W e i s e sich wirksam erweisen könne. Woher soll da irgendwelche V e r ä n d e r u n g a u s i n n e r e n G r ü n d e n überhaupt als möglich sich darstellen ? Dass übrigens einem so klaren und tiefdenkenden geistigen Forscher wie Leibnitz alle diese Schwierigkeiten in Bezug auf seine Monadenlehre völlig entgangen seyn sollten, ist wohl kaum glaublich. Es möchte daher fast

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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scheinen, als ob ihm bei seinen Monaden als völlig raumlosen Kraftpunkten vielleicht, wenn auch unbewusst, eine dunkle innere Ahnung von eben den inneren einheitlichen Kraftpunkten könnte vorgeschwebt haben, welche die neuere Naturanschauung, wie wir gesehen, als die eigentlichen geistverwandten Grundlagen für alles Daseyn dieser Welt in der Weise betrachtet, dass sie denselben ihren eigentlich örtlichen Sitz in den natürlichen Wesensmittelpunkten der stofflichkörperlichen Einzeldinge und Einzelwesen jeglicher Art anweist, und dass sie dieselben von hier aus von Uranfang an als durch thatsächlich Wesen und Daseyn wirkende Kräfte nicht nur in das wesenhafte räumlich-zeitliche, sondern auch in das räumlich-körperliche Daseyn treten und sich in demselben erhalten lässt. Dass L E I B N I T Z in seinen geistigen Anschauungen nicht auch wirklich bis zu eben diesem Punkte vorgedrungen ist, vermag in keiner Weise ihm zu einem Vorwurf zu gereichen. Denn ein jeder Mensch ist, wie in allem, so auch in seinem Denken ein Kind seiner Zeit und steht unter dem Einflüsse des allgemeinen Geistes seiner Zeit, von dem kein Mensch wohl jemals sich völlig loszusagen im Stande ist. Es war daher der späteren Zeit und den Fortschritten im menschlichen Wissen vorbehalten, den Zweifel gegen die Ansichten von L E I B N I T Z aufzudecken. Zuerst nahm Wolf bekanntlich Anstoss an den raumlosen Kraftmonaden und verwandelte dieselben in Folge dessen in wirklich körperliche Atome oder krafterfüllte wesenhafte Natureinheiten oder Substanzen um (BAUE: Dreieinigkeit. I I I . S. 581). Zwar bezeichnet auch L e i b n i t z seine Monaden zu verschiedenen Malen als „Substanzen"; da er jedoch unter dieser Bezeichnung ausdrücklich stets nur raumlose, also im Grunde auch nur an sich wesenlose Kraftpunkte will verstanden haben, so kann diese seine Bezeichnung auf untheilbare Natureinheiten oder Monaden im Grunde auch nur auf eine sehr uneigentliche Weise Anwendung finden. Und eben idesshalb muss es Wandersmann. IL

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Die natürlichen Dinge in ihren gegenseitigen "YVeehselverhältnissen.

denn auch als ein nicht zu unterschätzender Fortschritt betrachtet werden, wenn sowohl Kant wie J. G. Fichte diese LEIBNITZ'sehen Monaden oder Seelen geradezu als das „Ding an sich" bezeichneten, indem sie einfach das „Ding an sich", d. i. das räumlich-ausgedehnte wesenhafte „Ding an sich" als die eigentliche Seele alles Daseyns an die Stelle der LEiBNiTz'schen Monaden treten Hessen. Herbart blieb der Hauptsache nach bei LEiBNiTz'ens Anschauungen stehen, indem er seine einfachsten Wesenheiten oder „Realen" wie jener ebenfalls nur als raumlose Kraftpunkte auffasste. Drechsler sagt in Bezug auf diese HERBART'schen Realen, dass sie „mit vollem Rechte für völlig räum- und grössenlose (nur für mathematische) und also auch nur « g e d a c h t e P u n k t e » zu erklären seyen. Dass aber aus solchen bloss gedachten (mathematischen) Punkten durch Zusammensetzung derselben, d. i. durch mehr oder weniger tiefe wechselseitige E i n d r i n g u n g ein « K l ü m p c h e n » werde: dies lässt sich in k e i n e r Weise d e n k e n . Der für diese wesentliche Umwandlung nothwendige Vorgang (Process) ist u n v o r s t e l l b a r , und die einen solchen nachbildenden Gedanken sind k e i n e Ged a n k e n des w i d e r s p r u c h s f r e i e n D e n k e n s " (DRECHSLER: Charakt. d. philos. Syst. seit KANT. S. 81). Dieser Ausspruch von Seiten DRECHSLER'S muss um so gerechtfertigter erscheinen, als das von HERBART angenommene mehr oder weniger tiefe Eindringen solch raumloser Punkte in einander wohl als zu dem U n v o r s t e l l b a r s t e n gehörig darf betrachtet werden, welches überhaupt dem menschlichen Denken mag in den Sinn kommen. — Eines sehr schlagenden Einwurfes gegen alle derartigen raumlosen Kraftpunkte müssen wir jedoch zum Schluss noch erwähnen, nehmlich eines Ausspruches von Lotze, in welchem derselbe sagt: „Wäre die S e e l e ein una u s g e d e h n t e r P u n k t , so müsste auch angenommen werden, dass sie ein u n d a u e r n d e r P u n k t in der Z e i t sey" (WILMARSHOF: Jenseits. S. 36). Diese Schlussfolgerung hat

Der allgemeine Wechselverkehr aller Dinge etc.

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ihre volle Berechtigung. Beruht alles natürliche Daseyn auf einer einheitlichen Daseynskraft, die ihm zu Grunde liegt: so kann dieselbe unmöglich bloss A u s d e h n u n g s k r a f t seyn; sie muss gleichzeitig auch D a u e r k r a f t seyn. Denn ohne diese gäbe es keinen B e s t a n d im Daseyn. Wo also die Ausdehnungskraft gleich Null ist, da muss auch ihre Zwillingsschwester, die Dauerkraft, gleich Null seyn. An ein wirkliches wesenhaftes Daseyn kann unter derartigen Verhältnissen also in keiner Weise zu denken seyn: die raumlosen Kraftpunkte, seyen sie nun Monaden nach LEIBNITZ, Reale nach HEBBART oder Atome nach FECHNER, fallen somit, von welcher Seite wir sie auch betrachten mögen, schliesslich in sich selbst zusammen, und eine Welt wie die unsrige vermöchte auf den von LEIBNITZ, HERBART und FECHNER angedeuteten Wegen wohl schwerlich eine wirklich befriedigende Erklärung zu erwarten haben.

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VI.

Raum und Zeit als die beiden natur- und vernunftnothwendigen Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns. § 21. Raum und Zeit in Bezug- auf die in sieh untheilbaren Einzeldinge und Einzelwesen der Natur. N o . 114. Der Raum als Ausdehnung, Umfang und Grösse der natürlichen Dinge. Die Dauer als deren Bestand, Beharrung und Selbstbehauptung im räumlichen Daseyn. ind wir in unseren früheren Untersuchungen bemüht gewesen, uns über den eigentlichen Sinn und die eigentliche Bedeutung der beiden natürlichen Grundbegriffe von K r a f t und Stoff und über deren gegenseitiges Verhältniss zu einander eine klarere und deutlichere Einsicht zu verschaffen, so ist es nunmehr unsere Aufgabe, unsere Aufmerksamkeit auch nach zwei anderen, denselben sehr nahe verwandten, ja im Grunde mit ihnen in Eins zusammenfallenden Begriffen zuzuwenden, nehmlich denen von R a u m und Zeit. Wir sind bereits mehrfach in der Lage gewesen, uns derselben zu bedienen, jedoch unter der Voraussetzung, dass es schon durch den einfachen Wortlaut für jedermann

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Raum und Zeit in Bezug auf die untheilbaren Einzeldinge der Natur.

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verständlich seyn werde, was man sich im Allgemeinen und Wesentlichen darunter zu denken habe. Indessen gehen bei den einzelnen schärferen Denkern auch hier die Ansichten über den eigentlichen Sinn und die besondere Tragweite beider Begriffe vielfach ganz ebensosehr aus einander, wie uns solches auch in Bezug auf die beiden Begriffe von 'Kraft und Stoff seiner Zeit entgegengetreten ist. Wir haben bereits an einem früheren Ort (IV. § 14, No. 63 bis 67) darauf hingewiesen, dass von keinem, wenn auch anscheinend noch so unbedeutenden Naturdaseyn jemals die Rede seyn könnte, wofern demselben nicht auch innerlich in seinem innersten Wesensgrund irgend ein bestimmtes Maass von eigener innerer D a s e y n s k r a f t zukäme, vermöge welcher es im Stande ist, nicht allein sein natürlich-wesenhaftes Daseyn von Uranfang an und durch sich selber zu v e r w i r k l i c h e n , sondern sich auch allewege in demselben fort und fort zu e r h a l t e n . Beide Wirkungen also, die D a s e y n s b e g r ü n d u n g wie die D a s e y n s b e h a u p t u n g , beruhen demnach gemeinschaftlich auf der natürlichen innerlichen Wirksamkeit Einer und Derselben einheitlichen Wesens- und Daseynsgrundkraft, die wir nur durch zwei verschiedene Bezeichnungsweisen unterscheiden, je nach dem Gesichtspunkt, von dem aus wir ihre Thätigkeit in das Auge fassen: nehmlich in räumlich-körperlicher Beziehung als natürlich-innerliche A u s d e h n u n g s - , A u s b r e i t u n g s - oder A u s w e i t u n g s k r a f t , und in zeitlicher Beziehung als innerlich-natürliche D a u e r k r a f t . Und eben dieses an sich noch einfachste Urund G-rundverhältniss, darauf alles Wesen und Daseyn dieser Welt sich erbaut zeigt, ist es denn auch recht eigentlich, welches wir als einen von der Natur selbst uns gebotenen Schlüssel zu betrachten haben für ein wirklich natur- und vernunftgemässes Verständniss auch des gegenseitigen Wechselverhältnisses, in welchem die beiden Begriffe von Z e i t und R a u m von jeher zu einander stehen. Denn ganz ebenso

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

untrennbar, wie die Begriffe von Kraft und Stoff in eben jener einheitlichen Wesensgrundkraft der Dinge einheitlich mit enthalten und wechselseitig mit einander verbunden sind: ganz ebenso ist das Gleiche der Fall in Bezug auf die beiden Wechselbegriffe von Zeit und Raum. Einer steht und fällt auch hier mit dem Anderen, und wo das Eine dieser beiden fehlt, da fehlt auch ausnahmslos das Andere und zwar dergestalt. dass in solchem Fall von einem wirklich wesenhaften Naturdaseyn keine Spur vorhanden seyn könnte. Nur dadurch, dass jene innerste Wesensgrundkraft der Dinge in ihrer natürlichen Wirksamkeit sich von Uranfang an nach der Einen Seite hin ebensosehr als r a u m b i l d e n d e K r a f t , nach der anderen Seite aber gleichzeitig auch als r a u m e r h a l t e n d e , d. i. als z e i t l i c h e D a u e r k r a f t sich offenbart: nur allein hierdurch ist sie im Stande, durch ihre einheitliche Wirksamkeit auch wirklich in sich selber einheitlich-wesenhafte Einzeldinge der Natur als wirkliche Ur- und Grundbestandtheile dieser Welt in das räumlich-zeitliche Daseyn zu stellen. Der naturwissenschaftliche Grundsatz „kein R a u m ohne Z e i t u n d k e i n e Z e i t ohne R a u m " ist daher für die gesammte Naturerkenntniss nicht weniger von Wichtigkeit, wie der Satz „keine Kraft ohne Stoff und kein Stoff ohne Kraft". Der Begriff der Zeit aber, in seiner noch einfachsten und ursprünglichsten Bedeutung, ist der Begriff der noch in ihrer ersten und ursprünglichsten Einfachheit, d. h. mit wissentlichem Absehen von allen Beziehungen zu einer umgebenden Aussenwelt in das Auge gefassten Wesensdauer, als des eigentlichen Grundpfeilers alles wesenhaften Bestandes im Daseyn. Und eben dieser Begriff einer wirklichen W e s e n s d a u e r ist es denn auch, mit welchem wir nun im Verein mit dem Begriff der W e s e n s a u s d e h n u n g , als der eigentlichen Grundlage für den Raumbegriff, fürs Erste eingehender uns werden zu beschäftigen haben. Denn ohne ein richtiges und allseitig festbegründetes Verständniss

Raum und Zeit in Bezug auf die untheilbaren Einzeldinge der Natur.

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des D a u e r b e g r i f f s dürfte auch ein richtiges Verständniss des in ihm gleichsam wie im Keime mit enthaltenen Z e i t b e g r i f f e s wohl schwerlich vollgültig zu erwarten seyn. Mit dem Begriff des natürlich-wesenhaften R a u m e s ist auch zugleich der der natürlich-wesenhaften G r ö s s e unmittelbar mit gegeben. Denn wie wir bei dem Begriff des bloss r ä u m l i c h e n S t o f f e s im Ganzen unser Augenmerk mehr auf den wesenhaften Inhalt des von ihm eingenommenen Raumes richten, als auf dessen äusserlich-körperliche Umgränzung, dagegen in dem Begriff der V e r k ö r p e r u n g oder des K ö r p e r s mehr die seiner innerlich - äusserlichen Wesensumgränzung im Auge haben, als den eigentlichen körperlichen Inhalt: so findet ein ganz ähnliches Yerhältniss statt auch in Bezug auf die beiden Begriffe von R a u m und Grösse. Zwar sehen wir auch bei diesen beiden gemeinschaftlich von allem wesenhaften Inhalt ab; aber es tritt bei dem Begriff des Raumes doch der Begriff der äusserlichen Umschränkung oder Verkörperung weit weniger entschieden in den Vordergrund als bei dem Begriff der Grösse. Daher kommt es auch, dass wir z. B. weit weniger Anstoss daran nehmen von einem „endlosen Raum" zu sprechen, als wie von einer „endlosen Grösse". Denn die G r ö s s e entspricht dem Begriff des K ö r p e r s , und einen „endlosen Körper" würde jedermann sofort für einen Widerspruch in sich selbst erklären. Doch liegt auch hier wieder eine ähnliche begriffliche Unterscheidung zwischen G r ö s s e und K ö r p e r vor, wie zwischen R a u m und G r ö s s e . Denn im Begriff des Körpers liegt der Nachdruck mehr auf der bloss räumlichen U m s c h r ä n k u n g desselben, als eigentlich auf dem bestimmten Maass eben dieser Umschränkung; bei dem Begriff der G r ö s s e dagegen ist es gerade der innere Maassbegriff, welchen wir als Grundbestimmung der natürlichen Grösse in unserer Vorstellung am meisten in den Vordergrund treten sehen. Das Wort „Raum", altd. rümis, rum, stammt nach Weigand von rümi

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

oder hrumi, reichen (also auch bis i r g e n d w o h i n reichen) und fällt daher der Begriff des R a u m e s mit dem der A u s d e h n u n g auch schon in sprachlicher Beziehung vollkommen in Eins zusammen (WEIGAND, Syn. II. S. 549). Einer sehr verwandten Darstellungsweise eben dieser Verhältnisse begegnen wir bereits bei den arabischen l a u t e r e n B r ü d e r n . Diejenigen — sagen sie —, welche den Raum als „eine Weite" ansehen, betrachten nur die Form (oder räumliche Grösse) der Körper; dann sehen sie von der stofflichwesenhaften Erfüllung (der Materie) ab, bilden sich darnach ein geistiges Bild, und „nennen dies die W e i t e (oder Ausdehnung)". „Wenn sie aber diese Weite als an dem Stoff (der Materie) h a f t e n d betrachten, so ' nennen sie dieselbe R a u m " (DIETERICI, Naturanschauung der Araber S. 9). — Ahnlich wird auch von Erigena der Raum bestimmt als der U m f a n g , wodurch etwas in bestimmten Schranken eingeschlossen ist ( H U B E E , Erigena S. 275). Und S u a r e z sagt: „Unter R a u m verstehen wir den A b s t a n d , welcher messbare Ausdehnungen (quantitative Dimensionen) einschliesst." Hierzu bemerkt B a u m a n n : „Nach SUAREZ ist, wo K ö r p e r ist, auch R a u m , und zwar beide wirklich. Wo Körper ist, da ist Raum jedesmal hinzuzudenken, also bringt der Körper den Raum sozusagen mit" (BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 60). — Descartes spricht sich also aus: „ R a u m oder i n n e r e r Ort (weil oberflächlich begränzter Raum) und die in ihm enthaltene körperliche Wesenheit (Substanz) unterscheiden sich n i c h t s a c h l i c h , sondern nur durch die Weise, wie sie von uns vorgestellt zu werden pflegen. In Wirklichkeit ist die Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe, welche den Raum bildet, ganz dieselbe wie die, welche den Körper bildet. Denn es ist die n e h m l i c h e Ausdehnung, die die Natur des Körpers und die Natur des Raumes ausmacht" (DESCAETES, Ouevres, S. 308. BAUMANN, Raum und Zeit, S. 93. 94. 104 (DESCAETES). — Und ebenso sagt S p i n o z a : „Den R a u m

Baum und Zeit in Bezug auf die untheilbaren Einzeldinge der Natur.

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unterscheiden wir nur in Gedanken von der Ausdehnung; in der That ist er aber nicht davon verschieden" (SPINOZA, I . S. 9 0 . BAUMANN, Raum und Zeit I . S. 1 7 2 ) . — Desgleichen H o b b e s : »Die A u s d e h n u n g des Körpers ist dasselbe wie seine G r ö s s e oder das, was Einige den w i r k l i c h e n (realen) R a u m nennen" (BAUMANN, Raum und Zeit I . S. 2 8 5 (HOBBES). — L o c k e sagt: „Den A b s t a n d oder den Raum in seiner einfachen, von allem wesenhaften Inhalt absehenden (abstrakten) Vorstellung nenne ich, um Verwirrung zu vermeiden, A u s b r e i t u n g (Expansion), damit er von der A u s d e h n u n g unterschieden sey, die von einigen gebraucht wird, um diesen Abstand auszudrücken." Und weiterhin: „Obgleich der Stoff und der von ihm gebildete Körper (Materie und Körper) in der Naturwirklichkeit (reell) nicht unterschieden sind, sondern wo der Eine ist, auch der Andere ist: so stehen doch «Stoff und Körper» für zwei verschiedene Vorstellungen, von denen die eine unvollständig und nur ein Theil der anderen ist. Denn «Körper» steht für eine ausgedehnte Wesenheit (Substanz) m i t ihrer Gestalt (Figur), davon die stoffliche Wesenheit (Materie) nur eine theilweise und mehr verworrene Vorstellung ist; denn es scheint mir, sie (d. h. der Begriff der stofflichen Wesenheit oder Materie) wird gebraucht für das stoffliche Wesen (die Substanz) des Körpers, o h n e dass man Ausdehnung und Gestalt (Figur) mit (in unsere geistige Betrachtung oder Vorstellung) aufnimmt" BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 899. 437). — L e i b n i t z betrachtet es als erwiesen, dass die G e s t a l t (Figur) „ein w e s e n h a f t B e s t e h e n d e s (eine Substanz) oder vielmehr, dass der Raum ein w e s e n h a f t B e s t e h e n d e s (eine Substanz) sey; die Gestalt (Figur) aber etwas W e s e n h a f t e s (Substantiales), weil alles Wissen von wesenhaft und selbständig Bestehendem (von einer Substanz) handelt." An einem anderen Orte sagt er, diesen Gedanken noch weiter ausführend: „Die A u s d e h n u n g (bloss als solche gedacht) ist, wie der Raum, ganz u n f ä h i g zu

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

Thätigkeit und Widerstand, was nur den wesenhaften Dingen (den Substanzen) zugehört. Diejenigen, welche wollen, dass die Ausdehnung selbst ein Wesenhaftes (eine Substanz) sey, verkehren die Ordnung der Wörter sowohl als der Gedanken. Denn ausser der Ausdehnung muss man auch ein Ding (ein Subject) haben, welches ausgedehnt ist, d. h. ein wesenhaftes Daseyn (eine Substanz), welchem es zugehörig ist, w i e d e r h o l t oder f o r t g e s e t z t (continué) zu seyn." Und weiterhin: „Die A u s d e h n u n g ist nichts anderes als ein von dem wesenhaften Inhalt eines Ausgedehnten absehender Begriff (als ein Abstractum), und sie verlangt daher Etwas, was ausgedehnt ist. Sie hat einen w e s e n h a f t e n Gegenstand (ein Subject) nöthig, und ist etwas auf diesen Gegenstand Bezügliches, wie die Dauer" (LEIBNITZ, Edit. Erdmann, S. 51. 114. 692. BAUMANN, Raum und Zeit II. S. 1. 2. 79. 149). Schölling, nachdem er das thatsächliche Heraustreten jener uranfänglichen Kraftwirksamkeit, darauf Wesen und Daseyn der Dinge beruht, aus ihrem einheitlichen Ursitz als ein Heraustreten „aus der Enge in die Weite", diese Weite selbst aber als „den R a u m " bezeichnet hat, iährt alsdann weiter fort, indem er sagt: „In der That, der Raum ist nur die A r t und Weise, wie das Seyn (oder vielmehr das Daseyn), das zuvor (nur) ein Begriff (d. i. in dem innersten Wesensgrundbegriff des Dinges) war, a u s s e r dem Begriff gesetzt ist. Wir glauben nicht, dass etwas a u s s e r seinem Begriff, also wirklich da ist, ehe es im R a u m ist. Der R a u m ist in diesem Sinn die reine A u s g e s t a l t u n g (Form) des D a s e y n s (der Existenz), d. h. des Daseyns ausser dem Begriff. Der Raum macht es allein möglich, zwei sich völlig gleiche Dinge als der Zahl nach (numerisch), d. h. wenigstens dem Daseyn (der Existenz) nach verschieden vorzustellen" (SCHELLING, S. 313. 314). — Sengler weist darauf hin, wie man „den Begriff des Leeren, den man (anfänglich) für den Begriff des R a u m e s hielt, bei tieferer Einsicht denn doch als etwas W e s e n h a f t e s

Raum und Zeit in Bezug auf die untheilbaren Einzeldinge der Natur.

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(Substanzielles), d. i. als ein wirklich w e s e n h a f t B e s t e h e n des (als Substanz) zu fassen sich genöthigt sah. So finden wir — fügt er hinzu — den Begriff des Raumes als eines w e s e n h a f t Bestehenden (als Substanz) in der griechischen Philosophie, und entschieden so bei PLATO und ARISTOTELES gefasst. Ist aber der Raum (nur allein) durch das W i r k l i c h e , und dieses als solches immer ein B e g r ä n z t e s : so muss auch der durch es bestimmte Raum b e g r ä n z t seyn. Im Allgemeinen ist der Raum der W i r k u n g s k r e i s (die Sphäre), welcher seinem Umfang nach durch den Grundbegriff (die Idee) eines Wesens bestimmt ist, und welcher ein Wesen in der Verwirklichung seines Grundbegriffes (seiner Idee) wirkt und setzt, oder welchen es durch seine Wirksamkeit und Wirklichkeit einnimmt, erfüllt und ausfüllt. Er (der Raum) ist also die Begränzung, Umgränzung dieser Wirksamkeit, und er entsteht durch die Wirksamkeit und Wirklichkeit eines Wesens, und ihn nimmt es ein, erfüllt ihn, füllt ihn aus. So ist der Raum der allgemeine Ausdruck (Form) des für sich bestehenden und sich ausweitenden (expandirenden) Wesens, und er ist, als ein bestimmter, durch den im Wesen des Grundbegriffes (der Idee) begründeter, bestimmter U m f a n g (Expansion) bestimmt als das die Wesensausbreitung (Expansion) B e g r ä n z e n d e . Jedes Wesen ist ein bestimmtes und durch seine Bestimmungen b e g r ä n z t . Ein jedes Wesen ist somit ein besonderes, das als solches seinen Raum hervorbringt (producirt). Jedes Naturwesen (Geschöpf) nimmt sich (sonach) verwirklichend und daseyend seinen bestimmten Raum und gränzt sich gegen alles Andere (gegen das Ganze) nach seinem Grundbegriff (seiner Idee) ab, setzt sich in einen bestimmten Raum, oder ist da, h a t D a s e y n " (SENGLEE, Idee Gottes II. S . 390—395). Wie mit dem Begriff der G r ö s s e der Dinge das räumliche Maass ihrer k ö r p e r l i c h e n A u s d e h n u n g gegeben ist: so mit dem Begriff der D a u e r das Maass ihres zeitlichen

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Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

B e s t a n d e s oder B e h a r r e n s im Daseyn. Auch diese beiden Begriffe von „Bestand" und von „Beharren" bezeichnen im Grunde nur Ein und Dasselbe: doch ist auch zwischen ihnen ein kleiner begrifflicher Unterschied nicht zu verkennen. Der Begriff des B e s t a n d e s verleiht nehmlich der Dauer den Nebenbegriff von eigener innerer, in sich selbst begründeter W e s e n s s e l b s t ä n d i g k e i t und damit eines r u h i g e n F e s t s t e h e n s in sich selber ohne Rücksicht auf fremde Angriffe oder Einwirkungen von aussen. In dem Begriff des Beh a r r e n s dagegen tritt mehr noch auch der des s e l b s t t h ä t i g e n A u s d a u e r n s im Daseyn hervor, und damit nicht nur des unantastbaren F e s t - und F o r t b e s t e h e n s in demselben, sondern gleichzeitig damit auch der eines wirklichen in sich selbst begründeten W i d e r s t e h e n s gegenüber von etwaigen, den Bestand im Daseyn bedrohenden Eingriffen von aussen. Wenn daher im Begriff des B e s t e h e n s mehr die innere W e s e n s u n v e r ä n d e r l i c h k e i t naturgemässen Ausdruck findet: so bezieht sich der Begriff des B e h a r r e n s mehr auf die innere W e s e n s u n z e r s t ö r b a r k e i t . Der Begriff des „ F o r t f a h r e n s im D a s e y n " , verbunden mit dem der e i g e n e n i n n e r e n W e s e n s s t ä r k e , ist die gemeinsame Grundlage für beide. Und eben daher kommt es denn auch, dass beiden Begriffen gemeinschaftlich auch der des F e s t e n , ja selbst des H a r t e n mit unterliegt. Denn — wie W e i g a n d ausdrücklich hervorhebt — sind die beiden Worte „Harren und „Beharren" einerseits und das Wort „hart" anderseits sprachlich aus einer gemeinschaftlichen Stammwurzel hervorgegangen. Und ganz dasselbe hat auch im Lateinischen statt: durare, dauern, und durus, hart, haben ebenfalls eine gemeinsame Grundwurzel (WEIGAND, Synonym I. S. 230. 264. III. S. 701. BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 402). Daher ja bekanntlich schon im gewöhnlichen Leben das F e s t e , das H a r t e auch vorzugsweise als das eigentlich D a u e r h a f t e pflegt betrachtet zu werden.

Raum und Zeit in Bezug auf die untheilbaren Einzeldinge der Natur.

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In Bezug auf eben diese Verhältnisse sagt Suarez: „Dass die D a u e r etwas in den Dingen ist, ist an sich bekannt. Sodann setzen wir voraus, dass die Dauer wahrer und eigentlicher Weise nur den wirklich vorhandenen (existirenden) Dingen beigelegt wird. Man sagt nehmlich von dem Ding „es dauert", welches in seinem Daseyn (Existenz) b e h a r r t . Daher erachtet man, Dauer sey dasselbe wie das V e r b l e i b e n im Seyn. Somit ist D a u e r n nicht eine äussere Benennung, sondern eine innere, hergenommen von der Dauer, durch welche ein Ding i n n e r l i c h b e s t e h t . Und sonach ist es nicht zu leugnen, dass in den bleibenden und vergänglichen Dingen eine eigenthümliche innere Dauer ist, von welcher sie d a u e r n d genannt werden." Hierzu macht Baum a n n die weitere Bemerkung: „Also ist nach SUAKEZ Daseyn (Existenz) und D a u e r nicht verschieden, ausser durch den Verstand und in unserer Vorstellungsweise. Es enthüllt sich zugleich immer mehr, dass er mit «Dauer der Dinge», die diesen i n n e r l i c h ist und nach der Art ihres Bestehens (ihrer Existenz) eine dauernde ist, ungefähr das Nehmliche meint, was man im weiteren Sinne auch das B e h a r r u n g s v e r m ö g e n genannt hat" (BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 33ff. bis 40). Dies Beharrungsvermögen im Allgemeinen erscheint also hier ebensowohl im Sinn von Beharren im D a s e y n , wie von Beharren in der inneren W e s e n s u n v e r ä n d e r l i c h k e i t , und als Beharren an d e m s e l b e n r ä u m l i c h e n Ort in das Auge gefasst. Ahnlich wie SUAKEZ bezeichnet auch D e s c a r t e s „die Dauer eines Dinges als die Weise, unter welcher wir ein Ding uns vorstellen, sofern es im Seyn b e h a r r t . Weil jedes bestehende Wesen (Substanz) auch aufhörte zu seyn, wenn es zu d a u e r n aufhörte, so wird der B e s t a n d im wesenhaften Daseyn (die Substanz) nur im Verstand von der Dauer unterschieden" (DESCABTES, S. 299. 301. BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 102. 104). — Spinoza bezeichnet die D a u e r als eine u n b e s t i m m t e (indefinita) Fortsetzung des Daseyns."

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

Und weiterhin sagt er: „Jedes Ding strebt in seinem Seyn zu beharren. Dies Bestreben, wonach ein jedes Ding in seinem Seyn zu beharren strebt, ist nichts als das wirkliche Wesen des Dinges selbst, und schliesst eine u n b e s t i m m t e Zeit in sich ein." Zwar sagt SPINOZA eigentlich, dass dieses Bestreben, sich im Daseyn zu erhalten, „ k e i n e e n d l i c h e , sondern eine unbestimmte Zeit" in sich einschlösse. Allein der Beweis, welchen er dafür anführt, dass die Dauer eines Dinges k e i n e e n d l i c h e seyn könne, dürfte wohl kaum als ein vollgültig überzeugender anerkannt werden (SPINOZA II. S. 76. 1 8 4 . 1 8 5 [Ethik]; BAUMANN, Raum und Zeit S. 1 7 6 bis 178). Und in dem gleichen Sinn sagt auch Leibnitz, dass „ein jedes Ding seine eigene A u s d e h n u n g und seine eigene D a u e r " habe (LEIBNITZ S. 7 6 8 ; BAUMANN, Raum und Zeit II. S. 329). — Schelling drückt über den Begriff des Raumes sich also aus: „Der R a u m ist etwas so L e i d e n t 1 ich es (Passives), ist so unbedingt inhaltlos (absolut subjectlos), dass wir ihm unmöglich einen e i g e n e n in sich selber selbständigen B e s t a n d (seine eigene Subsistenz) zuschreiben können; er selbst kann (für sich allein) nicht seyn, eben weil kein selbständiger Gegenstand (kein Subject) in ihm ist. Und doch ist er, wie nicht abzuweisen. Sehen wir also, wie dieser Widerspruch sich löst. Er selbst kann nicht seyn, weil kein selbständiger Gegenstand (kein Subject) in ihm ist, und doch ist er: wir können nicht anders, wir müssen so urtheilen. Nun, wenn kein wirklicher Gegenstand (kein Subject) in ihm ist, so ist er doch vielleicht das G e s p e n s t , das P h a n t a s m a eines wirklichen Daseyns (eines Subjectes). Schon Hobbes hat diesen Ausdruck gebraucht und den Raum «ein Scheinbild des Daseyns» (ein Phantasma Existentiae) genannt. Der Raum ist (sonach) kein w i r k l i c h e r G e g e n s t a n d , d. h. n i c h t s f ü r sich B e s t e h e n d e s ; sondern er ist die bloss ä u s s e r l i c h e G r ä n z e (die blosse Form) der äusseren E r s c h e i n u n g " : d. h. der äusserlich-oberflächlichen Erscheinung eben des räumlich-

Raum und Zeit in Bezug auf die untheilbaren Einzeldinge der Natur. 2 5 5

körperlichen Wesens, das von eben dieser seiner räumlichen Gränze oder von seinem natürlich-körperlichen Raum um- und eingehüllt sich darstellt. Sc hell i n g erkennt es daher auch ganz ausdrücklich an, dass „eine Hauptbestimmung in der Natur des R a u m e s diejenige ist, gegen den I n h a l t (oder das eigentliche Wesen) eines jeden Einzeldaseyns (jeder Existenz) g l e i c h g ü l t i g zu seyn" (SCHELLING X. S. 320 bis 822. 327. 334). Endlich sagt Stentrup: „Da die D a u e r nichts anderes ist, als f o r t g e s e t z t e s D a s e y n , und ihr Begriff nur darin sich vom Begriff des Daseyns unterscheidet, dass er das Daseyn nicht schlechthin, sondern als ein schon vor dem Augenblick (Moment) der Erfassung W i r k l i c h e s darstellt: so muss offenbar die Natur der D a u e r der Natur des Seyns (oder des Daseyns) entsprechen" (STENTKÜP, Zeitl. Weltschöpfung S. 22. 23). Oder mit anderen Worten: wie die Begriffe von Stoff und K r a f t sich wechselseitig zu einander verhalten, so auch der W e s e n s i n h a l t eines Daseyns zu dessen W e s e n s d a u e r . Denn ist es Eine und Dieselbe innere Wesensgrundkraft, auf deren unmittelbarer Wirksamkeit beide, der stofflich-wesenhafte I n h a l t der Dinge, wie der natürliche B e s t a n d eben dieses Inhaltes sich gründen: so muss nothwendig auch Ein und Dasselbe innere K r a f t m a a s s es seyn, welches als das Bes t i m m e n d e ebensowohl für die r ä u m l i c h - k ö r p e r l i c h e W e s e n s g r ö s s e oder W e s e n s w e i t e , wie für die z e i t l i c h e W e s e n s g r ö s s e oder die W e s e n s d a u e r seine natürliche Geltung hat. Es müssen auch beide in Bezug auf ihre eigentlichen innerlichen W e s e n s w e r t h e einander allewege vollkommen entsprechen. Sehr augenscheinlich finden wir die Richtigkeit dieses Satzes erfahrungsgemäss namentlich im Pflanzen- und im Thierreich hervortreten. Denn körperlich sehr kleine Pflanzen und Thiere haben bekanntlich im Allgemeinen auch nur eine sehr kurze Lebensdauer; wogegen die eigentlichen Riesen beider Naturreiche auch meist eine sehr hohe Lebensdauer zu erreichen im Stande sind.

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyus.

No. 1115. Baum und Sauer als innerliche Wesensruhe. Innere Wesensstetigkeit, Wesensununterbrochenheit und Wesensungetheiltheit. — Tintrennbarkeit von Kaum und Dauer. — Saum und Dauer als unveräusserliches Wesenseigenthum der Dinge. Wir haben bereits im Vorigen darauf aufmerksam gemacht, wie wir bei dem Begriff des Raumes in der Regel mehr dessen äussere Begränztheit als dessen eigentlichen Wesensinhalt im Auge haben, und Letzteren meist mehr oder weniger, wo nicht gänzlich, ausser Acht lassen. In aller Grundanschauung des R a u m e s , und folgerichtig auch ebensosehr in allen seinen Nebenbegriffen von A u s d e h n u n g und G r ö s s e oder von G e s t a l t und U m f a n g ist es vorherrschend der Begriff einer r u h i g e n und sich i m m e r g l e i c h b l e i b e n den S t e t i g k e i t oder, was hier dasselbe aussagt, der Begriff einer u n u n t e r b r o c h e n e n und s t e t i g e n R u h e , welcher als in erster Linie maassgebend für unsere geistige Anschauung sich darstellt. Und ebenso finden wir bei genauerer Prüfung, dass ein ganz gleiches Verhältniss auch in Bezug auf die Nebenbegriffe von B e s t a n d , B e h a r r u n g und D a u e r stattfindet. Auch hier ist es vorzugsweise der Gedanke eines f o r t d a u e r n d e n und ununterbrochenen Sich-selbstG l e i c h b l e i b e n s und in diesem Sinn also auch, wenn wir so sagen dürfen, einer gewissen z e i t l i c h e n W e s e n s r u h e und einer s t e t i g in sich v e r l a u f e n d e n i n n e r e n W e s e n s u n v e r ä n d e r l i c h k e i t , welchen wir gemeinhin mit eben diesen Begriffen verbinden. Denn was für unser Denken die G r ö s s e als ruhig-stetige W e s e n s a u s d e h n u n g in r ä u m l i c h e r Bedeutung ist: dasselbe stellt die ebenso ruhig-stetige W e s e n s d a u e r in z e i t l i c h e r Bedeutung dar. Es findet dies seine vollgültige Begründung in jenen inneren Natur- und Wesensverhältnissen, unter welchen alle natürlichen Einzeldinge und Einzelwesen sich dem Auge unseres Geistes darstellen, sobald

Kaum und Zeit in Bezug auf die untheilbaren Einzeldinge der Natur.

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wir unseren Blick auf diese Dinge nicht in ihrem allseitigen Wechselverkehr mit allen ihren übrigen Mitwesen lenken, sondern sie als völlig v e r e i n z e l t , d. h. als ausser allen und jeden Beziehungen oder natürlichen Verbindungen mit und untereinander uns vorstellen. Unter solchen Verhältnissen würde einem jeden Einzelnen derselben, in Folge der an sich rein innerlichen Wirksamkeit der ihnen einheitlich zu Grunde liegenden allgemeinen Wesens- und Daseynsgrundkraft, allewege ebensowohl eine ganz bestimmte r ä u m l i c h e A u s d e h n u n g wie eine derselben ebenso bestimmt entsprechende zeitliche Ausdauer in ihrem wesenhaften Dasevn unangefochten zukommen. Aber von allen jenen äusserlichen Bedingungen und Verhältnissen, von welchen im lebendigen Wechselverkehr der Dinge untereinander eine jede innere Zustandsveränderung und eine jede äussere Orts Veränderung derselben erfahrungsgemäss sich abhängig erweist, würde auch nicht im entferntesten die Rede seyn können. Im Gegentheil ganz so, wie ein jedes dieser Einzeldinge überhaupt einmal von Uranfang in das Daseyn getreten ist: in ganz d e m s e l b e n i n n e r e n W e s e n s z u s t a n d und an ganz d e m s e l b e n r ä u m l i c h e n O r t e w ü r d e es a u c h in v o l l k o m m e n e r i n n e r e r wie ä u s s e r e r W e s e n s r u h e u n a u s g e s e t z t v e r h a r r e n m ü s s e n ; denn eine jede innere wie äussere Ursache, Anregung oder Veranlassung zu irgend welcher Art von Ä n d e r u n g in Bezug auf seine ursprünglichen inneren wie äusseren Wesensverhältnisse würde ihm in solchem Fall ein für allemal abgehen. Und eben hierin dürfen wir denn auch den ebenso natur- wie vernunftgemässen Grund für die ebenerwähnte, unter dem fortwährenden Wechsel und Wandel der Dinge und ihrer Erscheinungen sonst so räthselhafte Thatsache finden, dass den beiden Grundbegriffen von „Raum" und von „Dauer" auch allgemein der Begriff einer gewissen inneren „Wesensruhe", als des dritten im Bunde, pflegt beigesellt zu werden. So bezeichnet z. B. Schölling das „Wesen des Endlichen" als „die Ruhe", und Wandersmann. II.

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2 5 8 Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

von dem „ R a u m " , a ls dessen „Bild", sagt er, dass er „die Ruhe selbst" sey (SCHELLING VII. 217). Ähnlich sagt Hegel von der „ D a u e r " , sie sey „Ruhe in der Beziehung, dass sie als Begriff der Bewegung entgegengesetzt" werde (HEGEL VII. 1 S. 73). Und ebenso sagt auch Balimann von der D a u e r , sie sey, eine „ r u h i g e F o r t s e t z u n g des D a s e y n s (der Existenz)" (BAUMANN, Raum und Zeit S. 92). Wie jene innerliche Kraftwirksamkeit, darauf das natürliche Wesen und Daseyn der Dinge gegründet ist und in welcher es fortwährend selber besteht, nur allein als eine in sich vollkommen u n u n t e r b r o c h e n e und s t e t i g e kann gedacht und aufgefasst werden: ganz ebenso muss auch ein Gleiches der Fall seyn sowohl in Bezug auf den durch eben jene innere Kraftwirksamkeit ins Daseyn gestellten körperlichen R a u m als innere Wesensausdehnung, wie auch in Bezug auf das diesen Raum erfüllende w e s e n h a f t e D a s e y n selber und dessen zeitliche W e s e n s d a u e r . Auch sie müssen, nach dem allgemein anerkannten Grundsatz, dass, welchergestalt die Ursache ist, solchergestalt auch die Wirkung seyn muss, als in sich von ganz ebenso u n u n t e r b r o c h e n e r und s t e t i g e r innerer Beschaffenheit sich darstellen, wie auch die Wirksamkeit eben jener inneren Wesensgrundkraft selbst, darauf sie gemeinschaftlich und einheitlich erbaut sind. Von einer etwaigen inneren W e s e n s g e t h e i l t h e i t , in deren Folge jene körperlich-einfachsten Grundwesen der Natur etwa selber einer innerlichen Theilbarkeit sollten fähig seyn: von einer solchen kann, von welcher Seite wir die Sache auch ins Auge fassen mögen, in keiner Weise die Rede seyn. Daher sind auch W e s e n s u n u n t e r b r o c h e n h e i t , W e s e n s s t e t i g k e i t und W e s e n s d a u e r allewege der Sache nach gleichwerthige und wechselseitig sich deckende Begriffe. Die Natur selber ist es, welche hier, in welcher Beziehung es auch seyn möge, auch das allergeringste Getheiltseyn und Getheiltwerden in keiner Weise zugelassen hat. Nur in unserem geistigen Denken und

ßaum und Zeit in Bezug auf die untheilbaren Einzeldinge der Natur.

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Vorstellen trennen und scheiden wir sie zur leichteren Unterscheidung der einzelnen Verhältnisse, die wir gerade in das Auge fassen. „ S t ä t i g (oder stetig) und u n u n t e r b r o c h e n haben — nach W e i g a n d — die gemeinschaftliche Bedeutung von «in Einem fort unmittelbar zusammenhängend», wie z. B. eine gerade Linie oder eine stetige und ununterbrochene Grösse. S t ä t stammt von stän (stanton), stehen; davon das abgeleitete s t ä t i g , d. i. «feststehend», sowie «bleibend» und «dauernd», und in Folge dessen auch «das u n v e r ä n d e r l i c h e u n d g l e i c h s a m s t e h e n d e (oder feststehende) F o r t g e h e n in E i n e m » bezeichnend. U n u n t e r b r o c h e n drückt diesen Begriff von der verneinenden Seite aus, dass nehmlich d e r u n u n t e r b r o c h e n e Z u s a m m e n h a n g nicht durch dazwischen G e t r e t e n e s g e t r e n n t ist" ( W e i g a n d , Syn. I I I . S. 7 2 9 ) . Diese ununterbrochene Stetigkeit bezeichnen wir für den Raum bekanntlich durch ü b e r a l l , für die Dauer durch i m m e r oder i m m e r d a r , für beide gemeinschaftlich durch a l l e w e g e ; ebenso gilt auch „ s t e t s " schon durch seine sprachliche Zusammengehörigkeit mit stetig ebenfalls für beide Verhältnisse gemeinschaftlich. — K r a u s e sagt in Bezug auf die Wesensstetigkeit des Raumes: „Wenn ich die Eigenschaft (oder vielmehr Beschaffenheit) der stetigen Ausgedehntheit denke, so ist dies eine Eigenschaft (oder vielmehr Eigentümlichkeit) des Raumes; aber sie ist nicht nur im Raum, sondern am Raum, d. h. der g a n z e R a u m i s t d u r c h u n d d u r c h s t e t i g a u s g e d e h n t " ( K b a ü s e , Vorl. S. 1 1 7 . 1 1 8 ) . Und in derselben Weise bezeichnet auch W i e n e r den Raum als „stetig und ununterbrochen" ( W i e n e r , Grundzüge der Weltordnung S. 6 8 5 ) . In Bezug auf die mit der ununterbrochenen inneren Wesensstetigkeit aller natürlichen Einzeldinge unmittelbar zusammenfallende innere W e s e n s u n t h e i l b a r k e i t derselben sagt H e r b a r t : „Das S t e t i g e (Continuum) kann n i c h t aus seinen Theilen zusammengesetzt werden; denn diese Theile sind nicht (in ihm) zu finden, lassen sich nicht vereinzeln, und ergeben, 17*

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Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

wenn man sie als gefunden voraussetzt, keinen Fluss der Grösse. Nimmt man willkührliche Theile im Stetigen (Continuum): so sind es n i c h t Bestandtheile, sondern A b s c h n i t t e , die man ebensogut grösser oder kleiner nehmen könnte, weil sie in gar keinen natürlichen Gränzen eingeschlossen sind, (sondern nur in ganz willkührlich von uns angenommenen). Daher scheint die wahre und ursprüngliche Auffassung des Stetigen nur die des u n g e t h e i l t e n G a n z e n zu seyn" (HERBART IV. S. 89). In dem gleichen Sinn sagt auch D l * 0 S S b a c h : „Sowie die stofflich-körperlichen Einzelwesen (Atome) als K r a f t w e s e n nachgewiesen sind, ist zugleich auch ihre U n t h e i l b a r k e i t festgestellt; denn Kräfte sind untheilbar, und der Raum, in dem sie wirken, oder vielmehr den sie bewirken, ist von keinem Einfluss auf ihre Theilbarkeit 1 ' (DROSSBACH, Harmonie d. Ergebnisse d. Naturforschung S. 62). Ergibt sich nun aber aus allem Bisherigen, dass R a u m und D a u e r zwei Begriffe sind, die allem und jedem in sich einfachen und in sich selbständigen wesenhaften Naturdaseyn ohne Ausnahme mit innerer Notwendigkeit allewege zukommen müssen: so ergibt sich daraus gleichzeitig auch mit der gleichen Naturnotwendigkeit, dass in Bezug auf jedes solches in sich einfache und in sich selbständige Naturwesen beide Begriffe auch als von einander völlig u n t r e n n b a r und u n l ö s b a r müssen aufgefasst werden. Das heisst mit anderen Worten, dass wir allenthalben, wo wir eine irgendwie bestimmte Räumlichkeit anerkennen müssen, wir dieser auch stets eine ihr zukommende ebenso bestimmte Dauer, als untrennbar in ihr mit enthalten, unausweichlich beizugesellen haben. Und ebenso umgekehrt: wo irgend ein Dauerndes uns entgegentritt, da haben wir für dieses auch irgend ein wesenhaftes Etwas vorauszusetzen, dem diese Dauer zukommt. Beide Ausserungsweisen der Dinge fordern, bedingen und bestimmen sich gegenseitig, und als gemeinsam gegründet in dem einheitlichen inneren Wesen, stehen sie allewege in einem

Kaum und Zeit in Bezug atif die untheilbaren Einzeldinge der Natur.

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ganz ebenso unverkennbaren und untrennbaren Wechselverhältniss zu einander, wie wir ein solches auch bei magnetischen oder elektrischen Wesenserregungen wahrnehmen. Auch hier ist es eine und dieselbe magnetische oder elektrische Kraft, welche gleichzeitig an den beiden entgegengesetzten Polen in zwei einander völlig entgegengesetzten Weisen in die Erscheinung tritt. Unsere Sprache besitzt für diese von einander untrennbaren Begriffe von R a u m , D a u e r und w e s e n h a f t e m D a s e y n drei verschiedene Bezeichnungsweisen, welche in unmittelbarer Beziehung stehen zu eben jener einheitlichen Grundkraft, von deren unmittelbarer Wirksamkeit sie gemeinschaftlich ihren Ausgang nehmen. Durch die sehr nahe Verwandtschaft, in welcher sie zu einander stehen, sind sie nicht wenig geeignet, auch in sprachlicher Beziehung als eine Bestätigung für das Ebengesagte von uns aufgefasst zu werden. Es sind dies die Zeitbegriffe des R e i c h e n s , des D a u e r n s und des W ä h r e n s . Das R e i c h e n mit seinem Hinweis auf die Gränze, bis zu welcher es reicht, weist uns hin auf die räumlich-körperliche W e s e n s a u s d e h n u n g ; das D a u e r n , indem es, wenngleich in unbestimmterer Weise, ebenfalls auf irgend eine Gränze hindeutet, bis zu welcher etwas dauert, zeigt uns den W e s e n s b e s t a n d in seiner ganzen Ausdehnung; und das W ä h r e n endlich, das schon sprachlich auf das w a h r e , d. i. w i r k l i c h e Vorhandenseyn anspielt, versinnbildlicht uns die untrennbare Einheit und Zusammengehörigkeit der beiden Begriffe von Ausdehnung und von Dauer, wie solche einzig und allein nur im w e s e n h a f t e n N a t u r d a s e y n sich uns vor Augen stellt. In diesem Sinn bezeichnet daher auch H e g e l ganz richtig den Geist als die W a h r h e i t (HEGEL VII 1 1 S. 47) alles stofflichen Daseyns; denn die allem Stofflichen wie allen übrigen Naturstufen zu Grunde liegenden g e i s t v e r w a n d t e n K r a f t t h ä t i g k e i t e n sind es ja, welchen die daseyenden Dinge überhaupt ihre wesenhafte W i r k l i c h k e i t des D a s e y n s zu verdanken haben.

2 6 2 Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

Aus eben dieser untrennbaren Zusammengehörigkeit der beiden Grundbegriffe von R a u m und von D a u e r in dem Begriff des wesenhaften Daseyns geht nun aber folgerichtig auch noch weiter hervor, dass beides Begriife sind, welche ausschliesslich nur den wesenhaften Ur- und Einzelwesen dieser Welt als deren nicht nur a u s s c h l i e s s l i c h e s , sondern auch u n t r e n n b a r und u n l ö s b a r mit ihnen verbundenes E i g e n t h u m zukommen, und welche daher auch von uns unter allen Umständen als ein unveräusserliches und uranfängliches Besitzthum derselben müssen anerkannt werden. Denn wie es keine stoff- oder wesenlose Eigenschaften oder Beschaffenheiten geben kann, sondern immer nur wesenhafte Dinge, denen eben diese Eigenschaften oder eigentümlichen Beschaffenheiten als innerlich zu ihrem Wesen gehörig zukommen: so kann es aus gleichen Gründen auch keinen stoff- oder wesenlosen Raum und keine stoff- oder wesenlose Dauer geben. Den sichersten Erweis für die Richtigkeit dieser Anschauung haben wir in uns selbst und in unserer eigenen täglichen Erfahrung. Denn wir alle sind fest davon überzeugt, dass wir allenthalben, wohin wir uns auch begeben mögen, u n s e r e n e i g e n e n R a u m und einen k ö r p e r l i c h e n U m f a n g g a n z e b e n s o s i c h e r d a h i n m i t n e h m e n , wie wir a u c h n i c h t ohne u n s e r eigenes p e r s ö n l i c h e s I c h u n d S e l b s t uns dahin begeben können. Wie somit ein jeder von uns, wenn wir so sagen dürfen, sich s e l b e r R a u m u n d sich s e l b e r D a u e r ist, so fühlen wir uns auch selber ganz ebenso sicher als die a l l e i nigen und a u s s c h l i e s s l i c h e n B e s i t z e r eben d i e s e s u n s p e r s ö n l i c h - e i g e n e n R a u m e s und d i e s e r u n s e b e n f a l l s p e r s ö n l i c h e i g e n e n D a u e r , und nur kraft eben dieses unseres p e r s ö n l i c h e n E i g e n t h u m s r e c h t e s an uns selber geschieht es denn auch, dass wir uns nirgendshin zu begeben vermögen, ohne nicht auch beide, unseren eigenen S e l b s t r a u m wie auch unsere eigene S e l b s t d a u e r , jederzeit bei uns zu haben.

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 2 6 3

§ 22. Raum und Zeit in Bezug- auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. N o . 116. Der Raumbegriff als Ausser- und Nebeneinanderseyn der Dinge. — Die Zeit als Hacheinanderseyn der wechselnden Erscheinungsweisen der Dinge. Im Allgemeinen pflegt bekanntlich auf dem wissenschaftlichen Gebiet der Begriff des R a u m e s dahin bestimmt zu werden, dass er das g l e i c h z e i t i g e A u s s e r - u n d N e b e n e i n a n d e r s e y n der Dinge unter sich bezeichne; der Begriff der Z e i t jedoch das N a c h e i n a n d e r s e y n in Bezug auf die in stetem Wechsel begriffenen V e r ä n d e r u n g e n , die wir sowohl an den Dingen ausser uns, wie auch an uns selber im Verlauf des allgemeinen Naturlebens wahrnehmen. Zum Zweck «ines allseitig richtigen und einheitlichen Verständnisses eben dieser beiden begrifflichen Darstellungsweisen dürfte es jedoch geboten erscheinen, unsere Blicke nochmals auf jene den Begriffen von Raum und Zeit entsprechenden Verhältnisse in ihrer ganzen begrifflichen Ur-Einfachheit zu richten, welche die stofflich-körperlichen Ur- und Einzeldinge und Einzelwesen dieser Welt uns bieten, sobald wir dieselben nicht in ihrem natürlich-wesenhaften Zusammenhang unter sich betrachten, sondern vielmehr sie als v ö l l i g v e r e i n z e l t nur allein und an und für sich a u s s e r a l l e r u n d j e d e r B e z i e h u n g zu e i n a n d e r oder ausser aller und j e d e r wechselseitigen Ber ü h r u n g m i t e i n a n d e r in das Auge fassen. Wir haben gesehen, dass in solchem Fall das innere räumlich-körperliche und in sich völlig * einheitliche Wesen der Dinge dem Auge des Geistes gleichsam als aus einem einzigen, in sich selber völlig stetigen und ununterbrochenen Guss bestehend sich darstellt. Da sind keine besonderen, ebenfalls in «ich selber selbständigen Theile innerlich enthalten, die hier in einem wirklichen Ausser- und Nebeneinander sich befinden

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

könnten, und eben hieraus schon muss es sich für uns als eine unzweifelhafte Gewissheit ergeben, dass für den eben angenommenen Fall einer vollständigen innerlich-äusserlichen Wesensvereinzelung für alle diese uranfänglichen Einzeldinge oder Einzelwesen dieser Welt der Begriff eines wirklichen „Ausser- und Nebeneinanderseyns" in seiner gewöhnlichen Bedeutung unmöglich eine v o l l g ü l t i g e Anwendung finden kann. Denn da sie durchaus keine innerliche Wesenstheilung in sich selber einschliessen, so bleiben nur etwa willkührlich von uns anzunehmende P u n k t e im Innern oder auf der äusseren oberflächlichen Umhüllung übrig, welche zwar nicht als „nebeneinander", aber doch jedenfalls als „ a u s s e r e i n a n d e r " könnten zu betrachten seyn. Wechselseitig an einander anreihen lassen sich Punkte nun einmal nicht: das verbietet ein für allemal ihre völlige Raumlosigkeit. So bleibt also nur das gegenseitige „ Auseinanderseyn" als das einzige begriffliche Verhältniss, unter welchem der allgemeine Raumbegriff in diesem Fall für uns als von einer wirklichen, wenn auch noch sehr entfernten und ursprünglichsten Bedeutung sich darzustellen vermöchte. An ein wirkliches „Nebeneinander" dagegen kann hier unbedingt in keiner Weise gedacht werden r da hierzu allewege unmittelbare Berührung erforderlich ist, diese aber gerade durch unsere Annahme völliger Vereinzelung im Daseyn von vornherein sich ausgeschlossen zeigt. Und gehen wir nunmehr von dem Begriff des Raumes auf den der Zeit über: so zeigt sich uns auch hier, wie wir bereits im Vorigen ersehen, ein ganz ähnliches, weil verwandtes Verhältniss. Kann und darf den natürlichen Einzeldingen auch selbst in ihrer vollkommensten Vereinzelung eine gewisse,, ihnen innerlich zukommende Beziehung zu dem räumlichen Begriff des „Aussereinanderseyns" keineswegs kurzweg abgesprochen werden, sondern müssen wir darin im Gegentheil bereits einen begrifflich-natürlichen H i n w e i s auf eine ebensolche Möglichkeit in Bezug auch auf ein wirkliches und that-

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sächliches „ Auseinanderseyn" im gemeinschaftlichen Zusammenseyn mit ihren übrigen Mitwesen erblicken: so gilt nunmehr fast ein gleiches Yerhältniss hinsichtlich des mit dem eigentlichen Z e i t b e g r i f f ebenfalls in so naher Beziehung stehenden D a u e r b e g r i f f e s . Auch er ist, wie schon im Vorigen erwähnt, für alle stofflich-körperlichen Einzeldinge bereits ein erster Dämmerschein und begrifflich-natürlicher Hinweis auf die natürliche Verwirklichung des eigentlichen Zeitbegriffes, wie solche erst in Folge des ununterbrochenen Wechselverkehrs, in dem alles in dieser Welt vorhandene Daseyn unausgesetzt zu einander steht, naturgemäss statthaben kann. Haben wir daher dort von der einen Seite das begriffliche „Aussereinanderseyn" in Bezug auf die innerlich-räumlichen Wesensverhältnisse als e r s t e n S t ü t z - und A u s g a n g s p u n k t auch für alles weitere N e b e n e i n a n d e r s e y n der Dinge innerhalb der allgemeinen Naturwirklichkeit vor uns: so dafür hier von der anderen Seite in der natürlichen Wesensdauer der Dinge ebenfalls den jenem in seiner Weise entsprechenden natürlichen Keim und ersten Ausgangspunkt für alles wirklich-zeitliche N a c h e i n a n d e r s e y n eben der mannigfach wechselnden inneren wie äusseren Wesensverhältnisse, auf weichet der eigentliche Zeitbegriff sich gründet. Doch dürfen wir nicht versäumen, hierbei auch noch eines besonderen Punktes zu erwähnen, dessen Aüsserachtlassung sonst leicht eine Veranlassung zu unrichtigen Anschauungen in beiden Beziehungen werden könnte. Es könnte nehmlich nach unserer bisherigen Darstellungsweise dieser Verhältnisse den Anschein haben, als ob der Ubergang des Begriffes des „Aussereinanderseyns" in den des wirklichen „ Nebenein anderseyns", sowie der der „ruhenden Zeit" oder der „Wesensdauer" in den der „eigentlichen Zeit" oder der inneren wie äusseren Wesens- und Daseyns-Veränderlichkeit", als ein „Werk der Zeit" sollten zu betrachten seyn. Im Gregentheil kann unsere Annahme einer völligen Vereinzeltheit alles Weltdaseyns zu einander nur allein

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als eine willkührlicke, rein geistige Annahme aufgefasst werden zum Zweck eines sachgemässeren Einblickes in eben jene Grundverhältnisse, falls eine derartige vollständige Vereinzelung aller uranfänglichen Grundbestandtheile dieser Welt jemals in Wirklichkeit hätte stattfinden können. Dass solches aber in der Naturwirklichkeit selbst nur als eine Sache der reinsten U n m ö g l i c h k e i t sich darstellen kann: dies geht einfach schon daraus hervor, dass, wenn derartige Verhältnisse jemals in Wirklichkeit bestanden hätten, auch nie und nimmermehr eine Welt wie die unsrige daraus hätte hervorgehen können. Denn es wäre in solchem Fall auch nicht die entfernteste Möglichkeit dazu vorhanden gewesen, dass die natürlichen Einzeldinge jemals aus solch gegenseitiger Vereinzelung heraus auch nur die allergeringsten Krafteinwirkungen auf einander hätten ausüben und in solcher Weise aus ihrer ursprünglichen Vereinzelung hätten heraustreten können. Ohne wechselseitige Einwirkungen auf einander gibt es aber keinen gegenseitigen Wechselverkehr, und ohne diesen kann auch an keine Art von Veränderungen in Bezug auf wirkliche Raumund Zeitverhältnisse jemals irgendwie zu denken seyn. Aber eben darum muss es auch allewege als eine unumstösslich feststehende Naturwahrheit von uns aufgefasst werden, dass alle natürlichen Einzeldinge schon gleich von Uranfang an in denselben unmittelbaren gegenseitigen Berührungen und in demselben gegenseitigen innerlich - äusserlichen Wesensverkehr untereinander gestanden haben müssen, wie solches auch jetzt noch nach allen uns umgebenden Erfahrungsthatsachen sowohl aus Natur- wie aus Vernunftgründen mit nicht zu bezweifelnder Nothwendigkeit der Fall seyn muss. „Wir begreifen — sagt Leibnitz — die A u s d e h n u n g (im Räume), indem wir eine O r d n u n g (des Ausser- und Nebeneinanderseyns) anerkennen in Bezug auf die g l e i c h zeitig vorhandenen Dinge (dans les coexistences). Es verhält sich damit wie mit der Z e i t , welche dem Geist eine O r d n u n g

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in den V e r ä n d e r u n g e n (also eine Ordnung der A u f e i n a n d e r f o l g e in Bezug auf diese Veränderungen) darstellt." Und an einem anderen Orte: „Was mich anbetrifft, so halte ich den R a u m für etwas rein Bezügliches (in Hinsicht auf die Dinge), wie auch die Z e i t , nehmlich für eine O r d n u n g des g l e i c h z e i t i g e n V o r h a n d e n s e y n s (ordre de coexistence), wie die Z e i t eine O r d n u n g der A u f e i n a n d e r f o l g e (ordre de succession) ist" (LEIBNITZ, S. 153. 752; BAUMANN, Raum und Zeit II. S. 93. 175. 181. 313). Ähnlich spricht auch Kant sich aus, indem er den R a u m als die Form des äusseren Sinnes bezeichnet, vermittelst dessen uns die Gegenstände als a u s s e r e i n a n d e r und n e b e n e i n a n d e r bestehend gegeben werden; die Z e i t dagegen ist nach ihm die Form des inneren Sinnes, vermittelst dessen uns Z u s t ä n d e unseres eigenen Seelenlebens gegenständig sind. „Verschiedene Zeiten — sagt er — sind nicht zugleich, sondern n a c h e i n a n d e r , sowie verschiedene Räume nicht nacheinander, sondern zugleich sind" (KANT II. S. 70; CUNO FISOHEB, KANT'S Leben S. 123. 127). So sagt auch Herbart: „Die Ordnung des G l e i c h z e i t i g e n und aussereinander Vorhandenen ist der R a u m . Die Ordnung der A u f e i n a n d e r f o l g e ist die Zeit. Der Grundbegriff der Zeit ist das N a c h e i n a n d e r , des Raumes das A u s s e r e i n a n d e r " (HERBART III. S. 86; IV. S. 154). D a h l b e r g bezeichnet ebenfalls den R a u m als „das Verhältniss der bezüglichen Mannigfaltigkeit in der Gleichgültigkeit", die Zeit dagegen als ,,das Verhältniss der p e r s ö n l i c h e n Mannigfaltigkeit" (oder mit anderen Worten: der von uns innerlich an uns selber wahrnehmbaren Veränderlichkeit unserer eigenen Wesenszustände) (DAHLBERG, Univ. S. 10). Ahnlich Hegel. Auch ihm ist „der R a u m das Nebeneinander, weil er das Aussersichseyn ist, und zugleich schlechthin stetig (continuirlich), weil dies Aussereinander noch keinen bestimmten Unterschied in sich habe". „Das Räumliche" — sagt er — „stellt sich als die E r s c h e i n u n g s w e i s e (Form) des gleichzeitigen N e b e n -

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e i n a n d e r s e y n s , des r u h i g e n B e s t e h e n s (und Dauerns) dar; das Zeitliche dagegen als die Erscheinungsweise der U n r u h e , d. h. des N a c h e i n a n d e r s e y n s , des Entstehens und des Verschwindens" (HEGEL VII 1 - S. 45; VII 11 - S. 316. 317; DRECHSLEK, Charakt. d. philos. Systeme seit KANT S . 62). S c Helling sagt: „Der R a u m hat für sich das G l e i c h z e i t i g e (Simultane); die Z e i t das N a c h e i n a n d e r in den Dingen." „Im R a u m , für sich betrachtet, ist alles nur n e b e n e i n a n d e r , wie in der uns gegenständlich gewordenen Z e i t alles n a c h e i n a n d e r ist. Der Raum r u h t , während die Zeit verf l i e s s t " (SCHELLING I I . S . 368; III. S . 476. 477). M o l i t o r bezeichnet den Raum als ein „ w e i t e s A u s e i n a n d e r " , wogegen die Zeit uns als „ein g e d e h n t e s N a c h e i n a n d e r ers c h e i n t " (MOLITOR, Philos. d. Gesch. I . S. 88). „ R a u m und Z e i t " — sagt Wessenberg — „sind keine wirklichen Wesen. Vielmehr sind beide blosse E r s c h e i n u n g s w e i s e n (Formen), an die unsere Sinne und unser Verstand gebunden sind, wenn sie uns von sinnlichen Dingen eine Vorstellung geben sollen. Raum ist uns hierbei die Erscheinungsweise ihres Ausser- und Nebeneinanderseyns, Zeit die Erscheinungsweise ihres Nacheinanderseyns; der Raum (in seiner wesenhaften Dauer erfasst) die Erscheinungsweise ihres (ruhigen) B e h a r r e n s , die Zeit die Erscheinungsweise ihrer B e w e g u n g " (WESSENBERG, Gott und Welt I. S. 14. 15). So auch Sengler, indem er Raum und Zeit als „die E r s c h e i n u n g s w e i s e n (Formen) des Ausser-, Neben- und Nacheinanderseyns" bezeichnet. „Jedes Wesen" — sagt er —, „sich verwirklichend, setzt die Erscheinung (Form) des Raumes und der Zeit. Dieses ist das Wesen in seinem Verhältniss zu sich selbst. Es verhält sich aber auch zu a n d e r e n Wesen, ist a u s s e r und n e b e n denselben, oder nimmt einen Raum neben ihnen ein, von dem es die andern ausschliesst (die gleichzeitig mit ihm und neben ihm einen andern Raum einnehmen)" (SENGLER, Idee Gottes II 1 - S. 268; II 11 - S. 396). Ähnlich F e c h n e r (FECHNER,

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Atomenl. S. 142). Ulr'lCi sagt: „So gewiss alles Endliche als solches begränzt und beschränkt ist, so gewiss sind alle Dinge und Wesen der Welt nebeneinander. Dieses Nebeneinander ist der Anfangsgrund (das Fundamentalelement) im Begriff der Räumlichkeit." Von der Z e i t dagegen sagt ULRICI: „Sie ist die allgemeine Daseynsweise (Existenzialform) alles Seyenden. Denn so gewiss ein Ding nur das i s t , was es w i r d , so ist die allgemeine Erscheinungsweise (Form) des weltlichen Daseyns ein allgemeines V o r - und N a c h - e i n a n d e r von werdenden, d. i. entstehenden und vergehenden Dingen, Bewegungen, Veränderungen, Ereignissen u. s. w. Eben damit gewinnen wir die Vorstellung der Z e i t , deren Inhalt eben nur die Aufeinanderfolge oder das Nacheinander von Augenblicken (Momenten) ist, mögen Letztere durch Dinge, Ereignisse, Veränderungen oder blosse Bewegung vertreten (repräsentirt) seyn" (ULEICI, Gott u. Natur S. 678. 680. 681). Alle diese soeben hier dargelegten Anschauungen in Bezug auf das eigentliche Wechselverhältniss, in welchem die beiden Begriffe von E a u m und Z e i t , und zwar nicht etwa bloss in rein begrifflicher Beziehung, sondern im Gegentheil auch in der gesammten uns umgebenden Naturwirklichkeit, zu einander stehen, — sind, wie deutlich zu ersehen, in hohem Grade geeignet, uns von der unbedingten sachlichen E i n h e i t wie von der unbedingten naturgesetzmässigen Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t dieser Begriffe für das ganze Naturdaseyn zu überzeugen. Wie in dem Begriff des w e s e n h a f t e n R a u m e s auch gleichzeitig nicht nur derjenige einer r ä u m l i c h - k ö r p e r l i c h e n G r ö s s e , sondern ebensosehr auch der eines steten B e h a r r e n s im wesenhaften Daseyn und damit einer wirklichen innerlichen W e s e n s d a u e r für alles Daseyn dieser Welt deutlich ausgesprochen liegt: so liegt auch in dem Begriff der w e s e n h a f t e n Z e i t derjenige eines u n u n t e r b r o c h e n e n u n d s t e t i g e n V e r l a u f e s a l l e r Z e i t v e r h ä l t n i s s e von Anfang an mit eingeschlossen. D o r t wesenhaftes Beharren im gemein-

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samen wesenhaften A u s s e r - u n d N e b e n e i n a n d e r s e y n ; h i e r wesenhaftes A u s h a l t e n und B e h a r r e n im natürlichen Verlauf a l l e r Z e i t e r e i g n i s s e . Der Begriff des w e s e n h a f t e n B e h a r r e n s oder d e r w e s e n h a f t e n D a u e r aber, den beiden Begriffen von Raum und Zeit allewege g e m e i n s a m zukommend, erscheint als das begriffliche wie natürlich-wesenhafte M i t t e l g l i e d zwischen beiden. Wie ein jedes Naturdaseyn sein eigenes ihm allein zukommendes Wesen hat: so hat es auch seinen eigenen ihm allein zukommenden körperlichen Raum, seine eigene ihm allein zukommende Wesensdauer, und seinen eigenen ihm allein zukommenden Verlauf in der Zeit. Das heisst mit anderen Worten: es hat ein jedes einzelne und besondere Naturdaseyn seinen Mitwesen gegenüber s e i n e e i g e n e W e i s e , n e b e n u n d a u s s e r ihnen zu seyn, s e i n e e i g e n e W e i s e , g e m e i n s c h a f t l i c h m i t i h n e n zu seyn, wie in Bezug auf zeitliche Erscheinungsweisen sich selbst wie seinen Mitwesen gegenüber s e i n e e i g e n e W e i s e im Nacheinanderseyn.

N o . 117. Der Raum- und Zeitbegriff in dem Gebiete der noch ungestalteten Stoff- und Körperwelt und in dem Gebiete des natürlichen Seelenlebens oder der drei Reiche der Natur. Die eigene Erfahrung an uns selber lehrt uns, dass wir in Bezug auf die Begriffe von R a u m und Z e i t unwillkührlich nicht bei uns selber stehen bleiben, d. h. nicht bei den blossen Begriffen unseres e i g e n e n R a u m e s und unserer e i g e n e n Z e i t , wie solche durch unser eigenes inneres Seelenwesen naturgemäss uns gegeben sind, und wir sie daher auch allenthalben mit uns selber hinnehmen, wohin wir uns jemals begeben mögen. Der tiefere Grund hiervon liegt bereits in jenen, an sich und in ihrem eigenen inneren Wesens- und Daseynsverhältnissen noch einfachen stofflich-körperlichen Einzelwesen der noch ungestalteten Natur, auf welchen auch alle

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höheren Daseynsstufen sich erbaut zeigen. Bei diesen reichen beide, Raum- wie Zeitbegriff, so lange wir die Dinge noch ausser allen und jeden Beziehungen zu ihren übrigen Mitwesen in das Auge fassen, noch nicht über den durch ihr eigenes Wesen und Daseyn gebildeten eigenen Raum und über die zugleich damit gebildete innere Wesens- und Daseynsdauer hinaus. Sobald wir aber unsere Blicke auch auf eben jene Dinge in ihrem gegenseitigen Wechselverkehr unter einander richten, ist unsere Anschauung sofort eine wesentlich andere. Während nehmlich im vorigen Fall die Begriffe von Raum und Zeit sich nicht über die Gränzen des eigenen wesenhaften Ich und Selbst erstrecken: gewahren wir sofort, wie an den äusseren Berührungspunkten der betreffenden Dinge eben jener gegenseitige Wechselverkehr sich erschliesst, von dem wir früher bereits des Ausführlicheren gesprochen haben. Hier, an diesen Berührungsstellen nehmlich, gewahren die Dinge zuerst, wenn wir so sagen dürfen, dass es auch noch E t w a s a u s s e r und n e b e n ihnen selber gibt. Kann und darf eben diese an sich noch ursprünglichste und einfachste Selbsterfahrung von etwas Ausserlichem auch noch keineswegs als eine irgendwie klar bewusste oder gar bewussterkannte von uns aufgefasst werden: so haben wir doch immerhin bereits den ersten Keim und ersten natürlichen A u s g a n g s p u n k t auch für alle höheren und eigentlichen Erkennungsweisen von etwas dem eigenen Ich Fremden und Ausseren anzuerkennen. Die betreffenden Dinge erfahren daher an sich selber in Folge der stattfindenden Berührung eigentlich nur allein, dass sie von etwas A n d e r e m , als sie s e l b s t sind, berührt werden: was dies Berühren im Grunde aber selber sey und von welcher besonderen Wesensart und Wesensbeschaffenheit, darüber gibt ihnen die blosse Berührung mit dem Anderen noch keine Auskunft und noch weniger eine Auskunft darüber, was hinter diesen ersten Berührungsgegenständen noch etwa weiter hinausliegen könne. Erst dadurch, dass allen derartigen ausser-

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.liehen Berührungspunkten auch gleichzeitig die natürliche Vermittelungsrolle zukommt für eben jene wechselseitigen Kraftaus- und Krafteinwirkungen, aus deren unausgesetztem Verlauf alle thatsächlichen Wechselwirkungen in der Natur hervorgehen; erst in Folge hiervon ist den betreffenden Dingen eine gewisse natürliche Möglichkeit dafür geboten, nunmehr auch von der besonderen Natur und Art nicht nur einer jeden auf sie einwirkenden K r a f t , sondern eben damit auch von der besonderen N a t u r und dem besonderen Wesen eben der Dinge, von denen eine solche Kraftein Wirkung ausgeht, irgendeine, wenn auch nur dunkel ahnende Kenntniss zu erlangen. Denn die betreffenden Einzeldinge gewahren nicht bloss die statthabende Berührung mit den fremden Aussendingen, sondern auch die Art und Weise, wie ihr eigenes Innere durch die stattfindende Einwirkung nunmehr auch innerlich erregt wird: aber ebensosehr gewahren sie zugleich damit auch jene besonderen inneren Wesens zustände, welche — wie wir früher gesehen haben — als die unausbleibliche Folge eben jener inneren Wesenserregungen müssen betrachtet werden. Schon hieraus dürfen wir wohl den nicht allzukühnen Schluss ziehen, dass alle diese gemeinsamen Verhältnisse auch nothwendig von irgend einer gewissen Art wechselseitiger dunkeler Ahnungen müssen begleitet seyn in Bezug auf die besonderen Wesensarten eben der Dinge, welche gerade in solchen Wechselbeziehungen zu einander stehen. Wäre dem nicht so: in welcher Weise sollten die stofflichen Wesensvereinigungen zwischen stofflichen Körpern von verschiedenen Wesensarten möglich seyn, oder wie und in welcher Weise sollte irgendeine befriedigende Erklärung für diese Thatsachen zu erhoffen seyn ? Aus allem eben dargelegten geht nun aber auch augenscheinlich hervor, wie a r m die Erweiterung des eigenen Raumbegriffes, selbst im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge, im Ganzen eben doch noch geblieben ist. Eine erste Ahnung,

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ein erstes Dämmerlicht auch von noch anderen, ausserhalb des eigenen wesenhaften Daseyns liegenden Daseynsweisen: das ist es, worauf auf jener untersten Daseynsstufe der gesammte I n h a l t eines wirklichen Raumbegriffes bis dahin noch sich beschränkt zeigt. Und völlig hiermit übereinstimmend muss es hierin auch in Betreff des Zeitbegriffes sich verhalten. Zustandsveränderungen müssen in Folge der fortwährend wechselnden Kraftaus- und Kraftein Wirkungen unausgesetzt statthaben: dass dem so sey, müssen wir als natur- und vernunftnothwendig anerkennen. Sollten diese aber sammt dem mit ihnen verbundenen Wechsel derselben für die betreffenden Dinge gänzlich unbemerkt bleiben? Auch dies können wir nicht annehmen. Denn wie sollte auf die erfahrenen Einwirkungen auch jederzeit die ganz entsprechende Rückwirkung nach aussen hin erfolgen können, wenn nicht auch irgendwelche Art von Kenntniss oder Selbsterfahrung von dem, was in Folge der Einwirkung in dem eigenen Inneren vorgegangen ist, zugleich damit von uns angenommen werden dürfte? Wohl sagt man, die Rückwirkung ist naturgesetzmässige Folge und Wirkung der erfahrenen Einwirkungen; es ist blinder, unbewusster Naturdrang, der in jedem einzelnen Fall gerade so wirkt, wie er in Folge der wirkenden Ursachen nothgedrungen wirken muss. Aber stellt ein jeder innerliche Naturdrang sich nicht schon von Haus aus als ein natürliches S t r e b e n dar, wenngleich als ein Streben von noch der allereinfachsten und urwüchsigsten Beschaffenheit? Freilich, wenn wir es in Bezug auf eben jene noch einfachsten stofflich-körperlichen Einzeldinge mit wirklich t o d t e n und leblosen Naturwesen zu thun hätten und nicht mit wirklich kraft- und lebensvollen Wesenheiten: von solchem allem würde in keiner Weise die Rede seyn können. Denn das an sich völlig Todte ist allein das völlig E m p f i n d u n g s l o s e : es ist auch das völlig W i r k u n g s l o s e , und selbst die kräftigsten Einwirkungen würden in solchem Fall ebenso spurlos an dem innern Wesen der Wandersmann. II.

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Dinge vorübergehen müssen, wie an und für sich auch eine jede Rückwirkung auf dieselben eine Sache der reinsten Unmöglichkeit seyn würde. Ist dies Letztere aber nicht der Fall, sondern finden wir uns im Gegentheil genöthigt, auch schon im Bereiche der noch ungestalteten Natur ein gewisses L e b e n und damit zugleich ein gewisses inneres G e f ü h l auch für derartige Veränderungen innerer Wesenszustände den betreffenden Dingen zuzugestehen: so ist es selbstverständlich, dass wir gleichzeitig auch ein solches, wenn an sich noch so unklares Gefühl für eben den fortwährenden Z e i t v e r l a u f anerkennen müssen, von welchem jene Zustandswechsel unter allen Verhältnissen sich begleitet zeigen. Dass aber eben dieses auch in Bezug auf den Z e i t b e g r i f f für die betreffenden Einzeldinge im Vergleich mit den entsprechenden Verhältnissen, wie sie ohne thatsächliche Wechselwirkungen stattfinden müssten, als ein sehr wesentlicher begrifflicher Fortschritt von uns muss aufgefasst werden, ist der Natur der Sache nach selbstverständlich. Denn wenn wir die Dinge als ohne allen natürlichen Wechselverkehr unter einander stehend in das Auge fassen, hätten wir nur den an inneren W e s e n s e r e i g n i s s e n noch völlig leeren, daher noch sehr armen D a u e r b e g r i f f , als den Begriff eines an sich noch blossen Beharrungsvermögens, vor Augen, während es nunmehr der ganze lebensvolle Z e i t b e g r i f f ist, den wir nunmehr als naturgemäss an dessen Stelle getreten zu betrachten haben. Wie ganz anders aber treten alle diese Verhältnisse uns entgegen, sobald wir in das R e i c h der Q u a r z e eintreten, als das noch unterste der drei Reiche der wirklich g e s t a l t e t e n N a t u r . Hier haben wir es nicht mehr mit blossen Einzelstoffen zu thun, die nach zufälligen äusseren Verhältnissen zu grösseren an sich unregelmässigen Massenbildungen sich zusammenthun, die wie ihre Einzelbestandtheile ebenfalls nur der noch ungestalteten Natur angehören: hier haben wir im Gegentheil bereits ein erstes und thatsächliches, wirklich ein-

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Zeitliches G e s t a l t u n g s l e b e n vor uns, welches, je nach seiner besonderen stofflichen Wesensart, seine natürlich-körperlichen Ausgestaltungen, von so einfacher Art sie im Allgemeinen auch noch seyn mögen, nach ganz bestimmten, schon im natürlichen Wesensgrundbegriff der einzelnen Stoffarten von Uranfang an ganz bestimmt festgesetzten wirklichen Gestaltungsgesetzen verwirklicht und somit schon für die bloss äusserlich-oberflächliche Beschauung eine bestimmte und wohlgestaltete, von naturgesetzmässig festgestellten Flächen, Winkeln, Kanten und Punkten begränzte wirkliche ä u s s e r e L e i b u n d K ö r p e r l i c h k e i t uns vor Augen stellt. Da die Möglichkeit uns geboten ist, alle hierbei statthabenden Vorkommnisse mit Hülfe starker Yergrösserungen in ihrer gestaltenden Thätigkeit zu belauschen: so können wir durch den eigenen Augenschein uns davon überzeugen, wie eben diese höhere Gestaltungsthätigkeit stets von gewissen einzelnen Punkten ausgeht, von welchen aus sie alsdann in immer weitergehenden Seitenausstrahlungen nach den verschiedensten Eichtungen hin sich abzweigt, bis in solcher Weise schliesslich der ganze von uns überblickte Raum in immer weiterem Auswachsen allenthalben von den feinsten stetig an einander sich anreihenden wohlgestalteten Quarzbildungen sich ausgefüllt zeigt. Für alle diese innerlich-äusserlichen Ausgestaltungen des untersten Naturreiches würden wir aber kaum im Stande seyn, eine auch nur einigermassen befriedigende Lösung und Erklärung zu finden, wenn wir nicht annehmen dürften, dass eben dasjenige stofflich-körperliche Ur- und Einzelwesen, welches an dem O r t e sich befindet, von welchem aus wir den e r s t e n A n t r i e b und A n s t o s s zu eben diesen höheren Gestaltungserscheinungen haben a u s g e h e n sehen, auch gleichzeitig als dasjenige zu betrachten sey, in welchem eben diese höhere Gestaltungsthätigkeit nicht allein z u e r s t e r w a c h t ist, sondern welches demgemäss für unser geistiges Urtheil gleichzeitig als der erste Ausgangspunkt und damit als die e i g e n t l i c h e Seele des 18*

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ganzen Gestaltungsvorganges sich darstellen muss. Sie ist es, welche alle weiteren Vorgänge nach ihren eigenen innerlichen Gestaltungsgesetzen durch ihre ununterbrochenen lebensvollen Einwirkungen auf alle sie umgebenden übrigen Einzelwesen ihrer Art zur Verwirklichung eines einheitlich ausgestalteten Quarzganzen nicht nur einheitlich b e h e r r s c h t , sondern dieselben auch in deren eigenen gestaltenden Thätigkeiten allewege durch ihren hervorragenden Einfluss ordnungsmässig l e n k t und l e i t e t , bis der vollendete Quarzkörper, soweit äussere Verhältnisse solches zulassen, seine volle Ausbildung erhalten hat. Hier sehen wir also im eigentlichsten Sinn des Wortes den r ä u m l i c h e n B e g r i f f nicht nur eines thatsächlichen A u s s e r e i n a n d e r - S e y n s , sondern gleichzeitig damit auch ebensosehr den eines wirklichen N e b e n e i n a n d e r - S e y n s zum ersten Mal in die Erscheinung treten. Damit ist aber gleichzeitig auch eben jener e i n h e i t l i c h e r w e i t e r t e ß a u m b e g r i f f gewonnen, wie solcher erst mit den drei Reichen der gestalteten Natur oder des eigentlich-gestalteten Seelenlebens in dessen ä u s s e r l i c h - l e i b l i c h e n K ö r p e r b i l d u n g e n , den einfachen Verhältnissen der noch ungestalteten Natur gegenüber, zu seiner vollen naturgesetzmässigen Geltung zu gelangen im Stande ist. Dass ein ganz Ahnliches nun aber auch in Bezug auf einen ebenso e r w e i t e r t e n Z e i t b e g r i f f innerhalb des untersten der drei Naturreiche statthaben muss: dies dürfen wir nach allem bisher Dargelegten wohl schon von vorn herein annehmen. Zwar scheint der in sich vollendete und allseitig ausgebildete Quarz in der Naturwirklichkeit ein in sich völlig todtes und darum auch völlig «regungs- und bewegungsloses, daher auch in und an sich völlig unveränderliches Naturdaseyn vor unseren Augen darzustellen. Dass dem aber in Wirklichkeit nicht so ist: dies zeigt uns die Erfahrung. J e nach ihrer besonderen Wesensart sehen wir diese scheinbar so unveränderlich und regungslos vor unseren Augen dastehenden

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Quarzkörper in den mannigfachsten äusseren Erscheinungsweisen abwechselnd uns entgegentreten; bald in den verschiedensten Graden innerlich erwärmt, bald in den verschiedensten Graden innerlich erkaltet, bald in elektrischen, bald in magnetischen Zuständen u. s. w. Alles dies zeigt uns, dass auch hier der wirkliche Z e i t b e g r i f f eine nicht weniger wichtige Rolle spielt, wie dies auch bereits im Gebiet der noch ungestalteten Natur der Fall ist. Dass er aber allewege auch in Bezug auf z e i t l i c h e D a u e r der Dinge in ganz gleichem Verhältniss steht mit den räumlichen Verhältnissen der betreffenden Körper: dies dürfte uns durch folgenden Umstand klar werden. Alle- in der Natur vorkommenden regelmässig gestalteten Quarzkörper haben n i c h t von Uranfang an in ihrer Sie gegenwärtigen höheren Ausgestaltung sich befunden. können im Gegentheil e r s t n a c h t r ä g l i c h aus an sich noch ungestalteten stofflich-körperlichen Wesenheiten unter der Mitwirkung günstiger äusserer Verhältnisse hervorgegangen seyn, und sie haben also irgend einmal, wie in räumlicher so auch in zeitlicher Beziehung, einen ganz bestimmten A n f a n g genommen. Das Entgegengesetzte sehen wir eintreten, sobald wir vorhandene Quarze durch Hitze zur Schmelzung bringen oder durch Lösung in Säuren in den flüssigen Zustand ihrer Einzelbestandtheile überführen. In beiden Fällen zeigt sich die bis dahin in ihnen thätig gewesene höhere Gestaltungskraft erloschen; sie sind dem Quarzleben, das bisher in ihnen gewaltet, abgestorben und damit wieder in das Gebiet der noch ungestalteten Natur z u r ü c k g e t r e t e n , deren einfachere Kräfte und Gesetze von da an in ihren vorigen Einzelbestandtheilen allein noch wirksam sich erweisen können. Das G e s a m m t d a s e y n eines solchen Quarzkörpers als solchen liegt daher eingeschlossen zwischen den zwei ganz bestimmten Gränzen von Anfang und E n d e , und der zeitliche Abstand zwischen beiden zeigt uns die wirkliche z e i t r ä u m l i c h e D a s e y n s d a u e r des betreffenden Quarzkörpers. Unter solchen

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Verhältnissen dürfen wir also wohl sagen, dass auch hier r ä u m l i c h e A u s d e h n u n g und z e i t l i c h e D a u e r in einem gewissen bestimmten Verhältniss zu einander stehen, da beide ja aus der natürlichen Wirksamkeit einer und derselben einheitlichen Daseynskraft gemeinschaftlich dergestalt hervorgehen, dass sie nur zwei verschiedene Erscheinungsweisen der einheitlichen Wirksamkeit eben jener innersten Wesensgrundkraft darstellen. Doch könnte man hier vielleicht die scheinbar nicht unerhebliche Einwendung machen, dass, wenn wir eine solche Einschmelzung oder Lösung statt eben j e t z t , erst in einem s p ä t e r e n Zeitpunkt vernehmen, wohl die körperliche Ausdehnung unverändert die gleiche bleiben würde, die zeitliche Dauer dagegen im ersten Fall eine viel kürzere seyn würde als im zweiten. Dieser Einwand wird jedoch seine Schärfe alsbald wieder verlieren, wenn wir bedenken, dass, wenn wir einen Baum vor dem eigentlichen Ende seiner natürlichen Lebensdauer gewaltsam lallen oder ein Thier vor dem Ende seiner natürlichen Lebensdauer gewaltsam tödten, ein g a n z g l e i c h e s V e r h ä l t n i s s o b w a l t e t wie bei dem eing e s c h m o l z e n e n oder in e i n e r S ä u r e a u f g e l ö s t e n Quarz. In allen drei Fällen ist es n i c h t der n a t ü r l i c h e Anfang und das n a t ü r l i c h e Ende oder der natürliche und naturgesetz-' massig eintretende Tod, was wir vor Augen haben, sondern ein g e w a l t s a m und v o r z e i t i g , aber, eben darum auch w i d e r n a t ü r l i c h herbeigeführter Tod, mit dem wir es zu thun haben. Dass ein solches widernatürliches Verhältniss aber nicht als Maassstab dienen kann für das betreffende Wechselverhältniss zwischen körperlicher Grösse und zeitlicher Dauer, wie solches bei einem n i c h t gewaltsam und vorzeitig herbeigeführten Ende des Daseyns würde der Fall seyn: dies ist wohl von selbst einleuchtend. Ganz den ähnlichen Verhältnissen, jedoch den höheren Lebens- und Daseynsstellungen entsprechend, begegnen wir auch im Pflanzen- und Thierreich. Die P f l a n z e , zwar wie

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der Quarz noch an den Ort des Bodens gefesselt, auf dem sie entstanden und gewachsen, zeigt gegenüber der noch einfacheren Daseynsweise des Quarzes eine entschiedene E r w e i t e r u n g , sowohl des Raum- wie des Zeitbegriffs. Der G r ö s s e , welche eine Pflanze bei ungestörtem Wachsthum zu erreichen vermag, entspricht, wie bereits an einem früheren Orte erwähnt, auch die zu erreichende L e b e n s d a u e r ; und im freien Säfteumlauf durch den ganzen Pflanzenkörper, in der Beweglichkeit, welche die Blätter vieler Pflanzen an den Tag legen, namentlich aber im Schliessen oder Offnen der Blüthen zu gewissen Tageszeiten zeigt sich ein nicht weniger augenfälliger Fortschritt in Bezug auf eine tiefere und bedeutungsvollere Ausgestaltung auch des wirklichen und eigentlichen Z e i t b e g r i f f s . Auch im T h i e r r e i c h , namentlich bei den sogenannten Pflanzenthieren, begegnen wir noch sehr ähnlichen Verhältnissen. Die Korallenthiere zeigen sich mit ihren Korallenstöcken, auf denen sie familienartig zusammengewachsen sich befinden, ähnlich wie die einzelnen Aste und Zweige auf dem Hauptstamm, in ganz ähnlicher Weise fest auf dem Boden des Meeres aufgewachsen wie die Pflanzen in dem Boden der Erde. Aber welch eine Feinheit und Freiheit in der Bewegung tritt dagegen schon bei ihnen in den Bewegungen ihrer Fühler zu Tage, durch welche sie der in ihr Bereich gerathenden Nährstoffe sich bemächtigen und ihrem Verdauungs- und Ernährungskanal zuführen. Nur die sogenannten fleischfressenden Pflanzen zeigen uns verwandte Erscheinungen, aber immerhin unter bedeutend einfacheren Verhältnissen. J a selbst jene noch allereinfachsten thierischen Lebensformen, deren ganze äussere Leiblichkeit oft nur aus einer einzigen, von thierischem Leben durchflutheten Zelle besteht, und welche nur durch starke künstliche Vergrösserungsmittel dem Auge sichtbar können gemacht werden, sehen wir in dem Wassertropfen, darinnen sie leben, mit einer Lebendigkeit und Lebhaftigkeit sich herumtummeln, hinter denen ähnliche Erscheinungen

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innerhalb der Pflanzenwelt sehr weit zurückstehen. Diese noch einfachsten thierischen Daseynsforinen sehen wir in ihren Bewegungsrichtungen in bestimmter Weise wechselseitig einander ausreichen, was an den der Pflanzenwelt angehörigen Einzelwesen ähnlicher Art niemals wahrgenommen wird. Mit ähnlichen Wimperhärchen versehen, wie die Samen und Sporen mancher Pflanzenarten, sieht man diese Letzteren wohl auch im Wasser gewisse schwimmende Bewegungen ausüben, jedoch ist noch nicht bemerkt worden, dass sie bei solchen Wimperbewegungen sich wechselseitig einander auszuweichen vermöchten, sondern dass sie im Gregentheil blindlings aufeinander stossen, wenn sie von den durch die Erzitterungen ihrer Wimperhärchen erregten Wasserbewegungen äusserlich-zufällig auf einander hingetrieben werden. Diese wenigen Beispiele reichen hin, uns darzuthun, welch eine bedeutende Erweiterung nicht allein der R a u m b e g r i f f , sondern gleichzeitig auch die f r e i e B e w e g u n g im R a u m , und eben damit also auch der Z e i t b e g r i f f als solcher, bereits auf diesen noch niedrigsten Stufen des thierischen Daseyns augenscheinlich muss erfahren haben. Und je höher wir nunmehr in der Gesammtreihe der Thiergeschlechter und ihrer Gattungen emporsteigen, und je entschiedener uns hierbei immer vollkommener entwickelte Sinnes- und Bewegungswerkzeuge entgegentreten, um so mehr begegnen wir allenthalben auch einem um so augenfälliger entwickelten und zugleich von freier Willensthätigkeit begleiteten R a u m - und Z e i t s i n n in der höheren und eigentlichen Bedeutung der Worte. Doch wie ein jedes besondere Daseynsgebiet seine ganz bestimmte begriffliche Gränze und in Folge dessen auch seine dieser begrifflichen Umgränzung genau entsprechende Entwickelungsgränze in sich trägt, so auch hier. Die Wanderungen der Ameisen, die Ausflüge der Bienen, die Reisen der Brieftauben, und in noch höherem Grade die weiten Reisen der Wanderfische und Wandervögel geben uns das sprechendste Zeugniss von dem hohen Entwickelungsgrad,

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welchen der Raum- wie Zeitsinn im Thierreich zu erreichen im Stande ist. Aber sehen wir noch etwas genauer zu, so bleibt, wie das ganze Thierleben überhaupt, so auch dessen Raum- und Zeitsinn immerhin an die oberflächlichen Verhältnisse dieser unserer Erde gefesselt. Über die Gränzen dieser irdischen Daseynsverhältnisse hinauszugehen: dazu fehlt dem Thier, selbst dem höchstentwickelten, alle und jede natürliche Befähigung. Es sieht wohl bei Tage die Sonne am Himmel stehen; es sieht bei Nacht den Mond und das ganze Heer der Sterne: aber es sieht sie wie auf einer inneren Kugelfläche befindlich. Jeder Begriff von einer auch im Sternengebiet vorhandenen Verschiedenheit von räumlichen Abständen und Entfernungen der sichtbaren Himmelslichter ist ihm von der Natur selber in seinem innersten Wesens- und Daseynsbegriff nicht verliehen, und ebenso ist ihm denn auch gleichzeitig damit ein jeder Einblick in die in jenen entfernten Daseynsgebieten herrschenden Zeit- und Bewegungsverhältnisse ein für allemal vorenthalten. Auch für das Thier gilt hier die gebieterische Naturschranke des „Bis hierher und nicht weiter".

N o . 118. Der Mensch und die Begriffe des allgemeinen Weltraumes und der allgemeinen Weltzeit. Das Thier haftet mit allem, was sein Daseyn und Wesen betrifft, ausschliesslich an der Oberfläche unserer Erde und deren allernächster Umgebung. Erst dem Menschengeist ist es vergönnt, sowohl mit seinen leiblichen Augen, wie mit Hülfe seines geistigen Denkens über die engen Gränzen rein irdischer Verhältnisse sich zu erheben und damit immer weitergehende Einblicke und Einsichten sich zu verschaffen in alle jene weit -entlegenen Räume, aus deren unabsehbarer Ferne am nächtlichen Himmelszelt die Sterne, ähnlich wie am Tage unsere Sonne, als Naturlichter höherer Art auf uns herniederscheinen, um auf solche Weise auch uns Erdbewohnern sozusagen Nach-

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

rieht zu bringen nicht nur von ihrem eigenen Daseyn, sondern auch von Vorgängen überhaupt, welche in jenen weitentfernten Daseynsgebieten statthaben. Den e i n f a c h e n R a u m b e g r i f f als solchen bringt auch der Mensch, ganz ähnlich wie das Thier und darum auch für's Erste in ebenfalls noch geistig völlig unbewusster Weise, schon aus dem mütterlichen Schoosse als angeborenes väterlich-mütterliches Erbtheil mit in dies irdisch-menschliche Leben. Auch bei ihm ruhen beide, R a u m - wie Z e i t b e g r i f f , in ganz derselben Weise, wie solches auch in allen einzelnen einfachsten Grundwesenheiten der Natur der Fall seyn muss, von Uranfang an in seinem eigenen geistigen Wesen und Wesensbegriff mit enthalten und eingeschlossen. Sobald das Kind aber überhaupt einmal angefangen hat, mit einiger Aufmerksamkeit mittelst seiner Augen in seiner nächsten Umgebung in soweit sich zurecht zu finden, dass es die hier befindlichen Dinge auch von einander unterscheidet: so beginnt es auch schon nach Letzteren zu greifen oder, wenn sie für seine kleinen Armchen noch unerreichbar sind, doch wenigstens nach ihnen greifen zu wollen. Diese Erscheinungen sind wohl sicher die ersten Zeugnisse dafür, dass eben jener angeborene Raumund Zeitsinn, wenigstens in Bezug auf das, was die zunächst umgebenden räumlichen Verhältnisse betrifft, bereits angefangen hat, wenn auch in geistiger Beziehung noch immer unbewusst, gewissermassen in das leibliche Fleisch und Blut überzugehen. Aber noch gilt dies alles nur für Gegenstände der allernächsten Umgebung. Was über eine gewisse Gränze in dieser Hinsicht hinausliegt, erscheint dem Kinde wohl kaum noch anders, denn als eine glatte, aber bemalte Fläche. Daher denn auch die bei Kindern wohl allgemein beobachtete Thatsache, dass, wenn sie überhaupt einmal im Stande sind, nach einem in ihrer unmittelbaren Nähe befindlichen Gegenstand zu greifen, sie meinen, nun auch alle übrigen, auch selbst die ihnen entferntesten Gegenstände, die sie mit ihren Blicken zu

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erreichen vermögen, ebenfalls ergreifen und herbeiholen zu können. Denn der richtige Blick zur Abmessung räumlicher Entfernungen bedarf noch sehr einer weiteren Entwicklung. Zu dieser aber bietet das Laufen oder Gehen das erste natürliche Mittel. Sobald die Kinder einmal im Stande sind, zu den Dingen, die sie sehen, sich selber hinzubegeben, gelangen sie alsbald auch mehr und mehr zu einer richtigeren Unterscheidung zwischen Näherem und Entfernterem, und zwar in gleicher Weise ebensosehr in Bezug auf räumliche wie auf zeitliche Entfernungen. Denn die Kinder merken es nun gar bald, wenn sie zu einem bestimmten Orte sich hinbegeben, ob sie dazu mehr oder ob sie dazu weniger Zeit gebrauchen, als bis zu einem anderen Ort, und geschähe dies auch nur durch das Gefühl einer grösseren oder geringeren Müdigkeit. Aber auch noch eine sehr wichtige weitere Erfahrung machen sie in Bezug auf räumliche Verhältnisse dadurch, dass sie nunmehr anfangen, sich nicht bloss zu näheren, sondern auch bis zu immer entfernteren Gegenständen hinzubegeben. Jene irrthümliche Anschauung entfernterer Dinge, als stellten sie alle gemeinschaftlich für den Blick nur eine glatte bemalte Fläche dar, beginnt in Folge dessen mehr und mehr zu schwinden und einer richtigeren und sachgemässeren Anschauung Platz zu machen. Denn eben dadurch, dass sie die Dinge nicht mehr bloss aus der Ferne sehen, sondern in immer grösserer Zahl auch mit ihren eigenen Händen betasten oder von allen Seiten mit ihren Augen betrachten können, gewahren sie mehr und mehr, dass das, was sie früher für bloss flache Bilder gehalten hatten, solche keineswegs in Wirklichkeit sind, sondern dass sie es bei ihnen in Wahrheit mit wirklich räumlich-körperlichen Dingen zu thun haben. Und somit gewöhnen sich die Kinder von da an denn auch immer mehr daran, diese Beschaffenheit wirklich-räumlicher Körperlichkeit auf die entferntesten Dinge zu übertragen, auch selbst dann, wenn diese in Folge von übergrosser Entfernung für das Auge sich noch

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immer als scheinbar unkörperliche Flächen darstellen. So unbedeutend alle diese frühesten Eindrücke und Lebenserfahrungen des langsam und allmählich heranwachsenden Kindes im Allgemeinen auch erscheinen mögen: für die immer weiter gehende Entwicklung nicht nur des Raum- und Zeitbegriffes, sondern ebensosehr auch für eine immer weitere Entfaltung des eigentlichen Denkvermögens bleiben sie stets von der grössten Bedeutung. Denn nur auf diese langsame und allmählich voranschreitende Weise vermag der geistige Grund und Boden im inneren Wesen des Kindes nun auch mehr und mehr vorbereitet zu werden, sodass von jenem anfänglichen bloss einfachen Denken, welches dem Menschen mit den Thieren gemeinschaftlich zukommt, nunmehr auch ein wirklicher und thatsächlicher Übergang zu einem eigentlich geistigen N a c h d e n k e n stattzufinden hat. Durch die Schule gerade auch in dieser Hinsicht fortwährend unterstützt, reift der noch jugendliche Menschengeist nun allgemach einer immer umfangreicheren Entwicklung und Ausbildung aller in ihm schlummernden höheren geistigen Vermögen und Anlagen entgegen. Und so gewöhnt sich denn auch das i n n e r e g e i s t i g e Auge, indem es das leibliche bei dessen Schweifen in die Weite in immer grössere Entfernungen begleitet und unterstützt, immer mehr daran, die in unseren beschränkten irdischen Verhältnissen bereits gewonnenen Erfahrungen und geistigen Einsichten nun auch mehr und mehr an der Hand vernunftgemässer Schlussfolgerungen auf jene weit entfernten Räume zu übertragen, welche im Vergleich mit unseren irdischen Umgebungen als eine wahrhaft ü b e r i r d i s c h e W e l t sich darstellen. Das Licht, welches das Sternenheer unseren leiblichen Augen entsendet, regt gleichzeitig unser geistiges Auge dazu an, durch immer weitergehende Forschungen und Schlussfolgerungen auch in den so weit von uns entfernten Gebieten in Bezug auf alles, was in diesen vorgeht, uns immer mehr zurechtzufinden.

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Das Thier fühlt sich noch so völlig Eins mit seiner äusseren Leiblichkeit, dass es sich innerlich in keiner Weise von derselben zu unterscheiden vermag. Alle seine Lebensäusserungen deuten zum wenigsten darauf hin, dass es in Wirklichkeit so der Fall ist. Aber darum lebt auch das Thier, unbeschadet der natürlichen Wesensselbständigkeit seines eigentlichen inneren Seelenwesens, allewege nur ein, wenn wir so sagen dürfen, natürlich - seelisches Leibesleben, in Folge dessen sein noch reines Naturdenken nicht das Vermögen besitzt, sich selber so von seiner äusserlichen Leiblichkeit zu unterscheiden, dass diese ihm als etwas ihm Fremdes und Ausserliches erscheinen könnte. Ganz anders verhält es sich jedoch in diesen Beziehungen bei dem Menschen, sobald dessen geistiges Denken überhaupt einmal begonnen hat, sich auch als ein wirklich geistiges N a c h d e n k e n zu offenbaren, oder mit anderen Worten, sobald es überhaupt einmal begonnen hat, in Bezug auf alles, was Erfahrung und Beobachtung als wirkliche Naturwahrheit ihm vorführt, auch jederzeit nach wirklichen V e r n u n f t g r ü n d e n und V e r n u n f t u r s a c h e n zu fragen, w a r u m und w o d u r c h sich alles gerade so verhält und so verhalten muss, wie wir es bei tieferen sinnlichen Erfahrungen erkennen. So wird von der einen Seite unser geistiges Nachdenken ebensosehr angeregt durch das selbstbewusste Gefühl und die selbstbewusste Erkenntniss unserer eigenen natürlich-innerlichen Wesensräumlichkeit und Wesenszeitlichkeit, wie von der anderen Seite durch unsere auf unausweichliche Vernunftgründe sich stützende Erkenntniss, dass alle jene einfachen stofflich-körperlichen Grundbestandteile, aus denen nicht nur jede körperliche Massenbildung der noch ungestalteten Natur, sondern ebensosehr auch unsere äussere Leiblichkeit sich zusammengesetzt erweisen, als thatsächlich an und für sich und in sich selber ebenso selbständig bestehende räumlich-körperliche Wesenheiten müssen betrachtet werden wie auch unser eigenes persönliches Ich und Selbst,

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d. i. unsere eigene denkende und geistig erkennende Seele. Aber ungeachtet und unbeschadet eben dieser geistigen Anerkennung einer gleichberechtigten Wesens- und Daseynsselbständigkeit zwischen unserem persönlichen Ich und Selbst und den Einzelbestandtheilen unserer äusseren Leiblichkeit begleitet uns doch dabei auch allewege ein ebenso sicheres Gefühl und eine ebenso sichere Erkenntniss davon, dass alle jene Einzelbestandtheile dieser Letzteren, und eben damit auch diese selbst, durchaus nicht mit unserem eigentlichen Seelen-Ich, als diesem in aller und jeder Beziehung etwa völlig gleichwerthig, geradezu vermengt und vereinerleit werden dürfen, sondern dass im Gegentheil beide als thatsächlich wie Inneres und Äusseres einander gegenüberstehend zu betrachten sind. Und so hat denn auch nach allen Zeugnissen der Geschichte der denkende Menschengeist, nachdem er überhaupt einmal angefangen, sowohl über sich selbst wie über alle übrigen ihn umgebenden Naturverhältnisse gründlicher und eingehender nachzuforschen, schon frühzeitig es gelernt, sich s e l b e r , d. i. sein eigenes geistiges Ich und Selbst von s e i n e r g e s a m m t e n ä u s s e r l i c h e n L e i b l i c h k e i t und allen i h r e n E i n z e l h e i t e n auf das bestimmteste nicht nur zu u n t e r s c h e i d e n , sondern eben damit diese Letztere auch zugleich allewege als etwas ihm F r e m d e s u n d n i c h t u n b e d i n g t zu ihm s e l b s t G e h ö r i g e s zu betrachten und anzuerkennen. Ein jeder Tropfen Blutes, der einer Wunde unseres Körpers entquillt, ein jedes Haar, ein jeder Knochen, eine jede Muskelfaser u. s. w. mussten dem menschlichen Denken zu ebensovielen zuverlässigen Zeugen und beredten Lehrmeistern dafür werden, dass unserer gesammten äusseren Leiblichkeit in der That durchaus keine in sich stetig verlaufende Wesenseinheit zukommen kann, wie unser eigenes inneres Gefühl und unsere eigene innere Selbstbeobachtung uns sagen, dass solches in Bezug auf unser eigenes Seelen-Inneres nothwendig der Fall seyn müsse. Was konnte nun aber nach allen derartigen Fortschritten im

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menschlichen Wissen und Erkennen für den denkenden Geist näher liegen, als alle jene aus uns selbst und an unseren nächsten Umgebungen gewonnenen Erfahrungsthatsachen auch auf die gesammte übrige Naturräumlichkeit und Naturwirklichkeit in der Weise zu übertragen, dass dieselbe für das Auge des Geistes ebenfalls immer mehr die Bedeutung einer a l l g e m e i n e n , g r o s s e n und e i n h e i t l i c h z u s a m m e n g e f ü g t e n N a t u r l e i b l i c h k e i t gewinnen musste. Jener weite, für unsere menschlichen Sinne und Geistesvermögen ganz unbestimmbarwie-grosse a l l g e m e i n e N a t u r - u n d W e l t r a u m , wie er vor unseren leiblichen Blicken dasteht, stellt für unser geistiges Auge sich nunmehr dar als eine g e m e i n s a m e e i n h e i t l i c h e U m f a s s u n g d e r G e s a m m t h e i t a l l e r der u n z ä h l b a r e n E i n z e l r ä u m e , wie solche nur allein durch das g e m e i n s a m e Daseyn aller t h a t s ä c h l i c h vorhandenen Einzeldinge kann gebildet seyn. Und damit gelangt denn schliesslich unser gesammtes geistiges Denken zu einer immer tiefer begründeten Uberzeugung davon, dass, wenn alle jene in unserer Welt vorhandenen Einzeldinge und Einzelwesen, zu denen wir alle selbstverständlich uns auch selber zu zählen haben, f e h l e n würden, auch von einem thatsächlich vorhandenen wirklichen und wahren N a t u r - und W e l t r a u m in keiner Weise auch nur im entferntesten würde die Rede seyn können. Wenn Plato im Timäus das R ä u m l i c h e oder den R a u m als dasjenige bezeichnet, „das Allem, dem Entstehen zukommt, eine Stelle gewähre, das selbst aber ohne Sinneswahrnehmung nur durch ein gewisses Afternachdenken erfassbar" sey: so ist es einleuchtend, dass es nur der allgemeine W e l t r a u m seyn kann, den er hierbei im Auge hat (PLATO [MÜLLEB] V I . S. 172). Das Gleiche gilt von dem sogenannten unbedingten oder absoluten Räume des Newton. Derselbe ist ebenfalls der allgemeine Weltraum, in dem die Himmelskörper sich bewegen, während er dagegen von NEWTON als unbedingt gedacht ist (BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 491). Und wenn Ulrici von

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dem „ a l l g e m e i n e n N e b e n e i n a n d e r " der Dinge sagt, dass dasselbe, sobald wir es „für sich und a b g e s e h e n von den Dingen als allgemeine Daseynsweise alles Seyenden fassen", dies „der Kaum" sey (ULBICI, Gott und Natur. S. 679), so ist es augenscheinlich, dass es ebenfalls nur der allgemeine Weltraum seyn kann, welchen ULRICI dabei im Auge hat. D e s cartes dagegen spricht ausdrücklich von zwei v e r s c h i e denen A r t e n von R ä u m e n , welche nicht mit einander verwechselt werden dürfen. Den einen bezeichnet er als „ A u s d e h n u n g im A l l g e m e i n e n " , den anderen dagegen als persönliche oder „ i n d i v i d u e l l e A u s d e h n u n g " , wie wir solche „im Körper" vor Augen haben. Dass er dabei unter letzterer Bezeichnung die besonderen Räumlichkeiten aller vorhandenen räumlich-körperlichen Einzeldinge in Gedanken hat, unter der ersteren dagegen den allgemeinen Weltraum, wie er nur allein durch die Gesammtheit aller jener Einzelräume gebildet ist, dies kann wohl nicht bezweifelt werden (TIEDEMANN, Geist der spekulativen Philos. VI. S. 108). Und ebenso unterscheidet in ähnlicher Weise auch Sengler zwischen einem R a u m b e g r i f f im e n g e r e n Sinn und einem e r w e i t e r t e n R a u m b e g r i f f . Auch ihm bezeichnet der Erstere jene eigene innere Naturräumlichkeit, wie solche einem jeden natürlichen Einzeldaseyn als solchem als unveräusserliches Eigenthum zukommt, und wie solche daher auch von einem jeden solchen Einzeldaseyn allenthalben mit hingenommen wird, wohin es selber nur irgend sich begeben mag. Der erweiterte Raumbegriff dagegen bezeichnet auch für SENGLEE den weiten Weltraum als solchen, wie er alle jene Einzelräume umschliesst, unterdess er selber aber durch deren Gesammtheit sich gebildet zeigt. Jenen Raum im engeren Sinn bezeichnet SENGLER als den „Raum im Allgemeinen" (in sofern er den noch allgemeinsten, weil noch ersten und ursprünglichsten Raumbegriff bezeichnet), und er sagt von ihm, er sey „der Wirkungskreis (die Sphäre), welcher seinem Umfang nach durch den Begriff (die Idee)

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eines Wesens bestimmt ist, und den ein Wesen in der Verwirklichung dieses seines Begriffes (seiner Idee) wirkt und setzt, oder den es d u r c h seine W i r k s a m k e i t und W i r k l i c h k e i t e i n n i m m t , e r f ü l l t und a u s f ü l l t . Er ist also die Begränzung und Umgränzung eben dieser Wirksamkeit. So ist der Raum die allgemeine Erscheinungsweise (Form) des für sich bestehenden und sich verwirklichenden (expandirenden) Wesens, und er ist, als bestimmter, durch die im Wesen des Begriffs begründete und bestimmte Selbstverwirklichung und deren Umfang (Expansion) bestimmt als das diese Selbstverwirklichung (Expansion) Begränzende." In Bezug auf den erweiterten Begriff des allgemeinen W e l t r a u m s aber sagt er: „Da der Raum der thatsächlich vorhandenen (geschaffenen) Welt durch den Begriff (die Idee) der Welt bedingt und gesetzt ist, und dieser Begriff der Welt (nur) in dem vorhandenen Naturdaseyn (in den Geschöpfen) sich verwirklicht: so bringen diese durch das Wirken (und Verwirklichen) ihres Begriffes auch den Raum dieser sinnlichen Welt als ihres natürlichen Wirkungskreises (ihrer Wirkungssphäre) hervor" (SENGLEB, Idee Gottes I I n - S. 393. 394). Selbstverständlich muss alles, was in der oben angedeuteten Weise für den Begriff des Raumes gilt, in Folge der untrennbaren Zusammengehörigkeit der beiden Begriffe von Raum und Zeit auch in seiner Weise seine Geltung beibehalten für den Z e i t b e g r i f f . Wie es für einen jeden von uns, ganz ebenso wie für ein jedes sonstige natürliche Einzelding oder Einzelwesen, einen persönlichen, innerlich-eigenthümlich uns zukommenden Raum gibt, den unser eigenes inneres Wesen nur für sich allein durch sein eigenes wesenhaftes Daseyn sieh gegründet hat und den es auch fortwährend sich erhält: ganz ebenso auch eine eigenthümliche und p e r s ö n l i c h - i n n e r l i c h e Z e i t . Und wie in unserem vernunftgemässen Nachdenken über die gemeinsamen Weltverhältnisse schliesslich der Begriff des persönlich-wesenhaften Raumes sich noth wendig erweitern Wandersmann.

II.

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musste zu dem Begriff eines allgemeinen Weltraumes: ganz ebenso auch der Begriff' der innerlich-persönlichen Dauer oder Zeit in den Begriff einer a l l g e m e i n e n W e l t d a u e r oder a l l g e m e i n e n W e l t zeit. F ü r unser leibliches Auge erscheint uns alles Vorhandene, soweit unsere Augen es zu erreichen vermögen, gleichsam wie n e b e n e i n a n d e r in j e n e n g r o s s e n a l l g e m e i n e n W e l t r a u m h i n e i n g e s t e l l t : alle Veränderungen aber, die wir in uns, an uns und um uns wahrnehmen, sehen wir n a c h e i n a n d e r in dieser grossen a l l g e m e i n e n W e l t z e i t sich vollziehen oder vor sich gehen. Ganz richtig bezeichnet daher auch H e g e l von der einen Seite die e i g e n e W e s e n s i n n e r l i c h k e i t als den „ e i g e n e n R a u m " und die „ e i g e n e Z e i t " ; wogegen er von der anderen Seite den „ a l l g e m e i n e n R a u m " und die „ a l l g e m e i n e Z e i t " , d. i. den gemeinsamen Weltraum und die gemeinsame Weltzeit, als „den R a u m u n d d i e Z e i t d e s V e r s t a n d e s (der Intelligenz)" bezeichnet, weil wir in Bezug auf eben dieses letztere Raum- und Zeitverhältniss n i c h t durch das eigene innere Selbstgefühl, die eigene innere Selbstwahrnehmung oder das eigene innere Selbstbewusstseyn in unserem Urtheil geleitet werden, sondern vielmehr allein nur durch die Schlussfolgerungen unseres geistigen Denkens uns geistig „in das uns dem äusseren Raum und der äusseren Zeit nach Fernste" versetzen, um auf diese Weise auch in die in jenen entferntesten Daseynsgebieten herrschenden Verhältnisse uns möglich richtige geistige Einblicke zu erschliessen (HEGEL VII 11 - S. 324. 325). S c h ö l l i n g sagt: „Alle Z e i t i s t i n n e r h a l b d i e s e r W e l t (im Universum); a u s s e r ihr ist k e i n e . Eigentlich hat jedes Ding die Zeit in s i c h s e l b s t . Es gibt keine äussere allgemeine Zeit. Alle Zeit ist p e r s ö n l i c h (subjectiv), d. i. eine i n n e r e , die jedes Ding in s i c h s e l b s t hat und n i c h t a u s s e r sich. Weil aber jedes einzelne Ding auch andere Dinge vor und neben sich hat, so kann alsdann s e i n e Zeit mit der Zeit a n d e r e r Dinge verglichen werden, da es doch nur eine eigene persönliche (sub-

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jective) Zeit hat. Dadurch entsteht dann der von der Naturwirklichkeit absehende allgemeine Begriff (das Abstractum) Z e i t , nehmlich erst durch Vergleichung und Messung" (SCHELLING VII. S. 431). S e n g l e r sagt in Bezug auf die Begriffe von Weltraum und von Weltzeit: „Es gibt einen a l l g e m e i n e n R a u m , in dem alles Daseyende (Geschaffene) i s t , und eine a l l g e m e i n e Z e i t , in der alles Daseyende (Geschaffene) wird. Dieser allgemeine Raum und diese allgemeine Zeit sind das alles daseyende (geschaffene) Seyn und Werden B e g r ä n z e n d e . Sie sind die Begriffe des Raumes und der Zeit im Allgemeinen, und sind (und bestehen) durch das Wesen der vorhandenen (geschaffenen) Welt, das sich ausdehnt und wird, d. h. das sich räumlich und zeitlich selbst begränzt. In diesem Sinn sagt man «alles Daseyende (Geschaffene) ist im Raum und in der Zeit». Sonach sind auch der allgemeine Raum und die allgemeine Zeit doch als solche g e n a u b e s t i m m t , n e h m l i c h d u r c h das (oder vielmehr durch die) Wesen d e r W e l t , das sich (als die Gesammtheit aller vorhandenen Einzeldinge und Einzelwesen) im Raum so weit a u s d e h n t u n d a u s s p a n n t und in ihm in b e s t i m m t e r D a u e r sich bewegt, als es i s t , oder sich selbst in beider Hinsicht beg r ä n z t " (SENGLER, Idee Gottes. II 11 - S . 396).

N o . 119.

Der vermeintliche leere Weltraum.

Wenn von dem natürlichen Verhältniss die Rede ist, in welchem die Begriffe von K ö r p e r und von R a u m , oder auch von Stoff und von R a u m wechselseitig zu einander stehen, so finden wir dasselbe meist in der Weise dargestellt, dass die k ö r p e r l i c h e n D i n g e es sind, welche d u r c h i h r e n s t o f f l i c h e n I n h a l t „den Raum e r f ü l l e n " . So bezeichnet oder bestimmt z. B. W e i g a n d den Stoff (oder die Materie) als „die raumerfüllende Wesenheit (oder Substanz) der Körper" (WEIGAND, Syn. III. S. 737). Es kann diese Ausdrucksweise, 19*

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

wenn in ihrem richtigen und den Verhältnissen der Naturwirklichkeit entsprechenden Sinn aufgefasst, nicht gerade als unrichtig bezeichnet werden: allein nichtsdestoweniger ist sie u n g e n a u , insofern sie die wahre Sachlage nicht mit hinlänglicher Genauigkeit darlegt, und insofern kann sie denn auch sehr leicht zu Missverständnissen und eben dadurch auch zu irrthümlichen Anschauungen eine Veranlassung seyn. So sagt z. B. auch Ulrici, ausgedehnt sey bei den Naturkundigen alles „was im Kaum vorhanden ist (existirt)" oder was „einen Raum erfüllt" (ULBICI, Gott und Natur. S. 57). Nach dieser Darstellungsweise könnte es sehr leicht den Anschein haben, als ob der Raum an sich und als solcher als das U r s p r ü n g l i c h e r e und E r s t e zu betrachten sey, die ihn erfüllenden Stoffe oder Körper aber als etwas e r s t n a c h t r ä g l i c h in i h n H i n e i n g e k o m m e n e s : eine Auffassungsweise, welche allerdings der Naturwirklichkeit nicht entsprechen würde. Denn einen besonderen inhaltslosen Raum annehmen, den die Dinge durch ihr Daseyn erst nachträglich zu erfüllen hätten: hiesse nichts anderes als einen an sich u r s a c h e l o s e n R a u m annehmen, was jedoch in offenbarem Widerspruch gegen eine der ersten Grundwahrheiten alles vernünftigen Denkens seyn würde, nehmlich gegen den Satz, dass es für alles, was ist oder geschieht, allewege auch eine Ursache geben müsse. Der selbst in wissenschaftlichen Schriften vielfach vorkommende und selbst von namhaften Denkern vertheidigte Wahnglaube an einen wirklichen l e e r e n , d. h. v ö l l i g s t o f f l o s e n W e l t r a u m kann daher jedenfalls nur allein in einer, wenn auch unbewussten A u s s e r a c h t l a s s u n g eben jener naturgesetzmässigen Grundverhältnisse seine Ursache und Entstehung zu suchen und zu finden haben. Das menschliche Urtheil, irrgeführt durch die bloss sinnliche Wahrnehmung und durch eine damit verbundene Angewöhnung an bloss einseitige Anschauungen und Auffassungen äusserlicher Verhältnisse, lässt sich nur zu leicht dazu ver-

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leiten, Räume, in denen es diejenigen Gegenstände v e r m i s s t , die es gewöhnlich darin zu suchen pflegt, nicht etwa bloss in vergleichungsweise-sinnbildlicher Weise als leer zu bezeichnen, sondern dieselben auch geradezu für wirklich und thatsächlich l e e r zu h a l t e n . So sagen wir z. B. von einer Weinflasche, sie sey leer, wenn wir keinen Wein darin erblicken, oder ein Zimmer sey leer, wenn keine Möbel und dergleichen sich darin befinden. Das Gleiche gilt aber auch von solchen Räumen, welche wir durch den Sinn des Gesichtes von nichts erfüllt sehen, das geeignet wäre, auf eben diesen Sinn einen besonders bemerklichen Eindruck zu machen. So halten wir z. B. leicht eine Glasflasche für wirklich leer, wenn nur Luft in derselben enthalten ist, weil diese in Folge ihrer Durchsichtigkeit nicht im Stande ist, ihre Anwesenheit unserem Auge auf eine leicht erkennbare Weise bemerklich zu machen. Und in die gleiche Selbsttäuschung verfällt denn auch unser Auge, wenn es in die weiten Himmelsräume blickt, die über dem Dunstkreis unserer Erde hinausliegen. Innerhalb dieses Letzteren freilich belehren uns die Winde und andere Erscheinungen, dass er allerdings nicht frei von stofflich-körperlichem und namentlich von luftförmigem Inhalt seyn kann. Aber darüber hinaus hören alle derartigen Naturbelehrungen durch die eigene sinnliche Wahrnehmung auf. Das Auge dringt wohl in die weitesten Fernen; aber die Luftmassen, welche dieselben nothwendig erfüllen müssen, wird es nicht gewahr. Selbst der Donner, der uns wohl sonst noch Nachricht von dem bringt, was über unseren Häuptern, innerhalb des Dunstkreises unserer Erde vorgeht, vermag von dem, was über diesen hinaus noch vor sich gehen mag, uns keine Kunde mehr zu geben. Und so hat auch noch keines irdischen Menschen Ohr jemals etwas von jener himmlischen Musik vernommen, welche bereits PYTHAGOBAS (TIEDEMANN, Geist der spekul. Philos. I. S. 128. 129) dunkel geahnt hat, und welche mich den allgemeinen Bewegungsgesetzen der Natur die Hini-

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melskörper in ihren regelmässigen, nach einem gemeinsamen Weltgesetz wohlgeordneten Umläufen um die Sonne ohne Zweifel in ihrem einheitlichen Zusammenwirken in ebenso natürlichem Wohlklang hervorbringen dürften, wie die Saiten einer Aeols- oder Luftharfe, wenn dieselben von dem Hauche des Windes berührt und in ihre erzitternden Bewegungen versetzt werden. Daher ist es denn auch kein Wunder, wenn gerade dieser weite, unserem Auge zwar nicht verschlossene, aber allen unseren übrigen Sinneswahrnehmungen dafür vollkommen unzugänglich weite W e l t r a u m von jeher vielfach als das eigentliche weite und unermessliche Gebiet des an sich völlig L e e r e n ist betrachtet worden, in welches die einzelnen Himmelskörper in einer ganz ähnlichen Weise für unser Auge sich hineingestellt zeigen, wie wir etwa auch Vögel in einen sogenannten leeren Käfig setzen, damit diese darin ihres Daseyns ungestört sich freuen können. Freilich hat eine genauere Naturforschung und namentlich die genauere Himmelsbeobachtung es mehr und mehr als unzweifelhaft dargethan, dass auch jener vermeintliche l e e r e W e l t r a u m keineswegs so leer und stofffrei sich erweist, als solches in früheren Zeiten angenommen worden ist und als es auch jetzt noch nicht selten pflegt behauptet zu werden. So hat man an allen bis jetzt genauer beobachteten Strobelsternen oder Kometen bekanntlich die Wahrnehmung gemacht, dass sie in ihren weitgezogenen, unser Sonnengebiet in allen möglichen Richtungen durchkreuzenden Bahnen mit der Zeit eine mehr oder weniger merkliche V e r z ö g e r u n g in ihren Umläufen um die Sonne erfahren. Eine solche Verzögerung kann aber vernünftiger Weise in nichts Anderem ihren Grund haben, als in einem natürlichen Widerstand, welchen irgend ein für uns unsichtbares luftförmiges Mittel ihrer Voranbewegung in jenen Räumen entgegensetzt, das demgemäss denn auch nothwendig eben jene weiten Räume allenthalben erfüllen muss. Durch diese Beobachtung hat somit jenes alte Vorurtheil hinsichtlich eines

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vermeintlichen vollkommen leeren Weltraumes seine natürliche, auf Erfahrung und Beobachtung gegründete W i d e r l e g u n g gefunden. Wenn nun aber nichtsdestoweniger die Erfahrung uns von der anderen Seite auch zeigt, dass es noch immer Naturkundige gibt, welche an der alten Lehre von einem leeren Weltr a u m trotzalledem glauben festhalten zu müssen, so dürfen wir wohl annehmen, dass auch sie hierfür irgendeinen bestimmten Grund haben müssen, um desswillen sie glauben, von ihrer Ansicht nicht abweichen zu dürfen. Es ist dies noch immer derselbe Grund, auf den bereits Leu kipp und Demok r i t ihre Lehre von der Nothwendigkeit eines an sich l e e r e n W e l t r a u m e s einst gestützt haben: die Ansicht nehmlich, dass nur allein in einem wirklich leeren und völlig stofflosen Raum die körperlichen Einzeldinge oder Atome in solchen Entfernungen von einander sich befinden können, dass auch wirklich freie Bewegungen nach allen Richtungen hin unter denselben ungehindert statthaben könnten. So lehrte DEMOKRIT ausdrücklich, dass neben dem Wollen (den körperlichen Atomen) nothwendig auch das L e e r e seyn müsse: das Volle als das wahrhaft Seyen de (oder wahrhaft Wirkliche), das L e e r e dagegen als das N i c h t s e y e n d e (BRANDIS, Gesch. d. griech. Philos. I. S. 134. 135; SCHWEGLER, Gesch. d. Phil, in Umrissen. S. 18). Ganz der gleichen Anschauung begegnen wir auch bei LOCKE. „Diejenigen" — sagt er — „welche für oder gegen einen leeren Raum streiten, bekennen hierdurch, dass sie eine ganz bestimmte Vorstellung haben sowohl vom L e e r e n (vacuum) wie vom Vollen (plenum). Wir müssen nothwendig die Möglichkeit eines leeren Raumes aufrecht erhalten; denn ob wir das Bestehen (existence) desselben anerkennen oder leugnen: das Leere bezeichnet einen Raum ohne Körper, dessen Möglichkeit, wirklich zu bestehen, niemand in Abrede stellen kann" (LOCKE S. 295; BAUMANN, Raum und Zeit. I. S. 380. 381. 417; II. S. 83). Und in ähnlichem Sinne

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sehen wir Kant sich ebenfalls für einen wirklich leeren Weltraum erklären (KANT VI. S. 107). — Desgleichen W i e n e r : „Nach unserer Auffassung" — sagt er — „gibt es keinen vollkommenen nach allen Seiten hin begränzten leeren Raum, sondern a l l e r l e e r e R a u m ist mit e i n a n d e r v e r b u n d e n : nur die Wesen nehmen vollkommen begränzte und geschiedene Räume in dem l e e r e n R a u m ein. Ist in einem begränzten leeren Raum ein Wesen bis zur Erfüllung eingetreten, so ist dieser leere Raum verschwunden und es ist erfüllter Raum an seine Stelle getreten" ( W I E N E R , G-rundzüge der Weltordnung. S. 683. 684). Und so bezeichnet auch Fechner „Raum und Zeit" als das „ u n b e d i n g t (absolut) L e e r e " , „die einfachen Wesen" dagegen als „das, was Fülle in diese Leere bringt", worauf er dann weiter fortfährt: „Indem die einfachen Wesen (als an sich raumlose Kraftpunkte nach der Grundanschauung FECHNER's) den Raum f ü l l e n , e r f ü l l e n sie ihn doch n i c h t : die unendliche Fülle, welche die einfachen Wesen (als blosse Kraftpunkte) in den Raum bringen, ist eben nur mit der N i c h t e r f ü l l u n g des Raumes möglich". Dieser Ausspruch, so eigenthümlich er auch zu seyn scheint, hat doch vom Standpunkt FECHNER'S aus seine volle Richtigkeit, weil raumlose Punkte nie und nimmermehr sich nebeneinander anreihen lassen, also auch, so viel wir ihrer denken mögen, nie im Stande sind, durch ihre Gegenwart jemals einen wirklichen Raum thatsächlich zu erfüllen. Daher ist es auch ganz am Orte, wenn FECHNER unmittelbar nach der eben angeführten Stelle sagt: „Anstatt dass der Raum durch die Stoffe (die Materie) erfüllt werde, kann man aus gewissem, freilich nur gewissem Gesichtspunkt sagen, er bleibt mit ihrem Daseyn so leer als ohne ihr Daseyn; weil alle einfachen, als Punkte zusammengenommen, immer wieder nur zu Einem Punkt zusammengehen, der keine Ausdehnung darstellt (repräsentirt)." Eben diesem Ubelstand, welcher freilich der ganzen Anschauung FECHNER'S von vornherein anklebt, zu entgehen, fährt er

Kaum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaaeyns.

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dann also fort: „Die Zeit wird durch das Daseyn des Stoffes (der Materie) nicht mehr erfüllt, als der Raum; denn in d e r Z e i t seyn ist so wenig mit E r f ü l l e n der Z e i t , als im R a u m seyn mit E r f ü l l e n des R a u m e s zu verwechseln. Eine g e m e i n s a m e E r f ü l l u n g von Raum und Zeit erfolgt aber, wenn man so will, d u r c h die B e w e g u n g . Es ist jedoch nicht das einfache Wesen, was in der Bewegung Zeit und Raum erfüllt, sondern eben nur die Bewegung des einfachen Wesens erfüllt Raum und Zeit in sofern, als sie ein E r g e b n i s s (Produkt) b e i d e r ist" (FECHNER, Atomenlehre. S. 151). Hierzu macht Ulrici die sehr richtige Gegenbemerkung, dass es ganz unbegreiflich erscheine, „wie durch die blosse Bewegung eines ausdehnungslosen, keinen Raum erfüllenden Wesens dennoch eine Erfüllung des Raumes entstehen soll. Denn als völlig ausdehnungslos vermag es nie und nimmermehr (und ebensowenig eine noch so grosse Vielheit derselben), irgend einen Raum zu erfüllen, und seine Bewegung ändert mithin darin g a r n i c h t s " (ULRICI, Gott und Natur. S. 442. 443). Die Annahme, dass nur allein in einem an sich leeren Raum für die in ihm befindlichen Dinge eine thatsächliche Bewegung möglich seyn könne, wird durch die Erfahrung so vielfach widerlegt, dass an deren Irrthümlichkeit unmöglich kann gezweifelt werden. Bewegt sich nicht ein jeder frei fallende oder durch fremde Kraft hinausgeschleuderte Körper mitten durch die von allen Seiten ihn umgebende Luftmasse hindurch? Und zeigen sich nicht die einzelnen Theilchen dieser Letzteren so leicht beweglich, dass diejenigen, welche einem solchen Körper in seinem Laufe entgegentreten, durch diesen mit aller Leichtigkeit bei Seite geschoben werden? Bewegen die schwimmenden Fische oder die die Lüfte durchwandernden Vögel sich nicht ebenfalls mit aller Leichtigkeit in ihrer flüssigen oder luftförmigen Umgebung, ungeachtet es keine leeren Räume sind, in denen sie sich befinden, sondern

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Räume, welche allewege von Wasser- oder Lufttheilchen erfüllt sind? J a bewegen wir nicht selber mit aller Leichtigkeit unsern ganzen Körper sammt allen seinen äusserlichen Bewegungswerkzeugen nach allen Orten und Richtungen hin, ohne darin auch nur im geringsten irgendwie behindert zu seyn? Was aber in solcher Weise in unseren kleinen irdischen Verhältnissen so augenfällig gilt: das muss wohl auch ganz ebenso seine Geltung haben für die gesammte Weltordnung; denn die Naturgesetze und die Naturkräfte, auf welche diese Letzteren sich gründen, müssen allenthalben die gleichen seyn. Auch jener vermeintlich l e e r e W e l t r a u m , in welchem die Himmelskörper ihre Bahnen beschreiben, ist somit in seiner wahren und wirklichen Gestalt nichts anderes als ein willkührlich ersonnenes G e d a n k e n b i l d unserer eigenen Einbildungskraft, ersonnen und gebildet zum Zweck einer künstlichen Vereinfachung unserer eigenen Gedankenthätigkeit. In dem Gebiet der Buchstabenrechnung begegnen wir nicht selten ähnlichen Kunstgriffen zu ziemlich gleichen Zwecken. Haben wir nehmlich sehr zusammengesetzte Formeln vor uns, so pflegen wir eine gewisse Anzahl zusammengehöriger Buchstabengrössen zum Zweck einer erwünschten Vereinfachung der Rechnung v o r ü b e r g e h e n d als eine einzige Grössengemeinheit zu betrachten und als solche durch irgend einen bestimmten beliebigen Buchstaben zu bezeichnen. Diesen setzen wir alsdann für so lange an die Stelle eben jener zusammengesetzten Grösse, bis im Verlauf der fortgesetzten Rechnung die ganze Formel sich soweit vereinfacht hat, dass wir nun ohne Gefahr für die Bequemlichkeit und Übersichtlichkeit der weiteren Rechnung jene bloss künstlich ersonnene einheitliche Buchstabengrösse wiederum durch ihren eigentlichen und wahren Inhalt, d. h. durch jene ursprünglich aus der Rechnung entfernten Buchstabengrössen ersetzen. So haben wir auch das G e d a n k e n b i l d d e s a n s i c h r e i n e n u n d l e e r e n R a u m e s künstlich uns ersonnen, um namentlich in dem Gebiet

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der eigentlichen Raum- und Grössenlehre uns, unbehelligt durch sonstige Nebenverhältnisse, wie solche die thatsächliche Natur Wirklichkeit bietet, desto ungestörter und ausschliesslicher allein nur mit dem Hauptzweck unserer Untersuchung beschäftigen zu können. „Denke dir" — sagt Bau mann — „die Dinge fort: kannst du dir nicht ein B i l d von dem Raum behalten, worin die Dinge waren, mit dem Gedanken, dass wieder Dinge dort hintreten könnten? Eben diese Vorstellung nennen wir R a u m " (BAUMANN, Raum und Zeit. S. 86). Und zwar ist dieser seines wesenhaften Inhaltes in Gedanken beraubte Raum nichts Anderes als eben jener v e r m e i n t l i c h l e e r e W e l t r a u m , von dem auch wir in ganz der gleichen Weise ein ebenso wesen- und i n h a l t l o s e s G e d a n k e n b i l d jederzeit geistig uns vorzustellen im Stande sind. Es ist somit ein an sich rein g e i s t i g e r B e g r i f f , der auf die thatsächliche Naturwirklichkeit von keinem weiteren Einfluss ist, zu dem aber die Naturwirklichkeit selbst in gewissem Sinn durch die in ihrer Gesammtheit den Weltraum bildenden räumlich-körperlichen Dinge selbst fortwährend die Hand bietet. Diese Letzteren können wir freilich beliebig wegdenken oder auch nicht wegdenken: in der Naturwirklichkeit aber wird nicht das Geringste hierdurch geändert, so wenig in dem einen wie in dem anderen Fall. Denn durch unser Wegdenken verschwinden die Dinge nicht aus ihrem wesenhaft körperlichen Daseyn, sondern sie bleiben nach wie vor in ihrer bisherigen Weise fortbestehen. Es verhält sich hier mit dem Begriff des Raumes ganz ebenso wie mit dem ihm so nahe verwandten Begriff der Grösse. Denken wir uns ein Ding hinweg aus seinem natürlichen Daseyn, so denken wir es nicht allein für sich weg, d. h. ohne seine Grösse, sondern folgerichtig auch gleichzeitig mit s e i n e r Grösse. Und ganz ebenso verhält es sich mit dessen R a u m . Auch in Bezug auf diesen hat es mit dem wirklichen Hinwegdenken der Dinge, denen er zukommt, eine ebenso eigenthümliche Bewandtniss wie hinsichtlich der

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

den Dingen in ganz dem gleichen Sinn zukommenden Grösse. Denken wir uns das g a n z e D i n g weg, so können wir es e b e n s o w e n i g ohne s e i n e n ihm z u g e h ö r i g e n R a u m wegd e n k e n , wie ohne seine ihm zugehörige Grösse. Wollen wir also ein Ding wirklich aus dem Raum, den es durch sein Wesen erfüllt, hinwegdenken, so ist uns dieses gar nicht anders möglich, als dass wir g l e i c h z e i t i g m i t ihm auch dessen von ihm e i n g e n o m m e n e n R a u m ganz e b e n s o mit ihm s e l b s t h i n w e g d e n k e n wie auch die demselben Ding zukommende Grösse. Wir sind also, wenn wir der ganzen Sache recht auf den Grund gehen, vernunftgemäss gar nicht im Stande ein wirkliches Naturdaseyn, ohne einen Widerspruch in sich selbst zu begehen, aus seinem ihm nun einmal natürlich angehörigen Raum nur so willkührlich hinauszudenken, wie wir solches bis jetzt angenommen, und wie es auch fast allgemein pflegt angenommen zu werden. Wollen wir ein solches Ding oder wesenhaftes Naturdaseyn überhaupt aus seinem Daseyn wegdenken, so vermögen wir dies vernünftigerweise nur dadurch zu vollziehen, dass wir zugleich mit ihm auch seinen Raum wegdenken, und thun wir dies, was bleibt uns für unsere geistige Anschauung übrig? Etwa der vermeintliche leere, d. h. seines wesenhaften Inhaltes entkleidete Raum? Ganz und gar nicht. Was übrig bleibt, ist ebensowenig wie ein erfüllter Raum ein nicht erfüllter oder leerer Raum: es ist einfach g a r kein R a u m , was als letztes Eudergebniss unseres folgerichtigen Wegdenkens allein noch bleibt. Wo aber gar kein Raum mehr ist, da ist auch kein Raum mehr für irgend ein beliebiges Etwas, das wir etwa wieder hineindenken könnten: da ist nur noch das r e i n e N i c h t s als das einzige w a h r h a f t in sich L e e r e . Wie es sich in dieser Beziehung aber mit den Einzeldingen dieser Welt verhält, ganz ebenso muss es sich selbstverständlich auch mit deren Gesammtheit verhalten. Denken wir alle Dinge in ihrer Gesammtheit aus ihrem natürlichen Daseyn hinweg, so

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müssen wir gleichzeitig mit ihm auch alle ihre einzelnen Eigenräume hinwegdenken, und somit ergibt sich für uns auch in diesem Fall als letztes Endergebniss keinesweges der vermeintliche l e e r e W e l t r a u m , den wir auf diesem Wege zu finden oder für unsere geistige Vorstellung zu gewinnen gehoift hatten, sondern es bleibt auch jetzt ebenso wie vorhin ü b e r h a u p t gar kein R a u m mehr übrig: es ist das reine bodenlose N i c h t s , womit unser geistiges Denken es noch zu thun hat. Aus nichts aber wird nichts: mit dem wirklichen Nichts vermöchte daher auch kein vernünftiges Denken etwas Vernünftiges anzufangen. Und so kann demnach innerhalb einer vernünftigen Weltordnung wie die unsrige f ü r e i n e n w i r k lich l e e r e n R a u m Vernunft- wie naturgemäss überhaupt g a r kein R a u m vorhanden seyn. Wie mag der menschliche Geist nun aber überhaupt dazu gekommen seyn, ein solches Wahngebild, dem alle Naturwirklichkeit thatsächlich abgeht, nicht nur sich zu bilden, sondern trotz aller Gegengründe auch vielfach so zähe an ihm festzuhalten? Es dürften wohl drei Umstände seyn, die gemeinschaftlich dazu beigetragen haben mögen. Es ist dies 1. dass in und mit unserem gesammten eigenen räumlich-körperlichen Daseyn auch unserem Geiste von Anfang an ein thatsächlicher Raumbegriff innewohnt, den er alsdann ebenso auch auf alles ausser ihm und überhaupt in dieser Welt Vorhandenem geistig überträgt; 2. das vorhin erwähnte Bedürfniss, für gewisse besondere Fälle zur Erleichterung und Vereinfachung der Denkthätigkeit von den wesenhaften Grundlagen jedes wirklichen Raumes in Gedanken vollständig abzusehen; und 3. endlich der Umstand, dass unsere sinnlich-leibliche Wahrnehmung nur das als wirklich wesenhaft vorhanden erscheinen lässt, was thatsächlich im Stande ist, auf unsere leiblichen Sinneswege auch irgendwelche bestimmte Einwirkung auszuüben, welches Letztere aber gerade aus den uns entferntesten und entlegensten Himmels- oder Weltgebieten eben ihrer unermesslich

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weiten Entfernung wegen vielfach als eine natürliche Unmöglichkeit von uns muss anerkannt werden. Wo aber jede Kunde ausbleibt, da hört auch der Gedanke und der Glaube an ein Etwas auf, von welchem eine Kundgebung ausgehen könnte. Es verhält sich also in Bezug auf unseren Begriff des l e e r e n oder r e i n e n W e l t r a u m s oder des w i r k l i c h e n R a u m e s an sich gewissermassen ganz ebenso wie mit gar vielen anderen Allgemeinbegriffen , deren wir uns zur Vereinfachung unserer Denkthätigkeit ebenfalls vielfach bedienen, wie z. B. mit den Allgemeinbegriffen von T h i e r , P f l a n z e , S t o f f , K ö r p e r u. s. w. So wenig wie es in der ganzen weiten Welt ein O b s t gibt, das nicht entweder Kirsche oder Pflaume oder Traube, oder irgend eine bestimmte Obst.art sey, und so wenig also jemals, wenn wir so sagen dürfen, von einem „ r e i n e n O b s t an s i c h " die Rede seyn kann: so wenig kennt die Natur ein T h i e r an sich wie eine P f l a n z e an sich, einen S t o f f an sich u. s. w., sondern immer nur diesesoder jenes Thier, diese oder jene Pflanze, diesen oder jenen Stoff u. s. w. Wie so trügerisch und ungereimt es also seyn würde, diesen bloss durch unsere eigene Denkthätigkeit gebildeten rein begrifflichen Vorstellungen oder blossen Gedankenbildern eine thatsächliche Natur Wirklichkeit aus keinem anderen Grund zuschreiben zu wollen, als weil unser Verstand überhaupt die Fähigkeit besitzt, derartige Gesammtvorstellungen geistig sich zu bilden: für ganz ebenso trügerisch und ungereimt muss es auch gelten, unsere Vorstellung von einem reinen und leeren Raum an sich für m e h r auszugeben, als sie ist und sachgemäss auch nur allein seyn kann, dadurch nehmlich, dass wir diesem Erzeugniss unserer eigenen Einbildungskraft auch eine thatsächliche Naturwirklichkeit zuschreiben möchten. Von welcher Seite wir daher die Sache in das Auge fassen mögen: immerdar kommen wir zu demselben Endergebniss, dass eine jede Bezugnahme auf einen vermeintlichen leeren und an sich völlig stoff- und körperlosen Weltraum nur

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als eine thatsächliche V e r i r r u n g des menschlichen Geistes kann betrachtet werden. Daher ist es auch ganz in der Ordnung, wenn man diesen sogenannten „leeren Baum" mitunter auch geradezu als den „ e i n g e b i l d e t e n oder i m a g i n ä r e n R a u m " bezeichnet findet. Nach ARISTOTELES verwarfen bereits A n a x a g o r a s sowohl als auch P l a t o den leeren Raum (ARISTOTELES, Phys. S. 777 [ANAXAGORAS]; BRANDIS, Gesch. d. griech. Phil. I. S. 123; ARISTOTELES, Entstehen u. Vergehen. S. 413 [ P L A T O ] ) . Aristoteles selbst sagt hierüber: „Ein L e e r e s , behauptet man, sey dasjenige, in welchem kein Körper vorhanden ist, wohl aber ein Körper sich einfinden könne." Diesem Ausspruch gegenüber und den in ihm dargelegten Gedanken gewissermassen weiter ergänzend und bekämpfend, sagt er an einem anderen Ort: „Man muss zeigen, dass es keine von den Körpern v e r s c h i e d e n e . (d. h. unabhängig von ihnen bestehende) A u s d e h n u n g gibt, weder trennbar von ihnen, noch durch eigene Thatkraft (dem Actus nach) seyend." Als Beweisgrund für diese seine Bekämpfung und Verneinung eines wirklichen leeren Raumes sucht er sodann darzuthun, dass im Leeren eine thatsächliche Bewegung überhaupt gar nicht möglich seyn würde (ARISTOTELES, Himmelsgeb. S. 75; Phys. S. 177; L E I B N I T Z S. 49; H E G E L XIV. S. 350): ein Ausspruch, welcher augenscheinlich gegen MELISSOS, sowie gegen DEMOKIÍIT und deren Anhänger gerichtet ist, indem er namentlich vom Ersteren sagt, er habe den Satz aufgestellt, „wenn das All sich b e w e g e n solle, so müsse es ein L e e r e s seyn;" wozu ARISTOTELES jedoch die Bemerkung anfügt, „das Leere gehöre n i c h t zu dem Seyenden (ARISTOTELES, Phys. S. 179). In gleichem Sinn sprechen auch die arabischen Lauteren Brüder sich aus. „In der Welt" — so lehren sie — „gibt es kein L e e r e s . Viele Gelehrte meinen zwar, es gäbe zwischen der Weite der Planetenbahnen (der Sphären) und zwischen den Theilen der Grundstoffe (Elemente) l e e r e S t e l l e n . Doch

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Baum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

ist es nicht so. Denn das Wort „ L e e r e " bedeutet den f r e i e n R a u m , in dem nichts Raumeinnehmendes sich vorfindet. Der Raum ist aber eine von den Eigenschaften (oder vielmehr Eigentümlichkeiten) der Körper, die eben n u r am K ö r p e r bestehen, und n u r an ihm sich vorfinden. Somit ist also die Lehre von dem Leeren widersinnig (absurd). Diejenigen, welche meinen, es bestehe wirklich die L e e r e , kommen hierauf dadurch, dass sie einige Körper sich bewegen und Ort und Stelle wechseln sehen. Da meinen sie denn, dass wenn die Leere nicht wirklich bestände, sich ein Körper n i c h t von seinem Orte wegbewegen könnte. Denn wäre der Raum erfüllt, so würde dies die Bewegung und den Ortwechsel h i n d e r n . Da aber ein Theil der Körper n a c h g i b t , wie das Wasser und die Luft, so h i n d e r n s o l c h e K ö r p e r n i c h t , dass sich a n d e r e K ö r p e r b e w e g e n , wie der Fisch im Wasser und der Vogel in der Luft. Und somit ist die Leere nach Beweisen, die feststehen, nichts wirklich Bestehendes (Existirendes)" ( D I E T E E I C I , Naturansch. der Araber. S. 28. 30). In gleichem Sinn sprechen auch die meisten Denker des Mittelalters sich aus. Suarez sagt, „die ganze Welt sey so eingerichtet, dass es in ihr kein Leeres geben könne" (BAUMANN, Raum und Zeit. I. S. 57). Descartes, Spinoza, Hobbes,

Leibnitz,

Hume

bekämpfen

sämmtlich

die

An-

nahme eines leeren Raumes. Descartes sagt: „Was die L e e r e in dem Sinn anbetrifft, in welchem die Philosophen sie nehmen, nehmlich als einen Raum, in dem es keine wesenhaften Dinge (keine Substanz) gibt, so ist es augenscheinlich, dass es im Weltraum k e i n e n solchen R a u m gibt, weil die Ausdehnung des Raumes oder des inneren Ortes nicht verschieden ist von der Ausdehnung des Körpers. Und da wir schon allein daraus, dass ein Körper nach Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt ist, zu dem Schluss berechtigt sind, dass er eine wirkliche Wesenheit (Substanz) ist, weil wir die Unmöglichkeit davon einsehen, dass demjenigen, was an sich N i c h t s

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ist, eine Ausdehnung zukommen könne: so müssen wir in Bezug auf den Raum, den wir für leer halten, das Gleiche urtheilen, nehmlich dass, weil er eine Ausdehnung besitzt, ihm nothwendig auch eine innere W e s e n h a f t i g k e i t (Substanz) zukommen muss" (DESCARTES, Oeuvr. IL S. 309. No. 16. 17; BAUMANN, Raum u. Zeit. I. S. 93. 96). Spinoza erklärt die Annahme des leeren Raumes einfach für einen inneren W i d e r spruch (SPINOZA I. S. 102; BAUMANN, Raum und Zeit. I. S. 173. 177. 178). H o b b e s stellt den Satz auf, dass wir uns auch ohne die Dinge den Raum vorstellen würden, weil der Raumbegriff bereits in unserem Geiste mit gesetzt sey (in Folge der natürlichen Räumlichkeit unseres eigenen Wesens). „Wenn wir" — sagt er — „uns einen Körper als ausser uns vorstellen, ohne auf irgend etwas anderes zu sehen, nachher aber diesen Gegenstand in Gedanken oder auch wirklich wegnehmen, so bleibt uns ein Bild zurück, und dieses ist eben die Vorstellung des Raumes. Dann ist nach der allgemeinen Sprache auch Raum vorhanden, wenn etwas hineingestellt werden kann." Dies nennt er denn auch den „eingebildeten Raum (spatium imaginarium)", im Gegensatz zu dem wirklichen Raum, welcher die Ausdehnung jedes Körpers ist; jener ist bloss Vorstellung, dieser etwas äusserlich Vorhandenes und nicht von der Vorstellung allein Abhängiges (TIEDEMANN, Geist d. spek. Philos. VI. S. 43; BAUMANN, Raum u. Zeit. I. S. 277. 280). Leibnitz spricht seine Anschauung in Betreff des leeren Raumes folgendermassen aus: „Ich bestehe darauf, dass die Ausdehnung (als solche) nichts anderes ist als ein von dem eigentlichen Wesen der Dinge absehender Begriff (als ein Abstraktum), da dieselbe etwas verlangt, was ausgedehnt ist. Daher haben auch die Weltweisen der alten Schule (die Scholastiker) den Raum ohne Dinge mit Recht einen eingebildeten genannt, wie auch die Zahl ohne gezählte Dinge." Und weiterhin: „Alle Ausdehnung ist eine Eigenthümlichkeit (Affection) eines AusWandersmann. II.

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g e d e h n t e n . Wenn der Raum aber leer ist, so wird er eine A u s d e h n u n g seyn von k e i n e m Ausgedehnten." Den Ansichten des LEUKIPP und DEMOKHIT gegenüber weist er darauf hin, dass, wenn im Weltraum b l o s s in sich h a r t e Gegenstände sich befänden, allerdings an eine freie Beweglichkeit derselben unter sich, ohne dazwischen liegende leere Räume, nicht zu denken sey. Nähme man dagegen die weiten Räume unseres Weltalls an als erfüllt von flüssigen (oder luftförmigen) Körpern, so falle diese Schwierigkeit hinweg. Dies nähme, fügt LEIBNITZ hinzu, dem Beweise für die Nothwendigkeit eines leeren Raumes, welcher aus der freien Bewegung der Körper im Weltraum genommen wird, jede wirkliche Beweiskraft. Als Beweis dafür aber, dass der gesammte Weltraum bis in die weitesten Fernen in der That von flüssigen oder luftförmigen Stoffen oder Körpern müsse erfüllt seyn, weist er an einem andern Ort, nach BAUMANN, darauf hin, dass „in dem ganzen Himmelsraum (der planetarischen Welt) kein sinnlich-wahrnehmbarer Punkt (oder Ort) bezeichnet werden kann, durch welchen der Strahl irgend eines Sternes auf seinem Wege zu uns nicht irgend einmal hindurch gehe". Dass Lichtstrahlen aber nicht ohne körperliche Vermittlung und zwar nicht ohne die Vermittelung luftförmiger Flüssigkeiten möglich seyen, dies — fügt LEIBNITZ hinzu — „nehme ich als gewiss" an. — Und an noch einem anderen Orte sagt er in Bezug auf die gleiche Frage: „Alle, die f ü r den leeren Raum sind, lassen sich mehr durch die E i n b i l d u n g s k r a f t leiten, als durch die V e r n u n f t . In meinen jüngeren Jahren hatte ich ebenfalls eine Neigung für das Leere; aber die Vernunft hat mich davon zurückgebracht. Mehrere im Denken geschickte Personen haben an den leeren Raum geglaubt, und ich gehörte beinahe auch zu ihnen. Aber ich bin seit langem schon davon zurückgekommen. Und der unvergleichliche MB. HIJYGENS, welcher ebenfalls für die Leere war, hat auch angefangen, über meine Gründe gegen dieselben nachzudenken,

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•wie seine Briefe dies bezeugen" (LEIBNITZ [ED. ERDMANN] S. 692. 739. 199. 241. 755. 758; edit ULBICH I. S. 221; BAUMANN, Raum u. Zeit. II. S. 79. 84. 314. 326). Auch nach HUME'S Grundanschauung sind Raum und Ort nicht anders als in Wirklichkeit vorhanden zu betrachten, als wenn sie gleichzeitig auch in ihrer stofflichen Erfülltheit in das Auge gefasst werden (BAUMANN, Raum u. Zeit. II. S. 608). Ein leerer, stoffloser Raum ist also auch für ihn ohne Wirklichkeit. Und ebenso sagt auch Euler: „Es ist in der That u n m ö g l i c h , dass irgend eine Gegend der Erde luftleer sey, oder dass sich über ihr gar n i c h t s befinde und also ein völlig leerer Raum seyn sollte" (EÜLEK, Brief a. d. Prinz. I. S. 31). Und in der That kann dieser nur allein im menschlichen Denken willkührlich ersonnene und daher auch nur in unserer Einbildung vorhandene sogenannte l e e r e oder r e i n e R a u m , sobald wir versuchen, denselben auf und in die wesenhafte Naturwirklichkeit zu übertragen, sich schliesslich, wie wir auch bereits oben dargethan haben, als gar nichts anderes entpuppen, denn nur allein als das r e i n e n a c k t e N i c h t s , d. h. nur allein als eine reine und thatsächliche Un- oder N i c h t w i r k l i c h k e i t . — So sagt Berkeley ganz in diesem Sinn: „Alles, was vom r e i n e n R a u m ausgesagt wird, kann auch vom N i c h t s ausgesagt werden" (BAUMANN, Raum u. Zeit. II. S. 417). Ebenso Schölling: „Der Raum ist n i c h t s und unabhängig von den besonderen Dingen. Der Raum (rein nur als solcher) kann daher bestimmt werden als die r e i n s t e A b w e s e n h e i t a l l e s w e s e n h a f t e n I n h a l t e s (die reinste Privation), d. h. als das r e i n e N i c h t s der b e s o n d e r e n D i n g e im Gegensatz des Alles. Dieses N i c h t s , abgesehen von den Dingen angeschaut, in welchen' es mit der Wirklichkeit (d. h. mit dem wirklichen Wesen der Dinge) verbunden ist, heisst der r e i n e R a u m " (SCHELLING YI. S. 230. 231). Oken, nachdem er darauf hingewiesen, dass aller Raum stofflichen 20*

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Wesens und das körperlich-stoffliche Wesen selbst der Raum sey, da dieser Letztere für sich allein kein selbständiges in sich bestehendes Daseyn habe, fügt dieser Darlegung ausdrücklich noch hinzu: „Auch hier zeigt sich also, dass das N i c h t s n i c h t s w i r k l i c h V o r h a n d e n e s ist (nicht existirt): in dem gesammten Weltall (im Universum) gibt es kein N i c h t s " (OKEN, Naturphil. S. 30). Und ebenso sagt C a r u s : „Wovon wir uns loszumachen haben, ist die Vorstellung einer L e e r h e i t des W e l t r a u m e s , bei welcher nicht zu begreifen ist, wie da, im N i c h t s , die gewaltigen Massen so ohne weitere Unterlage ruhen oder sich bewegen könnten. Wäre irgend ein Eaum, in welchem im vollkommenen, ungeheuren und vernichtenden Sinn des Wortes N i c h t s vorhanden wäre: so müsste man sagen, «das Nichts sey,» und dies wäre dasselbe, als wollten wir sagen «es sey n i c h t s » , wodurch also die gesammte Welterscheinung aufgehoben wäre" (CARUS, Erdenleb. S. 59). Endlich sagt auch H u b e r : „Was den Raum angeht, so kommen alle Bestimmungen (Definitionen) desselben darauf hinaus, dass er vor den Dingen und ohne dieselben gleich dem N i c h t s sey. Betrachten wir ihn als die unbedingte (absolute) L e e r e , d. h. als dasjenige, worin die Dinge sind und sich ungehemmt bewegen können, weil es in keiner Weise Widerstand leistet: so fällt dieses unbedingte Leere, welches keines von allen den Dingen ist, die es erfüllen, und welches auch n i c h t s w i r k t , d. h. dieses N i c h t w i r k l i c h e und N i c h t s w i r k e n d e , offenbar mit dem N i c h t s s e l b s t zusammen. Den Raum als wirklich gegenständlich bestehend (als objectiv existent) betrachten, hiesse soviel als ihn s e l b s t f ü r ein D i n g erklären. Wäre aber der Raum ein Ding, so könnten nicht mehr die a n d e r e n D i n g e in ihm seyn, und er würde diesen anderen Dingen in ihrer Bewegung einen Widerstand entgegensetzen" (HUBER, Forsch, u. d. Mater. S. 30). Bekanntlich war — wie wir dieses schon bei einer früheren Gelegenheit erwähnt — N e w t o n als einer der hauptsäch-

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liebsten Vertreter des vermeintlichen leeren Baumes längere Zeit betrachtet worden. Aber die nicht zu bezweifelnden, weil durch thatsächliche Beobachtungen festgestellten V e r z ö g e r u n g e n , welche die S t r o b e l s t e r n e oder Kometen in ihren weitgedehnten Bahnen durch den Weltraum erfahren, nöthigten bekanntlich auch ihn, hieraus den Schluss zu ziehen, dass eben doch irgendwelche, wenn auch noch so dünne, luftförmige Körper den gesammten Weltraum erfüllen müssen. In Bezug auf eben diesen a l l g e m e i n e n W e l t r a u m oder u n b e d i n g t e n R a u m , wie NEWTON ihn nannte, sagt Baumann: „Der unbedingte (absolute) Raum N E W T O N S ist der Raum, welcher v o r a u s g e s e t z t und als wirklich g e d a c h t wird von Einem, der sich kraft wissenschaftlichen Nachdenkens in den w a h r e n •und nicht bloss scheinbaren Bau des Weltalls (die Construction des Weltgebäudes) versetzt: das räumliche (geometrische) Bild, das wir vom Weltall (Universum) zu entwerfen vermögen, als w i r k l i c h gedacht, ist der unbedingte Raum. So beruht dieser Begriff des unbedingten Raumes auf einer räumlich -naturgemässen (geometrisch-physikalischen) Betrachtung. Aber eben wegen des m e s s b a r - R ä u m l i c h e n (Geometrischen), welches dabei ist, wird die Behauptung rundweg als gewisse W a h r h e i t gemacht. Ob aber dieser Raum l e e r oder voll ist, wird nur durch n a t ü r l i c h e (physische) Gründe entschieden und demgemäss auch nicht mehr behauptet, als dass er w i d e r s t a n d s l o s , d. h. so g u t wie l e e r sey, und dass diese oder jene Erfahrung bei den Körpern auf den leeren Raum führe. Und wie dieser unbedingte Raum NEWTON's der Weltraum ist, in räumlich - naturgemässer (geometrisch - physikalischer) Anschauung entworfen, so ist die unbedingte (absolute) B e w e g u n g die aus den erscheinenden Bewegungen erschlossene "wirklich s t a t t h a b e n d e Weise der Weltkörper, sich zu bewegen. Diese unbedingte Bewegung findet statt in dem vorausgesetzten räumlich - messbar (geometrisch) gedachten Raum, welcher selbst unbewegt ist" (oder als unbeweglich gedacht

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wird) (BAUMANN, Raum u. Zeit. I. S. 483. 484. 503. [NEWTON] S. 491). Und ausserdem spricht Bau m a n n hinsichtlich des Raumbegriffes sich am Schlüsse seiner Arbeit auch noch folgendermassen aus: „Die Raumvorstellung der allgemeinen Raum- und Messkunde (die geometrische Raumvorstellung) ist nicht verschieden von dem Begriff (der Idee) des Raumes im gewöhnlichen Sinn als derjenigen Anschauung, die wir als das N e b e n e i n a n d e r , das A u s s e r e i n a n d e r , den Ort aller Dinge, d. h. als das, worin alle Dinge Platz nehmen, nicht sowohl erklären als durch Hervorhebung einzelner wesentlicher Stücke uns zum Bewusstseyn bringen. — Wir setzen die Gegenstände nicht bloss ausser uns, sondern uns s e l b s t setzen wir auch im Raum oder finden uns darin gesetzt. Unser Ich, unsere Seele, so geistig (spiritualistisch) man sie denken mag, hat eben durch das Grundbewusstsein von Innen nach Aussen eine Beziehung zum Räume und findet sich s e l b s t im R a u m vor; das Gefühl des Ortes, der Räumlichkeit ist ein Grundgefühl,, welches sich von der Seele nicht wegbringen lässt. So gut sie die Dinge ausser sich setzt, so gut setzt sie sich ausser den Dingen, also in den Raum. Dies Gefühl, irgendwo zu seyn, verlässt die Seele nie; wenn wir uns den Raum denken,, so denken wir uns nicht ausser demselben, sondern in demselben. Was das Beweismittel (Argument) betrifft, dass man sich niemals vorstellen könne, es sey kein Raum, obgleich man sich recht wohl vorstellen könne, dass keine Gegenstände in ihm angetroffen würden: so kommt dies daher, dass man alles Andere wegdenkend, doch den Denkenden selbst n i c h t w e g d e n k t ; denn sonst bliebe g a r n i c h t s übrig. Der Denkende aber hat den Raum in sich, den bloss gedachten (geometrischen) und den wirklichen, jenen in der Anschauung im Bilde, diesen insofern er sich an einem Ort als in einem Theil des Raumes befindet, und sich die Fähigkeit zuschreibt, sich in demselben mit Freiheit bewegen zu können. Diese Vorstellung (Idee) des Raumes ist zugleich die Vorstellung

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 311

(Idee) des r e i n e n oder l e e r e n Raumes. Dass wir eine solche Vorstellung haben, ist unzweifelhaft; denn sie ist wesentlich dieselbe mit der Vorstellung (Idee) des Raumes des allgemeinen Mess- und Grössenlehre (des geometrischen Raumes)" (BAUMANN, Raum u. Zeit. II. S. 653. 654. 655). Alle die Thatsachen übrigens, welche man bisher f ü r das Vorhandenseyn wirklich leerer, d. h. völlig stofffreier Räume in das Feld gesandt hat, haben sich bei fortschreitend richtigerer Erkenntniss der wirklichen Naturverhältnisse als ungegründet und ungenügend erwiesen; denn statt die Annahme solcher leeren Räume zu bestätigen, haben sie im Gegentheil geradezu Zeugniss g e g e n dieselbe abgelegt. Dass die Körper im Weltraum in Folge der ihnen innewohnenden eigenen Wesensschwere ihrer einzelnen stofflich-körperlichen Bestandtheile sich wechselseitig einander anziehen, und dass in Folge dessen schwerere Körper, welche aus irgend einer Höhe unseres irdischen Dunstkreises einer jeden festen Unterlage ermangeln, sofort, die unseren Erdkörper umhüllenden Lufttheilchen mit stets zunehmender Raschheit durchkreuzend, auf unsere Erde herabfallen: ein solches Ereigniss vermöchte in einem luft- und stofflosen Raum gar nicht stattzuhaben, aus dem ganz einfachen Grund, weil, wie überhaupt keine Kraft, so auch die Kraft körperlicher Anziehung im stofflosen Raum gar nicht in die Ferne würde wirksam sich erweisen können, indem dies nur allein durch die Vermittelung von solchen Körpern oder Körpertheilchen möglich ist, welche durch wechselseitige Berührung an ihren äusseren Oberflächen befähigt sind, Kraftwirksamkeiten, von welcher Art sie auch seyn mögen, bis in weitere Entfernungen von Körpertheil zu Körpertheil fortzutragen. Wie kein Lichtstrahl im luftleeren Raum aus dem Weltraum bis zu uns herabzudringen vermöchte: so auch keine Kraft der Schwere. Der von Newton angeführte Satz, „dass d ü n n e F e d e r n und s c h w e r e s Gold im l e e r e n Raum mit g l e i c h e r G e s c h w i n d i g k e i t fallen", ist (BAUMANN,

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

Baum u. Zeit. I. S. 483. [NEWTON]) eine Behauptung, deren thatsächlichen Erfahrungsbeweis bis jetzt noch niemand erbracht hat und den auch niemand jemals im Stande ist beizubringen. Denn der vermeintliche Beweis vermittelst eines angestellten Versuches unter der Glocke einer Luftpumpe entpuppt sich bei genauerem Ansehen des wahren Sachverhältnisses als ein blosser S c h e i n b e w e i s . Einmal ist es erfahrungsgemäss eine natürliche U n m ö g l i c h k e i t , durch noch so lange fortgesetztes Auspumpen den Raum unter der Luftpumpe so völlig von allem stofflichen Inhalt zu entleeren, dass er als wirklich l u f t f r e i jemals dürfte betrachtet werden: die Luft kann auf diesem Wege wohl immer mehr v e r d ü n n t werden, aber nie kann diese Verdünnung so weit fortgehen, dass der luftförmige Inhalt nunmehr g l e i c h N i c h t s sey. Es ist dies ebenso unmöglich, als wenn man eine bestimmte Raumgrösse durch fortgesetzte Halbirung schliesslich so weit verkleinern wollte, dass nur noch ein raumloser Punkt übrig bliebe. Zum Anderen kann selbst der angestellte Versuch unter der Luftpumpe nur als durchaus n i c h t s s a g e n d betrachtet werden. Dass in einem Raum von nur so geringer Ausdehnung und dazu auch noch in der unmittelbarsten Nähe unserer Erdoberfläche, der G e w i c h t s u n t e r s c h i e d zwischen einer kleinen leichten Feder und einem freilich an sich schwereren, aber doch immerhin nur sehr kleinen Goldstückchen gegenüber der übermächtigen Gewichtsmasse unseres gesammten Erdkörpers so gut als gar nicht vorhanden sich darstellen muss: dies ist wohl von vornherein einleuchtend. Und wie die Anziehungskraft der Feder auf unsere Erde, der übergrossen Anziehung dieser Letzteren gegenüber, für unsere thatsächlich-sinnliche Wahrnehmung so gut als wie gleich Null sich darstellen muss : ganz ebenso darf auch das Gleiche gesagt werden in Bezug auf die Anziehung, welche das Goldstückchen auf unsere Erde ausübt. Aber eben deswegen vermögen auch umgekehrt für die übermächtige Anziehung, welche unser Erdkörper auf beide,

Baum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 3 1 3

•das Federchen und das Goldstückchen, ausübt, die Gewichtsunterschiede dieser beiden Körperchen gegenüber dem übermächtigen Massengewicht unserer Erde nur als verschwindend klein sich darzustellen, so dass sie für unsere sinnliche Wahrnehmung wie für unsere künstlichen Messinstrumente nur als so gut wie gar nicht vorhanden können betrachtet werden. Das heisst mit anderen Worten: für unsere beschränkte sinnliche Wahrnehmung werden allerdings beide, die Feder wie das Goldstückchen, scheinbar gleich s c h n e l l zu Boden fallen, dass aber ein derartiges Ergebniss im Kleinen und nur im winzigsten Raum angestellt unmöglich als Beispiel und Maassgabe auch für den weiten Weltraum und die hier herrschenden weit grossartigeren Verhältnisse ebenfalls eine Geltung sollte haben können: dies wird heute von jemand, der alle diese Verhältnisse eingehend ins Auge fasst, wohl kaum noch im Ernst behauptet werden. In Bezug auf eben dieses Wechselverhältniss zwischen schwereren und leichteren Körpern hinsichtlich ihrer Fortbewegung nicht im leeren, sondern im stofferfüllten Raum sagt bereits Aristoteles: „Wir sehen, dass ein und dieselbe Schwere oder ein und derselbe Körper aus jzwei Ursachen s c h n e l l e r räumlich bewegt wird, entweder nehmlich, weil dasjenige, d u r c h welches h i n d u r c h er bewegt wird, einen Unterschied macht, wie z. B. durch W a s s e r oder durch E r d e oder durch L u f t , oder auch weil, wenn alles Übrige das Nehmliche bleibt, das B e w e g t w e r d e n s e l b s t einen Unterschied macht wegen eines U b e r m a a s s e s von S c h w e r e oder L e i c h t i g k e i t . Denn um wieviel u n k ö r p e r l i c h e r (d. h. dünner, leichter, luftartiger) und darum w e n i g e r h i n d e r l i c h und l e i c h t e r t h e i l b a r dasjenige ist, d u r c h welches h i n d u r c h die Bewegung stattfindet, um so s c h n e l l e r wird der betreffende Gegenstand bewegt werden. Dieser Unterschied wird aber nur «im Vollen» statthaben, denn «der grössere (oder schwerere) Körper z e r t h e i l t das Volle durch seine Gewalt s c h n e l l e r » . " Zu eben dieser Darstellung macht

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

dann Hegel die weitere Bemerkung: „Diese Ansicht ist höchst richtig und vornehmlich gerichtet gegen eine Menge von Vorstellungen, die in unserer Naturlehre (Physik) grassiren" (ARISTOTELES, Phys. S. 187. 189. 191; H E G E L IV. S. 855. 356). Und in der That, die Behauptung, dass eine Feder und ein Stück Gold im l e e r e n Raum g l e i c h schnell fallen müssten, dürfte eben wohl auch zu diesen in der Naturlehre noch grassirenden Vorurtheilen zu zählen seyn. Eine ganz ähnliche Bewandtniss, wie mit dem ebenerwähnten Beispiel, hat es auch mit der verwandten Behauptung der Maschinen- oder körperlichen Bewegungslehre (Mechanik), dass z. B. eine Kanonenkugel, welche im leeren Raum mit einer Kraft abgeschossen würde, welche g r ö s s e r ist als die A n z i e h u n g s k r a f t der E r d e , darum, dass sie im leeren Raum keinem äusseren Widerstand begegnet, in der einmal begonnenen Bewegung durchaus keine Änderung erfahren und daher auch in der zugleich mit der Bewegung gegebenen Richtung in alle Ewigkeit sich fortbewegen müsste. Auch von dieser Behauptung gilt nach Hegel dasselbe wie für diejenige bezüglich der Feder und des Goldes: „sie hat" — sagt er — „keinen auf wirkliche Erfahrung und Beobachtung gestützten (keinen empirischen) Grund". Aber ausserdem sprechen auch nicht zu unterschätzende Vernunftgründe gegen eine jede derartige Annahme. Wie soll der leere Raum, das reine kraftund wesenlose Nichts, als wirklicher Träger einer schweren Masse und als Fortleiter irgendwelcher Bewegung sich darzustellen vermögen? Und aus welchem Grunde sollte zur Anstellung eines derartigen Versuches eine Kraft erforderlich seyn, die g r ö s s e r seyn müsste als die Anziehung unserer Erde, da diese durch den leeren Raum hindurch ja ganz ebensowenig auf die Kugel wie diese auf den Erdkörper eine Einwirkung würde auszuüben im Stande seyn? Zudem dürfen wir aber auch nicht ausser Acht lassen, dass eine Bewegung, welche in einem ganz bestimmten Zeitpunkt b e g i n n e n , aber

Baum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

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nichtsdestoweniger o h n e E n d e in alle Ewigkeit fortdauern soll, geradezu einen W i d e r s p r u c h in sich selbst darstellt. Denn wie bei der Anziehungskraft unserer Erde, wenn ihr auch ein noch so bedeutendes Kraftmaass zukommen mag, dieses Letztere doch immer nur ein e n d l i c h e s und bes c h r ä n k t e s ist und seyn kann: so kann auch nur ganz das Gleiche gesagt werden von der Kraft, welche der Kugel den ersten Anstoss zu ihrer Bewegung geben und zu diesem die Anziehungskraft unserer Erde angeblich noch um etwas soll ü b e r t r e f f e n müssen. Ein an sich e n d l i c h e s K r a f t m a a s s vermag in keiner Weise eine u n e n d l i c h e Wirkung hervorzubringen nach dem allgemein anerkannten Natur- und Kraftgesetz, dass keine Wirkung grösser seyn kann als ihre Ursache. — Und ganz in dieselbe Klasse von Behauptungen gehört dann auch diejenige, dass ein Pendel ins Unendliche fortschwingen würde, wenn es nicht durch die Reibung und den Widerstand der Luft daran verhindert würde, d. h. also mit anderen Worten, wenn das Pendel seine Schwingungen in einem völlig leeren Raum bewerkstelligen könnte. Auch für diesen Fall macht HEGEL darauf aufmerksam, dass die Reibung nur eine Folge der Schwere, d. h. der Anziehung unserer Erde sey (HEGEL VII 1 - S. 78. 80. 82. 83). Wenn aber auch beide, die durch die Schwere verursachte Reibung wie der Widerstand der Luft im luftleeren Raum, als nicht vorhanden dürfen betrachtet werden: so bleibt immer noch der Umstand im Wege, dass keine endliche Kraft eine unendliche Wirkung haben kann, und damit fällt auch diese Behauptung in sich selbst zusammen. — Und was endlich noch die m a g n e t i s c h e n u n d e l e k t r i s c h e n A n z i e h u n g e n betrifft, welche auch im sogenannten luftleeren Raum statthaben sollen, so beweisen auch sie — wie J. J. W a g n e r solches hervorhebt — eben einfach nur, dass dieser vermeintlich-leere Raum in Wirklichkeit n i c h t l e e r ist, eben weil er sonst weder die magnetischen noch die elektrischen Kräfte überhaupt fortzuleiten irgend im

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Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

Stande seyn würde (WAGNEK, Natur der Dinge. S. 155). Das Gleiche ist der Fall mit dem sogenannten e l e k t r i s c h e n E i L i c h t innerhalb der zu seiner Darstellung erforderlichen angeblich luftleeren Röhre. Das elektrische Licht hat bekanntlich eine b l e n d e n d weisse Farbe; innerhalb dieses angeblich luftleeren Glas-Eies zeigt es dagegen eine b l ä u l i c h e Farbe, gewiss der beste und sicherste Beweis, dass jener vermeintlichleere, weil mittelst Quecksilber abgesperrte Raum in Wirklichkeit n i c h t l e e r , sondern mit Q u e c k s i l b e r d ä m p ' f e n angefüllt seyn muss. Denn gerade diese Quecksilberdämpfe sind es, welche dem durch den elektrischen Strom erzeugten Licht diese bläuliche Farbe verleihen. In allen diesen Fällen verhält es sich eben einfach wie mit der ähnlichen Behauptung, dass, wenn sich ein Punkt fortbewege oder wenn Punkt an Punkt aneinander gereiht würde, daraus eine Linie entstehe: sie alle sind Blendwerk, sind Scheinbehauptungen, welche, wenn man ihnen gehörig auf den Grund geht, einer jeden wirklichen Beweiskraft völlig entbehren.

N o . 120.

Die vermeintliche leere Weltzeit.

Aus der so nahen Verwandtschaft und untrennbaren Zusammengehörigkeit der beiden Begriffe von R a u m und von D a u e r einerseits, sowie von D a u e r und von Z e i t anderseits, dürfen wir schon von vornherein darauf schliessen, dass dasjenige, was in Bezug auf den vermeintlichen leeren Weltraum gesagt werden musste, in seiner Weise auch ebenso in Bezug auf eine etwaige l e e r e W e l t z e i t seine volle Geltung wird beibehalten müssen. Mit anderen Worten: Eine an und in sich l e e r e und wesenlose W e l t z e i t oder W e l t d a u e r , eine reine und blosse Z e i t oder D a u e r an sich, welche unabhängig von den wirklich vorhandenen Dingen und Wesen dieser Welt etwa sollte bestehen können, ist als ein reines U n d i n g ebenso undenkbar und unmöglich, wie auch der vermeintliche leere

Eaum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 317

und wesenlose Weltraum als nichts weiter von uns konnte aufgefasst werden, denn ebenfalls als ein bodenloses Unding, d. h. als das reine bodenlose N i c h t s , dem jegliche Kraft und jegliches Vermögen selbst zu eigenem wirklichen Bestand im Daseyn ein für allemal muss abgesprochen werden. Wäre dem nicht so, so hätten wir von der einen Seite eine A u s d e h n u n g ohne ein i h r zu G r u n d e l i e g e n d e s A u s g e d e h n t e s , so von der anderen Seite eine zeitliche Dauer ohne ein i h r zu G r u n d e l i e g e n d e s Z e i t l i c h - D a u e r n d e s . Sollten, wenn wir so sagen dürfen, ein leerer Weltraum und eine leere Weltzeit in der That Ansprüche darauf machen wollen, etwas an sich Wirkliches zu seyn: so würde denselben zur Begründung eines solchen Anspruches das erste natur- wie vernunftnothwendige Erforderniss hierzu, nehmlich eine bewirkende und verwirklichende Ursache, fehlen. Denn dem wesenlosen Nichts muss eine solche abgehen. Alles dies sind nichts als reine Widersprüche in sich selbst. Nur da, wo wirklich wesenhafte Natur und damit wirkliche und wahre Naturwirklichkeit als eine natürlich in sich vollendete Thatsache bestehen: nur da kann also vernunftgemäss auch von wirklicher Räumlichkeit und Zeitlichkeit, sowohl im Besonderen und Einzelnen, wie auch im Allgemeinen, Grossen und Ganzen, d. h. von einem wirklichen Weltraum und einer wirklichen Weltzeit die Rede seyn. Sich etwa das Gegentheil hiervon einreden zu wollen, wäre eine ebensolche S e l b s t v e r b l e n d u n g wie die Annahme von stofflich-körperlichen Eigenschaften oder Beschaffenheiten ohne die stofflich-körperlichen . Dinge, mit deren eigenem innerem Wesen sie untrennbar verknüpft sind. Dass übrigens die Annahme eines wirklichen leeren Raumes und einer wirklichen leeren Zeit in der That nur als eine Selbstverblendung von uns darf aufgefasst werden: dies dürfte vielleicht auch noch aus folgender sprachlichen Eigentümlichkeit hervorgehen. Worin mag es nehmlich wohl seinen Grund haben, dass, wenn wir auch wohl von einem leeren Eaum und

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

von einer leeren Zeit sprechen hören, als von Etwas, an dem man als an einem wirklich Vorhandenen festhalten müsse, man doch niemals von einer an sich „ l e e r e n D a u e r " sprechen hört? Dürfte für unser Denken nicht auch hierin schon ein natürlich begrifflicher Hinweis darauf liegen, dass ebenso wie die leere Dauer so auch die an sich leere Zeit und der an sich leere Raum ebenfalls nur als trügerische Scheinbilder und leere Hirngespinste sollten zu betrachten seyn? Bei dem Begriff der D a u e r fühlen wir es an uns selbst, dass zur D a u e r auch etwas D a u e r n d e s gehören muss, und dieses eigene innere Selbstgefühl und Selbstbewusstseyn dürfte es daher auch wohl vornehmlich seyn, welches uns vor jedem Wahnglauben an eine an sich „leere Dauer" bewahrt. Bei den Begriffen von Raum und Zeit dagegen lassen wir die Gedanken mehr in die Weite schweifen nach jenen fernen Weltgebieten, darinnen wir die einzelnen Himmelskörper ihre weiten Bahnen beschreiben sehen, und da wir in eben jenen fernen Gebieten mit unseren leiblichen Augen nichts Sonstiges wahrnehmen, was deren Räume etwa ausserdem noch erfüllen sollte, so geben wir uns weit leichter dem Wahne hin, dass jene Räume an sich leer seyen und die in ihnen sich bewegenden Himmelskörper ihre Bahnen auch in einer „an sich leeren Zeit" zu vollziehen vermöchten. Behalten wir es aber hierbei im Auge, dass gerade der Begriff der D a u e r , dem wir den Begriff des „Leeren" uns so wohl hüten hinzuzufügen, es ist, welcher, als den beiden Begriffen von Raum und Zeit gemeinsam zukommend, das begriffliche Mittelglied bildet zwischen eben diesen beiden Letzteren: sollten wir uns dieses nicht einen Wink seyn lassen dafür, dass dasjenige, was für den verbindenden Mittelbegriff gilt, auch für die beiden Endbegriffe, die er einheitlich vermittelt, ebensosehr seine Geltung haben müsse? Schon L o c k e hat darauf hingewiesen, dass wir „niemals die Dauer als etwas bloss E i n g e b i l d e t e s betrachten, weil sie n i e m a l s a l s l e e r (d. h. nie als bestehend, ohne auch

Baum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 3 1 9

«in wirkliches Daseyn zur Grundlage zu haben) gedacht werde" {BAUMANN, Raum und Zeit. I . S. 4 0 1 [LOCKE]). Und ganz in Übereinstimmung mit den eben angedeuteten Verhältnissen sagt auch Baumann: „Die Zeit ist zwar etwas Anderes als «ine blosse Ordnung der Dinge, aber darin vom Raum verschieden, dass wir nicht umhin können, diesen vorauszusetzen auch ohne Dinge, während wir die Zeit auch in ihrer einfachsten Form als D a u e r nicht zu denken v e r m ö g e n anders •denn als eine D a u e r von E t w a s , und sey dieses Etwas .auch der l e e r e R a u m " (BAUMANN a. a. 0 . I I . S. 9 2 . 93). Schon

Thomas

von

Aquino,

Gioberti,

Campanella

-und Andere haben aus diesen und ähnlichen Gründen gegen die Annahme wie eines l e e r e n W e l t r a u m e s , so auch einer l e e r e n W e l t z e i t , oder eines reinen Raumes und einer reinen Zeit ausgesprochen (WEENES, THOM. V. AQU. I I I . S. 6 9 0 . 6 9 6 ; TIEDEMANN, Geist d. spek. Phil. [CAMPANELLA]). Und in dem gleichen Sinn sagt S u a r e z , dass die D a u e r wahrer und eigentlicher Weise nur den wirklich bestehenden Dingen beigelegt werde. Man sage nehmlich von dem Ding „es dauere", welches in seinem Daseyn beharre, und aus diesem Grund erachte man, die Dauer sey dasselbe wie das Verbleiben im Seyn. Und eben daher werde eine D a u e r auch n u r wirklich b e s t e h e n d e n D i n g e n zugeschrieben und zwar n u r ins o f e r n , als ihnen ein wirkliches Daseyn zukommt (BAUMANN, Raum und Zeit. I. S. 33. [SUABEZ]). Nach Hobbes lässt, wie «in jeder Körper das Bild seiner G r ö s s e , so auch ein jeder b e w e g t e K ö r p e r das Bild s e i n e r B e w e g u n g in unserem Geiste zurück. Dieses Bild aber sey es, was man im Allgemeinen „ Z e i t " nenne (BAUMANN a. a. 0. I. S. 273). Und ebenso ist nach LEIBNITZ „die Z e i t ohne die D i n g e nichts anderes als eine einfache, nur allein g e i s t i g von uns angeschaute (ideale) M ö g l i c h k e i t " . Wie der R a u m ohne die Dinge, denen er angehört, nach LEIBNITZ „ n i c h t s Wirkliches" ist, so auch die Zeit. Denn wie der Raum sich zu den ihm

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

zu Grunde liegenden stofflich-körperlichen Dingen verhält, so verhält sich nach ihm auch die Z e i t zu den sich b e w e g e n den Dingen. Baumann spricht sich über eben diese Verhältnisse, wie sie L E I B N I T Z darstellt, folgendermassen aus: „Die Dinge sind nach L E I B N I T Z n i c h t s ohne R a u m und D a u e r ; sondern abstract (d. i. rein nur an sich und ohne die Dinge betrachtet) nennt er nur die R a u m - und Z e i t v o r s t e l l u n g , um dadurch die Meinung auszuschliessen, als ob ßaum und Zeit im Sinne der allgemeinen Raum- und Grössenlehre (im mathematischen Sinn) etwas w i r k l i c h a u s s e r den D i n g e n B e s t e h e n d e s (Existirendes) sei. Wie die Zahl nicht unabhängig draussen besteht, sondern nur an zählbaren Dingen, so gibt es k e i n e n R a u m und k e i n e Z e i t d r a u s s e n f ü r s i c h , sondern nur Dinge, welchen Räumlichkeit und Zeitlichkeit anhaftet. — Die Dinge tragen (also) Raum und Zeit in sich: diese (nehmlich Raum und Zeit) sind als v o r a u s g e s e t z t e A u f n a h m e s t ä t t e n (für die Dinge) gar n i c h t d a " ( L E I B N I T Z , ED.

ERDMANN.

S.

770.

No.

55;

S. 7 7 1 .

No.

56.

62;

S.

772.

No. 67; BAUMANN a. a. 0. II. S. 98. 139. 314). In gleichem Sinn sagt Herbart, es werde „mit vollem Recht behauptet, dass die Zeit f ü r sich und als ein b e s o n d e r e s Wesen (oder vielmehr als ein besonderes wesenloses Daseyn) betrachtet, ein U n d i n g " sey ( H E B B A R T III. S. 408). „Die Z e i t " — sagt Schelling — „ist n i c h t etwas, was u n a b h ä n g i g vom I c h abläuft; sondern das I c h s e l b s t , in T h ä t i g k e i t gedacht, ist die Zeit. — Ein reines Seyn, mit V e r n e i n u n g a l l e r T h ä t i g k e i t gedacht, ist ohne Zweifel der Raum. Kein Seyn als solches ist in der Z e i t , sondern nur die V e r ä n d e r u n g e n des S e y n s , welche als Thätigkeitsäusserungen erscheinen" (SCHELLING III. S . 466; V. S . 251). Wie somit nach S C H E L LING der R a u m das wirkliche Seyn oder Daseyn darstellt mit Verneinung oder willkührlicher Ausserachtlassung a l l e r T h ä t i g k e i t oder eigener Kraftwirksamkeit von Seiten der vorhandenen Dinge, die ihm zu Grunde liegen: so bezeichnet ihm

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 3 2 1

umgekehrt die r e i n e Z e i t die r e i n e T h ä t i g k e i t , aber mit ebensolcher willkührlicher Verneinung oder willktihrlichen Ausserachtlassung eben der w i r k l i c h e n D i n g e , welche als die eigentlichen wesenhaften Träger dieser ihrer Thätigkeiten sich erweisen. — Ferner sagt S e n g l e r : „ R a u m und Z e i t sind w e d e r D i n g e , d. h. weder etwas Wesenhaftes und für sich a u s s e r den D i n g e n Bestehendes, noch b l o s s e G e d a n k e n a n s c h a u u n g e n (Abstractionen) o h n e W i r k l i c h k e i t , sondern sie sind Daseynsweisen (Formen), und zwar nicht bloss der Körper- sondern auch der Geisterwelt. So sind sie sowohl äusserlich-gegenständliche wie eigene innerlich-geistige Daseyns- und Denkweisen (objective und subjective Formen). D a nun Raum und Zeit blosse Seyns- und Erscheinungsweisen (Formen) des W i r k l i c h e n sind: so bestehen (existiren) sie in Wahrheit n i c h t f ü r s i c h , o h n e o d e r vor d e r W i r k l i c h k e i t , sondern nur in i h r und d u r c h sie. Man kann sie aber abgesondert von der Wirklichkeit d e n k e n a l s b e s t i m m t e Begriffe. Nur weil es eine W i r k l i c h k e i t gibt, gibt es R a u m und Z e i t als Erscheinungsweisen (Formen) derselben. Sie sind nur Folgen des s i c h v e r w i r k l i c h e n d e n W i r k l i c h e n (Realen) und werden nur von ihm abgesondert oder getrennt g e d a c h t , sind in Wirklichkeit aber von dem Wirklichen (Realen) n i c h t g e t r e n n t . Nur wo w i r k l i c h e D i n g e (oder Wesen) s i n d o d e r w e r d e n , i s t a u c h R a u m u n d Z e i t . " Und weiterhin: „ J e d e s Wesen bringt als solches s e i n e n Raum hervor, nimmt sich, sich verwirklichend und daseyend, seinen b e s t i m m t e n Raum oder g r ä n z t sich gegen das Ganze (und die Anderen) nach seiner besonderen Weise (nach seiner Idee) ab, d. h. es i s t d a , h a t D a s e y n , hat einen b e s t i m m t b e g r ä n z t e n R a u m , und nimmt ihn in einem sich begränzenden Verlauf, d. h. in einer bestimmten A u f e i n a n d e r f o l g e oder D a u e r ein. Die Dauer, in der eben diese r a u m e r f ü l l e n d e B e w e g u n g vor sich geht, ist die Z e i t . — J e d e s Wesen, sich verwirklichend, setzt (durch sich, für sich und in Wandersmann. n ,

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322

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

sich) die Daseynsweisen (Formen) des R a u m e s und der Z e i t (und zwar als s e i n e s Raumes und s e i n e r Zeit). Dieses ist das Wesen in seinem Yerhältniss zu s i c h s e l b s t . Es verhält sich aber auch zu anderen Wesen, ist a u s s e r und n e b e n denselben oder nimmt einen R a u m n e b e n i h n e n ein, von dem es die anderen a u s s c h l i e s s t , die ebenfalls im Raum (und zwar ebenfalls allein in ihrem e i g e n e n Raum) sind, und von denen jedes das andere ausschliesst oder einen bestimmten Raum einnimmt. Es gibt daher einen a l l g e m e i n e n R a u m , in dem alles in dieser Welt Vorhandene (Geschaffene) i s t , und eine a l l g e m e i n e Z e i t , in der alles w i r d . Dieser allgemeine Raum und diese allgemeine Zeit sind aber n i c h t der l e e r e R a u m und die l e e r e Z e i t , sondern sie sind das alles in dieser Welt vorhandene (geschaffene) Seyn und Werden Beg r ä n z e n d e " (SENGLEE, Idee Gottes. I I I L S. 391. 394. 396), oder mit anderen Worten ausgedrückt, der durch die Gesammtheit alles wirklich Vorhandenen gebildete und erfüllte a l l g e m e i n e W e l t r a u m und ebenso die a l l g e m e i n e W e l t z e i t und W e l t d a u e r , darinnen alle die mannigfachen Veränderungen vor sich gehen, welche der allgemeine Wechselverkehr der Dinge unter sich in seinem nothwendigen Gefolge hat. — K r a u s e drückt sich über diese Verhältnisse folgendermassen aus: ,,Im gewöhnlichen Bewusstsein betrachten wir die Z e i t als etwas S e l b s t ä n d i g e s a u s s e r u n s , welches unter Anderem auch u n s in sich befasse, wodurch wir also die Z e i t als Daseyns- und Erscheinungsweise (Form) v e r s e l b s t ä n d i g e n oder h y p o s t a s i r e n , so dass wir unter anderem sagen: «wir sind (oder leben) in der Zeit,» weil wir jene Eine Zeit als nicht nur unsere Eigenschaft (oder Eigenthum) anerkennen, sondern auch als zugleich die Eigenschaft (das Eigenthum) aller Geister und der ganzen Natur. Und da wir ferner, indem wir in derselben Natur leben, die uns (d. h. uns allen) gemeinsame Zeit abmessen nach gesetzmässig wiederkehrenden Naturbegebenheiten, d. h. nach Jahren, Tagen, Stunden u.s.w.,

Raum und Zeit in Bezug auf die G-esammtheit alles Naturdaseyns. 3 2 3

welche in dem Leben (und Naturgesetzen) des Weltalls bestimmt sind: so wird dadurch die gemeine M e i n u n g bestärkt, a l s sey die Z e i t e t w a s S e l b s t ä n d i g e s u n d l e d i g l i c h a u s s e r u n s B e s t e h e n d e s " (KRAUSE, Vöries, u. d. Syst. d. Philos. S. 114). Oken sagt: „Es gibt k e i n e n l e e r e n R a u m und keine Z e i t und keinen O r t , wo nicht ein E n d l i c h e s wäre" (OKEN, Naturphil. S. 23). Nach C a r i l S bezeichnen „ R a u m und Z e i t nur verschiedene Seiten oder Phasen eines und desselben (Seyns und) Werdens, und dürfen n i e als etwas von Grund aus G e t r e n n t e s und a l l e i n f ü r sich Wirklichkeit (Realität) Habendes gedacht werden. Nur unter dieser Voraussetzung" — sagt er — „ist es uns erlaubt, behufs der schärferen Durchdringung der Thatsache (des Phänomens) durch unseren Geist, die einzelnen Seiten vorübergehend zu sondern, immer jedoch den Totalbegriff des Ganzen uns vorbehaltend und festhaltend, durchaus etwa so, wie wir an der Kugel zwar den Begriff der Oberfläche, des Mittelpunktes, sowie der Haibund Durchmesser (der Radien) u n t e r s c h e i d e n , n i e m a l s aber diesen einzelnen Begriffen eine besondere W i r k l i c h k e i t (Realität) zugestehen dürfen" (CARUS, Natur u. Idee. S. 18. 19). So sagt auch J. H. F i c h t e : „Wirklichseyn (Realseyn) heisst: s e i n e n Raum und s e i n e Zeit setzen und erfüllen. Umgekehrt ist R a u m z e i t l i c h k e i t nur die unmittelbare Folge des in i h n e n sich darstellenden W i r k l i c h e n (Realen). Leerer R a u m und u n e r f ü l l t e Z e i t sind daher beide lediglich der vom Begriff jeder Wirklichkeit u n a b t r e n n l i c h e Ausdruck des Wirklichen, so gewiss dasselbe ein Beharrliches ist, d. h. t h e i l s gegen Anderes sich behauptet, s e i n e n Raum d. i. s e i n e n Wirkungskreis (Wirkungssphäre) setzt und erfüllt, t h e i l s an sich selbst d a u e r t und s e i n e Zeit sich gibt. Deshalb sind Raum und Zeit n i c h t s an sich s e l b s t , sondern nur die für sich unselbständigen Daseynsweisen (Formen) alles Wirklichen" (J. H. FICHTE, Anthropol. S. 183. 184). Und H u b e r sagt: „Stellt sich in unserer Anschauung R a u m und 21*

324

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

Zeit als das Neben- und Nacheinander von Wahrnehmungen vor, so bedeutete ein unbedingt (absolut) l e e r e r Raum und eine unbedingt l e e r e Zeit ein N e b e n - und A u s e i n a n d e r s e y n , in welchem n i c h t s n e b e n - und a u s s e r e i n a n d e r i s t , und ein Nacheinanderseyn, wo nichts nacheinander ist: kurz es wäre ein sich s e l b s t a u f h e b e n d e r W i d e r s p r u c h . " Bau mann spricht sich am Schluss seiner Arbeit, und gewissermassen mit als Endergebniss seiner vergleichenden Untersuchungen, über den Begriff der Zeit folgendermassen aus: „Es gehört zur Z e i t v o r s t e l l u n g ausser dem N a c h e i n a n d e r der Vorstellungen auch etwas, was sich dieses Nacheinander als solches b e w u s s t wird; also etwas, was im Vergleich mit diesem Nacheinander ausser ihm oder über ihm steht, etwas, was dem Aufeinanderfolgen entnommen ist, also, wie solches unser Bewusstseyn uns selbst kund thut, etwas B l e i b e n d e s in der Aufeinanderfolge unserer Gedanken (der Ideen). Dies B l e i b e n d e ist in uns unsere I c h v o r s t e l l u n g , auch dann, wann und wo sie noch nicht unter diesem Namen auftritt. Darum schliessen wir uns wieder der alten Vorstellung an, welche die D a u e r der Z e i t ü b e r o r d n e t e (und also auch begrifflich voranstellte). Ohne das D a u e r n d e unseres I c h s würde das Nacheinander unserer Vorstellungen nie als Z e i t uns zum Bewusstseyn kommen. Diese Aufeinanderfolge wird erst durch die B e z i e h u n g auf die D a u e r u n s e r e s I c h s zur Zeit. Die Dauer unseres Ichs aber ist nicht selbst wieder in der Zeit, als einer über ihr stehenden Vorstellung; sie ist nicht eine in abgesetzten Zeitabschnitten (Momenten) aufeinanderfolgende, sondern eine sich gleichbleibende; sie ist, wie man es früher bezeichnete, die Fortsetzung des Daseyns (Continuation der Existenz): das «Ich bin» als schlechthin, als einfach geltend gedacht" (BAUMANN, Raum und Zeit. S. 659. 660). In einem ähnlichen Sinn sagt S t e n t r u p : „Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass das f l i e s s e n d e Seyn und folglich, weil die D a u e r dem Seyn entsprechen muss, die

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

325

fliessende Dauer ein b e h a r r l i c h e s Seyn voraussetzt, welches Grund und Träger fortschreitend aufeinanderfolgender (successiver) Veränderungen seyn könne. Nun ist aber die iiiessende Dauer gerade dasjenige, was wir mit dem Namen «Zeit» belegen. Also ist es offenbar, dass w i r k l i c h e (reale) Z e i t u n m ö g l i c h ist, wenn nicht Dinge vorhanden sind (existiren), die der Veränderung unterworfen sind, und wir müssen (in dieser Beziehung) vollständig denen beistimmen, welche die W e l t w i r k l i c h k e i t als n o t h w e n d i g e V o r a u s s e t z u n g der Zeit betrachten." Wie verhält es sich nun aber, wenn STENTRUP auch weiter noch die Frage aufwirft: „Kann man nun aber daraus den Schluss ziehen, dass Zeit ohne W e l t w i r k l i c h k e i t überhaupt n i c h t d e n k b a r sey?" Und wenn er diese Frage nun mit den Worten verneint: „ G a n z und g a r n i c h t ; denn e b e n s o w e n i g als die sachliche (objective) D e n k b a r k e i t der W e l t von ihrer W i r k l i c h k e i t abhängt, ist die sachliche (objective) D e n k b a r k e i t der Z e i t durch die Weltwirklichkeit bedingt" (STENTRUP, Zeitl. Weltschöpfung. S . 23. 24): so dürfte eben doch gerade diese Beantwortung jener Frage von vornherein von einer an sich sehr irrthümlichen Grundanschauung ausgehen. Denn wäre unsere Welt überhaupt g a r n i c h t wirklich vorhanden, so wären ganz einfach auch wir s e l b e r g a r n i c h t v o r h a n d e n . Wie kann aber Etwas, was selbst g a r n i c h t v o r h a n d e n ist, sich Gedanken bilden über die D e n k b a r k e i t oder N i c h t d e n k b a r k e i t einer thatsächliclien Weltwirklichkeit samt allem dem, was mit ihr zusammenhängen oder nicht zusammenhängen mag? Ist diese Welt nicht wirklich, so sind auch wir alle nicht wirklich, und alles Fragen in Bezug auf irgendwelche Weltverhältnisse h ö r t d a m i t von v o r n e h e r e i n von s e l b s t auf. Im reinen N i c h t s hört auch alles D e n k e n auf, und wo das Seyn der Welt in Frage gestellt oder verneint wird, da ist gleichzeitig alles D e n k e n innerhalb eben dieser Welt mit in Frage gestellt oder verneint. Eben diese hier von STENTRUP aufgeworfene Frage fällt

326

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

•übrigens ziemlich nahe in Eins zusammen mit einem Ausspruch, welchen bereits früher Anselm von Canterbury gethan hat. „Wenn auch diese oder jene D i n g e nicht wären" — sagt er — „so würde doch nichtsdestoweniger die Z e i t seyn. Denn es kann nicht gesagt werden, dass die Zeit diesen oder jenen Dingen angehöre, weil die Zeit i n diesen oder jenen Dingen sey, sondern weil diese Dinge selbst i n der Z e i t sind" (HASSE, ANSELM V. CANTERBUBY. II. S. 97). Dieser Ausspruch ANSELM'S steht in innigster sachlicher Verbindung mit der oben erwähnten Frage von STENTRUJP und der Art und Weise, wie derselbe seine Frage selbst beantwortet hat. — Beiden Schlussfolgerungen liegt, wie meist einem jeden Irrthum, eine S e l b s t t ä u s c h u n g zu Grunde, zu welcher wieder ihrerseits irgend eine verkannte oder unrichtig aufgefasste Wahrheit die äussere Veranlassung gegeben hat. Den richtigen Schlüssel zum Verständniss eben dieser Selbsttäuschung bietet uns aber ohne Zweifel eine bereits am Schlüsse der vorigen Nummer erwähnte Bemerkung von BAUMEN, die Bemerkung nehmlich, dass bei allem Hinwegdenken oder geistigem Absehen von allem in dieser Welt Vorhandenen doch immer Ein Bleibendes und Dauerndes als unangetastet von unserem geistigen Hinwegdenken nach wie vor fest bestehen bleibe, nehmlich u n s e r e i g e n e s g e i s t i g e s D e n k e n und damit also u n s e r eigenes I c h und S e l b s t oder u n s e r e eigene P e r s ö n l i c h k e i t . Denn u n s s e l b s t können wir in allen derartigen Fällen, wo es sich um ein bestimmtes geistiges Urtheil handelt, n i c h t mit dem Ü b r i g e n h i n w e g d e n k e n , weil sonst das betreffende Urtheil, als ein Urtheil ohne Urtheilenden, ohne die nöthige es tragende Grundlage seyu würde. Wollten wir es dennoch versuchen, uns ebenfalls mit hin wegzudenken, so würde sofort unser eigenes geistiges Bewusstseyn uns sagen, dass wir trotz allem unserem „uns wegdenken Wollen" nichtsdestoweniger noch i m m e r da s i n d , und dass es also gar nicht in unserer Macht steht, uns geistig

Kaum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 327

gewissermassen selber mit zu vernichten. Und wenn wir dieses vermöchten, was würde der Erfolg hiervon seyn? Etwa dass nunmehr ein wirklicher l e e r e r R a u m und eine' w i r k l i c h e l e e r e Z e i t als allein noch Fortbestehendes zurückbliebe? K e i n e s w e g s . Was zurückbleibt, wenn wir die ganze Welt sammt allem, was darinnen ist, und damit also auch uns selber hinwegzudenken versuchen wollten oder könnten: das könnte weder ein wirklicher leerer Raum noch eine wirkliche leere Zeit seyn, sondern nur allein, wie bereits erwähnt, das r e i n e N i c h t s ohne alle und j e d e r ä u m l i c h e A u s d e h n u n g und ohne alle und j e d e z e i t l i c h e D a u e r , das ist: der reine räum- und wesenlose P u n k t der allgemeinen Grössenlehre. Schon vor dem Gedanken an die blosse Möglichkeit, geschweige an eine thatsächliche Wirklichkeit einer derartigen baaren Unmöglichkeit und Unwahrheit, die durch alle unsere natürlichen wie geistigen Selbsterfahrungen sofort würde Lügen gestraft werden, vor einem solchen ungeheuerlichen, grundund bodenlosen allgemeinen Nichts, darin n i c h t s seyn kann und daraus n i c h t s werden kann, weil für beides kein Raum und keine Stätte in ihm ist, muss es dem denkenden Geist s c h w i n d e l n . Auf Grund eines solchen reinen Nichts kann eine Welt wie die unsrige niemals sich erbaut haben: diese verlangt für sich lebendig wirksame Kräfte, welche solch ein reines Nichts aber nie und nimmermehr zu bieten im Stande seyn kann. Wenn S E X T U S berichtet, dass nach den Schülern des H E R A K L I T „die Wesenheit der Zeit k ö r p e r l i c h sey", so dürfte dieser Ausspruch wohl im ersten Augenblick etwas Absonderliches an sich tragen. Denken wir uns aber in den Ausspruch recht hinein, so dürfte eben doch der eigentliche und wahre Sinn desselben wohl kaum ein anderer seyn als der, dass jene Heraklitiker, welche denselben gethan haben, damit dem Gedanken haben Ausdruck geben wollen, dass es o h n e k ö r p e r l i c h e D i n g e eben auch keine Zeit geben würde, also eine l e e r e Z e i t nur aus einer unrichtigen Auf-

328

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

fassung der wirklichen Welt- und Naturverhältnisse entspringen könne. L a s 8 a l l e , indem er jenes Ausspruches Erwähnung tliut, fügt die Bemerkung hinzu, dass derselbe ganz folgerecht von HEKAKLIT gesagt seyn könne (LASSALLE I. S. 8 5 9 ) . N o . 121. Der eigentliche Danerbegriff als Begriff des in sich ruhigen Bestehens im Daseyn, in seinem begrifflich-natürlichen Verhältniss zum eigentlichen Zeitbegriff, als dem Begriff des bewegten und veränderlichen Bestehens im Daseyn. Halten wir unsere Augen eine Zeitlang geschlossen und öffnen wir sie dann plötzlich, aber nur für einen e i n z i g e n , möglichst r a s c h v o r ü b e r g e h e n d e n A u g e n b l i c k , indem wir dieselben sofort wieder schliessen: so erhalten wir dadurch, selbst auf dem Wege rein äusserlicher Sinneswahrnehmung, eine ebenso vollständige wie klare und deutliche Anschauung von dem, was wir uns im Allgemeinen unter dem Begriff des R a u m e s , als eines natürlichen, ordnungsmässigen und vollkommen r u h i g e n N e b e n e i n a n d e r s e y n s der D i n g e , denken und vqrstellen. Eine jede Störung dieses Verhältnisses durch den Zeitbegriff ist hier ausgeschlossen, da innerhalb dieser fast verschwindenden Spanne Zeit keine Art von Veränderung an den angeschauten Dingen sich für unser Auge kann bemerklich machen. Selbst in thatsächlicher Bewegung begriffene Gegenstände stellen in diesem ebenso rasch entstehenden wie vergehenden Bild als f e s t an i h r e S t e l l e g e b a n n t sich dar. Und aus eben diesem Grund haben wir denn auch bereits an einer früheren Stelle den R a u m b e g r i f f im Allgemeinen als einen solchen bezeichnet, welcher, einseitig für sich allein betrachtet, den Begriff der R u h e und also auch der Unbeweglichkeit und Regungslosigkeit von Uranfang an unmittelbar in sich einschliesst. Aber eben dieses Gepräge von innerlichäusserlicher Ruhe, welches mit dem Raumbegriff Hand in Hand geht, geht in einem gewissen Sinn, wie wir solches

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyna.

ebenfalls bereits früher meinen Z e i t b e g r i f f ,

dargethan,

insofern

auch über in

wir

diesen

seiner noch urwüchsigsten Bedeutung;

den

329

allge-

ausschliesslich

nehmlich nur in

in dem

Sinn eines r u h i g e n und g l e i c h m ä s s i g e n F o r t b e s t a n d e s im Daseyn,

oder, was dasselbe ist,

fliessenden

einer ebenso r u h i g

ununterbrochenen

dahin

B e h a r r u n g in demselben,

d. h. als einfache W e s e n s d a u e r in das Auge fassen. auch bei dieser ist j a , keit,

Denn

wenn auch nicht in der Naturwirklich-

so doch für unsere begrifflich-geistige Anschauung eine

jede Vorstellung einer jeden thatsächlichen Veränderung oder Bewegung

grundsätzlich

noch

ausgeschlossen.

H e g e l das blosse Daseyn der Dinge als Naturbegriff

hat,

wir

hier

so

dürfen sagen;

sich

als der noch

das Auge des Geistes

magerste

Zeitbegciff

dar.

Bildern bemalte Kreisfläche drehen,

dann

daher

ärmsten

Gleiche von dem D a u e r b e g r i f f für

bezeichnet

Wenn

den noch auch

denn auch er

das stellt

ärmste

und

Und wenn wir eine mit bunten im Finstern

sehr rasch

aber plötzlich und nur auf einen

durch einen hellen Lichtfunken

beleuchten

herum-

Augenblick

lassen,

so

sehen

wir das Bild auf der Scheibe in v ö l l i g e r R u h e u n d U n b e w e g t h e i t vor uns: von der raschen Umdrehung der Scheibe und der damit in Verbindung stehenden fortwährenden

Orts-

veränderung der einzelnen Bilder zeigt der empfangene Eindruck nicht aber

auch

die geringste der Begriff

Spur.

der

Ganz

ebenso gewährt uns

blossen W e s e n s d a u e r

von

der

einen Seite zwar wohl einen Eindruck einer allgemeinen inneren W e s e n s r u h e ,

aber von der anderen Seite noch durchaus

.keinen Einblick in die stets wechselnden innerlichen wie äusserlichen Vorgänge,

von denen das gesammte Daseyn der Dinge

sich unausgesetzt begleitet zeigt. den R a u m geradezu als er dann weiter hinzufügt:

Daher bestimmt z. B. O k e n

„stehen gebliebene Zeit",

indem

„Der Raum ist n i c h t von der Zeit

verschieden dem Wesen nach, sondern nur der Position (d. h. nur dem Gesichtspunkt nach,

von dem wir beide ins Auge

3 3 0 Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

fassen). Der Raum ist nur die r u h e n d e Z e i t , die Zeit der bewegte, t h a t k r ä f t i g e (active) R a u m " (OKEN, Naturphil. S. 22. 23). • Ebenso bezeichnet auch S c h ö l l i n g den Begriff der R u h e als von dem Begriff des R a u m e s nicht zu trennen. Und in Bezug auf den eigentlichen D a u e r b e g r i f f sagt er: „Jedem Seyn (oder Daseyn), das ein Yerhältniss zur Z e i t hat, ist (an sich und als solches) D a u e r . " Und an einem andern Ort: „Nur sofern die Seele der Begriff eines wirklich vorhandenen (existirenden) Dinges ist, kann ihr Daseyn (Existenz) d u r c h D a u e r bestimmt werden" (SCHELLING III. S. 473; IV. S. 263. 304; VI. 158. 532. 533). So sagt auch H e g e l : „Das D a u e r n d e ist die S i c h s e l b s t g l e i c h h e i t (oder die in sich selber ruhig fortbestehende innere Wesensunveränderlichkeit), worein die Zeit zurückgegangen (oder gleichsam zurückgetreten) ist (in Bezug auf unsere geistige Anschauung); sie (diese innerlich dauernde Sichselbstgleichheit) ist der R a u m (von seiner geistig-zeitlichen Seite aufgefasst); denn dessen Bestimmtheit ist das (in Bezug auf seinen wesentlichen Inhalt) g l e i c h g ü l t i g e Daseyn überhaupt" (HEGEL V I I l S. 62). Bau m a n n spricht über diese begrifflichen Wechselverhältnisse sich folgendermassen aus: „Die Vorstellung von der Z e i t ist die erst a b g e l e i t e t e ; die ursprüngliche (primitive) ist die von der D a u e r , von uns aus innerlich betrachtet als einer r u h i g e n F o r t s e t z u n g des D a s e y n s (der Existenz)". „Denn" — sagt er — „wir können selbst die Aufeinanderfolge der Vorstel-" lungen in uns wegdenken, während das Ich bleibt, nehmlich als die einfache Vorstellung «ich bin». Das I c h b l e i b t (somit) v o r g e s t e l l t a l s z e i t l o s u n d e m p f u n d e n a l s d a u e r n d , an welche Dauer die Z e i t (oder die Zeitvorstellung) a n g e k n ü p f t wird, während s i e s e l b e r a u c h ohne Z e i t i n n e r l i c h v e r s t ä n d l i c h ist. Wenn irgendwo, so ist bei der Zeit der s t e t i g e Verlauf (das Continuirliche) ein Wesentliches in ihrem Begriff, und zwar das stetige (continuirliche) Ineinanderübergehen dessen, was als.

Raum und Zeit in Bezug auf die Gresammtheit alles Naturdaseyns. 3 3 1

Augenblick in ihr empfunden wird" (BAUMANN, a. a. 0. II. S. 292. 663. 666). Alle diese begrifflichen Verhältnisse und Unterscheidungen zwischen Dauerbegriff und Zeitbegriff treten alsbald in den Hintergrund, ja wir dürfen fast sagen, sie verschwinden für unsere geistige Anschauung, sobald wir die Dinge nicht mehr bloss einzeln und für sich allein geistig in das Auge fassen, sondern statt dessen auf die thatsächlich vorhandenen allgemeinen Weltverhältnisse unsere Blicke lenken, wie solche der allgemeine W e c h s e l v e r k e h r sämmtlicher thatsächlich vorhandenen Naturdinge und Naturwesen erfahrungsgemäss unausbleiblich in seinem Gefolge hat. Jetzt haben wir die Dinge nicht mehr einzig und allein nach dem Begriff einer u r a n f ä n g l i c h - e i n f a c h e n , r u h i g in sich v e r l a u f e n d e n W e s e n s d a u e r vor uns, ähnlich wie wir ja auch den R a u m als ein in sich r u h i g b e s t e h e n d e s D a s e y n haben betrachten dürfen: nunmehr ist es der Begriff der d a h i n f l i e s s e n d e n Z e i t nebst allem, was dem Zeitbegriff angehört, was unserer geistigen Anschauung sich vorführt. Durften wir daher bis dahin die D a u e r in gewissem Sinn auch als die in sich r u h e n d e oder vielmehr r u h i g in sich v e r l a u f e n d e Z e i t betrachten, in welcher wir noch auf nichts von allem dem Rücksicht zu nehmen hatten, was während ihres natürlichen Verlaufes sonst noch Besonderes in und an den Dingen vor sich geht: so ist es nunmehr beim e i g e n t l i c h e n Z e i t b e g r i f f im engeren Sinn, wie solcher im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge naturgemäss sich darstellt, der Begriff einer s t e t e n , i n n e r l i c h e n wie ä u s s e r l i c h e n B e w e g l i c h k e i t und V e r ä n d e r l i c h k e i t , welchen wir selbst in sinnlich-wahrnehmbarer Weise allenthalben in die äussere Erscheinung eintreten sehen. Gewöhnlich pflegt man Dauer und Zeit begrifflich in der Weise dadurch zu unterscheiden, dass man die D a u e r ebenso wie den Raum als in sich r u h e n d , die Zeit aber als f l i e s s e n d bestimmt. Diese Bestimmung ist zwar nicht gerade unrichtig;

332

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

allein sie dürfte doch auch als nicht genau zutreffend zu betrachten seyn. Der Begriff des in sich s e l b e r R u h e n d e n dürfte im eigentlichen Sinne des Wortes wohl nur auf den R a u m als solchen Anwendung finden, gleichviel ob wir ihn von seiner bloss oberflächlich - äusserlichen oder von seiner innerlich-wesenhaften Seite in das Auge fassen: der Begriff des s t e t i g F l i e s s e n d e n dagegen dürfte ebensowohl dem D a u e r - wie dem Z e i t b e g r i f f gemeinschaftlich zuzuerkennen seyn; jedoch mit der besonderen und ausdrücklichen begrifflichen Unterscheidung, dass dem D a u e r b e g r i f f nur ein in sich r u h i g v e r l a u f e n d e s , dem Zeitbegriff dagegen nur ein in unverkennbarer s t e t e r B e w e g u n g und u n t e r f o r t w ä h r e n d e n V e r ä n d e r u n g e n sich vollziehendes D a h i n f l i e s s e n zukommt. Und zwar würden eben diese Bewegungen und Veränderungen ihre Geltung haben ebensowohl in Bezug auf innerlich-äusserliche G r ö s s e n - u n d G e s t a l t u n g s v e r ä n d e r u n g e n , wie auf innere Z u s t a n d s - und B e s c h a f f e n h e i t s v e r ä n d e r u n g e n und auf rein äusserliche O r t s v e r ä n d e r u n g e n : Begriffe, welche, in so inniger Wechselverbindung sie auch durch den einheitlichen Wesensbegriff zu einander stehen, doch in Bezug auf den blossen Dauerbegriff ohne alle Bedeutung sind, da dieser vollständig von ihnen allen absieht. Wollen wir daher das begriffliche Wechselverhältniss in der Weise der Rechenkunst in eine bestimmte Formel einzukleiden versuchen, so würde diese Formel lauten „Zeit: Dauer = Zustand: Wesen". Das heisst mit anderen Worten: wie sich die D a u e r zur Unv e r ä n d e r l i c h k e i t des Wesens verhält: so verhält sich die Z e i t zur V e r ä n d e r l i c h k e i t der Wesenszustände. Dauer heisst die Z e i t , als in sich stets gleichbleibend und somit ruhig in sich selber verlaufend; Z e i t heisst die D a u e r von Seiten der sie im Wechselverkehr der Dinge begleitenden steten Veränderlichkeit inmitten ihres an sich selber ruhigen Verlaufes im Daseyn. Wie ohne Dauerkraft es kein Daseyn überhaupt gibt, so gibt es ohne sie auch keine Zeit; daher

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 3 3 3

wir schon früher die Dauer als den Keim und ersten Ausgangspunkt auch für alle Zeitbewegung haben anerkennen müssen. Und somit entstammen beide, der Dauerbegriff wie der Zeitbegriff, dem gleichen geistverwandten Grund und Boden. An und für sich ein und dieselbe Sache anzeigend, sind es nur die verschiedenen Gesichtspunkte, von denen aus der Verstand sie in das Auge fasst, und von denen aus sie demgemäss auch diesem in verschiedenen geistigen Erscheinungsweisen sich darstellen, darauf die Unterscheidungen beruhen, welche wir in unseren geistigen Anschauungen zwischen ihnen machen. Beide, Dauer und Zeit, bewegen sich gleichmässig zwischen den gemeinsamen Gränzen von Anfang und Ende: nur in der Art und Weise, in welcher jene Hinbewegung vom Anfang zum Ende geistig von uns in das Auge gefasst wird, liegt für beide Begriffe ihre Verschiedenheit. Der Sache nach bezeichnen sie beide Ein und Dasselbe, und nur dadurch, dass wir in dem einen Fall die in der Naturwirklichkeit vorkommenden Veränderungen, die wir an den Dingen wahrnehmen, nicht in Betracht ziehen oder im anderen Fall auch diese mit berücksichtigen, haben wir es entweder mit dem Dauerbegriff oder mit dem Zeitbegriff zu thun. Und eben weil der Dauerbegriff es ist, welcher, wie wir gesehen, die verbindende Mitte bildet zwischen dem Raumbegriff und dem eigentlichen Zeitbegriff: eben desshalb darf es uns nicht wundern, wenn wir auch hier den allgemeinen Sprachgebrauch Zeugniss ablegen sehen für eben diese so innige begriffliche Verbindung, Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit, in welcher auch die Begriffe von B a u m und Z e i t in ganz ähnlicher Weise wechselseitig zu einander stehen wie die Begriffe von D a u e r und Zeit. Für ersteres Verhältniss sprechen unverkennbar, dem gleichen Gedanken nur in etwas veränderter äusserer Form Ausdruck gebend, die beiden Ausdrücke „ Z e i t r a u m " und „ Z e i t g r ö s s e " . Für das zweite Verhältniss die Bezeichnungen , , Z e i t d a u e r " und „ Z e i t b e w e g u n g " . Dagegen findet die

334

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

begriffliche Verschiedenheit zwischen Dauer und Zeit sich dadurch angedeutet, dass wir wohl von einem „ Z e i t w e c h s e l " sprechen, aber n i c h t von einem „Dauerwechsel", wohl von einer „Zeitveränderung", aber n i c h t von einer „Dauerveränderung"; und jedenfalls eher und lieber von einer „ Z e i t b e w e g u n g " , als von einer „Dauerbewegung". Und endlich dürfen wir auch noch den Umstand nicht übersehen, dass nehmlich in den sogenannten romanischen Sprachen, also im Französischen, im Italienischen u. s. w., für die beiden Begriffe von „ Z e i t " und von „ W e t t e r " nur ein einziges gemeinschaftliches Wort sich vorfindet: „temps" — „tempo" u. s. w. Wie das Wetter schon in dem Ausdruck „wetterwendisch" sprichwörtlich zu einem Sinnbild fortwährender Veränderlichkeit und Unbeständigkeit geworden ist, im Naturleben ebensowohl wie für das Geistesleben: so kennt auch die Zeit in ihrer eigentlichsten Bedeutung „weder Ruhe noch Rast". Und es gilt dies ganz ebenso in Bezug auf die den Einzeldingen und Einzelwesen dieser Welt innewohnende e i g e n e Z e i t , wie in Bezug auf die durch ihre G-esammtheit gebildete a l l g e m e i n e W e l t z e i t . J a diese Letztere erscheint uns vielfach so recht eigentlich als der breite und oft scheinbar völlig uferlose Strom, welcher, nicht wie der Weltraum und die Weltdauer, die Dinge gleichsam ruhig in sich einschliesst, sondern der alles mit seinem ganzen Ungestüm unwiderstehlich und unaufhaltsam mit sich fortreisst. Nach L a s s a l l e bestimmten schon die meisten S t o i k e r den Begriff der Zeit dahin, dass die Zeit B e w e g u n g sey ( L A S S A L L E , H E R A K L E I T O S . I . S. 3 5 9 ) . Und ebenso sagt auch A r i s t o t e l e s , dass „jede Veränderung und jedes Bewegtwerdende in der Z e i t " sey. „Die Veränderung und die Bewegung eines jeden Einzelnen ist n u r in dem D i n g s e l b s t , welches sich v e r ä n d e r t , oder da, wo eben das Ding selbst ist, welches bewegt wird und sich verändert," welchem Ausspruch gemäss er denn auch weiterhin sagt, dass „eine jede

Eaum und Zeit in Bezug auf die G-esammtheit alles Naturdaseyns.

335

Veränderung und ein jedes Bewegtwerdende in d e r Z e i t sey". Und an einem andern Ort bezeichnet er ..das E n d e , durch "welches (in Gemeinschaft mit dem Anfang) das Leben (und Daseyn) eines jeden Dinges umfasst wird", als die „ D a u e r " dieses Dinges; indem er hinzufügt, dass diese Bezeichnung „ D a u e r oder aic&v (Aion)" von äü (Aei) abgeleitet sey, was von dem ausgesagt werde, „was i m m e r ist oder i m m e r d a u e r t " (ARISTOTELES, Phys. S. 203. 225; Himmelsgeb. S. 75). „Wie der R a u m ' - — sagt Augustinus — „nur durch die A u s d e h n u n g der körperlichen Dinge hergestellt seyn kann: so ist auch keine Zeit, wo keine B e w e g u n g ist, sey diese Bewegung eine geistige oder eine körperliche. Denn die Zeit ist eben nichts anderes als die Bewegung von e i n e m Z u s t a n d in d e n a n d e r e n " (STÖCHL, Lehre v. Menschen. II. S. 370 [AUGUSTINUS]).

N a c h S u a r e z haben

wir in dem Be-

griff der D a u e r gleichsam das i n n e r l i c h - v e r b o r g e n e und darum eigentlich n i c h t s i n n l i c h e Daseyn und Wesen der Dinge in unserer geistigen Anschauung gegenwärtig, wogegen im Begriff der Zeit zugleich auch dessen s i n n l i c h - w a h r nehmbare Erscheinung. Und so sagt auch Baumann, mit Bezug auf die Anschauung von SUAREZ, dass es gewiss sey, es gebe eine „Zeit in den Dingen" als „eine wirklich stetig aufeinander folgende (successive) Dauer", weil „alles wirklich bestehende (real existirende) und in seinem Bestand (seiner Existenz) verbleibende Seyn eine wirkliche, ihm gleichmassige (proportionirte) Dauer habe. Wie also das Seyn eines in sich stetig verlaufenden (successiven) Dinges n i c h t so dauert, dass es g a n z d a s N e h m l i c h e verbleibt im ganzen Verlauf seiner Dauer, sondern so, dass ein Theil (oder vielmehr ein Wesenszustand und eine Erscheinungsweise nach der anderen) hinzukommt: so hat die Dauer eines solchen Seyns n i c h t ein f e s t e s Verbleiben, sondern ein f l i e s s e n d e s , wenn es den Namen des Verbleibens verdient; im weiteren Sinn aber verbleibt es oder dauert, so lange sein F l i e s s e n nicht a u f -

836

Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

h ö r t oder g e e n d e t ist. Aus dieser Grundanschauung (Princip) folgt, dass eine derartige D a u e r nur seyn kann in einer s t e t i g - a u f e i n a n d e r f o l g e n d e n (successiven und continuirlichen) B e w e g u n g ; wie ja auch ARISTOTELES sagt, die Z e i t habe ihre Ausdehnung von der Bewegung. Der Grund hiervon ist, weil nichts an sich in stetiger Aufeinanderfolge ist, ausser sofern es im W e r d e n ist, durch welches es n i c h t auf einm a l sondern a l l m ä h l i c h sein Seyn erwirbt (oder nach seinem vollen Wesensgrundbegriff nur allmählich zur natürlichen Auswirkung und Darstellung zu bringen im Stande ist). Und weiterhin: Man muss sagen, die Z e i t ist von der B e w e g u n g n i c h t s a c h l i c h unterschieden, sondern nur nach dem Verstand mit einer begrifflichen Grundlage (einem Fundament) in der Sache. Wenn daher mit dem Namen „Zeit" bezeichnet werden soll n u r die D a u e r der B e w e g u n g m i t H i n w e g l a s s u n g der Weise (in welcher die Bewegung vor sich geht), so ist klar, dass in der Sache Zeit von Bewegung ebensowenig unterschieden ist, als in anderen Dingen die Dauer von dem Bestand im Daseyn (der Existenz) unterschieden ist" (BAUMANN a. a. 0 . I. S. 39—43). „Die Z e i t " — sagt D e s c a r t e s — „welche wir von der D a u e r unterscheiden, ist nichts Anderes, als eine gewisse Art und Weise (façon), in welcher wir über diese Dauer denken; denn wir begreifen n i c h t , dass die Dauer der Dinge, welche bewegt sind, eine a n d e r e sey, als diejenige der Dinge, welche n i c h t bewegt sind" (DESCARTES, Oeuvres. I. S. 299. 300). — Hobbes betrachtet die Z e i t als ein Bild der Bewegung eines b e w e g t e n K ö r p e r s . Doch fügt er nach BAUMANN hinzu: „Wenn wir sagen, die Zeit sey ein Bild der Bewegung, so würde das zur Bestimmung (Definition) nicht genügen; denn mit dem Wort aZeit» bezeichnen wir ein Früher oder Später oder ein Nacheinander in Bezug auf den bewegten Körper (oder eine Succession des bewegten Körpers), sofern er erst h i e r , dann d o r t sich befindet (existirt). Die ganze Bestimmung (Definition) der Zeit also ist folgende:

Kaum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

337

die Zeit ist das Bild der Bewegung, sofern wir in der Bewegung ein Früher oder Später oder eine Aufeinanderfolge (Succession) vorstellen" (BAUMANN a. a. 0 . I. S. 273. 277. 319). „Alles u n u n t e r b r o c h e n S t e t i g e " — sagt Leibnitz — „ist von zweierlei A r t : das eine ist a u f e i n a n d e r f o l g e n d (successiv) wie Z e i t und B e w e g u n g ; das andere g l e i c h z e i t i g (simultan) wie R a u m und K ö r p e r . Und gleichwie wir in der Z e i t nichts anderes vorstellen, als eben die Ordnung (Disposition) oder die Reihe der Veränderungen, welche sich in ihr ereignen können, so erkennen wir im R a u m nichts anderes als die mögliche Ordnung von Körpern. Wenn man daher vom R a u m sagt, er d e h n e sich a u s (extendit), so verstehen wir das nicht anders, als wenn man von der Z e i t sagt, sie d a u r e . In der Wirklichkeit nehmlich thut die Zeit zur Dauer n i c h t s h i n z u , wie der Raum nichts zur Ausdehnung." — „Jetzt fragt es sich, was jene Natur sey, deren Ausdehnung (Diffusion) den Körper begründet (constituirt). Da nach unserer Meinung etwas Anderes im Körper ist als bloss stoffliches Wesen (als Materie), so fragt es sich, worin dessen Natur bestehe. Wir sagen also, dass sie in nichts Anderem bestehen .kann als in innerlich-wirksamer lebendiger Kraft (in dem Dynamischen) oder einer eingepflanzten Grundursache (Princip) der V e r ä n d e r l i c h k e i t und der B e h a r r l i c h k e i t (oder mit anderen Worten: in einer gemeinsamen innerlichen Grundursache für alles, was von der einen Seite dem Begriff der Zeit und von der anderen dem der Dauer zukommt)" (BAUMANN a. a. 0 . II. S. 155. 156). K a n t spricht sich über diese Verhältnisse wie folgt aus: „Nur in dem B e h a r r l i c h e n sind Z e i t v e r h ä l t n i s s e möglich, d. i. das Beharrliche ist die Unterlage (das Substratum) der Erfahrungsvorstellung (der empirischen Vorstellung) der Z e i t selbst, an welcher die Zeitbestimmung allein möglich ist. Die Beharrlichkeit drückt überhaupt die Zeit als das b e s t ä n d i g e W e c h s e l v e r h ä l t n i s s (Correlatum) alles Daseyns der Erscheinungen, alles Wechsels Wandersmann. II.

22

338

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

und aller Begleitung aus. Denn der Wechsel trifft die Z e i t selbst n i c h t , sondern nur die E r s c h e i n u n g e n in der Zeit. Durch das Beharrliche allein bekommt das Daseyn in verschiedenen Theilen in der Zeitreihe nacheinander eine G r ö s s e , die man D a u e r nennt. O h n e dieses B e h a r r l i c h e ist a l s o kein Z e i t v e r h ä l t n i s s . Nun kann die Zeit an sich selbst nicht wahrgenommen werden; mithin ist dieses Beharrliche an den Erscheinungen die Unterlage (Substratum) aller Zeitbestimmung. An diesem Beharrlichen kann alles Daseyn und aller Wechsel in der Zeit nur als eine Art und Weise (ein Modus) des Daseyns (der Existenz) dessen angesehen werden, was b l e i b t und b e h a r r t . Also ist in allen Erscheinungen das Beharrliche der Gegenstand selbst, d. i. dessen eigentliches inneres Wesen (der Substanz). Alles aber, was wechselt oder wechseln kann, gehört nur zu der A r t , w i e diese Wesenheit oder diese Wesenheiten bestehen (existiren), mithin zu ihren Bestimmungen." Und an einer anderen Stelle sagt er: „Die Veränderungen sind an die Zeit gebunden und lassen sich ohne sie nicht denken" (KAUT II. S. 191. 192; X. S. 487). „Aus der Kraft" — sagt Herbart — „entsteht Handlung (oder Wirksamkeit) und zwar dauernd und stetig. Dabei verändert sich unaufhörlich der Zustand des Dinges, welches diese Kraft besitzt." „Wo k e i n W e c h s e l ist, da ist k e i n e Z e i t " (HEEBABT III. S. 83; IV. S. 262). N o v a l i s bestimmt die Z e i t als „inneren R a u m " ; den R a u m aber als „äussere Z e i t " . „Jeder Körper" — fügt er hinzu — „hat daher seine Zeit und jede Zeit hat i h r e n Körper" (NOVALIS III. S. 294). Suabedissen spricht über eben diese Frage sich sehr eingehend folgendermassen aus: „Da es k e i n e n Raum an sich und k e i n e Z e i t an sich gibt: so haben ihre Gedanken (oder Begriffe) in diesem Sinn keine Wirklichkeit und Wahrheit. Sie haben aber Wahrheit (Realität) von der Naturwirklichkeit aus, als in der Seyns- (oder vielmehr Da. seyns-)entwickelung selbst gegründet. Die Z e i t als die Er-

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 339

acheinungsweise (Form) des Wirkens, welche in der Natur als Werden nicht

erscheint, ist m i t

nachher;

ihm,

d. h. n i c h t v o r h e r

weise (Form) des durch das Wirken H e r v o r g e b r a c h t e n , Gewordenen, ihm

des ä u s s e r l i c h

vorher,

nicht

und

der Raum dagegen, als die Erscheinungs-

nicht

Wirklichen,

nachher,

(d. h. mit anderen Worten

ist m i t

(aber auch) n i c h t

des ihm,

neben

es gibt keinen Raum denn

einzig und allein nur durch die wirklichen Dinge).

Beide, Zeit

und Raum, sind also Erscheinungsweisen (Formen) der Naturwirklichkeit.

Die N a t u r

ist m i t

ihnen (und in ihnen).

gibt also keinen leeren Raum und keine leere Zeit. — Werden an sich, als blosses F o r t g e h e n

Es Das

vorgestellt, ist die

Zeit.

Sie ist die Art und Weise (Form), in welcher es er-

folgt.

Die S e y n s e n t w i c k e l u n g

dagegen, wiefern sie sich in

dieser Weise (Form) darstellt, ist blosse F o l g e als Entwickelung am Nacheinander. males) Merkmal Bewegung.

ist

Ihr eigenthümliches äusserliches (for-

das

Nichtbleiben,

Das A u s s e r l i c h s e y n

die

blosse,

reine

des Gewordenen dagegen,

nur als solches und abgesehen von der Innerlichkeit, ist der Raum.

Er ist also die Erscheinungsweise (Form) des Stoff-

lich-Körperlichen (des Materiellen) als die Weise, in welcher es ist.

Der Raum an sich ist reine blosse Ausdehnung oder

Ausbreitung.

Das eigenthümliche äussere (formale) Merkmal

des Raumes ist das N u r - S e y n , d. i. die blosse reine R u h e . Da das Wirken der Natur ein f o r t g e h e n d e s ist:

so ergibt

sich damit die S t e t i g k e i t des R a u m e s und der Z e i t , und zwar a) der Z e i t .

Es ist ihr innerlich, ein Stetiges zu seyn,

denn sie ist wesentlich nur das s t e t i g e F o r t g e h e n .

Daher

ihre Yersinnlichung in der Vorstellung als einer Linie (jeder ihrer beliebig

gedachten Theile

Und b) des Raumes. Stofflich - Körperliche

(Materielle)

s t e t i g e n W i r k e n s zu denken. mit

ihm

seine

verfliesst in

den

folgenden).

Von dem Inneren aus begriffen ist das

äussere

als

das

Erzeugniss

eines

Als solches hat es selbst und

Erscheinungsweise,

der

Raum,

22*

die

34Q

Baum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

S t e t i g k e i t , d. i. die Eigenschaft, ein U n u n t e r b r o c h e n e s , N i c h t - A b g e s e t z t e s zu seyn. Jeder Fortschritt des Werdens stellt sich, äusserlich betrachtet, als V e r ä n d e r u n g dar. In jeder Veränderung ist also zu unterscheiden das, w o r a n eine Veränderung vor sich geht, sowie eine Verschiedenheit einander folgender Daseynszustände desselben: jenes als das Eiije, das B l e i b e n d e , diese als das M a n n i g f a l t i g e , das W e c h s e l n d e " (SUABEDISSEN, Metaph. S. 27—31). Fast könnte es auf den ersten Anblick scheinen, als ob in dieser Gesammtdarstellung der Begriff der D a u e r neben dem des Raumes und der Zeit völlig übersehen wäre. Dem ist aber nicht so; denn ist er auch nicht ausdrücklich mit Namen genannt, so liegt er dennoch vollkommen vor in eben dem Begriff des „ E i n e n und B l e i b e n d e n " , in welchem die gesammte Betrachtung ihren Abschluss findet als das, dem Baum- wie dem Zeitbegriff gemeinschaftlich zu Grunde Liegende und darum beide einheitlich in und durch sich Vermittelnde. — J. G. F i c h t e sagt: „Es ist kein Wissen und Leben, das nicht nothwendig eine Zeit d a u e r e , sich für sich selbst in eine Z e i t setze. Das Wissen trägt selbst seiner Ausgestaltung (Form) nach die Zeit in sich und bringt sie mit: ein z e i t l o s e s Wissen, etwa ein unbedingt einfacher Punkt in der Zeit, ist unmöglich. Aber die Zeit ist durchaus nur eine gebundene Folge des Stofflich-Körperlichen (Materiellen) in dem Raum. Es wird daher keine Zeit b e g r i f f e n , und da sie nothwendig begriffen wird, wenn Leben und Wissen seyn soll: so ist kein Leben und Wissen, es werde denn auch Stoff (Materie) und Raum begriffen. Die Stofflichkeit (Materie) kann ebensowohl genannt werden eine V e r w a n d l u n g des R a u m e s in Z e i t , und so sind in diesem Mittelpunkt auch Zeit und Raum als untrennbar vereinigt, eingesehen" (J. G. F I C H T E II. S. 1 0 3 ) . Ahnlich K r a u s e . Nachdem er darauf hingewiesen, wie ein jeder, der in sich hineinblickt, ein stetes gesetzmässiges A n d e r n in sich gewahr werde, fügt er hinzu: „Ich sage nuf, dass diese Art

Raum und Zeit in Bezug auf die G-esammtheit alles Naturdaseytis.

341

und Weise (Form) der Änderung die Z e i t ist. Ich behaupte, die Zeit ist die Erscheinungsweise (Form) des stetigen Zusammenseins aller meiner inneren sich (wechselseitig) äusschliessenden und doch zu meiner Wesenheit gehörenden Z u s t ä n d e . Sie ist die Art und Weise, wie diese ändernden Zustände ein Ganzes, eine Reihe sind. Sowie ich denke, dass irgend etwas sich ändert, so finde ich, dass es in die Zeit fällt: ich finde es zeitlich. Die Zeit ist somit n i c h t ein selbständiges Wesen, nicht für sich selbst, sondern nur an s e l b s t ä n d i g e n W e s e n , die sich ändern. Wer die Anschauung des stetigen, gesetzmässigen, selbständigen Anderns nicht (aus eigener Selbsterfahrung) in sich hätte: dem könnte sie nicht mitgetheilt werden, so wenig als derjenige, der sich nicht (selbst) änderte, nach der eigenthümlichen Wesenheit anschaulich erkennen würde, was Andern ist. Sofern ich mich weiss als I c h , als ganzes selbes Ich, weiss ich mich g a r n i c h t z e i t lich (sondern nur allein als dauernd), da ich mich insofern gar nicht ändere. Daraus folgt: die Zeit ist in mir, nicht an (oder ausser) mir. Ich bin als ganzes Wesen n i c h t in der Zeit: ich habe die Zeit in mir, n i c h t mich hat die Zeit in sich. Vielmehr Ich, als selbes ganzes Ich, finde mich o h n e a l l e Zeit. Ich finde mich nur zeitlich, insofern ich mir zuschreibe bestimmte, endliche, vorübergehende, wechselnde Zustände. Die Zeit ist n i r g e n d s l e e r , d. h. sie ist n i c h t ohne das W e s e n , woran sie als die Art und Weise s e i n e s Y e r ä n d e r n s ist. Denn so wir uns bemühen, die Zeit anzuschauen, finden wir, dass wir auf andere Weise die Anschauung der Zeit gar nicht haben, ausser nur so, dass wir ein sich Ä n d e r n d e s und daran die Z e i t als die A r t und Weise (Form) der Ä n d e r u n g schauen. Sehen wir von dem, was in der Zeit sich ä n d e r t , auf dasjenige, was da b l e i b t , sich n i c h t ä n d e r t , so schreiben wir diesem sich n i c h t ändernden Wesentlichen Z e i t d a u e r zu, d. i. Bestehen in der Zeit. Eine Zeitdauer ist eine bestimmte Zeit, bezogen auf

342

Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

den Inhalt, sofern dieser Inhalt sich ändert" (KKAUSE, Vöries. S. 102. 103. 104. 106. 111. 177). Jacobi sagt: „Raum und Zeit sind Thatsachen, weil Bewegung eine Thatsache ist. Ein Mensch, der sich nie bewegt hätte, könnte sich keinen Raum vorstellen, und wer sich nie v e r ä n d e r t hat, kennt k e i n e n Begriff der Zeit" (JACOBI III. S. 172; HEGEL I. S. 73 [JACOBI]). Schölling spricht sich in folgender Weise aus: „Das in sich bestehende innere Wesen der Dinge (die Substanz) ist als solches nur dadurch anzuschauen, dass es angeschaut wird als b e h a r r e n d in der Zeit (oder vielmehr in seinem Daseyn). Aber es kann nicht angeschaut werden als beharrend in der Zeit, ohne dass die Zeit, welche bisher (als blosse Wesensdauer) nur die bestimmte (absolute) Gränze bezeichnet, verf l i e s se, d. h. nach einer Richtung (Dimension) sich ausdehne, welches eben nur durch die Aufeinanderfolge (Succession) von Ursache und Wirkung (des Causalzusammenhanges) geschieht. Aber hinwiederum, dass irgend eine Aufeinanderfolge (Succession) in der Zeit stattfindet, dies ist n u r anzuschauen im G e g e n s a t z gegen etwas in ihr, oder — weil die im Yerfliessen a n g e h a l t e n e Zeit = R a u m ist — gegen ein im Beharrendes, welches eben das in sich bestehende innere Wesen der Dinge (die Substanz) ist." Und an einem anderen Ort: „Der Raum abgesehen von den Dingen (als Abstractum) ist das reine N i c h t s der R u h e selbst; er ist dasjenige, in welchem (als Weltraum gedacht) sich alles bewegt, das aber selber nicht bewegt wird; er ist die Ruhe, abgesehen (in der Abstraction) von dem Ruhenden. Auf die gleiche Weise ist die Zeit, abgesehen (als Abstraction) von den besonderen Dingen, blosse Bewegung ohne Bewegendes. Die wirkliche Ruhe und wirkliche Bewegung ist aber nur durch Ineinsbildung (oder die unmittelbare Einheit und Zusammengehörigkeit) von Raum und Zeit gesetzt." Da demnach Raum und Zeit gemeinschaftlich und einheitlich in dem Einen Wesensgrundbegriff der Dinge ihren Ursprung nehmen, so sagt auch.

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

343

Schölling, dass die Dinge „nur insofern auf z e i t l i c h e Weise bestehen (existiren)", als auch „ihr Begriff auf gleiche Weise bestehe; denn" — so fügt er hinzu — „das D i n g s e l b s t und der B e g r i f f des D i n g e s sind ein und dasselbe" (SCHELLING III. S. 520; IV. S. 242). Und ganz das Gleiche muss also auch seine Geltung haben sowohl in Bezug auf die r ä u m l i c h e Weise ihres Bestehens wie in Bezug auf ihre D a u e r , da alle drei Begriffe von Raum, Dauer und Zeit als unmittelbar und untrennbar zu dem Begriff des Wesens selbst gehören und daher auch in jenem innersten Wesensbegriff selber gemeinschaftlich von Uranfang mit enthalten und einheitlich vorausbestimmt liegen müssen. „ D a u e r n die Dinge auch" — sagt Hegel — „so v e r g e h t die Z e i t doch und r u h t n i c h t . Hier erscheint die Zeit als unabhängig und unterschieden von den Dingen. Sagen wir aber, die Z e i t v e r g e h t doch, wenn auch die Dinge dauern, so heisst das nur: wenn auch einige Dinge d a u e r n (oder an sich ruhend erscheinen), so erscheint Veränderung an a n d e r e n Dingen, z. B. im Laufe der Sonne, und so sind die Dinge doch in der Zeit. Die Zeit ist nicht gleichsam ein Behälter, worin Alles wie in einen Strom gestellt ist, der fliesst und von dem es fortgerissen und hinuntergerissen wird. Weil die Dinge endlich sind, darum sind sie in der Z e i t : nicht weil sie in der Zeit sind, darum gehen sie unter, sondern die D i n g e s e l b s t sind das Z e i t l i c h e . Der Entwicklungsgang (Process) der wirklichen Dinge macht also die Zeit" ( H E G E L VII l S. 54. 55). Schopenhauer sagt: „Das Seyn des Stofflichen (der Materie) ist sein W i r k e n . Höchst treffend ist daher im Deutschen der Inbegriff alles Wirklichen « W i r k l i c h k e i t » genannt, welches viel bezeichnender ist als Realität. Das, worauf sie wirkt, ist allemal wieder Stofflichkeit; ihr ganzes Seyn und Wesen ist also g e s e t z m ä s s i g e V e r ä n d e r u n g , die ein Theil derselben in einem anderen hervorbringt. Nun aber erhält das Gesetz des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung

344

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

(das Causalgesetz) seine Bedeutung und Notwendigkeit allein dadurch, dass das Wesen der Veränderung nicht im blossen Wechsel der Z u s t ä n d e an sich, sondern vielmehr darin besteht, dass an demselben Ort im Raum jetzt ein Zustand ist und darauf ein a n d e r e r , und zu einer und derselben Zeit hier dieser Zustand und dort jener: nur diese gegenseitige B e s c h r ä n k u n g der Zeit und des Raumes durch einander gibt einer Regel, nach der die Veränderung vorgehen muss, Bedeutung und zugleich Nothwendigkeit. Was also nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung (der Causalität) bestimmt wird, ist nicht die Aufeinanderfolge der Zustände in der blossen Zeit, sondern die Aufeinanderfolge auch in Hinsicht auf einen bestimmten Raum; und nicht das Daseyn der Zustände an einem bestimmten Ort, sondern an diesem Ort zu einer bestimmten Zeit. Demnach vereinigen Ursache und Wirkung (Causalität) den Raum mit der Z e i t " (SOHOPENHAUEB, Welt a. Wille u. Vorst. I. S. 9. 10). „Die D a u e r " — sagt S e n g l e r — „in welcher die raumerfüllende (die raumbegründende und raumerhaltende) Bewegung (oder Kraftwirksamkeit) vor sich geht, ist die Zeit. Der Raum (und damit auch die Dauer desselben) bezieht sich auf die Ruhe, die Zeit auf die Bewegung des Seyns; oder: der Raum ist die äussere (und darum körperliche) Begränzung des Seyns (oder vielmehr Daseyns), die Zeit die an sich innere Begränzung des Werdens" (SENGLEE, Idee Gottes. II11S. 3 9 3 — 3 9 5 ) . Ähnlich S t e n t r u p : „In den natürlichen Dingen" — sagt er — „tritt uns ein zweifaches Seyn (oder Daseyn) entgegen, ein b e h a r r l i c h e s und ein fliessendes (oder fortwährend sich änderndes). Dieses ist immerwährender Gegenstand der Erfahrung, der äusseren sowohl als der inneren; jenes verbürgt uns nicht nur die Erfahrung, sondern auch das Denken der Vernunft, welches ein beharrliches Seyn als nothwendige Vorbedingung, als Grund und Träger des fliessenden Seyns fordert. Es kann also keinem Zweifel

Kaum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 345

unterliegen, dass das fliessende Seyn (oder Daseyn), und folglich, weil die D a u e r dem Seyn e n t s p r e c h e n muss, dass die f l i e s s e n d e D a u e r ein beharrliches Seyn (oder Daseyn) voraussetzt, welches Grund und Träger fortschreitender und ununterbrochen auf einander folgender (successiver) V e r ä n d e r u n g e n seyn könne. Nun ist aber diese f l i e s s e n d e D a u e r gerade dasjenige, was wir mit dem Namen der Zeit (in der engeren und eigentlichen Bedeutung des Wortes) belegen. Also ist es offenbar, dass w i r k l i c h e Z e i t unmöglich ist, wenn nicht Dinge vorhanden sind (existiren), die der Veränderung unterworfen sind, und wir müssen vollständig denen beistimmen, welche die W e l t w i r k l i c h k e i t als n o t h w e n d i g e V o r a u s s e t z u n g der Z e i t betrachten" (STENTBUP, Zeitl. Weltschöpfung. S. 23. 24). Und Baumann sagt: „Dass es eine wirkliche, aufeinanderfolgende (successive) D a u e r , d. h. eine fortlaufende (continuirliche) Z e i t gibt, wird allgemein zugestanden. In dieser Dauer ist v e r w e i l e n d das F l i e s s e n : dieses aber findet sich nur in aufeinanderfolgender und fortdauernder (successiver und continuirlicher) Bewegung. Die Bewegung (und also auch die Veränderung) ist also das W i r k l i c h e (Reale) der Zeit; denn alle Dauer setzt ein Seyn voraus, d e s s e n D a u e r sie ist." Und an einem andern Ort: „Die blosse Vorstellung des Nacheinander ist noch n i c h t die Zeit, sondern es wird noch etwas mehr erfordert, nehmlich die Mitempfindung einer D a u e r , nehmlich eines im Wechsel bleibenden Ichs. D a u e r n heisst, dass das Etwas, oder Etwas an Etwas, sich n i c h t v e r ä n d e r t , während andere Dinge sich so v e r ä n d e r n , dass auf ihre Veränderungen der Zeitbegriff Anwendung findet. Somit wird Dauer ganz passend von u n v e r ä n d e r l i c h e n Dingen gesagt (d. h. von Dingen, sofern sie sich nicht verändern). — Was die Bewegung betrifft, aus der man auch die Zeit abgeleitet hat, so ist B e w e g u n g an sich noch k e i n e Z e i t , da das Nacheinander an sich noch keineswegs zur Zeitvorstellung ausreicht. Die reine Vorstellung der Bewegung als

346

Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

des Durchlaufens einer Linie im Geiste ist überdies die Vorstellung eines Nacheinander, (aber) noch nicht des N a c h e i n a n d e r von V o r s t e l l u n g e n , als in welchem die Zeit erst im Bewusstseyn auftritt." An einem Orte bezeichnet BAUMANN „die Dauer" als gleichbedeutend mit dem „Daseyn als G r ö s s e betrachtet". Was eben diesen letzteren Ausspruch anbetrifft, so lässt sich derselbe auch so ausdrücken: Wie die r ä u m liche G r ö s s e uns das Maass gibt für die r ä u m l i c h - k ö r p e r liche A u s d e h n u n g der Dinge und umgekehrt: so gibt uns auch die der räumlichen Grösse oder Ausdehnung entsprechende z e i t l i c h e D a u e r das Maass für die G r ö s s e des z e i t l i c h e n B e s t a n d e s der Dinge im Daseyn. Denn beide, Raum und Zeit, tragen die Dinge in sich (BAUMANN a. a. 0 . I. S. 46; II. S. 525. 139. 668; Philosophie. S. 326; vergl. auch S. 316 bis 319), und zwar nicht nur einheitlich-untrennbar, sondern aus dem gleichen Grund auch allewege in vollkommen gleichberechtigter, weil vollkommen gleich- und ebenmassiger Weise, weil gemeinschaftlich sowohl aus Ein- und demselben innersten Wesens- und Daseynsgrund und in Folge dessen auch aus Ein- und derselben Grundkraft und deren ebenfalls vollkommen einheitlicher und darum gleichmässiger Kraftwirksamkeit hervorgegangen.

N o . 122.

Zeit, Baum und Bewegung in ihren wechselseitigen Bestimmungsverhältnissen.

„Kein Ding" — sagt Suarez — „kann das M a a s s s e i n e r s e l b s t seyn" (BAUMANN, Raum u. Zeit. S . 4 8 [ S U A R E Z ] ) . Das heisst: nichts in der Welt kann in irgendwelcher Beziehung sich selber als Maass dienen zur Bestimmung irgendwelches ihm selber zukommenden Verhältnisses. Oder mit anderen Worten: Es kann nichts, weder d u r c h sich s e l b s t noch durch irgend ein anderes, in aller und jeder Beziehung ihm völlig G l e i c h e s bestimmt und gemessen werden, weder

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hinsichtlich des besonderen G r a d e s und M a a s s e s seiner räumlichen Grösse und Ausdehnung, noch hinsichtlich seiner z e i t l i c h e n Beharrung im Daseyn. Zu solchem Zweck sind unter allen Umständen zwei Bedingungen erforderlich, ohne deren gemeinschaftliches Zusammentreffen alle und jede M a a s s b e s t i m m u n g von vornherein eine Unmöglichkeit ist. Die E r s t e dieser Bedingungen ist, dass der in Bezug auf irgend ein besonderes Verhältniss zu prüfende, zu messende und zu bestimmende Gegenstand gerade in dieser nehmlichen Beziehung v e r s c h i e d e n sey von dem Gegenstand, durch welchen er g e p r ü f t , g e m e s s e n und b e s t i m m t werden soll, oder mit anderen Worten: beide müssen in eben dieser Beziehung in einem gewissen deutlichen G e g e n s a t z zu einander sich befinden. So lässt die V i e l h e i t sich nur bestimmen durch die E i n h e i t und umgekehrt. Denn nur dadurch, dass sich die g l e i c h e E i n h e i t n u r der A n z a h l n a c h , sonst aber genau in derselben Weise, wie jene vielfach w i e d e r h o l t darstellt, ist es möglich, zu zählen und durch fortgesetzte Zählung die vorhandene Menge oder, was dasselbe ist, die wirkliche Anzahl jener Einheiten, aus welcher die gesammte Menge besteht, festzustellen und zu bestimmen. Ohne Z ä h l e n ist erfahrungsgemäss überhaupt gar keine Maassbestimmung möglich, auch nicht auf dem Wege des W i e g e n s . Denn wie wir nichts auf sein Längenmaass prüfen und bestimmen können, ohne dass wir genau z ä h l e n , wie oftmal ein und dasselbe Längenmaass, das uns als Muster oder Maassstab zum Messen dient, in der zu messenden Länge enthalten ist: ebenso können wir auch keinen Gegenstand auf seine körperliche S c h w e r e oder sein G e w i c h t prüfen und bestimmen, ohne dass wir gleichfalls z ä h l e n , wie oft oder wievielmal das einheitliche Gewichtsstück, welches wir unserer Wägung zu Grunde legen, in dem zu wiegenden Gegenstand oder in der zu wiegenden Gesammtmasse von Gegenständen enthalten ist. Ganz in diesem Sinn sagt daher S c h ö l l i n g : „Die Art und Weise (der

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

Akt), durch welche das unveränderliche E i n s des B e g r i f f e s in einer Reihe von Dingen w i e d e r h o l t wird, heisst Z ä h l e n . Bedingung des Zählens ist der Begriff" (SCHELLING VI. S. 5 2 0 ) . Die Zweite eben jener beiden zu einer jeden Vergleichung, Prüfung und Maassbestimmung erforderlichen Grundbestimmungen ist sodann diese, dass eben jene beiden vorerwähnten G e g e n s ä t z e nicht in dem Verhältniss eines wechselseitig sich aufhebenden W i d e r s p r u c h e s zu einander stehen, sondern im Gegentheil in einer gewissen nicht zu verkennenden gegenseitigen innerlichen B e g r i f f s v e r w a n d t s c h a f t sich befinden, ohne welche überhaupt eine thatsächliche Vergleichung wechselseitiger MaassVerhältnisse und damit auch jede wechselseitige Maassbestimmung von vornherein u n m ö g l i c h seyn würde. So lässt bekanntlich der Preis einer Ohm Wein sich nicht bestimmen durch den Preis eines Malters Waizen oder eines Pfundes Kirschen und umgekehrt, weil zwischen den besonderen Maassverhältnissen, nach welchen der Preis des Weines, des Waizens oder der Kirschen pflegt bestimmt zu werden, keine innere Begriffsverwandtschaft obwaltet. Denn „das M a a s s " — sagt S u a r e z mit Recht — „muss dem G e m e s s e n e n (und also auch dem zu Messenden) gleichartig seyn" (BAUMANN. Raum u. Zeit. S . 48 [SUABEZ]). Wenden wir nunmehr diese Thatsachen der Vernunft wie der Erfahrung auf die allgemeinen Verhältnisse an, mit denen wir uns gegenwärtig beschäftigen, so ergibt sich daraus, dass keine Ruhe in Bezug auf das b e s o n d e r e M a a s s i h r e r D a u e r kann geprüft, gemessen oder bestimmt werden d u r c h sich s e l b s t , sondern allein nur durch die vermittelnde Vergleichung mit irgend einer a n d e r e n Dauer von i r g e n d e i n e r b e s t i m m t e n , sey es grösseren oder kleineren D a u e r - oder Z e i t g r ö s s e , welche wir zum Zweck der beabsichtigten Vergleichung als bestimmte Z e i t - oder D a u e r e i n h e i t zum einh e i t l i c h e n G r u n d m a a s s für unsere prüfende Vergleichung gemacht und angenommen haben. Daher erkennen wir auch

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nicht — wie dies ebenfalls SUAKEZ hervorhebt — wie lange eine Handlung „dauert, durch ihre eigene innere Dauer, sondern nur dadurch, dass wir sie v e r g l e i c h e n mit e i n e r a n d e r e n davon v e r s c h i e d e n e n D a u e r , deren Grösse uns b e k a n n t ist". Eine jede r u h i g in sich v e r f l i e s s e n d e D a u e r aber und damit eine jede R u h e überhaupt, mögen wir sie uns nun als gesammte Wesens- oder blosse Zustandsdauer in das Auge fassen, lässt sich aber nach dem oben Gesagten einzig und allein nur messen durch ihren G e g e n s a t z , nehmlich die N i c h t - R u h e , d. i. die V e r ä n d e r u n g oder die Bewegung. Veränderung und Bewegung bilden aber, wie wir bereits im Vorigen gesehen, die begriffliche wie natürliche Grundlage für den eigentlichen Z e i t b e g r i f f in der engeren Bedeutung des Wortes: sie bilden so recht eigentlich das, worin der Zeitbegriff von dem Raum- und dem ursprünglichen Dauerbegriff sich unterscheidet. Denn während die innere Wesensr u h e , welche dem Raumbegriff eigen ist, sowie das ebenfalls rein innerliche ruhige in sich Verfliessen des eigentlichen Dauerbegriffes, rein geistige Anschauungen bilden, die aller sinnlichen Wahrnehmung sich entziehen: ist es allein der Z e i t b e g r i f f , welcher eben durch die unmittelbar mit ihm verbundenen Begriffe der inneren wie äusseren V e r ä n d e r l i c h k e i t und Bewegungsfähigkeit auch für die sinnlich-äusserliche Erfahrung und Beobachtung, aber eben damit zugleich auch für eine wirkliche und thatsächliche M a a s s b e s t i m m u n g sich natürlich befähigt erweist. Und eben hieraus ergibt sich denn auch noch des Weiteren, dass für eben diesen an sich rein äusserlichen Stand- und Gesichtspunkt nur allein der Z e i t b e g r i f f es ist, welcher die natürliche wie begriffliche Möglichkeit einer jeden wirklichen z e i t l i c h e n M a a s s b e s t i m m u n g in sich einschliesst, und zwar nicht bloss für die Dauer einer jeglichen äusserlich uns entgegentretenden B e w e g u n g oder V e r ä n d e r u n g , sondern eben damit auch zugleich für eine jede innere oder äussere R u h e als eine thatsäphliche N i c h t b e w e g u n g .

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So sagt bereits Aristoteles: „Nicht bloss messen wir die Bewegung d u r c h die Z e i t , sondern auch die Z e i t d u r c h die B e w e g u n g , weil beide sich gegenseitig abgränzen. Da aber die Z e i t d a s M a a s s der B e w e g u n g ist, so ist sie je nach Vorkommniss auch M a a s s d e r R u h e . Denn j e d e R u h e ist in der Zeit. Wenn etwas in einer Zeit ist, wird es durch eine Zeit (und zwar durch eben diese Zeit) gemessen; sie wird aber das B e w e g t w e r d e n d e und das R u h e n d e messen, inwieferne eben das eine b e w e g t wird und das andere r u h t . Sie wird nehmlich die Bewegung und die Ruhe derselben messen, wie gross sie ihrer eigentlichen Maassbestimmung nach (quantitativ) sey. Demnach ist alles, was weder b e w e g t wird noch r u h t , n i c h t in der Z e i t ; denn das «in einer Zeit Seyn» ist das, dass Etwas durch eine Zeit g e m e s s e n wird: die Zeit aber ist das M a a s s von Bew e g u n g und Ruhe. Wie also die Zeit n i c h t ohne Bewegung und Veränderung ist: so ist augenfällig, dass sie (an sich) weder B e w e g u n g ist, noch ohne Bewegung" (ARISTOTELES, Phys. S. 148. 213. 215. 217. 219. 225). Zu eben diesen Darlegungen von Seiten des ABISTOTELES macht T i e d e m a n n die weitere Bemerkung: „Wo wir nichts von einer Veränderung wahrnehmen: da wissen wir auch nichts von einer Zeit. In der Veränderung ist nehmlich etwas V o r h e r g e h e n d e s und etwas N a c h f o l g e n d e s , und so auch in der Zeit. Sobald wir dies Vorher und Nachher unterscheiden, bemerken wir die Zeit" (TIEDEMANN, Geist d. spek. Philos. II. S. 274. 275). In einer ähnlichen Weise wie ARISTOTELES die Zeit als Maass der Bewegung und gleichzeitig damit als Maass der Ruhe betrachtet, bezeichnet auch Leibnitz die Z e i t als „das Maass der D a u e r " , die D a u e r aber als die „ G r ö s s e der Z e i t " , ähnlich also, wie wir auch von der Grösse als von einer k ö r p e r l i c h e n A u s d e h n u n g sprechen (BAUMANN, Raum u. Zeit. II. S. 92. 93). Sehe Hing dagegen bezeichnet als das „ursprüngliche Maass der Z e i t " den „Raum, den ein gleich-

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förmig bewegter Körper in ihr durchzieht"; als „das ursprüngliche M a a s s des R a u m e s " aber „die Z e i t , welche ein gleichförmig bewegter Körper braucht, ihn zu durchlaufen". „Beide" — so fügt er hinzu — „zeigen sich also (auch hierin) unbedingt unzertrennlich." Und an einem anderen Ort sagt er: „Das M a a s s der Z e i t ist die B e w e g u n g " (SCHELLING III. S. 468; IV. S. 268). H e g e l drückt in diesen Beziehungen sich folgendermassen aus: „In dem Gesetze der Bewegung ist es nothwendig, dass die B e w e g u n g in R a u m und Z e i t sich t h e i l e ; " und in dem gleichen Sinn ist es auch aufzufassen, wenn er anderweitig „Raum und Zeit" als „ M o m e n t e der B e w e g u n g " d. i. als die wichtigsten Bestimmungsgrössen für eine richtige Maassbestimmung dieser Letzteren bezeichnet (HEGEL II. S. 1 1 7 ; X I Y . S. 337). „Indem das" — sagt C a r u s — „was wir Z e i t nennen, an sich nichts anderes ist, als ein stetes Messen des W e r d e n s an dem Begriff des Geword e n e n , folglich dieser Begriff selbst auf dem einer Bewegung, nehmlich der des M e s s e n s ruht, so zeigt sich, dass auch für immer der Begriff der Z e i t den der B e w e g u n g einschliesst, und keine Naturerscheinung in der Zeit sich somit anders als unter der Erscheinungsweise (Form) der B e w e g u n g (oder überhaupt der Veränderung) sich darstellen könne" (CAKUS, Natur u. Idee. S. 54). K ü t z i n g bezeichnet das Gesetz der Bewegung als „ B e z i e h u n g auf Z e i t u n d R a u m " . „Weil die Z e i t " — sagt er — „stetig fortlaufend (continuirlich) ist wie der R a u m , die verschwundene Zeit aber auf immer vorüber ist und nie wiederkehrt: so muss dies natürliche (physische) Leben, das an die Zeit gekettet ist, v e r ä n d e r l i c h sein, wie die Zeit. Daher können wohl ä h n l i c h e aber nie g l e i c h e Bewegungen im Raum wiederkehren, weil die Zeit alle natürliche (physische) Verhältnisse ändert." „Der Raum" — sagt S e n g l e r — „ist die Erscheinungsweise (Form) des Nebeneinanderseyns, die Zeit die Erscheinungsweise des Nacheinanderseyns. Die B e w e g u n g kann nur im R a u m vor sich

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Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

gehen, und dieser bezieht sich in derselben auf sich selbst; und ebenso bezieht sich in derselben die Z e i t auf den R a u m . Diese Wechselbeziehung des Raumes und der Zeit erzeugt die M a a s s b e s t i m m u n g des R a u m e s und der Z e i t " (SENGLEE, Idee Gottes. I I n - S. 395). Und in ähnlichem Sinn sagt auch W e d e w e r : „Die Anschauungsweise (-form) von Z e i t und R a u m entwickelt sich a u s und mit dem Begriff der Bewegung. In der Zeit wird die i n n e r e , in dem Raum die ä u s s e r e Bestimmung (das Moment) der B e w e g u n g angeschaut. Beide zusammen ^machen das Maass der Bewegung. Raum und Zeit sind daher nicht nur Wechselbegriffe, die sich nur fassen lassen, indem einer vom anderen unterschieden und damit durch den anderen bestimmt wird: sondern sie bestehen auch ursprünglich und an sich in einer Beziehung zu einander. Die Grössenverhältnisse der Zeit entsprechen den Grössenverhältnissen des Raumes" (WEDEWEB, Sprachwissensch. S. 111. 112). Wir haben weiter oben erwähnt, wie alle und jede M a a s s b e s t i m m u n g e n und also auch alles Messen sowohl von räumlichen wie von zeitlichen Verhältnissen und in Folge dessen also auch von allen Bewegungsverhältnissen, von welcher besonderen Art dieselben auch seyn mögen, im Grunde nur auf vergleichende Z a h l e n v e r h ä l t n i s s e , d. h. auf ein wirkliches in der Zeit aufeinanderfolgendes Z ä h l e n bestimmter Z a h l - oder G r ö s s e n e i n h e i t e n zurückzuführen sind, welche wir als Grundeinheiten annehmen, um an ihrer Hand und mit ihrer Hülfe eine jede beliebige Maassbestimmung, von welcher besonderen Natur und Art sie auch seyn möge, darnach vorzunehmen. Es bleibt sich dabei ganz gleich, ob es sich für R a u m b e s t i m m u n g e n um eine eigentliche R a u m g r ö s s e wie Elle, Fuss, Zoll und dergl., oder für Z e i t b e s t i m m u n g e n um eine einheitliche Z e i t g r ö s s e , wie J a h r , Monat, Tag, Stunde u. s. w., oder für B e w e g u n g s b e s t i m m u n g e n um eine, die einheitliche Raum- wie Zeitgrösse gemeinschaftlich in sich

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einschliessende B e w e g u n g s g r ö s s e , wie z. B. soviel Meilen in einer Stunde — handelt. Keine einzige dieser Maassbestimmungen vermögen wir nach den Erfahrungen, die wir schon im gewöhnlichen Leben machen, auszuführen, ohne zu wirklichen Z a h l v e r h ä l t n i s s e n und Z a h l v e r g l e i c h u n g e n in der Weise unsere Zuflucht zu nehmen, dass wir thatsächlich z ä h l e n , wie o f t jene unserer Zählung oder Messung zu Grunde gelegte Maasseinheit in der zu messenden R a u m - , Z e i t - oder B e w e g u n g s g r ö s s e in Wirklichkeit vorhanden ist. In diesem Sinn ist es daher auch zu verstehen, wenn A r i s t o teles die Zeit geradezu als gewissermassen fortschreitende Z a h l b e w e g u n g betrachtet. „Dies ist eben die Z e i t " — sagt er — : Z a h l einer B e w e g u n g nach dem Früher und Später. Nicht also Bewegung ist die Zeit, sondern nur in wiefern die Bewegung Z a h l h a t (d. h. also in wiefern sie z ä h l b a r ist). Das «in einer Zahl Seyn» ist aber nichts anderes, als dass es eben eine Z a h l eines D i n g e s gibt, und dass das Seyn desselben durch die Z a h l , in welcher es ist, g e m e s s e n wird. Folglich, wenn etwas in einer Z e i t ist, wird es durch eine Z e i t gemessen, und die Zeit wird das Bewegtwerdende wie das Ruhende messen." — Aus eben dieser Darlegung durch ABISTOTELES geht deutlich der Sinn hervor, in welchem er den Begriff der Z a h l überhaupt will verstanden haben, nehmlich als nichts anderes, als eben jenes einheitliche G-rundmaass, durch dessen mehr oder weniger oft sich wiederholende Vervielfältigung alle Raum-, Zeit- und Bewegungsverhältnisse, als ganz bestimmte Raum-, Zeit- oder Bewegungsgrössen von uns pflegen bestimmt und bemessen zu werden. Daher sagt auch Prantl mit Bezug auf obige Stelle: „Zeit und Bewegung m e s s e n sich g e g e n s e i t i g , und von der Z e i t gemessen werden oder in ihr a l s einer Z a h l seyn, heisst für die Dinge das «in einer Zeit seyn», und so gibt es für alles (Einzelne) eine noch u m f a s s e n d e r e Zeit, durch welche es abgegränzt wird" (ABISTOTELES, Phys. S. 207. 213. 215. 217. 148; Wandersmann. II.

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Himmelsgeb. S . 75). Eben diese umfassendere Zeit kann aber selbstverständlich keine andere Zeit seyn, als eben jene Weltzeit und Weltdauer, wie solche durch die gemeinsame Zahl aller Einzelzeiten, wie solche den Einzeldingen selber von jeher eigenthümlich zukommen, gebildet ist. — Hobbes sagt in Bezug auf den gleichen Gegenstand: „Die Zählung ist eine Handlung des Geistes, und es ist darum ebensoviel, zu sagen, die Zeit ist die Z a h l der Bewegung nach früher und später, oder: die Zeit ist das Bild der gez ä h l t e n Bewegung. Der Ausdruck aber «die Zeit ist das M a a s s der Bewegung»-ist nicht ganz richtig; denn wir messen die Z e i t d u r c h die B e w e g u n g , nicht aber die Bewegung durch die Zeit" (BAUMANN, Raum u. Zeit. I . S . 2 7 4 . 2 7 5 [HOBBES]). SO sagt auch Leibnitz: „Es ist wahr, ARISTOTELES sagt, die Zeit ist «die Z a h l » und nicht «das Maass» der Bewegung. Und wirklich kann man sagen, die Dauer wird erkannt an der Zahl der regelmässig wiederkehrenden (periodischen) gleichen Bewegungen, von denen die eine anfängt, wenn die andere endigt, z. B. durch so und soviel Bewegungen der Erde oder der Sterne" (LEIBNITZ, S. 4 4 2 ; BAUMANN, Raum u. Zeit. II. S. 9 0 ) . In dem gleichen Sinn ist es auch aufzufassen, wenn Berkeley sagt, dass „die Dauer eines endlichen Geistes geschätzt werden müsse nach der Z a h l der G e d a n k e n (Ideen) oder der in seinem Gemüthe aufeinanderfolgenden Thatsachen" (BAUMANN, Raum u. Zeit. II. S. 4 2 0 PHANTL,

[BEBKELEY]).

So bestimmen sich demnach alle Raum-, Zeit- und Bewegungsverhältnisse der Sache nach auf die gleiche Weise. Die r ä u m l i c h e G r ö s s e eines Körpers nach Höhe, Breite und Tiefe und damit also zugleich diejenige des ihm zukommenden Raumes messen wir durch die Yergleichung ihrer besonderen räumlichen L ä n g e mit derjenigen irgend eines anderen, als gemeinschaftliche M a a s s e i n h e i t angenommenen räumlichen L ä n g e n m a a s s e s ; die z e i t l i c h e D a u e r aber, erscheine sie

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nun als eine Dauer der Ruhe oder als eine Dauer der Bewegung, durch die Z e i t l ä n g e irgendwelcher Zeitgrösse, welche als einheitlicher M a a s s s t a b für Zeitbestimmungen festgesetzt ist. Wie aber vorhin der Begriff und die Erscheinung der B e w e g u n g als das natürliche Mittel zu wechselseitiger Maassbestimmung für alle Raum- und Zeitverhältnisse und damit auch für alle Raum- und Zeitbewegungen musste anerkannt werden: so finden wir nunmehr in dem Begriff der r ä u m l i c h z e i t l i c h e n L ä n g e in seiner gleichmässigen Anwendung sowohl auf den R a u m - wie Z e i t b e g r i f f das natürliche Mittel zu gegenseitigen Wechselbestimmungen aller wechselseitigen M a a s s v e r h ä l t n i s s e zwischen R a u m , Zeit und Bewegung. So bestimmen und messen wir z. B. durch die L ä n g e der Z e i t , welche bei gleichbleibender Bewegung erforderlich ist, um eine gegebene R a u m - oder W e g l ä n g e zurückzulegen, die räumliche E n t f e r n u n g eines Ortes von einem anderen, indem wir demgemäss sagen: „Dieser Ort liegt von jenem eine S t u n d e W e g s " entfernt. Und ganz ähnlich bezeichnet bekanntlich „ein Morgen Landes" einen Flächenraum von Ackerland, welcher während eines halben Tages kann bestellt werden. Umgekehrt dagegen messen und bestimmen wir in ganz ähnlicher Weise die L ä n g e des R a u m e s , welcher erforderlich ist, um durch die gleiche und ebenfalls sich gleichbleibende Bewegung einer gegebenen Z e i t - oder D a u e r l ä n g e auszufüllen, durch die z e i t l i c h e E n t f e r n u n g zweier bestimmter Orte, und sagen für einen solchen Fall z. B. „zwischen der Abreise von dem einen und der Ankunft an dem anderen Ort sind so oder soviel Tage oder Stunden verflossen", weil wir wissen, dass wir während dieser Zeit so oder soviel W e g s t u n d e n zurückgelegt haben. Und endlich dient nun aber auch, aus ganz den gleichen Gründen, bei vorhandenen V e r s c h i e d e n h e i t e n in den betreffenden Bewegungen aber bei sonst gleichen Raumgrössen die V e r s c h i e d e n h e i t der zu i h r e r D u r c h l a u f u n g e r f o r d e r l i c h e n Z e i t , oder aber bei 23*

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sonst g l e i c h e n Z e i t g r ö s s e n die V e r s c h i e d e n h e i t der z u r ü c k g e l e g t e n R ä u m e dazu, um die Verschiedenheit in der G e s c h w i n d i g k e i t der betreffenden Bewegungen zu vergleichen und eben dadurch in Bezug auf s c h n e l l e r e oder l a n g s a m e r e B e w e g u n g , oder, was dasselbe ist, auf g r ö s s e r e oder g e r i n g e r e G e s c h w i n d i g k e i t zu messen und zu bestimmen. Denn der Begriff der G e s c h w i n d i g k e i t beruht ja eben, wie die allgemeine Kraft- und Bewegungslehre solches deutlich darthut, in der Bestimmung einer gewissen Bewegung durch die gegenseitigen Maassverhältnisse von R a u m und Zeit. Wenn daher ABISTOTELES und Andere die Zeit als das Maass für die B e w e g u n g bestimmt haben, so bezeichnet dieser Ausspruch ebensosehr eine bloss einseitige Auffassung des wahren Sachverhältnisses, als wenn umgekehrt H O B B E S und S C H E L L I N G die Z e i t durch die B e w e g u n g wollten bestimmt oder gemessen wissen. Die wahre und allein richtige Sachlage kann nach den natürlich-begrifflichen Verhältnissen, in welchen die drei einander wechselseitig ergänzenden und unbedingt zusammengehörigen Begriffe von R a u m , Z e i t und B e w e g u n g zu einander stehen, nur diejenige seyn, dass alle drei je nach besonderen Umständen und Verhältnissen wechs e l s e i t i g als M i t t e l g e g e n s e i t i g e r M a a s s b e s t i m m u n g e n zu betrachten sind, und zwar um so mehr, als wohl bei den meisten Maassbestimmungen von Raum und Zeit durch die Bewegung auch die G e s c h w i n d i g k e i t dieser Letzteren wesentlich mit in Betracht kommt, und gerade diese nur durch R a u m und Z e i t g e m e i n s c h a f t l i c h kann bestimmt und gemessen werden. Daher macht L o c k e ganz mit Recht darauf aufmerksam, „dass, um eine Bewegung zu messen, es ebenso nothwendig ist, den R a u m zu betrachten, wie die Z e i t " , und dass „die, welche etwas weiter sehen, finden werden, dass auch die Masse des b e w e g t e n Dinges nothwendig in die Rechnung aufgenommen werden muss von jedem, der die Be-

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wegung schätzen oder messen will, um richtig von ihr zu urtheilen" (BAUMANN, Raum u. Zeit. I . S. 8 9 2 [LOCKE]). Von der M a s s e des in Bewegung befindlichen Körpers hängt auch dessen Gewicht oder Schwere ab; dass diese aber von wesentlichstem Einfluss auf die G e s c h w i n d i g k e i t der Bewegung ist: dies liegt in der Natur der Sache* Und ebenso wie LOCKE müssen wir aus gleichem Grund auch Crousaz beipflichten, wenn er sagt: „Der Begriff der Zeit macht nothwendig einen Theil von den Begriffen der Bewegung aus. Die B e w e g u n g ist das M a a s s d e r Z e i t : und die Z e i t ist wiederum ein M a a s s d e r B e w e g u n g " (CBOUSAZ, Prüfung d. Sekte. I. S. 9 5 / 9 6 ) . In einer ganz ähnlichen Weise aber, wie Zeit und Bewegung sich w e c h s e l s e i t i g messen und bestimmen, gilt ganz das Gleiche auch in Bezug auf die beiden Begriffe von Z e i t und D a u e r . Denn der Verlauf der Dauer eines Dinges besitzt genau dieselbe zeitliche Ausdehnung wie dessen Verlauf in der Zeit, indem beide Begriffe ein und derselben in sich unveränderlichen und unter allen Umständen sich immerdar gleichbleibenden Wurzel entstammen. Dass wir aber wirklich auf die bewegten und in jedem Augenblick wechselnden Verhältnisse des eigentlichen Z e i t b e g r i f f e s , den natürlichen Wechselverhältnissen entsprechend, den D a u e r b e g r i f f ganz gewohnt sind in Anwendung zu bringen, um den zeitlichen Umfang und die zeitliche Ausdehnung eben jener Vorkommnisse dadurch zum Ausdruck zu bringen: dies geht daraus hervor, dass wir z. B. von einem Schauspiel oder von einer Schlacht und dergl. ausdrücklich sagen, dieselben hätten so oder so lange, d. h. so viele Stunden oder Tage g e d a u e r t . Die ruhig dahinfliessende Zeit, in der noch kein Wechsel, keine Bewegungen und keine Veränderungen berücksichtigt werden, gilt und dient uns somit als unzweifelhafter Maassstab zur Bestimmung der damit untrennbar verbundenen stets bewegten und stets sich verändernden eigentlichen Zeitverhältnisse. Dasselbe ist ebenso der Fall, wenn wir unser

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Augenmerk auf unser eigenes Leben und Daseyn richten. Wir gewahren alsdann, dass beide, unsere Lebensdauer und unsere Lebenszeit, vollkommen gleichmässig mit einander verstreichen, eben weil sie uns im Grunde ja nur ganz Dasselbe, nehmlich unseren vollkommenen einheitlichen Bestand und Fortgang in unserem Leben und Daseyn anzeigen, wir selbst aber eben diesen unseren innerlich-einheitlichen Verbleib und Fortgang im Daseyn nur in soweit in unserem Denken geistig durch zwei verschiedene begriffliche Bezeichnungsweisen unterscheiden, als wir etwas, was im Grunde und der Sache nach Dasselbe und Gleiche ist, je nach Umständen aus zwei verschiedenen Gesichtspunkten in das Auge fassen: das eine Mal nehmlich die unseren ruhigen Verlauf im Daseyn begleitenden sonstigen Veränderlichkeiten unberücksichtigt lassend, das andere Mal dagegen dieselben ebenfalls mit in Betracht ziehend. Nun lehrt uns aber die Erfahrung, dass gerade in Bezug auf diese letzteren Verhältnisse der eigentliche Z e i t b e g r i f f in einem sehr wesentlichen und augenfälligen G e g e n s a t z zu dem eigentlichen D a u e r b e g r i f f sich befindet, und zwar in einem Gegensatz, der es auf den ersten Anblick fast in Zweifel zu stellen scheint, ob wir unter solchen Umständen den Dauerbegriii wirklich noch als das natürlich-begriffliche Mittel auch zur Bestimmung und Ausmessung des eigentlichen Zeitbegriffes benutzen dürfen. Und eben dieser so bedeutende Gegensatz zwischen Dauer- und Zeitbegriff ist kein anderer als der der verschiedenen, bald schnelleren bald langsameren G e s c h w i n d i g k e i t e n , mit welchen die einzelnen an den Dingen zu beobachtenden Veränderungen vor sich gehen, und welche dem allewege vollkommen ruhig und gleichmässig verlaufenden Dauerbegriff als solchem vollkommen f r e m d sind. Aber sehen wir, was in diesen Beziehungen uns unsere eigene Erfahrung an uns selber lehrt. Wir gehen oder laufen das eine Mal schneller, das andere Mal langsamer; auch fühlen wir, dass das Blut in unseren Adern bald rascher bald

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weniger rasch iiiesst oder dass wir manchmal lebhafter und tiefer müssen Athem holen als dies gewöhnlich der Fall ist. Und Gleiches gewahren wir in Bezug auf den Wechsel unserer Gemüthszustände. Das eine Mal sind wir heftig erregt, und solch heftige Aufwallungen gehen in der Regel auch rascher in unserem Inneren vorüber als langsam dahinschleichender Kummer u. s. w. Finden wir aber, dass dies alles von irgendwelchem Einfluss sey auch auf unsere eigentliche Lebensdauer oder unsere eigentliche Lebenszeit? Gewiss nicht. Im Gegentheil tragen wir das sichere Gefühl an und in uns selber, dass diese an und für sich von allen derartigen veränderlichen Geschwindigkeitsverhältnissen in Bezug auf diese oder jene leiblich-körperlichen, seelischen oder geistigen Thätigkeiten ebensowenig berührt und beeinflusst werden, wie unser eigener in sich unveränderlicher Wesensgrund durch die natürliche Veränderlichkeit unserer einzelnen Wesenszustände. Zwar ist es allerdings auch eine ebenso unleugbare Thatsache, dass durch ein sogenanntes „schnelles Leben", darinnen der Mensch gleichsam ohne Ruhe und Rast von einer Sinnenlust zur anderen und von einem Sinnestaumel zum anderen sich fortziehen lässt, die uns von der Natur gesetzte Lebensdauer dermassen kann beeinträchtigt werden, dass in vielen, wo nicht in den meisten derartigen Fällen auch ein vorzeitiger Tod die unausbleibliche Folge davon bildet. Aber begeht ein solcher Mensch nicht in ganz ähnlichem Sinn einen thatsächlich gewaltsamen und vorzeitigen Mord an sich selbst, wie ein jeder Selbstmörder, der nur mit anderen Waffen Hand an sein eigenes Leben legt? Dass aber derartige widernatürliche Vorkommnisse im Menschenleben unmöglich als Maassstab dienen dürfen auch für die naturgesetzmässigen Lebens- und Daseynsverhältnisse: dies kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen. Denn die Natur als solche kann nie und nimmermehr die Unnatur als Maassstab für ihr Verhalten anerkennen. Und aus eben diesem Grunde möchten

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

wir denn auch dafür halten, dass dasjenige, was wir in der angegebenen Weise so vielfach als Menschen an uns selber zu erfahren Gelegenheit haben, nicht ohne Nutzanwendung bleiben dürfte auf die niedrigeren und selbst niedrigsten Daseynsgebiete des allgemeinen Naturlebens, wenn freilich immerhin unter Vorbehalt eben der einfacheren Naturweisen, wie solche durch die an sich einfacheren Naturverhältnisse dieser niedrigeren Daseynsstufen bedingt sind. In Bezug auf diese G e s c h w i n d i g k e i t s v e r s c h i e d e n h e i t e n , welche wir an den sich bewegenden oder verändernden Dingen wahrnehmen, und auf deren besonderes Verhältniss zu dem eigentlichen Zeitbegriff sagt A r i s t o t e l e s : „Jede Veränderung ist schneller oder langsamer; die Z e i t (als solche) aber ist dies n i c h t . Denn Langsam oder Schnell ist eben durch die Zeit bestimmt; die Zeit (selbst) aber ist n i c h t durch Zeit bestimmt" (ARISTOTELES, Phys. S. 203): nehmlich nach dem bereits weiter oben angeführten Grundsatz, dass nichts d u r c h s i c h s e l b s t gemessen oder bestimmt werden könne. So sagt auch Newton: „Alle Bewegungen können b e s c h l e u n i g t oder v e r z ö g e r t werden; aber der F l u s s der Zeit als solcher (der absoluten Zeit) kann n i c h t verändert werden. Die D a u e r oder Beharrlichkeit im Daseyn (der Existenz) ist die n e h m l i c h e , mögen die Bewegungen s c h n e l l oder l a n g s a m oder g a r n i c h t seyn. Dennoch wird sie aber nach ihren sinnlich wahrnehmbaren Maassen mit Recht unterschieden" (BAUMANN, Raum u. Zeit. I. S. 4 8 4 [ N E W T O N ] ) . Nach Eliier bildet die Geschwindigkeit „eine besondere Art von G r ö s s e , welche v e r m e h r t oder v e r m i n d e r t werden kann. Man wird daher" — fügt er hinzu — „die Geschwindigkeit eines Körpers kennen, wenn man den W e g (oder Raum) weiss, welchen er in einer bestimmten Zeit durchläuft" (EULER, Briefe. I. S. 4). Hegel drückt sich folgendermassen aus: „In dem Gesetze der Bewegung ist es nothwendig, dass die Bewegung in Z e i t und R a u m sich t h e i l e , oder in G e -

Kaum und Zeit in Bezug auf die Gresammtheit alles Naturdaseyns.

schwindigkeit

und E n t f e r n u n g "

361

(HEGEL II. S. 117. 125).

Nach C a r u s „tritt bei allen Bewegungserscheinungen zugleich eine Z e i t b e s t i m m u n g mehr

oder

Kraft

weniger

(Energie)

hinzu,

nachdem ein Körper mit

Geschwindigkeit

sich

bewegt".

wegende Kraft (Energie) Grundbestandtheile

je

sind

oder

bewegender

Geschwindigkeit nach CAEUS die

(Elemente)

aller

und

„be-

wesentlichen

Bewegung

überhaupt"

(CAEUS, Natur und Idee. S. 62. 64). — In ähnlicher Weise wie CABUS spricht auch B r a n i s s

sich aus:

„Wenn man unter

Bewegung nichts weiter als einen Wechsel der Orter im Raum versteht, der sich im stetigen Nacheinander der Zeit vollzieht: so ist Bewegung nichts als R a u m im N a c h e i n a n d e r Z e i t , und Z e i t i m N e b e n e i n a n d e r

des R a u m e s ,

der

und es

ist dann in der Wechselbeziehung von Raum und Zeit der Begriff der Bewegung erschöpft. liebige E n t f e r n u n g

Wir können zwar eine be-

zweier Orter als B e w e g u n g s r a u m

eine beliebige D a u e r

der Bewegung

und

zwischen diesen Orten

als B e w e g u n g s z e i t annehmen; aber i r g e n d eine Entfernung, i r g e n d eine Dauer m ü s s e n wir annehmen, um auch nur eine mögliche Bewegung zu sehen.

Zu jeder wirklichen Bewegung

aber gehört ein b e s t i m m t e r Bewegungsraum und eine stimmte

Bewegungszeit,

und diese d o p p e l t e

die wir in der G e s c h w i n d i g k e i t Ausserwesentliches,

be-

Bestimmtheit,

vorstellen,

ist kein bloss

sondern gehört zu ihrem Wesen: sie ist

ebenso wie Raum und Zeit ein unbedingt nothwendiger (integrirender) Bestandtheil (Mitbewirker) der Bewegung, sie selber weder Raum noch Zeit ist. selbst Grösse

ist

in

der Bewegung in

Die

obgleich

Geschwindigkeit

irgendwelcher

bestimmten

vorhanden, und diese Grösse ist ein Grundbestand-

theil (Element) des Wesens der Bewegung selbst; sie ist nicht die Geschwindigkeit, sondern hat an derselben nur ihren Ausdruck, insofern sie an Raum und Zeit gemessen wird.

So

gefasst aber ist sie der G r a d der bewegenden Kraft (Energie), in welchem die Bewegung wirklich ist.

E s ist aber die B e -

362

Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

wegung von ihrer b e w e g e n d e n K r a f t (Energie) gar n i c h t verschieden: sie s e l b s t ist lebendig-bewegende Kraft (Energie), welche nicht eine bloss inhaltslos-gedachte Kraft (nicht abstrakte Potenz), sondern l e b e n d i g - t h ä t i g e K r a f t (Action) ist. Denn Bewegung ist Kraft" (BBANISS, Atom. u. dyn. Naturauffassung. S. 322. 323). N o . 123. Sie inneren Lebens- und Wesensbewegungen der Dinge als uranfänglicher Grund auch aller äusseren räumlichkörperlichen Bewegungen. — Die innere persönliche Zeit und allgemeine Weltzeit. Aller Zeitbegriff in seiner engsten und eigentlichsten Bedeutung wurzelt in dem Begriff der B e w e g u n g , als deren noch einfachsten, weil an sich noch rein äusserlichen Ausdruck wir den B e g r i f f der O r t s v e r ä n d e r u n g erkannt haben. Wie es aber kein Äusseres gibt, dem nicht ein Inneres zu Grunde läge: so auch keine äussere Bewegung ohne eine zu Grunde liegende innere Bewegung, und keine äussere Veränderung ohne eine ihr zu Grunde liegende innere Veränderung. Denn alles Ausserliche kann, wenn wir es in seiner natürlichen Ursprünglichkeit in das Auge fassen, nur von einem zu ihm gehörigen Innerlichen seinen nächsten und unmittelbaren Ursprung herleiten. Daher vermag auch kein Ausserliches seinen Entstehungsgrund jemals in sich selber als einem Äusserlichen zu besitzen; sondern allewege nur in dem ihm zugehörigen Inneren, mit dem es nur gemeinschaftlich in das Daseyn treten kann. Wollen wir z. B. einen Kreis beschreiben, so setzen wir den einen Schenkel eines Zirkels mit seiner Spitze fest auf das Papier: der Punkt, wo wir diese Spitze auf das Papier setzen, zeigt bereits im voraus schon den Mittelpunkt des zu bildenden Kreises an, dessen äusserer Umfang nunmehr dadurch entsteht, dass wir den Zirkel um eben diesen bereits bezeichneten Mittelpunkt herumdrehen und dadurch den in dem anderen Schenkel befindlichen Bleistift

Baum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 3 6 3

die äussere Kreislinie zeichnen lassen. Erst das Innerste also und von diesem aus dann gleichzeitig auch das Innere und das Äussere. Nun haben wir aber bereits früher darauf hingewiesen (V. § 20. No. 107), wie alle von ihrem einheitlichen Ursitz ausgehende Kraftwirksamkeit zuerst rund um diesen ihren Urpunkt herum je nach ihrem besonderen Kraftmaass bis zu einer bestimmten äusseren Gränze, der körperlichen Oberfläche des so gebildeten natürlichen Einzeldinges, sich ausbreitet und ausweitet, um von dieser äusseren Gränze wieder zurückzukehren nach ihrem ersten Ausgangspunkt, und so fort, solange das betreffende Naturding oder Naturwesen durch seine eigene innere Dauerkraft überhaupt selber im natürlichen Daseyn besteht. Trat nun aber jene erste natürliche Grundbewegung nach der Weite, als vom Mittelpunkt nach der Oberfläche gerichtet, ursprünglich als eine thatsächliche innerliche A u s d e h n u n g s k r a f t auf: so müsste sie nothwendig in ihrer Rückwirkung von der Oberfläche zum Mittelpunkt zu einer ebenfalls noch rein innerlich wirksamen Zus a m m e n z i e h u n g s k r a f t sich gestalten. Blieben nunmehr jene Einzeldinge ohne weiteren Wechselverkehr unter sich: so würden beide, jene erste und uranfängliche innerliche S e l b s t a u s d e h n u n g , wie die aus ihr hervorgehende ebenfalls rein innerliche S e l b s t z u s a m m e n z i e h u n g , als auf Einem und demselben Kraftmaass der ihnen gemeinsam zu Grunde liegenden inneren Kraftwirksamkeit beruhend, sich wechselseitig in vollkommenem G l e i c h g e w i c h t befinden: es könnte ebensowenig irgendwelche Veränderung in Bezug auf die räumliche Grösse eines solchen Einzeldinges statthaben, noch vermöchten eben jene innerlichen Wesensausdehnungen und Wesenszusammenziehungen sich auch nach aussen hin irgendwie zu äussern oder fortzupflanzen. Es würde einfach alles so bleiben, wie es eben von Anfang an überhaupt einmal der Fall gewesen ist. Erst durch den thatsächlichen Wechselverkehr der Dinge mit und unter einander kommt L e b e n in die Sache: natür-

364

Baum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

liches Leben im I n n e r e n und in Folge dessen auch natürliches Leben nach aussen. Denn erst durch Wechselverkehr mit den umgebenden Aussendingen vermögen Kraftwirksamkeiten und Krafteinwirkungen der mannigfachsten Arten und von den verschiedensten Maassen an die Einzeldinge heranzutreten. Bis dahin innerlich gebundene Kraftmaasse werden entbunden, und ebenso werden bis dahin in Wirksamkeit befindliche wieder innerlich gebunden. Ward demgemäss an den Berührungspunkten in Folge wechselnder Berührungen die innerlich - ausdehnende Kraftwirksamkeit durch Entbindung weiterer Ausdehnungsfähigkeit v e r s t ä r k t : so musste dafür in gleichem Yerhältniss die rückwirkende zusammenziehende Wirksamkeit geschwächt werden, und umgekehrt im entgegengesetzten Fall. Und aus eben diesen Ursachen hat sich denn auch bereits bei unserer früheren Betrachtung dieser Verhältnisse ergeben, dass im allgemeinen Wechselverkehr der Dinge unter sich deren stofflich-wesenhaftes I n n e r e in unausgesetzten inneren Wesenswallungen sich befinden müsse, welche dann auch mit Naturnothwendigkeit nicht nur an der nach innen, sondern ganz in gleichem Maasse auch an der nach a u s s e n gekehrten Seite ihrer innerlich-äusserlichen Oberfläche als ein äusserlich-oberflächliches Auf- und Abwogen in die ä u s s e r e E r s c h e i n u n g übertreten und hier in ihrer Weise auch in Bezug auf die sie umgebenden A u s s e n d i n g e ihren natürlichen Einfluss zur Geltung bringen müssen. In diesem Sinn bezeichnet daher auch Hegel die Zeit als „ein E r z i t t e r n (des Wesens) in s i c h " und sagt weiterhin ausdrücklich, dass dieses „ Z i t t e r n der Lebendigkeit" als die „ u n r u h i g e Z e i t " zu betrachten sey (HEGEL V I I L S. 514. 601). Nun muss aber selbstverständlich dieselbe Kraftwirksamkeit, welche im Innern eines Naturdinges als ausdehnende K r a f t , d. h. in Bezug auf dessen eigenes inneres Wesen, auftritt, den berührenden Aussendingen gegenüber als a b s t o s s e n d e Kraft sich äussern;

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 3 6 5

und ebenso umgekehrt: dieselbe Kraftwirksamkeit, welche im Innern dieses Naturdinges als z u s a m m e n z i e h e n d e Kraft auftritt, muss den berührenden Aussendingen gegenüber als a n z i e h e n d e K r a f t in die Erscheinung treten. In demselben Yerhältniss aber, in welchem unter solchen Umständen ein körperliches Ding in Folge v e r s t ä r k t e r innerlich-ausdehnender Kraftwirksamkeit seinen eigenen räumlichen Umfang verg r ö s s e r n wird, muss es die es berührenden Aussendinge äusserlich von sich a b - oder w e g s t o s s e n ; im entgegengesetzten Fall aber, wenn es in Folge von g e s c h w ä c h t e r innerlich a u s d e h n e n d e r oder, was dasselbe ist, von vers t ä r k t e r innerlich z u s a m m e n z i e h e n d e r Kraftwirksamkeit seinen räumlichen Umfang v e r k l e i n e r t , wird es die es berührenden Aussendinge nur noch um so inniger zu sich h e r a n z i e h e n . Und somit hätten wir denn hiermit einen Standpunkt gewonnen, von dem aus wir befähigt sind, uns alle sowohl äusserlichen R a u m - u n d O r t s b e w e g u n g e n , wie gleichzeitig damit in ihrer Weise alle innerlich-äusserlichen Z u s t a n d s v e r ä n d e r u n g e n in ihrer noch ursprünglichsten und einfachsten Naturbegründung geistig zu veranschaulichen. Alles aber, was in dieser Weise seine natürliche Geltung hat für die natürlichen Einzeldinge als solche, das muss in seiner Weise selbstverständlich auch ebensosehr seine Geltung beibehalten in Bezug auf alle jene kleineren oder grösseren k ö r p e r l i c h e n M a s s e n , welche theils schon seit unvordenklichen Zeiten im allgemeinen Weltraum vorhanden zu seyn scheinen, oder zu denen wir auch heute noch körperliche Dinge, wenn auch in bescheideneren Maassverhältnissen, zusammentreten sehen. Ganz der obigen Darstellung entsprechend weist denn auch schon Aristoteles darauf hin, dass „falls es nicht für einen j e d e n Naturkörper eine n a t u r g e m ä s s e (d. i. eine eigene und rein innerlich-ursprüngliche) B e w e g u n g gäbe, es auch k e i n e der übrigen Bewegungen geben würde". Und

366

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

weiterhin, diesen Gedankengang gleichsam noch ergänzend, dass „alles B e w e g t w e r d e n d e nothwendig von Etwas bewegt werden müsse", und zwar entweder, dass es „ i n s i c h s e l b s t den Anfang der Bewegung habe" oder dass es „von einem Anderen bewegt werde" (ARISTOTELES, Phys. S. 185. 337. 339). So sagt auch L e i b n i t z : „Die thätige (active) Kraft ist eine d o p p e l t e , nehmlich eine u r s p r ü n g l i c h e (primitive), welche in jedem Körperwesen (Substanz) an sich ist — denn ich glaube, dass ein in jeder Weise r u h e n d e r Körper der Natur f r e m d ist — oder eine a b g e l e i t e t e (derivative), welche wie durch Beschränkung der ursprünglichen aus dem Zusammenstoss der (im gegenseitigen Wechselverkehr stehenden) Körper untereinander, mannigfach geübt wird. Unter der a b g e l e i t e t e n K r a f t , mit der nehmlich die Körper thatsächlich (actu) aufeinander handeln oder von einander leiden, verstehen wir an dieser Stelle keine andere, als die, welche mit der Bewegung, nehmlich der' örtlichen, zusammenhängt, und hinwiederum eine örtliche Bewegung hervorzubringen strebt" (BAUMANN, Raum u. Zeit. I I . S. 158. 159). Ganz der ähnlichen Auffassung begegnen wir bei C a r i l S . Auch er unterscheidet zwischen ä u s s e r e r und i n n e r e r B e w e g u n g . „Als die m e h r u r s p r ü n g l i c h e " — sagt er — „muss natürlich die i n n e r e gedacht werden, und ganz streng genommen gibt es eigentlich n u r innere Bewegung, insofern das Weltganze stets als ein an sich unendlicher Organismus (d. h. als eine an sich unermessliche und in sich lebendig gegliederte Lebenseinheit) gedacht werden muss. Die ä u s s e r e Bewegung, als beziehungsweise (relativ) äussere, würde dann diejenige seyn, durch welche zwischen verschiedenen Gewordenen die äusseren, d. i. räumlichen Verhältnisse sich ändern" (CABUS, Natur u. Idee S. 56). Wie sehr aber eben diese an sich noch so vielfachen und urwüchsigen Grundverhältnisse auch zugleich die erste natürliche Grundlage für ähnliche und verwandte Erscheinungen in

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 367

den höheren Daseynsgebieteri bilden: dafür bietet uns unsere eigene Erfahrung und Selbstbeobachtung wieder die besten und sichersten Beweise. Durch innerliche Aufregung unserer Seele, habe sie nun ihren Ursprung in Vorgängen in deren eigenem Inneren, oder liege derselbe in leiblichen Verhältnissen unserer äusserlichen Körperlichkeit, oder reiche er auch noch weiter zurück in Vorgänge, welche unserem Verkehre mit der Aussenwelt entspringen; eine jede derartige verstärkte innere Seelenaufregung geht auch naturgesetzmässig Hand in Hand mit gleichmässigen Verstärkungen oder Beschleunigungen unseres Blutumlaufes, unserer Athmung, und selbst unser Verkehr mit der übrigen Aussenwelt wird wohl nur selten ganz und gar unberührt davon bleiben. Ja wenn wir von wechselseitigen Anziehungen oder Abstossungen im Bereiche der noch ungestalteten allgemeinen Körperwelt reden, sprechen wir nicht auch von ganz ähnlichen seelisch-geistigen Anziehungen oder Abstossungen selbst in Bezug auf das allgemeine Geistesleben der Menschen unter und mit einander? Stellt doch schon Plato die Frage auf, „wenn ein sich selbst Bewegendes ein Anderes verändere und dieses so fortgehe", ob dieses wohl als etwas Anderes zu betrachten seyn dürfte, denn als eine „ U m g e s t a l t u n g der von ihm selbst ausgehenden Bewegung?" „Demnach" — so fügt er hinzu — „werden wir behaupten, der Anfang aller Bewegung sey nothwendig die von sich selbst ausgehende; sie sey die älteste und gewaltigste, die zweite dagegen sey die durch ein Anderes herbeigeführte." Dieses „sich selbst in Bewegung Setzende" bezeichnet er aber ausdrücklich als „ L e b e n " und als „ S e e l e " (PLATO [MÜLLEB] VH. S. 338 [Gesetze];

HET-

TINGBR, Apol. I. S. 175; STQCKL, Lehre v. Menschen. S. 325 [PLATO]). Und wenn Descartes von der Seele sagt, dass sie die Z e i t unabhängig von der Bewegung der (äusseren) Körper in sich habe": sagt dies im Grunde etwa? Anderes als das, was sich auch in der soeben angeführten Stelle aus

368

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

ausgesprochen findet? — Und muss nicht das Gleiche auch gelten in Bezug auf einen verwandten Ausspruch S c h e l l i n g s , wenn er sagt: „Die Z e i t ist die Erscheinungsweise (Form) des B e s e e l t s e y n s d e r D i n g e für ihr besonderes L e b e n " (SCHELLING VI. S. 247). Eben diese eigene innerlich-lebendige S e l b s t b e w e g u n g des natürlichen Wesens der Dinge, welche SCHELLING SO treffend als die natürliche eigene Z e i t derselben bezeichnet, ist somit kein Anderes, als die eigentliche urwüchsige p e r s ö n liche Z e i t eines jeden in sich selbständigen natürlichen Einzeldinges oder Einzelwesens, darinnen es im eigentlichsten Sinn des Wortes sich s e l b e r Z e i t i s t , und in sich s e l b e r seine e i g e n e Z e i t b e s i t z t und h a t , die ihm, als zu seinem eigenen inneren Wesen unmittelbar und unbedingt gehörend, ganz ebenso unveräusserlich ist wie sein eigener körperlicher Raum, und die es daher auch ganz ebenso unbedingt wie diesen Letzteren allenthalben mit hinnimmt, wohin es sich selbst begibt. Denn wie eben jenes vorhin besprochene, durch die gegenseitigen Wechselbeziehungen der Dinge unter einander herbeigeführte Spiel abwechselnder Wesensausdehnungen und Wesenszusammenziehungen sich als ein unausgesetztes A u f - u n d Abwogen i n n e r l i c h - ä u s s e r l i c h e r W e s e n s w a l l u n g e n darstellt, welches ohne entsprechende, gleichzeitig es begleitende R a u m - u n d G r ö s s e n v e r ä n d e r u n g e n ganz und gar undenkbar seyn würde: als ganz ebenso undenkbar würde es sich darstellen ohne eine ähnliche, gleichzeitig es begleitende und den gegebenen Verhältnissen ebenfalls genau entsprechende z e i t l i c h e A u f e i n a n d e r f o l g e . Dass aber diese Erscheinungen nicht vor sich gehen können, ohne nicht auch thatsächlich von einem entsprechenden ganz ähnlichen Wechsel in allen inneren wie äusseren Z u s t a n d s v e r h ä l t n i s s e n begleitet zu seyn: dies kann nach allem bisher hierüber Gesagten selbst in solchen Fällen kaum zu bezweifeln seyn, wo die Verschiedenheiten in Bezug auf diese Zustandswechsel so gering PLATO

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaaeyns.

369

sind, dass sie selbst bei wirklichen körperlichen Massen für unsere leiblichen Sinneswerkzeuge als völlig unmerkbar sich darstellen. Alle diese Verhältnisse aber, von denen wir einzig und allein nur eine innerlich-geistige Anschauung und Vorstellung zu gewinnen im Stande sind, treten uns näher, sobald wir auf unser eigenes Leben und Daseyn unser Augenmerk richten und dabei vor allem diejenigen natürlichen Wechselverhältnisse beobachten, welche zwischen den natürlichen Vorgängen in unserer äusseren Leiblichkeit und unseren seelischgeistigen Wesenszuständen statthaben. Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie fortwährend unser eigenes Gefühl in den Pulsschlägen und Athemzügen unserer äusseren Leiblichkeit uns ein ununterbrochenes Zeugniss abgibt von eben jenen innerlich-natürlichen Lebenswallungen, welche das Daseyn und Wesen unserer eigenen Seele nothwendig begleiten. Da die gleichen Wechselverhältnisse auch bereits im Thierleben an den Tag treten, so hat Hegel dieselben denn auch geradezu als „ t h i e r i s c h e oder a n i m a l i s c h e Z e i t " bezeichnet 1 (HEGEL VII . S. 573) im Gegensatz zu jenem eigentlichen p e r s ö n l i c h - g e i s t i g e n Z e i t b e w u s s t s e y n , welches für den Menschen aus der Beobachtung seiner geistigen Thätigkeiten und aus dem mit denselben verbundenen ununterbrochenen Verlauf seiner eigenen Gedanken und Vorstellungen hervorgeht. Selbst jene Unterschiede in Bezug auf die zeitlichen G e s c h w i n d i g k e i t e n , mit denen eine jede räumliche Körperbewegung im Bereiche der noch ungestalteten Natur vor sich geht, finden ihren bezeichnenden Widerhall, sowohl im Bereiche unserer rein geistigen Seelenthätigkeiten wie auch in Bezug auf unser geistiges Z e i t b e w u s s t s e y n , von dem diese Thätigkeiten sich in der Eegel begleitet zeigen. So kommt es, dass d i e s e l b e Z e i t d a u e r oder Z e i t l ä n g e , welche bei angestrengter Geistesthätigkeit uns geradezu als k u r z , weil an unserem Zeitbewusstseyn r a s c h vorübergehend erscheint, Wandersmann. IT.

24

370

Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

in anderen Fällen dagegen als l a n g , weil scheinbar nur l a n g s a m an uns vorübergehend. Die Ausdrücke wie „ K u r z weil" oder „ l a n g e W e i l e " legen schon im gewöhnlichen Leben Zeugniss für diese Thatsachen ab. J a gibt es nicht Zeiten im menschlichen Leben, wo in Folge von allgemeiner Gedankenarmut oder von augenblicklicher Gedankenstockung die natürliche Gedankenaufeinanderfolge mit einer solchen Langsamkeit vor sich geht, dass dieselbe uns geradezu als L a n g e w e i l e in einer so lästigen und peinlichen Weise zum Bewusstseyn kommt, dass der Mensch sich sogar vielfach genöthigt sieht, auf künstlichem Wege d. h. durch sogenannte Z e r s t r e u u n g e n oder, noch bezeichnender ausgedrückt, durch sogenannten Z e i t v e r t r e i b irgendwelche, wenn auch an sich noch so werthlose Gedankenverbindungen in sich zu erwecken, nur um jenem peinlichen Geistesdruck innerer langer Weile zu entgehen? Und alles das, was soeben gesagt ist in Bezug auf das natürliche Wechselverhältniss zwischen unserem eigenen inneren Zeitbewusstseyn und unseren eigenen geistigen Thätigkeiten: dies alles hat auch ebenso seine volle Geltung in Bezug auf unsere W i l l e n s e n t s c h l i e s s u n g e n und auf unsere ä u s s e r e n H a n d l u n g e n . Denn was auf den niedrigeren Daseynsstufen der unbewusste innerliche N a t u r d r a n g und N a t u r t r i e b ist, das erscheint nach unwandelbaren Naturgesetzen im Gebiet des eigentlichen Geisteslebens als bewusste freie W i l l e n s e n t s c h l i e s s u n g ; und was dort die unbewusste äusserlich - körperliche Bewegung anzeigt, das hat sich hier nach denselben Naturgesetzen zur bewussten ä u s s e r e n H a n d l u n g u m g e s t a l t e t . In Bezug auf eben diese Verhältnisse sagt Locke: „Dass wir unsere Begriffe von „ A u f e i n a n d e r f o l g e und D a u e r aus unserer Betrachtung (Reflexion) in Bezug auf Z u g u n s e r e r G e d a n k e n haben, von denen wir finden, dass sie n a c h e i n a n d e r in unserem Geist erscheinen: dies ist, wie ich glaube, daraus klar, dass wir keine Wahrnehmung einer Dauer haben, ausser durch Betrachtung eben jenes Zuges von Gedanken,

Eaum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 3 7 1

welche wechselnd in unserem Geist auftreten" (LOCKE, S. 3011. 302). In gleicher Weise sagt B e r k e l e y : „Wenn die Zeit abgesondert von der Aufeinanderfolge unserer Gedanken in unserem Geist nichts ist, so folgt daraus, dass die Dauer eines endlichen Geistes nach der Z a h l der G e d a n k e n oder der in diesem Geist oder Gemüth aufeinanderfolgenden Thätigkeiten g e s c h ä t z t werden muss. Daraus ist aber eine klare Folgerung, dass der Geist immer denkt" (BAUMANN, Raum und Zeit II. S. 420 [BERKELEY]). Und ähnlich wird auch nach H u m e der Begriff der Zeit durch uns abgeleitet von der Aufeinanderfolge unserer Wahrnehmungen jeglicher Art. „Wie wir aus der Anordnung (Disposition) sichtbarer und tastbarer Gegenstände den Begriff des Raumes empfangen, so bilden wir aus der Aufeinanderfolge unserer Gedanken (Ideen) und Eindrücke den Begriff (die Idee) der Zeit" (BAUMANN, Raum und Zeit II. S. 519). N o i r e spricht sich folgendermassen aus: „Der Begriff der Zeit ist uns zunächst durch die abgemessenen Bewegungen (den Rhythmus) unserer leiblichen (organischen) Verrichtungen verständlich: durch das Athemholen, den Herzschlag, die Thätigkeit. des Tages, die Ruhe der Nacht u. s. w. dieses Z e i t g e f ü h l und dies i n n e r e Z e i t m a a s s ist ein uns aus den allerersten Anfängen des leiblichen (organischen) Lebens a n g e b o r e n e s " (Noini;, Welt a. Entw. d. Geistes, S. 1 7 6 . 177). Auch K r a u s e erklärt sich dahin „dass wir u r s p r ü n g l i c h die Zeit n a c h u n s e r e r i n n e r e n g e i s t i g e n T h ä t i g k e i t abmessen; daher uns d e r selbe T a g mehr oder weniger l a n g oder k u r z erscheint oder länger oder kürzer empfunden wird, je nachdem wir an diesem Tag m e h r oder w e n i g e r t h ä t i g gewesen sind" (KRAUSE, Vorl. S. 114). Und ähnlich sagt J. G. F i c h t e , dass alle Empfindung, Anschauung, Wahrnehmung eines Anderen eigentlich nur die S e l b s t e m p f i n d u n g und S e l b s t a n s c h a u u n g der in unserem eigenen Ich vorgegangenen V e r ä n d e r u n g ist," weshalb denn auch eben diese „ e i g e n e Z e i t des I c h , 24*

372

Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

aus welcher dieses n i c h t h e r a u s k a n n , " ausdrücklich als dessen gerade ihm im Besonderen zukommende „ i n d i v i d u e l l e (d. h. persönliche) Z e i t " bezeichnet wird ( J . G . F I C H T E II. S. 120). S c h e l l i n g , nachdem er den Begriff der Z e i t dahin bestimmt hat, dass sie nichts Anderes sey als „das I c h s e l b s t in (seiner) T h ä t i g k e i t g e d a c h t , " bezeichnet weiterhin „die Z e i t , vom Standpunkt unserer geistigen Thätigkeiten (der Reflexion) angesehen," als „nur eine Anschauungsweise (Anschauungsform) des i n n e r e n S i n n e s , da sie n u r in Ansehung der A u f e i n a n d e r f o l g e (Succession) u n s e r e r Vorstellungen statt" habe, welche von diesem Standpunkt „aus bloss in uns" sey. Und eben auf diesem Standpunkt spricht er sich dann auch noch an einem späteren Ort ausdrücklich dahin aus, dass „alles E i n z e l n e , obgleich (im Weltall) zu einem G a n z e n verbunden, doch f ü r sich s e l b s t " lebe, und dass somit „auch im Weltall (Universum)" jedem Einzelnen „seine b e s o n d e r e Z e i t " gegeben sey (SCHELLING III. S . 460, 473. 517. IV. S. 278). In demselben Sinn sagt denn auch H E G E L , und zwar unter Bezugnahme auf LOCKE : „Den Begriff der Z e i t bekommen wir durch die ununterbrochene Aufeinanderfolge (Succession) der Vorstellungen im Wachen. Die Vorstellungen folgen fortwährend auf einander; lassen wir das Besondere darin weg, so erhalten wir dadurch die Vorstellung der Zeit" (HEGEL XV. S. 385. 386). Fechner weist darauf hin, wie wir es namentlich in dem „Takt der Musik" mit „etwas rein Zeitlichem" zu thun haben, nehmlich mit „der E m p f i n d u n g von V e r h ä l t n i s s e n eines r e i n e n N a c h e i n ander." „Und wenn es — fügt er hinzu — Musik gibt, nach deren Takt man gerne geht oder tanzt, so gibt es auch solche, bei deren Takt man einschläft. Bei L a n g e w e i l e wird die Zeit überhaupt um so länger e m p f u n d e n , je mehr Bewegung mangelt, und am k ü r z e s t e n vergeht uns die Zeit, wenn man ein bewegtes L e b e n führt. Wir haben ein Bedürfniss, dass die Zeit mit Bewegung (und Thätigkeit) ausgefüllt werde; wir

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 3 7 3

fühlen aber oft, dass sie n i c h t ausgefüllt ist: das ist die l e e r e (und unseren Geist daher auch ohne Befriedigung lassende) Z e i t " (FECHNEB, Atomenlehre S. 169). In ähnlichem Sinn bezeichnet auch Fried. Carl Fresenius „die Zeit- und Raumausdehnungen," sofern sie „durch die Aufeinanderfolge der Zustände dem Bewusstseyn bemerkbar (markirt) werden," gleichsam als ein gemeinsames „ U r m a a s s , " dadurch „die p e r s ö n l i c h e Z e i t " (eines jeden Einzelnen) „gemessen werde" ( F R . C. FRESENIUS, Raumwissenschaft S. 88). Und eben diese an sich rein i n n e r l i c h e und darum auch an sich rein p e r s ö n l i c h e Zeit, wie sie einem jeden einzelnen Naturdaseyn von Uranfang an in dessen inneren Wesen zukommt, ist es, welche Baumann als die „ p s y c h o l o g i s c h e Z e i t , " d. i. als eine natürlich innerliche Wesens- und Seelenzeit bezeichnet, und zwar aus dem Grunde, weil dnrch sie „eine ursprüngliche Anschauung im Gemüthe" pflegt verstanden zu werden. Und von eben dieser natürlich-innerlichen Zeit sagt er: „Wie wir aus der Anordnung (Disposition) sichtbarer und tastbarer Gegenstände (Objekte) den Begriff (die Idee) des Raumes empfangen, so bilden wir aus der A u f e i n a n d e r f o l g e der Ged a n k e n (Ideen) u n d E i n d r ü c k e den Begriff der Zeit." An einem andern Ort sagt er: „Sehr oft und ganz gewöhnlich ist die Z e i t gefunden worden im G e m ü t h e , wo sich die Vorstellungen e i n a n d e r fol gen oder wo wir uns der Vorstellungen a l s in einer Z e i t f o l g e , d. h. nach der Weise (Form) des inneren Sinnes b e w u s s t sind. Hier ist es unzweifelhaft, dass unsere Vorstellungen einander folgen, und dass dies Vor und Nach und Zugleich a l s Z e i t e m p f u n d e n und a n g e s c h a u t wird.'' Und weiterhin: „Die Beziehung der in i n n e r e r E r f a h r u n g gegebenen Aufeinanderfolge wie des Zugleichseyns der Vorstellungen auf das Ich gibt die p e r s ö n l i c h e (psychologische) Zeit. Diese persönliche Zeit ist wiederum in sofern Anschauung, als sie b l o s s d u r c h i n n e r e s E r l e b e n , d. h. dadurch, dass man sie in sich h a t und kennt, gewusst werden

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

kann. Diese persönliche (psychologische) Zeit hat insofern Allgemeingültigkeit, insofern wir sie in uns finden und in jedem Menschen voraussetzen und diese Annahme sich bewährt" (BAUMANN, Raum und Zeit II. S. 519. 525. 658. 661. 662. Phil. 317. 318. 321. Aus eben dieser Darlegung in Betreff der einem jeden in sich selbständigen Einzelwesen, und also auch der einem jeden von uns Menschen innerlich-eigentümlichen, weil unmittelbar dem eigenen inneren Wesen angehörigen e i g e n e n p e r s ö n lichen Z e i t haben wir nun aber gleichzeitig auch die Uberzeugung gewinnen müssen, dass dieselbe eine w i r k l i c h e Gelt u n g ausschliesslich n u r f ü r d a s j e n i g e N a t u r w e s e n haben kann, dem sie überhaupt einmal von Uranfang an zukommt. In keiner Weise kann sie als maassgebend sich erweisen auch für irgend welches andere Naturdaseyn: im Gegentheil, soviele in sich selbständige Einzelwesen es überhaupt in dieser Welt gibt, e b e n s o v i e l e in sich s e l b s t ä n d i g e Z e i t e n muss es auch geben, deren keine in ihrem besonderen und an sich rein persönlichen Verlauf irgendwie als bindende Richtschnur oder als wirklicher Maassstab auch für die übrigen gelten könnte. Aber ebensowenig könnte auch für irgend eines dieser Einzelwesen in dessen eigener p e r s ö n l i c h e n Z e i t etwa ein Maassstab liegen zur Bestimmung oder Beurtheilung seiner eigenen L e b e n s d a u e r , und zwar eines theils schon aus dem Grund, weil kein Ding in irgend welcher Beziehung als Maass dienen könnte für sich selber: dann aber auch noch darum, weil der natürliche Verlauf eben dieser unserer eigenen inneren Selbstzeit in vielen Fällen entweder g a r n i c h t oder wenigstens nur sehr m a n g e l h a f t und u n z u v e r l ä s s i g zu unserem wirklichen Bewusstseyn zu gelangen vermag, so dass zu einer richtigen Beurtheilung eben dieses eigenen inneren Zeitverlaufes alle zuverlässigen Anhaltspunkte für uns fehlen. Beinahe ein Drittel unseres gesammten Lebens bringen wir im S c h l a f e zu, während dessen uns, namentlich wenn er ein sehr f e s t e r ist, alles

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

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Zeitbewusstseyn in und für uns darniederliegt. Zwar müssen die T r ä u m e , die nicht selten unseren Schlaf begleiten, als ein Zeugniss dafür gelten, dass die Thätigkeit unseres Denkund Vorstellungsverinögens auch selbst im Schlafe nicht ganz und gar zu erlöschen pflegt. Allein solche Träume gelangen aber doch in den meisten Fällen nur auf eine so unvollkommene und mangelhafte Weise für uns zu einem wirklich Haren Bewusstseyn, dass schon aus diesem Grund auf eine auch nur einigermassen zuverlässige Zeitbestimmung in keiner Weise zu rechnen seyn kann. Denn nach einem nur einigermassen ruhigen Schlaf erhalten wir in der Regel in Bezug auf •die während desselben verflossene Zeit nur durch äussere Zufälligkeiten, die mit unserem eigenen inneren Ich und Selbst in gar keinem näheren Zusammenhang stehen, z. B. durch das Schlagen einer Uhr, eine nachträgliche Kenntniss, während unser eigenes inneres Z e i t g e f ü h l uns in dieser Beziehung ganz im Stich gelassen hat. Dasselbe ist der Fall bei Ohnmächten; ja selbst in solchen Fällen, in welchen wir uns geistig so eifrig mit irgend' einem bestimmten Gegenstand beschäftigen, dass wir uns, wie man zu sagen pflegt, ganz in denselben vertiefen, kann all unser geistiges Zeitbewusstseyn und natürliches Zeitgefühl uns dergestalt verlassen, dass wir keine Stunde schlagen hören, selbst wenn die betreffende Uhr ganz in unserer Nähe sich befindet (LOCKE S. 301. 302. BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 382. II. S. 519). Alles dieses weist uns aber darauf hin, dass, wenn wir auch in unseren inneren geistigen Thätigkeiten ein natürliches Mittel besitzen zur Bildung eines naturgetreuen geistigen B i l d e s oder einer g e i s t i g e n V o r s t e l l u n g von dem, was wir unter dem Begriff von rein p e r s ö n l i c h e n Z e i t v e r h ä l t n i s s e n verstehen und in diesem Begriff geistig zusammenfassen, wir darum doch in eben dieser nur rein innerlich - eigenen Zeit und ihren besonderen Verhältnissen noch durchaus kein sicheres und zuverlässiges H ü l f s m i t t e l oder wirkliches Maass besitzen auch

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseins.

für irgendwelche g l e i c h m ä s s i g e und eben dadurch auch erst wirklich b e f r i e d i g e n d e Zeitbestimmung, weder in Bezug auf unsere eigenen seelisch-geistigen oder seelisch-leiblichen Lebensvorgänge, noch in Bezug auf sonstige, uns noch ferner liegende äussere Naturverhältnisse. Der Grund davon liegt eben einfach in jener unzweifelhaften U n g l e i c h f ö r m i g k e i t und U n r e g e l m ä s s i g k e i t eben der besonderen Umstände, von denen der Begriff der persönlichen Zeit sich abhängig erweist, und welche eben deshalb auch eine regelrechte Zeitbestimmung keinerlei sicheren Anhalt zu bieten vermögen. Und soinit ersehen wir denn auch gleichzeitig aus diesem allem, wie ohne eine fortdauernde Mitwirkung der gesammten Aussenwelt der von Uranfang an in unserem eigenen Wesensgrund mit eingeschlossene Zeitbegriff zwar an der Hand unserer eigenen innerlichen Lebensvorgänge sich mehr und mehr zu entwickeln das Vermögen besitzt, aber dessenungeachtet doch nicht im Stande ist, bis zu einem so u m f a s s e n d e n Z e i t b e w u s s t s e y n sich zu erheben, um als ein wirkliches P r ü f u n g s m i t t e l überhaupt für alle Zeitverhältnisse in und a u s s e r u n s in Wahrheit dienen zu können. Wer ruhig in sich selber dahinlebt, ohne sich viel um äussere Welthändel zu bekümmern, der wird an und in sich selber, d. h. an seinem eigenen persönlichen Ich und Selbst, es kaum gewahr,, wie er allmählich aus der Vergangenheit in die Zukunft vorr ü c k t . Seine Lebensdauer fliefst für ihn dahin wie eine sich stets gleichbleibende Gegenwart von ungestörter Ausdehnung, und er kann in Wahrheit von sich sagen, „ich weiss nicht, wie alt ich bin." Denn an sich selber hat er es kaum wahrgenommen, wie er mit jedem Tag älter und älter geworden ist. Erst wenn er seine äussere Leiblichkeit anschaut und an dieser, als an einem seinem wahren Ich und Selbst eigentlich fremden Gegenstand, nun die V e r ä n d e r u n g e n wahrnimmt, welche die Zeit an derselben bewirkt hat; oder wenn er Andere, die mit ihm gleichen Alters sind, allmählich zu Greisen

Kaum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

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werden sieht: erst dadurch wird er, von aussen her darauf aufmerksam gemacht, nunmehr auch an sich s e l b e r es gewahr, dass die Z e i t auch an ihm ihr unveräusserliches Recht bewährt hat, d. h. dass auch er trotz allem scheinbaren Stillstandes wirklich ä l t e r geworden ist. Es ist dies ein ganz ähnliches Verhältniss im Menschenleben, wie dasjenige, welches für unsere sinnliche Anschauung in der Körperwelt sich darbietet hinsichtlich der ununterbrochenen Bewegung unserer Erde um die Sonne. Ungeachtet des ungeheueren Raumes, den wir in Gemeinschaft mit unserem Erdkörper selbst im kleinsten Zeittheil mit kaum vorstellbarer Geschwindigkeit im Weltraum zurücklegen, werden wir doch an uns selber auch nicht das Allergeringste von eben dieser Raum- und Zeitbewegung gewahr, sondern es scheint uns im Gegentheil, als ob nur die Sonne und die übrigen Himmelskörper es seyen, welche in langsam-stetigem Laufe um die in scheinbar fester Ruhe unbeweglich verharrende Erde ihre Bahnen beschreiben. Und ganz die ähnliche Sinnestäuschung findet statt für den, der in der Gondel eines in freier Luft dahinschwebenden Luftschiffes sich durch die Winde dahintragen lässt. So rasch er auch in seiner Gondel dahinfahren mag: in dem Schwerpunkt seines Schiffchens wird er von dieser ganzen Fortbewegung auch nicht das Geringste gewahr. Er glaubt sich unverändert an derselben und gleichen Stelle wie festgebannt verweilend, unterdess die weite Oberfläche der Erde mit all ihren Feldern und Wäldern und Wiesen, mit ihren Dörfern und Städten mit bald grösserer bald geringerer Eile oder in bald grösserer oder geringerer Entfernung unter ihm von vorn nach hinten sich fortzubewegen scheint. Alles dieses weist uns aber darauf hin, wie unter allen Verhältnissen weit m e h r d i e j e n i g e n V e r ä n d e r u n g e n es sind, welche wir an u n s e r e r ä u s s e r e n U m g e b u n g und überhaupt am G r o s s e n und G a n z e n u n s e r e r A u s s e n w e l t gewahren, dadurch der uns angeborene Zeitbegriff zu einem wirklich klaren und deutlichen B e w u s s t s e y n

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

für uns gelangt, als solches durch alle jene Veränderungen zu geschehen pflegt, welche wir allein nur durch eigene Selbstbeobachtung thatsächlich an uns, d. h. in unserem eigenen innerlichen Ich und Selbst wahrzunehmen Gelegenheit haben. Denn selbst die für uns wahrnehmbaren Veränderungen, welche unter der Einwirkung äusserlich-zeitlicher Verhältnisse fortwährend an und in unserer eigenen äusseren L e i b l i c h k e i t vor sich gehen, gehören, wie gesagt, in Bezug auf unser eigentliches Ich und Selbst im Grunde ja ebenfalls bereits zu unserer persönlichen A u s s e n w e l t , so innig sie sich auch mit demselben zeitweilig verbunden zeigen. Was konnte unter solchen Umständen und Verhältnissen für den denkenden Menschengeist nun aber von jeher nothwendiger erscheinen, als sich n a c h i r g e n d einem Z e i t m a a s s umzusehen, dessen r e g e l m ä s s i g e r , g l e i c h m ä s s i g e r Verlauf geeignet erscheine, auch selbst für die mannigfachen ungleichmässigen, d. h. bald schnelleren und bald langsameren Bewegungen und Veränderungen sammt allen ihren so verschiedenen Geschwindigkeitsverhältnissen als ein z u v e r l ä s s i g e s e i n h e i t l i c h e s D a u e r m a a s s zu dienen, gleichviel ob wir diese Verschiedenheiten in und an unserem eigenen persönlichen I c h und S e l b s t oder in und an unserer ä u s s e r e n L e i b l i c h k e i t , oder von der ganzen uns umgebenden A u s s e n w e l t und deren Einzeldingen wahrnehmen. Wo konnte der menschliche Geist dies alles aber wohl eher und sicherer zu finden hoffen, als in jenen, scheinbar völlig gleichmässigen Bewegungen, in welchen nun schon seit Jahrtausenden unsere Erde sowohl ihre t ä g lichen U m d r e h u n g e n um i h r e A x e wie ihre j ä h r l i c h e n U m l ä u f e um die Sonne bewerkstelligt, ohne dass die genauesten Beobachtungen an eben diesen Bewegungen bis jetzt irgend welche wesentlichen Veränderungen hätten nachweisen können. Und so sind denn auch bekanntlich schon seit den ältesten Zeiten unsere i r d i s c h e n J a h r e , M o n a t e und T a g e es gewesen, deren man sich als n a t ü r l i c h e Z e i t m a a s s e oder

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Z e i t e i n h e i t e n bediente, um nicht nur alle sonstigen Himmelsbewegungen, die unserer Beobachtung zugänglich sind, sondern alle n a t ü r l i c h e n Z e i t v e r h ä l t n i s s e überhaupt in Bezug auf deren wechselseitige Dauer v e r g l e i c h e n d e n M a a s s b e s t i m m u n g e n zu unterwerfen. Wie diese unsere irdischhimmlischen Bewegungsverhältnisse nun aber es gewesen sind, welche die natürlichen Grundlagen für alle unsere Zeiteinteilungen nach Jahren, Monaten und Tagen bildeten: so haben, in gleichem Geiste fortfahrend, unsere k ü n s t l i c h e n U h r e n es übernommen, f ü r noch k l e i n e r e Maassbestimmungen an unsere irdischen Tage auch noch eine weitere k ü n s t l i c h e Z e i t e i n t e i l u n g nach S t u n d e n , M i n u t e n und S e k u n d e n hinzuzufügen. Schon die ganze äussere Gestalt unserer gewöhnlichen künstlichen Uhren mit den vollkommen gleichmässigen Umdrehungen ihrer Zeiger um den Mittelpunkt des Zifferblattes, sowie die vollkommen gleichmässige Eintheilung des Umkreises dieses Letzteren nach halben und Viertel Stunden, nach Minuten und nach Sekunden: dies alles zeigt sich geeignet, uns als ein Sinnbild eben jener Bewegungen der in unserem Sonnengebiet befindlichen Himmelskörper um den gemeinsamen Sonnenkörper zu dienen. Aber zugleich kann auch die erwähnte vollkommene G l e i c h m ä s s i g k e i t a l l e r auf einer solchen Uhr befindlichen Zeiteintheilungen, sowie die ebenso vollkommene Gleichmässigkeit in den Umdrehungen der Zeiger um den Mittelpunkt der Uhr uns darauf hinweisen, wie bei allen und jeden Zeitmessungen ohne Ausnahme die vollkommenste G l e i c h m ä s i g k e i t a l l e r e i n z e l n e n M a a s s g r ö s s e n u n t e r sich es ist, worauf es vor allem Anderen ankommt, dass die mit solchen Zeitmessern auszuführenden Zeitmessungen auch in einer wirklich zweckentsprechenden Weise vor sich gehen. Denn nur allein durch vollkommen G l e i c h m ä s s i g e s vermag überhaupt an sich U n g l e i c h m ä s s i g e s wirklich und vollgültig g e m e s s e n und auf seine, gleichviel ob räumliche oder ob zeitliche Ausdehnung

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

vollkommen richtig b e s t i m m t zu werden. Nun hat aber eine genauere Beobachtung der Vorgänge am Sternenhimmel schon seit Langem dargethan, dass alle jene himmlischen Bewegungen, auf welche unsere Zeitmessung nach Jahren, Monaten und Tagen sich gründet, in der Wirklichkeit keineswegs mit der unbedingten Gleichmässigkeit vor sich gehen, wie dies bei einer bloss allgemeineren Betrachtung den Anschein hat. So ist es z. B. bekannt, dass Himmelskörper unseres Sonnengebietes, und also auch unsere Erde, jemehr sie sich bei ihren Umläufen um die Sonne dem in dem einen Brennpunkt ihrer ellipsenförmigen d. i. nicht wirklich kreis- sondern mehr eiförmigen Bahnen befindlichen Sonnenkörper sich n ä h e r n , auch mit um so g r ö s s e r e r Ges c h w i n d i g k e i t ihren Weg um die Sonne zurücklegen; dass sie dagegen, je mehr sie sich wieder von derselben e n t f e r n e n , in ihrer Geschwindigkeit bis zu dem Punkt in ihrer Bahn n a c h l a s s e n , in welchem sie am weitesten von der Sonne e n t f e r n t sind, und so fort. Da jedoch alle diese nicht zu verkennenden Ungleichheiten in den Bewegungen durchgehends auf ganz bestimmte N a t u r g e s e t z e derart sich gründen, dass sie auf die ganze Zeitdauer der einzelnen Jahresumläufe in sofern keinen Einfluss üben, als für jeden einzelnen dieser Himmelskörper unseres Sonnengebietes sowohl die L ä n g e der U m l a u f b a h n wie die D a u e r d e r ü m l a u f z e i t für alle Jahresumläufe wesentlich d i e s e l b e n bleiben: so ist hieraus ersichtlich, dass eben hierdurch für die menschliche Wissenschaft ein sehr werthvolles natürliches Mittel dazu geboten ist, für alle derartigen u n g l e i c h m ä s s i g v e r l a u f e n d e n Z e i t - und R a u m v e r h ä l t n i s s e ein v o l l k o m m e n g e i c h m ä s s i g e s und a l l g e m e i n g ü l t i g e s M i t t e l m a a s s zu berechnen und aufzustellen, in welchem wir ein vollgültiges e i n h e i t l i c h e s Z e i t m a a s s besitzen zur Prüfung, Bestimmung und vollgültigen Feststellung a l l e r und j e d e r z e i t l i c h e n D a u e r v e r h ä l t n i s s e ohne Ausnahme, welche wir überhaupt einer solchen Prüfung, Bestimmung und Feststellung unterwerfen wollen. Diese k ü n s t l i c h - n a t ü r l i c h e M i t t e l z e i t ,

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

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wie wir solche, mit Hülfe unserer künstlichen Uhren und deren ebenso gleichmässigen Verlaufes, nach Stunden, Minuten, Sekunden u. s. w. anzugeben pflegen, dient bekanntlich dazu, nicht nur alle Bewegungen im Himmelsraum, selbst bis in dessen weiteste Entfernungen, in Bezug auf deren zeitliche Dauer auf das genaueste zu bestimmen, ja selbst im Voraus schon zu berechnen: sie zeigt sich auch ebenso geeignet zur Feststellung der Geschwindigkeit des Blutumlaufes in unseren Adern, wie der beschleunigten oder verzögerten Thätigkeit unserer Athmungwerkzeuge. J a selbst die unserem Bewusstseyn meist sich völlig entziehende Dauer unseres Schlafes oder sonstiger bewusstlos an uns vorübergehender Wesenszustände vermögen wir mit Hülfe der gleichen künstlichen Uhren ebenfalls auf das genaueste zu bestimmen. Und eben diese e i n h e i t l i c h e n M a a s s v e r h ä l t n i s s e , dadurch wir in den Stand gesetzt sind, a l l e Vorgänge im g e s a m m t e n W e l t r a u m , soweit sie unserer sinnlichen Beobachtung zugänglich sind, in Bezug auf ihre zeitliche Dauer auf das Genaueste mit den Vorgängen in unseren eigenen irdischen Verhältnissen zu vergleichen: sie sind es denn auch, welche von Seiten der Wissenschaft bekanntlich als die a s t r o n o m i s c h e Z e i t , d. h. als die allgemeine Welt-, H i m m e l s - oder S t e r n e n z e i t pflegen bezeichnet zu werden. Wie daher von Seiten der Wissenschaft vielfach ein einheitlicher allgemeiner, das ganze Weltall umfassender „ W e l t r a u m " pflegt eingenommen zu werden, in welchen alles Vorhandene gleichsam wie in einen grossen, in sich aber leeren räumlichen Behälter scheint h i n e i n g e s t e l l t zu seyn: ganz ähnlich verhält es sich in dieser Beziehung auch mit der eben besprochenen allgemeinen „ W e l t z e i t " , als einer gewissermaassen ebenfalls einheitlichen Leere, in welcher scheinbar alle die mannigfachen Bewegungen und Veränderungen, welche wir an den in diese räumlich-zeitliche Leere vermeintlich nur so hineingestellten Dingen wahrzunehmen die Gelegenheit haben, in unausgesetzter zeitlicher Aufeinanderfolge vor sich gehen.

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

Davon aber, dass nur allein die an und in sich selber ihrer gesammten eigenen inneren Natur nach räumlich-zeitlichen Dinge und Wesen dieser Welt es sind, durch deren G e s a m m t h e i t eben jener Eine allgemeine Weltraum und diese Eine allgemeine Weltzeit gemeinschaftlich erst gebildet sind und auch nur allein gebildet seyn können: davon ist bei jener Vorstellung eines allgemeinen einheitlichen Weltraumes und einer ebensolchen Weltzeit meist völlig a b g e s e h e n . Und auf eben diesen Verhältnissen beruht es denn auch, dass, wenn wir ganz im Allgemeinen nur von „dem R a u m " oder von „ d e r Z e i t " sprechen, es meist nur jener allgemein gedachte W e l t r a u m und diese ebenso allgemein gedachte Welt zeit sind, welche darunter verstanden werden. Ganz ähnlich aber, wie es sich in diesen Beziehungen mit den beiden Begriffen von Weltraum und von Weltzeit verhält: ganz ähnlich verhält es sich auch mit denen von „ W e l t d a u e r " und von „ W e l t z e i t " . Sprechen wir von W e l t d a u e r , so haben wir nur den A n f a n g und das E n d e derselben vor Augen, sowie die zwischen diesen beiden eingeschlossene Z e i t l ä n g e , ohne dabei jedoch in irgend einer Weise auf die Weltbegebenheiten, die innerhalb eben dieser Zeitlänge vor sich gehen, irgendwie Rücksicht zu nehmen, ähnlich wie wir ja auch bei dem Begriff des Weltraumes nur den Umfang im Auge haben, der allem Vorhandenen in seiner Gesammtheit zukommt, nicht aber auch den der vorhandenen Einzeldinge selber. Sprechen wir aber von einer allgemeinen W e l t z e i t , so denken wir dabei gleichzeitig an den ganzen Weltv e r l a u f und die gesammte W e l t e n t w i c k e l u n g sammt allem dem, was in Folge und während desselben innerhalb dieses grossen Zeitganzen als allgemeine Weltgeschichte vor sich geht, und zwar gleichzeitig ebensowohl in der Körper- wie in der Seelen- und Geisterwelt. Schon die nahe Beziehung, in welcher die Worte „ W e l t z e i t " und „ Z e i t g e i s t " zu einander stehen, weisen uns auf das Ebengesagte hin. In

eben diesem

Sinn sagt bereits Aristoteles,

dass

Kaum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdasevns.

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Einige die Ansicht aussprächen, „die Z e i t sey die Bewegung des G e s a m m t e n " (ARISTOTELES, Phys. S. 203). Und in gleicher Weise sprechen auch die arabischen Lauteren Brüder sich aus. „Die Z e i t — sagen sie — bedeutet bei den Meisten das V o r ü b e r g e h e n von Jahren, Monaten, Tagen, Stunden. Auch sagt man, sie sey die Z a h l d e r B e w e g u n g e n d e s H i m m e l s k r e i s e s ; oder auch, sie sey eine D a u e r , welche durch die Bewegungen des Himmelsrundes in Zahlen bestimmt werde. Auch glaubt man, die Zeit gehöre ganz und gar n i c h t zum wirklich Bestehenden, wenn man sie in dieser Weise auffasst. So ist die Zeit nichts als die S u m m e von Jahren, Monaten, Tagen, Stunden, deren Vorstellung (Form) in der Seele des Beschauenden durch die ewige (d. h. die stetige) Wiederkehr von T a g u n d N a c h t rings um die Erde statt hat." — (DITEBICI, Naturanschauung d. Araber S. 14—IG.) Ahnlich sagt Suarez, „dass es nur eine e i n z i g e Z e i t in der Welt gibt, welche den eigentlichen Begriff eines ä u s s e r l i c h e n M a a s s e s hat, und dass diese in der Bewegung des Himmels ist. Dies — fügt er hinzu — ist die Meinung des ARISTOTELES. Bei diesem ist die Unterscheidung häufig, die Zeit werde gewöhnlich d o p p e l t genommen, einmal u n b e d i n g t (absolut) als die i n n e r e D a u e r d e r B e w e g u n g , und so würden die Zeiten v e r v i e l f ä l t i g t g l e i c h wie die Bew e g u n g e n . Auf andere Weise aber wird sie genommen als das ä u s s e r e und g e m e i n s a m e M a a s s aller anderen Bewegungen, welches theils von N a t u r sozusagen fundamentaler oder anfangender Weise besteht, theils d u r c h den V e r s t a n d g e t h e i l t u n d z u m M e s s e n b e q u e m gemacht ist; und auf diese Weise sey nur E i n e Z e i t und diese Zeit sey in der B e w e g u n g des H i m m e l s . " — (BAUMANN, Raum und Zeit I . S. 49.) Descartes sagt: „Um die D a u e r a l l e r D i n g e d u r c h ein u n d d a s s e l b e M a a s s zu m e s s e n , bedienen wir uns in der Regel der Dauer gewisser r e g e l m ä s s i g e r Bew e g u n g e n , von denen die Tage und die Jahre abhängen, und

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

nennen diese (als Maass dienende regelmässige Bewegungsdauer) Z e i t ; obwohl das, was wir so nennen, in der That a u s s e r der wirklichen Dauer der Dinge (und ohne dieselben) n i c h t s A n d e r e s ist als eine blosse Art und Weise, sich die Sache geistig vorzustellen (une façon de penser)." (DESCARTES, S. 300 No. 37.) Locke, nachdem er eingehend die Unzulänglichkeit des Begriffes der persönlichen Zeit für zeitliche Maassbestimmungen überhaupt besprochen hat, fährt weiterhin also fort: „Nachdem wir so den Begriff der D a u e r gefunden haben, ist das Nächste, ein M a a s s dieser gemeinsamen Dauer zu finden, durch welches der Geist über ihre verschiedene Länge urtheilen kann. Diese Betrachtung der Dauer als abgesteckt nach gewissen Zeiträumen oder Zeitabschnitten (Perioden) und gekennzeichnet durch gewisse Maasse oder Zeitrechnungen (Epochen) ist, denke ich, das, was wir eigentlich » Z e i t « nennen. Die t ä g l i c h e n und j ä h r l i c h e n U m d r e h u n g e n der S o n n e , die von Anfang der Natur an beständig (constant) und regelmässig gewesen sind, und als einander gleich angenommen wurden, sind mit gutem Grund als ein solches M a a s s der D a u e r gebraucht worden." — (LOCKE, S. 307, No. 17. S. 313, No. 24. N e w t o n spricht sich folgendermassen aus: „Die u n b e d i n g t e (absolute), w a h r e und m a t h e m a t i s c h e Z e i t fliesst in sich und ihrer Natur nach ohne Bezugnahme (Relation) auf etwas Äusseres g l e i c h m ä s s i g und wird mit anderem Namen D a u e r genannt. Die sich auf d a s Ä u s s e r e b e z i e h e n d e (relative), e r s c h e i n e n d e und gew ö h n l i c h e (vulgäre) Z e i t ist das sinnlich wahrnehmbare ä u s s e r e M a a s s der Dauer durch die Bewegung — sey es nun ein genaues oder ungleichmässiges Maass —, welches der grosse Haufe statt der w a h r e n Z e i t gebraucht, z. B. Stunde, Tag, Monat, Jahr. Die u n b e d i n g t e Z e i t wird von der gew ö h n l i c h e n (relativen) unterschieden in der Himmelskunde (Astronomie) durch G l e i c h m a c h u n g (Aequativ) der Zeit des grossen Haufens. Ungleich nehmlich sind die natürlichen

Raum und Zeit in Bezug auf die Gresammtheit alles Naturdaseyns. 3 8 5

Tage, welche gewöhnlich, als wären sie gleich, für das Maass der Zeit gehalten werden. Diese Ungleichheit verbessern (corrigiren) die Sternkundigen (Astronomen), wie aus der wahren Zeit die Himmelsbewegungen. Es ist möglich, dass es keine gleichmässige Zeit gibt, durch welche die Zeit genau könnte gemessen werden. Alle Bewegungen können beschleunigt oder verzögert werden, aber der F l u s s der u n b e d i n g t e n Z e i t kann n i c h t verändert werden. Die Dauer oder Beharrlichkeit des Bestehens (der Existenz) ist die nehmliche, mögen die Bewegungen schnell seyn oder langsam oder gar nicht seyn; dennoch würde sie von ihren sinnlich-wahrnehmbaren M a a s s e n (d. i. der gewöhnlichen Zeit) mit Recht unterschieden und aus denselben erschlossen durch die sternkundliche (astronomische) Grleichmachung." Zu dieser Darlegung NEWTON'S macht nun Baumann folgende Bemerkungen: „Wenn NEWTON, wie es scheint, die sternkundlich (astronomisch) b e r i c h t i g t e Z e i t , z. B. der Sterntag, noch nicht völlig genügt zur unbedingten (absoluten) Zeit, so kann er mit dem, was er Dauer oder Beharrlichkeit der Dinge nennt, welche immer die nehmliche sey, nicht wohl etwas anderes meinen als ein aus der persönlichen oder der sternkundlichen (der psychologischen oder der astronomischen) Zeit in Gedanken entworfenes geistiges (ideales) B i l d , welches indess ohne alle wirkliche (reale) d. h. zum genauen Messen taugliche Anwendung wäre, wenn nicht die b e r i c h t i g t e Z e i t der S t e r n k u n d e seine Stelle vertreten könnte, wesshalb auch in der Schlussbemerkung diese wiederkehrte. Was er also thatsächlich bietet, ist die Z e i t d e r S t e r n k u n d e (astronomische Zeit) mit der U n t e r s c h e i d u n g in die g e w ö h n l i c h e und w i s s e n s c h a f t l i c h e Zeit." — (BAUMANN, Raum u. Zeit, S. 484. 485. L e i b n i t z sagt: „Nicht die Bewegung, sondern eine beständige F o l g e von V o r s t e l l u n g e n ist es, was uns die Vorstellung der D a u e r gibt. Eine Folge von Empfindungen e r w e c k t in uns die Vorstellung der Dauer; allein sie m a c h t sie n i c h t . Unsere Wandersmann. II.

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Kaum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

Empfindungen haben niemals eine hinlänglich beständige und regelmässige Folge, um der Zeit zu entsprechen, welche ein g l e i c h f ö r m i g e s und e i n f a c h e s Stetiges (Continuum) ist, wie eine gerade Linie. Die Veränderung der Empfindungen gibt uns Gelegenheit an die Zeit zu denken, und man m i s s t sie durch g l e i c h f ö r m i g e V e r ä n d e r u n g e n . Denn wenn man die Regeln der ungleichförmigen Bewegung kennt, so kann man sie immer auf gleichförmige, verständliche Bewegung zurückführen und durch dies Mittel voraussehen, was durch die verschiedenen zusammengesetzten Bewegungen geschehen würde. Und in d i e s e m S i n n ist die Z e i t das M a a s s der Bewegung, d. h. d i e g l e i c h f ö r m i g e B e w e g u n g ist das M a a s s der u n g l e i c h f ö r m i g e n Bewegung."—(LEIBNITZ, S.241). j.G. Fichte sagt: „Die eigene, (d. i. innerlich-persönliche) Zeit des Ichs ist n i c h t die a l l g e m e i n e Z e i t , n i c h t das Leben des E i n e n W e l t a l l s (Universums) und der Verlauf der Begebenheiten in ihm: eine Ansicht, zu der das Ich erst von s e i n e r Zeit aus und nur durch Absehen (Abstraction) von dieser sich erheben kann." — Baumann spricht sich über diesen Punkt folgendermassen aus: „Wie ich mein Daseyn e m p f i n d e und gewiss habe, so e m p f i n d e ich auch die Fortdauer desselben und habe sie gewiss, und bilde mir Begriffe (Ideen) von beiden, von Daseyn und von Dauer, für m i c h und für A n d e r e s ; und diesen persönlichen (subjectiven) Begriff von Dauer suche ich festzustellen (zu fixiren) und zu bestimmen mit Hülfe von äusseren Haltpunkten, was dann den verwickelten (complicirten) Begriff der Z e i t ergibt. — Die g e w ö h n l i c h e Z e i t ist die Zeitvorstellung als a n g e k n ü p f t an u n s e r I c h und verglichen mit den r e g e l m ä s s i g e n in der Natur vorkommenden Veränderungen." Und weiterhin sagt er: „Die z w e i t e Z e i t v o r s t e l l u n g neben der bloss persönlichen (psychologischen) ist die g e w ö h n l i c h e des t ä g l i c h e n (praktischen) L e b e n s , d. h. die im Verkehr mit der Welt der äusseren Erscheinungen gebildete. Dass diese noch verschieden ist von der bloss

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

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persönlichen (oder bloss psychologischen, d. i. rein innerlichen), ist ein Beweis mehr für die Wirklichkeit (Realität) der äusseren Dinge und derjenigen Grundverhältnisse (Elemente) in ihnen, auf welchen dieser zweite Zeitbegriff beruht. Diese Zeit ist uns gegeben an u n s e r e m L e i b e und seiner natürlichen Beschaffenheit und Wechselwirkung mit den ä u s s e r e n D i n g e n . Das Erste darin ist der W e c h s e l von T a g und N a c h t , welcher seinen Ausdruck in unserem Geistesleben findet im W a c h e n und S c h l a f , d. h. im Zustand des b e w u s s t e n L e b e n s und der B e w u s s t l o s i g k e i t , aus der wir immer wieder erwachen. In unserem wachen Leben machen wir bald die Erfahrung, dass,' während wir eine Menge von Vorstellungen bilden, das eine Mal mehr, das andere Mal weniger Bewegungen oder Veränderungen in der äusseren Natur vor sich gehen, welche von wesentlichem Einfluss auf unser Vorstellungsleben durch den Leib und die Sinne sind, Bewegungen und Veränderungen, die uns als Vorstellungen zugleich und nacheinander in einer bestimmten Weise zum Bewusstseyn kommen, und deren Ordnung dieselbe bleibt und von uns aus nicht verändert werden kann. Aus diesen Beobachtungen und Erwägungen bildet ^ich die g e w ö h n l i c h e Z e i t , welche ist die, durch bestimmte von aussen gegebene Naturereignisse in uns hervorgerufene Aufeinanderfolge von Vorstellungen im weiteren Sinn, eine Aufeinanderfolge, welche wegen ihrer grösseren Regelmässigkeit und Gleichförmigkeit, wenn verglichen mit unserem freien Vorstellungsleben, und als die Z e i t v o r s t e l l u n g in uns erregend, zum B e s t i m m e n d e r Z e i t s e l b e r , welche zunächst eine bloss i n n e r e Erfahrung ist, gebraucht wird, und zwar so sehr, dass wir u n s e r g a n z e s L e b e n , unser Ich, als denkendes und thätiges, alles Geistige und alles Leibliche in uns an diese Z e i t v o r s t e l l u n g halten. — So bilden wir uns die g e w ö h n l i c h e Z e i t v o r s t e l l u n g , die gem i s c h t ist aus bloss p e r s ö n l i c h - i n n e r l i c h e r (psychologischer) und p e r s ö n l i c h - ä u s s e r l i c h e r (psychologisch-astrono25*

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

mischer) Zeit im weiteren Sinn: eine noch sehr u n v o l l k o m mene Z e i t , d. h. eine nur im Grossen und Ganzen gleichmassige kommt da zu Stande, wenn man sich z. B. bloss an den Wechsel von Tag und Nacht hält, d. h. das Geistesleben als Eines fasst und den Schlaf als das Zweite, was regelmässig aufeinander folgt, und dann wieder z. B. die verschiedenen Jahreszeiten als grössere Abschnitte wählt. Notwendigkeit hat diese Zeitvorstellung nur innerhalb der gegebenen Wirklichkeit; das F e s t e , was wir in uns n i c h t finden, nehmen wir von d a , wo es sich leicht und natürlich bietet. W i r k l i c h k e i t (Realität) schreiben wir dieser Zeit zu, sofern die A u f e i n a n d e r f o l g e , aus der wir sie schöpfen, eine wirkliche (reale) und in der Wirklichkeit verursachte (real verursachte) ist. — Mit dieser so gewonnenen Zeit kann nun alles, was überhaupt der inneren persönlichen (psychologischen, Zeit unterliegt, verglichen oder n a c h ihr und m i t i h r b e s t i m m t werden. Daher entsteht schon hier der Anschein, als ob Alles in d i e s e r Z e i t sey, als ein T h e i l oder S t ü c k von i h r , während diese Zeit in Wahrheit weder auf rein innerer, noch auf rein äusserer Erfahrung beruht, sondern aus b e i d e n gebildet ist und schon etwas künstlich Gemachtes an sich trägt. Selbst der Ausdruck »Theil« ist ein sehr bildlicher, denn die Zeit ist nicht aus Augenblicken oder Zeittheilchen (aus Momenten) zusammengesetzt: wenn irgendwo, so ist bei der Z e i t das ununterbrochen Fortlaufende (das Continuirliche) ein Wesentliches in ihrem Begriff, und zwar das fortlaufende Ineinanderübergehen dessen, was als Augenblick in ihr empfunden wird. — Die l e t z t e A r t der Z e i t ist die, welche wir schlechtweg die a s t r o n o m i s c h e nennen. Diese schliesst sich an die zweite, die innerlich-äusserliche (psychologisch-astronomische) an und sucht sie zu vollkommenerer G e n a u i g k e i t (Exactheit) zu bringen durch wissenschaftliche Verwertung der H i m m e l sbewegungen. So entsteht die » S t e r n z e i t « der Himmelskundigen (der Astronomen), welche die Bestimmung der G l e i c h -

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

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f ö r m i g k e i t und R e g e l m ä s s i g k e i t aus der durch Beobachtung und Betrachtungen der vergleichenden Messkunde (mathematischen Betrachtungen) als unzweifelhaft angenommene Thatsache gewinnt, dass die Umdrehungszeit der Erde sich seit Jahrtausenden nicht merklich geändert hat. So entsteht der Ansatz des m i t t l e r e n S o n n e n t a g s im bürgerlichen Leben und der m i t t l e r e n S o n n e n z e i t in den Z e i t b e s t i m m u n g e n der Himmelskunde. Aus dieser allgemeinen Sternzeit (astronomischen Zeit) entsteht dann jenes G e d a n k e n b i l d (Idealbild) der Zeit, welches gemeinhin als » d i e Z e i t « schlechtweg angesetzt wird, indem man sich der Betrachtung des Ursprungs dieses Begriffs und seiner Ausbildung begab und das, was leicht geläufig und von der weitesten Anwendung war, als den e i g e n t l i c h e n Begriff dachte, von dem man ohne Weiteres bei der Betrachtung ausging: nur dass die Yernunftforscher (Philosophen) meist Anstoss daran nahmen, dies Gedankenbild (Idealbild) der Zeit als etwas a u s s e r u n s w i r k l i c h V o r h a n d e n e s zu setzen und es als etwas bloss E i n g e b i l d e t e s (ens imaginarium) bezeichneten." — (BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 388. II. S. 514. 520. 525. 663—667. Philos. S. 317. 322—325.

N o . 124. Der Zeitbegriff in der dreifachen Bedeutung von natürlicher Wesenssteigerung, Wesensentwickelung und Wesensvollendung. G l i s s o n , ein englischer Arzt und Naturforscher des 17. Jahrhunderts, nahm, in Ubereinstimmung mit älteren Piatonikern, eine natürliche V e r e d e l u n g der einzelnen Angehörigen des untersten, an sich noch rein stofflich-körperlichen Daseyns an, vermöge welcher denselben eine natürliche Befähigung zukommen soll, sich unter günstigen Umständen zum Rang auch des pflanzlichen und thierischen Lebens zu erheben. Die nöthigen Kräfte dazu sollen nach GLISSON in der inneren Natur jener nach einfachsten Körperwesen mit

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

enthalten liegen: sie harren nur ihrer E n t w i c k e l u n g (TIEDEMANN, Geist, d. spek. Philos. V. S. 612. 613). Wir haben bereits früher (I. § 6 und 7) darauf hingewiesen, wie allerdings eine gründlichere Erforschung und wissenschaftliche Vergleichung aller sowohl im Thier- wie im Pflanzenreiche vorkommenden Lebens- und Daseynsverhältnisse, je weiter wir von deren höchsten Ausgestaltungen herabsteigen zu immer niedriger und immer einfacher gestalteten und gearteten Angehörigen dieser beiden Naturreiche, uns immer mehr und mehr zurückführen auf eben jenes noch unterste Daseynsgebiet der noch ungestalteten Natur, als der noch allgemeinsten und einfachsten natürlichen G r u n d l a g e auch für alle die höheren und selbst höchsten Daseynsweisen. Allmähliche W e s e n s Veredelung auf dem Wege naturgesetzmässiger W e s e n s s t e i g e r u n g e n , W e s e n s e n t w i c k e l u n g e n und W e s e n s e n t f a l t u n g e n , sowie, als letztes Ziel aller Naturund Daseynsentwickelungen, eine schliesslich allgemeine N a t u r und W e l t v o l l e n d u n g in aller und jeder Beziehung bilden somit recht eigentlich den wahren I n h a l t alles wirklichen Z e i t b e g r i f f e s . Alle inneren wie äusseren körperlichen wie seelischen und geistigen Bewegungen, Veränderungen und Thätigkeiten, welche jener Begriff in sich einschliesst, zielen von Uranfang an darauf ab und streben im allgemeinen Verlauf der Zeit immer mehr nach der Verwirklichung eines solchen l e t z t e n Z i e l e s u n d h ö c h s t e n E n d z w e c k e s alles in dieser Welt vorhandenen wesenhaften Daseyns hin. Schon die einfachsten Beobachtungen der Natur stellen es klar vor Augen, wie kein Naturwesen, welchem Daseynsgebiet es angehören mag, sein g a n z e s innerliches Kraftmaass, seine g a n z e innere Kraftfülle sofort und auf einmal zu thatkräftiger Auswirkung gelangen zu lassen im Stande ist. Ein grosser Theil davon iegt erfahrungsgemäss oft während sehr langer Zeiträume nur als blosse B e f ä h i g u n g , als bloss keimartig schlummernde A n l a g e zu eigener Selbstbethätigung wie natürlich noch

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

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gebunden und gefesselt im innersten Wesensgrund der Dinge verborgen. Unfähig von sich allein aus auch nur die geringste Kunde ihres thatsächlichen Vorhandenseyns nach aussen hin gelangen zu lassen, harren sie gleichsam des Zeitpunktes, wo im unausgesetzten Wechsel aller äusserlich gegebenen Naturverhältnisse auch an sie solche fremde äussere Einflüsse und Krafteinwirkungen heranzutreten vermögen, welche naturgesetzmässig geeignet sind, bald diese bald jene bis dahin in ihm noch unthätig schlummernde Kraft zu wecken, ihrer bisherigen Fesseln zu entledigen und in solcher Weise zu eigener Kraftentfaltung zu veranlassen und zu befähigen. Immer weitergehende A u s w i r k u n g e n , A u s b i l d u n g e n und A u s g e s t a l t u n g e n bisher noch verborgener Naturkräfte, immer inhaltsreichere V e r ä n d e r u n g e n , U m w a n d l u n g e n und U m g e s t a l t u n g e n von bisherigen Daseynsweisen, sowie ein immer weiter gehendes und immer nachhaltigeres V e r a n l a s s e n E r z e u g e n und H e r v o r b r i n g e n von solchen äusseren Umständen und fördernden Gelegenheiten zu derartigen inneren wie äusseren Wesenssteigerungen, Wesensvervollkommnungen, Wesensveredelungen und Wesensvollendungen: dies alles sind die natürlichen Wege, auf welchen die gemeinsame Mutter Natur von Uranfang an ihre, ihr in den innersten Wesensgrundbegriffen der Dinge gesteckten höheren Ziele und Zwecke zu erreichen und zu verwirklichen von jeher sich bestrebt zeigt. Und eben hierin liegt denn auch die hohe Bedeutung und der allgemeine Sinn eben jenes nie stillstehenden natürlichen F l u s s e s s t e t i g e n W e r d e n s , jenes allgemeinen, stets wechselnden E n t s t e h e n s u n d V e r g e h e n s von immer neuen Daseynsweisen innerhalb des gesammten einheitlichen Naturverlaufes, welcher seiner Zeit bereits dem alten H e r a k l i t in der von ihm hinterlassenen Weltanschauung vor Augen geschwebt hat. S e l b s t s t e i g e r u n g , S e l b s t e n t w i c k e l u n g und S e l b s t v o l l e n d u n g des gesammten inneren Wesens aller in dieser Welt vorhandenen Einzeldinge nach der ganzen Fülle

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

ihres eigenen inneren Wesensgrundbegriffes, jedoch in steter Verbindung und Gemeinschaft mit dem allgemeinen und einheitlichen Naturverlauf: das sind die zauberhaften Selbstoffenbarungsweisen der Natur, dadurch diese ihren geistigen Angehörigen ihre geheimsten Wege zu eigener geistiger Benutzung und Verwerthung unausgesetzt vor Augen stellt. J e ungestörter durch äusserlich entgegentretende Hindernisse diese allmähliche innere wie äussere Wesensentwickelung des einzelnen Naturdaseyns in seiner bestimmten und regelmässigen Aufeinanderfolge immer neuer und vollkommen gesetzmässig eintretender Wesenszustände vor sich geht: eines um so grösseren innerlichen wie äusserlichen W o h l s e y n s und W o h l b e f i n d e n s werden die betreffenden Einzelwesen naturgemäss sich zu erfreuen haben. Aber um so naturwüchsiger und freier werden auch jene drei, als innerer N a t u r d r a n g , innerer N a t u r t r i e b und inneres N a t u r s t r e b e n begrifflich sich steigernden Wege sich zu äussern und zu bethätigen vermögen, auf welchen die Natur selbst ihre Angehörigen ihren höheren Daseynszielen entgegenzuführen trachtet. Denn innerliche K r a f t z u n a h m e (oder Wesenssteigerung), innere W e s e n s e n t w i c k e l u n g und umfangreichere W e s e n s v o l l e n d u n g müssen nothwendig als die immer deutlicher in die Erscheinung tretenden Erfolge eben jener verschiedenen Naturbestrebungen zu betrachten seyn. J e mehr die Pflanze in ihrem einheitlichen Entwickelungsgang an äusserem Umfang w ä c h s t und zunimmt, wenn ihr keine äusseren Hindernisse dabei entgegentreten, um so kräftiger wird sie auch ihrem gesammten inneren wie äusseren Wesen nach g e d e i h e n , und um so besser wird ihr auch in und mit ihrer heranreifenden Frucht die Verwirklichung ihres eigentlichen Daseynszweckes in entschiedener Weise ger a t h e n . Und ein ebensolches verwandtschaftliches, wo nicht gleiches Wechselverhältniss findet auch statt zwischen eben jenen drei bereits vorstehend erwähnten Vollendungsstufen von W e s e n s s t e i g e r u n g , W e s e n s e n t w i c k e l u n g und W e s e n s -

Eaum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

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Vollendung, die alles Naturdaseyn im Verlaufe seiner ihm zugemessenen eigenen inneren Zeitdauer allmählich zu durchlaufen die natürliche Bestimmung zeigt. Denn beide Begriffsreihen gehen in der Naturwirklichkeit Hand in Hand. Was in jener Begriffsreihe das W a c h s e n anzeigt, tritt hier als W e s e n s s t e i g e r u n g auf; was dort das G e d e i h e n anzeigt, das ist hier die W e s e n s e n t w i c k e l u n g ; was dort das G e r a t h e n , das ist hier die W e s e n s v o l l e n d u n g . Alles dies sind im Grunde nur begriffliche Umschreibungen einer und derselben allgemeinen Naturthatsache. Und bei eben dieser Gelegenheit müssen wir aber zugleich auch einer besonderen Eigentümlichkeit unserer Sprache gedenken, welche gerade für die Darlegung des uns gegenwärtig beschäftigenden Naturverhältnisses von einer nicht zu übersehenden begrifflichen Bedeutung sich darstellt. Zu dem Begriff der zeitlichen D a u e r besitzt unsere Sprache nehmlich ausserdem auch noch das diesem seinem Hauptwort in ganz regelrechter Weise nachgebildete Zeitwort „dauern". Ein Gleiches findet sich in Bezug auf den eigentlichen Z e i t b e g r i f f im Deutschen n i c h t vor: es gibt dafür kein dem Worte „Dauern" nachgebildetes und ihm in der äusseren Wortgestaltung entsprechendes Z e i t w o r t zu dem Hauptwort „Zeit". Denn „Zeiten", was in dieser Beziehung dem „dauern" entsprechen würde, ist unserer Sprache ganz und gar fremd. Dagegen gibt es, gleichsam als E r s a t z hierfür, zu dem Hauptwort „Zeit" ein in einer ganz veränderten Weise gestaltetes Z e i t w o r t , nehmlich das Wort „ z e i t i g e n " . Während im Zeitwort „dauern", dem Begriff der Dauer ganz entsprechend, keine Rücksicht genommen ist auf alles das, was als wirkliches G e s c h e h e n zwischen dem Anfang und Ende einer jeden Zeitdauer enthalten ist, liegt dagegen in dem Begriff des „Zeitigens", dem eigentlichen Zeitbegriff ebenfalls genau entsprechend, derjenige eines zwischen Anfang und Ende liegenden steten E n t w i c k e l u n g s g a n g e s und eines steten H i n s t r e b e n s nach einem bestimmten D a s e y n s - und

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

E n t w i c k e l u n g s z i e l unverkennbar mit eingeschlossen. Denn z e i t i g e n heisst r e i f werden, d. h. seinen eigentlichen Daseynszweck, ähnlich wie bei der Pflanze in ihrer reifen Frucht, auch wirklich e r r e i c h e n . Nach T i e d e m a n n bezeichnet W o l f ein e n d l i c h e s Ding als ein solches, welches n i c h t auf e i n m a l a l l e s i s t , was es seyn k a n n , das heisst: in dem nicht alles ihm M ö g l i c h e auch zugleich v e r w i r k l i c h t ist. Daher ist nach W O L F auch ein jedes e n d l i c h e Ding in sich v e r ä n d e r l i c h (TIEDEMANN, Geist, d. spek. Philos. VI. S. 533). Und eben darum muss auch ein jedes endliche Daseyn, um zu seiner wesenhaften Vollendung zu gelangen, den ihm in und mit seinem Wesen von der Natur selber vorgeschriebenen Entwickelungsgang vollständig durchlaufen, wenn es überhaupt zu dieser seiner allseitigen Wesensvollendung, als dem letzten Endziel seines Daseyns, gelangen soll: sein ganzer zeitlicher Lebenslauf muss bewusst oder unbewusst darauf hin gerichtet seyn. — Ahnlich sagt J a c o b i : „ V e r ä n d e r u n g und Z e i t bedingen sich gegenseitig. Wo nichts h e r v o r g e b r a c h t würde, nichts (Neues) fortgehend e n t s t ü n d e , nichts sich e n t w i c k e l t e , da würde auch keine Z e i t seyn. Und so wird mit vollem Recht behauptet, dass die Zeit f ü r sich und als b e s o n d e r e s Wesen betrachtet ein U n d i n g sey" (JACOBI I I I . S. 4 0 8 ) . S u a b e d i s s e n sagt: „Das unfreie Wirken, betrachtet in der Beziehung auf das Werden und dessen Fortgang als sein Grund, ist T r i e b genannt worden. Befasset unter dem Verhältniss von Ursache und von Wirkung, wird also der Trieb als N a t u r u r s a c h e , sein Erfolg als N a t u r w i r k u n g und, wiefern derselbe das Ziel des Triebes ist, als N a t u r z w e c k begriffen. Der Fortgang des Werdens und Daseyns in einer steten Folge mit einander verbundener Zustände, zufolge des steten unfreien Wirkens, heisst der N a t u r v e r l a u f . Auch wird der Trieb selbst N a t u r genannt, nehmlich die i n n e r e , w i r k e n d e : der Inbegriff seines Erfolges ist die ä u s s e r e , die d a s e y e n d e N a t u r . Das gilt

Raum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns. 3 9 5

von einem j e d e n besonderen Naturding: seine Natur ist sein Trieb und was daraus hervorgeht. Es ergibt sich (hieraus) zugleich der Begriff eines N a t u r g e s e t z e s : es ist eine n o t wendige Weise des W e r d e n s und des D a s e y n s , als der S e y n s e n t w i c k e l u n g . Es ist eigentlich der Begriff der N a t u r selbst, und enthält zunächst in sich die beiden folgenden Gesetze: 1) Alles in der Natur ist im W e r d e n , und 2) in allem Werden ist ein Seyn. Jenes stellt sich dar als das Gesetz der V e r ä n d e r u n g und hat dann folgenden Ausdruck: „ A l l e s i n de-r N a t u r ist in f o r t w ä h r e n d e r V e r ä n d e r u n g beg r i f f e n . " Dieses als das Gesetz der B e h a r r l i c h k e i t heisst dann: „In a l l e r V e r ä n d e r u n g b e h a r r t das Seyn." Der äussere (formale) Ausdruck des Gesetzes des W e r d e n s als des G r u n d g e s e t z e s der Natur, ist das Gesetz der S t e t i g k e i t , und mit ihm das Gesetz der Z e i t l i c h k e i t und R ä u m l i c h k e i t a l l e s W e r d e n s und D a s e y n s in der Natur" (SUABEDISSEN, Methaph. S. 31. 32). Auch in dieser Darlegung liegt der Begriff der S e y n s - und W e s e n s e n t w i c k e l u n g , und darin mit eingeschlossen also auch der Begriff der Seyns- und Wesensv o l l e n d u n g als des letzten Zweckes und Zieles alles und jeden Naturdaseyns in seiner ganzen Ausdehnung anerkannt, und zwar als eines von Uranfang an in der Natur eines jeden Einzeldinges und Einzelwesens innerlich begründeten und ein für allemal feststehenden Naturgesetzes. — Desgleichen sagt J. G. Fichte mit ebenfalls unverkennbarer Beziehung auf die uns eben beschäftigenden Verhältnisse: „Die Kraft des I c h äussert sich nur in einer bestimmten Z e i t r e i h e , bestimmt nehmlich durch das Grundgepräge (den Grundcharakter) der Zeit, nur eine einseitig bedingende Reihe von Thatsachen (Momenten) zuzulassen. Offenbar ist jede neue Thatsache (Moment) ein neuer, vorher durchaus nicht gekannter Ausdruck (Charakter) der bestimmten Kraft; die Kraft, als eine bestimmte, kommt daher nur im Verlaufe der Zeit zum Bewusstseyn, immer mehr und immer klarer; und ganz k l a r

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

(d. h. nach ihrem vollkommenen Entwickelungszustand) würde sie nur erkannt werden durch die Vollendung einer unendlichen Zeit, welches in Wirklichkeit (real) unmöglich ist, hier aber sinnbildlich (schematisch) wohl gedacht werden kann. Der Inhalt aller Augenblicke (Momente) der Lebensdauer ist sonach bestimmt durch die G r u n d e i g e n t h ü m l i c h k e i t (den Grundcharakter) der (einem jeden Daseyn in sich zu Grunde liegenden) Kraft" (J. G. FICHTE II. 126. 127. „Was nicht alles wirklich ist, was es seyn k a n n — sagt S c h e l l i n g — ist nothwendig unvollkommen, sowie dagegen das, was alles i s t , was es seyn kann, vollkommen ist; denn was vollkommen ist, kann nichts (mehr) werden, eben weil es alles ist (was es seyn kann). Das endliche Ding, weil es niemals ganz ist, was es dem Wesen nach seyn könnte, ist nothwendig dadurch dem W e r d e n , der Verwandlung, und damit auch der Zeit unterworfen." Und an einem andern Ort: „Die Dinge sind insofern in der Zeit, als sie nicht alles in der That und auf einmal, was sie dem Begriff nach seyn könnten" (und also auch ihrem Grundbegriff nach mit der Zeit noch werden sollen). Denn „das jetzt E n t s t e h e n d e — sagt er an einem früheren Ort — ist nur eine (andere) Bestimmung des Beharrenden, (d. i. des Wesens), nicht das Beharrende selbst, welches immer dasselbe ist. Das was verging, war also auch nicht das Beharrende selbst, sondern auch nur eine (besondere) Bestimmung desselben Beharrenden" (SCHELLING VI. S. 86. 275. III. 2 7 3 ) . So sagt auch H e g e l : „Nicht in der Zeit entsteht und vorgeht alles, sondern die Zeit ist selbst dies W e r d e n , E n t s t e h e n und Vergehen. Nur das N a t ü r l i c h e ist der Zeit unterthan, insofern es endlich ist. Denn die Zeit ist nicht gleichsam ein Behälter, worin alles wie in einem Strom gestellt ist, der fliesst und von dem es fortgerissen und heruntergerissen wird. Weil die Dinge endlich sind, darum sind sie in der Zeit: nicht weil sie in der Zeit sind, darum gehen sie unter; sondern die Dinge selbst sind

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d a s Z e i t l i c h e . Der E n t w i c k e l u n g s g a n g (Proce3s) der wirklichen Dinge selbst macht also die Zeit. Der Begriff der Zeit ist somit der des W e r d e n s , als der E i n h e i t des Seyns und des N i c h t s (oder vielmehr des N o c h - n i c h t - S e y n s von Etwas, das in dem betreffenden Ding sich noch mit der Zeit hervorbilden und hervorentwickeln soll)" ( H E G E L VII 1 . 54. 55. 60). Und ähnlich spricht K. P. Fischer sich dahin aus, „dass, da aus Nichts nichts wird, alles W e r d e n als nothwendiges Geschehen ein Se'ynkönnendes voraussetzt, welches durch jenes Werden in's gewordene bestimmte Seyn oder in das D a s e y n übergeht, und dass die E n t w i c k e l u n g der b e s o n d e r e n A r t d e s L e b e n s (des specifischen Lebens) durch eine i n n e r e Anl a g e begründet ist. Sofern nun aber die natürlichen Dinge und Wesen nur im V e r h ä l t n i s s zum G a n z e n , dessen besondere Entwickelungsstufen und Erscheinungsweisen (dessen Momente) sie sind, sich e n t w i c k e l n : so ist ihr Hervorgang in das wirkliche Daseyn (in die Existenz) durch Bedingungen vermittelt, welche zum Zweck ihrer S e l b s t g e s t a l t u n g und S e l b s t e n t w i c k e l u n g zusammenwirken." Und ähnlich bezeichnet er denn auch an einem anderen Orte die Z e i t als „den a l l g e m e i n e n Verlauf oder die allgemeine, zu einem bestimmten Zweck sich v o l l e n d e n d e E n t w i c k e l u n g der gesammten W e l t o r d n u n g (des Systems der Welt)" K . P. FISCHEK, Logik S. 82. Philos. d. Natur S. 204). Sengler sagt: „Die Z e i t ist die Erscheinungs- und Bethätigungsweise (die Form) des W e r d e n s , der V e r ä n d e r u n g . Aber in dieser verändert sich das Wesen selbst nicht in dem Sinn, dass es ein wesentlich anderes würde, sondern das Werden ist des Wesens wegen, d. h. dieses entwickelt, verwirklicht nach und nach alle in ihm der Möglichkeit nach liegenden Ausgestaltungen (Formen). Diese verändern das Wesen so wenig, dass sie es erst als d a s , was es an sich i s t , bestimmen und wirklich darstellen. Es ist freilich in keiner einzelnen Zeit das, was es an sich ist, und daher stellen die. e i n z e l n e n z e i t l i c h e n E n t w i c k e l u n g e n

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(oder Entwickelungsstufen) es n i c h t g a n z , n i c h t v o l l s t ä n d i g dar. Nur wenn alle im Wesen möglichen Ausgestaltungs- oder Offenbarungsweisen (Formen) desselben wirklich g e w o r d e n sind, ist das Wesen v o l l k o m m e n w i r k l i c h , ist es ganz und v o l l s t ä n d i g da. So lange daher das Wesen in der Zeit w i r d , ist es n i c h t v o l l s t ä n d i g , nicht nach allen seinen möglichen Ausgestaltungen (Formen) wirklich (und in sich vollendet) , und dieses (immer mehr zu erreichen) ist eben der G r u n d s e i n e s W e r d e n s . So erhebt die Entwicklung die frühere Daseyns weise (Form) nur zur h ö h e r e n und bewahrt sie so in dieser auf, erhält sie. Und damit ergänzt sich die Dauer im Verlauf der Entwicklungen immer mehr" (SENGLER, Idee Gottes II11. 897. 400). So auch Oersted: „Wenn es eines der Grundgesetze der Natur ist, dass alles in der Zeit e n t w i c k e l t werden soll, so müssen verschiedene Zustände n i c h t n u r a u f e i n a n d e r , sondern, ich füge dies hinzu, auch a u s e i n a n d e r folgen: sonst wäre kein Zusammenhang" (OERSTEDT, Geist i. d. Natur I. 16). U l r i c i : sagt: „Ein jedes Ding ist nur d a s , was es w i r d " (ULRICI, Gott und Natur I. 80). Und ähnlich Melchior Meyr: „Was für uns Z e i t ist, ist eine Erscheinungsweise (Form) der E n t w i c k e l u n g , der wir alle unterworfen sind" (M. MEYR, Gott und sein Reich S. 199). Nr. 125. Der Ortsbegriff in seinem besonderen natur- und vernunftgemässen Verhältniss zu dem eigentlichen Begriff des Baumes. Nachdem wir uns in dem Bisherigen mit den verschiedenen Wechselbeziehungen beschäftigt haben, in welchen die beiden Begriffe von R a u m und Z e i t untrennbar sowohl wechselseitig unter sich, wie auch zu dem sie verbindenden Mittelbegriff der D a u e r unausgesetzt stehen: so haben wir nunmehr unsere Aufmerksamkeit auch einigen U n t e r - und N e b e n b e g r i f f e n zuzuwenden, welche sowohl dem Raum- wie dem Zeitbegrifif gegenüber als denselben ebenfalls unabtrennbar zu-

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gehörig müssen betrachtet werden. Es wird dies in erster Linie der Begriff des O r t e s seyn, welcher, obgleich an und für sich zu dem Begriff des Raumes gehörend, doch durch den Baum und Zeit noch enger verknüpfenden Begriff der räumlich-körperlichen B e w e g u n g zugleich auch als in sehr naher Beziehung zu dem Zeitbegriff stehend sich darstellt. Schon in der früher erwähnten begrifflichen Bestimmung des Raumes, als eines gleichzeitigen körperlichen A u s s e r - und N e b e n e i n a n d e r s e y n s , liegen in unverkennbarer Weise auch die Begriffe eines „ H i e r " , eines „ D a " und eines „ D o r t " von Uranfang an mit eingeschlossen. Alle drei geben Antwort auf die Frage „ W o ? " oder, was dasselbe besagt, „an welchem O r t ? " Denn der O r t bezeichnet allgemein, wie wir gesehen, die b e s t i m m t e S t e l l e , an welcher ein jedes besondere und einzelne Ding gegenüber seinen übrigen Mitwesen sich befindet; oder — wie man gleichfalls häufig sich auszudrücken pflegt — den R a u m , welchen die betreffenden Einzeldinge durch ihr gesammtes natürliches Wesen e r f ü l l e n , den sie durch dasselbe e i n n e h m e n , und in dem sie selber demgemäss e n t h a l t e n sind. Schon bei den alten griechischen Weltweisen fand sich namentlich diese letztere Deutung des Ortsbegriffes vielfach verbreitet. Aristoteles spricht ausdrücklich von solchen, „welche behaupten, es gebe ein Leeres," und welche von diesem als „von einem O r t e sprechen; denn das Leere wäre eben ein [von K ö r p e r n e n t b l ö s t e r O r t " : eine Anschauung, welcher ARISTOTELES dann ausdrücklich noch die Bemerkung hinzufügt, „dass also der O r t etwas E i g e n e s n e b e n den K ö r p e r n und jeder sinnlich wahrnehmbare Körper in einem O r t e sey: dies möchte man wegen des Gesagten annehmen". Sodann fügt er auch noch mit Bezug auf Hesiod hinzu, dass dieser „wie die Meisten, daran festhielt, dass Alles irgendwo und also in einem O r t e sey". Aus allen diesem zieht nun aber Aristoteles einen sehr bedeutungsvollen Schluss. „Ist aber der Ort — sagt er — ein

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D e r a r t i g e s , dann wäre seine Geltung eine w u n d e r b a r e und ursprünglicher als Alles. Denn dasjenige, ohne welches Nichts von dem Übrigen ist, welches aber selbst ohne das Übrige ist, muss nothwendig das Ursprünglichste seyn; da der Ort dadurch nicht vernichtet wird, dass das in ihm Befindliche vergeht. Nichtsdestoweniger aber hat es, auch wenn der Ort besteht, seine S c h w i e r i g k e i t , was er sey. Ausdehnungen hat er drei, die Länge und die Breite und die Tiefe, durch welche ein jeder Körper bestimmt wird. Dass aber der O r t ein K ö r p e r sey, dies kann nicht seyn; denn sonst wären in Ein und demselben Ort zwei Körper." Und weiterhin sagt er: „Da aber Alles theils an und für sich, theils in Bezug auf Anderes benannt wird, und so auch der Ort theils ein g e m e i n s a m e r ist, in welchem a l l e Körper sind, theils ein e i n z e l n e i g e n t ü m l i c h e r , in welchem sie zunächst ursprünglich sind: so wäre demnach der O r t , wenn er das einen jeden der Körper zunächst U m f a s s e n d e ist, eine G r ä n z e , so dass die Ges t a l t u n g eines jeden der O r t zu seyn scheine, durch welchen die Grösse und der Stoff der Grösse bestimmt wird. Denn das ist die G r ä n z e eines Jeden. Erwägt man also die Sache so, so ist der Ort die Gestalt (Form) eines jeden Einzelnen; inwiefern aber der Ort die A u s d e h n u n g der G r ö s s e zu seyn scheint, ist er der Stoff; denn die Ausdehnung ist von der Grösse verschieden. Gestalt und Stoff wird von dem Ding n i c h t getrennt; der Ort aber k a n n davon getrennt werden; nehmlich in demjenigen, in welchem Luft war, findet sich Wasser ein, indem Luft und Wasser, und in gleicher Weise die übrigen Körper, gegenseitig ihren Platz t a u s c h e n , so dass der Ort weder ein Theil noch ein Sichverhalten eines jeden Einzelnen, sondern etwas von ihm T r e n n b a r e s ist. Es scheint nehmlich der Ort wirklich etwas dergleichen wie ein G e f ä s s zu seyn; denn das Gefäss ist ein ü b e r t r a g b a r e r Ort, aber n i c h t s von dem D i n g " (ABISTOTELBS, Phys. S. 151. 153. 155. 157.) In ähnlicher Weise führt auch

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Suarez mehrere von einander verschiedene Ansichten in Bezug auf die eigentliche Bedeutung des Ortsbegriffes oder des „ W o " der Dinge an. Als die erste dieser Ansichten bezeichnet er, dass nach ihr „das Wo eine gewisse äussere Gestalt (Form) sey, welche äusserlich eine Sache bezeichne, von der gesagt wird, sie sey i r g e n d w o , nehmlich die letzte Fläche des u m s c h l i e s s e n d e n K ö r p e r s " . Die zweite Ansicht aber sey die: „Das Wo sey n i c h t die äussere Gestalt selbst oder die letzte Fläche des Umschliessenden, sondern etwas I n n e r e s , leidentlich (passivisch) Zurückgelassenes, aus der Umschreibung des Ortes, an dem in einen Ort G e s t e l l t e n . Dabei führt SUAREZ eine von G i l b e r t P o r e t a n u s gegebene begriffliche Bestimmung des „ O r t e s " an, dahin lautend: „Der Ort ist befasst in dem u m s c h l i e s s e n d e n K ö r p e r , das Wo aber in dem K ö r p e r , welcher u m s c h l o s s e n ist." Als dritte Ansicht führt SUAREZ endlich die Meinung an: „Das Wo sey k e i n e s wegs die umschliessende Oberfläche oder etwas von jener Zurückgelassenes, sondern es sey der R a u m , welcher von dem Körper selbst e r f ü l l t wird, von man aussagt, er sey irgendwo" (BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 53. 54). — D e s c a r t e s sagt in Bezug auf dieselbe Frage: „Die Worte Ort und R a u m bedeuten nichts von dem Körper, der als im Raum seyend bezeichnet wird, Verschiedenes, sondern bezeichnen bloss seine G r ö s s e , seine G e s t a l t und wie er der Lage nach im Verhältniss zu anderen Körpern sich befindet. Und zwar müssen wir, um diese Lage zu bestimmen, auf einige andere Körper sehen, welche wir als u n b e w e g l i c h betrachten können. Aber je nachdem diejenigen, welche wir als unbeweglich betrachten, v e r s c h i e d e n sind, können wir sagen, dass ein und dasselbe Ding zu derselben Zeit seinen Ort ändere oder nicht ändere. Wenn wir z. B. auf einen Mann sehen, welcher auf dem Hintertheil eines Schiffes sitzt, das ausserhalb eines Hafens dahinfährt, und wir achten nur allein auf das Schiff, so wird es uns scheinen, als ob dieser Mann seinen Ort n i c h t verändert, Wandersraann. II.

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weil er hinsichtlich der einzelnen Theile des Schiffes stets dieselbe Lage beibehält; wenn wir dagegen auch auf Gegenstände benachbarter Ufer achten, so wird es uns scheinen, dass er fortwährend den Ort verändert, weil er sich beständig gewissen Gegenständen nähert und von andern entfernt. — Der O r t und der R a u m werden übrigens aus dem Grund durch besondere Namen unterschieden, weil der O r t ausdrücklicher die L a g e bezeichnet, als Grösse oder Gestalt; umgekehrt denken wir mehr an Letztere, wenn wir von dem R a u m reden. So oft daher die Lage geändert wird, sagen wir, es werde der O r t g e ä n d e r t , wenn schon die nehmliche Grösse und Gestalt bleibt; und wenn wir sagen, ein Ding sey an dem o d e r dem O r t , so verstehen wir darunter nichts anderes, als: es nehme die oder die Lage unter anderen Dingen ein. Und fügen wir hinzu, es e r f ü l l e den oder den R a u m , so meinen wir ausserdem damit, es habe die oder die bestimmte G r ö s s e und G e s t a l t . So nehmen wir den R a u m immer für die Ausdehnung in Länge und Breite und Dicke; den Ort aber betrachten wir manchmal als dem D i n g e , welches im Ort ist, i n n e r l i c h und manchmal als ihm ä u s s e r l i c h . Der i n n e r e O r t ist das n e h m l i c h e mit dem R a u m ; der äussere kann aufgefasst werden, als die O b e r f l ä c h e , die zunächst das im Ort Befindliche umgibt." Und weiterhin bezeichnet DESCARTES sodann „die Bewegung, wie sie gewöhnlich aufgefasst wird, als die Thätigkeit, durch welche ein Körper a u s e i n e m O r t in e i n e n a n d e r e n ü b e r g e h t " (DESCARTES, S. 308. 309. 311. Princ. 13. 14. 15. 24). Newton bezeichnet den O r t als einen „ T h e i l des R a u m e s , den ein Körper einnimmt", und ausdrücklich fügt er noch hinzu: „Ein Theil des Raumes, sage ich, n i c h t die Lage de3 Körpers oder die umgebende Oberfläche. Die L a g e n haben, eigentlich zu reden, keine Grössen und sind nicht so sehr O r t e r als besondere Bestimmungen (Affectionen) der Örter. Denn die Bewegung eines Ganzen ist dieselbe, wie die Summe der Bewegung seiner Theile, d. h. die

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Übertragung des Ganzen von seinem Orte ist die nehmliche wie die Summe der Übertragungen der Theile von ihren Ortern, und also ist der O r t des G a n z e n der nehmliche wie die Summe der Orter der Theile und deshalb i n n e r l i c h und im g a n z e n K ö r p e r . Nach den L a g e n und den A b s t ä n d e n der Dinge von irgend einem Körper, den wir als u n b e w e g l i c h ansehen, bestimmen wir die Orte insgesammt; obgleich es möglich ist, dass kein Körper, auf den die Orter und Bewegungen bezogen werden, wirklich ruht." Daher „das an einen Ort Gestellte m i t b e w e g t wird, wenn der O r t bewegt wird; und so nimmt der Körper, welcher aus einem bewegten Ort bewegt wird, Theil auch an der B e w e g u n g s e i n e s Ortes." Zu eben diesen Darlegungen von Seiten NEWTON'S macht BAUMANN sodann die Bemerkung, dass derselbe hierbei den R a u m ohne Weiteres als etwas F e s t e s und U n b e w e g l i c h e s denke, in welchem die Dinge P l a t z g r e i f e n " (BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 53. 54). Locke bezeichnet „unsere Vorstellung (idea) des O r t e s (place) als weiter nichts als die L a g e (position) von etwas (in Bezug auf andere Dinge)", indem er hinzufügt, dass dies „leicht wird zugegeben werden, wenn wir bedenken, dass wir keine Vorstellung (idea) haben von einem O r t e des W e l t a l l s , obwohl wir eine solche von a l l e n s e i n e n T h e i l e n haben können". Und weiterhin sagt er: „Die Z e i t verhält sich im Allgemeinen zur D a u e r wie der O r t (place) zur Ausbreitung. Richtig verstanden sind sie nur V o r s t e l l u n g e n (ideas) von unterscheidbaren bestimmten A b s t ä n d e n von gewissen gekannten, in unterscheidbaren sinnlich wahrnehmbaren Dingen festgesetzten (fixed) Punkten, welche als dieselbe Entfernung voneinander einhaltend gedacht werden. Diese, so betrachtet, sind das, was wir Z e i t und O r t nennen." (LOCKE, S. 288. [Nr. 70] 320. [Nr. 5]). Ähnlich Hobbes. „Der Raum, — sagt er und fügt ausdrücklich hinzu, dass er darunter nur den geistig vorgestellten (imaginären) Raum verstehe — welcher mit der G r ö s s e eines beliebigen 26*

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Körpers zusammenfällt, wird der Ort jenes Körpers, der Körper aber das in ihm A u f g e s t e l l t e (locatum) genannt. Jedoch ist der Ort v e r s c h i e d e n von der Grösse des am Ort Befindlichen erstlich darin, dass derselbe Körper immer dieselbe Grösse behält, sowohl wenn er ruht, als wenn er sich bewegt; aber er behält n i c h t (immer) d e n s e l b e n Ort. Sodann ist der O r t eine e r d i c h t e t e A u s d e h n u n g , die G r ö s s e aber eine w a h r e , und der an einen Ort gestellte K ö r p e r ist k e i n e Ausdehnung sondern ein A u s g e d e h n t e s . Ausserdem ist der Ort u n b e w e g l i c h ; denn da das Bewegte gedacht wird als von O r t zu O r t getragen, so würde, wenn der Ort sich bewegte, auch der O r t von O r t zu O r t übertragen werden, wodurch nothwendig würde, dass ein Ort des O r t e s wäre u. s. w., was sehr l ä c h e r l i c h seyn würde." Und weiterhin: „ H i e r , d o r t und andere Namen, mit welchen man auf die Frage »wo ist es« antwortet, sind n i c h t Namen des Ortes selber und rufen nicht den Ort selber, nach dem gefragt wird, an sich in die Seele. Denn hier und dort bedeuten nichts, wenn nicht die Sache mit dem Finger oder mit Anderem angezeigt wird." Hierzu macht BAUMANN die Bemerkung, dass nach HOBBES „der Körper offenbar einerlei (identisch) sey mit der G r ö s s e , die Grösse mit dem O r t , und der Ort mit einem Stück Raum". Und weiterhin bezeichnet HOBBES die B e w e g u n g auch noch als „das fortlaufende (continuirliche) V e r l a s s e n eines Ortes und E r l a n g e n eines anderen"; „es r u h e " , sage man dagegen von dem, was während einiger Zeit an d e m s e l b e n O r t ist (BAUMANN, Raum und Zeit I. S. 285. 286—289. 292. 293). In Bezug auf die Bewegung als Ortsveränderung spricht Kant sich ähnlich wie aueh DESCABTES aus. „Ich erkenne, dass die B e w e g u n g — sagt er — die V e r ä n d e r u n g d e s O r t e s sey. Ich begreife aber auch bald, dass der Ort eines D i n g e s durch die Lage, durch die Stellung oder durch die äussere Beziehung desselben gegen andere, die um ihn sind, erkannt werde. Nun kann ich einen Körper in Beziehung auf gewisse

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äussere Gegenstände, die ihn z u n ä c h s t umgeben, betrachten, und dann werde ich, wenn sich diese Beziehung n i c h t ä n d e r t , sagen, er r u h e . Sobald ich ihn aber in Verhältnis auf einen Gesichtskreis (Sphäre) von w e i t e r e m Umfang ansehe, so ist es möglich, dass eben der Körper zusammt seinen nahen Gegenständen seine Stellung in Ansehung jener ä n d e r t , und ich werde ihn aus diesem Gesichtspunkt eine Bewegung zuschreib e n " (KANT V I I I . S. 428). Ulrici sagt: „Jedes Ding ist in räumlicher Beziehung dadurch vom anderen u n t e r s c h i e d e n , dass es n e b e n a n d e r e n D i n g e n ist als das andere. Dadurch erhält es seine r ä u m l i c h e B e s t i m m t h e i t , d. i. s e i n e n b e s t i m m t e n O r t im R a u m " (ULBICI, Gott und Natur S. 280). Und in gleichem Sinn, nur umgekehrt, sagt Dl*08Sbach: „ E i n Ding, das an k e i n e m O r t sich befindet, befindet sich n i r g e n d s , ist n i c h t v o r h a n d e n " (DROSSBACH, Harmonie d. E r gebn. d. Naturf. S. 33). Alle diese hier angeführten und unter sich so verschiedenen Bestimmungen und Auslegungen dessen, was wir unter der Bezeichnung „ O r t " eigentlich zu verstehen haben, lassen uns deutlich ersehen, mit welch einem vieldeutigen Begriff wir es dabei zu thun haben. Aber gerade diese Vieldeutigkeit, die zugleich so mancherlei einander Widersprechendes oder wenigstens nicht leicht mit einander zu Vereinigendes in sich einschliesst, ist es auch, welche uns schon von vornherein darauf hinweisen dürfte, wie in eben diese Begriffsbestimmungen gar manches Doppelsinnige und dadurch wohl auch U n g e n a u e , j a selbst M i s s v e r s t a n d e n e und U n r i c h t i g e sich eingeschlichen haben möchte. Und dass gerade in diesem F a l l der gewöhnliche landläufige Sprachgebrauch ebenfalls nicht wenig dazu beigetragen haben mag, irrthümlichen Anschauungen einen gewissen anscheinenden Halt und eine gewisse anscheinende Begründung zu verleihen; dies ist wohl ebenfalls kaum zu verkennen. W a s wir hierbei vor Allem im Auge haben, ist die Deutung des Ortsbegriffes als etwas den Dingen rein A u s s e r -

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Ii che s und F r e m d e s , gewissermaassen als eines bloss äusserlichen B e h ä l t e r s , in den sie theils von Natur aus sich h i n e i n g e s t e l l t finden, theils auch durch uns selbst h i n e i n g e s t e l l t werden, um sie vor Zerbrechen oder sonstigem Verderb zu bewahren. Eine solche Vorstellung ist aber ungeeignet für eine jede nur einigermaassen befriedigende Auffassung des Ortsbegriffes. Denn in dieser Deutung fällt der Begriff des O r t e s mit dem des R a u m e s vollständig in E i n s zusammen, gleichviel ob wir diesen Ort oder diesen Raum als völlig l e e r oder als mit sonstigen wesenhaften Dingen, wie z. B. mit Luft, ausgefüllt denken oder nicht. Und ebenso gleichgültig bleibt es auch in Bezug auf die eigentliche Sache, um die es sich handelt, ob es wirkliche Naturdinge sind, welche wir uns als darin befindlich denken, oder ob sonstige künstlich durch Menschenhand bereitete Gegenstände. Auch die räumliche Grösse oder Ausdehnung eines solchen Ortes oder Raumes bleibt hierbei vollkommen gleichgültig, mag es sich um den weiten, unermesslichen Welt- oder Himmelsraum handeln, oder nur um den Raum unseres eigenen Sonnengebietes, oder mag es auch nur der Gesammtraum irgendeiner Stadt oder eines einzelnen Hauses, ja vielleicht nur eines einfachen Kastens seyn, in dem wir diese oder jene Sachen aufzuheben gewohnt sind: dies alles kommt hierbei keineswegs in Betracht. Aber so sehr auch der gemeine Sprachgebrauch daran festhält, alle derartigen Räumlichkeiten kurzweg als O r t e zu bezeichnen, so geräth er doch dabei in einer gewissen Beziehung in einen nicht zu verkennenden W i d e r s p r u c h mit sich selbst. Denn wo alle Eigentümlichkeiten dieser seiner „Orte" mit den Eigenthümlichkeiten, die wir auch dem Raum zuerkennen, so vollkommen übereinstimmen: wie mag es unter solchen Umständen gekommen seyn, dass man für Ein und dieselbe Sache zweier so sehr verschiedenen Beziehungsweisen sich bedient? Man sagt wohl nicht umsonst: der Name bezeichnet die Sache. Dem anderen Namen liegt daher auch allemal entweder irgend ein anderes wesenhaftes

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Ding oder irgend ein anderer geistiger Begriff zu Grunde. Sollte nicht hier ebenfalls ein derartiges Yerhältniss obwalten? Und sollten wir dadurch nicht auf die Yermuthung gebracht werden, dass, wenn wir den Gesammtumfang und die körperliche Grösse der Dinge, so fern wir von deren wesenhaftem Inhalt absehen, oder auch das Innere eines jeden Kastens, sofern wir ebenfalls auf die darin enthaltene Luft und in ihm hineingestellten Dinge keine Rücksicht nehmen, gewohntermaassen ganz richtig als R a u m zu bezeichnen pflegen: dagegen der Bezeichnung ganz derselben Verhältnisse als „ O r t e " eine unrichtige Auffassung des Ortsbegriffes als solchen zu Grunde liegen, und dessen Anwendung daher als eine missbräuchliche zu betrachten seyn dürfte? Ist dies aber der Fall, muss die Anwendung des Ortsbegriffes an der Stelle des Raumbegriffes für die oben bezeichneten Fälle, so sehr auch der gewöhnliche Sprachgebrauch es genehmigt, wirklich als eine unpassende und irrthümliche bezeichnet werden: dann hätten wir nunmehr vor allem nach einer anderweitigen genaueren Begriffsbestimmung für eben dasjenige uns umzusehen, was im eigentlichen Sinn des Wortes unter der Bezeichnung des O r t e s zu verstehen seyn dürfte, als eben desjenigen Begriffes, welcher thatsächlich auf die Frage „wo" etwas sey oder sich befinde, eine genügende und befriedigende Auskunft zu ertheilen geeignet sey. Vielleicht, dass der Sprachgebrauch, der im oben angeregten Fall das richtige begriffliche Gefühl irre geführt, im Stande seyn könnte, durch seine auf die eben angeregte Frage zu ertheilende Antwort uns einen Wink zu geben, nach welcher Seite hin unsere Untersuchung sich wenden müsse, um eine den gegebenen Naturverhältnissen entsprechendere Bestimmung des eigentlichen Ortsbegriffes als solchen zu ermöglichen und in Folge dessen denselben denn auch auf eine genauer bestimmte Weise von dem Raumbegriff als solchem zu unterscheiden. Beantworten wir die Frage „ w o etwas sey": so sagen wir, wenn wir uns dazu des R a u m b e g r i f f e s bedienen, es befinde sich „ i n einem Raum".

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Bedienen wir uns dagegen zur Beantwortung derselben Frage des O r t s b e g r i f f e s : so antworten wir, es befinde sich „ a n einem Ort" oder wir brächten es an einen Ort; k e i n e s w e g s aber werden wir, richtig gesprochen, sagen, es befinde sich dasselbe „in einem O r t " oder man brächte es in einen Ort. Dagegen sagen wir wohl niemals, es befinde sich etwas „ a n einem R a u m " oder man bringe es „ a n einen R a u m " . Eben diese sprachliche Unterscheidungsweise in Bezug auf eine richtige Anwendung oder Ausdrucksweise sowohl in Betreff des Raumbegriffes wie auch in Betreff des Ortsbegriffes erscheint in der That als so bezeichnend, dass wir schon durch sie allein auch auf eine dem wahren und eigentlichen Sachverhältniss entsprechendere Auffassung und Unterscheidung der beiden erwähnten Begriffe hingeleitet werden dürften. Der Begriff des R a u m e s oder der R ä u m l i c h k e i t ist etwas einem jeden in sich selbständigen Naturdaseyn in und mit seinem eigenen inneren Wesen i n n e r lich unbedingt Zukommendes: es ist also der Begriff eines i n n e r l i c h - w e s e n h a f t e n A n g e h ö r e n s , welches dem richtig verstandenen Raumbegriff in erster Linie eigentümlich ist, und dies ist denn auch eigentlich der tiefere Grund davon, weshalb wir allgemein „in einem Raum" und nicht „an einem Raum" zu sagen pflegen. Dagegen lässt der Umstand, dass wir umgekehrt „an einem Ort" und nicht, „in einem Ort" sagen, uns erkennen, dass dem Begriff des „Ortes" vorherrschend auch der Begriff eines „ a u s s e r den Dingen Seyns", als schon von Haus aus ihm beigesellt, zukommen dürfte; und wenn dies vielleicht auch nicht ausschliesslich der Fall sein sollte, so doch immerhin in einem vorherrschenderem Grade als dem eigentlichen Raumbegriff. In eben diesen Verhältnissen liegt es nun aber auch begründet, dass, wenn ein Körper von e i n e m O r t nach einem a n d e r e n sich begibt oder bewegt, er wohl seinen eigenen, innerlich ihm eigenthümlich zukommenden Raum ebenso unbedingt nach dem n e u e n O r t m i t h i n n i m m t oder hinträgt, wie auch seinen eigenen räumlichen Umfang oder seine

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räumliche Grösse: den O r t dagegen, an dem er sich vor Beginn der Bewegung befunden, kann er, als etwas n i c h t unbedingt ihm Zugehöriges, sondern als etwas ihm Ausserliches und Fremdes, n i c h t in derselben Weise mit sich hinnehmen nach dem neuen Ort, sondern er verlässt denselben, lässt ihn hinter sich zurück in demselben Augenblick, wo er seine Wegbewegung antritt. Mit jedem Augenblick seiner Fortbewegung v e r ä n d e r t er sodann thatsächlich seinen äusseren O r t dadurch oder in-der Weise, dass er ohne Unterbrechung immer in einen n e u e n und a n d e r e n Ort einrückt, um auch diesen augenblicklich und ohne Aufenthalt wieder zu verlassen und so fort, bis er an dem eigentlichen Orte seiner Bestimmung, als dem Schlussort der ganzen Bewegung oder Ortsveränderung angelangt ist. Aus eben diesen Erörterungen ergibt sich nun auch noch ein weiteres sehr wesentliches gegenseitiges Verhältniss, in welchem die beiden Begriffe von R a u m und von O r t gemeinschaftlich einem und demselben natürlichen Einzelwesen gegenüber stehen. Dieses letztere kennt an und für sich und ohne Rücksicht auf andere Naturwesen im Grunde nur E i n e n R a u m aus eigener, unmittelbarer Selbsterfahrung, und dieser ist sein e i g e n e r i n n e r e r Raum, wie derselbe von Uranfang in seinem eigenen Wesen mitbegründet liegt, und wie er demgemäss sowohl mit seiner eigenen natürlichen Wesensgrösse und Wesensausdehnung, sowie mit seinem äusseren Wesensumfang in jeder Beziehung stets vollkommen übereinstimmt. Der Raum bildet demgemäss für jedes einzelne Naturdaseyn ganz ebenso wie dessen Wesen nicht nur einen diesem unablösbar zukommenden E i g e n b e g r i f f , sondern ganz ebenso auch einen wirklichen E i n h e i t s b e g r i f f im eigentlichsten Sinn des Wortes. Dagegen stellt der O r t s b e g r i f f für d a s s e l b e Einzelwesen, soweit wir diese Verhältnisse bis jetzt zu überschauen vermögen, einen Begriff dar, welcher nur allein in Bezug auf eine M e h r h e i t von noch a n d e r e n , g l e i c h z e i t i g mit ihm v o r h a n d e n e n G e g e n s t ä n d e n eine wirkliche Bedeutung und thatsächliche

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Geltung beanspruchen kann. Denken wir uns, es sey überhaupt n u r ein E i n z i g e s K ö r p e r w e s e n vorhanden, so würde ihm niemand den thatsächlich von ihm eingenommenen und zu seinem eigenen Wesen gehörigen R a u m auch nur irgendwie bezweifeln oder bestreiten können: ein irgendwie bestimmter oder überhaupt auch nur bestimmbarer O r t dagegen würde ihm vollständig müssen a b g e s p r o c h e n werden, eben weil in Bezug auf dasselbe in solchem Falle völliger Vereinzeltheit und völligen Alleinseyns alles und jedes natürliche Mittel dazu fehlen würde, auch nur irgendwie anzugeben, wo es sich eigentlich der Wirklichkeit nach befinden möchte. Erst in gemeinschaftlichem Z u s a m m e n s e y n auch mit noch a n d e r e n Naturdingen, deren jede| Einzelne allen übrigen gegenüber als ein denselben Ä u s s e r e s und F r e m d e s muss betrachtet werden, kann von einer wirklich natur- und vernunftgemässen Anwendung des O r t s b e g r i f f e s in seiner richtigen Bedeutung die Rede seyn. Denn nun erst sind auch alle die zur Aufstellung eines Ortsbegriffes überhaupt erforderlichen Grundbedingungen gegeben. Erst im wechselseitigen Zusammenseyn irgend einer wirklichen V i e l h e i t v o r h a n d e n e r D i n g e vermögen alle jene verschiedentlichen wechselseitigen Beziehungen zu Tage zu treten, auf welche alle und jede Bestimmung wechselseitiger E n t f e r n u n g e n und wechselseitiger L a g e r u n g s v e r h ä l t n i s s e sich gründen, und ohne welche daher auch eine jede thatsächliche wechselseitige O r t s b e s t i m m u n g und folglich auch eine jede berechtigte Anwendung des eigentlichen Ortsbegriffes als eine Unmöglichkeit muss betrachtet werden. Der O r t s b e g r i f f stellt somit gegenüber dem eigentlichen Raumbegriff als ein thatsächlicher W e c h s e l b e g r i f f sich dar, welcher eine bestimmte Vielheit vorhandener Dinge voraussetzt. Ohne gegenseitige Wechselbeziehungen der Dinge unter einander kann es demnach für diese auch in keiner Weise besondere räumliche Ö r t l i c h k e i t e n geben: denn nur da, wo ein wirklich-räumliches N e b e n und A u s s e r e i n a n d e r s e y n von Dingen besteht, kann auch.

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von wirklich stehenden ö r t l i c h e n B e z i e h u n g e n dieser Dinge unter sich gesprochen werden. Da nun aber, wie eben erwähnt, zu einer jeden eigentlichen Ortsbestimmung in erster Linie eine möglichst genaue und richtige Bestimmung der wechselseitigen E n t f e r n u n g e n oder A b s t ä n d e der betreffenden Dinge und, falls deren gesammte Anzahl die Zahl zwei übersteigt, auch die genauen W i n k e l r i c h t u n g e n erforderlich sind, unter denen sie wechselseitig zu einander stehen: so werden wir bei etwas genauerem Eingehen finden, dass hier möglicher Weise zwei Wege sich darbieten dürften, um den beabsichtigten Zweck zu erreichen. Der Erste bestände darin, die Abstände oder Entfernungen der O b e r f l ä c h e n der betreffenden körperlichen Dinge durch Messung oder sonstige Berechnung zu ergründen; der Zweite dagegen wäre der, nicht sowohl die OberflächenEntfernungen als massgebend für unseren Zweck in Betracht zu ziehen, als vielmehr die Abstände oder Entfernungen, in denen die M i t t e l p u n k t e der betreffenden Körper wechselseitig zu einander stehen. Würden wir den ersten dieser beiden Wege wählen, so hätten wir auf beiden Oberflächen diejenigen Punkte zu bestimmen, welche thatsächlich am wenigsten weit voneinander entfernt liegen: dies können aber, soweit kugelförmige Körper oder Massen in Betracht kommen, nur diejenigen beiden Punkte seyn, in welchen eine die beiden M i t t e l p u n k t e der betreffenden Körper verbindende gerade Linie deren beiderseitige Oberfläche durchschneidet. Um also möglichst sicher zu gehen, wird es allewege als das Gerathenste erscheinen, sogleich von vornherein die betreffenden M i t t e l p u n k t e als am geeignetsten sowohl für die Ausgangs- wie Endpunkte eben der Entfernungen zu betrachten, welche genau zu ermitteln wir beabsichtigen. Das Gleiche würde auch der Fall seyn für die Bestimmung der W i n k e l r i c h t u n g e n , in denen die betreffenden Körper zu einander stehen. Aber eben hierdurch sehen wir uns darauf hingewiesen, eben diese

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M i t t e l p u n k t e der körperlichen Dinge auch als die e i g e n t lichen O r t e zu betrachten, an denen die betreffenden Dinge sich in Wirklichkeit befinden. „Der P u n k t — sagt Karl Fresenius — ist die Voraussetzung a l l e r ü b r i g e n R a u m b e g r i f f e . " Und weiterhin bezeichnet er denselben als eigentliches „Hier" und damit als den wahren „Ort", an welchem ein Ding sich befindet, indem er noch hinzufügt: „Durch Beziehungen, welche auf Grössen- (oder Abstands-) und auf Richtungsbestimmungen beruhen, kann zwar ein Ort in s e i n e r L a g e gegen a n d e r e O r t e r bestimmt werden: an sich (d. h. für sich allein) ist er n i c h t a n g e b b a r . " ( J . K . FBESENIUS, Raum Wissenschaft S. 22. 74. 75.) Und in der That, ist nicht ein an sich raumloser P u n k t , der einheitliche U r s i t z eben jener innersten, Wesen und Daseyn der Dinge begründenden Grundkraft, welcher zugleich auch als der erste und ursprüngliche Ausgangs- und Anfangspunkt muss betrachtet werden für eine jede wesenhaft-körperliche Raumbildung der betreffenden Einzeldinge? Ist dies aber zweifelsohne der Fall: dann haben wir damit gleichzeitig einen vollkommen gültigen natürlichen Grund auch dafür, denselben raumlosen Punkt, als den natürlichen M i t t e l p u n k t der Dinge, denen er eigenthümlich in der Natur Wirklichkeit zukommt, für den wahren und eigentlichen „ i n n e r e n O r t " zu erklären, von welchem aus alle wechselseitigen Lagenbestimmungen auszugehen haben, ohnerachtet er selber, ausser aller und jeder Beziehung auf andere und ebenfalls mit ihm vorhandenen Naturdinge gedacht und ins Auge gefasst, für in örtlicher Beziehung völlig u n b e s t i m m b a r und „ u n a n g e b b a r " muss erklärt werden. Daher bezeichnet auch WEIGAND in gleichem Sinn den O r t als einen „ R a u m p u n k t " , indem er jedoch — um auch der gewöhnlichen Ansicht betreffs des Behälters für darin befindliche Dinge Rechnung zu tragen — noch hinzufügt: Raumpunkt „im ausgedehnteren Sinn, als kleiner Raumtheil und g l e i c h s a m als ein raumloser Punkt". (WEIGAND, Syn. II. S. 500. 501.)

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Bestimmter spricht in dieser Hinsicht L e i b n i t z sich aus. „Wie der R a u m die absolute (d. h. die eigentliche) Ausdehnung enthält, so drückt der P u n k t das aus, was in der Ausdehnung am meisten beschränkt (also raumlos) ist, nehmlich die einfache L a g e . Wenn zwei Punkte gedacht werden als zugleich vorhanden (existirend) oder so wahrgenommen werden: so wird gerade dadurch zu betrachten dargeboten i h r e B e z i e h u n g a u f e i n a n d e r , welche in je zwei anderen Punkten verschieden ist, nehmlich die Beziehung des O r t e s oder der L a g e , welche zwei Punkte zu einander haben und unter welcher die E n t f e r n u n g (eben dieser beiden Punkte) verstanden wird." Anderwärts drückt LEIBNITZ über denselben Gegenstand sich dahin aus, dass „der Ort nichts anderes" sey als „die Ordnung des gleichzeitig Vorhandenen (des Coexistirenden)". Und weiterhin: „Die Ausweitung des O r t e s (lieu) bildet den Raum. Denn der Ort ist im P u n k t ebensowohl wie im R a u m ; daher kann auch der Ort ohne A u s d e h n u n g oder A u s w e i t u n g (Diffusion) seyn." ( L E I B NITZ, S. 273. 693.) Kant spricht über diesen Gegenstand noch bestimmter selbst als LEIBNITZ sich aus. „Die gemeine Erklärung der Bewegung als V e r ä n d e r u n g des O r t e s — sagt er — reicht nicht aus. Denn der O r t eines jeden Körpers ist ein P u n k t . Wenn man die Weite des Mondes von der Erde bestimmen will, so will man die Entfernung ihrer Orter wissen, und zu dem Ende misst man n i c h t von einem b e l i e b i g e n Punkt der Oberfläche oder des Inwendigen der Erde zu jedem b e l i e b i g e n Punkt des Mondes, sondern man nimmt die k ü r z e s t e Linie vom M i t t e l p u n k t des einen zum M i t t e l p u n k t des a n d e r e n ; mithin ist von jedem dieser Körper nur E i n P u n k t , der s e i n e n O r t a u s m a c h t . Nun kann ein Körper sich bewegen, ohne seinen Ort zu verändern, indem er sich um seine Achse dreht. Nur von einem b e w e g l i c h e n physischen Punkt (d. h. nur von einem beweglichen Punkt an oder in einem natürlichen Körper) kann man

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also sagen: Bewegung sey j e d e r z e i t Veränderung des Ortes." VIII. S. 458.) Und in eben diesem Sinn dürfen wir wohl auch die folgenden Aussprüche von Baader und von Kuno Fischer deuten. „Das H i e r (also der eigentliche O r t eines wirklichen Dinges) — sagt Baader — ist eine Verneinung (Negation) oder ein Nichtseyn des Raumes, weil es ein die Linie und die Fläche ausschliessender P u n k t ist." (BAADER XIV. S. 414.) Denn, als den ausgedehnten Raum eines Körpers v e r n e i n e n d , kann nur allein der an sich r a u m l o s e P u n k t betrachtet werden, und nur dann, wenn eben dieser raumlose Punkt den natürlichen M i t t e l p u n k t dieses Körpers bildet, kann er zugleich auch als dessen wirkliches H i e r oder als dessen eigentlicher „Ort" sich darstellen. Und wenn Kuno Fischer die Frage aufwirft: „Was heisst denn n e b e n e i n a n d e r s e y n ? " so beantwortet er sie dahin: „Es heisst in v e r s c h i e d e n e n O r t e n seyn, wie nach einander folgen" nichts anderes heisst als in verschiedenen Zeitpunkten seyn. (KUNO FISCHER, Kant's Leben S. 127.) Diese Gleichstellung des Ortsbegriffes mit dem Begriff des Zeitpunktes dürfte wohl vermuthen lassen, dass von Seiten FISCHER's auch unter dem „Ort" ein r a u m l o s e r Punkt soll verstanden werden. Allein der angewandte Ausdruck „in verschiedenen Orten seyn" könnte doch einigen Zweifel darüber zulassen, ob hier unter „Ort" nicht vielleicht doch ein wirklicher Raum sollte zu verstehen seyn, in welchem Dinge gleichsam als wie in einem grösseren Behälter sich befinden. Wenn dagegen Karl Fresenius den P u n k t ausdrücklich als „geometrischen Ort" (J. K. FRESENIUS , Raumwissenschaft S. 74) bezeichnet, d. h. als einen an sich r a u m l o s e n O r t , so dürfen wir dieses wohl, ohne zu irren, so deuten, dass auch er einen jeglichen eigentlichen O r t in seiner wahren Bedeutung in dem Sinn eines an sich r a u m l o s e n Punktes will aufgefasst wissen. (KAMT

Was in diesen Beziehungen für die stofflich-körperlichen Einzelwesen gilt, muss selbstverständlich ganz ebenso seine

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Geltung haben für ganze Körpermassen, sobald dieselben ebenfalls Kugelgestalt besitzen. Für unregelmässig gestaltete Massen dagegen wird naturgemäss deren S c h w e r p u n k t als begrifflich an die Stelle des Mittelpunktes tretend zu betrachten seyn. Ausserdem darf aber für alle körperlichen Massen auch noch der Umstand nicht ausser Acht gelassen werden, dass, wenn auch für die G e s a m m t m a s s e deren räumlicher Mittelpunkt oder körperlioher Schwerpunkt als deren gemeinschaftlicher, einheitlicher Ort muss betrachtet werden, nichtsdestoweniger innerhalb eben dieser Gesammtmasse auch noch ein jedes zu derselben gehöriges Einzelwesen ebenfalls seinen übrigen Mitwesen gegenüber seinen ganz bestimmten eigenen Ort besitzen muss, als dessen Vertreter nur allein der innere Wesensmittelpunkt eines jeden dieser Einzelwesen muss betrachtet werden. Dies alles widerspricht jedoch, wie wir sehen, in keiner Weise eben der Bestimmung, in welcher wir nunmehr den Begriff des Orts in seiner eigentlichsten und wahrsten Bedeutung aufzufassen uns gedrungen fühlen. Aber um so weniger dürfen wir einige Eigenthümlichkeiten unberührt lassen, welche eben diese Deutung des Ortsbegriffes unausweichlich in ihrem Gefolge hat. Denken wir uns z. B. zwei oder mehrere in ihrem Innern hohle körperliche K u g e l h ü l l e n oder H o h l k u g e l n von verschiedenen Durchmessern derartig ineinander gestellt, dass deren sämmtliche Mittelpunkte in einen einzigen Punkt zusammenfallen: so würde dieser Punkt als solcher den gemeinsamen M i t t e l p u n k t und damit also nach der obigen Auffassung des Ortsbegriffes auch den g e m e i n s a m e n Ort für alle diese Hohlkugeln anzeigen. Nun ist es aber in der Naturwissenschaft eine allgemeine Annahme, dass an ein und demselben Ort nicht mehrere Dinge zugleich sich befinden können. „Eine Mehrheit von Dingen — sagt Drossbach — ist ohne V e r s c h i e d e n h e i t der Orte n i c h t d e n k b a r . " — DKOSSBACH a. a. 0. S. 31. Wie dürfte nun aber dieser Widerstreit zwischen den beiderseitigen Anschauungen zu lösen seyn? Wir

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denken, am natürlichsten wohl in folgenderWeise. Die zwischen den einzelnen Hohlkugeln befindlichen Räume dürfen wir, da die Natur als solche keine an sich leere Räume kennt, keinesfalls als völlig frei von allem stofflichen Inhalt uns vorstellen, und das Einfachste ist wohl, sie in ähnlicher Weise wie eine jede sogenannte leere Flasche als mit Luft angefüllt zu denken. Aber eben dadurch reiht sich auch unser ganzes eben betrachtetes Gedankenbild nunmehr vollkommen naturgemäss ein in die allgemeine Reihe aller körperlichen M a s s e n b i l d u n g e n von k u g e l f ö r m i g e r G e s t a l t , von denen wir im Vorstehenden bereits gefunden haben, dass für die Gesammtheit der ganzen Masse einzig und allein nur deren g e m e i n s c h a f t l i c h e r M i t t e l p u n k t auch gleichzeitig als der r i c h t i g e O r t kann betrachtet werden, von dem aus alle weiteren Orts- und Lagenbestimmungen in Bezug auf andere körperliche Dinge auszugehen haben. Dagegen werden unbeschadet eben dieses einheitlichen Zusammengehörigkeits-Verhältnisses auch die besonderen Einzelbestandtheile, welche diese Gesammtmasse bilden, auch ihren eigenen b e s o n d e r e n Ort als ihren besonderen S t a n d ort inmitten eben dieser Gesammtheit unverkürzt beibehalten, und zwar nicht nur dieser ihrer einheitlichen Gesammtmasse gegenüber, sondern auch ebensosehr unter sich, sowie auch allen denjenigen ihnen noch fremderen Dingen gegenüber, welche selbst noch ausserhalb dieser ihrer Gesammtmasse sich befinden. Eben jener gemeinsame Ort oder Mittelpunkt alles in dieser Körpermasse Enthaltene wird aber in erster Linie den Ort und den Mittelpunkt der innersten Hohlkugel bilden, und da diese nach unserer Annahme ebenfalls durch und durch mit Luft erfüllt ist: so wird der Mittelpunkt und Ort nicht nur dieser innersten Hohlkugel für sich, sondern gleichzeitig mit ihr auch derjenige aller übrigen betreffenden Hohlkugeln mit dem M i t t e l p u n k t und O r t eben d e s j e n i g e n L u f t t h e i l c h e n s in E i n s z u s a m m e n f a l l e n , d e s s e n e i g e n e r Mittelpunkt ebenfalls mit jenem einheitlichen Mittel-

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p u n k t t h a t s ä c h l i c h in E i n s z u s a m m e n f ä l l t . Die bisherige Annahme daher, als ob unter Umständen nicht auch an Einem und demselben Ort mehrere Dinge gleichzeitig sich befinden könnten; diese Anschauung würde allerdings nach dem eben Dargelegten einige Beschränkungen für einzelne besondere Ausnahmsfälle zu erleiden haben, ohne dass jedoch die allgemeine Richtigkeit und Gültigkeit jenes Satzes darum eine Einbusse erleiden müsste. J a dürfte nicht Saturn mit seinem Saturnsring vielleicht geradezu als ein thatsächliches Beispiel eines derartigen Ausnahmefalles zu betrachten seyn? Die zweite der oben erwähnten beiden Eigenthümlichkeiten in Bezug auf die dargelegte engere Deutung des Ortsbegriffes zeigt uns gewissermassen ein umgekehrtes Verhältniss wie die vorhin besprochene. Mussten wir dort als Schlussergebniss unserer Erörterung zu der Überzeugung gelangen, dass unter Umständen auch selbst zwei oder mehr Dinge zu gleicher Zeit an demselben Ort sich befinden können, so tritt nunmehr die Frage an uns heran, inwiefern eben jene Beschränkung des eigentlichen Ortsbegriffes auf den blossen raumlosen Mittelpunkt der Dinge sich als ausreichend erweisen dürfte auch in Bezug auf den thatsächlichen W e c h s e l v e r k e h r aller Dinge unter einander. Vorhin hatten wir den Ortsbegriff nur insofern in das Auge gefasst, als er in Hinsicht auf die nähere Bestimmung der äusserlich-örtlichen Lagenverhältnisse der Dinge unter einander in Betracht kommt; jetzt sind dagegen diejenigen besonderen Verhältnisse zur Aussenwelt zu berücksichtigen, welche der allgemeine Wechselverkehr der Dinge namentlich auch in Bezug auf eigentliche O r t s v e r ä n d e r u n g e n in seinem Gefolge hat. Bereits im Früheren haben wir darauf hingewiesen, wie eben jener an sich raumlose Wesensmittelpunkt als eigentlicher i n n e r s t e r O r t der Dinge, unerachtet von ihm alle und jede Kraftwirksamkeit ursprünglich ausgeht und demgemäss auch jeder eigene innere Anstoss zu Kraftwirksamkeiten, sowohl im Inneren wie nach aussen, nur allein Wandersmann.

II.

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von ihm aus seinen ersten Ausgang zu nehmen hat, nichtsdestoweniger als a u s s e r a l l e r B e z i e h u n g zu allem und jedem ausserhalb seines eigenen Wesens befindlichen Naturdaseyn stehend betrachtet werden muss, solange wir ein solches Naturding ausschliesslich nur f ü r s i c h a l l e i n und ohne alle Rücksicht auf dessen Wechselverkehr auch mit der gesammten es umgebenden Aussenwelt in das Auge fassen. Erst in Folge dieses unausgesetzten Wechselverkehrs der Dinge unter einander treten demnach auch jene i n n e r e n W e s e n s m i t t e l p u n k t e der Dinge als die eigentlichen i n n e r e n O r t e dieser Letzteren in bestimmte Wechselbeziehungen auch zu den W e s e n s m i t t e l p u n k t e n aller übrigen sie umgebenden Naturwesen, und zwar als zu ebensovielen f r e m d e n und ä u s seren O r t e n für eben das besondere einzelne Daseyn, welches wir gerade in das Auge fassen. Nun geht aber des Weiteren hieraus hervor, dass alle diese Orte ohne Ausnahme nur innerhalb des allgemeinen W e l t r a u m s liegen können. Sobald demnach irgend ein Naturding in Folge irgendwelcher Veranlassung sich von seinem bisherigen Orte im Weltraum hinweg bewegt, bewegt es sich nach irgend einem anderen Orte im Weltraum hin, welch' Letzterer ebenfalls, wie alle im Weltraum überhaupt denkbar möglichen Orte, als r a u m l o s e r Punkt zu betrachten ist. Verfolgen wir nunmehr aber auch noch im Genaueren den natürlichen Verlauf der Bewegung, durch welche ein Ding von seinem bisherigen Ort nach einem anderen sich hinbewegt. Um einen Anfang für diese Fortbewegung zu gewinnen, müssen wir annehmen, dasselbe habe bisher, wenigstens seiner nächsten Umgebung gegenüber, in wirklicher Euhe sich befunden. In eben diesem seinem bisherigen Ort muss demnach sein eigner innerer Wesensmittelpunkt, als sein e i g e n e r i n n e r e r O r t , aber gleichzeitig auch mit irgend einem P u n k t im W e l t a l l nothwendig in E i n s zusammnfallen, welcher an und für sich n i c h t als sein eigener Ort, sondern im Gegentheil als ein an sich ihm f r e m d e r

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O r t muss betrachtet werden. In dem Augenblick nun, in dem die Fortbewegung eines Dinges von eben diesem Ort als seinem bisherigen Standpunkt unter seinen übrigen Mitwesen b e g i n n t , beginnt es auch thatsächlich, diesen seinen bisherigen Ort oder Standpunkt zu v e r l a s s e n , und eben dieses erste Verlassen seines bisherigen ä u s s e r e n Ortes muss demnach auch als der erste Beginn und Anfang seiner eigentlichen O r t s v e r ä n d e r u n g sich darstellen. Und somit känn denn auch eine jede Ortsveränderung schon gleich von ihrem ersten Beginn an als ein ununterbrochener O r t s w e c h s e l , d. h. als ein s t e t i g e s W e i t e r - oder V o r w ä r t s r ü c k e n , als ein U b e r g e h e n aus irgend einem bestimmten Punkt nach irgend einem anderen Punkt im Weltall von uns in das Auge gefasst werden. Mit jedem neuen Augenblick innerhalb dieses ununterbrochenen Fortschreitens muss demgemäss denn auch der eigene i n n e r e O r t des betreffenden Dinges, den es in und mit sich allenthalben mit hinnimmt, mit irgend einem bestimmten andern und bis dahin ihm noch völlig fremden Ort oder Punkt im Weltraum in Eins zusammenfallen, um auch diesen sofort wieder zu verlassen und mit wieder einem anderen und bis dahin ihm ebenfalls noch fremden Ort zu vertauschen. Und so fort, bis der in Bewegung begriffene Körper aus irgend einer Ursache wieder zu seiner Ruhe gelangt, d. h. bis er an irgend einen Ort gelangt, wo sein eigener innerer Ort mit eben diesem neuen Ort im Weltall wenigstens dem äusseren Anschein nach für einige Zeit in Eins zusammenfällt. In diesem Sinne dürfen wir es daher auch wohl auffassen, wenn Hegel in Bezug auf das eigentliche Wesen der Ortsveränderung sagt: „Jeder Ort ist f ü r sich nur d i e s e r O r t ; d. h. der Ort ist das schlechthin allgemeine „Hier". Es nimmt etwas seinen Ort ein, es verändert ihn: es wird also ein anderer Ort (oder kommt vielmehr an einen andern Ort; aber es nimmt vor wie n a c h s e i n e n O r t (d. h. eben den zu seinem eigenen Ich und Selbst gehörigen persönlichen Ort, den es allenthalben 27*

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mit hinnimmt) ein und kommt nicht aus ihm heraus." — V I I . I. S. 6 4 — 6 5 ) . Denn der i n n e r e Ort gehört dem E i n z e l d i n g s e l b s t , d. h. seinem eigenen Ich und Selbst an. Wo dieses sich hinbegibt, da nimmt es auch jenen mit. Alle ä u s s e r e n Orte dagegen gehören dem W e l t a l l an und bezeichnen bestimmte Punkte oder Orte im allgemeinen Weltraum, welche die Dinge unter beständigem Wechsel nur vorü b e r g e h e n d in Wirklichkeit einnehmen. So viele w i r k l i c h e Dinge es also innerhalb des gemeipsamen Weltganzen gibt, ebensoviel wirkliche Orte gibt es nicht nur für dieselben Dinge, sondern auch ebensoviele ihnen fremde ä u s s e r e Orte stehen jederzeit überall für ihre Aufnahme bereit, sobald sie den bisher von ihnen eingenommenen fremden Ort in Folge des gemeinsamen Weltverkehres mit anderen zu vertauschen in den Fall kommen. Nun wissen wir aber, dass eben jener allgemeine Weltraum keinesfalls als ein an sich leerer Raum darf betrachtet werden; denn daraus, dass alle Dinge, um wechselseitig auf einander einwirken zu können, auch stets wechselseitig einander b e r ü h r e n müssen (V. § 19 No. 99): geht hervor, dass, wenn ein Körper durch eine stärkere Kraft von seinem bisherigen Ort nach einem anderen Ort h i n g e t r i e b e n wird, er andere, ihm im Wege liegende Dinge aus den bisher von diesen eingenommenen Orten der Reihe nach v e r d r ä n g e n muss, wogegen umgekehrt, wenn Dinge ihren bisherigen Ort v e r l a s s e n , dafür sofort andere benachbarte an deren Stelle e i n r ü c k e n . Nun wird aber meistentheils angenommen, dass solche Körper, von denen ein jeder an oder in ihnen denkbare Punkt, sey es für längere oder kürzere Zeit, an ein und demselben Orte verbleibt, in R u h e sich befinden. Dieser an und für sich richtige Satz kann doch keine buchstäbliche Anwendung auf den allgemeinen Weltverkehr beanspruchen, sondern immerdar nur in Bezug auf solche Räumlichkeiten von geringerer Ausdehnung, welche man, ohne Rücksicht auf jenen Weltverkehr, für sich im Besonderen als wirklich r u h e n d auffasst. (HEGEL,

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So mag z. B. eine um ihre eigene Achse sich drehende Kugel in Bezug nicht nur auf sich selbst und gegenüber allen Gegenständen ihrer näherern Umgebung scheinbar als wirklich ruhend sich darstellen, ohnerachtet dies sowohl in ihrem Ganzen wie in Bezug auf alle die einzelnen Punkte, die wir an und in ihr uns denken können, in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Und so dürfen wir denn namentlich auch in Bezug auf das gesammte Himmelszelt und alle die himmlischen Körper, die wir an ihm unausgesetzt ihre Bahnen beschreiben sehen, nicht ohne Grund die Überzeugung aussprechen, dass überhaupt n i r g e n d s im allgemeinen Weltzusammenhang eine thatsächliche Ruhe, d. h. ein wirkliches und thatsächliches S t i l l s t e h e n von Naturdingen und Naturkörpern an fortdauernd E i n und d e m s e l b e n O r t i n n e r h a l b der G e s a m m t h e i t d i e s e r W e l t jemals vorkomme. Und berücksichtigen wir ausserdem noch, dass wir aus bereits früher besprochenen, nicht zurückzuweisenden Gründen uns für berechtigt halten dürfen, Allem ohne Ausnahme, was in dieser Welt vorhanden ist, irgend einen, wenn auch noch so geringen Grad von eigenem inneren Leben zuzuschreiben (Y. § 20. No. 107): so ergibt sich auch schon hieraus noch um so mehr eine natürliche Unmöglichkeit für eine derartige unbedingte Ruhe innerhalb des Gesammthaushaltes der Natur. Denn wo ununterbrochenes Leben herrscht, da ist auch allezeit ebenso ununterbrochene Bewegung, mit welcher ebenso ununterbrochene Ortsveränderungen ebenfalls allenthalben müssen Hand in Hand gehen. Da wir dasjenige, was wir als O r t der Dinge bezeichnet, als deren innerem Wesen ganz ebenso urwüchsig und ursprünglich zukommend betrachten müssen, wie auch deren ihnen in ganz ebensolcher Weise naturgemäss zukommenden eigenen inneren Raum und deren eigene innere Zeit: so folgt hieraus, dass auch bei allen natürlichen Einzelwesen überhaupt und folglich auch bei allen denen, die noch der ungestalteten Natur angehören, nicht nur ein gewisser natürlicher R a u m - und

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Z e i t b e g r i f f , sondern gleichzeitig damit auch ein gewisser ebenso natürlicher O r t s b e g r i f f in deren innerstem Wesen von Uranfang mit eingeschlossen liegen muss. Dass dem wirklich so sey: dies dürfte schon daraus ersichtlich seyn, dass alle in dieser Welt vorhandenen Dinge schon gleich von Uranfang an sich in wechselseitigen Berührungen mit einander müssen befunden haben, weil ohne ein derartiges Yerhältniss auch ein jeder thatsächliche, sowohl innerlich-äusserliche wie äusserlichinnerliche Wechselverkehr zwischen den einzelnen Dingen von vornherein eine Sache der Unmöglichkeit würde gewesen seyn. Wo aber zwischen den Einzeldingen wirkliche ö r t l i c h e Ber ü h r u n g e n stattfinden: da kann es für diese auch kein bloss einfaches und einseitiges „ H i e r " mehr geben, sondern da müssen nothwendig auch gleichzeitig die mehrfachsten „ D a " und „ D o r t " , d. h. die mannigfachsten in den vorhandenen Verhältnissen mit begründeten natürlichen Hinweise auf „diesen Ort da" oder auch „jenen Ort da", thatsächlich mit gegeben seyn. Entschiedener noch treten freilich alle diese besonderen Ortsbegriffe in dem Gebiete der gestalteten Natur uns entgegen. J e höher geartet die Quarze in ihren äusseren Ausgestaltungen namentlich bei solchen Gestalten sich zeigen, welche nach allen Richtungen hin vollständig ausgebildet sind, um so augenfälliger treten neben den noch ganz allgemeinen Ortsbegriffen von D a und D o r t auch die bestimmteren eines wirklichen Oben und U n t e n uns entgegen; ja bei den sogenannten rechts- oder linksdrehenden Quarzen treten sogar auch die Begriffe von R e c h t s und L i n k s bereits unverkennbar in die Erscheinung. Gehen wir von da zum Pflanzenreich über, so haben wir in den beiden, einander geradezu entgegengesetzten Wachsthumsrichtungen des Halmes oder Stammes einerseits und der Wurzel anderseits den Unterschied von Oben und U n t e n in der ausgeprägtesten Weise vor Augen. Doch auch an anderen Thatsachen fehlt es nicht. Das Yornen und H i n t e n , das bei den Quarzen kaum noch zu zweifelhaften

Baum und Zeit in Bezug auf die Gesammtheit alles Naturdaseyns.

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Andeutungen zu gelangen vermochte, tritt bei den sogenannten sonnenwendigen Pflanzen, wie z. B. der Sonnenblume, bereits sehr deutlich, wenn auch vor der Hand nur noch als erstes Dämmerlicht, zu Tage. J a die von unten nach oben schraubenförmig um den Stamm oder Stengel sich hinaufziehenden Ansätze von Blättern und Zweigen lassen auch selbst im Pflanzenreich irgend eine, wenn auch nur noch dunkle Ahnung von Rechts und Links hindurchschimmern, welche Ahnung wir jedoch in den hochentwickeltsten Blüthenbildungen, namentlich den sogenannten lippen- und schmetterlingsblüthigen Pflanzen schliesslich in der herrlichsten Weise vollkommen verwirklicht sehen. Dass alle diese Verhältnisse aber erst im Thierreich so recht eigentlich zu ihrer vollen Ausgestaltung gelangen, dies liegt in der Natur der Sache. Schon bei den noch niedrigeren Thieren, sobald dieselben nur einmal mit wirklichen Fangwerkzeugen zur Ergreifung ihrer Nahrung versehen sind, sehen wir alle jene Begriffe von Oben und Unten, von Rechts und Links, sowie von Hinten und Vornen in immer entschiednerer und augenfälligerer Weise zu Tage treten. Ohne sich auch nur im Geringsten in der zu nehmenden Richtung zu täuschen, führt ein jedes die erfasste Beute auch sofort der Mundöffnung zu: der sicherste Beweis dafür, wie im Thierleben der Ortsbegriff nicht nur im Allgemeinen, sondern auch in seinen besonderen Einzelheiten das ganze Daseyn des Thieres innerlich durchdrungen hat, und zwar nicht etwa bloss in einer so zu sagen noch unbewussten Weise, sondern in der Gestalt von wirklich willkührlich ausgeführten Bewegungen. Man hat zwar die Beobachtung gemacht, dass z. B. ein noch sehr junger Elephant Mühe hatte, mittelst des Rüssels seinen Mund zu finden, um demselben die bereits vom Rüssel erfasste Nahrung zuzuführen. Allein alle derartigen Erscheinungen sind nicht sowohl einem wirklich vorhandenen Mangel an Ortssinn zuzuschreiben, als vielmehr einer bei noch jungen Thieren vorkommenden anfänglichen Ungeschicklichkeit im Gebrauch ihrer Körperglieder.

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Sobald einmal die erforderliche Fertigkeit durch Übung erlangt ist, sehen wir auch den angebornen Raum- und Ortssinn ohne weitere Hindernisse in seine natürlichen Rechte eintreten. So müssen ja auch alle jungen Vögel erst fliegen und selbst die Menschenkinder müssen erst gehen lernen. Das ausgewachsene Thier aber zeigt uns von allem Derartigen nichts mehr. Das Rind weiss mit seinem Schwanz genau die Orte zu treffen, wo eine Mücke es gestochen hat, und die Orte, wo es den Affen juckt, weiss dieser selbst im Dunkeln mit seinen handähnlichen Füssen ganz sicher zu finden. Wie sehr ausgebildet aber der Ortssinn namentlich bei solchen Thieren sich zeigt, welche wirkliche Wanderungen, seyen sie von grösserer oder geringerer Ausdehnung, unternehmen ist allgemein bekannt. Jeder Vogel weiss sicher sein Nest zu finden, jede Biene ihren Korb; und wie sicher nicht nur Brieftauben, sondern namentlich auch Wandervögel durch ihren weitreichenden Ortssinn auf ihren weiten Reisen geleitet werden: darauf haben wir bereits an einem früheren Ort hingewiesen. Der Mensch endlich steht in seiner frühesten Kindheit in vielen Beziehungen noch ganz auf gleicher Stufe mit dem Thier. Auch das Kind fühlt sich, ebenso wie das Thier, noch in vollkommener Einheit mit seiner äusseren Leiblichkeit: ein Gegensatz zwischen diesem und seinem eigentlichen persönlichen Ich und Selbst ist auch ihm noch völlig fremd. Daher ist es begreiflich, dass auch bei ihm sein natürlicher Raum- und Ortssinn in der frühesten Zeit fast ausschliesslich nur in Bezug auf Ortlichkeiten seines Körpers in ähnlicher Weise wie bei den Thieren, sich zu äussern im Stande ist. Sobald aber nur einigermassen ein gewisser Grad von Denk- und Fassungsvermögen in ihm zu Tage tritt, benutzt es auch sofort seinen natürlichen Raum- und Ortssinn und die damit verbundene und allmählich ihm immer bewusster werdende Unterscheidung von h i e r , von da und von d o r t , als ein natürlich gegebenes Mittel, auch seinen Scharfsinn und sein Gedächtniss durch fortgesetzte leichte Übung immer mehr

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und mehr zu schärfen. Denn sobald das Kind nur einigermassen begonnen hat, den Sinn der ihm vorgesagten Worte zu verstehen und in sich festzuhalten, suchen wir seinen Ortssinn durch Fragen wie die folgenden in die richtigen Bahnen einzulenken: Wo ist der Kopf?, wo der Fuss?, wo das Auge, wo der Mund? u. s. w. Aber gleichzeitig versäumen wir dabei auch nicht, namentlich in der ersten Zeit diesen noch so urwüchsigen Unterricht in der körperlichen Heimathskunde dadurch noch weiter zu unterstützen, dass wir mit unserem eigenen Finger auf die Orte hindeuten, wo die betreffenden Körpertheile sich befinden. Wenn in dem denkenden Menschengeist einmal der Begriff des eigenen inneren Raumes der Dinge bis zur geistigen Vorstellung eines allgemeinen Weltraumes sich erweitert hat, so begegnen wir nunmehr auch in Bezug auf den O r t s b e g r i f f einem sehr ähnlichen Yerhältniss. Denn auch dieser hat in seiner Weise an eben jener natürlichen Erweiterung des begrifflich geistigen Gesichtskreises seinen bestimmten Antheil. Jedoch dürfen wir bei der geistigen Betrachtung eben dieser Verhältnisse nicht übersehen, auch jederzeit des wesentlichen Unterschiedes eingedenk zu bleiben, welcher naturgemäss besteht und vernunftgemäss auch bestehen muss zwischen den wirklichen und thatsächlichen Naturverhältnissen, wie solche auch im allgemeinen Weltraum nothwendig ihre Geltung haben müssen, und den blossen Vorstellungen und Gedankenbildern, die wir in unseren geistigen Anschauungen vielfach davon zu machen gewohnt sind. Allein jene Orte im Weltraum, von denen wir soeben gesprochen, sind keineswegs bloss erdachte oder willkührlich von uns ersonnene Orte: sie sind, als wirkliche innere Wesensmittelpunkte von thatsächlich im gemeinsamen Weltganzen vorhandenen wirklichen und wesenhaften Naturdingen, auch selber w i r k l i c h e u n d t h a t s ä c h l i c h in d i e s e r W e l t v o r h a n d e n e Orte. Diese t h a t s ä c h l i c h e n O r t e sind also jederzeit in unserem Denken völlig geschieden

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und getrennt zu halten von eben jenen b l o s s m ö g l i c h e n O r t e n im allgemeinen Weltraum, von denen wir bereits weiter oben gesprochen haben als von bloss geistig von uns vorgestellten P u n k t e n , ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob sie auch wirklich eingenommen sind von dem thatsächlichen Wesensmittelpunkt irgend eines wirklich vorhandenen Naturdaseyns oder nicht. Es ist nehmlich begreiflich, dass im Innern eines jeden Einzelwesens, als eines wirklich r ä u m l i c h e n Naturdaseyns, auch ausser seinem eigentlichen Wesensmittelpunkt für unser blosses Denken noch beliebig viele andere Punkte können angenommen werden, die aber, da sie nur zwischen dem Mittelpunkt und der Oberfläche irgend eines bestimmten Einzeldinges zu liegen kommen, nicht gleichzeitig auch zusammenfallen können mit dem inneren Wesensmittelpunkt irgend eines anderen Naturdaseyns. Alle derartigen raumlosen Punkte im Weltraum vermögen aber erst dann und erst dadurch ebenfalls zu wirklichen und thatsächlichen, d. h. zu wesenh a f t e n O r t e n zu werden, dass im Verlauf des allgemeinen Weltverkehrs körperliche Dinge, durch äussere Umstände dazu veranlasst, fortwährend ihre bisherigen örtlichen Standpunkte v e r l a s s e n und anderen in ihrer Nähe befindlichen Dingen dadurch Gelegenheit geben, ihnen n a c h z u r ü c k e n . Versetzen wir uns für einen Augenblick in das Innere eines solchen Dinges. Sein Mittelpunkt fällt mit irgend einem Punkt im Weltraum in Eins zusammen, und dieser Punkt bildet seinen ä u s s e r e n Ort im Gegensatz zu seinem eigenen persönlichen i n n e r e n Ort, wie solcher in dem Wesensmittelpunkt des Dinges seine dauernde Verwirklichung besitzt. Zwischen diesem M i t t e l p u n k t des betreffenden Dinges und dessen O b e r f l ä c h e vermögen wir uns aber eine beliebige Menge auch von noch a n d e r e n P u n k t e n zu denken, die zwar in dessen Innerem liegen, von denen aber kein einziger als ein mit dem Wesensmittelpunkt in Eins zusammenfallender w i r k l i c h e r O r t gelten kann. V e r l ä s s t nun das betreffende Ding, in dessen Inneres

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wir uns versetzt haben, seinen bisherigen Standpunkt oder äusseren Ort im Weltraum, so tritt in Folge dessen sein eigener Mittelpunkt a u s d i e s e m s e i n e m b i s h e r i g e n O r t heraus, und die weitere Folge eben dieses örtlichen Wegrückens kann selbstverständlich keine andere seyn als die, dass in demselben Verhältniss, als der i n n e r e O r t des in Rede stehenden Dinges nunmehr von seinem ä u s s e r e n O r t sich entfernt, in der nächsten Nähe seiner Oberfläche Punkte, welche bis dahin noch in seinem Innern sich befanden, nunmehr a u s s e r h a l b desselben zu liegen kommen, ohne doch selber irgendwie die eigene Stelle im Weltraum verlassen zu haben. Doch versetzen wir uns zum besseren Verständniss eben der nun eintretenden Verhältnisse auch noch für einen Augenblick an die Oberfläche des betreffenden Dinges und zwar an den Punkt, in welchem es in unmittelbarer Berührung mit einem seiner nächsten Nachbarschaft steht. In demselben Verhältniss, in welchem das vorige Einzelding in seiner Fortbewegung weiter v o r a n r ü c k t , wird der es berührende Nachbar, wofern nicht sonstige äussere Hindernisse dazwischen treten, ihm räumlich n a c h r ü c k e n . Daraus erfolgt aber, dass Punkte, welche durch die zunehmende Entfernung des vorhin betrachteten Dinges von dessen äusseren Orten nunmehr a u s s e r h a l b jenes Dinges zu liegen kommen, nun zum Theil in das I n n e r e d e s n a c h f o l g e n d e n D i n g e s fallen werden. Und je weiter die Fortbewegung jenes ersten Dinges v o r a n s c h r e i t e t : eine um so grössere Anzahl von früher seinem Innern angehörigen Punkten wird nunmehr dem Innern des nachfolgenden Dinges zukommen. Und so kann es denn auch nicht fehlen, dass schliesslich von solch übertretenden Punkten einige auch in immer grössere Nähe des innen Wesensmittelpunktes des nachfolgenden Dinges müssen zu liegen kommen. In demselben Augenblick aber, wo nunmehr eben jener Mittelpunkt des nachfolgenden Dinges mit einem jener freigewordenen und nun in seinem eigenen Inneren liegenden Punkte E i n s geworden ist, in eben diesem Augenblick ist jener bis dahin

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nur m ö g l i c h e Ort auch zu einem wirklichen ä u s s e r e n Ort eben dieses nachrückenden Naturdinges geworden. Ganz ähnliche wie die eben dargelegten Verhältnisse müssen aber auch eintreten, wenn in Folge veränderter äusserer Einwirkungen bis dahin im Innern der Einzeldinge gebunden gelegene Kräfte e n t b u n d e n oder bis dahin wirksame Kräfte g e b u n d e n werden, und eben diese Kraftentbindungen oder Kraftbindungen zugleich auch mit räumlichen W e s e n s a u s d e h n u n g e n oder räumlichen W e s e n s z u s a m m e n z i e h u n g e n Hand in Hand gehen. In Folge von Wesensausdehnungen müssen Punkte, die bis dahin ausserhalb der betreffenden Dinge gelegen, nunmehr in deren Inneres hineinfallen, wogegen umgekehrt bei Wesenszusammenziehungen Punkte, die bisher dem Wesensinneren der betreffenden Dinge angehört haben, nunmehr ausserhalb derselben zu liegen kommen. Alle derartigen Vorkommnisse können aber nicht statthaben, ohne nicht auch fortwährende Ortsveränderungen zwischen den in näheren Berührungen zu einander stehenden Naturdingen nothwendig in ihrem Gefolge zu haben, und Punkte im allgemeinen Weltraum, welche bis dahin nur als m ö g l i c h e O r t e in unserer inneren Vorstellung eine Geltung haben konnten, werden nunmehr auch in der Naturwirklichkeit zu w i r k l i c h e n ä u s s e r e n O r t e n für Dinge, deren innersten Wesenspunkten in solcher Weise günstige Gelegenheiten sich geboten haben, mit ebensolchen Punkten nun auch thatsächlich in Eins zusammenzufallen. In -allen diesen Verhältnissen, wie wir sie soeben an uns haben vorüberziehen lassen, dürfen wir somit, und wohl nicht ohne Grund, den natürlichen Faden erblicken, an welchem innerhalb des allgemeinen Naturzusammenhanges alle thatsächlichen Ortsveränderungen sowie alle räumlich - zeitlichen Bewegungserscheinungen überhaupt von Uranfang an in vollkommen naturgemässer Weise sich ohne Unterbrechung abspinnen. Mit bloss r a u m l o s e n P u n k t e n , wenn wir es nur allein mit solchen zu thun hätten, lassen sich freilich keine stetig in sich ver-

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laufende Linien bilden: aber nichtsdestoweniger ist es ein allgemeiner Gebrauch, sich den sogenannten zeitlichen F l u s s der D i n g e und die damit in Verbindung stehenden Bewegungserscheinungen stets unter dem Gedankenbild einer L i n i e zu veranschaulichen. Es könnte dies als etwas nur willktihrlich vom Menschengeist Ersonnenes aufgefasst werden, wenn die obige Darlegung uns nicht einen Wink böte, in den wirklichen Naturverhältnissen zugleich auch einen ganz natürlichen Grund dafür zu erblicken, weshalb von jeher die L i n i e als das zutreffendste Sinnbild für alle natürlichen räumlich-körperlichen Bewegungserscheinungen ist betrachtet worden, welche wir überhaupt im Weltall wahrzunehmen Gelegenheit haben. Freilich von räum- und körperlosen Linien, wie die allgemeine Raumund Grössenlehre solche für ihre besonderen Zwecke ersonnen hat, liefert der ganze Weltraum, als ein gemeinsames Ganzes von lauter thatsächlichen N a t u r w i r k l i c h k e i t e n , uns kein Beispiel. Aber in und mit eben jenen thatsächlich vorhandenen körperlichen Wesenheiten, wie sie von Uranfang an in der unmittelbarsten Oberflächenberührung unter einander müssen gestanden haben, bietet uns die Natur selber die zahllosesten Beispiele von, wenn wir so sagen dürfen, u n u n t e r b r o c h e n und stetig naturgemäss verlaufenden innerlich-wesenh a f t e n , weil die i n n e r e n W e s e n h e i t e n der Dinge s e l b e r n a t u r g e s e t z m ä s s i g v e r b i n d e n d e n L i n i e n , an deren Hand, d. h. in deren Richtung denn auch alle N a t u r b e w e g u n g e n und die mit ihnen zusammenfallenden Z e i t f o l g e n ohne alle und jede Unterbrechung allewege naturgemäss vor sich gehen. Denn erweisen sich nicht, in Folge eben jener, von der einen Seite von innen nach aussen, von der andern von aussen nach innen gerichteten natürlichen Aus- und Einwirkungen, von Kräften, die inneren W e s e n s m i t t e l p u n k t e der betreffenden Dinge durch die n a t ü r l i c h e Y e r m i t t e l u n g ihrer gegenseitigen B e r ü h r u n g s p u n k t e geradezu als durch wirkliche, von Einzelding zu Einzelding bis in die weiten Fernen des Weltalls nach

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allen Eichtungen hin v o l l k o m m e n u n u n t e r b r o c h e n u n d s t e t i g v e r l a u f e n d e w e s e n h a f t e N a t u r - oder K r a f t l i n i e n ? Dass aber allen derartigen, das ganze Weltall durchkreuzenden, weil in den thatsächlichen Naturverhältnissen selber mitbegründeten K r a f t l i n i e n auch eine ganz andere N a t u r b e d e u t u n g zukommen muss als jenen bloss gedachten kraftlosen Punkten der allgemeinen Raum und G-rössenlehre: dies darf wohl als selbstverständlich zu betrachten seyn. Jene nur in unserer geistigen Vorstellung im weiten Weltraum beliebig angenommenen einzelnen kraftlosen Punkte, die nie und nimmermehr im Stande sind, eine eigentliche Naturbedeutung für sich zu beanspruchen, gelangen erst dadurch für unsere geistige Vorstellung eine b e g r i f f l i c h - f a s s b a r e B e d e u t u n g , dass sie, als an sich bloss m ö g l i c h e O r t e im Weltraum, durch ihr vorübergehendes Zusammenfallen mit den Wesensmittelpunkten wirklich räumlich-körperlicher Dinge auch zu w i r k l i c h e n ä u s s e r e n O r t e n wirklich vorhandener Dinge zu werden vermögen. Wie der an sich völlig kraftlose Punkt des bloss möglichen Ortes jemals seinen Standpunkt in demselben weder von sich aus noch mit Hülfe einer anderen fremden Kraft zu verändern im Stande ist: ebensowenig ist er dies auch im Stand als wirklicher ä u s s e r e r Ort irgend eines wirklichen Naturdinges. Während die wirklichen Dinge ihren i n n e r e n Ort allewege an alle Orte der Welt mit hinzunehmen vermögen, ist ihnen ein gleiches in Bezug auf ihren ä u s s e r e n O r t im Weltraum in keiner Weise gegeben. Dieser bleibt für alle Zeit festgebannt an der Stelle, wo er überhaupt von vornherein einmal von uns angenommen ist. Und eben dieser bildet denn auch den eigentlichen Grund davon, dass alle diese bloss willkührlich von uns gedachten ä u s s e r e n O r t e gegenüber den von äusserem Ort zu äusserem Ort stets ununterbrochen fort wandern den i n n e r e n Orten der Dinge, trotz jener ihnen allewege anhaftenden Willkührlichkeit unseres Denkens, als das allein in und an sich F e s t s t e h e n d e und

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allein U n b e w e g l i c h e in der ganzen Natur pflegen betrachtet zu werden. Alles dieses aber weist uns darauf hin, als welch einen wichtigen Gefährten wir den O r t s b e g r i f f selbst für den Raumbegriff zu betrachten haben. Schlösse der Raumbegriff, sey es in dem Sinn von S e l b s t - und E i g e n r a u m oder in dem von G e s a m m t - oder W e l t r a u m , nicht von Uranfang an mit innerer Nothwenigkeit auch den Begriff des b e s o n d e r e n O r t e s o d e r d e r b e s o n d e r e n O r t l i c h k e i t im R a u m unbedingt in sich ein: es gäbe auch keine allgemeine W e l t o r d n u n g . Dieselbe wäre von vornherein völlig undenkbar und unmöglich. Denn ohne O r t s s i n n gibt es auch keinen O r d n u n g s s i n n . Der Ortssinn in seiner innersten und geistigsten Bedeutung erfasst, stellt als die unumgängliche Wurzel und Grundlage auch für den Ordnungssinn sich dar: daher auch nur da, wo alles an seinem gehörigen und richtigen Ort sich befindet, auch von einer wirklichen O r d n u n g die Rede seyn kann. Selbst von einer allgemeinen Weltordnung würden wir nicht reden können, wenn wir nicht wüssten, dass alles, was in der Natur als solcher geschieht, auch allezeit nach ganz bestimmten, den einzelnen Naturdingen in ihrem innersten Wesensgrund von Uranfang an mit enthaltenen und an sich unwandelbaren Naturgesetzen vor sich geht, und daß folglich auch selbst in allem Wechsel und Wandel des allgemeinen Weltverkehrs Alles in jedem besonderen Z e i t p u n k t auch gerade an demjenigen besonderen Ort sich befindet, wo es sich den allgemeinen Naturgesetzen zufolge, gerade in diesem Augenblick befinden muss. Mögen daher in unserer Sprache die Worte Ort und Ordnung auch immerhin nicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen seyn: b e g r i f f l i c h und ihrer tieferen Bedeutung nach schliessen sie sich so innig an einander an, dass sich zwischen beiden eine gewisse geistige Verwandtschaft, wenn wir so sagen dürfen, wohl kaum dürfte verkennen lassen.

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Nr. 126. Der Ort als Stand, Lage oder Stelle, und als Platz, Gegend oder Stätte. — Der körperliche Baum als Höhe, Breite lind Tiefe. Alle gebildeten Sprachen besitzen für den Begriff des O r t e s nach seinem natürlichen Verhältniss zu dem des R a u m e s je nach den besonderen Gesichtspunkten, von denen aus diese Verhältnisse in das Auge gefasst werden können, die mannigfachsten Sonderbezeichnungen. Unter diesen sind es namentlich zwei einander ganz verschwisterte Begriffsgruppen, welche vornehmlich geeignet sind, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die erste dieser beiden Begriffsgruppen, nehmlich diejenige von S t a n d , L a g e und S t e l l e , nimmt in erster Linie Bezug auf die einzelnen Dinge oder Körperlichkeiten an sich, und erst in zweiter Linie auf deren erweitertes Verhältniss auch zur Aussenwelt. Die zweite Gruppe dagegen, nehmlich die Begriffe von P l a t z , G e g e n d und S t ä t t e , nimmt vorherrschend Bezug auf den Theil der Aussenwelt, in welchem die Dinge sich zunächst befinden, und erst in zweiter Linie auch auf die betreffenden Dinge oder Körperlichkeiten selbst, zu denen sie in irgend einer räumlich-örtlichen Beziehung stehen. Hierbei kann es uns aber schon bei bloß oberflächlicher Betrachtungweise kaum entgehen wie sehr die einzelnen Begriffe dieser beiden Gruppen, und zwar in ihrer eben angegebenen Reihenfolge, in Bezug auf ihre besonderen Bedeutungen wechselseitig mit einander Hand in Hand gehen. Dem Begriff des S t a n d e s in der ersten Reihe entspricht der des P l a t z e s in der zweiten, dem der L a g e in der ersten der der G e g e n d in der zweiten, und endlich dem der S t e l l e in der ersten, der der S t ä t t e in der zweiten. Wir können sagen, dass der Begriff der zweiten Reihe gewissermassen als natürliche, d. h. als durch die gegebenen Naturverhältnisse gebotene Erweiterungen der betreffenden Begriffe der ersten Reihe dürfen betrachtet werden. Bei dem Begriff des S t a n d e s

haben wir vorzugsweise

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einerseits den von seiner eigenen G r u n d f l ä c h e eingenommenen F l ä c h e n r a u m , von der andern Seite aber den f e s t e n G r u n d und gleichzeitig damit den ebenso f e s t b e s t i m m t e n und an und für sich f e s t s t e h e n d e n Ort im Auge, wo und an w e l c h e n ein Ding oder eine Sache unter seiner übrigen Umgebung sich befindet. Daher auch seine so nahe und so unverkennbare Beziehung zu dem Begriff des S t a n d o r t e s oder des S t a n d p u n k t e s . So sprechen wir z. B. mit Bezug auf den festen Grund unserer Erdoberfläche von dem S t a n d eines Hauses, eines Thurmes, einer Bude, eines Denkmals, eines Kegels u. s. w. oder von dem Stande der Sonne oder des Mondes, den sie zu dieser oder jener Stunde am Himmelsgewölbe einnehmen. Desgleichen von dem verschiedenen Stand des Zeigers auf dem Zifferblatt einer Uhr gegenüber den an sich unveränderlichen Stundenzahlen im äusseren Umkreis des Letzteren; und ebenso auch von dem wechselnden Stand der Wasserhöhe oder des Wärmemessers gegenüber den feststehenden Strichen und Zahlen des Höhenmessers oder Messers der Wärmegrade. Das Gleiche gilt vom Wetterglas. Allenthalben also ein der örtlichen Bewegung Fähiges im Yerhältniss zu etwas an sich Feststehendem und Unbeweglichem. Auch der Umstand, dass wir uns nicht selten der Bezeichnung „Abstand" an der Stelle von „Entfernung" bedienen, weist uns auf ein ähnliches Begriffsverhältniss hin, weil der räumliche Abstand zweier Dinge von einander nur allein dadurch richtig kann bestimmt werden, dass wir, wie bereits früher erwähnt, die Entfernungen, in welchem deren beiderseitigen M i t t e l p u n k t e sich von einander befinden oder s t e h e n , einer Berechnung oder Messung unterwerfen. Denn eben diese Mittelpunkte sind es, welche in diesem Fall für unsere geistige Anschauung, den Begriff des in sich F e s t s t e h e n d e n in der Weise vertreten, wie solches von Seiten des Begriffes des „Standes" jederzeit gefordert wird. Und ähnlichen Grund hat auch die sprachlich nicht selten vorkommende Zusammenstellung der beiden Begriffe von S t a n d Wandersmann II.

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und Wesen, namentlich in dem Ausdruck „zu Stand und Wesen bringen". Der feste G r u n d , worauf das Wesen der Dinge steht, ist deren innerster Wesensgrund, der Mittelpunkt ihres gesammten Wesens, der U r s i t z der dieses begründenden einheitlichen Grundkraft. Das Wesen selbst dagegen weist in dem ihm zukommenden Wechsel seiner Wesenszustände hin auf die innere Veränderlichkeit und Unbeständigkeit aller Wesens- und Daseynsverhältnisse. Auch der Ausdruck „im Stande seyn" spricht, wenn auch meist mehr in sinnbildlicher Weise, für die Richtigkeit eben dieser Auffassung des Begriffes „Stand". Denn nur in Folge eben jener festen inneren Wesensgrundlage, welche allem Naturdaseyn zukommt, ist dasselbe auch „im Stand", d. h. vermögend irgend etwas Bestimmtes zu wirken oder zu leisten. Und fassen wir endlich den Begriff „Stand" in seiner rein sinnbildlichen Bedeutung als Gewerbe oder Beruf, wie Handwerkerstand, Lehrerstand, Kaufmannsstand u. s. w. in das Auge: so finden wir, dass es sich auch hier, gegenüber dem Wechsel und Wandel aller irdischen Verhältnisse, vor allem um ein festgesichertes Auskommen und einen festgesicherten Lebensunterhalt handelt, oder — wie W e i g a n d den Begriff des Standes umschreibt — um einen „festen Stehepunkt", d. h. um einen solchen Standpunkt unter den übrigen Mitmenschen, auf dem man im Leben auch fest und sicher zu stehen vermag WEIGAND Syn. III. 720. Kant sagt, dass „durch den blossen S t a n d eines Dinges (solam substantiae positionem)" dieses „ n i c h t einen Raum (spatium), sondern einen O r t (locum)" einnehme: KANT VIII S. 417. Mit dem Begriff der L a g e verbinden wir zwar einen ähnlichen, jedoch a l l g e m e i n e r e n Sinn, indem wir gleichzeitig mit dem Gedanken an dessen innere Wesensausdehnung, d. i. mit dem Gedanken an dessen eigenen inneren Raum, weniger den Begriff des eigenen inneren Ortes oder Wesensmittelpunktes in das Auge fassen, als vielmehr dessen eigene, in Bezug auf wirkliche Grösse mehr oder weniger unbestimmt gelassene

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innerliche Wesensausbreitung gegenüber von sonstigen Dingen der umgebenden A u s s e n w e l t und sonstigen äusserlichen Verhältnissen. So sprechen wir z. B. mit Bezug auf unsere, unserem eigentlichen Ich und Selbst gewissermassen schon fremdere äussere Leiblichkeit von der L a g e des Herzens, der Lunge, der Leber, der Augen, des Mundes u. s. w.; und ebenso sprechen wir von der L a g e eines Hauses, einer Stadt, eines Gartens, eines Berges, oder am Himmelsgewölbe von der wechselseitigen Lage der einzelnen Sterne in den besonderen Sternbildern. Und ähnlich sprechen wir auch in sinnbildlicher Bedeutung von „guten oder schlimmen Lagen", in die man im Leben unter Umständen kommen kann. Ganz in Übereinstimmung hiermit bestimmt daher auch L e i b n i t z den Begriff der L a g e ausdrücklich als das „gleichzeitige Zusammen-, Neben- und Auseinanderseyn (die Coexistenz)" der Dinge. (BAUMANN, Raum und Zeit II. S. 94.) Den Begriff der S t e l l e endlich bringen wir vorzugsweise dann zur Anwendung, wenn wir die betreffenden Dinge vorherrschend nur von aussen und demgemäss fast ausschliesslich nur in ihren äusseren räumlich-örtlichen Verhältnissen in das Auge fassen. So sprechen wir von den S t e l l e n , wo unsere Arme oder Beine, oder wo Haare, Nägel u. s. w. an unserem Körper sich befinden, oder von der Stelle, wo ein Haus, eine Mauer u. s. w. auf unserer Erde steht, und ebenso von der Stelle, welche ein Stern am Himmelszelt einnimmt u. s. w. Auch in seiner sinnbildlichen Anwendung in Bezug auf unsere menschlichen Verhältnisse behält der Begriff der Stelle die eben angedeutete Bedeutung von etwas an sich mehr Ausserlichem bei, z. B. eine Stelle als Buchhalter, als Reisender, als Bedienter, als Koch u. s. w. So sagt z. B. P l a t o , und dieser Ausspruch gilt sowohl für die eigentliche wie für die sinnbildliche Bedeutung des Wortes: „Alles Daseyende müsse nothwendig an irgend einer S t e l l e sich belinden und einen Raum einnehmen; dasjenige aber, bei dem dies weder auf Erden 28*

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noch im Himmel der Fall sey, das sey n i c h t s . "

(PLATO

[MÜLLER] V I . S. 1 7 2 [TIMAEUS]).

Vergleichen wir nunmehr diese drei Begriffe des S t a n d e s , der L a g e und der S t e l l e oder Stellung auch noch in ihren wechselseitigen begrifflichen Beziehungen zu einander, so wird sich ergeben, dass bei dem Begriff des S t a n d e s vorzugsweise der des I n n e r s t e n oder des eigentlichen Wesensmittelpunktes der Dinge es ist, welcher vor allem in Betracht gezogen ist, als der des eigentlichen festen inneren Haltes für die gesammte Dauer eines Daseyns; dass der Begriff der L a g e dagegen mehr dem Begriff des I n n e r n entspricht, als der eigentlichen Wesensausbreitung, dadurch ein jedes Ding seinen wesenhaftkörperlichen Raum erfüllt und einnimmt; und dass endlich bei dem Begriff der S t e l l e oder Stellung vorherrschend auch der Begriff des A u s s e r e n hervortritt durch die in Betracht kommenden mannigfachen Beziehungen zur übrigen Aussenwelt, in welche die Dinge sich naturgemäss h i n e i n g e s t e l l t finden. Eben hierin liegt denn auch der natürliche Grund für die so nahen Wechselbeziehungen, in denen die genannten drei Begriffe derart sich befinden, dass sie, namentlich im gewöhnlichen Leben, geradezu wechselseitig für einander in Anwendung gebracht zu werden pflegen. So findet z. B. erfahrungsgemäss in Bezug auf die beiden Begriffe S t a n d und S t e l l e , als innersten und äusseren Standpunkt für die Betrachtung der räumlich-örtlichen Verhältnisse eines Dinges, vielfache Verwechselung statt, und nach dem Ebengesagten kann dies auch in keiner Weise verwundern. Denn wo ein Ding durch natürlicli-nothwendige oder zufällige Ursachen seinen, den gegebenen Verhältnissen entsprechenden S t a n d gefunden, wo es also auch thatsächlich in dem gegebenen Augenblick s t e h t : da findet es auch sich und da finden auch wir es durch eben diese Verhältnisse h i n g e s t e l l t , d. h. da finden wir es an seiner richtigen Stelle. Ahnlich sagen wir auch von einem Haus, einem Garten und dergl., sie befänden sich in einer

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schönen, gesunden, freien oder sonstigen L a g e , wie wir in ganz ähnlichen Fällen und ebenfalls in Folge von derlei Rücksichten auch von einer geeigneten oder passenden Stelle derselben reden. Auch in sinnbildlicher Bedeutung sprechen wir von einem „schlimmen S t a n d " , den jemand im Leben unter seinen Mitmenschen hat, wie auch von einer „schlimmen L a g e " , in welcher er sich befindet. Wenn in derartigen Fällen die wechselseitigen Begriffe sich auch nicht immer in allen Stücken völlig decken, so sind sie einander eben doch so nahestehend, dass wir, ohne darum missverstanden zu werden, sehr leicht der einen an Stelle der anderen uns bedienen dürfen. Einem ganz ähnlichen begrifflichen Wechselverhältniss wie zwischen Stand, Lage und Stelle begegnen wir nun aber auch in Bezug auf die zweite Begriffsreihe von P l a t z , Gegend und S t ä t t e . Wie in dem Begriff des S t a n d e s vorherrschend auch der des feststehenden Grundes, der festen Unterlage oder des feststehenden Standpunktes es ist, welcher uns in erster Linie entgegentritt: so findet ein ähnliches Verhältniss auch bei dem Begriff des P l a t z e s statt, jedoch mit dem wohl zu beachtenden Unterschied, dass in dem Begriff des „Standes" wir diejenigen Gegenstände im Auge haben, welche fest auf jenem sicheren Untergrund stehen; während bei dem Begri des „Platzes" vielmehr der betreffende Platz selbst als die sichere Grundlage zu betrachten ist, welcher alles auf diesem Platz Stehende seinen festen und sicheren Stand zu verdanken hat. Wenn ein Teller auf einem Tisch oder in einem Schrank sich befindet, so bildet für ihn der Tisch oder der Schrank den Platz, auf oder in welchem er seinen sicheren Stand oder seine sichere Stelle findet. Dasselbe gilt von jedem Haus, von jedem Standbild u. s. w., welches auf einem bestimmten Platz innerhalb oder ausserhalb einer Stadt z. B. sich befindet. So sprechen wir auch von dem Platz, an welchem ein Stern oder ein Sternbild am Himmelszelt sich befindet, als dem fest-

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stehenden Ort oder Standpunkt, an welchem der Stern oder das Sternbild für unsere Anschauung gleichsam wie festgenagelt sich zu befinden scheint. Dasselbe gilt für den sinnbildlichen Gebrauch des Platzbegriffes. Der Platz, den jemand z. B. in einem Geschäft einnimmt, bezeichnet die besondere Art der ihm übertragenen Beschäftigung, durch welche ihm sein Lebensunterhalt gesichert ist. Der Begriff der G e g e n d ist verwandt mit dem der L a g e und zwar namentlich in der Beziehung, dass beiden Begriffen von Haus aus eine merklich grössere Flächenausbreitung als selbstverständliche Nebenbestimmung innewohnt, als solches die Begriffe des Standes und der Stelle, ja selbst des Platzes, im Allgemeinen der Fall ist. Schon in dem mit dem Begriff der Lage unmittelbar zusammenhängenden Begriff des L i e g e n s , im Gegensatz zu dem, dem Begriff des Standes zugehörigen Begriff des S t e h e n s und dem zu dem Begriff der S t e l l e gehörigen Begriff des S t e l l e n s liegt ein derartiges Verhältniss wie das eben erwähnte angedeutet. In ganz derselben Weise aber sagen wir von einer G e g e n d , sie „liege" da oder da oder in der Nähe von diesem oder jenem Ort. . Darum sprechen wir auch ebensowohl von der „Gegend" wie von der „Lage" einer Stadt, mit dem Unterschied jedoch, dass deren Lage sich mehr nur auf deren nähere Umgebung bezieht, die Gegend, in der die betreffende Stadt liegt, bis in entschieden weitere Entfernungen sich erstreckt. In den sogenannten W e l t - und H i m m e l s g e g e n d e n findet sich dieser Begriff der unbestimmten Weite in noch umfassenderer Weise ausgeprägt. J a selbst in dem so vielfach gebrauchten Wort „irgendwo" zur Bezeichnung irgend eines mit Bestimmtheit nicht näher anzugebenden Ortes, wo etwas zu suchen und zu finden seyn möchte, liegt in gewissem Sinn bereits eine Art von Hinweisung auf alle derartigen Raum- und Ortsverhältnisse enthalten, deren eigentliche und genauere Ausdehnung — wie solches eben bei dem Begriff der „Gegend" der Fall ist —

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näher zu bestimmen oder anzugeben wir nicht in der Lage oder der Möglichkeit uns befinden. Und wie endlich der Begriff der Stelle uns so recht eigentlich den Ort bezeichnet, wo etwas nicht allein seinem innersten Wesensbegriff, sondern auch seinen besonderen augenblicklichen Wesensbeschaffenheiten und inneren wie äusseren Wesenszuständen nach hinzugehört: so treten auch in dem Begriff der S t ä t t e ähnliche Verhältnisse uns entgegen. Denn die „Stätte" bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch meist einen grösseren räumlichen Ort, wo bestimmte Verrichtungen vorgenommen zu werden pflegen, die nur an diesen Ort oder an diese S t e l l e hingehören. Und zwar finden wir, dass auch hier wieder ein ganz ähnliches begriffliches Wechsel verhältniss zwischen S t ä t t e und P l a t z statt hat, wie in der vorigen Begriffsreihe zwischen „Stelle" und „Stand". So sprechen wir daher von einer Wahlstatt, Krönungsstatt, Gerichtsstatt, Werkstatt, von Wohn-, Schlaf- oder Lagerstätten, von Grabstätten und von heiligen Stätten u. s. w. Aber ebenso sprechen wir auch in ganz dem gleichen Sinn von einem Turnplatz, Spielplatz, Schiessplatz, Waffenplatz, Marktplatz, ja von Sitzplätzen und von Stehplätzen. Und in einem ganz ähnlichen sinnverwandten Verhältniss endlich wie die Begriffe von „ S t a d t und S t ä t t e " zu einander stehen, in dem gleichen befinden sich auch die beiden Begriffe von S t a l l und S t e l l e zu einander. Wie sehr aber auch hier wieder der Sprachgebrauch gewohnt ist, begrifflich sehr nahe stehende Bezeichnungsweisen wechselseitig für einander zu gebrauchen, dafür haben wir gerade in Bezug auf die beiden Begriffe von „Statt und Stelle" ein sehr bezeichnendes sinnbildliches Beispiel. Denn ebenso wie wir sagen, dass jemand „an eines Anderen »Stelle«" sey: ganz gleichbedeutend damit sagen wir auch, dass derselbe „an des Anderen »Statt«" sey. Zum Schluss unserer Untersuchungen über den Raumbebegriff im Allgemeinen hätten wir nunmehr noch den wirklich

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k ö r p e r l i c h e n R a u m oder vielmehr den diesen Raum mit seinem Wesen begründenden und erfüllenden r ä u m l i c h e n K ö r p e r in Bezug auf seine dreifache räumlich - körperliche Ausbreitung nach den drei hauptsächlichsten Gestaltungsrichtungen der H ö h e , der B r e i t e und der T i e f e etwas näher in das Auge zu fassen. Denn auch sie hängen, wie wir sehen werden, nicht bloss mit dem R a u m b e g r i f f im Allgemeinen, sondern ganz ebensosehr auch mit dem eigentlichen O r t s b e griff auf das innigste und untrennbarste zusammen. Versetzen wir uns zu dem Ende im Geiste in das Innere irgend eines bestimmten Körpers, z. B. einer Kugel, so werden wir finden, dass deren H ö h e bestimmt wird durch die s e n k r e c h t e L i n i e , welche wir uns von dem Scheitelpunkt der Kugel durch deren Mittelpunkt nach dem, dem Scheitelpunkte entgegengesetzten Punkte der Kugeloberfläche gezogen denken, d. h. mit anderen Worten, nach demjenigen Punkt, mit welchem eine auf einem Tisch liegende Kugel auf der Tischfläche aufliegt. Die Richtung der B r e i t e dagegen wird bestimmt durch eine ebenfalls durch den Mittelpunkt, aber in wagrecht.er Richtung, in der Weise gezogene Linie, dass diese Letztere, wenn wir uns vor die Kugel hingestellt denken, die völlig gleiche wagrechte Richtung mit derjenigen Linie einhält, welche wir uns als Verbindungslinie können gezogen denken zwischen den beiden höchsten körperlichen Punkten unserer beiden Achseln. Dass beide Bestimmungslinien, die der Höhe wie die der Breite, einander im Mittelpunkt der Kugel rechtwinklig durchschneiden müssen, liegt in der Natur der Sache. Die Richtung der T i e f e endlich wird bestimmt werden durch diejenige gerade Linie, welche in ebenfalls w a g r e c h t e r Lage als durch den Mittelpunkt der Kugel in der Weise gezogen kann gedacht werden, dass die Letztere, nehmlich die die Breiterichtung darstellende Linie, ebenfalls im Mittelpunkt der Kugel rechtwinklig durch sie durchschnitten wird, so dass also drei Richtungslinien der Höhe, Breite und Tiefe einander im Mittelpunkt der Kugel

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gegenseitig rechtwinklig durchkreuzen. Hieraus geht demnach hervor, dass unter allen Umständen alle drei Richtungslinien der Höhe, der Breite und der Tiefe sich in einem bestimmten gemeinschaftlichen Punkt einander wechselseitig rechtwinklig schneiden müssen. In diesen an sich noch so einfachen Verhältnissen haben wir somit die ersten und ursprünglichen begrifflichen Grundlagen für alle und jede räumlich-körperlichen Grössen- und Gestaltungsverhältnisse ohne Ausnahme vor Augen. Aber gleichzeitig damit treten auch hier schon, wenn auch ebenfalls in noch einfachster und ursprünglichster Weise, alle jene besonderen ö r t l i c h e n Unterscheidungen uns entgegen, welche wir bereits im Vorigen in den dreifachen Wechselbegriffen des Oben und U n t e n , des R e c h t s und L i n k s , des V o r n e n und H i n t e n kennen gelernt haben. Das Oben und Unten gehört dem Begriff der H ö h e , das Rechts und Links dem Begriff der B r e i t e , und das Vorn und Hinten dem Begriff der T i e f e an. Zugleich besitzen wir aber auch in dem örtlichen Mittelpunkt der Dinge, in welchem diese dreifachen Richtungen rechtwinklig sich durchschneiden, den Begriff des eigentlich räumlich-körperlichen H i e r ganz entschieden und unverkennbar ausgeprägt. Die zu dem Begriff des „Hier" unbedingt mitgehörigen Begriffe des D a und D o r t finden sich ebenfalls vollkommen ausgeprägt in den oberflächlichen End- und Gränzpunkten der Höhe, der Breite und der Tiefe. Freilich darf bei eben diesen an sich noch einfachsten und urwüchsigsten örtlichen Gegensätzen Eines uns nicht überraschen. Da nehmlich in der Kugel allen Durchmessern ohne Ausnahme die gleiche Längenausdehnung zukommt, so kann auch ein jeder denkbar mögliche Durchmesser unter Umständen sowohl als Sinnbild für die Höhe wie für die Breite und für die Tiefe sich darstellen; wir brauchen nur die betreffende Kugel mit einem anderen Punkt ihrer Oberfläche den Tisch berühren zu lassen, auf dem sie bis dahin gelegen, und wir haben damit sofort auch andere Durch-

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Raum und Zeit als Grundbedingungen alles natürlichen Daseyns.

messer sowohl lür die Höhe, wie für die Breite und für die Tiefe der Kugel erhalten. Erst mit der Ei- oder Längskugel, dem sogenannten E l l i p s o i d , tritt hier insofern eine Abänderung in dieser Beziehung ein, als die grosse Achse derselben eine grössere Länge zeigt als die diese rechtwinklig schneidenden kleinen Achsen, welche Breite und Tiefe vorstellen. Da eben diese beiden Letzteren jedoch in Längskugeln der Natur der Sache entsprechend unter sich stets die gleiche Länge besitzen, so ist einleuchtend, dass je nach der besonderen Stellung, welche einer solchen Längskugel gegenüber dem Beschauer gegeben wird, auch jedesmal irgend eine andere, durch die veränderte Stellung bedingte kleine Achse als Richtungslinien für die Breite und die Tiefe zu gelten haben. Erst in der gestalteten Natur, zu welcher die Verhältnisse der Längskugel gewissermassen als natürliche Übergänge oder Ubergangsstufen dürften zu betrachten seyn, treten alle die eben angeführten örtlichen Unterscheidungen, wie schon früher angedeutet, in einer entschiedeneren Weise uns entgegen, bis endlich in dem m e n s c h l i c h e n K ö r p e r alle die Begriffe des Oben und Unten, des Rechts und Links, desVornen und Hinten so recht eigentlich in ihrer ganzen natürlich-körperlichen Bedeutung uns vor Augen gestellt sind. J a wir dürfen wohl nicht ohne Grund annehmen, dass der Mensch überhaupt erst in Folge einer aufmerksameren Betrachtung und Beachtung seiner eigenen Körperlichkeit sich möchte veranlasst gefühlt haben, alle die erwähnten Begriffe nunmehr von hier aus auch auf die gesammte übrige Körperwelt zu übetragen. (BAUMANN , Raum und Zeit II. S. 657.) Gerade in Bezug auf den menschlichen Körper dürfen wir hier eine Eigenthümlichkeit nicht unerwähnt lassen, welche in naher Beziehung zu unserer gegenwärtigen Untersuchung steht. Der allgemeine Sprachgebrauch gestattet nehmlich n i c h t den Begriff der H ö h e auf unsere eigene Körperlichkeit anzuwenden; man spricht in körperlicher Hinsicht n i c h t von einem

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„hohen Mann", wenngleich in sinnbildlicher Bedeutung von „hohen Herren" oder von „hohen und allerhöchsten Herrschaften" und dergl., um eben hierdurch auf eine hervorragende Lebensstellung hinzuweisen, welche die Betreffenden ihren übrigen Mitmenschen gegenüber einnehmen. Dagegen spricht man im eigentlichen Sinn wohl eher von einem „langen Menschen" oder von einem „grossen Mann", und dies Letztere ebensowohl in eigentlicher wie in sinnbildlicher Bedeutung. Doch sind auch in dieser Anwendung auf den menschlichen Körper die beiden Begriffe der „Länge" wie der „Gösse" nicht in den ihnen im Besonderen eigenthümlich zukommenden Bedeutungen zu nehmen. Denn der Begriff der „ L ä n g e " in seiner eigentlichen Bedeutung erfasst, bezeichnet eine g e m e i n s a m e Maassb e s t i m m u n g für eine jede der drei räumlich-körperlichen Ausdehnungsrichtungen, mit denen wir uns im Augenblick beschäftigen. Er ist demgemäss auch jederzeit ebensowohl anwendbar auf den Begriff der Höhe, wie auf den der Breite und auf den der Tiefe. Daher hat auch selbst auf den Begriff der „Zeit" derjenige der „Länge" seine Geltung; und ebenso auch umgekehrt derjenige der „Kürze", als des natürlichen Gegensatzes der Länge. Diesem gemäss sagen wir z. B., es sey etwas 10 Fuss hoch, 5 Fuss breit und 3 Fuss tief, wobei der Fuss als das g e m e i n s a m e L ä n g e n m a a s s für alle drei Ausdehnungsrichtungen zu verstehen ist. Demgemäss liegt denn auch die eigentliche Bedeutung des Begriffes der L ä n g e in dem Sinn von „bis irgendwohin reichen", welcher Begriff sich verkürzt auch in dem Worte „ l a n g e n " , d . h . „bis irgendwohin reichen", ausgedrückt findet. „Das langt nicht" heisst: „es ist für den beabsichtigten Zweck n i c h t a u s r e i c h e n d " . Und zwar gilt dieses ebensowohl in räumlicher wie in zeitlicher und in sinnbildlicher Bedeutung. „Der Faden langt nicht" sagen wir, wenn er zu kurz ist, irgend eine bestimmte Ausdehnung damit zu messen; und ebenso „das Geld und die Zeit langen nicht für diese Reise." (WEIGAND, Syn. I I . 273.) Was endlich den

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Begriff der G r ö s s e sowie den seines Gegensatzes, der K l e i n h e i t , betrifft, so gehören beide ihrer eigentlichen Bedeutung nach gar nicht zu den eben unserer Untersuchung unterworfenen drei verschiedenen Ausdehnungsrichtungen der körperlichen Dinge. Der Begriff der Grösse umfasst den g a n z e n körperlichen Raum, den ein Ding mit seinem eigenen Wesen innerlich erfüllt, und fasst demnach alle einem körperlichen Wesen möglichen räumlichen Ausdehnungsrichtungen gemeinschaftlich und einheitlich in sich zusammen. Ganz in diesem Sinn bestimmt daher auch Weigand den eigentlichen Begriff der Grösse ausdrücklich als „überhaupt die körperliche Ausdehnung eines Dinges" (WEIGAND II. S. 96) bezeichnend. So stellt also der Biese uns einen körperlich g r o s s e n Menschen vor Augen, wie der Zwerg und das Kind körperlich k l e i n e Menschen. Dabei zeigen aber alle drei Ausdehnungsrichtungen der Höhe, Breite und Tiefe in dem einen Fall sich in gleichen V e r h ä l t n i s s e n v e r l ä n g e r t und im anderen Fall in derselben Weise v e r k ü r z t . Daher kann auch das Bild eines Zwerges unter bedeutender Vergrösserung bis zur Darstellung eines Eiesen anwachsen, und ebenso umgekehrt das Bild eines Riesen bis zu dem eines Zwerges verkürzt werden. Einer ähnlichen, in der eigentlichen begrifflichen Bedeutung der Worte nicht zulässigen Anwendung begegnet man im gewöhnlichen Leben auch in Bezug auf die beiden Begriffe von „ H ö h e " und von „ T i e f e " , indem der Begriff der T i e f e nicht selten als der begriffliche G e g e n s a t z der Höhe pflegt betrachtet zu werden. Allein der Gegensatz von „ h o c h " ist nicht „ t i e f " , sondern „ n i e d r i g " . In Folge dieser Nichtbeachtung der eigentlichen begrifflichen Bedeutung von „Höhe" oder „hoch" und von „Tiefe" oder „tief" werden beide Begriffe gewöhnlich in der Bedeutung von „nach oben" und „nach unten" oder von „über der Erdoberfläche" und „unter der Erdoberfläche" einander derart entgegengestellt, dass man z. B. sagt, ein Haus sey, was seinem ü b e r der Erde befindlichen Theil betrifft, so-

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viel Fuss h o c h , dagegen was seinen u n t e r der Erdoberfläche befindlichen Theil, also seinen Keller oder seine unterste bauliche Grundlage, sein Fundament, betrifft, soviel Fuss tief. Ebenso spricht man demgemäss von der Tiefe eines Brunnens oder eines senkrecht in die Erde gehenden Schachtes in einem Bergwerk. Alle diese Bezeichnungsweisen, da sie im Sprachgebrauch allgemein eingebürgert sind, können zu wirklichen Missverständissen kaum eine Veranlassung bieten. Nichtsdestoweniger sind sie zu den u n e i g e n t l i c h e n Ausdrucksweisen ihrer begrifflichen Bedeutung nach zu zählen. WEIGAND bestimmt den eigentlichen Begriff der T i e f e im Allgemeinen als „von starker Länge entfernt in ein I n n e r e s " gehend oder hineinreichend. Diese Begriffsbestimmung stimmt mit der in unserer gegenwärtigen Untersuchung bereits weiter oben gegebenen Darstellung des Begriffes der Tiefe vollkommen überein. Denn kehren wir zu unserem, gleich anfangs gebrauchten Bilde einer auf einem Tische liegenden Kugel zurück und betrachten wir uns auch jetzt wieder als vor dieser Kugel stehend, was bezeichnet alsdann eben jenes „entfernte Innere" im Grund genommen anderes, als eben die Richtung, welche ein durch den Mittelpunkt dieser Kugel wagrecht gehender Durchmesser nimmt, welcher, bis zu uns verlängert, mit der senkrechten Mittellinie unseres Körpers irgendwo zusammentreffen würde? Eben diese vorstehend erwähnte Begriffsbestimmung von Seiten WEIGAND'S schliesst zwar diejenige Auffassung, welche der Begriff der Tiefe im gewöhnlichen Leben erhalten hat, nicht geradezu aus; allein nichtsdestoweniger beziehen alle die sprachlichen Beispiele, welche er als Bestätigung für die von ihm gegebene begriffliche Bestimmung anführt, sich sämmtlich durchaus nicht auf Fälle, in welchen unter jenem „entfernten Inneren" eine Richtung nach dem „Inneren unserer Erde" zu verstehen wäre, sondern im Gegentheil einzig und allein auf solche Fälle, in welchen der Begriff der Tiefe in seiner Anwendung auf lauter räumliche Verhältnisse ü b e r unserer Erdoberfläche sich

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bezogen zeigt. So sagt WEIGAND Z. B. ausdrücklich „ein Haus, ein Zimmer ist t i e f " , d. h. es hat „eine starke innere Ausdehnung von der V o r d e r s e i t e bis zur H i n t e r w a n d . " Übersetzen wir in Bezug auf die Kugel die „Wand" durch „Seite", was für deren runde' Gestalt wohl gebräuchlich ist, ohne an der Sache selbst etwas zu verändern: so haben wir hier ganz genau dieselbe begriffliche Bestimmung und Anschauung wie die weiter oben auch von uns gegebene. Auch die übrigen von WEIGAND angeführten Beispiele wie „eine t i e f e Wunde", „tief im Gebirge wohnend", „tief in der Schlacht", tief im Wald" stimmen sämmtlich mit dieser eigentlicheren Begriffsbestimmung von »Tiefe« oder »tief« überein" (WEIGAND, II. 478). Ebenso spricht man auch in Bezug auf einen vor einem ansehnlichen grösseren Gebäude, etwa vor einer Kirche, befindlichen freien Platz von „der Tiefe dieses Platzes". Und in gleicher Bedeutung sagen wir auch von einem Stollen, welcher wagrecht in einen Berg gegraben ist, er gehe tief in den Berg hinein, wenngleich die Bezeichnung „weit in den Berg" ebenso gebräuchlich seyn mag. Allein in Beziehung auf die Richtung, welche der Stollen nimmt, dürfte zwischen „tief hinein" und „weit hinein" dennoch ein begrifflicher Unterschied stattfinden, und zwar insofern, als „tief in den Berg hinein" wohl mehr die Richtung nach der Mitte des Berges hier andeuten dürfte, wogegen der Ausdruck „weit in den Berg hinein" auf eine derartige bestimmtere Richtung des Stollens keine weitere Rücksicht zu nehmen scheint. Die Maassbestimmung der räumlich-körperlichen Grössenausdehnung der Dinge nach den eben besprochenen drei verschiedenen Ausdehnungsrichtungen ist bereits eine sehr alte. Schon A r i s t o t e l e s spricht von der „Ausdehnung nach der Richtung der Länge, Breite und Tiefe, durch welche der Körper bestimmt wird." An einem andern Ort fügt er zur weiteren Erklärung dieser drei Richtungen noch ausdrücklich hinzu: „Ich meine aber unter den dreien das Oben und Unten, das

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Yornen und sein ihm Gegenüberliegendes, und das Rechts und Links. Es ist aber das Oben (in Gemeinschaft mit dem zu ihm gehörigen Unten) die begriffliche Grundlage (das Prinzip) der L ä n g e (oder vielmehr der Höhe), das R e c h t s (in Gemeinschaft mit seinem Links) die begriffliche Grundlage der B r e i t e , und das Vornen (mit seinem Hinten) die begriffliche Grundlage der T i e f e " (ARISTOTELES, Phys. S . 155. Himmelsgeb. S. 111). So hat also auch schon ARISTOTELES den Begriff der Tiefe in ganz derselben Weise aufgefasst, wie solches auch in der vorliegenden Darlegung der Fall ist. — D e s c a r t e s bezeichnet die drei körperlichen Grössenverhältnisse der Körper, als L ä n g e (longueur, longum), B r e i t e (largeur, latum) und T i e f e (profondeur, profundum) (DESCARTES, Oeuvres S . 83. BAUMANN, Raum u. Zeit I. S. 93. 98). Und in gleicher Weise bedient sich auch S p i n o z a der Bezeichnungsweise von Länge, Breite und Tiefe (SPINOZA III S. 23 Ethik). Alle diese hier angeführten Beispiele sowohl aus dem Sprachgebrauch des gewöhnlichen Lebens wie aus wissenschaftlichen Gebieten zeigen, wie schwankend jene drei Hauptlängenrichtungen der körperlichen Ausdehnung auf Höhe, Breite und Tiefe je nach besonderen äusserlichen Rücksichten sich vielfach zeigen. Um so mehr aber sollte in Bezug auf eben jene drei räumlichen Nebenbegriffe von Höhe, Breite und Tiefe an ein für allemal festgestellten Begriffsbestimmungen unausweichlich festgehalten werden.

Verzeichniss der in dem Werke citirten Autoren.

Anaxagoras 1'75. 303. | Eckhart 12. 177. Aristoteles 9. 24. 49. 66. 103. 146. : Eimemoser 78. 93. 149. 150. 155. 164. 165. 175. 202. : Erigena 248. 217. 303. 313. 334. 350. 353. 360. ' Euler 307. 360. 383. 399. 406. Baader 47. 50. 71. 137. 145. 150. 203. 205. 221. 414. Bach (Eckhart) 12. 31. 177. Baco (v. Verulam) 103. 202. 206. Bauer 85. 208. Baumann 3. 12. 83. 90. 248. 258. 287. 295. 299. 304. 305. 309. 310. 312. 319. 324. 330. 337. 345. 348. 354. 360. 373. 375. 385. 401. 403. 404. 442. 447. Berkeley 71. 354. 371. Böhme 145. 211. Brandis 205. 295. 303. Braniss 140. 361.

Faraday 87. Fechner 72. 85. 207. 215. 268. 296. 371. Fichte 6. 10. 26. 42. 85. 92. 94. 126. 130. 173. 176. 186. 323. 340. 371. 386. 395. Fischer (Friedr.) 16. 119. 121. Fischer (Kuno) 414. Fischer (K. P.) 119. 397. Fresenius 373. 412. Friedleben 107. 115. 124. 169. Frohschammer 4. 12. 83. 156. German 207. 210. Glisson 389.

Carus 3. 148. 224. 308. 323. 351. 361. Carus (Lucretius) 176. 366. Hamberger 238. Cornelius 16. 119. Hasse (Anselm v. Canterbury) 326. Crousaz 357. Hegel 3. 5. 60. 62. 83. 85. 121. 123. Crusius 186. 202. 137. 239. 258. 261. 290. 303. 314. 329. Czolbe 111. 330. 343. 351. 360. 364. 369. 372. 396. 419. Heinze 219. Dahlberg 13. 16. 51. 86. 267. Herbart 8. 10. 28. 56. 81. 86. 90. 91. 101. 112. 180. 186. 191. 228. 242. Descartes 88. 91. 248 253. 288. 304. 259. 267. 320. 338. 305. 336. 367. 383. 401. 447. Hettinger 90. 147. Dieterici 248. 304. 383. Hobbes 24. 82. 249. 309. 354. Drechsler 242. Drossbach 3. 5. 6. 16. 34. 47. 62 76. Hoffmann 68. 136. 138. 140. 142. 187. 191. 206. 221. 86. 137. 140. 203. 405. 415.

Verzeichniss der in dem Werke citierten Autoren. Huber 8. 176. 206. 308. 323. Hume 371. Jakobi 49. 83. 342. 394. K a n t 3. 49. 86. 116. 130. 135. 137. 186. 256. 267. 296. 237. 404. 418. 434. Kirchner 150. Krause 31. 93. 109. 181. 259. 322. 340. 371. Kützing 351. Lammenais 101. Lange 144. 212. Lassalle 139. 156. 204. 220. 334. Leibnitz 15. 42. 85. 115. 140. 162. 208. 227. 249. 254. 266. 303. 305. 319. 337. 350. 354. 388. 408. 435. Locke 249. 295. 356. 370. 375. 384. 403. Lotze 34. 39. 137. 192. 193. 242. Lutterbeck 151. 156. 223. St. Martin 118. 137. 187. 211. Mey 398. Möller 185. Molitor 47. 99. 141. 268. Müller (Plato) 367. 436. Müller (Pouillet) 107. 114. 132. Newton 90. 109. 384. Noire 371. Novalis 33. 83. 338.

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Ritter 8. 82. 100. Sengler 137. 145. 181. 206. 216. 250. 268. 288. 290. 321. 344. 351. 397. Scharpf 140. Schelling 5. 7. 26. 76. 81. 83. 86. 90. 92. 120. 130. 180. 183. 191. 210. 212. 224. 250. 254. 257. 290. 307. 320. 330. 342. 348. 350. 368. 372. 396. Schleiermacher (Plato) 150. Schmidt, R. 92. Schopenhauer 2. 117. 215. 343. Schwegler 143. 155. 204. 208. 295. Spinoza 2. 33. 62. 85. 136. 202. 248. 253. 30 . 447. Steinbeis 213. Stentrup 255. 324. 344. Stöckl 335. Suabedissen 57. 81. 156. 160. 338. 394. Suarez 253. 319. 335. 346. 383. Tiedemann 81. 86. 109. 126. 136. 149. 202. 232. 288. 293. 305. 319. 350. 390. 394. Ule 131. 138. 207. Ulrici 2. 7. 16. 51. 85. 86. 87. 88. 106. 117. 121. 133. 187. 203. 269. 288. 292. 297. 405. Virchow 83. Wagner 68. 144. 185. 315.

Oettinger 142. 190. 209. Oerstedt 23. 86. 117. 207. 276. 398. Weber (F. A.) 33. Oken 308. 323. 329. Wedewer 352. Weigand 97. 146. 151. 157. 160. 171. 173. 196. 248. 252. 291. 412. 434. Philippi 130. 443. 444. Plato 139. 287. 436. Wiener 7. 101. 107. 108. 110. 259. Plotin 24. 176. 296. Prantl 30. 353. Werner 319. Wessenbevg 268. Wilmarshof 186. 203. Redtenbacher 111. W o l f 241. Reimarus 75. 100. Reil 185. Zimmermann 53. 230. 239. Rémusat (Bacon) 202. 29 Wandersmann II.

Verlag von VEIT & COMP, in Leipzig.

DER KAMPF UM EINEN

GEISTIGEN LEBENSINHALT. NEUE GRUNDLEGUNG EINER

WELTANSCHAUUNG. Von

Rudolf' Eucken, Professor in Jena,

gr. 8.

1896.

geh. 1 Jt 50 3}l, geb. in Halbfranz 9 Jt.

Das neue Werk von R u d o l f E u c k e n geht von der unbestreitbaren Thatsache aus, daß dem Kulturleben der Gegenwart leitende und zusammenhaltende Ideen fehlen, und daß damit der moderne Mensch einen geistigen Lebensinhalt zu verlieren droht. Die inneren Bewegungen der Zeit erscheinen somit als ein Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. In diesem Kampf hat die Philosophie die Aufgabe, das innere Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit zu klären, den Lebeusprozeß zu vertiefen und für größere Erfahrungen Raum zu schaft'en. Indem das Buch sich in den Dienst dieser Aufgabe stellt, erörtert es zuerst in einem aufsteigenden Teil die Probleme der Selbständigkeit, des Charakters, der Weltmacht des Geisteslebens, um dann in einem absteigenden Teil das Bild zusammenzufassen und in direkter Wendung zur Zeit Forderungen für Gegenwart und Zukunft zu entwickeln. In dem allen erfolgt die Grundlegung einer charakteristischen Weltanschauung, einer Philosophie der Wesensbildung und der freien Persönlichkeit. Das Buch wendet sich wie in dem Problem, so auch in der möglichst einfachen und lebendigen Darstellung an alle Gebildeten ernster Gesinnung; es steht nicht im Dienst einer Sekte oder Partei, sondern es sucht das große Problem in voller Unbefangenheit und Ursprünglichkeit zu behandeln.

Druck von M o t z g e r & W i t t i g in Leipzig. ^