Der europäische Konsens und die Rolle rechtsunverbindlicher Europaratsdokumente in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [1 ed.] 9783428581856, 9783428181858

Rechtsvergleichende Argumentation ist in den Urteilsbegründungen des EGMR gängige Praxis – mit dem europäischen Konsens

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Der europäische Konsens und die Rolle rechtsunverbindlicher Europaratsdokumente in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [1 ed.]
 9783428581856, 9783428181858

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Schriften zum Völkerrecht Band 243

Der europäische Konsens und die Rolle rechtsunverbindlicher Europaratsdokumente in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Von

Frederike Maaß

Duncker & Humblot · Berlin

FREDERIKE MAASS

Der europäische Konsens und die Rolle rechtsunverbindlicher Europaratsdokumente in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Schriften zum Völkerrecht Band 243

Der europäische Konsens und die Rolle rechtsunverbindlicher Europaratsdokumente in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Von

Frederike Maaß

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-18185-8 (Print) ISBN 978-3-428-58185-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im September 2019 eingereicht und im Sommersemester 2020 von der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Literatur wurde im Wesentlichen bis August 2020 berücksichtigt. Nachdem ich mit großem Bedauern Abschied von meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Heun nehmen musste, übernahm Prof. Dr. Hans Michael Heinig freundlicherweise die Betreuung meiner Arbeit. Hierfür, für den gewährten akademischen Freiraum sowie gewinnbringende Denkanstöße gebührt ihm mein Dank. PD Dr. Alexander Thiele danke ich über die zügige Erstellung des Zweitgutachtens hinaus für viele kritische Diskussionen und Anregungen. Herzlich danken möchte ich auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften. Hervorzuheben ist Dr. Pia Lange, LL.M. (UCT), die mich in zahllosen Gesprächen persönlich wie auch fachlich unterstützt und diese Arbeit mit konstruktiven Ratschlägen maßgeblich vorangebracht hat; auch die Begleitung durch Dr. Felix Kazimierski, MLE, Silvia Holdheide und Dr. Sina Fontana, MLE war in jeder Hinsicht eine Bereicherung. Einen wichtigen Beitrag leisteten darüber hinaus Dr. Jan Gärtner und ­ aximilian Schulz. Der Austausch in unserer Doktorandenrunde war für M mich eine fortwährende Quelle der Motivation und neuer Erkenntnisse; ihr freundschaftlicher Rückhalt hat meine Promotionszeit weit darüber hinaus positiv geprägt. Ganz besonders danken möchte ich meinen wunderbaren Eltern, Gabriela und Stephan Mielke. Sie haben großen Anteil an den Herausforderungen meiner juristischen Ausbildung genommen und mich in meinen Vorhaben stets liebevoll unterstützt und bestärkt. Nicht unerwähnt bleiben darf weiterhin mein Bruder Fridtjof Mielke, auf dessen fröhliche und aufmunternde Art stets Verlass ist. Meine abschließenden Worte widme ich dem größten Glücksgriff meines Lebens, meinem Mann Yannick Maaß. Er stand mir während der Erstellung dieser Arbeit unermüdlich zur Seite. Mit seinem ermutigenden Zuspruch wie auch seiner wertvollen fachlichen Unterstützung hat er entscheidend zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Ich bin ihm unendlich dankbar. Hamburg, im Januar 2021

Frederike Maaß

Inhaltsverzeichnis

Einführung 15 A. Internationales Soft Law in den Urteilsbegründungen des EGMR – ein „Wolf im Schafspelz“?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Etablierte Praxis mit vielen Fragezeichen – die Suche nach einem europäischen Konsens in der Rechtsprechung des EGMR  . . . . . . . . . . . 17 C. Darlegung und Einordnung der Untersuchungsziele  . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Erster Teil



Begriffsbestimmungen und Grundzüge des Individualbeschwerdeverfahrens 

§ 1 Europaratsdokumente als Beispiel internationalen Soft Laws  . . . . . . . . . . . . A. Internationales Soft Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Dokumente des Europarats  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dokumente des Ministerkomitees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Dokumente der Parlamentarischen Versammlung . . . . . . . . . . . . . . .

21 21 21 25 26 27

§ 2 Grundzüge der Verhältnismäßigkeitsprüfungund der margin of apprecia­ tion-Doktrin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 A. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Rechtsprechung des EGMR  . . . 31 B. Die margin of appreciation-Doktrin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 § 3 Individualbeschwerden vor der Großen Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 A. Verfahrensablauf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 B. Urteilsaufbau und Prüfungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Zweiter Teil

Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR  

49

§ 1 Die Anfänge und Entwicklung rechtsvergleichender Argumentation in den Urteilen des EGMR  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 § 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Der europäische Konsens als europäische herrschende Meinung  . . . . . . B. Die Konsens-Prüfung des EGMR  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die rechtsvergleichende Frage  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54 55 57 58

8 Inhaltsverzeichnis II. Die Erkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nationale Rechtslage in den Europaratsstaaten . . . . . . . . . . . . . . 2. Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Internationales Soft Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sonstige Erkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Auswertung der Erkenntnisquellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsvergleichung = Konsens-Ermittlung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Anwendungsbereiche und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Auslegung von Konventionsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die dogmatischen Leitlinien des EGMR  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die dynamische Auslegung der EMRK  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Margin of appreciation-Bemessung (sowie Verhältnismäßigkeitsprüfung?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die dogmatischen Leitlinien des EGMR  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Zusammenwirken von margin of appreciation und ­Verhältnismäßigkeitsprüfung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Diffusion der Grenze durch das Konsens-Kriterium . . . . . . . . . . 4. Schlussfolgerungen für die vorliegende Arbeit . . . . . . . . . . . . . . III. Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Auslegung und margin of appreciation-Bemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Auswirkungen eines angenommenen europäischen Konsenses . . . . . . . . E. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58 59 60 62 63 64 67 70 72 72 75 79 79 85 90 91 93 95 97

Dritter Teil

Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten in den Urteilsbegründungen der Großen Kammer  

98

§ 1 Konkrete Fragestellungen und Ziele der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 § 2 Untersuchungsvorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zusammenstellung des Fallpools . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Empirische Untersuchungsmethode  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Quantitative Analyse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kategorie A – Berücksichtigung/Nichtberücksichtigung in ­ „The law“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kategorie B – Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kategorie C – Konventionsartikel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kategorie D – Methodischer Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . II. Qualitative Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 100 102 102 103 103 104 104 105

§ 3 Allgemeine Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 A. Anwendungsbereiche und methodische Zusammenhänge der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 I. Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Inhaltsverzeichnis9 II. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 B. Stellenwert von Bezugnahmen auf Europaratsdokumente in den Urteilsbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 C. Bedeutung bei den verschiedenen Konventionsrechten . . . . . . . . . . . . . . 116 § 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Analyse der Urteile zu LGBT-Rechten nach Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 A. Von Rees bis Goodwin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 B. Neuere Entwicklungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 C. Vorläufige Beobachtungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 § 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 A. Der grundsätzliche Umgang mit der rechtlichen Unverbindlichkeit von Europaratsdokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 B. Der grundsätzliche Umgang mit Mehrheitsbeschlüssen von Europaratsdokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 C. Die Rolle von Europaratsdokumenten im Rahmen der Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter Erkenntnisquellen  . . . . . . . . . . . . . 143 I. Die Abstraktionsebene der rechtsvergleichenden Fragestellung als Steuerungsinstrument für die Konsens-Prüfung  . . . . . . . . . . . . . 144 II. Das Verhältnis von Europaratsdokumenten zum Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten – besondere Stellung des Rechtsvergleichs gegenüber internationalen Übereinkommen . . . . . . . . . . . 156 1. Allgemeine Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Konkrete Hinweise anhand von Formulierungen in einigen Urteilsbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3. Unterschied zwischen der margin of appreciation-Bemessung und der Auslegung von Konventionsbestimmungen sowie der Verhältnismäßigkeitsprüfung?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Konsens-Prüfungen im Rahmen der margin of appreciation-Bemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Rechtsvergleichende Argumentation in mehreren ­Anwendungsbereichen innerhalb eines Urteils  . . . . . . . . . . 164 c) Konsens-Prüfungen im Rahmen der Auslegung von ­Konventionsbestimmungen sowie der Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 d) Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III. Das Verhältnis von Europaratsdokumenten zu anderen internationalen Übereinkommen – die Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter internationaler Übereinkommen  . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Grundsatz: „It is for the Court to decide“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Differenzierung zwischen rechtsverbindlichen und -unverbindlichen internationalen Übereinkommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3. Differenzierung innerhalb von Soft Law-Dokumenten, insbesondere Europaratsdokumenten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

10 Inhaltsverzeichnis 4. Auswahl anhand der inhaltlichen Relevanz  . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Besondere Hervorhebung von Europaratsdokumenten am Beispiel der Rechtsprechung zu Gefangenenrechten . . . . . . . 6. Nichtberücksichtigung beziehungsweise Entscheidung entgegen inhaltlich einschlägiger Europaratsdokumente . . . . . . . 7. Die Bedeutung internationaler Übereinkommen ohne (ausdrücklichen) Bezug zur Konsens-Ermittlung  . . . . . . . . . . . . 8. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Alleinstehende Berücksichtigung von Europaratsdokumenten . . . . . . . . . E. Denkbare Hintergründe einer unterbliebenen Berücksichtigung von Europaratsdokumenten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180 187 202 214 218 219 227

§ 6 Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Vierter Teil

Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode 

240

§ 1 Das Erfordernis einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung . . . 241 A. Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 B. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 § 2 Ausarbeitung einer strukturierten Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung . . 255 A. Rechtliche Maßstäbe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 B. Orientierung an den methodischen Grundlagen der Rechtsvergleichung: Die Konsens-Ermittlung als rechtsvergleichende Methode  . . . . 262 I. Grundlagen der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 II. Anwendung auf die Konsens-Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 1. Die Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung . . . . . . . 265 2. Die Durchführung der rechtsvergleichenden Untersuchung . . . . 267 a) Untersuchungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 aa) Konsens-Ermittlung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 bb) Ausrichtung an den verschiedenen Anwendungsbereichen der Konsens-Ermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 (1) Margin of appreciation-Bemessung   . . . . . . . . . . . 274 (2) (Dynamische) Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 (3) Verhältnismäßigkeitsprüfung  . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 cc) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) Untersuchungsvorgehen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 aa) Vergleichende Untersuchung des nationalen Rechts der Europaratsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 bb) Internationale Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 cc) Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter Erkenntnisquellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 (1) Rechtsvergleich zwischen dem nationalen Recht der Europaratsstaaten und völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Inhaltsverzeichnis11 (2) Die Bedeutung internationalen Soft Laws . . . . . . . (a) Erreicht die Forderung nach methodischer Konsens-Ermittlung mit Soft Law ihre Grenze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Mögliche Kriterien zur Bemessung der Aussagekraft von Soft Law-Dokumenten . . . (c) Das besondere Potenzial der Europarats­ dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293



Schlussbetrachtungen 

306



Annex 1 

312

295 297 299 304

Liste der im Fallpool enthaltenen Urteile der Großen Kammer . . . . . . . . . . . . . . . 312

Annex 2 

320

Ergebnisse der quantitativen empirischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

Abkürzungsverzeichnis AJIL American Journal of International Law AMRK Amerikanische Menschenrechtskonvention a. o. and others Art. Artikel Aufl. Auflage BVerfG Bundesverfassungsgericht CCBE Council of Bars and Law Societies of Europe CM/Rec Empfehlung des Ministerkomitees CM/Res Resolution des Ministerkomitees CPT European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment DVBl Deutsches Verwaltungsblatt ECRI European Commission against Racism and Intolerance EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EJIL European Journal of International Law EKMR Europäische Kommission für Menschenrechte EMRK (Europäische) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ERS Satzung des Europarats EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EUGRCh Charta der Grundrechte der Europäischen Union EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuR Zeitschrift Europarecht Fn. Fußnote GLJ German Law Journal HRLJ Human Rights Law Journal HRLR Human Rights Law Review Hrsg. Herausgeber i.d.F. in der Fassung ILC International Law Commission ILO International Labour Organization IPBürg Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

Abkürzungsverzeichnis13 IPwsk

Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte IStGH Internationaler Strafgerichtshof i. V. m. in Verbindung mit JZ JuristenZeitung lit. littera m.w.N. mit weiteren Nachweisen NGO Non-Governmental Organization Nr. Nummer NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht PACE Rec. Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung PACE Res. Resolution der Parlamentarischen Versammlung Rn. Randnummer S. Seite u. a. und andere UN United Nations v. versus VerfO PV Verfahrensordnung der Parlamentarischen Versammlung vgl. vergleiche WVK Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZP Zusatzprotokoll zur EMRK

Einführung* „Although these principles have no force of law for this Court, they may define a common European standard in this area.“

Spätestens mit dieser Aussage des EGMR1 in Shtukaturov v. Russia2 hinsichtlich einer Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats offenbarte der Gerichtshof, dass internationales Soft Law eine wesentliche Erkenntnisquelle bei der Auslegung und Anwendung der EMRK3 darstellen kann. Der Richter am EGMR Pinto de Albuquerque erachtet es gar als „the most important source of crystallisation of the European consensus and the common heritage of values“.4 Mit der Prüfung eines europäischen Konsenses (beziehungsweise eines gemeinsamen europäischen Standards) untersucht der Gerichtshof, ob in Europa eine Art herrschende Meinung zu der im jeweiligen Verfahren in Rede stehenden Rechtsfrage vorliegt. Besteht ein solcher Konsens, tendiert der Gerichtshof dazu, die betreffende Konventionsbestimmung in diesem Sinne auszulegen beziehungsweise anzuwenden. Die vorliegende Arbeit untersucht vor diesem Hintergrund die Rolle von Europaratsdokumenten als Beispiel internationalen Soft Laws in der Rechtsprechung des EGMR und nimmt dabei vor allem deren Rolle bei der Ermittlung eines europäischen Konsenses in den Blick.

A. Internationales Soft Law in den Urteilsbegründungen des EGMR – ein „Wolf im Schafspelz“? Die Berücksichtigung internationalen Soft Laws in der Rechtsprechung des EGMR wird von dessen Beobachtern bisweilen kritisch beurteilt. Die Gründe dafür lassen sich am Beispiel von Europaratsdokumenten erläutern: Das Ministerkomitee sowie die Parlamentarische Versammlung des Europa*  Alle Übersetzungen in dieser Arbeit wurden von der Verfasserin vorgenommen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird grundsätzlich die grammatikalisch männliche Form verwendet, die sich indes auf Personen aller Geschlechter bezieht. 1  Folgend auch als der Gerichtshof bezeichnet. 2  EGMR – Shtukaturov v. Russia, 27.03.2008 – 44009/05, Rn. 95. 3  Folgend auch als die Konvention bezeichnet. 4  EGMR (Große Kammer)  – Muršić v. Croatia, 20.10.2016  – 7334/13, Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, Rn. 14.

16 Einführung

rats können in Menschenrechtsfragen Resolutionen und Empfehlungen, welche in dieser Arbeit auch als Europaratsdokumente bezeichnet werden, an die Mitgliedstaaten richten – diese sind jedoch rechtlich unverbindlich. Sie können die Mitgliedstaaten durchaus zur Vornahme bestimmter Maßnahmen auffordern, die Entscheidung darüber verbleibt jedoch bei den Staaten. Deren Vertreter im Ministerkomitee und in der Parlamentarischen Versammlung stimmen den genannten Dokumenten also in dem Wissen zu, dass sich daran keine rechtsverbindlichen Folgen knüpfen. Die EMRK ist im Gegensatz hierzu ein für alle Europaratsstaaten verbindlicher völkerrechtlicher Vertrag, über dessen Einhaltung der EGMR für die Staaten verbindliche Urteile fällt. Eine Berücksichtigung von Europaratsdokumenten bei der Auslegung und Anwendung der EMRK durch den EGMR kann somit darin resultieren, dass deren Bestimmungen mittelbar doch zu rechtsverbindlichen Pflichten der Europaratsstaaten führen. Darüber hinaus werden die Dokumente des Europarats nicht immer einstimmig beschlossen; der EGMR legt die Konvention also möglicherweise unter Zuhilfenahme unverbindlicher Regelungen aus, denen zudem nicht alle Vertragsstaaten zugestimmt haben. Dies mag als „Umgehung staatlicher Geltungsakte“ bedenklich erscheinen.5 Auch werde die „nicht-bindende Natur der in […] Bezug genommenen Instrumente des Europarates verschleiert“, indem diese in der Rechtsprechung des EGMR miteinander kombiniert oder neben bindenden internationalen Instrumenten herangezogen werden.6 Zu bedenken gegeben wird überdies die mittelbare Gefahr, dass dieses Vorgehen des Gerichtshofs eine zurückhaltendere Bereitschaft von Staaten zum Abschluss internationaler unverbindlicher Regelungen nach sich ziehen könnte.7 Welche Bedeutung hat internationales Soft Law aber tatsächlich in der Rechtsprechung des EGMR? Ist es – überspitzt formuliert – eine Art Wolf im Schafspelz, zunächst als unverbindliche politische Erklärung beschlossen, und im Anschluss durch den Gerichtshof womöglich gegen den Willen der 5  Klocke, EuR 50 (2015), 148, 152; siehe zu der vergleichbaren Situation, in der ein völkerrechtlicher Vertrag angewandt wird, den nicht alle Europaratsstaaten ratifiziert haben die Kritik des Richters Wojtyczek in seiner Dissenting opinion zu EGMR – National Union of Rail, Maritime and Transport Workers v. The United Kingdom, 08.04.2014 – 31045/10, Rn. 4. 6  Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 5 Rn. 12; Grabenwarter, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges – Fluch oder Segen, S. 45, 63. 7  Glas, The Theory, Potential and Practice of Procedural Dialogue in the European Convention on Human Rights System, S. 328. Bezüglich der Anwendung von völkerrechtlichen Verträgen, die nicht von allen Europaratsstaaten unterzeichnet wurden, äußerte diese Sorge auch der Richter Wojtyczek in seiner Dissenting opinion, EGMR – National Union of Rail, Maritime and Transport Workers v. The United Kingdom, 08.04.2014 – 31045/10, Rn. 8.

Einführung17

Staaten zu einer verbindlichen Regelung gewandelt? Diese Frage aufzuklären ist eines der Ziele der vorliegenden Arbeit. Sie will die genaue Rolle internationalen Soft Laws in der Rechtsprechung des EGMR am Beispiel von Europaratsdokumenten empirisch ermitteln und bewerten. Neben der alleinstehenden Heranziehung von Europaratsdokumenten steht dabei vor allem ihre Berücksichtigung neben anderen Erkenntnisquellen bei der Prüfung eines europäischen Konsenses im Fokus der Untersuchung.

B. Etablierte Praxis mit vielen Fragezeichen – die Suche nach einem europäischen Konsens in der Rechtsprechung des EGMR Der europäische Konsens ist die Rechtsfigur, die am ehesten einer rechtsvergleichenden Methode des EGMR entspricht. Sie durchzieht die Rechtsprechung zu allen Konventionsrechten und hat sich zu einer wichtigen Argumentationsstütze des EGMR entwickelt. Wenngleich sie von zahlreichen Autoren untersucht und analysiert wurde,8 gibt sie noch immer Rätsel auf.9 Neben ihren genauen Anwendungsbereichen und Funktionen in der Urteilsfindung des EGMR werfen vor allem die konkrete Prüfung und Bewertung verschiedener Erkenntnisquellen im Hinblick auf die Ermittlung eines europäischen Konsenses zahlreiche methodische Fragen auf. Wie entscheidet der Gerichtshof, ob ein europäischer Konsens vorliegt? Er argumentiert regelmäßig anhand verschiedener Erkenntnisquellen. Die wesentlichen sind ein Rechtsvergleich zwischen dem nationalen Recht der Europaratsstaaten sowie internationale Übereinkommen, worunter die vorliegende Arbeit völkerrechtliche Verträge sowie internationales Soft Law fasst. Aber welche Rolle spielen diese Erkenntnisquellen genau? Misst der EGMR unterschiedlichen Er8  Siehe insbesondere Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights; Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus; Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119; Nußberger, Rechtswissenschaft: Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 3 (2012), 197; Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717; Pascual Vives, Consensus-based interpretation of regional human rights treaties; Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 223 ff.; von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312; Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248. Der EGMR richtete überdies sein jährliches Seminar „Dialogue between Judges“ 2008 daran aus, EGMR (Hrsg.), Dialogue between Judges: „The role of consensus in the system of the European Convention on Human Rights“. 9  Martens bezeichnet den europäischen Konsens als „one of the most enigmatic concepts of [the Court’s] case-law.“, Martens, in: EGMR (Hrsg.), Dialogue between Judges: „What are the limits to evolutive interpretation of the Convention?“, S. 53, 54.

18 Einführung

kenntnisquellen unterschiedliches Gewicht bei? Differenziert er bei der Berücksichtigung internationaler Übereinkommen zwischen rechtsverbindlichen völkerrechtlichen Verträgen und rechtsunverbindlichen Soft Law-Dokumenten? Was geschieht, wenn sich verschiedene Erkenntnisquellen widersprechen? Gibt es hinsichtlich dieser Aspekte Unterschiede zwischen den einzelnen Konventionsrechten? Viele Autoren kritisieren, dass aus der Rechtsprechung des EGMR keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen hervor­ gehen.10 Mit der Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten zur Ermittlung eines europäischen Konsenses sollen diese Fragen anhand eines konkreten Beispiels aufgegriffen und erörtert werden.

C. Darlegung und Einordnung der Untersuchungsziele Die vorliegende Arbeit befindet sich an einer Schnittstelle mehrerer Ansätze in der Literatur zur Auseinandersetzung mit Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR. Zunächst einmal befassen sich einige Autoren mit der Frage nach der Bedeutung internationaler Übereinkommen in der Rechtsprechung des EGMR, ohne dabei explizit auf die Rechtsfigur des europäischen Konsenses einzugehen.11 Einige von ihnen behandeln dabei auch konkret die Rolle internationalen Soft Laws in der Rechtsprechung des EGMR.12 Schließlich haben sich zahlreiche Autoren der Rechtsfigur des eu10  Diese

Kritik wird im Laufe der Arbeit aufgegriffen und eingehend erörtert. beispielsweise untersucht, ob und inwiefern es der EGMR durch die Rezeption internationalen Rechts vermag, der Fragmentierung des Völkerrechts entgegenzuwirken. Dafür analysiert sie die Rechtsprechung des EGMR im Hinblick auf die Berücksichtigung internationalen Rechts in sechs „special regimes“ sowie zwei „areas of general international law“, vgl. Forowicz, The reception of international law in the European Court of Human Rights, Preface. In ihrer während der Erstellung der vorliegenden Arbeit erschienenen Monographie analysiert Staes die seit der Entscheidung in Demir and Baykara von 2008 ergangenen 136 Urteile der Großen Kammer im Hinblick auf „external references“, vgl. Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 38 ff. Sie betont dabei auch, dass systematische Urteilsanalysen zur Berücksichtigung internationalen Rechts in der Rechtsprechung selten sind, vgl. S. 35. Siehe weiter auch Rozakis, Tulane Law Review 80 (2005), 257, der sich ausführlich mit der rechtsvergleichenden Auslegung und Anwendung der EGMR durch den EGMR unter Berücksichtigung verschiedener ­„Sources of inspiration“ (S. 286) auseinandersetzt, den Begriff europäischer Konsens jedoch nur kurz an einer Stelle aufgreift (S. 273), ohne ihn dabei eindeutig in Verbindung mit seinen Ausführungen zur Rechtsvergleichung des EGMR zu setzen. 12  Hervorzuheben sind die Aufsätze von van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433; Glas, HRLJ 17 (2017), 97 und Klocke, EuR 50 (2015), 148, sowie der Beitrag von Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41. Siehe weiter auch Kleijssen, Nederlands Tijdschrift voor de Mensenrechten 35 (2010), 897, 900 ff. Auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to 11  Forowicz

Einführung19

ropäischen Konsenses gewidmet, wobei sie sich hinsichtlich der konkreten Konsens-Prüfung oftmals auf die Erörterung des Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten konzentrieren.13 Wildhaber, Hjartarson und Donnelly merken in dieser Hinsicht jedoch an: „We think that the Court – and its admirers and critics – should think more critically and specifically about soft law and its possible contribution to the formation of European consensus.“14 In diesem Sinne verbindet die vorliegende Arbeit die genannten Ansätze: Nachdem im Ersten Teil die für die Untersuchung maßgebenden (begrifflichen) Grundlagen der Rechtsprechung des EGMR dargestellt werden, widmet sich der Zweite Teil der Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR. Nach einem kurzen Überblick zur Entwicklung rechtsvergleichender Argumentation des Gerichtshofs in § 1 werden in § 2 die Rechtsfigur euro­ päischer Konsens eingeordnet und der Begriff, das Konzept sowie die Ermittlung eines europäischen Konsenses grundlegend erörtert. Hier bleiben viele Fragen offen, welche in der darauffolgenden empirischen Untersuchung mit in den Blick genommen werden: Im Dritten Teil werden alle bis Ende 2018 ergangenen Urteile der Großen Kammer empirisch zur Rolle von Europaratsdokumenten15 bei der Auslegung und Anwendung der EMRK untersucht. Wie im Laufe der Arbeit dargelegt wird, sind diese Soft Law-Instrumente aus mehreren Gründen von besonderem Interesse. Im Rahmen der Urteilsuntersuchung sollen die (methodischen) Zusammenhänge, in denen Europaratsdokumente berücksichtigt werden, sowie deren Bedeutung in den Urteilsbegründungen ermittelt werden. Nachdem damit die Rolle von Euroexternal instruments, S. 92 ff., differenziert in ihrer Untersuchung zwischen rechtsverbindlichen und –unverbindlichen Übereinkommen, legt hier jedoch keinen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Für eine bemerkenswerte Untersuchung zum konkreten Einfluss der Brighton Declaration siehe Madsen, Rebalancing European Human Rights: Has the Brighton Declaration Engendered a New Deal on Human Rights in Europe?. 13  Siehe Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 40; weiter Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 253, die auf S. 256 indes einige Überlegungen zur Rolle von Soft Law anstellen. Kapotas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 7, erklären: „[A]mong a plethora of possible components, [European Consensus] consists in the comparative analysis of the prevailing legal trends and common understandings of a right, with a principle focus on the national legal orders of the signatory parties.“ 14  Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 256. 15  Während in der Literatur oftmals der Einfluss von Europaratsdokumenten außerhalb gerichtlicher Verfahren sowie infolge eines EGMR-Urteils behandelt wird (siehe etwa Tschirky, The Council of Europe’s activities in the judicial field; Leach, in: Schmahl/Breuer (Hrsg.), The Council of Europe, S. 166, 198 ff.; Lambert-Abdel­ gawad, in: Føllesdal/Peters/Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, S. 263), untersucht die vorliegende Arbeit also die Bedeutung der Beschlüsse beider Organe bereits im Prozess der Rechtsfindung durch den EGMR.

20 Einführung

paratsdokumenten in der Rechtsprechung des EGMR aufgezeigt ist, soll diese im Vierten Teil der Arbeit konkret im Hinblick auf die Ermittlung eines europäischen Konsenses bewertet werden. Wenngleich die empirische Untersuchung mit ihrem Fokus auf internationalem Soft Law lediglich einen Teilbereich der Konsens-Ermittlung ins Auge fasst, will die vorliegende Arbeit unter Berücksichtigung dieses speziellen Blickwinkels auch einen Beitrag zu deren Strukturierung insgesamt leisten, welche von vielen Kritikern gefordert wird. Das abschließende Ziel besteht daher in der Unterbreitung methodischer Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode, für die an die methodischen Grundlagen der Rechtsvergleichung angeknüpft wird.

Erster Teil

Begriffsbestimmungen und Grundzüge des Individualbeschwerdeverfahrens In diesem Ersten Teil werden die grundlegenden Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit dem europäischen Konsens sowie die empirische Urteilsuntersuchung in den folgenden Teilen der Arbeit dargelegt. Zunächst werden die Begriffe internationales Soft Law sowie Europaratsdokumente bestimmt (§ 1). Sodann werden mit der margin of appreciation-Doktrin sowie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zwei zentrale Rechtsfiguren der EGMR- Rechtsprechung, in denen der europäische Konsens eine Rolle spielen kann, in Grundzügen erläutert (§ 2). Schließlich werden die besondere Rolle der Großen Kammer im Verfahrensablauf einer Individualbeschwerde dargelegt, sowie der Urteilsaufbau skizziert (§ 3).

§ 1 Europaratsdokumente als Beispiel internationalen Soft Laws Es sind zunehmend nicht mehr nur völkerrechtliche Verträge, in denen sich Staaten, internationale Organisationen oder andere internationale Akteure auf gemeinsame Vorgehensweisen oder Regelungen in bestimmten Bereichen einigen. Hierfür wird vermehrt auf den in vielerlei Hinsicht unkomplizierteren Abschluss von Soft Law-Übereinkommen zurückgegriffen.1 Im Rahmen des Europarats verabschieden insbesondere dessen Organe, die Parlamentarische Versammlung sowie das Ministerkomitee, Soft Law-Dokumente.

A. Internationales Soft Law In den jüngeren Urteilen des Gerichtshofs taucht mitunter der Begriff Soft Law auf. Meist wird er in Sondervoten einzelner oder mehrerer Richter 1  Vgl. Kirton/Trebilcock, Hard choices, soft law, S. 5 f.; konkret zum Europarat siehe auch Polakiewicz, in: Wolfrum (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making, S. 245, 287 ff.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

verwendet,2 wobei ihn insbesondere der Richter Pinto de Albuquerque gebraucht;3 er wurde jedoch auch bereits im Urteilstext verwendet.4 Damit hat ein Begriff Einzug in die Terminologie des EGMR gehalten, der in der Völkerrechtslehre überaus kontrovers diskutiert wird5 und bis heute keiner allgemein anerkannten Definition zugeführt werden konnte.6 Da eine eingehende Befassung mit den bestehenden Kontroversen um den Begriff Soft Law7 und dessen Konturen für die Zwecke der vorliegenden Arbeit weder notwendig noch zielführend ist, werden lediglich die wesentlichen Aspekte knapp erörtert. 2  Siehe etwa die Concurring opinion des Richters Kuris, EGMR – Matiosaitis a. o. v. Lithuania, 23.05.2017 – 22662/13 a. o., Rn. 3; Joint concurring opinion der Richter De Gaetano, Pinto de Albuquerque, Wojtyczek und Dedov, EGMR – Paradiso and Campanelli v. Italy, 24.10.2017 – 25358/12, Rn. 6; Dissenting opinion des Richters Spano, joined by Kjolbro, EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 36; Joint partly dissenting opinion der Richterinnen Nußberger und Jäderblom, EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Rn. 19. 3  Siehe etwa die zahlreichen Stellen (beispielsweise Rn. 3) in seiner Partly dissent­ ing opinion in EGMR (Große Kammer)  – Muršić v. Croatia, 20.10.2016  – 7334/13; seine Partly concurring, partly dissenting opinion in EGMR (Große Kammer) – Lopes de Sousa Fernandes v. Portugal, 19.12.2017 – 56080/13, Rn. 28; seine Dissenting opinion in EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Rn. 14. 4  Siehe EGMR – Dimitrov and Ribov v. Bulgaria, 17.11.2015 – 34846/08, Rn. 34. 5  Zur Diskussion um den Begriff siehe etwa Giersch, Das internationale Soft Law, S.  37 ff., sowie Marquier, Soft Law: Das Beispiel des OSZE-Prozesses, S. 33 f. m. w. N. 6  Dem Versuch einer genauen rechtsdogmatischen Einordnung von Soft Law haben sich bereits zahlreiche Autoren gewidmet, wie Knauff, Der Regelungsverbund; Giersch, Das internationale Soft Law; Marquier, Soft Law: Das Beispiel des OSZEProzesses; Heusel, „Weiches“ Völkerrecht. Während einige sich darauf beschränkt haben, Soft Law anhand einzelner Erscheinungsformen zu beschreiben, unternehmen andere den Versuch der Formulierung einer Definition. Giersch, Das internationale Soft Law, S. 41 f., erörtert verschiedene Ansätze der Völkerrechtswissenschaft: Durch eine negative Abgrenzung können etwa alle normativen Erscheinungsformen erfasst werden, die nicht unter die anerkannten Völkerrechtsquellen des Art. 38 IGH-Statut fallen; daneben kann Soft Law anhand des materiellen beziehungsweise normativen Gehalts der in Rede stehenden Regelung definiert werden; schließlich ist auch ein rechtsfolgenorientierter Ansatz denkbar (so etwa Marquier, Soft Law: Das Beispiel des OSZE-Prozesses, S. 28). 7  Kritisiert wird insbesondere, dass der Terminus Soft Law ein Widerspruch in sich selbst sei; zu dieser „begriffsinternen Spannung“ siehe Knauff, Der Regelungsverbund, S. 214; weiter Blutman, The International and Comparative Law Quarterly 59 (2010), 605, 609 ff. Im Ergebnis ist indes Giersch, Das internationale Soft Law, S. 39 f., zuzustimmen, der den Begriff Soft Law trotz bestehender Ansätze für Kritik als inzwischen in der Völkerrechtslehre etabliert anerkennt und daher konstatiert, dass mit dessen Ersetzung durch einen anderen, nicht weniger kritikwürdigen Terminus wenig gewonnen wäre.



§ 1 Europaratsdokumente als Beispiel internationalen Soft Laws 23

Ursprünglich eingeführt wurde der Begriff Soft Law in den 1970er Jahren.8 Er fungiert vor allem als Sammelbezeichnung für eine Vielzahl internationaler Normen, welche nicht (eindeutig) den in Art. 38 IGH-Statut aufgeführten Völkerrechtsquellen zugeordnet werden können und keine rechtlichen Verbindlichkeiten schaffen, gleichwohl aber nicht wirkungslos sind.9 Tomuschat erklärt: „[P]recepts of soft law have all the external features of genuine rules of international law with the one major exception in that they are not binding in the normative sense.“10 Unter den Begriff Soft Law werden Entschließungen internationaler Organisationen gefasst, die Verhaltensregeln für ihre Mitglieder aufstellen ohne dabei rechtsverbindlich zu sein, wie beispielsweise die in der vorliegenden Arbeit maßgeblich behandelten Resolu­ tionen und Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung und des Ministerkomitees. Die Normen können indes eine Vielzahl an Formen annehmen, und etwa als Resolutionen, Empfehlungen oder Erklärungen ergehen, oder auch Berichte oder Stellungnahmen sein.11 Daneben wird der Begriff Soft Law auch für Übereinkommen zwischen Staaten verwendet, wie etwa Absichtserklärungen oder Leitlinien, die sich mangels Rechtsbindungswillens der Parteien nicht als völkerrechtliche Verträge einordnen lassen.12 Gemeinsam ist diesen Beispielen „the lack of formalized consent by States who are nevertheless expected to take them into account.“13 Vor diesem Hintergrund verwendet die vorliegende Arbeit den Begriff des internationalen Soft Law als Oberbegriff für alle Übereinkünfte beziehungsweise normativen Phänomene, die von Staaten oder im Rahmen internationaler Organisationen auf internationaler Ebene getroffen werden und die keine rechtliche Verbindlichkeit entfalten, sondern ihre Steuerungswirkungen auf außerrechtlichem Wege erzielen (sollen).14 Dieses Verständnis scheint insbesondere vereinbar mit 8  Zur

Historie des Begriffs siehe Giersch, Das internationale Soft Law, S. 25 ff. in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, S. 452,

9  Thürer,

454.

10  Tomuschat,

ZaöRV 77 (2017), 309, 311. Thürer, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, S. 452, 453. 12  Siehe mit weiteren Beispielen Giersch, Das internationale Soft Law, S. 26 ff., sowie Thürer, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, S. 452, 454–456. Ein allgemein anerkannter Begriffsinhalt existiert insoweit nicht, Knauff, Der Regelungsverbund, S. 214 m. w. N. 13  Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 43. 14  Teilweise angelehnt an Knauff, Der Regelungsverbund, S. 228: „verhaltensbezogene Regelungen, die von Hoheitsträgern beziehungsweise mit der Ausübung von Hoheitsgewalt befassten Stellen geschaffen werden, die über keine oder nur eine auf die Innensphäre des Regelungsgebers bezogene Rechtsverbindlichkeit verfügen und die ihre Steuerungswirkungen auf außerrechtlichem Wege erzielen“, sowie Heusel, „Weiches“ Völkerrecht, S. 42: „alle normativen Phänomene zwischen Völkerrechts11  Vgl.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

jenem, das die Richter des EGMR der Verwendung des Begriffs zugrunde legen, denn sie verwenden den Begriff vor allem in Abgrenzung zu völkerrechtlichen Verträgen, also rechtsverbindlichen Übereinkommen.15 Soft Law schafft also keine rechtlichen Verbindlichkeiten, sondern entfaltet seine Wirkung auf außerrechtlichem Wege.16 Stegen spricht hinsichtlich der Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats beispielsweise von einem „moralischen Zugzwang“, den diese den Europaratsstaaten auferlegen.17 Thürer beschreibt Soft Law als „commitments which are more than just policy statements but less than law in its strict sense.“18 Letztlich befindet sich Soft Law in einem Graubereich zwischen Recht und Politik,19 wobei die Grenze in beide Richtungen fließend ist.20 Es erlangt international zunehmend an Bedeutung.21 Für den Abschluss eines Soft Law-Dokuments ist eine subjekten […], welche rechtlich nicht verbindlich sind oder deren rechtliche Verbindlichkeit zumindest zweifelhaft ist“. Siehe weiter zu diesem wie auch zu einem anderen Verständnis des Begriffs Soft Law, das auf einer Differenzierung anhand des Inhalts von Übereinkommen (zwischen „rules“ und „principles“) gründet, Boyle, in: Evans (Hrsg.), International law, S. 119, 119 ff., 131 f. Auch van Drooghenbroeck/ Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 437 ff., bezeichnen Soft Law als Regelungen mit beschränktem normativem Wert, entweder weil sie nicht rechtlich bindend seien, oder zwar in rechtsverbindlicher Form verabschiedet wurden, allerdings tatsächlich keine oder nur schwache rechtliche Verpflichtungen enthalten. Wie auch die vorliegende Arbeit orientieren sich die Autoren für ihre Arbeit indes am ersten Kriterium (S. 438). 15  So beispielsweise in dem Sondervotum Nußbergers und Jäderbloms, EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Rn. 19: „In the Court’s jurisprudence, three factors are relevant in order to determine the existence of a Euro­ pean consensus: international treaty law, comparative law and international soft law […].“ Mit weiterem Begriffsverständnis aber wohl Pinto de Albuquerque, vgl. sein Sondervotum in EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn.  14 ff. 16  Zum Einfluss und den möglichen Auswirkungen internationalen Soft Laws siehe Thürer, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, S. 452, 457 f.; Boyle, in: Evans (Hrsg.), International law, S. 119, 125 ff.; Kirton/Trebilcock, Hard choices, soft law. Konkret zum Europarat siehe auch Polakiewicz, in: Wolfrum (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making, S. 245, 247 ff. und 287. Ein Weg, auf dem Soft Law trotz seiner rechtlichen Unverbindlichkeit rechtliche Auswirkungen entfalten kann, ist bereits mit dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit aufgezeigt: Seine Berücksichtigung durch Gerichte und der damit einhergehende Einfluss im Rahmen eines rechtsverbindlichen Urteils. 17  Stegen, in: Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, S. 79, 80. 18  Thürer, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, S. 452, 453. 19  Knauff, Der Regelungsverbund, S. 211. 20  Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 42 ff.; Blutman, The International and Comparative Law Quarterly 59 (2010), 605, 613 ff.



§ 1 Europaratsdokumente als Beispiel internationalen Soft Laws 25

Vielfalt von Gründen denkbar.22 Aufgrund seiner im Vergleich zu völkerrechtlichen Verträgen flexibleren Regelungsmöglichkeiten23 ermöglicht Soft Law schnellere Antworten auf aktuelle (Menschenrechts-)Fragen und kann in dieser Hinsicht unter Umständen im Vergleich zu völkerrechtlichen Verträgen als effektiver angesehen werden.24 Darüber hinaus kann der Abschluss eines Soft Law-Dokuments ein Kompromiss sein, wenn einerseits ein anerkanntes Regelungsbedürfnis besteht, andererseits aber keine Einigkeit zum Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags erzielt werden kann, oder die Beteiligten sich auf dem betreffenden Gebiet derzeit nicht rechtlich binden wollen.25

B. Die Dokumente des Europarats Einige der wichtigsten Quellen internationalen Soft Laws in den rechtsvergleichenden Untersuchungen des EGMR sind Resolutionen und Empfehlungen des Ministerkomitees sowie der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, welche in dieser Arbeit unter dem Begriff Europaratsdokumente zusammengefasst werden. 21  Siehe hierzu Thürer, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, S. 452, 453 und 459 f. Giersch, Das internationale Soft Law, schildert die zunehmende Verabschiedung von Soft Law am Beispiel der wachsenden Anzahl an OECD-Empfehlungen: Während derartige Übereinkünfte „bis in die Mitte der 1970er Jahre nur etwa die Hälfte der bis dahin insgesamt verabschiedeten Instrumente (ca. 25 Instrumente insgesamt) ausmachten, lag der Anteil der Empfehlungen im Jahre 2003 bereits bei ca. 80 % aller bis dahin verabschiedeten Instrumente […]“, vgl. S. 11, Fn.  2, m. w. N. 22  Neben den sogleich genannten Beiträgen siehe auch Boyle, in: Evans (Hrsg.), International law, S. 119, 122 f.; Tomuschat, ZaöRV 77 (2017), 309, 311; Tschirky, The Council of Europe’s activities in the judicial field, S. 17; Verdross/Simma (Hrsg.), Universelles Völkerrecht, S.  420 f.; Neuhold, in: Wolfrum (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making, S. 39. 23  Soft Law-Dokumente des Europarats etwa treten mit ihrer Annahme durch das jeweilige Europaratsorgan in Kraft, ohne dass ein aufwändiger und oftmals zeitintensiver Ratifizierungsprozess notwendig wäre, vgl. Kleijssen, Nederlands Tijdschrift voor de Mensenrechten 35 (2010), 897, 899. Er erklärt weiter: „[T]hese standards can be amended in a less formal manner.“ 24  Weitere Hintergründe einer höheren Effektivität von Soft Law erörtert auch To­ muschat, ZaöRV 77 (2017), 309, 312. Zum verstärkten Rückgriff auf Soft Law im Sinne einer effektiven Regelung der internationalen Rechtsbeziehungen siehe Kirton/ Trebilcock, Hard choices, soft law, S. 3 ff. Siehe in diesem Zusammenhang aber auch die Ausführungen von Pergantis, der die Vorzüge völkerrechtlicher Verträge auch im Vergleich zu Soft Law als „a formalistic but not excessively rigid instrument, a device that is subjectivist but sufficiently flexible so as to accomodate collective interests“ hervorhebt, Pergantis, The Paradigm of State Consent in the Law of Treaties, S. 76 ff. (Zitat auf S. 81). 25  Thürer, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, S. 452, 453.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

I. Dokumente des Ministerkomitees Mit der Entscheidung für einen Europarat als zwischenstaatlich ausgerichtete, und gegen eine supranational aufgestellte internationale Organisation wurde das Ministerkomitee als das zentrale Organ des Europarats ausgestaltet.26 Es besteht nach Art. 14 ERS aus den Außenministern der Mitgliedstaaten als deren Vertreter und ist nach Art. 13 ERS dafür zuständig, im Namen des Europarats gemäß Art. 15 und 16 ERS zu handeln. Gemäß Art. 15 lit. (a) S. 1 ERS prüft das Ministerkomitee auf Empfehlung der Beratenden Versammlung oder von Amts wegen die Maßnahmen, die zur Erfüllung der Aufgaben des Europarats geeignet sind. Gemäß Art. 16 ERS obliegt ihm darüber hinaus die Regelung aller Fragen der Organisation und des inneren Dienstes des Europarats. Die Aufgaben des Europarats sind in Art. 1 ERS normiert; für die vorliegende Arbeit relevant ist insbesondere Art. 1 lit. (b) ERS, wonach ein engerer Zusammenschluss unter den Europaratsstaaten durch den Schutz und die Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten herbeigeführt werden soll. Infolge der Prüfung geeigneter Maßnahmen zur Erfüllung dieser Aufgabe kann das Ministerkomitee Beschlüsse verschiedener Art annehmen.27 Die bedeutendsten28 sind in Art. 15 lit. b S. 1 ERS normiert: Hiernach können die Beschlüsse des Ministerkomitees die Form von Empfehlungen an die Regierungen (CM/Rec) annehmen. Diese sind für die Mitgliedstaaten rechtlich nicht verbindlich29 – dies geht zwar nicht ausdrücklich aus Art. 15 ERS hervor, ergibt sich aber im Umkehrschluss aus Art. 16 S. 1 ERS, der den Entscheidungen des Ministerkomitees bezüglich Fragen der Organisation und des inneren Dienstes des Europarats ausdrücklich bindende Wirkung zuspricht.30 Zumindest einen Kontrollmechanismus führt jedoch Art. 15 lit. (b) S. 2 ERS herbei: Hiernach kann das Ministerkomitee die Regierungen auffordern, über die infolge der Empfehlung getroffenen Maßnahmen Bericht 26  Brummer, Der Europarat, S. 33. Zur Arbeit des Ministerkomitees siehe grundlegend Palmer, in: Schmahl/Breuer (Hrsg.), The Council of Europe, S. 137; BenoîtRohmer/Klebes, Council of Europe law, S. 48 ff.; Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, S. 118 ff. 27  Siehe hierzu die Übersicht auf der Homepage des Ministerkomitees https:// www.coe.int/en/web/cm/adopted-texts (abgerufen am 28.08.2020). 28  So auch Tichy, ZaöRV 76 (2016), 415, 416. 29  So auch Brummer, Der Europarat, S. 66; Benoît-Rohmer/Klebes, Council of Europe law, S. 51. 30  Hinsichtlich der Unverbindlichkeit der Dokumente der Europaratsorgane insgesamt vgl. auch Grabenwarter, ZaöRV 74 (2014), 419, 431 m. w. N. Zum Soft Law der internationalen Organisationen siehe umfassend Giersch, Das internationale Soft Law, S.  63 ff.



§ 1 Europaratsdokumente als Beispiel internationalen Soft Laws 27

zu erstatten.31 Empfehlungen erfordern nach Art. 20 lit (a) (i) ERS die Einstimmigkeit der abgegebenen Stimmen und die Stimmen der Mehrheit der Vertreter im Ministerkomitee. Dabei hat jeder Vertreter gemäß Art. 14 ERS eine Stimme. In einem Gentleman’s Agreement von 1994 wurde unterdessen vereinbart, dass kein Mitglied eine Empfehlung blockieren solle, sofern für deren Erlass eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen sowie die einfache Mehrheit der Vertreter im Ministerkomitee im Sinne von Art. 20 lit. (d) ERS vorliegt.32 Daneben erlässt das Ministerkomitee unter anderem auch Beschlüsse in Form von Resolutionen (CM/Res),33 welche für die vorliegende Arbeit aber nur geringe Relevanz aufweisen.34 Sie ergehen ebenfalls mit einer Zweidrittelmehrheit gemäß Art. 20 lit. (d) ERS.35 II. Dokumente der Parlamentarischen Versammlung Die Parlamentarische Versammlung ist gemäß Art. 10 (ii) ERS neben dem Ministerkomitee das zweite Organ des Europarats. Sie besteht gemäß Art. 25 lit. (a) S. 1 ERS aus Vertretern jedes Mitgliedstaats, die von dessen Parlament aus seiner Mitte gewählt oder nach einem vom Parlament bestimmten Verfahren aus seiner Mitte ernannt werden. Dabei hat jeder Mitgliedstaat eine bestimmte Anzahl von Vertretern, die in Art. 26 ERS genau festgelegt ist; Deutschland werden beispielsweise 18 der insgesamt 318 Sitze zugewiesen. Die Parlamentarische Versammlung wurde in Art. 22 S. 1 ERS als das beratende Organ des Europarats konstruiert, das gemäß Art. 22 S. 2 ERS 31  Brummer, Der Europarat, S. 66; Benoît-Rohmer/Klebes, Council of Europe law, S. 54. Dieser Mechanismus führt jedoch nicht zur Rechtsverbindlichkeit der Empfehlungen, vgl. Giersch, Das internationale Soft Law, S. 70. 32  „Effects of Enlargement of the Council of Europe“, Report, Misc(94)46, 519bis meeting, 04.11.1994, 2.2, C 1. Siehe hierzu auch Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, S. 131. Beschlussfähigkeit liegt mit der Anwesenheit von zwei Dritteln der Vertreter vor, vgl. Art. 11 der „Rules of procedure of the Committee of Ministers (5th revised edition: 2005)“. 33  Für einen Überblick über die Resolutionen des Ministerkomitees siehe Brum­ mer, Der Europarat, S. 67 ff. 34  Die Resolutionen im Rahmen der Überwachung der Urteilsumsetzung durch die Europaratsstaaten etwa werden nicht in die empirische Untersuchung im Dritten Teil aufgenommen, vgl. sogleich Fn. 21 im Dritten Teil. 35  Für Resolutionen im Rahmen der Überwachung der Urteilsumsetzung durch die Europaratsstaaten siehe Art. 46 Abs. 3, 4 EMRK. Für eine umfassende Behandlung der Mehrheitsregelungen für das Ministerkomitee siehe Benoît-Rohmer/Klebes, Council of Europe law, S. 55 f. Zur Entwicklung des praktischen Umgangs mit den in der ERS vorgesehenen Mehrheitserfordernissen siehe Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, S. 130 ff.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

Empfehlungen an das Ministerkomitee richtet. Während sie ursprünglich auch noch Beratende Versammlung hieß, strebte sie seit der Gründung des Europarats nach einer bedeutenderen Funktion innerhalb des Europarats36 und erreichte 1994 schließlich die Anerkennung ihrer Umbenennung durch die Europaratsstaaten, als diese im ZP 11 die Wahl der Richter des EGMR „durch die Parlamentarische Versammlung“ normierten.37 Eine tatsächliche Ausweitung der Kompetenzen der Parlamentarischen Versammlung in der ERS erfolgte jedoch nicht, und so stellen Empfehlungen an das Ministerkomitee noch immer eines ihrer wichtigsten Instrumente dar.38 Sie hat jedoch die Praxis etabliert, darüber hinaus auch andere Dokumente zu beschließen; in der vorliegenden Arbeit werden neben den Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung ihre Resolutionen näher untersucht.39 36  Die Rolle, die die Beratende Versammlung im Europarat spielen sollte, war unter den Gründerstaaten umstritten. Einen maßgeblichen Impuls zur Gründung des Europarats setzten die fünf Mitglieder des Brüsseler Pakts Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederlande sowie Großbritannien, die 1948 über die Möglichkeiten zur Integration Europas durch eine gemeinsame internationale Organisation diskutierten. Während sich Frankreich sowie die Beneluxstaaten für eine stärkere Funktion der Versammlung im Sinne einer das Volk vertretenden, parlamentarischen Versammlung einsetzten, bestand Großbritannien auf einer lediglich beratenden Funktion der Versammlung und setzte diese Forderung letztlich auch durch. So sah die mit fünf weiteren Staaten (Dänemark, Norwegen, Schweden, Irland und Italien) ausgearbeitete Satzung des Europarats die Einrichtung eines Europarats vor, der aus einem europäischen Ministerkomitee sowie einer Beratenden Versammlung bestehen sollte. Das Selbstverständnis der Beratenden Versammlung entsprach jedoch weiter demjenigen, das die anderen Vertragsstaaten ihr zugedacht hatten. Siehe Benoît-Rohmer/Klebes, Council of Europe law, S. 56 f.; Brummer, Der Europarat, S. 23, 93. 37  Bereits im Jahr 1974 hatte sie sich in einem Schreiben erstmals Parlamentarische Versammlung genannt. Während dieser Vorstoß vom Ministerkomitee zunächst ignoriert wurde, erkannte es 1994 die außervertragliche Umbenennung der Beratenden Versammlung in Parlamentarische Versammlung an, vgl. Brummer, Der Europarat, S. 93. Mit der Formulierung im ZP 11 wurde die neue Bezeichnung schließlich auch materiell-rechtlich festgelegt. Eine Umbenennung in der ERS erfolgte unterdessen bis heute nicht, vgl. hierzu auch Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, S. 136 m. w. N.; UerpmannWittzack, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, S. 1071, 1079, Rn. 20. 38  Neben dem Beschluss von Empfehlungen sowie anderen Dokumenten kommen der Parlamentarische Versammlung im Europarat auch andere bedeutende Aufgaben zu; so wählt sie etwa die Richter des EGMR (Art. 22 EMRK) sowie den Menschenrechtskommissar (Art. 9 Nr. 1 CM/Res(99)50 „creating the post of Commissioner for Human Rights“) und ernennt den Generalsekretär des Europarats sowie dessen Stellvertreter (Art. 36 lit. b ERS). Zu den Funktionen und der Arbeit der Parlamentarischen Versammlung siehe grundlegend Benoît-Rohmer/Klebes, Council of Europe law, S.  56 ff.; Leach, in: Schmahl/Breuer (Hrsg.), The Council of Europe, S. 166; Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, S.  136 ff.



§ 1 Europaratsdokumente als Beispiel internationalen Soft Laws 29

Gemäß Art. 22 S. 2 ERS erörtert die Parlamentarische Versammlung Fragen, die in ihr Aufgabengebiet fallen, und erlässt an das Ministerkomitee gerichtete Beschlüsse in Form von Empfehlungen (PACE Rec.).40 Die Beratungen und Empfehlungen können sich nach Art. 23 lit. (a) 1. HS ERS auf alle Gebiete beziehen, die der Aufgabe des Europarats entsprechen und in dessen Zuständigkeit fallen – also wiederum auch auf Maßnahmen zum Schutz und zur Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Zwingend hat eine Beratung gemäß Art. 23 lit. (a) 2. HS ERS zu erfolgen, wenn das Ministerkomitee eine Frage an die Parlamentarische Versammlung übermittelt hat. Ein möglicher darauf folgender Erlass einer Empfehlung liegt jedoch wiederum im Ermessen der Parlamentarischen Versammlung. Die Empfehlungen sind rechtlich unverbindlich;41 gleichwohl sind sie nicht völlig unbedeutend: So prüft das Ministerkomitee nach Art. 15 lit. (a) ERS auf Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung hin zumindest mög­ liche Maßnahmen; eine von ihm daraufhin verfasste, zwingend öffentliche Antwort ermöglicht überdies einen Einfluss der Öffentlichkeit.42 Der Beschluss einer Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung bedarf nach Art. 29 (i) ERS (sowie Rule 41.1.a VerfO PV) einer Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen. Beschlussfähigkeit liegt mit einem Drittel der stimmberechtigten Abgeordneten vor; eine Abstimmung ist jedoch unabhängig davon gültig, es sei denn, der Präsident wurde vor Beginn der Abstimmung von einem Sechstel der stimmberechtigten Abgeordneten, die mindestens fünf

39  Umfassend aufgezählt sind alle Arten von Dokumenten in Rule 24 der VerfO PV. Dazu zählen beispielsweise auch Stellungnahmen zu Fragen des Ministerkomitees, etwa zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, Entwürfen neuer Verträge oder dem Haushalt des Europarats. Diese werden aufgrund ihrer für die Auslegung eines Menschenrechtsvertrags weniger relevanten Regelungsgehalte indes nicht in die empirische Untersuchung der vorliegenden Arbeit aufgenommen. 40  Angesichts dieses Initiativrechts bezeichnet Stegen die Parlamentarische Versammlung auch als „Motor“ sowie das „Ideenlabor“ des Europarats, Stegen, in: Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, S. 79, 79 f. 41  Tichy, ZaöRV 76 (2016), 415, 416; Brummer, Der Europarat, S. 86. 42  Brummer, Der Europarat, S. 105. Benoît-Rohmer/Klebes, Council of Europe law, S. 65, erachten die Rolle der Parlamentarischen Versammlung hingegen nach wie vor als schwächer und bemerken: „No longer consultative in name, the Assembly remains consultative in character. At most, it can try to influence the Committee of Ministers through recommendations or opinions, which the Committee is not obliged to follow – and is often happy to ignore.“ Palmer führt diesbezüglich hingegen eher ambivalent aus: „[T]he CM has accepted the obligatory nature of replying to Assembly Recommendations, as quickly and as frankly as possible, although this has not always been the case.“, Palmer, in: Schmahl/Breuer (Hrsg.), The Council of ­Europe, S. 137, 162.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

verschiedenen Delegationen angehören, aufgefordert, die Beschlussfähigkeit zu überprüfen.43 Darüber hinaus erlässt die Parlamentarische Versammlung auch Resolutionen (PACE Res.), die wiederum rechtlich unverbindlich sind und im Gegensatz zu den soeben behandelten Empfehlungen auch keine Pflicht des Ministerkomitees hervorrufen, sich mit ihrem Inhalt auseinanderzusetzen.44 Diese Art eines Beschlusses ist nicht ausdrücklich in der ERS vorgesehen, sondern wurde lediglich in Rule 24.2. f. VerfO PV normiert. Auch hier wird wieder deutlich, dass die Parlamentarische Versammlung in der Praxis eine „erhebliche Eigenständigkeit“ erlangt hat.45 Nach Rule 25 1. b VerfO PV enthält eine Resolution „a decision by the Assembly on a question of substance which it is empowered to put into effect, or an expression of view for which it alone is responsible.“ Demensprechend kann die Parlamentarische Versammlung in Resolutionen unter anderem eigene Auffassungen über aktuelle Menschenrechtsfragen festhalten. Klebes und Benoît-Rohmer beschreiben sie als allgemeines „vehicle for [the Assembly’s] views and policies“.46 Die Parlamentarische Versammlung richtet sich in ihren Resolutionen an eine Vielzahl verschiedener Akteure, wie etwa die Mitgliedstaaten des Europarats47, andere Institutionen aus dem Rahmen des Europarats wie die VenedigKommission,48 oder internationale Organisationen wie die ILO.49 Nach Rule 41.1.c VerfO PV werden Resolutionen mit einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen beschlossen. Vor diesem Hintergrund bieten sie für die Parlamentarische Versammlung vor allem die Möglichkeit, die Regierungen der Mitgliedstaaten direkt zu adressieren, wenn keine für eine Empfehlung an das Ministerkomitee erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht wird; dabei gilt es indes zugleich, sich zu vergegenwärtigen, dass Resolutionen der Par43  Vgl. Rules 42. 2 und 42.3 VerfO PV. Eine Ausnahme besteht bei namentlichen Abstimmungen, die bei fehlender Beschlussfähigkeit nicht gültig sein sollen, Rule 42.4 VerfO PV. Namentliche Abstimmungen finden indes nach Rule 40.6 VerfO PV nur statt, wenn das elektronische Abstimmungssystem nicht funktioniert und ein entsprechender Antrag von einem Sechstel der Abgeordneten gestellt wird, die mindestens fünf verschiedenen Delegationen angehören. 44  Vgl. auch Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, S. 143; Carstens, Das Recht des Europarats, S. 112. 45  Uerpmann-Wittzack, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, S. 1071, 1079, Rn. 20. 46  Benoît-Rohmer/Klebes, Council of Europe law, S. 66. 47  Siehe etwa PACE Res. 1771 (2010), unter Punkten 12, 14; vgl. hierzu auch Uerpmann-Wittzack, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, S. 1071, 1079, Rn. 20. 48  Siehe etwa PACE Res. 1264 (2001), unter Punkt 6. 49  Siehe etwa PACE Res. 2146 (2017), unter Punkt 6.



§ 2 Verhältnismäßigkeitsprüfung und margin of appreciation-Doktrin31

lamentarischen Versammlung bereits mit einer sehr geringen Stimmzahl ergehen können. Die Adressierung der Europaratsstaaten durch die Parlamentarische Versammlung steht den Regelungen der ERS insoweit entgegen, als sie grundsätzlich das Ministerkomitee als das Organ vorsieht, das sich mit Beschlüssen an die Mitgliedstaaten wenden und so den Europarat nach außen vertreten soll.50 Die Praxis der Verabschiedung von Resolutionen hat sich jedoch mittlerweile etabliert und ist als Weiterentwicklung der Regelung aus Art. 22 ERS aufzufassen, die sowohl vom Ministerkomitee als auch von den Europaratsstaaten akzeptiert wird.51

§ 2 Grundzüge der Verhältnismäßigkeitsprüfungund der margin of appreciation-Doktrin Die genaue Bedeutung, Rolle und Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sowie der margin of appreciation-Doktrin sind in vielerlei Hinsicht umstritten und werden dementsprechend kontrovers diskutiert. In der vorliegenden Arbeit interessiert jedoch in erster Linie die Rolle des europäischen Konsenses im Rahmen dieser beiden Rechtsfiguren, aus der sich mittelbar auch Erkenntnisse über die Rolle von Europaratsdokumenten ergeben können. Die folgende Darstellung beschränkt sich daher darauf, die in dieser Hinsicht notwendigen Konturen beider Rechtsfiguren darzulegen.

A. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Rechtsprechung des EGMR Die Abwägung widerstreitender Interessen anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist international weit verbreitet.52 Auch in der Rechtsprechung des EGMR hat sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als wichtige Grundlage für die Entscheidung über eine Konventionsverletzung etabliert, er ist laut EGMR der „gesamten Konvention inhärent“.53 50  Vgl. auch Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, S. 142. 51  Vgl. hierzu Carstens, Das Recht des Europarats, S. 112 f., sowie umfasssend Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, S.  142 m. w. N. 52  Beatty, The ultimate rule of law, diskutiert es als Grundlage eines „global constitutionalism“. Aleinkoff, Yale Law Journal 96 (1987), 943, spricht sogar von einem „Age of Balancing“. Zur Geschichte der internationalen Verbreitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips siehe Christoffersen, Fair balance, S. 33 ff.; Stone Sweet/Mathews, Columbia Journal of Transnational Law 47 (2008), 68, 112 ff.; Saurer, Der Staat 51 (2012), 3. 53  EGMR – Rees v. The United Kingdom, 17.10.1986 – 9532/81, Rn. 37 m. w. N.; EGMR – Soering v. The United Kingdom, 07.07.1989 – 14038/88, Rn. 89. Nußberger

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

In der EMRK ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht ausdrücklich normiert; in einigen Konventionsartikeln findet sich mit dem Begriff der Notwendigkeit aber ein textueller Anknüpfungspunkt für die Vornahme einer Abwägung.54 Die bedeutendsten Bestimmungen in diesem Zusammenhang sind Art. 8–11 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8), Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9), Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10), Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11)). Sie enthalten in den jeweiligen zweiten Absätzen Ziele, für die die normierten Rechte eingeschränkt werden können – sogenannte express limi­ tation clauses.55 Voraussetzung für die Rechtfertigung eines Eingriffs anhand dieser Ziele ist, dass die Einschränkung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist. Daran anknüpfend befindet der EGMR: „The adjective ‚necessary‘ […] implies the existence of a ‚pressing social need‘. […] [W]hat the Court has to do is to look at the interference complained of in the light of the case as a whole and determine whether it was ‚proportionate to the ­legitimate aim pursued‘ and whether the reasons adduced by the national author­ ities to justify it are ‚relevant and sufficient‘.“56

Insgesamt ist festzustellen, dass der Gerichtshof limitation clauses regelmäßig zum Anlass für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nimmt.57

hält fest, dass „die gesamte Rechtsprechung des EGMR auf dem Verhältnismäßigkeitsprinzip aufbaut, da dieses als Strukturprinzip eines von der Konvention geforderten Interessenausgleichs zwischen Allgemeininteresse und Individualinteresse angesehen wird“, Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 40. Siehe auch Christoffersen, Fair balance, der das Verhältnismäßigkeitsprinzip als „an important principle, which […] permeates the whole of the [European Convention on Human Rights] fabric“ bezeichnet, S. 2, 31 ff. Zur Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Rechtsprechungshistorie siehe Mowbray, HRLR 10 (2010), 289, 290 ff. 54  Siehe hierzu umfassend Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 39 f. Eine kritische Analyse der Gründe, die der EGMR für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips anführt, präsentiert Christoffersen, Fair balance, S. 192 ff. 55  Christoffersen, Fair balance, S. 76 ff. Zur möglichen Einordnung dieser Bestimmungen als delimitations siehe S. 81 ff. 56  Auf diese in ständiger Rechtsprechung entwickelten Prinzipien verweist er etwa in EGMR (Große Kammer) – Stoll v. Switzerland, 10.12.2007 – 69698/01, Rn. 101. Weitere ausdrückliche Beschränkungsmöglichkeiten als Anknüpfungspunkte für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung finden sich beispielsweise in Art. 2 Abs. 2, 15 Abs. 1 EMRK sowie Art. 1 Abs. 2 ZP 1, die an die Erforderlichkeit einer Maßnahme anknüpfen; vgl. hierzu auch Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 39. 57  Für einen Überblick über alle Artikel siehe Christoffersen, Fair balance, S. 76 ff. Es gilt jedoch festzustellen, dass nicht alle limitation clauses die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach sich ziehen: Art. 5 Abs. 1 EMRK etwa enthält in lit. a–f Möglichkeiten zur Beschränkung des Rechts auf Freiheit, die nicht alle mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die Sachverhalte angewendet werden; vgl. Christof­ fersen, Fair balance, S. 77 f.



§ 2 Verhältnismäßigkeitsprüfung und margin of appreciation-Doktrin33

Daneben erkennt der EGMR Beschränkungsmöglichkeiten auch bei einigen Konventionsrechten an, in denen diese nicht ausdrücklich normiert sind – sogenannte implied limitations;58 so etwa bei Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).59 Abwägungsgegenstand kann in diesem Zusammenhang grundsätzlich jedes vom Staat geltend gemachte Interesse sein,60 und auch hier fungiert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Grundlage für die Entscheidung, ob der Eingriff zugunsten der impliziten Beschränkungsmöglichkeit gerechtfertigt ist.61 Vereinzelt wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sogar bei der Prüfung des absolut gewährleisteten Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) angewendet, bei dem ein Eingriff auch nicht durch implied limitations gerechtfertigt werden kann.62 Hier werden Verhältnismäßigkeitserwägungen also auf der Schutzbereichsebene angestellt.63 Da58  Siehe zu den Beschränkungsmöglichkeiten der einzelnen Konventionsrechte Eissen, in: Macdonald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 125 ff. 59  Siehe etwa EGMR – Prince Hans-Adam II of Liechtenstein v. Germany, 12.07.2001 – 42527/98, Rn. 44. Der EGMR erkennt implied limitations nur bei Konventionsbestimmungen an, bei denen keine ausdrücklichen Beschränkungsmöglichkeiten vorgesehen sind. Wenn also Konventionsrechte Beschränkungsmöglichkeiten vorsehen, erachtet der EGMR diese auch für abschließend, vgl. Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 32. 60  Der Gerichtshof führt (hier bezüglich Art. 3 Abs. 1 ZP 1) hinsichtlich der Legitimität des geltend gemachten Ziels aus: „Given that Article 3 is not limited by a specific list of ‚legitimate aims‘ such as those enumerated in Articles 8 to 11, the Contracting States are therefore free to rely on an aim not contained in that list to justify a restriction, provided that the compatibility of that aim with the principle of the rule of law and the general objectives of the Convention is proved in the particular circumstances of a case.“ EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 109, (iii). Ob das von staatlicher Seite verfolgte Ziel diesen Anforderungen entspricht, kann dabei durchaus auch eine Wertungsfrage sein, vgl. Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 42. 61  Siehe Eissen, in: Macdonald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 125, 135 ff.; Christoffersen, Fair balance, S.  78 ff. 62  Siehe zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei Art. 3 EMRK auch Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 40. Kritiker erklären, eine Interessenabwägung verbiete sich im Rahmen dieses absolut gewährleisteten Konventionsrechts. Als „logi­ cally impossible“ bezeichnet sie Christoffersen, Fair balance, S. 83. Er anerkennt gleichwohl diverse Fallgruppen, in denen der EGMR dennoch Verhältnismäßigkeitserwägungen anstellt, S.  84  ff. In EGMR – Soering v. The United Kingdom, 07.07.1989 – 14038/88, Rn. 89, etwa erklärte der Gerichtshof, dass für die Frage, ob eine unmenschliche Behandlung vorliege, alle Umstände des Einzelfalls im Rahmen des fair balance-Tests berücksichtigt werden müssten. Dies ist gleichwohl nicht die Regel – vgl. hierzu Mowbray, HRLR 10 (2010), 289, 297 ff. 63  Zur Durchführung von Verhältnismäßigkeitsprüfungen auf Schutzbereichsebene siehe Christoffersen, Fair balance, der noch zwischen „delimitations“, S. 81–82, und

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

rüber hinaus fungiert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch bei der Prüfung einer Konventionsverletzung anhand von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) als Entscheidungsgrundlage.64 Schließlich wendet der EGMR den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch an, um zu überprüfen, ob ein Staat eine positive obligation65 verletzt hat.66 Eine klare Zuordnung dieser Prüfung ist indes nur schwerlich möglich, da der Gerichtshof hier regelmäßig nicht zwischen der Schutzbereichs- und Rechtfertigungsebene trennt.67 In seiner ausdifferenziertesten Form weist das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine fünfteilige Struktur auf: „Legitimes Ziel – legitimes Mittel – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit“. Dieses Schema wird etwa in der deutschen Grundrechtsdogmatik akkurat angewendet,68 es ist jedoch keinesfalls allgemeingültig69 – einige Autoren weisen bereits die schiere Möglichden Besonderheiten der „absolute rights“ unterscheidet, S. 83–93; vgl. weiter Eissen, in: Macdonald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 125, 137 ff. 64  Siehe etwa EGMR – Case „Relating to Certain Aspects of the Laws on the Use of Languages in Education in Belgium“ v. Belgium, 23.07.1968 – 1474/62 a. o., The law, I. B. 10. 65  Unter dem Begriff der positive obligations hat der EGMR Handlungspflichten der Staaten etabliert, die zu der Pflicht des Unterlassens von Eingriffen in die Menschenrechte ihrer Bürger hinzutreten, vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 19 Rn. 1; der Begriff darf nicht mit dem der staatlichen Schutzpflichten aus der deutschen Grundrechtsdogmatik gleichgesetzt werden, da sein Anwendungsbereich hierüber hinausgeht, vgl. § 19 Rn. 1–15. Gleichwohl umfassen die positive obligations auch Schutzpflichten der Konventionsstaaten, Menschenrechtsverletzungen durch Private abzuwenden, siehe § 19 Rn. 3 ff. 66  Siehe hierzu Christoffersen, Fair balance, S. 94 ff.; Eissen, in: Macdonald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S.  125, 137 ff. 67  Vgl. etwa die Ausführungen des Gerichtshofs in EGMR (Große Kammer) – Sørensen and Rasmussen v. Denmark, 11.01.2006 – 52562/99, 52620/99, Rn. 58: „The boundaries between the State’s positive and negative obligations under Article 11 of the Convention do not lend themselves to precise definition. […] In both contexts regard must be had to the fair balance to be struck between the competing interests of the individual and of the community as a whole […].“ Siehe weiter Gerards, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 421 f. 68  Vgl. Schlink, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, S.  445 (m. w. N.). 69  Als verbreitet kann schließlich nur der vierte Schritt, die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne, bezeichnet werden, vgl. Klatt/Meister, Der Staat 51 (2012), 159, 161. Nach Beatty, The ultimate rule of law, S. 163, sind die Geeignetheit und Erforderlichkeit ohnehin lediglich deutlichere und einfachere Formen der Angemessenheitsprüfung. Uneingeschränkt gilt jedoch auch er nicht, wie die Rechtsprechung des EuGH zeigt: Hier hat sich die Angemessenheitsprüfung nicht als fester Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung etabliert, vgl. Koch, Der Grundsatz der



§ 2 Verhältnismäßigkeitsprüfung und margin of appreciation-Doktrin35

keit der Konstruktion einer derart engmaschigen Methode der Verhältnismäßigkeitsprüfung zurück.70 Dementsprechend unterschiedlich sehen die gerichtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfungen im internationalen Vergleich aus,71 und so hat auch der EGMR eine eigene Herangehensweise entwickelt, die nicht mit der deutschen Prüfstruktur übereinstimmt.72 Christoffersen bezeichnet das Vorgehen des EGMR eher als „horizontale“ Anwendung verschiedener möglicher Bestandteile einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, die nicht nacheinander abgeprüft werden, sondern gleichberechtigt nebeneinander stehen und nur im Falle ihrer Relevanz angesprochen werden.73 Die Frage nach einem legitimen Ziel der betreffenden staatlichen Maßnahme gehört in der Rechtsprechung des EGMR nicht zur eigentlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung.74 Den Begriff der Verhältnismäßigkeit setzt der EGMR oftmals gleich mit der Frage nach einer fair balance;75 die zwischen den widerstreitenden Interessen hergestellt werden müsse.76 Der VerhältnisVerhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S.  217 ff. 70  Siehe etwa Christoffersen, Fair balance, S. 71; Tsakyrakis, International Journal of Constitutional Law 7 (2009), 468, 472 ff., 493. 71  Good/Lazarus/Swiney, Public Protection, Proportionality, and the Search for Balance, ii: „[T]here is no single formulation of the proportionality principle.“ Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen und Strukturen, die unterschiedliche Gerichte bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips entwickelt haben, vgl. Beatty, The ultimate rule of law, S. 162. 72  Vgl. Christoffersen, Fair balance, S.  34 f., m. w. N. 73  Christoffersen, Fair balance, S. 69 ff. Siehe hierzu weiter auch Gerards, in: Huls/ Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 420 ff. 74  Eissen, in: Macdonald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 125, 141. Der Gerichtshof fordert vielmehr, dass eine staatliche Maßnahme ein legitimes Ziel hat und verhältnismäßig ist, siehe etwa EGMR – Case „Relating to Certain Aspects of the Laws on the Use of Languages in Education in Belgium“ v. Belgium, 23.07.1968 – 1474/62 a. o., The law, I. B. 10. Dabei lässt der Gerichtshof die Frage nach der Legitimität eines staatlichen Ziels mitunter auch offen, und verweist für seine Entscheidung auf die folgende Abwägung zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Siehe als Beispiel EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010  – 7/08, Rn. 170. Die Rechtfertigung eines Eingriffs scheitert fast nie an der Legitimität des damit verfolgten Ziels. Selbst hinsichtlich der Konventionsrechte, in denen ein abschließender Katalog an legitimen Zielen normiert ist, führt der EGMR aus: „[R]espondent Governments normally have a relatively easy task in persuading the Court that the interference pursued a legitimate aim, even when the applicants cogently argue that it actually pursued an unavowed ulterior purpose […].“ EGMR (Große Kammer) – Merabishvili v. Georgia, 28.11.2017 – 72508/13, Rn.  295 ff. 75  „Proportionality, that is to say whether a fair balance was struck“, EGMR – Cölgecen a. o. v. Turkey, 12.12.201 – 50124/07 a. o., Rn. 53. 76  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Dickson v. The United Kingdom, 04.12.2007 – 44362/04, Rn. 71.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

mäßigkeitsbegriff des EGMR kann folglich mit der aus der deutschen Grundrechtsdogmatik bekannten Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, also der Findung eines angemessenen Ausgleichs zwischen den betroffenen Interessen verglichen werden;77 in diesem Sinne wird er im Folgenden auch verwendet. Dabei variiert die Terminologie des Gerichtshofs: Im sogenannten Belgischen Sprachenfall forderte er etwa eine „just balance“78; teilweise spricht er von einer „reasonable relationship of proportionality“79 oder einem „discernible and sufficient link“80. Die Geeignetheit beziehungsweise Erforderlichkeit staatlicher Maßnahmen werden unterdessen nicht regelmäßig behandelt.81 Der Gerichtshof prüft zwar mitunter, ob die Maßnahme geeignet ist, das verfolgte Ziel zu fördern, oder mildere, ebenso effektive Mittel ersichtlich sind, um das Ziel zu erreichen.82 Er arbeitet sich jedoch nicht in jedem Urteil schematisch an diesen Prinzipien ab, sondern erwähnt sie eher im Zusammenhang mit dem fair balance-Test.83

77  Asche, Die Margin of Appreciation, S. 61, m. w. N. Bei den praktisch bedeutsamen Art. 8–11 EMRK hat der EGMR bestimmte Formeln zur Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft entwickelt, die er regelmäßig anwendet. Er verlangt, dass der Eingriff ein „pressing social need“ erfüllt, „proportionate to the aim pursued“ ist und aus „relevant and sufficient reasons“ erfolgt. Vgl. etwa EGMR (Große Kammer) – Stoll v. Switzerland, 10.12.2007 – 69698/01, Rn. 101. Siehe hierzu auch Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 41. Eine stringente Prüfung findet indes auch hier nicht immer statt; Gerards stellt demzufolge fest: „In fact, in the largest proportion of cases, the court just plunges into a general test of balancing.“, Gerards, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 422. 78  EGMR – Case „Relating to Certain Aspects of the Laws on the Use of Lan­ guages in Education in Belgium“ v. Belgium, 23.07.1968 – 1474/62 a. o., The law, B., Rn. 5. 79  EGMR (Große Kammer)  – Leyla Şahin v. Turkey, 10.11.2005  – 44774/98, Rn. 117. 80  EGMR (Große Kammer) – Hirst v. The United Kingdom (No. 2), 06.10.2005 – 74025/01, Rn. 71. 81  Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 18 Rn. 15. Für eine ausführliche Analyse siehe Christoffersen, Fair balance, S. 111–191. 82  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 242. Ausführlich und m. w. N. Gerards, International Journal of Constitutional Law 11 (2013), 466, 470 ff.; Asche, Die Margin of Appreciation, S. 59 ff. 83  So auch Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 42. Siehe beispielsweise EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn. 136: Hier monierte der EGMR im Rahmen seiner Überprüfung der „balancing exercise“ (Rn. 124), dass die vorangegangenen Entscheidung der rumänischen Gerichtsinstanzen nicht geprüft hätten, ob das mit der eingreifenden Maßnahme verfolgte Ziel nicht auch mit weniger einschneidenden Mitteln hätte erreicht werden können.



§ 2 Verhältnismäßigkeitsprüfung und margin of appreciation-Doktrin37

Insgesamt versteht der Gerichtshof den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ­ithin als Prinzip zur Abwägung der betroffenen Individual- sowie m Gemeinschaftsinteressen,84 welche im Ergebnis in einer stark einzelfallabhängigen Rechtsfindung resultiert.85 Die uneinheitliche Terminologie sowie der schwer vorhersehbare Ausgang des fair balance-Tests bringen dem EGMR immer wieder Kritik ein. So sei der Standard der gerichtlichen Prüfung oftmals unklar, was eine intransparente Urteilsfindung zur Folge habe.86 Eine nähere Auseinandersetzung mit der Kritik ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht angezeigt; sie wird aber im Vierten Teil erneut aufgegriffen.

B. Die margin of appreciation-Doktrin Im Rahmen seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung verweist der EGMR regelmäßig auf einen Spielraum, welcher den Staaten bei der Beurteilung87 der Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Maßnahme zukomme. Mit dieser sogenannten margin of appreciation-Doktrin hat der EGMR eine Stellschraube etabliert, durch die seine Kontrolldichte bei der Prüfung einer Konventionsverletzung im Einzelfall variieren kann.

84  Siehe beispielsweise EGMR – Barfod v. Denmark, 22.02.1989 – 11508/85, Rn. 29: „[P]roportionality implies that the pursuit of the aims mentioned in Article 10 para. 2 (art. 10-2) has to be weighed against the value of open discussion of topics of public concern.“ Art. 8–11 EMRK normieren gemeinschaftliche Interessen wie „natio­nal security“, „public safety“ oder „the economic well-being of the country“. Siehe auch Greer, Cambridge Law Journal 63 (2004), 412, 417 f. 85  Asche, Die Margin of Appreciation, S. 61 f. m. w. N. 86  Gerards, International Journal of Constitutional Law 11 (2013), 466, 467, beschreibt das Prüfvorgehen des EGMR als „rather nontransparent use of terminology and a tendency to confuse and mix distinct elements of judicial review“. Sie fordert dementsprechend eine stringentere Anwendung des Prinzips. Greer, Cambridge Law Journal 63 (2004), 412, 416, stellt fest, dass der EGMR mit seiner Art der Verhältnismäßigkeitsprüfung wenig dazu beiträgt, die „schlimmsten Befürchtungen“ seiner Kritiker (siehe hierzu S. 414) zu zerstreuen. 87  Die Übersetzung des Begriffs als Beurteilungsspielraum (so etwa Grabenwar­ ter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 18 Rn. 20; Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 170), beziehungsweise Ermessensspielraum (so etwa Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Rau­ mer, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK: Handkommentar, Einleitung, Rn. 27), darf nicht zu einem gleichgesetzten Verständnis im Sinne des deutschen Verwaltungsrechts führen, denn der Anwendungsbereich der margin of ap­ preciation geht über den des deutschen Beurteilungs- sowie Ermessensspielraums hinaus, vgl. Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine and the principle of proportionality in the jurisprudence of the ECHR, S. 3 m. w. N. In dieser Arbeit wird der Begriff Beurteilungsspielraum als Übersetzung verwendet.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

Der Grund für ihre Einführung liegt in dem besonderen Spannungsverhältnis zwischen dem EGMR und den Europaratsstaaten: In der EMRK haben die Europaratsstaaten einen menschenrechtlichen Mindeststandard kodifiziert. Mit dem EGMR steht auf der einen Seite ein internationaler Gerichtshof, der nach Art. 19 EMRK mit seiner Rechtsprechung den für alle Europaratsstaaten verbindlichen, einheitlichen Menschenrechtsstandard gewährleisten soll. Auf der anderen Seite stehen die 47 souveränen Vertragsstaaten, die nach Art. 1 EMRK ebenfalls dafür zuständig sind, die in der Konvention gewährten Rechte und Freiheiten zu gewährleisten – und zwar vorrangig; das Schutzsystem der EMRK ist demgegenüber subsidiär.88 Die Europaratsstaaten haben mit ihren historisch gewachsenen nationalen und kulturellen Besonderheiten eigene Rechtssysteme, und damit einhergehend oft auch unterschiedliche Auffassungen in Menschenrechtsfragen entwickelt. Die Verurteilung staatlichen Handelns entgegen einer Entscheidung eines nationalen Gerichts – welches regelmäßig bereits eine Entscheidung im Sinne des effektiven Menschenrechtsschutzes getroffen haben will – als konventionswidrig ist angesichts dessen besonders begründungsbedürftig.89 Immerhin stellt der EGMR regelmäßig fest, dass es in der zu entscheidenden Rechtsfrage keine einheitliche europäische Herangehensweise gibt; jeder Staat handelt so, wie er es für richtig hält.90 Warum also sollte der EGMR besser geeignet sein, 88  Zwar erklärt Art. 32 Abs. 1 EMRK den Gerichtshof für die Auslegung und Anwendung der EMRK zuständig; zugleich sieht ihn die Konvention aber erst als letzte Kontrollinstanz vor: Grundsätzlich sind es nach Art. 1 EMRK zunächst die Konventionsstaaten und deren nationale Schutzmechanismen, die den von der EMRK vorgegebenen Menschenrechtsstandard durchsetzen und garantieren sollen – der EGMR soll nach Art. 19 EMRK die Einhaltung dieser Verpflichtungen sicherstellen. Eine Beschwerde vor dem EGMR ist nach Art. 35 Abs. 1 EMRK dementsprechend auch nur zulässig, wenn alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft sind. Zur Bereitstellung eines wirksamen Rechtsmittels sind die Staaten überdies gemäß Art. 13 EMRK auch verpflichtet. Für eine subsidiäre Stellung sprechen überdies weitere normative Anknüpfungspunkte: Art. 53 EMRK überlässt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, höhere Schutzstandards als die in der EMRK garantierten zu schaffen. Die EMRK soll demzufolge nationale Schutzstandards nicht ersetzen, sondern vielmehr sekundär eingreifen, wenn die Mitgliedstaaten keinen im Sinne der EMRK ausreichenden Standard gewähren. Weiter normiert Art. 41 EMRK, dass der EGMR der verletzten Partei eine Entschädigung nur zuspricht, wenn das innerstaatliche Recht der Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen einer Konventionsverletzung gestattet. Vgl. hierzu eingehend Mowbray, HRLJ 15 (2015), 313, 319 f.; Breitenmoser, in: Breitenmoser (Hrsg.), Human rights, democracy and the rule of law, S. 119, 121 ff. 89  Diese Herausforderung besteht auch für andere internationale Gerichtshöfe. Zur margin of appreciation-Doktrin in der Rechtsprechung internationaler Gerichte generell siehe Shany, EJIL 16 (2005), 907. 90  Vgl. etwa EGMR – Handyside v. The United Kingdom, 07.12.1976 – 5493/72, Rn. 48.



§ 2 Verhältnismäßigkeitsprüfung und margin of appreciation-Doktrin39

derartige offensichtlich hochumstrittene Rechtsfragen zu entscheiden?91 Dies ist auch in dem Sinne problematisch, dass die Abwägungsentscheidungen oftmals nicht nur rechtlicher, sondern vielmehr auch politischer Natur sind. Der EGMR ist damit zugleich den klassischen Konflikten ausgesetzt, die auch nationale Verfassungsgerichte zu bewältigen haben:92 Wie weitgehend darf ein Gericht die Entscheidungen demokratisch legitimierter Autoritäten anhand rechtlicher Gesichtspunkte bewerten und möglicherweise verwerfen? Zur Auflösung dieses Spannungsverhältnisses entwickelte der EGMR die margin of appreciation-Doktrin.93 In ständiger Rechtsprechung bekräftigt er: „[T]he Court reiterates the fundamentally subsidiary role of the Convention. The national authorities have direct democratic legitimation and are, as the Court has held on many occasions, in principle better placed than an international court to evaluate local needs and conditions.“94 Der ehemalige Richter 91  Christoffersen, Fair balance, S. 3, bemerkt vor diesem Hintergund: „[T]he domestic authorities – that are better placed than the Court – should be both able and obliged to strike a different balance than the Court“. 92  Eine kritische Auseinandersetzung hinsichtlich des Bundesverfassungsgerichts beispielsweise nehmen Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 9, 49  ff., sowie Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers u.  a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 281, 297 ff. vor. 93  So auch Trechsel, ehemaliger Präsident der EKMR, im Vorwort zu Yourow, The margin of appreciation doctrine in the dynamics of European human rights jurisprudence. Ursprünglich durch die EKMR entwickelt, gilt das Urteil EGMR – Handyside v. The United Kingdom, 07.12.1976 – 5493/72, oftmals als wegweisend; hier befand er: „[I]t is for the national authorities to make the initial assessment of the reality of the pressing social need implied by the notion of ‚necessity‘ in this context. Consequently, Article 10 para. 2 (art. 10-2) leaves to the Contracting States a margin of appreciation.“ (Rn. 48). Zur Entwicklung und Rezeption der margin of apprecia­ tion-Doktrin siehe umfassend Asche, Die Margin of Appreciation, S. 23 ff.; Arai-Ta­ kahashi, The margin of appreciation doctrine and the principle of proportionality in the jurisprudence of the ECHR, S. 1–8; Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 27–37; Yourow, The margin of appreciation doctrine in the dynamics of European human rights jurisprudence, S. 15–21 sowie S. 25 ff. (Leading Cases to 1979) und S. 56 ff. (Leading Cases since 1979). 94  EGMR (Große Kammer) – Maurice v. France, 06.10.2005 – 11810/03, Rn. 117. Im Schrifttum werden neben diesen noch weitere (mögliche) Grundlagen der margin of appreciation diskutiert; siehe ausführlich Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S.  200 ff.; Brems, ZaöRV 56 (1996), 240, 293 ff.; Rubel, Entscheidungsfreiräume in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes, S. 41 ff.; Asche, Die Margin of Appreciation, S. 99–217, Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S.  174 ff.; Gorzoni, Der ‚margin of appreciation‘ beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, S. 29 ff. Legg, und hieran anschließend Asche, unterscheiden nicht zwischen dogmatischen Grundlagen für die Doktrin und Kriterien zur

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

am EGMR Mahoney bezeichnet sie als „natural product“ der Kompetenzverteilung zwischen Vertragsstaaten und EGMR.95 Sie ist „the room for ma­ noeuvre the Strasbourg institutions are prepared to accord national author­ities in fulfilling their obligations under the European Convention on Human Rights“96, und damit Ausdruck Straßburger Zurückhaltung gegenüber Entscheidungen der Vertragsstaaten.97 Befindet der Gerichtshof, dass den Staaten ein geringer Beurteilungsspielraum zukommt, so führt er eine intensivere Überprüfung der staatlichen Maßnahme durch; ist der Beurteilungsspielraum weit, folgt eine weniger eingehende Prüfung.98 Die genauen Modalitäten der Doktrin sind angesichts ihrer dogmatischen Unschärfe auch nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit noch immer nicht Bestimmung ihrer Weite im Einzelfall, sondern fassen diese zusammen. Legg diskutiert diese Faktoren in seiner Monographie unter dem Begriff der „external factors“, Legg, The margin of appreciation in international human rights law S. 1, 17, 67 ff.; ähnlich Asche, Die Margin of Appreciation, S. 3, die den Begriff „margin-Faktoren“ verwendet. 95  Mahoney, HRLJ 11 (1990), 57, 81. 96  Greer, The Margin of Appreciation: Interpretation and Discretion under the European Convention on Human Rights, S. 5. Yourow, Connecticut Journal of International Law 3 (1987), 111, 118, beschreibt die Doktrin als „the breadth of deference the Strasbourg organs will allow to national legislative, executive and judicial bodies before they will disallow a national derogation from the Convention, or before they will find a restriction of a substantive Convention right incompatible with a State Party’s obligations under the Convention.“ Diese Definition übernehmen Brems, ­ZaöRV 56 (1996), 240, 240 und Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 18 Rn. 20; ähnlich weiter auch O’Donnel, Human Rights Quarterly 4 (1982), 474, 474. 97  Vgl. hierzu anschaulich die Einleitung von Asche, Die Margin of Appreciation, S. 2; weiter Bernhardt, in: Bernhardt (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung, internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, S. 75, 80 ff.; Macdonald, in: Macdonald/ Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S.  83 ff. sowie 122 ff. 98  Asche, Die Margin of Appreciation, S. 96 f. Vgl. weiter Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 189 ff., sowie Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 41 f., die erläutert, dass die Kontrolldichte „von einer allgemeinen Kontrolle der Vertretbarkeit einer Maßnahme zu einer detaillierten Kontrolle auf der Grundlage vorab definierter Parameter“ variiere. Bei einer weiten margin of appreciation müsse es für den Gerichtshof „überzeugende und zwingende Gründe“ geben, um gegen die auf nationalstaatlicher Ebene gefundene Lösung einzuschreiten (in EGMR (Große Kammer) – Dickson v. The United Kingdom, 04.12.2007 – 44362/04, Rn. 80 ff. beispielsweise stellte der Gerichtshof trotz einer weiten margin of appreciation eine Konventionsverletzung fest, da auf nationaler Ebene überhaupt keine Abwägung der betroffenen Interessen stattgefunden habe, Rn. 82); umgekehrt müssten bei einer engen margin of appreciation „sehr ernsthafte“ Gründe vorliegen, wenn der Staat einen Eingriff rechtfertigen wolle.



§ 2 Verhältnismäßigkeitsprüfung und margin of appreciation-Doktrin41

aufgeklärt.99 Kritiker innerhalb und außerhalb des EGMR bemängeln dementsprechend ihre Undurchsichtigkeit und inkonsistente Verwendung durch den Gerichtshof.100 Mit der Frage, ob die Doktrin lediglich bei bestimmten Artikeln verwendet wird, oder der Konvention generell inhärent ist, ist bereits ihr genauer Anwendungsbereich umstritten.101 Tatsächlich scheint letztere Annahme zutreffend,102 da der Gerichtshof die Doktrin sogar – wenn auch nur vereinzelt – bei der Prüfung von Art. 2 (Recht auf Leben) und 3 EMRK103 99  De la Rasilla Del Moral, Ignacio, GLJ 7 (2006), 611, 611, spricht vom „Trojan Horse-like character“ der margin of appreciation-Doktrin; siehe weiter auch Greer, The Margin of Appreciation: Interpretation and Discretion under the European Convention on Human Rights, S. 32. 100  Siehe etwa Brauch, Columbia Journal of European Law 11 (2005), 113, 125 ff. Greer, Cambridge Law Journal 63 (2004), 412, 425 beschreibt die Anwendung der Doktrin durch den EGMR als „loose and unprincipled“, gleichwohl sei diese Inkonsistenz kein der Doktrin immanenter Mangel. Er fordert dementsprechend eine deutlichere Darlegung der einzelnen Argumentationsschritte durch den Gerichtshof, Greer, The Margin of Appreciation: Interpretation and Discretion under the European Convention on Human Rights, S. 8. Auch innerhalb des Gerichtshofs gab es Gegner der Doktrin. Siehe etwa das kritische Sondervotum des Richters De Meyer in EGMR – Z. v. Finland, 25.02.1997 – 22009/93, Partly dissenting opinion des Richters De Meyer, III.; weiter die Joint dissenting opinion von Richter De Meyer sowie Valticos und Morenilla in EGMR (Große Kammer) – Sheffield and Horsham v. The United Kingdom, 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, I. Wie stark die Meinungen zum praktischen Umgang mit der Doktrin differieren, zeigte sich auch auf der Brighton Konferenz 2012. In ihrer Abschlusserklärung begrüßen die Europaratsstaaten die Entwicklung der margin of appreciation-Doktrin durch den EGMR (Punkt 11) und manifestierten ihre Auffassung schließlich auch in Art. 1 des derzeit im Ratifizierungsprozess befindlichen ZP 15, in dem eine Normierung der Doktrin in der Präambel der EMRK vorgesehen ist. Der bei der Konferenz anwesende damalige Präsident des EGMR Bratza erklärte den Staatenvertretern unterdessen, dass die margin of appre­ ciation ein variabler Begriff sei, den man nicht einfach mit einer präzisen Definition in der EMRK normieren könne. Siehe hierzu den Bericht von Spielmann, Current Legal Problems 67 (2014), 49, 57 ff. 101  Brems sprach sich 1996 in Anlehnung an ein Zitat des ehemaligen Richters am EGMR Matscher, wonach „[t]he margin of appreciation is at the heart of virtually all major cases that come before the Court, whether the judgments refer to it explicitly or not“, für eine umfassende Anwendung der Doktrin auf die EMRK aus, Brems, ­ZaöRV 56 (1996), 240, 242 ff., vgl. insbesondere die Ausführungen zu Art. 3 EMRK auf S. 254. Greer, The Margin of Appreciation: Interpretation and Discretion under the European Convention on Human Rights, S. 8, Spielmann, Current Legal Problems 67 (2014), 49, 54, sowie Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 40 ff., plädieren hingegen für eine auf bestimmte Artikel beschränkte Anwendung; in diesem Sinne auch Asche, Die Margin of Appreciation, S. 14. 102  So auch Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S.  198 f. 103  Siehe zu Art. 2 EMRK etwa EGMR (Große Kammer) – Lambert a. o. v. France, 05.06.2015 – 46043/14, Rn. 144; zu Art. 3 EMRK etwa EGMR (Große Kammer) –

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

verwendet. Neben den Freiheitsrechten der Art. 2–13 EMRK sowie Art. 1 und Art. 3 ZP 1 wird die Doktrin auch bei der Prüfung des Diskriminierungsverbots des Art. 14 EMRK sowie der Notstandsklausel des Art. 15 EMRK angewendet.104 Der wichtigste Anwendungsbereich der margin of appreciationDoktrin liegt dabei unterdessen auf der Rechtfertigungsebene,105 und hier insbesondere bei der Frage, ob ein Eingriff zu einem der in Art. 8–11 EMRK aufgeführten Ziele für eine demokratische Gesellschaft notwendig war.106 Den Staaten wird hier bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit ein Beurteilungsspielraum eingeräumt.107 Auch bei weiteren Konventionsbestimmungen wird die Doktrin im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung angewendet. Daneben gewährt der EGMR den Staaten jedoch auch in anderen Zusammenhängen einen Beurteilungsspielraum. So etwa bei Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK im Rahmen der Frage, ob eine Person geisteskrank im Sinne von lit. e) ist, die nicht durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung untersucht wird.108 Von der Frage nach der grundsätzlichen Gewährung einer margin of ap­ preciation ist die Frage nach ihrer Weite zu unterscheiden. Denn trotz aller Kritik an der dogmatischen Unschärfe der Doktrin wird ihre Existenz angesichts der gefestigten Rechtsprechung in dieser Hinsicht weitgehend akzeptiert. Im Laufe der Zeit haben sich Kriterien herauskristallisiert, die der EGMR für die Bemessung des Beurteilungsspielraums heranzieht;109 sie Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 105. Auch hinsichtlich Art. 7 EMRK wurde die Doktrin zumindest bereits erwähnt, vgl. EGMR – Huhtamaki v. Finland, 06.03.2012 – 54468/09, Rn. 53. 104  Für eine ausführliche Darstellung der Anwendung und Entwicklung der Doktrin hinsichtlich der einzelnen Artikel siehe Yourow, The margin of appreciation doctrine in the dynamics of European human rights jurisprudence, S. 56–184; RuppSwienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 38–135; Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine and the principle of proportionality in the jurisprudence of the ECHR, S. 19–188; Brems, ZaöRV 56 (1996), 240, 242–256. 105  Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 345. 106  Vgl. Brems, ZaöRV 56 (1996), 240, 243 f., sowie Asche, Die Margin of Appreciation, S.  14 f. 107  Siehe etwa EGMR – Abdulaziz, Cabales and Balkandali v. The United Kingdom, 28.05.1985 – 9214/80, 9473/81, 9474/81, Rn. 67; vgl. auch Greer, The Margin of Appreciation: Interpretation and Discretion under the European Convention on Human Rights, S. 9 ff. 108  Siehe etwa EGMR – Luberti v. Italy, 23.02.1984 – 9019/80, Rn. 27. 109  Wenngleich verschiedene Autoren anmerken, dass es nicht möglich sei, abstrakt über die Weite der margin of appreciation zu sprechen (Macdonald, in: Mac­ donald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 83, 85; Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 38), können



§ 2 Verhältnismäßigkeitsprüfung und margin of appreciation-Doktrin43

kommen indes nicht in jeder Prüfung zur Anwendung. Ein wesentliches dieser Kriterien ist der europäische Konsens.110 Daneben können der Wortlaut der betreffenden Konventionsbestimmung, deren Bedeutung beziehungsweise Natur, das mit dem Eingriff verfolgte Interesse sowie die Intensität des Eingriffs für die Bestimmung der Weite der margin of appreciation ausschlaggebend sein. Beispielhaft sind insoweit die Ausführungen des EGMR in S. and Marper v. The United Kingdom: „The breadth of this margin varies and depends on a number of factors, including the nature of the Convention right in issue, its importance for the individual, the nature of the interference and the object pursued by the interference. The margin will tend to be narrower where the right at stake is crucial to the individual’s effective enjoyment of intimate or key rights […]. Where a particularly important facet of an individual’s existence or identity is at stake, the margin allowed to the State will be restricted […]. Where, however, there is no consensus within the member States of the Council of Europe, either as to the relative importance of the interest at stake or as to how best to protect it, the margin will be wider […].“111

Die Anwendung dieser Kriterien variiert von Fall zu Fall und hängt auch von dem betroffenen Konventionsartikel ab. Die Entscheidung über die Weite der margin of appreciation ist mithin eine Einzelfallentscheidung, die mitunter auch innerhalb des Gerichtshofs umstritten ist.112

die in jeder Einzelfallprüfung in unterschiedlichen Konstellationen immer wiederkehrenden Kriterien doch abstrahiert werden (dies stellt Rupp-Swienty schließlich auch selber fest, vgl. S. 136). 110  Spielmann, Current Legal Problems 67 (2014), 49, 53, bezeichnet ihn als „central to the operation in practice of the margin of appreciation“. 111  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 102. Für eine ausführliche Befassung mit Kriterien, die die Weite der margin of appreciation beeinflussen, vgl. auch Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine and the principle of proportionality in the jurisprudence of the ECHR, S. 19–186, der die Anwendung der Doktrin im Hinblick auf Art. 5, 6, 8–11, 14 und 15 EMRK sowie Art. 1 des ZP 1 untersucht; Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die umfassend Art. 2–15 sowie Art. 1 und 2 ZP 1 untersucht, S. 38–135, und sodann grundsätzlich die Faktoren darstellt, die Anwendung und Umfang der margin of appreciation beeinflussen, S. 136–199; einen Überblick gibt De la Rasilla Del Moral, Ignacio, GLJ 7 (2006), 611, 615 ff. 112  So etwa im Fall Hämäläinen v. Finland: Die Mehrheit der Richter hatte den Staaten mangels europäischen Konsenses eine weite margin of appreciation zugesprochen; drei Richter hoben in ihrem Sondervotum hingegen die Betroffenheit eines wichtigen Faktors der Identität des Beschwerdeführers hervor, und sprachen sich aus diesem Grund für eine enge margin of appreciation aus, vgl. EGMR (Große Kam­ mer) – Hämäläinen v. Finland, 16.07.2014 – 37359/09, Joint dissenting opinion der Richter Sajó, Keller and Lemmens, Rn. 5.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

§ 3 Individualbeschwerden vor der Großen Kammer Die besondere Rolle der Großen Kammer bei der Auslegung der EMRK im Individualbeschwerdeverfahren sowie der Aufbau ihrer Urteile sind für die empirische Urteilsuntersuchung im Dritten Teil bedeutsam und sollen daher überblicksartig dargestellt werden.

A. Verfahrensablauf Nach Art. 34 S. 1 EMRK steht jeder natürlichen Person, NGO oder Personengruppe der Weg zum EGMR mit einer Beschwerde über eine Verletzung der in der EMRK oder einem ZP garantierten Rechte und Freiheiten durch einen Europaratsstaat offen. Dieses Individualbeschwerdeverfahren ist bei weitem das wichtigste Verfahren vor dem EGMR.113 Sofern keine Entscheidung beziehungsweise kein Urteil114 durch den Einzelrichter oder einen Ausschuss ergangen ist,115 wird der Fall gemäß Art. 29 Abs. 1 EMRK zunächst einer Kammer des Gerichtshofs zugewiesen, die über die Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde entscheidet. Sofern die Kammer feststellt, dass die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung der EMRK aufwirft, oder womöglich eine Rechtsprechungsänderung indiziert, kann sie das Verfahren gemäß Art. 30 EMRK an die Große Kammer überweisen.116 Die Große Kammer besteht aus 17 Richtern; ihr gehören insbesondere der für den jeweiligen als Partei beteiligten Europaratsstaat gewählte Richter, 113  Zum genauen Verfahrensablauf siehe etwa Jacob, DVBl 130 (2015), 61; Zwaak/Haeck/Burbano Herrera, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn u. a. (Hrsg.), Theory and practice of the European Convention on Human Rights, S. 79; Caroni, in: Thürer (Hrsg.), EMRK, S. 213; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, §§ 9 und 13. 114  Entscheidungen ergehen über die Zulässigkeit, Urteile über die Begründetheit einer Individualbeschwerde, vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 14 Rn. 1. 115  Nach Art. 27 Abs. 1 EMRK kann ein Einzelrichter eine Individualbeschwerde für unzulässig erklären oder aus dem Register streichen, wenn eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann. Eine derartige Entscheidung kann nach Art. 28 Abs. 1 lit. a EMRK auch von einem aus drei Richtern bestehenden Ausschuss getroffen werden; alternativ kann dieser nach Art. 28 Abs. 1 lit. b EMRK eine Individualbeschwerde auch für zulässig erklären und bereits ein Urteil über die Begründetheit fällen, sofern der Fall mit der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs gelöst werden kann. Vgl. hierzu auch Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 8 Rn. 2 f. 116  Dies ist in Ausnahmefällen gemäß Art. 43 EMRK auch auf einen Antrag der Parteien möglich, siehe hierzu auch Zwaak/Haeck/Burbano Herrera, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn u. a. (Hrsg.), Theory and practice of the European Convention on Human Rights, S. 79, 205 f.



§ 3 Individualbeschwerden vor der Großen Kammer45

sowie der Präsident des Gerichtshofs, die Vizepräsidenten und die Sektionspräsidenten an.117 Das Verfahren endet mit einem Urteil, in dem die Verletzung oder Nichtverletzung der geltend gemachten Konventionsrechte festgestellt wird,118 und eventuell eine Entschädigung festgesetzt wird.119 Ein Urteil der Großen Kammer wird mit seiner Verkündung endgültig. Die Parteien sind gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichtet, es zu befolgen. Die Umsetzung wird gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK vom Ministerkomitee überwacht.

B. Urteilsaufbau und Prüfungsstruktur Der Gerichtshof hat seinen eigenen Urteilsstil entwickelt, der sich nicht an dem Beispiel eines anderen Gerichts orientiert.120 Seine Urteile begründet er – im Gegensatz etwa zum EuGH – vergleichsweise ausführlich. Zu Beginn eines Urteils werden zunächst die Richter namentlich aufgeführt, aus denen die (Große) Kammer im vorliegenden Fall zusammengesetzt war. Das Urteil ist daraufhin in drei wesentliche Teile gegliedert. Zunächst wird der Ablauf des bisherigen Verfahrens vor dem EGMR dargestellt („Procedure“). Der zweite Teil („The facts“) gliedert sich in eine Darstellung des Sachverhalts, in der auch das Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten sowie das für den Fall relevante nationale und internationale Recht dargestellt werden. An dieser Stelle werden regelmäßig auch einschlägige internationale Soft Law-Dokumente, wie gegebenenfalls Europaratsdokumente, aufgeführt. Im 117  Art. 26 Abs. 4 und 5 EMRK; für die genaue Besetzung der Großen Kammer siehe Schaffrin, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Art. 26, Rn. 6; Meyer-Ladewig/Müller-Elschner, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK: Handkommentar, Art. 26, Rn. 11–15. 118  Damit sind die EGMR-Urteile grundsätzlich feststellende Urteile; der Gerichtshof geht jedoch zunehmend hierüber hinaus und empfiehlt mitunter auch – meist unter Bezugnahme auf Art. 46 EMRK – konkrete Maßnahmen, die der betreffende Staat zur Umsetzung des Urteils vornehmen muss. Hier ist insbesondere das Pilot­ urteil-Verfahren hervorzuheben. Vgl. hierzu umfassend Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK: Handkommentar, Art. 46, Rn. 4–11 sowie 21 ff.; Breuer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Art. 46, Rn. 5–29. 119  Art. 41 EMRK; siehe hierzu Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/ Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK: Handkommentar, Art. 41; Wenzel, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Art. 41. 120  Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 20. Siehe weiter auch Nußberger, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, S. 1; zum Modell der Entscheidungsfindung des EGMR und den Einflüssen des Common Law und Civil Law siehe insbesondere S.  3 f.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

dritten Teil („The law“) überprüft der EGMR schließlich, ob die vom Beschwerdeführer angegriffene staatliche Maßnahme die von ihm geltend gemachten Konventionsrechte verletzt. In den Urteilen der Großen Kammer werden hier zunächst die Ausführungen des vorangegangenen Kammerurteils in wesentlichen Zügen dargelegt; sodann werden die jeweiligen Argumente des Beschwerdeführers, der beklagten Regierung sowie der eventuell nach Art. 36 EMRK als dritte Parteien am Verfahren Beteiligten aufgeführt. Schließlich folgt die rechtliche Beurteilung des Falles durch den Gerichtshof.121 Die Argumentation des EGMR unter „The law“ wird in der empirischen Urteilsanalyse im Dritten Teil dieser Arbeit der wesentliche Untersuchungsgegenstand sein; daneben können aber auch die Ausführungen unter „The facts“ aufschlussreich sein, insbesondere hinsichtlich der Frage, welche rechtsvergleichenden Erkenntnisquellen der EGMR (nicht) für entscheidungsrelevant hielt. Hinsichtlich der genauen Prüfungsstruktur des EGMR ist zwischen Abwehrrechten und Verfahrensgarantien zu differenzieren.122 Bei den Abwehrrechten untersucht der Gerichtshof zunächst, ob eine Beschränkung des Schutzbereichs vorliegt; diese Prüfung kann mit der aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Prüfung eines Eingriffs in den Schutzbereich eines Grundrechts verglichen werden, der Gerichtshof handelt diese beiden Punkte indes oftmals in einem Schritt ab. Sodann folgt die Prüfung einer möglichen Rechtfertigung der Beeinträchtigung.123 Diese Unterscheidung zwischen der Bestimmung des Schutzbereichs im ersten und der Frage der Rechtfertigung eines Eingriffs in dieses Recht im zweiten Schritt ist im Grundsatz auch in der Systematik der EMRK angelegt; die meisten Bestimmungen zu den Freiheitsrechten enthalten zunächst die Garantie des jeweiligen Rechts (Beispiel: Art. 8 Abs. 1 EMRK: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.“), und im nächsten Schritt bestimmte Möglichkeiten zur Einschränkung dieses Rechts (Art. 8 Abs. 2 EMRK: „Eine Behörde darf in die Aus121  Vgl. zur Struktur der EGMR-Urteile sowie zum Verfahrensablauf auch White, Judgments in the Strasbourg Court: Some Reflections. 122  Vgl. Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, S. 366, 371 Rn. 4. Die absolut gewährleisteten Rechte aus Art. 3 und 4 EMRK (zur Diskussion über den Umfang der absoluten Geltung von Art. 4 EMRK siehe Marauhn/Mer­ hof, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, S. 366, 370, Fn. 17 m. w. N.) müssen hiervon ausgenommen werden; hier stellt ein Eingriff in den Schutzbereich zugleich eine Konventionsverletzung dar, vgl. hierzu Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/ Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, S. 366, 369 f. 123  Siehe hierzu auch Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, S.  27 ff.; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 14 Rn. 5 f. sowie § 18 Rn. 1 ff.



§ 3 Individualbeschwerden vor der Großen Kammer47

übung dieses Rechts nur eingreifen, soweit […]“).124 In einigen Urteilen weicht der Gerichtshof allerdings von dieser Prüfstruktur ab, indem er etwa die Eröffnung des Schutzbereichs nicht abschließend feststellt, sondern direkt in die Rechtfertigungsprüfung einsteigt, oder aber beide Ebenen vermischt.125 Bei den Verfahrensgarantien prüft der Gerichtshof ebenfalls zunächst, ob der Schutzbereich eröffnet ist;126 daraufhin folgt im Unterschied zur Prüfung der Abwehrrechte die Prüfung der in den jeweiligen Konventionsartikeln vorgesehenen verfahrensrechtlichen Vorgaben.127 Die Stimmenverteilung bei der abschließenden Entscheidung über eine Konventionsverletzung wird am Ende des Urteils aufgeführt. Anschließend stehen eventuell abgegebene Sondervoten, in denen die Richter gemäß Art. 45 Abs. 2 EMRK darlegen können, warum sie ganz oder teilweise nicht mit der Mehrheit der Richter übereinstimmen – eine Möglichkeit, die die betreffenden Richter in der Regel auch wahrnehmen.128 Zu unterscheiden sind hierbei „Concurring opinions“ von Richtern, die zwar im Ergebnis mit der Mehrheit gestimmt haben, aber andere Gründe dafür darlegen wollen, 124  Zur Struktur der Prüfung von Konventionsverletzungen durch den EGMR siehe grundlegend Gerards/Senden, International Journal of Constitutional Law 7 (2009), 619. 125  Gerards/Senden, International Journal of Constitutional Law 7 (2009), 619, 629 ff. 126  Bei Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK erfolgt diese Prüfung unter der Frage der „applic­ ability“, siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Boulois v. Luxembourg, 03.04.2012 – 37575/04, Rn. 81. 127  Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, S. 366, 371, Rn. 4; siehe weiter auch Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 34. Gerards und Senden wollen parallel zur Unterteilung in Schutzbereich und Rechtfertigung zwischen den Begriffen Auslegung und Anwendung der EMRK unterscheiden; demnach wird auf der Schutzbereichsebene das betreffende Konventionsrecht ausgelegt, und auf der Rechtfertigungsebene das Recht auf den konkreten Fall angewendet, Gerards/Senden, International Journal of Constitutional Law 7 (2009), 619, 623, sowie Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 7. Diese Schlussfolgerung, wonach Rechtsauslegung lediglich auf Schutzbereichsebene stattfindet, und die Rechtsanwendung lediglich auf Rechtfertigungsebene, ist jedoch zu undifferenziert und in dieser Form nicht zutreffend; so gibt es auch im Rahmen der in der Konvention vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten auslegungsbedürftige Begriffe, deren Bedeutung erst auf Rechtfertigungsebene ermittelt wird. Siehe beispielsweise den Begriff des öffentlichen Interesses aus Art. 1 ZP 1, EGMR – James a. o. v. The United Kingdom, 21.02.1986 – 8793/79, Rn. 39 ff. Dass eine Unterscheidung dieser beiden Ebenen nicht immer trennscharf möglich ist räumt denn auch Senden ein, Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 8. 128  Siehe hierzu auch White, Judgments in the Strasbourg Court: Some Reflections, S. 5 ff., sowie 11 ff., m. w. N., sowie die Studie von Bruinsma, Ancilla Iuris 2008, 32.

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1. Teil: Begriffsbestimmungen und Individualbeschwerdeverfahren

und „Dissenting opinions“ von Richtern, die nicht mit der Mehrheit gestimmt haben, und ihre Auffassung zur Rechtssache darlegen wollen.129 Diese Sondervoten können in der empirischen Urteilsanalyse ebenfalls wichtige Anhaltspunkte für die Rolle von Europaratsdokumenten in der Rechtsprechung des EGMR sein, da sie diesbezügliche Diskussionen innerhalb der Großen Kammer aufzeigen können.

129  Siehe hierzu auch Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 14 Rn. 7.

Zweiter Teil

Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR „[The ECHR] is always open and sensitive to ‚environmental‘ changes.“1

Rechtsvergleichende richterliche Argumentation ist ein sowohl in nationalen als auch internationalen Gerichten, in menschenrechtlichen wie anderen Rechtsbereichen zu beobachtendes Phänomen.2 In der Rechtsprechung des EGMR ist sie allgegenwärtig. Dies überrascht nicht: Die EMRK koexistiert mit zahlreichen weiteren Regimen zum Schutz der Menschenrechte. Dies trifft zunächst im internationalen Raum zu, der andere völkerrechtliche Verträge zum Schutz der Menschenrechte kennt, für deren Auslegung und Anwendung ebenfalls eigene Institutionen etabliert wurden. Darüber hinaus finden sich in den Mitgliedstaaten des Europarats eigene, historisch und kulturell gewachsene und geprägte Regelungen zum Grund- bzw. Menschenrechtsschutz,3 deren Einhaltung wiederum von nationalen Gerichten kontrolliert wird. Einerseits betont die Präambel der EMRK vor dem Hintergrund der UN-Menschenrechtserklärung das Ziel der Etablierung eines einheitlichen, gemeinsamen Menschenrechtsstandards in Europa. Andererseits wird (lediglich) ein Mindeststandard angestrebt, der zudem subsidiär zu den Schutzregimen der Mitgliedstaaten gelten soll, welche wiederum auch Mitglieder in anderen (sowohl regionalen als auch universellen) Menschenrechtsregimen sind.4 Diese Vielschichtigkeit des Menschenrechtsschutzes 1  Rozakis,

Tulane Law Review 80 (2005), 257, 274. bezeichnet es gar als Teil einer „New World Order“, Slaughter, A New World Order, S. 3, 65 ff. Siehe weiter Andenæs/Fairgrieve, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 3, 4. Konkret zum IGH siehe Bjorge, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 213; zum EuGH siehe Lenaerts/Gutman, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 141. Zu nationalen Verfassungsgerichten siehe Bobek, Comparative Reason­ ing in European Supreme Courts. Kürzlich berücksichtigte das BVerfG beispielsweise eine Empfehlung des Ministerkomitees, BverfG, 24.07.2018 – 2 BvR 309/15, Rn. 83. 3  Siehe zum Beispiel der Religionsfreiheit anschaulich Heinig, Religiöse Pluralität und religionsrechtliche Diversität als Topoi in der Rechtsprechung des EGMR. 4  Beispielhaft genannt sei nur die EUGRCh: Angesichts des vorerst gescheiterten Beitritts der EU zur EMRK gibt es in Europa mit dem EGMR und dem EuGH zwei internationale Gerichtshöfe, die verbindliche Menschenrechtsentscheidungen fällen – 2  Slaughter

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

stellt den EGMR vor Herausforderungen: „[T]he European Court of Human Rights […] make[s] a living out of adjudicating particularism-versus-universalism conundrums.“5 All diese Umstände laden zur Berücksichtigung rechtsvergleichender Informationen und Untersuchungen bei der Auslegung und Anwendung der EMRK ein.

§ 1 Die Anfänge und Entwicklung rechtsvergleichender Argumentation in den Urteilen des EGMR Die EKMR wie auch der EGMR haben seit Aufnahme ihrer Tätigkeit rechtsvergleichend argumentiert.6 Dabei tauchten auch Bezugnahmen auf Europaratsdokumente schon in den frühen Anfängen der Straßburger Rechtsprechung auf.7 1968 hatte der EGMR in Wemhoff v. Germany über die Frage zu entscheiden, ob eine drei Jahre und fünf Monate dauernde Untersuchungshaft mit Art. 5 Abs. 3 EMRK vereinbar ist. Hiernach hat jede Person, die sich in Untersuchungshaft zur Vorführung vor die zuständige Gerichtbehörde befindet, Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist. Die Mehrheit der Richter hatte darauf abgestellt, ob die Gründe, die die staatlichen Behörden zur Rechtfertigung der langen Untersuchungshaft angeführt hatten, „relevant and persuasive“ waren, und schließlich gegen eine Konventionsverletzung entschieden.8 Der Richter Zekia wählte in seiner abweichenden Meinung dagegen eine andere Herangehensweise: Er verglich zunächst die Rechtslage in Common Law-Systemen mit jener in Civil LawSystemen und führte vor allem England als Beispiel an, in dem eine Untersuchungshaft von über sechs Monaten unüblich sei. Er räumte ein, dass es vorliegend in erster Linie um die Auslegung der EMRK gehe. Allerdings wolle die EMRK gemeinsame Menschenrechtsstandards in den Europaratsstaaten etablieren, sodass die Standards in diesen Staaten auch nicht wesentanhand unterschiedlicher völkerrechtlicher Verträge, allerdings potenziell über vergleichbare Sachverhalte. 5  Hirschl, Comparative matters, S. 16. 6  Siehe hierzu Bates, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 42, 46 ff. In seinem bemerkenswerten Beitrag argumentiert er, dass der europäische Konsens in den ersten Jahrzehnten nach der Schaffung des EGMR eine Schlüsselrolle bei dessen erfolgreicher Etablierung als von allen Europaratsstaaten respektierter Gerichtshof spielte (vgl. hierzu insbesondere S. 45 ff.). 7  Hier soll lediglich auf die Rechtsprechung des EGMR eingegangen werden. Zu den Entscheidungen der EKMR siehe aber Bates, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 42, 46 ff. 8  EGMR – Wemhoff v. Germany, 27.06.1968 – 2122/64, Rn. 12 ff.



§ 1 Rechtsvergleichende Argumentation in den Urteilen des EGMR51

lich voneinander abweichen dürften.9 Darüber hinaus leitete er ein Argument aus einer Resolution des Ministerkomitees her, nach welcher die Anordnung von Untersuchungshaft nur bei absoluter Erforderlichkeit erfolgen sollte: „I quote hereunder from [CM/Res(65)11], referring to Article 5 (1) and (3) […] of the Convention. Although the Committee is not discharging judicial functions, nevertheless they are representatives of the High Contracting Parties and as the ascertainment of the intention of the signatories of the Convention is of great help in the interpretation of the Articles contained therein, it is permissible, in my view, to quote the relevant part of the Resolution in question.“10

Zekias Argumentation im Fall Wemhoff v. Germany war ein erster Schritt hin zur Etablierung rechtsvergleichender Untersuchungen auch unter Berücksichtigung von Europaratsdokumenten zur Auslegung und Anwendung der EMRK und ist insofern wegweisend für die gesamte folgende Rechtsprechung des EGMR.11 Knapp einen Monat später argumentierte der Gerichtshof im sogenannten Belgischen Sprachenfall selber rechtsvergleichend: Er verwies bei der Fest­ legung von Kriterien zur Prüfung, wann eine Ungleichbehandlung konven­ tionswidrig im Sinne von Art. 14 EMRK ist, auf die Rechtslage in den Europaratsstaaten.12 Auch in den darauf folgenden Urteilen zu Handyside v. The United Kingdom, Tyrer v. The United Kingdom und Marckx v. Belgium berücksichtigte der EGMR rechtsvergleichende Untersuchungen hinsichtlich der betreffenden Rechtsfragen. In Handyside v. The United Kingdom stellte er fest: „[I]t is not possible to find in the domestic law of the various Contracting States a uniform European conception of morals.“13 Auf diese Feststellung stützte er sodann die Gewährung einer margin of appreciation an den betreffenden Staat. In Tyrer v. The United Kingdom erklärte er, dass der Gerichtshof „cannot but be influenced by the developments and commonly accepted standards in the penal policy of the member States of the Council 9  EGMR – Wemhoff v. Germany, 27.06.1968 – 2122/64, Dissenting opinion des Richters Zekia. 10  EGMR – Wemhoff v. Germany, 27.06.1968 – 2122/64, Dissenting opinion des Richters Zekia. 11  Zur Frage nach europäischen Standards in der hier behandelten Frage, welche in mehreren Verfahren auch die EKMR beschäftigt hatte, siehe auch Bates, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 42, 48 f. 12  EGMR – Case „Relating to Certain Aspects of the Laws on the Use of Languages in Education in Belgium“ v. Belgium, 23.07.1968 – 1474/62 a. o., B. Rn. 10: „[T]he Court, following the principles which may be extracted from the legal practice of a large number of democratic States, holds that the principle of equality of treatment is violated if the distinction has no objective and reasonable justification.“ 13  EGMR – Handyside v. The United Kingdom, 07.12.1976 – 5493/72, Rn. 48.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

of Europe“.14 Im Fall Marckx v. Belgium musste der Gerichtshof entscheiden, ob eine Mutter und ihr uneheliches Kind eine Familie im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen. Dazu stellte er fest, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK keinen Unterschied zwischen „legitimen“ und „illegitimen“ Familien macht, und auch Art. 14 EMRK, der eine Diskriminierung aufgrund der Geburt verbietet, für die Anerkennung als Familie spreche. Sodann fügt er hinzu: „In addition, the Court notes that the Committee of Ministers of the Council of Europe regards the single woman and her child as one form of family no less than others (Resolution (70) 15 of 15 May 1970 on the social protection of unmarried mothers and their children […]).“15

Aus diesem Grund nahm er das Vorliegen einer Familie im Sinne von Art. 8 EMRK an. Bei der darauffolgenden Prüfung, ob die Ungleichbehandlung ehelicher und unehelicher Kinder in Belgien eine Verletzung von Art. 8 i. V. m. Art. 14 EMRK darstellt, berücksichtigte der EGMR sodann zwei völkerrechtliche Verträge sowie die Rechtslage in den Europaratsstaaten. Hieraus schloss er: „[T]here is a clear measure of common ground in this area amongst modern societies.“16, und verurteilte den Staat daraufhin wegen einer Konventionsverletzung. Der Gerichtshof unterstützt seine Argumentation in diesem Fall folglich nicht nur mit der Rechtslage in den Europaratsstaaten, sondern auch mit einer Resolution des Ministerkomitees sowie völkerrechtlichen Verträgen. An den dargelegten Fallbeispielen werden bereits zwei verschiedene Arten deutlich, auf die der Gerichtshof die Europaratsdokumente in seinen Urteilsbegründungen berücksichtigt: Erstens verweist er auf die Rechtslage in den Europaratsstaaten sowie daneben möglicherweise auch auf internationale Übereinkommen, und untersucht ob hieraus eine gemeinsame Herangehensweise abgelesen werden kann. Zweitens verweist er auch alleinstehend auf Europaratsdokumente, wie etwa im Fall Marckx v. Belgium geschehen. Mittlerweile ist die rechtsvergleichende Auslegung und Anwendung der EMRK unter Berücksichtigung verschiedener Erkenntnisquellen in der Straßburger Rechtsprechung allgegenwärtig. Insbesondere in den Urteilen der Großen Kammer findet sich regelmäßig ein Abschnitt zu „Comparative law“ in „The facts“, in dem rechtsvergleichende Informationen zu den Europaratsstaaten dargestellt sind, sowie ein Abschnitt zu „Relevant international law“ beziehungsweise „Relevant European law“, in dem einschlägige internationale Übereinkommen dargelegt sind.17 14  EGMR –

Tyrer v. The United Kingdom, 25.04.1978 – 5856/72, Rn. 31. Marckx v. Belgium, 13.06.1979 – 6833/74, Rn. 31. 16  EGMR – Marckx v. Belgium, 13.06.1979 – 6833/74, Rn. 41. 17  Siehe beispielsweise EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Rn. 19 ff. „Etwas weniger umfassend“ stellen 15  EGMR –



§ 1 Rechtsvergleichende Argumentation in den Urteilen des EGMR53

Mit der steigenden Verwendung rechtsvergleichender Informationen einher ging auch eine institutionelle Weiterentwicklung im EGMR. 2004 errichtete der Gerichtshof eine Research Division.18 Sie besteht aus Anwälten sowie weiteren Angestellten und arbeitet vor allem der Großen Kammer, in sehr komplexen Verfahren auch den Kammern zu.19 Sie erstellt rechtsvergleichende Berichte, anhand derer die Richter die europäischen und internationalen Rechtsauffassungen ablesen und über das Vorliegen eines europäischen Konsenses entscheiden können.20 Die rechtsvergleichenden Informationen in „The facts“ sind oft kurze Zusammenfassungen dieser Berichte.21 2015 wurde darüber hinaus das Superior Court Network aufgebaut. Mit diesem stetig wachsenden Netzwerk strebt der Gerichtshof die Organisation und den Ausbau eines ständigen Dialogs mit den obersten Gerichten der Europaratsstaaten an.22 Zum Ende des Jahres 2017 gehörten ihm 64 Gerichte aus 34 Staaten an; laut aktuellstem Stand vom 11.05.2020 sind es mittlerweile 90 Gerichte aus 40 Staaten. Für Deutschland sind es der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesarbeitsgericht, der Bundesfinanz-

sich die rechtsvergleichenden Ausführungen in der Regel in den Urteilen der Kammern dar, vgl. Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 721. 18  Møse, in: Müller/Kjos (Hrsg.), Judicial Dialogue and Human Rights, S. 410, 411. Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, erklärt unter Berufung auf ein Interview mit der Chefin der Research Division, Montserrat Enrich-Mas, dass die Ursprünge der Research Division schwierig zurückzuverfolgen seien, da Rechercheaufgaben auch bereits zu Zeiten der Kommission durchgeführt wurden. Damals habe diese Aufgabe jedoch noch in der Hand eines Angestellten gelegen, und keiner ganzen Abteilung, da es weniger Arbeit gewesen sei. Erst seit ungefähr 2000 sei das Bedürfnis nach einer separaten Abteilung entstanden, S. 22 f. (vgl. Zitat in Fn. 74). 19  Zur Zusammensetzung und Arbeit der Research Division siehe auch Mahoney/ Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 125 ff., und Dzehtsiarou, Consensus from within the Palace Walls, S. 5 f. 20  Møse, in: Müller/Kjos (Hrsg.), Judicial Dialogue and Human Rights, S. 410, 411. Er erklärt weiter, dass die Research Division an das Amt des Rechtsgelehrten angebunden ist. Der Rechtsgelehrte ist nach Rule 18 B VerfO EGMR Angehöriger der Kanzlei des EGMR. Er ist für die Gewährleistung der Qualität und Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zuständig und erteilt in dieser Funktion Auskünfte und Gutachten für die Spruchkörper und Mitglieder des Gerichtshofs. 21  Møse, in: Müller/Kjos (Hrsg.), Judicial Dialogue and Human Rights, S. 410, 411. 22  Vgl. EGMR, Introduction to the Superior Court Network, https://www.echr. coe.int/Documents/SCN_Introduction_Network_June2018_ENG.pdf (abgerufen am 28.08.2020). Zu den jüngsten Entwicklungen siehe insbesondere EGMR, Superior Courts Network; Annual Report 2019, https://www.echr.coe.int/Documents/Annual_ report_2019_ENG.pdf (abgerufen am 28.08.2020), S. 107 ff.

54

2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

hof sowie das Bundessozialgericht.23 Im Rahmen des Superior Court Networks werden unter anderem Informationen zu nationalen Regelungen in bestimmten Rechtsfragen ausgetauscht, welche ebenfalls einen Beitrag zu den rechtsvergleichenden Untersuchungen des Gerichtshofs leisten. Die Punkte 10–15 der Operational Rules of the Superior Court Network24 regeln dementsprechend, dass der Gerichtshof in dieser Hinsicht Anfragen an die Mitglieder des Netzwerks richten kann. Insgesamt verdeutlichen diese Maßnahmen des EGMR das stetige Streben nach einer Intensivierung, Verbesserung sowie Professionalisierung der rechtsvergleichenden Studien, die seinen rechtsvergleichenden Ausführungen zugrunde liegen.

§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“ Die Berücksichtigung von Europaratsdokumenten neben anderen Erkenntnisquellen erfolgt oftmals zur Ermittlung eines europäischen Konsenses. Die genaue Rolle von Europaratsdokumenten im Rahmen dieser vom EGMR geschaffenen Rechtsfigur25 wird im Dritten Teil empirisch untersucht; an dieser Stelle gilt es zunächst, das Konzept des europäischen Konsenses in Grundzügen darzustellen. Wenngleich der Gerichtshof seit den ersten rechtsvergleichenden Verweisen in seinen Urteilsbegründungen dazu angesetzt hat, sein Vorgehen bei der Konsens-Prüfung zu erläutern und präzisieren, ist es weiterhin in vielerlei Hinsicht unklar geblieben. Die folgenden Abschnitte ordnen den Begriff des europäischen Konsenses zunächst grundlegend ein, skizzieren seine Ermittlung durch den EGMR und erörtern seine Anwendungsbereiche. Dabei bleiben zahlreiche Fragen offen, welche in der darauffolgenden empirischen Urteilsuntersuchung mit in den Blick genommen werden sollen. Im Zusammenhang mit der Ermittlung eines europäischen Konsenses wird in der vorliegenden Arbeit auch von der Konsens-Methode gesprochen.26 23  Vgl. EGMR, Superior Courts Network; Annual Report 2017, https://www.echr. coe.int/Documents/SCN_Annual_Report_2017_ENG.pdf, S. 2 und Annex 2, sowie EGMR, Superior Courts Network – Member Courts https://www.echr.coe.int/ Documents/SCN_Members_ENG.pdf (beide abgerufen am 28.08.2020). 24  Dokument vom 13.04.2018, https://www.echr.coe.int/Documents/SCN_Opera tional_Rules_ENG.pdf (abgerufen am 28.08.2020). 25  Kapotas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 5. 26  So auch Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 119: „[T]he comparative-law method (the search for consensus or, rather, a trend)“; von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312; Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discon-



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“55

Zwar fehlt es der Prüfung oftmals an klaren Kriterien sowie einer kohärenten Anwendung, sodass ihre Einordnung als Methode (im Sinne eines „syste­ matische[n] Verfahren[s] zur Gewinnung von Erkenntnissen“27) bezweifelt werden mag. Der Gerichtshof hat jedoch zumindest einige grundlegende Parameter entwickelt, anhand derer über das Vorliegen eines europäischen Konsenses entschieden werden soll. Darüber hinaus verdeutlicht die Bezeichnung bereits das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis dieser Rechtsfigur als Chance, einen Beitrag zu kohärenten und nachvollziehbaren Urteilsbegründungen durch den EGMR zu leisten. Ein wesentliches Ziel besteht (im Vierten Teil) folglich auch darin, Vorschläge für eine weitere Strukturierung der Konsens-Prüfung zu unterbreiten.

A. Der europäische Konsens als europäische herrschende Meinung Der Gerichtshof hat den Terminus europäischer Konsens in seiner Rechtsprechung nicht explizit definiert.28 Dem allgemeinen Sprachgebrauch nach bedeutet Konsens die Übereinstimmung der Meinungen.29 Bezogen auf den Kontext des Europarats suggeriert der Begriff europäischer Konsens dementsprechend zunächst die übereinstimmende Auffassung aller Europaratsstaaten. Dieses Verständnis wäre indes wenig praktikabel, denn eine einhellige Auffassung aller Europaratsstaaten in konkreten Menschenrechtsfragen ist kaum denkbar. Umstritten und damit auch vor dem EGMR anhängig sind oftmals gerade solche Fälle, die nicht offensichtlich und damit in allen Vertragsstaaten übereinstimmend geregelt sind, zu deren Regelung also keine

tents, S. 71, 89; Djeffal, Static and evolutive treaty interpretation, S. 334; Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 67; Ronc, Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK, S. 86. 27  Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 2. Ähnlich Vogenauer, in: Reimann/ Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 869, 885, der eine Methode als „connot[ation of] the ‚path‘ or ‚way to achieve an end‘ “ bezeichnet; siehe in diesem Sinne auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multi­ level legal system, S. 44 f. 28  Siehe auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 10 ff.; Kapotas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 9. Regan, Trinity College Law Review 14 (2011), 51, 52 f. 29  Vgl. auch die Definition im Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/ Konsens (abgerufen am 28.08.2020). Zur Bedeutung des Konsens-Begriffs im Völkerrecht, welcher in der EGMR-Rechtsprechung jedoch eine autonome Bedeutung hat, siehe Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 720.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

einhellige Auffassung besteht.30 Der EGMR verwendet den Begriff denn auch nicht im Sinne einer einstimmigen Überzeugung; er fragt bei der Suche nach einem europäischen Konsens vielmehr nach einer insgesamt vergleichbaren europäischen Herangehensweise. Dafür reicht es beispielsweise aus, wenn eine große Mehrheit der Europaratsstaaten dieselbe Regelung für die betreffende Rechtsfrage trifft.31 Der europäische Konsens soll dementsprechend für die vorliegende Arbeit zunächst als europäische herrschende Meinung32 definiert werden.33 Seine Bezeichnung als Konsens ist streng genommen verfehlt, suggeriert dieser Begriff doch eine einstimmige Meinung.34 Nußberger nennt den europäischen Konsens vor diesem Hintergrund auch eine „rechtliche Fiktion“.35 Bezeichnend dafür sind auch die zahlreichen anderen Bezeichnungen, die der EGMR in diesem Zusammenhang verwendet, darunter „common ground“,36 „common approach“,37 „common standard“,38 „uniform approach“,39 „clear tendency“40. Vetrovsky weist darauf hin, dass der EGMR in der Tat lediglich gelegentlich von einem europä30  Siehe auch Letsas, EJIL 15 (2004), 279, 295 f., sowie Carozza, Notre Dame Law Review 73 (1997–1998), 1217, 1228. 31  Siehe dazu sogleich „Zweiter Teil, § 2 B. III.“, Fn. 97. Vgl. auch Pascual ­Vives, Consensus-based interpretation of regional human rights treaties, S. 14, der von einem „consensus generalis“ als „general (but not unanimous) agreement“ spricht. Für eine Erörterung des Konsens-Begriffs in der Rechtsprechung des EGMR siehe weiter Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S.  119, 121 f. 32  Diesen Ausdruck verwendete bereits Klocke, EuR 50 (2015), 148, 163; allerdings nicht direkt als Bezeichnung für den europäischen Konsens im Sinne der Praxis des EGMR, sondern vielmehr zur Beschreibung der möglichen (negativen) Konsequenz einer Einbeziehung von Dokumenten der Parlamentarischen Versammlung in die dynamische Auslegung der EMRK. 33  Im Vierten Teil der Arbeit wird diese Bezeichnung erneut aufgegriffen und vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus der empirischen Untersuchung eingehender erörtert. 34  Regan, Trinity College Law Review 14 (2011), 51, 58, bezeichnet den euro­ päischen Konsens vor diesem Hintergrund denn auch als „utopian ideal“. 35  Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717. 36  EGMR (Große Kammer) – Stummer v. Austria, 07.07.2011 – 37452/02, Rn. 104. 37  EGMR (Große Kammer) – Christine Goodwin v. The United Kingdom, 11.07.2002 – 28957/95, Rn. 85. 38  EGMR (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 104 („commonly accepted standard“). 39  EGMR (Große Kammer) – Bochan v. Ukraine (No. 2), 05.02.2015 – 22251/08, Rn. 57. 40  EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 73.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“57

ischen Konsens spricht, und häufig die anderen Bezeichnungen gebraucht.41 Der Begriff europäischer Konsens ist in der Literatur als Bezeichnung der in Rede stehenden Vorgehensweise des EGMR indes verbreitet aufzufinden42 und wird auch in dieser Arbeit in diesem Sinne als Oberbegriff für die im Folgenden näher dargestellte Praxis des EGMR verwendet. Die verschiedenen und insgesamt inkonsistent verwendeten Begrifflichkeiten sind Anlass für Kritik einiger Autoren, die dem Gerichtshof eine undurchsichtige Rechtsfindung anhand des Konsens-Kriteriums vorwerfen.43 Mitunter wird dementsprechend eine einheitliche Bezeichnung erwogen;44 so gebe etwa der Terminus Trend besser wieder, wonach der EGMR eigentlich sucht.45 Dieser Begriff eignet sich jedoch nur bedingt, um das Prinzip des EGMR zu beschreiben, denn der Gerichtshof verwendet ihn oftmals zur Beschreibung einer Vorstufe des europäischen Konsenses.46 Ungeachtet dessen ist die Kritik am Begriff Konsens jedoch angesichts der hierdurch suggerierten, aber nicht gemeinten Übereinstimmung der Meinungen im Grundsatz berechtigt. Sie ist insbesondere auch deshalb nachvollziehbar, weil die vielen verschiedenen Begriffe die Ungewissheit über das ohnehin in vielerlei Hinsicht unklare Konzept des europäischen Konsenses noch verstärken.

B. Die Konsens-Prüfung des EGMR Ob ein europäischer Konsens in einer bestimmten Frage vorliegt, untersucht der EGMR anhand verschiedener Erkenntnisquellen, deren Auswahl und Gewichtung bei der Prüfung im Einzelfall variiert.

41  Vetrovsky, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 120, 121. 42  Siehe insbesondere Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights; Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus; Ziemele, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 23; Wildhaber/Hjar­ tarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 248. 43  Siehe etwa Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 89; Brauch, Howard Law Journal 52 (2009), 277, 281 ff.; Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 249. 44  Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 9. 45  Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 122. Siehe weiter die Joint partly dissenting opinion der Richter Casadevall, Ziemele, Kovler, Jociene, Sikuta, De Gaetano und Sicilianos in EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 15. 46  Siehe hierzu sogleich „Zweiter Teil, § 2 B. III.“

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

I. Die rechtsvergleichende Frage Die rechtsvergleichende Fragestellung ist der Ausgangspunkt der Untersuchung. Sie wird in den Urteilsbegründungen meist nicht ausdrücklich aufgeworfen, sondern ist aus dem Zusammenhang der rechtsvergleichenden Ausführungen des EGMR zu entnehmen. Sie wird durch den im konkreten Fall berichterstattenden Richter festgelegt;47 dieser kann einen rechtsvergleichenden Bericht bei der Research Division anfordern, welcher sodann die Grundlage für die rechtsvergleichende Untersuchung durch die an der Entscheidung beteiligten Richter darstellt.48 Der Bericht wird nicht veröffentlicht.49 Aufschluss über die vom Gerichtshof für relevant gehaltenen rechtsvergleichenden Informationen können allerdings die Urteilsausführungen in „The facts“ geben. Wie sogleich in der Urteilsanalyse deutlich werden wird, kann die rechtsvergleichende Frage auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen gestellt werden.50 II. Die Erkenntnisquellen Um herauszufinden, ob in Europa eine bestimmte Meinung zu der in Rede stehenden Rechtsfrage vorherrscht, untersucht der Gerichtshof verschiedene Erkenntnisquellen.51 Neben den nationalen Rechtsordnungen der Europaratsstaaten verweist er zunehmend52 auch auf völkerrechtliche Verträge sowie internationales Soft Law, welche in der vorliegenden Arbeit auch unter dem Begriff internationale Übereinkommen zusammengefasst werden.53 47  Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 2 f. 48  Zum Prozess der Ermittlung eines europäischen Konsenses siehe auch Dzeht­ siarou, Consensus from within the Palace Walls, S. 4 ff. 49  Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 125. 50  Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 14 ff., unterscheidet zwischen „consensus on the level of rules“ und „consensus on the level of principles“. 51  Vgl. hierzu auch Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 253; von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 319. 52  Siehe insbesondere die Studien von Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 94 ff.; weiter van Drooghen­ broeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 461 f.; Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 137; Kleijssen, Nederlands Tijdschrift voor de Mensenrechten 35 (2010), 897, 904. 53  Van Drooghenbroeck/Krenc/van der Noot, in: Brems/Desmet (Hrsg.), Integrat­ed human rights in practice, S. 31, 32, sprechen von „external sources“ als „sources other than the [European Convention on Human Rights] itself“. Siehe weiter auch



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“59

Dies sind die drei wesentlichen Erkenntnisquellen zur Ermittlung eines europäischen Konsenses.54 Daneben berücksichtigt der EGMR auch eine Vielfalt weiterer Erkenntnisquellen, wie etwa Gerichtsentscheidungen oder Expertenmeinungen zu der betreffenden Rechtsfrage, welche sogleich unter „sonstige Erkenntnisquellen“ zusammengefasst werden. Die verschiedenen Arten von Erkenntnisquellen, aus denen der EGMR einen europäischen Konsens abliest, begründen auch die in der vorliegenden Arbeit gewählte Terminologie; der Begriff Rechtsquellen wäre an dieser Stelle zu eng gefasst und würde etwa Expertenmeinungen nicht erfassen. 1. Nationale Rechtslage in den Europaratsstaaten

Zur Beantwortung der rechtsvergleichenden Frage wird in der überwiegenden Anzahl der Fälle ein Vergleich der Rechtslage in den Europaratsstaaten angestellt. Wenngleich der EGMR seine Informationen über die Rechtslagen in den Europaratsstaaten mitunter von Dritten erhält,55 hat er durch die ReDzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 45, der nicht zwischen völkerrechtlichen Verträgen und internationalem Soft Law unterscheidet, sondern beide unter dem Begriff „international treaties“ zusammenfasst. Vgl. auch EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, wo der Gerichtshof unter dem Begriff „international texts and instruments“ sowohl „general international law“ (Rn. 69 ff.) als auch rechtsunverbindliche „instruments of the Council of Europe“ (Rn. 74 f.) aufführte. 54  Vgl. die grundlegende Erläuterung in EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 102. Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 721, bezeichnet die Rechtsvergleichung, internationale Verträge und Soft Law als die „drei Säulen“ der Methoden zur Feststellung eines europäischen Konsenses. Vgl. weiter auch das Sondervotum Nußbergers und Jäderbloms, EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Rn. 19: „In the Court’s jurisprudence, three factors are relevant in order to determine the existence of a European consensus: international treaty law, comparative law and international soft law […].“ 55  Dies können Studien von NGOs sein; vgl. etwa die in EGMR (Große Kam­ mer) – Sheffield and Horsham v. The United Kingdom, 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, Rn. 57 berücksichtigte Studie der Londoner NGO Liberty, die vom Gerichtshof in Auftrag gegeben worden war (vgl. Rn. 35). Daneben berücksichtigt der Gerichtshof auch Informationen von Regierungen der am Verfahren beteiligten Staaten, vgl. etwa EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 45, sowie Europaratsstudien, vgl. etwa EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 55. Siehe weiter auch EGMR – Leger v. France, 11.04.2006 – 19324/02, Rn. 46 ff.; EGMR – National Union of Rail, Maritime and Transport Workers v. The United Kingdom, 08.04.2014 – 31045/10, Rn. 38 ff. Zur Verwendung rechtsvergleichender Untersuchungen von Dritten siehe weiter Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 97 ff., sowie Bürli, in: Flogaitis/Zwart/Fraser (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 135.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

search Division sowie das Superior Court Network mittlerweile die Möglichkeit, „eigene“ rechtsvergleichende Studien zu verwenden. Gleichwohl sind die Analysen angesichts der stetig gestiegenen Mitgliederzahl bei heute 47 Staaten zeitlich und personell aufwändig, sodass der EGMR offenkundig angesichts der vielen Verfahren noch immer an seine Grenzen stößt. Umfangreiche rechtsvergleichende Untersuchungen werden nur in besonders wichtigen Fällen durchgeführt, welche meist von der Großen Kammer entschieden werden.56 2. Völkerrechtliche Verträge

Zur Ermittlung eines europäischen Konsenses insbesondere herangezogen werden völkerrechtliche Verträge zum Schutz der Menschenrechte. Dazu gehören universelle Verträge wie der IPBürg57 oder der IPwsk58, andere regionale Schutzregime59 wie die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker,60 die AMRK61 und die europäische Sozial­charta.62 Weiter verweist der EGMR auf eine Vielzahl von Europaratsübereinkommen63 und zieht auch EU-Primärrecht heran, wie insbesondere die ­EUGRCh.64 56  Vgl. Møse, in: Müller/Kjos (Hrsg.), Judicial Dialogue and Human Rights, S. 410, 411; siehe weiter auch die Aussage des Richters Myjer im Interview mit Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 21, Fn. 67. Dzehtsiarou stellt auch fest, dass Fälle mit rechtsvergleichenden Untersuchungen weniger als 5 % der Urteile des EGMR ausmachen, vgl. Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 21. 57  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 99. 58  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 99. 59  „It is also instructive for the Court’s inquiry to have regard to the developments […] in other regional human‑rights protection systems.“, EGMR (Große Kam­ mer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 146. 60  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 72; EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 62, 147. 61  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 72. 62  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 103. Für zahlreiche weitere Beispiele siehe auch Dzeht­ siarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 48. 63  Ein Bericht der Research Division von 2011 listet 56 völkerrechtliche Verträge auf, die im Rahmen des Europarats geschlossen und daraufhin vom EGMR in seinen Urteilen berücksichtigt wurden, siehe Research Division, The Use of Council of



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“61

Die völkerrechtlichen Verträge können in unterschiedlichem Maße aussagekräftig bezüglich der entscheidungserheblichen Rechtsfrage sein. Der IPBürg etwa enthält wie auch die EMRK weit formulierte Artikel zum Schutz grundlegender Menschenrechte, aus ihm lässt sich also in der Regel keine Antwort zu konkreten Fragen herleiten. Wie bereits festgestellt, berücksichtigt der EGMR jedoch teilweise auch die Rechtsprechung der für die Auslegung der Verträge zuständigen Organe,65 aus der sich konkretere Erkenntnisse zum Schutzregime des jeweiligen völkerrechtlichen Vertrages gewinnen lassen. Andere völkerrechtliche Verträge sind unterdessen spezifischer.66 Mit der Heranziehung anderer völkerrechtlicher Verträge neben der EMRK geht die Möglichkeit einher, dass diese nicht von allen Europaratsstaaten unterzeichnet beziehungsweise ratifiziert wurden. Seinen Umgang mit diesem Umstand verdeutlichte der EGMR 2008 in Demir and Baykara v. Turkey. Die Regierung hatte das Vorgehen der Kammer, die in ihrer Urteilsfindung die Europäische Sozialcharta berücksichtigt hatte, als unzulässig kritisiert: Es sei nicht möglich, die Türkei auf der Grundlage anderer internationaler In­ strumente als der EMRK zu verurteilen, vor allem wenn es sich dabei um Instrumente handele, die sie nicht ratifiziert habe. Die Große Kammer widersprach dieser Ansicht und erklärte, dass der Gerichtshof relevante völkerrechtliche Verträge schon immer unabhängig von der Frage berücksichtigt habe, ob der betreffende Staat diese ratifiziert hat.67 Dieser Verweis auf die etablierte Praxis des Gerichtshofs stellt fraglos keine rechtliche Begründung für diese Praxis dar.68 Wie schon 1979 im Fall Marckx v. Belgium führte der Gerichtshof damit aus, dass es weniger auf die Anzahl beteiligter Staaten als vielmehr darauf ankomme, dass die betreffenden Verträge überhaupt

­ urope Treaties in the Case-Law of the European Court of Human Rights, https:// E www.echr.coe.int/Documents/Research_report_treaties_CoE_ENG.pdf (abgerufen am 28.08.2020). 64  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 105. 65  Zum Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 72, 29. 66  So etwa die Oviedo Convention zum Schutz der Menschenrechte bei biomedizinischer Forschung (berücksichtigt in EGMR (Große Kammer) – Parrillo v. Italy, 27.08.2015 – 46470/11, unter III. Council of Europe Documents (Rn. 54, unter C.), oder die European Convention on Nationality (berücksichtigt in EGMR (Große Kam­ mer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 83 ff.). 67  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/ 97, Rn. 78. 68  In diesem Sinne auch von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 318.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

existieren;69 dort erklärte er: „In fact, the existence of these two treaties denotes that there is a clear measure of common ground in this area amongst modern societies.“70 Die Problematik einer fehlenden umfassenden Unterstützung völkerrecht­ licher Übereinkommen durch alle Europaratsmitglieder besteht in besonderem Maße bei der Berücksichtigung von EU-Recht, da Übereinkommen im Rahmen der EU im Gegensatz zu anderen völkerrechtlichen Verträgen eine Beteiligung von fast der Hälfte der Europaratsmitglieder (20 von 47) von vornherein ausschließen. In den hier untersuchten Urteilen finden sich keine Hinweise auf diesbezügliche Kritik von Nicht-EU-Staaten. Die Mitgliedschaft von 27 der 47 Europaratsstaaten in der EU, und die damit einhergehende Verpflichtung dieser Staaten zur Einhaltung EU-rechtlicher Menschenrechtsstandards, erfordert zwar eine Zusammenarbeit von Europarat und der EU; andernfalls wäre ein kohärenter und effektiver Menschenrechtsschutz nur schwer möglich. Allerdings birgt die Zuteilung einer besonderen Rolle an die EU im Rahmen des Europarats, etwa bei der Ausarbeitung neuer Übereinkommen, die Gefahr einer Verschiebung der grundsätzlichen Gleichberechtigung beteiligter Staaten an multilateralen Übereinkommen, was eine „Entfremdung von Nicht-EU-Staaten“ nach sich ziehen könnte.71 3. Internationales Soft Law

Zu den vom Gerichtshof für die Konsens-Prüfung herangezogenen internationalen Soft Law-Dokumenten gehören neben den Empfehlungen und Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung sowie des Ministerkomitees auch Dokumente anderer Institutionen und Einrichtungen des Europarats, 69  Der Fall X. a. o. v. Austria stellt eine ausnahmsweise Abkehr von diesem Grundsatz dar, für die der Gerichtshof indes auch stark von der abweichenden Meinung kritisiert wurde, siehe dazu sogleich unter „Dritter Teil, § 5 C. II. 3. d)“. 70  EGMR – Marckx v. Belgium, 13.06.1979 – 6833/74, Rn. 41. Wildhaber, Hjartarson und Donnelly interpretieren diese Aussage unterdessen einschränkend dahingehend, dass der Gerichtshof damit nicht vollumfänglich das völkerrechtliche Vertrags­ recht über den Haufen werfen wollte. „We assume that it only had in mind multila­ teral, standard-setting, universal or regional human rights conventions, dealing with matters such as genocide, war crimes and humanitarian law, torture, racial and sexual discrimination, women, children and refugees. Such treaties have usually been ratified by a multitude or almost all States and are implemented by the States Parties with the help of monitoring mechanisms and optional bodies which can consider individual communications or complaints.“ Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 254, (25). 71  Polakiewicz/Suominen-Picht, EuGRZ 45 (2018), 383, 389.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“63

wie insbesondere Berichte der Venedig-Kommission72 oder des CPT73. Darüber hinaus berücksichtigt der EGMR auch internationale Soft Law-Dokumente anderer internationaler Organisationen, wie insbesondere der UN74 sowie der ILO.75 Die Soft Law-Dokumente teilen zunächst die oben genannte Problematik rechtsverbindlicher völkerrechtlicher Verträge, da sie nicht zwangsläufig von allen Europaratsstaaten mitgetragen werden. Darüber hinaus wirft die Berücksichtigung unverbindlicher internationaler Übereinkommen das Problem auf, dass selbst die Staaten, die das Übereinkommen unterzeichnet haben, bei der Unterzeichnung nicht unbedingt mit einer hieraus folgenden rechtlichen Verpflichtung rechneten; sie unterzeichneten in erster Linie in dem Wissen, dass das Übereinkommen rechtlich unverbindlich ist. Wie der Gerichtshof hiermit umgeht, wird sogleich im Dritten Teil der Arbeit eingehend untersucht. 4. Sonstige Erkenntnisquellen

Neben den soeben benannten Erkenntnisquellen berücksichtigt der Gerichtshof bisweilen auch andere Erkenntnisquellen. Der Rechtsvergleich zwischen nationalen Regelungen etwa beschränkt sich nicht immer auf die Staaten des Europarats. Mitunter wird auch die Rechtslage in anderen Ländern hinzugezogen. In Vinter a. o. v. The United Kingdom fand eine Untersuchung der Rechtslage in Kanada, Hong Kong, Mauritius, Namibia, Neuseeland, Südafrika und den USA Eingang in das Urteil.76 Eine weitere Erkenntnisquelle stellen wissenschaftliche Studien von Experten dar. Diese zog der EGMR insbesondere zu Fragen der Auslegung des Persönlichkeitsrechts aus Art. 8 EMRK heran, im Zusammenhang mit Rechten von Transgendern,77 Homosexualität78 sowie Fragen der künstlichen Fortpflan72  Siehe etwa EGMR (Große Kammer)  – Tănase v. Moldova, 27.04.2010  – 7/08, Rn. 86, 168. 73  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Murray v. The Netherlands, 26.04.2016 – 10511/10, Rn. 118. 74  Für eine Resolution der Generalversammlung sowie Berichte von UN-Sonderberichterstattern siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Al-Dulimi and Montana Man­ agement Inc. v. Switzerland, 21.06.2016 – 5809/08, Rn. 51 ff. 75  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn.  100 ff. 76  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 73 („The facts“). 77  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Sheffield and Horsham v. The United Kingdom, 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, Rn. 56. 78  Siehe etwa EGMR – B. v. France, 25.03.1992 – 13343/87, Rn. 48.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

zung79.80 Weiter berücksichtigt der EGMR zuweilen auch EU-Sekundär­ recht;81 darüber hinaus Urteile anderer internationaler Gerichte beziehungsweise gerichtsähnlicher Institutionen,82 sowie Urteile nationaler Verfassungs­ gerichte83. Auch Erklärungen des Menschenrechtskommissars des E ­ uroparats werden berücksichtigt84.85 III. Die Auswertung der Erkenntnisquellen Die Konstellation der Erkenntnisquellen, die der Gerichtshof für die Begründung eines europäischen Konsenses anführt, variiert.86 Mitunter begründet das Zusammenspiel verschiedener Erkenntnisquellen die Annahme eines bestehenden europäischen Konsenses durch den EGMR: „The consensus emerging from specialised international instruments and from the practice of Contracting States may constitute a relevant consideration for the Court when it interprets the provisions of the Convention in specific cases.“87

79  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – S. H. a. o. v. Austria, 03.11.2011 – 57813/00, Rn. 84. 80  Siehe hierzu mit weiteren Beispielen auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 55 f. 81  Der Gerichtshof berücksichtigt dies mitunter auch im Rahmen der erstgenannten Erkenntnisquelle, dem „Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten“. So etwa in EGMR (Große Kammer) – Delfi AS v. Estonia, 16.06.2015 – 64569/09, Rn. 58, wo der Gerichtshof in „The facts“ unter dem Punkt „Comparative law“ für alle EU-Mitgliedstaaten auf eine EU-Verordnung als maßgebliche Rechtsquelle verwies. 82  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 105; vgl. hierzu weiter mit zahlreichen Nachweisen Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 49 (Fn. 50). 83  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 113. Siehe hierzu auch (indes nicht ausdrücklich in Bezug auf die Konsens-Methode) Rozakis, Tulane Law Review 80 (2005), 257, 276 ff. 84  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Baka v. Hungary, 23.06.2016 – 20261/12, Rn. 61. 85  Zur möglichen Einordnung einiger der genannten Erkenntnisquellen als „Soft jurisprudence“ siehe Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 45 ff. 86  In diesem Sinne erklärt auch Nußberger, dass eine „Zusammenschau“ verschiedener Quellen der Auffindung eines europäischen Konsenses dient, Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 723. 87  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 85.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“65

Mitunter benennt der EGMR jedoch auch schon einige sich aus einzelnen Erkenntnisquellen ergebende Auffassungen als Konsens:88 In Bayatyan v. Armenia sprach der Gerichtshof sowohl von einem Konsens aus den „conditions in Contracting States“, als auch von einem „consensus emerging from specialised international instruments“.89 In dieser Hinsicht leitet der EGMR oftmals aus dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten einen euro­ päischen Konsens ab,90 und bezeichnet einen Konsens aus internationalen Übereinkommen außerhalb des Kreises der Europaratsstaaten91 mitunter als internationalen Konsens.92 Grundsätzlich können aus der rechtsvergleichenden Untersuchung drei verschiedene Ergebnisse resultieren: Das Nichtvorliegen eines Konsenses; das Vorliegen eines Konsenses; oder zwar kein Konsens, aber eine abgestufte Form, ein „emerging consensus“93, beziehungsweise ein „Trend“94.95 Die 88  Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 38 ff., unterscheidet in dieser Hinsicht verschiedene „types of consensus“, abhängig von der Rechtsquelle, aus der er abgeleitet wurde. Er identifiziert vier, nämlich Konsens auf Grundlage von nationalem Recht, internationalem Recht, der Anschauungen innerhalb des beklagten Staats, sowie aufgrund Expertenmeinungen. Der von Dzehtsiarou beschriebene Konsens innerhalb des betreffenden Staates ist indes kein Konsens aufgrund einer rechtsvergleichenden Untersuchung, und wird daher vorliegend nicht als Teil der Konsens-Methode verstanden. 89  EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 102. 90  Dies wird sogleich in der empirischen Untersuchung deutlich; vgl. weiter auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 246, mit zahlreichen Verweisen auf EGMR-Entscheidungen. 91  Derartige Erkenntnisquellen „that […] are located outside the European system of human rights protection“ werden auch als „external sources“ bezeichnet, Dzeht­ siarou, Georgetown Journal of International Law 49 (2017), 89, 106 f. 92  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 73; EGMR (Große Kammer) – Christine Goodwin v. The United Kingdom, 11.07.2002 – 28957/95, Rn. 84 f. 93  EGMR (Große Kammer) – Christine Goodwin v. The United Kingdom, 11.07.2002 – 28957/95, Rn. 84. 94  In EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 243 etwa sprach der Gerichtshof bei einem Rechtsvergleich zwischen 20 Staaten lediglich von einem Trend. 95  Auch hier verwendet der Gerichtshof neben den genannten noch weitere Begriffe, wobei wiederum (wie bereits zum Begriff des europäischen Konsenses festgestellt) keine Kohärenz erkennbar ist, vgl. Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 257. Zu den möglichen Ergebnissen der Konsens-Untersuchung siehe auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 24 ff. Djeffal, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 71, 76 f., unterscheidet noch weitere Abstufungen hin zu einem Konsens. Die Grenze zwischen den verschiedenen Abstufungen scheint fließend zu sein; diesbezüglich befinden Kapotas/Tzevelekos dementsprechend: „[N]o detailed explanation has been provided regarding the different ‚shades‘ of consensus

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

Gretchenfrage, wann in Ansehung der verschiedenen Erkenntnisquellen nun ein europäischer Konsens vorliegt, kann nicht allgemeingültig beantwortet werden.96 So gibt es nicht etwa eine anerkanntermaßen bestimmte Anzahl an Staaten, die für die Annahme eines Trends beziehungsweise Konsenses vorliegen muss.97 Dem Gerichtshof wird vorgeworfen, die Auswahl und Gewichtung der verschiedenen Erkenntnisquellen sei insgesamt unklar98 und erfolge inkonsistent;99 Dzehtsiarou fordert hinsichtlich des Verhältnisses der verschiedenen Erkenntnisquellen: „The Court should clarify its methodology for deciding between consensus based on international treaties […] and and how these may correspond to the different terms that make up the ‚consensus lexicon‘ employed by the ECtHR.“ Kapotas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 10. Dies verdeutlicht auch erneut den Hintergrund der erwähnten Kritik an der uneinheitlichen Terminologie im Rahmen der Konsens-Methode. 96  Siehe Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 257. Sie ist auch innerhalb des Gerichtshofs oftmals umstritten; in seinem Sondervotum in EGMR (Große Kammer) – Correia de Matos v. Portugal, 04.04.2018 – 56402/12, Dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, joined by Sajo, Rn. 18, kritisierte Pinto de Albuquerque beispielsweise hinsichtlich einer fragwürdigen Konsens-Ermittlung in der Urteilsbegründung: „Calling it a ‚tendency‘ rather than a ‚consensus‘, and thus pretending to wash away the effects of the large coincidence amongst countries within the Council of Europe, borders on wishful thinking.“ 97  Siehe eingehend Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 258 f. Yourow, Connecticut Journal of International Law 3 (1987), 111, 158 stellt fest: „[A] student of the Court is not informed as to how the Court measures the existence or non-existence of any one particular consensus.“ In diesem Sinne auch Regan, Trinity College Law Review 14 (2011), 51, 53 ff. Der Deputy Registrar des EGMR, Michael O’Boyle, erklärte in einem Interview mit Dzehtsiarou, ein Konsens liege vor bei einer „absolutely crashing majority“, vgl. Dzehtsiarou, Consensus from within the Palace Walls, S. 13. Nußberger erklärt umgekehrt, ein Konsens werde angenommen, wenn „die Zahl derer, die eine von der Mehrheit abweichende Regelung haben und damit eine andere Rechtsmeinung offenbaren, verschwindend gering ist“, vgl. Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 720. Sie erklärt an anderer Stelle jedoch auch, dass über die erforderliche Anzahl keine Einigkeit besteht, vgl. Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 730. Kritik hieran wird mitunter auch innerhalb der Großen Kammer geübt: In EGMR (Große Kammer) – Merabishvili v. Georgia, 28.11.2017 – 72508/13 regelten ausweislich der Informationen in „The facts“ (Rn. 168) „several High Contracting States“ die in Rede stehende Rechtsfrage in vergleichbarer Weise; der Richter Serghides führte in seiner Concurring opinion diesbezüglich aus: „The word ‚sev­ eral‘, which refers to the number of High Contracting States taken for comparison purposes and is used in paragraph 168 of the judgment, literally means ‚more than two but not many‘. So the small number of unnamed States which allegedly apply such a test cannot provide a basis for an objective comparative study and a consensus among the different laws of the High Contracting States.“, vgl. Rn. 60. 98  Helfer, Cornell International Law Journal 23 (1993), 133, 140. 99  Dzehtsiarou, University College Dublin Law Review 10 (2010), 109, 130 f.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“67

Euro­pean consensus based on a comparative analysis of laws and practices of the Contracting parties […]“.100 Zwart fühlt sich gar an das Diktum des US Supreme Court Richters Stewart, „I know it when I see it“ erinnert.101 IV. Rechtsvergleichung = Konsens-Ermittlung? Unklar ist, ob eine rechtsvergleichende Argumentation, also die Argumentation anhand einer oder mehrerer der genannten rechtsvergleichenden Erkenntnisquellen, auch als Prüfung eines Konsenses bezeichnet werden kann, wenn der EGMR dies nicht ausdrücklich so artikuliert. Sucht der EGMR also immer nach einem europäischen (beziehungsweise internationalen) Konsens, wenn er rechtsvergleichende Untersuchungen vornimmt? Wie für den Begriff des europäischen Konsenses gilt auch hinsichtlich des Begriffes der Rechtsvergleichung, dass der Gerichtshof diesen für seine Rechtsprechung nicht ausdrücklich definiert hat. Vielmehr argumentiert er regelmäßig unter Einbeziehung verschiedener Rechtsquellen, ohne sein Vorgehen dabei methodisch zu erläutern.102 Unter „The facts“ überschreibt er Informationen zur Rechtslage in den Europaratsstaaten meist mit „Comparative Law“;103 zugleich berücksichtigt er aber auch internationale Übereinkommen im Rahmen einer rechtsvergleichenden Argumentation.104 Der Fall Demir and Baykara ist einer der seltenen Anlässe, zu denen der Gerichtshof grundlegend erläutert hat, wie er die EMRK rechtsvergleichend auslegt.105 Seine Ausführungen werden an späterer Stelle eingehender analysiert;106 an dieser Stelle sei jedoch bereits angemerkt, dass sich auch hieraus keine eindeutigen Schlüsse auf die Einordnung des europäischen Konsenses im Verhältnis zur Methode der Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR ziehen lassen. Angesichts der vielfältigen und weitläufigen Bezeichnungen, die der EGMR rund um die Suche nach einem euro­ päischen Konsens verwendet, erscheint die Frage ob der EGMR den euro­ 100  Siehe Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 57 ff. 101  Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 91. 102  Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 224. 103  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 46 (III.). 104  Vgl. hierzu auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 224 ff. 105  Vgl. auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S.  224 f. 106  Siehe „Zweiter Teil, § 2 C. I. 1.“

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

päischen Konsens überhaupt als eigenes Konzept neben anderen Arten rechtsvergleichender Untersuchungen ansieht, aber durchaus angebracht. In der Literatur wird diese Frage nicht explizit aufgeworfen. Zugleich liegen den verschiedenen Arbeiten jedoch überwiegend Verständnisse zugrunde, die gegen eine Gleichsetzung von Rechtsvergleichung und Konsens-Ermittlung sprechen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Frage, ob eine rechtsvergleichende Argumentation des EGMR lediglich anhand internationalen Rechts zur Konsens-Methode zu zählen ist. Wie einleitend dargestellt, konzentrieren sich viele Schriften zur Konsens-Methode auf die Rechtsvergleichung nationalen Rechts der Europaratsstaaten.107 Umgekehrt befassen sich viele Autoren mit der Bezugnahme des EGMR auf internationales Recht und gehen dabei nicht oder lediglich am Rande auf die Konsens-Methode ein. Forowicz beispielsweise untersucht in ihrer Monographie die Rezeption internationalen Rechts in acht verschiedenen Bereichen, und widmet sich dabei lediglich einleitend auf einer Seite der „Consensual Interpretation“.108 Diese versteht sie als Methode, mit der der EGMR einen Konsens zwischen den Europaratsstaaten anhand einer rechtsvergleichenden Untersuchung der jeweiligen nationalen Rechtsordnungen ermitteln will.109 Weiter erklärt sie sogar, ein europäischer Konsens könne die Berücksichtigung internationalen Rechts durch den Gerichtshof verhindern.110 Dieses Verständnis greift indes zu kurz, da es verkennt, dass der Gerichtshof sich gerade auch für seine Konsens-Prüfung auf internationales Recht stützt.111 Staes unterscheidet verschiedene Funktionen von Verweisen auf internationale Übereinkommen in der Rechtsprechung des EGMR. In der Ermittlung eines europäischen beziehungsweise internationalen Konsenses sieht sie lediglich eine Funktion neben weiteren, wie etwa der der Definition von Konventionsbegriffen oder der Herausbildung von positive obligations der Staaten.112 Damit scheint sie einige Verweise auf internationale Übereinkommen nicht bei der KonsensMethode einzuordnen. Auch Senden differenziert zwischen rechtsverglei107  Siehe

erneut „Einführung, C.“ Forowicz, The reception of international law in the European Court of Human Rights, S. 9. 109  Vgl. Forowicz, The reception of international law in the European Court of Human Rights, S. 9. 110  Vgl. Forowicz, The reception of international law in the European Court of Human Rights, S. 9. 111  Es ist auch in der Hinsicht widersprüchlich, als Forowicz die evolutive und dynamische Auslegung als fördernd für die Rezeption internationalen Rechts ansieht, und hier einen engen Bezug zur „consensual interpretation carried out on the basis of domestic or international law“ feststellt, vgl. Forowicz, The reception of international law in the European Court of Human Rights, S. 11. 112  Vgl. Staes, When the European Court of Human Rights refers to External Instruments to interpret the European Convention, S. 6. 108  Siehe



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“69

chender Auslegung und der Suche nach einem europäischen Konsens als einer „particular form of comparative interpretation“.113 Umgekehrt befasst sich Dzehtsiarou in seiner Monographie zur KonsensMethode des Gerichtshofs nicht mit der hier angesprochenen Frage nach einer rechtsvergleichenden Argumentation des EGMR außerhalb der KonsensMethode. Er hält einen Konsens lediglich aufgrund internationaler Übereinkommen für möglich,114 äußert sich jedoch nicht explizit zu einer Berücksichtigung internationaler Übereinkommen durch den Gerichtshof ohne ausdrücklichen Verweis auf die Suche nach einem europäischen Konsens. Letztlich scheint die Einordnung rechtsvergleichender Untersuchungen des EGMR damit maßgeblich von der Perspektive des Autors abzuhängen, die ihren Fokus entweder auf die Untersuchung der Rechtsfigur europäischer Konsens, oder die Rezeption internationalen Rechts durch den EGMR legt. Lediglich Mahoney und Kondak scheinen Rechtsvergleichung und Konsens-Methode miteinander gleichzusetzen, wenn sie „[…] the comparativelaw method“ als „the search for consensus or, rather, a trend“ definieren.115 Sie sprechen weiter auch von einem „International-law consensus“116, und benennen hierfür als Beispiel einen Fall, in dem der Gerichtshof lediglich internationale Übereinkommen untersuchte, und dabei nicht ausdrücklich auf einen europäischen Konsens verwies.117 Damit scheinen sie also eine Bezugnahme auf internationale Übereinkommen zur Konsens-Methode zu zählen, die der Gerichtshof nicht ausdrücklich in diesem Zusammenhang vornimmt.

113  Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 223. Ähnlich differenziert auch Ziemele zwischen rechtsvergleichenden Untersuchungen, wie insbesondere der Berücksichtigung internationaler Übereinkommen, die der Gerichtshof unter Bezugnahme auf Art. 31 Abs. 3 lit. b oder c WVK vornimmt, ohne dabei auf die Suche nach einem europäischen Konsens zu verweisen, einerseits, und einer rechtsvergleichenden Untersuchung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Suche nach einem europäischen Konsens andererseits, Ziemele, in: van Aaken/ Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 23, 31 f. Sie stellt jedoch auch fest, dass der Gerichtshof hier nicht immer sauber trennt, S. 36. 114  „Consensus based on international treaties“, Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 45 ff. 115  Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 119. 116  Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 137. 117  Vgl. den Verweis auf EGMR – Rantsev v. Cyprus and Russia, 07.01.2010 – 25965/04 (siehe hier Rn. 272 ff., 285) in Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 138.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

C. Anwendungsbereiche und Funktionen Die genaue Bestimmung der Anwendungsbereiche und Funktionen des europäischen Konsenses ist für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse, da hierdurch zugleich bereits Anwendungsbereiche und Funktionen der Europaratsdokumente in den Urteilsbegründungen des EGMR aufgezeigt werden. Unterdessen gestaltet sich dieses Vorhaben aufgrund der unklaren sowie inkonsistenten Dogmatik in den Urteilsbegründungen des Gerichtshofs als schwierig; insbesondere, da es mit der Frage nach der Abgrenzung von margin of appreciation-Doktrin und Verhältnismäßigkeitsprüfung zugleich eine der umstrittensten Konstellationen der EGMR-Dogmatik berührt. In der Literatur werden mehrere Anwendungsbereiche des europäischen Konsenses benannt. Wildhaber, Hjartarson und Donnelly erklären: „[C]onsensus […] is a factor or element in defining the margin of appreciation, in proportionality balancing and generally in interpreting the ECHR […].“118 Einer Einordnung des europäischen Konsenses bei der Auslegung der EMRK sowie der Bemessung der margin of appreciation schließen sich auch Mahoney und Kondak an.119 Senden unterteilt die Anwendungsbereiche ähnlich in eine Berücksichtigung bei der Auslegung der EMRK auf Schutzbereichs­ ebene sowie eine Berücksichtigung bei der Anwendung der EMRK, bei der das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie die margin of appreciation-Doktrin eine Rolle spielten und welche auf der Rechtfertigungsebene stattfinde.120 Mit unterschiedlichen Schwerpunkten beschreiben auch weitere Autoren diese Anwendungsbereiche des europäischen Konsenses.121 Morawa erklärt: 118  Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, 119  Mahoney/Kondak,

HRLJ 33 (2013), 248, 256. in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative

Law, S. 119, 121. 120  Vgl. Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 7 f. („Comparative interpretation is the only method that plays a role in both [the interpretation phase and the application phase]“, Fn. 19), sowie 237. Ähnlich auch Grabenwarter, in: Gamper/Verschraegen (Hrsg.), Rechtsvergleichung als juristische Auslegungsmethode, S. 95, 102. 121  Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 356, sieht die Anwendungsbereiche rechtsvergleichender Argumentation bei der Schutzbereichsauslegung sowie bei der Bemessung der margin of appreciation. Pascual Vives, Consensus-based interpretation of regional human rights treaties, S. 1 f., unterscheidet zwischen der Anwendung im Rahmen der evolutiven Auslegung sowie der margin of appreciation; Djeffal unterscheidet zwischen einer Verwendung des Konsenses „first, in the context of interpretation proper and, second, in the context of balancing.“, vgl. Djeffal, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 71, 78. ­Paczolay hebt den Anwendungsbereich im Rahmen der margin of appreciation hervor, vgl. Paczolay, in: EGMR (Hrsg.), Dialogue between Judges: „What are the limits to evolutive interpretation of the Convention?“, S. 69, 70 ff.; ebenso Spielmann, Current Legal Problems 67 (2014), 49, 53, der den europäischen Konsens als „central to



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“71

„[C]ommon European standards […] may be the basis for […] a dynamic interpretation, while no or little common ground between the states parties allows a respondent state to exercise its discretion within a rather wide margin of appreciation.“122 Hieran anknüpfend versteht auch Dzehtsiarou den europäischen Konsens als „Mediator“ zwischen dynamischer Auslegung und der margin of appreciation.123 „European consensus can be conceptualized as a tool that can bring forward a particular human rights issue from the margin of appreciation and trigger evolutive interpretation. Nevertheless, [it] is not limited solely to this particular role. European consensus can be a useful factor for testing the proportionality of interference. In a case where no consensus is identified, the Court can resort to autonomous interpretation.“124

In der Rechtsprechung des EGMR gibt es grundsätzlich nur zwei Zusammenhänge, in denen die Bedeutung des europäischen Konsenses vom Gerichtshof klar artikuliert wird: Zum einen erklärt er in ständiger Rechtsprechung, dass der europäische Konsens ein Kriterium bei der (dynamischen) Auslegung der Konvention ist; zum anderen bezeichnet er den europäischen Konsens als Kriterium zur Bemessung der margin of appreciation. Darüber hinaus haben sich bei der Analyse der für diese Arbeit empirisch untersuchten Urteile aber auch Bezugnahmen auf die Verwendung des europäischen Konsenses bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung bestätigt. Dementsprechend sollen diese drei Anwendungsbereiche für die weitere Bearbeitung aufgegriffen werden,125 wobei mit Fallbeispielen für die jeweiligen Anwendungsbereithe operation in practice of the margin of appreciation“ bezeichnet. Das Organising Committee des Dialogue between Judges 2008 zum Thema des europäischen Konsenses dagegen definiert den europäischen Konsens in seinem Diskussionspapier als „the basis for the evolution of Convention standards through the case-law of the European Court of Human Rights“, Organising Committee, composed of Anatoly Kovler u. a., in: EGMR (Hrsg.), Dialogue between Judges: „The role of consensus in the system of the European Convention on Human Rights“, S. 11, 12, und bezieht sich damit lediglich auf dessen Rolle bei der dynamischen Auslegung. 122  Morawa, GLJ 3 (2002), IV. B., Rn. 29. 123  Dzehtsiarou, GLJ 12 (2011), 1730, 1733. Ähnlich wohl von Ungern-Sternberg, die den europäischen Konsens im Kontext der evolutiven Auslegung der EMRK erörtert, und ihn als „methodisches Gegenstück“ zur margin of appreciation bezeichnet, vgl. von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 329. 124  Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 24. 125  Das Prinzip der autonomen Auslegung der EMRK wird auch angesichts der dargelegten Darstellungen in der Literatur, die im Zusammenhang mit dem europäischen Konsens eher andere Anwendungsbereiche betonen, als weniger relevant erachtet und daher nicht weiter aufgegriffen. Siehe dazu aber eingehend beispielsweise Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 173 ff. und S.  289 ff.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

che bereits auf einige Erkenntnisse aus der empirischen Urteilsanalyse vorgegriffen wird. I. Auslegung von Konventionsbestimmungen Der europäische Konsens ist – meist auf Schutzbereichsebene – ein Kriterium zur Auslegung von Konventionsbestimmungen. Seine wesentlichen Anknüpfungspunkte und Funktionen in diesem Zusammenhang können anhand der vom EGMR entwickelten Leitlinien dargelegt werden. 1. Die dogmatischen Leitlinien des EGMR

Das Urteil des EGMR in Demir und Baykara v. Turkey gilt als Leitentscheidung zur rechtsvergleichenden Auslegung der EMRK anhand interna­ tionaler Übereinkommen.126 Hier hatte der Gerichtshof die Kritik der türkischen Regierung an der Berücksichtigung anderer internationaler Instrumente als der Konvention bei der Entscheidung über eine Konventionsverletzung127 zum Anlass genommen, deren Verwendung zur Auslegung der EMRK erstmals grundlegend zu erläutern.128 „In order to determine the meaning of the terms and phrases used in the Convention, the Court is guided mainly by the rules of interpretation provided for in Articles 31 to 33 of the Vienna Convention […]. In accordance with the Vienna Convention, the Court is required to ascertain the ordinary meaning to be given to the words in their context and in the light of the object and purpose of the provision from which they are drawn […]. Recourse may also be had to supplementary means of interpretation, either to confirm a meaning determined in accordance with the above steps, or to establish the meaning where it would otherwise be ambiguous, obscure, or manifestly absurd or unreasonable […].“129

Damit bekannte sich der EGMR zunächst zu den grundlegenden Aus­ legungsregeln für völkerrechtliche Verträge aus Art. 31 und 32 WVK. Er müsse die Konventionsrechte dementsprechend anhand ihres Wortlautes sowie der ihr in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte ihres Sinns und Zwecks auslegen, wobei auch ergänzende Ausle126  Siehe etwa Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 8; Nordeide, AJIL 103 (2009), 567, 572. 127  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 54, 60, 61 f. 128  So auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 13. 129  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 65.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“73

gungsmittel im Sinne von Art. 32 WVK einbezogen werden könnten.130 Weiter erklärte er: „Since the Convention is first and foremost a system for the protection of human rights, the Court must interpret and apply it in a manner which renders its rights practical and effective, not theoretical and illusory.“131

Hiernach verlangt also der Charakter der EMRK als Vertrag zum Schutz der Menschenrechte, dass die Konventionsrechte durch die Auslegung praxiswirksam und effektiv gestaltet werden, sodass sie nicht zu theoretischen und illusorischen Bestimmungen verkommen.132 Schließlich setzte der Gerichtshof diese Grundsätze in Verbindung mit der rechtsvergleichenden Auslegung der EMRK: „In addition, the Court has never considered the provisions of the Convention as the sole framework of reference for the interpretation of the rights and freedoms enshrined therein. On the contrary, it must also take into account any relevant rules and principles of international law applicable in relations between the Contracting Parties (see […] Article 31 § 3 (c) of the Vienna Convention).“133

Die Konventionsrechte sind mithin nach dem Verständnis des EGMR in den Rahmen des internationalen Rechts eingebettet, und sollten auch unter Berücksichtigung von relevanten internationalen Bestimmungen ausgelegt werden. In Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary ergänzte er dementsprechend, dass die Konvention nicht in einem Vakuum fungiere, und mehr als eine lediglich reziproke Vereinbarung zwischen den Europaratsstaaten darstelle.134 Nach Auffassung des Gerichtshofs muss die EMRK demnach im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK unter Berücksichtigung der zwischen den Parteien anwendbaren Völkerrechtssätze ausgelegt werden. Dieses Vorgehen verknüpfte er auch mit der in ständiger Rechtsprechung gefestigten living instrument-Doktrin: „The Court further observes that it has always referred to the ‚living‘ nature of the Convention, which must be interpreted in the light of present-day conditions, and that it has taken account of evolving norms of national and international law in its interpretation of Convention provisions […].“135 130  So auch die entsprechenden Ausführungen in EGMR (Große Kammer) – Ma­g­ yar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 118 f., 125. 131  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 66. 132  So auch die entsprechenden Ausführungen in EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 120 f. 133  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 67. 134  EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn.  122 f. 135  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 68.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

Hiernach muss die Konvention im Lichte aktueller Umstände auch unter Beachtung von sich entwickelnden Normen nationalen und internationalen Rechts ausgelegt werden. Infolge einer ausführlichen Darstellung seiner gefestigten Praxis, verschiedenste Arten internationaler Übereinkommen und Instrumente für die Auslegung der EMRK heranzuziehen,136 verwies der Gerichtshof schließlich auf die Rechtsfigur des europäischen Konsenses: „[W]hen [the Court] considers the object and purpose of the Convention provisions, it also takes into account the international law background to the legal question before it. Being made up of a set of rules and principles that are accepted by the vast majority of States, the common international or domestic law standards of European States reflect a reality that the Court cannot disregard when it is called upon to clarify the scope of a Convention provision that more conventional means of interpretation have not enabled it to establish with a sufficient degree of certainty.“137

Abschließend resümierte er: „The Court, in defining the meaning of terms and notions in the text of the Convention, can and must take into account elements of international law other than the Convention, the interpretation of such elements by competent organs, and the practice of European States reflecting their common values. The consensus emer­ ging from specialised international instruments and from the practice of Contracting States may constitute a relevant consideration for the Court when it interprets the provisions of the Convention in specific cases.“138

Hiernach kann also ein Konsens, welcher sich aus dem Recht beziehungsweise der Praxis der Europaratsstaaten sowie bestimmten internationalen Instrumenten ergeben kann, für die Auslegung der Konventionsrechte relevant sein. Hinsichtlich der oben aufgeworfenen Frage, in welchem Verhältnis der europäische Konsens und die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR stehen, sind die Ausführungen des EGMR wenig aufschlussreich. Einerseits stellte der Gerichtshof zunächst dar, dass er internationales Recht bei der Auslegung der EMRK berücksichtigt, und beschreibt so ein rechtsvergleichendes Vorgehen ohne dabei Bezug auf die Rechtsfigur „europäischer Konsens“ zu nehmen. Andererseits ist der Übergang in die Konsens-Terminologie fließend.139 136  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn.  69 ff. 137  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 76. 138  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 85. 139  Vgl. erneut EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 76, wo der Gerichtshof die Bezugnahme auf internatio-



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“75

Auch in dem abschließenden Resümee folgte auf die Feststellung, dass der Gerichtshof „elements of international law other than the Convention“ berücksichtigen müsse, unmittelbar die Bezugnahme auf die „common values“ der Europaratsstaaten sowie einen „consensus emerging from specialised inter­national instruments and from the practice of Contracting States“.140 Ob der EGMR Rechtsvergleichung also mit seiner Rechtsfigur des europäischen Konsenses gleichsetzt, oder diesen lediglich als Teil einer rechtsvergleichenden Auslegung und Anwendung der EMRK betrachtet, bleibt weiter unklar.141 2. Die dynamische Auslegung der EMRK

Wie sich soeben angedeutet hat, ist die Etablierung der Konsens-Methode eng verbunden mit der dynamischen (mitunter auch als evolutiv bezeich­ neten)142 Auslegung der EMRK.143 Schon seit den Anfängen versteht der nales Recht in Verbindung mit „common […] standards“ setzte. Nußberger erklärt hinsichtlich dieser Passage, dass der EGMR hier „zwar nicht die Konsensfindung explizit an[spricht], die Idee aber mit dem Verweis auf einen ‚Bestand an Regeln und Prinzipien, die von der großen Mehrheit der Staaten angenommen worden sind‘ [, beschreibt].“, vgl. Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 723. 140  Vgl. erneut EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 85. 141  Vgl. in diesem Zusammenhang auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 33 f., die die Urteilsbegründung in Demir and Baykara v. Turkey im Rahmen ihrer Untersuchung der Rolle internationaler Übereinkommen in der Rechtsprechung des EGMR untersucht und ebenfalls feststellt, dass sich hier keine klare Erläuterung der Funktionen derartiger rechtsvergleichender Verweise findet. 142  Die Begriffe evolutiv und dynamisch werden in der Literatur teilweise unterschieden, teilweise synonym verwendet, vgl. hierzu umfassend Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 73 f. Zu ihrem differenzierten Verständnis beider Begriffe vgl. S. 69 ff., 74 ff. Für ein differenziertes Verständnis des Begriffs evolutive Auslegung siehe weiter Djeffal, Static and evolutive treaty interpretation, S. 18 ff. Auf diese Differenzierungen will die vorliegende Arbeit indes (wie auch Dzehtsiarou, GLJ 12 (2011), 1730, 1731, der beide Begriffe synonym verwendet; vgl. weiter auch Har­ ris u. a., Law of the European Convention on Human Rights, S. 8) nicht näher eingehen. 143  Wenngleich einige frühe Verweise auf Europaratsdokumente beziehungsweise rechtsvergleichende Betrachtungen allgemein noch nicht ausdrücklich in Bezug auf die dynamische Auslegung erfolgten (vgl. die bereits dargelegten Anfänge rechtsvergleichender Untersuchungen in der abweichenden Meinung Zekias beziehungsweise Marckx v. Belgium unter „Zweiter Teil, § 1“), setzte der Gerichtshof die Einführung der living instrument-Doktrin in Tyrer v. The United Kingdom 1978 doch ausdrücklich mit der hieraus folgenden Notwendigkeit der Berücksichtigung rechtsverglei-

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

EGMR die EMRK als lebendige Konvention.144 Die weitgehend offen formulierten und daher auslegungsbedürftigen Bestimmungen der EMRK sollen demzufolge zeitgemäß interpretiert werden. In dem Bewusstsein, dass die Präambel der EMRK ausdrücklich auf die Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes Bezug nimmt, ist der EGMR stets auf eine Berücksichtigung aktueller Entwicklungen bedacht;145 er erachtet dieses Vorgehen als unerlässlich für einen effektiven Menschenrechtsschutz.146 Die EMRK soll praktische Relevanz für das Leben der Europäer haben, und nicht auf dem Stand von 1950 stagnieren, bis sie irgendwann nur noch auf dem Papier existiert.147 Ihre offen und weit formulierten Konventionsrechte sollen der Vielzahl an denkbaren Fällen staatlicher Menschenrechtseingriffe trotz mit der Zeit auftretender gewichtiger gesellschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher und nicht zuletzt rechtlicher Umbrüche in Europa eine zeitgemäße, praktikable Lösungsgrundlage geben. Die dynamische Auslegung chender Untersuchungen in Verbindung, EGMR – Tyrer v. The United Kingdom, 25.04.1978 – 5856/72, Rn. 31. Siehe auch Organising Committee, composed of Ana­ toly Kovler u. a., in: EGMR (Hrsg.), Dialogue between Judges: „The role of consensus in the system of the European Convention on Human Rights“, S. 11, 12: „Consensus in the context of the European Convention on Human Rights is generally understood as being the basis for the evolution of Convention standards through the case-law of the European Court of Human Rights“. Nach Christoffersen ist „comparative interpretation […] a Trojan horse in which evolutive interpretation is hidden“, Christoffersen, Fair balance, S. 57. 144  Als Grundsatzentscheidung gilt EGMR – Tyrer v. The United Kingdom, 25.04.1978 – 5856/72; siehe hierzu Rozakis, Tulane Law Review 80 (2005), 257, 261 ff. 145  Zu den Besonderheiten völkerrechtlicher Verträge zum Schutz von Menschenrechten, die nach einer dynamischen Auslegung verlangen, vgl. etwa Reindel, Auslegung menschenrechtlicher Verträge am Beispiel der Spruchpraxis des UN-Menschenrechtsausschusses, des Europäischen und des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 1; Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 17. Çalı, in: Hollis (Hrsg.), The Oxford guide to treaties, S. 525; Bernhardt, in: Karl (Hrsg.), Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung, S. 21, 35 ff. 146  „It is of crucial importance that the Convention is interpreted and applied in a manner which renders its rights practical and effective, not theoretical and illusory. A failure by the Court to maintain a dynamic and evolutive approach would indeed risk rendering it a bar to reform or improvement.“ EGMR (Große Kammer) – Christine Goodwin v. The United Kingdom, 11.07.2002 – 28957/95, Rn. 74. Siehe zu dieser Begründung der dynamischen Auslegung der EMRK durch den EGMR Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 157 f. und 163 ff. 147  Im Sinne einer hierdurch gesteigerten Effektivität beschreiben die dynamische Auslegung auch Reindel, Auslegung menschenrechtlicher Verträge am Beispiel der Spruchpraxis des UN-Menschenrechtsausschusses, des Europäischen und des Inter­ amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 150; Wildhaber, European Court of Human Rights, 310 ff.; Çalı, in: Hollis (Hrsg.), The Oxford guide to treaties, S. 525, 538; Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 27.



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stellt also, im Unterschied zur statischen Auslegung, für das Verständnis der Norm auf den Auslegungszeitpunkt ab, nicht auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses.148 Welcher Menschenrechtsstandard, welches Verständnis bestimmter Konventionsbestimmungen für den Zeitpunkt der Urteilsfindung maßgeblich ist, bestimmt der EGMR anhand des Konsens-Kriteriums. Hiermit prüft er, welche Auffassung zu bestimmten Menschenrechtsfragen derzeit in Europa vorherrscht, und passt die Auslegung der EMRK daran an.149 Nußberger versteht das Kriterium des europäischen Konsenses denn auch als „leben­ digen Konsens“: Die Auffassungen der Vertragsstaaten sind einem Wandel unterworfen, der anhand der vom EGMR herangezogenen Erkenntnisquellen – wie insbesondere den nationalen Rechtsordnungen – nachvollzogen werden soll.150 In diesem Zusammenhang kann der europäische Konsens sowohl bei einer sich erstmals stellenden Auslegungsfrage eine Rolle spielen, als auch bei der Frage, ob eine bestehende Auslegungspraxis geändert werden sollte.151 Die dynamische Auslegung der EMRK ist nicht unproblematisch: Ob der EGMR Konventionsbestimmungen erstmalig auf neuartige Menschenrechtsprobleme anwendet oder seine Rechtsprechung in altbekannten Fällen ändert152 – die Vertragsstaaten sehen sich stets einer Entscheidung gegenübergestellt, die sie aus der bisherigen Rechtsprechung nicht zweifelsfrei absehen konnten.153 Dies beeinträchtigt die Rechtssicherheit und stellt die demokratische Legitimation derartiger Entscheidungen, die möglicherweise von dem

148  Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 17, 69 f.; Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 27. Zum „originalism“ und den Formen des „textualism“ und „intentionalism“ siehe m. w. N. Letsas, A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 60 ff. Im Hinblick auf „The principle of contemporaneity and intertemporal law“ analysiert Fitzmaurice, in: Lammers (Hrsg.), Hague yearbook of international law, S. 101, 102 ff., die dynamische Auslegung völkerrechtlicher Verträge. 149  Siehe hierzu auch Nußberger, Rechtswissenschaft: Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 3 (2012), 197, 198 ff. 150  Nußberger, Rechtswissenschaft: Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 3 (2012), 197, 200 f. 151  Vgl. hierzu Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S.  226 ff. 152  Diese beiden Konstellationen fasst auch Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 169 (Fn. 126), unter den Begriff der dynamischen (beziehungsweise dort als evolutiv bezeichneten) Auslegung. Anders Djeffal, Static and evolutive treaty interpretation, S. 23, der die evolutive Auslegung von der erstmaligen Auslegung einer Bestimmung unterscheidet („To interpret evolutively means to change.“). 153  Kritisch hierzu siehe etwa Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 87 ff. (insbesondere 89).

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

ursprünglichen Willen der Vertragsstaaten abweichen, in Frage. Der EGMR ist sich dessen bewusst, wenn er ausführt: „The Court is aware of the importance of legal certainty in international law and of the argument that States cannot be expected to implement an international obligation to which they did not agree in the first place. It considers that it is in the interest of legal certainty, foreseeability and equality before the law that it should not depart, without good reason, from precedents laid down in previous cases […].“154

Vor diesem Hintergrund erfüllt das Konsens-Kriterium zwei Funktionen: Es gibt zum einen überhaupt erst Aufschluss über eine stattgefundene Entwicklung. Zum anderen dient die Rückführung einer veränderten Rechtsprechung auf den aktuellen Willen der Vertragsstaaten aber auch der Legitimation einer dynamischen Auslegung der Konvention.155 In diesem Sinne erklärt der EGMR: „Consensus has […] been invoked to justify a dynamic interpretation of the Convention“.156 Als sich beispielsweise die armenische Regierung 2008 in Bayatyan v. Armenia im Streit um die Zulässigkeit einer Wehrpflicht ohne die Möglichkeit eines Ersatzdienstes darauf berief, dass es zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch keine entgegenstehende Rechtsprechung des EGMR gegeben habe, verwies dieser auf die überwältigende Mehrheit der Staaten sowie diverse internationale Übereinkommen, die die Kriegsdienstverweigerung bereits damals akzeptiert hatten, und führte aus: „In the light of these developments, it cannot be said that a shift in the interpretation of Article 9 in relation to events which occurred in 2002–03 was not foreseeable.“157 In dem soeben bereits behandelten Fall Demir and Baykara v. Turkey befasste sich der EGMR mit der Frage, ob ein gerichtliches Verbot für Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Gewerkschaften zu gründen und Tarifverhandlungen zu führen, das Recht der Beschwerdeführer aus Art. 11 EMRK verletze. Die Regierung lehnte bereits ab, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK auf die Beschwerdeführer als Angehörige der Staatsverwaltung anwendbar sei. Sie stützte sich dafür auf Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK, wonach die Bestimmungen von Art. 11 EMRK rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung der Rechte für Angehörige der Staatsverwaltung nicht entgegen154  EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 150. 155  Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 120: „[T]he search for common European ground […] serve[s] to justify any law-making accomplished by the Court when filling interpretative gaps left in the convention law. The comparative-law process thereby adds legitimacy to the judgments of the Court.“; siehe weiter auch Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 251, (9). 156  EGMR (Große Kammer) – A, B and C v. Ireland, 16.12.2010 – 25579/05, Rn. 234. 157  EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 108.



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stehen.158 Der EGMR hingegen befand, dass sich auch Angehörige der Staatsverwaltung grundsätzlich auf das Recht aus Art. 11 Abs. 1 EMRK, Gewerkschaften zu gründen, berufen könnten. Die Bestimmung aus Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK sei als Beschränkung der Ausübung dieses Rechts eng auszulegen. Mit dieser Auffassung stellte er sich ausdrücklich gegen eine Entscheidung der EKMR von 1987, nach welcher der Begriff „rechtmäßig“ aus Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK nur verlange, dass die Beschränkung gesetzlich vorgesehen und nicht willkürlich sei, diese aber keiner Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliege.159 Seine Auffassung stützte der Gerichtshof auf zahlreiche internationale Instrumente sowie die Rechtslage in der Mehrheit der Europaratsstaaten.160 Angesichts dessen kann die Änderung einer bestehenden Rechtsprechung mithin durch das Vorliegen eines europäischen Konsenses legitimiert werden. II. Margin of appreciation-Bemessung (sowie Verhältnismäßigkeitsprüfung?) Mit der deutlichen Einordnung des europäischen Konsenses als Kriterium für die margin of appreciation-Bemessung durch den EGMR, wie auch in der Literatur, scheint dieser zweite Anwendungsbereich klar vorgegeben. Allerdings stellt sich angesichts der tatsächlichen Verwendung des KonsensKriteriums durch den EGMR in diesem Zusammenhang die Frage, ob der europäische Konsens daneben auch ein Argument in der Verhältnismäßigkeitsprüfung darstellt. 1. Die dogmatischen Leitlinien des EGMR

Der Gerichtshof hat wiederholt erklärt, dass der europäische Konsens maßgebend für die Bemessung der Weite der margin of appreciation sein kann: „Where […] there is no consensus within the member States of the Council of Europe, […] the margin will be wider.“161 Unterdessen ist jedoch festzustellen, dass der Gerichtshof das Kriterium des europäischen Konsenses mitunter auch innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung heranzieht,162 158  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn.  89 ff. 159  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 97. 160  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn.  98 ff. 161  Hier in Bezug zu Art. 8 EMRK, EGMR (Große Kammer) – Hämäläinen v. Finland, 16.07.2014 – 37359/09, Rn. 67. 162  So auch Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 356 ff.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

ohne dabei ausdrücklich auf die margin of appreciation-Doktrin Bezug zu nehmen. So etwa in Yumak and Sadak v. Turkey: Hier verhandelte die Große Kammer über die Frage, ob die in der Türkei bei den Parlamentswahlen geltende 10 %-Hürde das Recht auf freie Wahlen aus Art. 3 ZP 1 verletzte. Im Rahmen der Rechtfertigung erläuterte der Gerichtshof unter „General principles“ zunächst die Grundsätze aus seiner bisherigen Rechtsprechung. Er erklärte, dass die Rechte aus Art. 3 ZP 1 keine absoluten seien: „There is room for ‚implied limitations‘, and Contracting States must be given a wide margin of appreciation in this sphere […].“163 Das Recht auf freie Wahlen könne daher eingeschränkt werden, die Einschränkung müsse aber verhältnismäßig sein.164 Bei der Ausgestaltung des Wahlrechts komme den Staaten grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum zu.165 Im Anschluss begann der EGMR unter dem Punkt „Application of the above principles in the pres­ ent case“ mit der Untersuchung, ob die türkische Regelung mit der 10 %-Hürde ein legitimes Ziel verfolge und verhältnismäßig sei. Hier erklärte er: „The Court observes that the national 10 % threshold applied in Turkey is the highest of all the thresholds applied in Europe […]. In order to verify that it is not disproportionate, the Court will therefore first assess its level in comparison with the threshold applied in other European countries. It will then examine the correctives and other safeguards with which it is attended.“166

Grundsätzlich ging der Gerichtshof also von einer weiten margin of appre­ ciation aus; die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit orientierte er sodann an einem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten. Um sicherzustellen, dass die Maßnahme nicht unverhältnismäßig sei, wolle er sie im Vergleich mit den Regelungen der anderen Europaratsstaaten beurteilen. Damit verwendete er den Rechtsvergleich ausdrücklich als Kriterium für die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Kann der europäische Konsens damit neben der mar­ gin of appreciation-Doktrin auch in der Verhältnismäßigkeitsprüfung als Kriterium fungieren? Weitere Beispiele, in denen der Gerichtshof den europäischen Konsens ebenfalls bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigte, legen dies nahe: In Sørensen and Rasmussen v. Denmark verhandelte der Gerichtshof über sogenannte „closed shop agreements“, mit denen die Mitgliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft zur Voraussetzung für die 163  EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 109, ii. 164  EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 109, iii. 165  EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 110. 166  EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn.  126 f.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“81

Einstellung in dänischen Unternehmen gemacht werden konnte. In den „Gen­ eral principles“ sprach der EGMR den Staaten zunächst, auch angesichts der unterschiedlichen Regelungen in den Europaratsstaaten, eine weite margin of appreciation im Bereich der Regelung von Gewerkschaftsfreiheiten zu.167 Im Rahmen der „Application of the above principles in the instant case“ untersuchte der Gerichtshof daraufhin, ob die dänische Regelung verhältnismäßig zur Einschränkung der negativen Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 Abs. 1 EMRK war.168 Zum Ende der Interessenabwägung stellte er infolge einer Untersuchung der Rechtslage in anderen Europaratsstaaten sowie verschiedener internationaler Übereinkommen fest: „[I]t appears that there is little support in the Contracting States for the maintenance of closed-shop agreements and that the European instruments referred to above clearly indicate that their use in the labour market is not an indispensable tool for the effective enjoyment of trade union freedoms. In conclusion, taking all the circumstances of the case into account and balancing the competing interests in issue, the Court finds that the respondent State has failed to protect the applicants’ negative right to trade union freedom. Accordingly, there has been a violation of Article 11 of the Convention […].“169

In Tănase v. Moldova machte der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 ZP 1 geltend, weil er nach einer Gesetzesänderung von 2008 als Inhaber einer weiteren Staatsbürgerschaft neben der moldauischen kein Mitglied des Parlaments sein durfte,170 und seine rumänische Staatsbürgerschaft infolge seiner Wahl ins Parlament im Jahr 2009 abgeben musste.171 Unter der Überschrift „Proportionality“ las der EGMR aus den nationalen Rechtsordnungen der Europaratsstaaten zunächst einen Konsens ab, wonach die doppelte Staatsbürgerschaft kein Grund sei, nicht Abgeordneter werden zu können. Daraufhin erklärte er: „However, notwithstanding this consensus, a different approach may be justified where special historical or political consid­ erations exist which render a more restrictive practice necessary.“172 Dementsprechend müsse die staatliche Maßnahme vor dem Hintergrund der 167  EGMR (Große Kammer) – Sørensen and Rasmussen v. Denmark, 11.01.2006 – 52562/99, 52620/99, Rn. 58. 168  EGMR (Große Kammer) – Sørensen and Rasmussen v. Denmark, 11.01.2006 – 52562/99, 52620/99, Rn. 65. 169  EGMR (Große Kammer) – Sørensen and Rasmussen v. Denmark, 11.01.2006 – 52562/99, 52620/99, Rn. 75 ff. 170  Die „Communist Party“, die die Regierung gestellt hatte, unter welcher das Gesetz verabschiedet wurde, erhielt bei der folgenden Wahl 2009 60 Sitze im Parlament; die drei oppositionellen Parteien 41. Von den gewählten Abgeordneten hatten 21 die doppelte Staatsbürgerschaft; sie alle waren Mitglieder der Opposition. Vgl. EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 29 und 59. 171  EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 60. 172  EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 172.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

besonderen historisch-politischen Situation der Republik Moldau beurteilt werden, aus welcher eine weite margin of appreciation resultiere.173 Schließlich erklärte der EGMR unter Bezugnahme auf einschlägige internationale Übereinkommen: „In the present case, the Court considers the provisions of the ECN, the conclusions and reports of ECRI and the Venice Commission […] and the resolutions of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe […] to be relevant to its assessment of whether Law no. 273 is proportionate.“174

Er nahm damit also auf rechtsvergleichende Informationen Bezug, um die Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden staatlichen Maßnahme zu beurteilen.175 Zu nennen ist weiter der Fall Stanev v. Bulgaria. Der Beschwerdeführer war eine geistig erkrankte Person, der die Rechtsfähigkeit infolge ihrer Erkrankung teilweise aberkannt worden war. Er rügte eine Verletzung von Art. 6 EMRK, weil er infolge der Aberkennung auch nicht allein vor Gericht hiergegen klagen konnte. In den „General principles“ erklärte der Gerichtshof, dass das Recht auf ein faires Verfahren eingeschränkt werden könne, und den Staaten dabei eine margin of appreciation zukomme. Die Einschränkung müsse jedoch ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein.176 Unter dem Punkt „Application of these principles in the present case“ erklärte er Art. 6 EMRK für anwendbar und fuhr fort: „It remains to be determined whether the applicant’s access to court was restricted and, if so, whether the restriction pursued a legitimate aim and was proportionate to it.“177 In der darauffolgenden Untersuchung verwies der Gerichtshof darauf, dass 18 der für diesen Fall untersuchten 20 Staaten dem Antragsteller den Zugang zum Gericht ermöglicht hätten. Aus diesem Umstand las der EGMR einen Trend zur Gewährung direkten gerichtlichen Zugangs Betroffener zur Wiederherstellung ihrer Rechtsfähigkeit ab.178 Er führte sodann aus, dass er die internationalen Übereinkommen zum Schutz von geistig Behinderten beachten müsse, welche der Gewährung rechtlicher Eigenständigkeit an die 173  EGMR

(Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 173. (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 176. 175  Dies wird auch an dem abschließenden Ergebnis des EGMR deutlich: „In the light of all of the above factors, and notwithstanding Moldova’s special historical and political context, the Court finds the provisions of Law no. 273 preventing elected MPs with multiple nationalities from taking seats in Parliament to be disproportionate and in violation of Article 3 of Protocol No. 1.“, EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 180. 176  EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 230. 177  EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 234. 178  EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 243. 174  EGMR



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“83

Betroffenen eine wachsende Bedeutung zumessen.179 Auch hieraus las der EGMR einen „internationalen Trend“ ab. Er schlussfolgerte: „In the light of the foregoing, in particular the trends emerging in national legislation and the relevant international instruments, the Court considers that Article 6 § 1 of the Convention must be interpreted as guaranteeing in principle that anyone who has been declared partially incapable, as is the applicant’s case, has direct access to a court to seek restoration of his or her legal capacity. In the instant case the Court has observed that direct access of this kind is not guaranteed with a sufficient degree of certainty by the relevant Bulgarian legislation. That finding is sufficient for it to conclude that there has been a violation of Article 6 § 1 of the Convention in respect of the applicant.“180

Damit scheint der Gerichtshof auch hier die rechtsvergleichenden Informationen im Rahmen seiner Abwägung berücksichtigt zu haben. Diese Beispiele sprechen dafür, dass der europäische Konsens als Kriterium sowohl bei der margin of appreciation-Doktrin als auch bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung verwendet wird. Für die ausschließliche Zugehörigkeit der Konsens-Prüfungen zur margin of appreciation-Doktrin wären lediglich zwei Erklärungen denkbar. Erstens: Der EGMR sieht den europäischen Konsens tatsächlich nur als Kriterium für die Bemessung der margin of apprecia­ tion, führt die Konsens-Prüfung aber mitunter auch innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch; in diesem Sinne würden also die rechtsvergleichenden Verweise im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung noch als der Bemessung der margin of appreciation zugehörig angesehen.181 Hier ist etwa erneut auf den Fall Sørensen and Rasmussen v. Denkmark zu verweisen, bei dem auch denkbar scheint, dass die rechtsvergleichenden Materialien nicht Teil der Abwägung waren, sondern die zuvor bereits – auch im Hinblick auf die Rechtslage der Europaratsstaaten – festgestellte margin of appreciation noch einmal verringert haben. Allerdings hat der Gerichtshof die margin of appreciation in anderen Fällen bereits zuvor bestimmt, ohne dabei auf die Bedeutung eines möglichen europäischen Konsenses hingewiesen zu ha179  EGMR 180  EGMR

(Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 244. (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06,

Rn.  245 f. 181  Dementsprechend ordnet Staes einige Verweise auf den europäischen Konsens im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung als „implicit […] influence [on] a State’s freedom of manoeuvre“ ein, Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 227 ff. (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). Auch Brems, Human Rights: Universality and Diversity, S. 363 erklärt: „Sometimes [the Court] devotes one or more paragraphs in a judgment to explaining the working of the margin in that case. […] Very often, however, the reference to the margin of appreciation is extremely short […]. Often also no reference to the doctrine is made, although it is clear that the idea of a margin of appreciation plays a role underlying the Court’s legal reasoning.“

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ben.182 In Molla Sali v. Greece hatte er zunächst unter „General principles“ erklärt: „The Contracting States enjoy a certain margin of appreciation in assessing whether and to what extent differences in otherwise similar situations justify a different treatment. The scope of this margin will vary according to the circumstances, the subject matter and its background.“183

Damit sprach er den Staaten grundsätzlich eine margin of appreciation zu, wobei er den europäischen Konsens nicht ausdrücklich als Kriterium für deren genaue Bemessung benannte. Erst in der Verhältnismäßigkeitsprüfung verwies er auf rechtsvergleichende Materialen184 und schlussfolgerte nach deren eingehender Untersuchung, die in Rede stehende Ungleichbehandlung „had no objective and reasonable justification.“185 In Tănase v. Moldova hatte der Gerichtshof angesichts der besonderen historisch-politischen Situation der Republik Moldau eine weite margin of appreciation angenommen, 182  Neben den sogleich genannten so auch wie soeben gesehen in Stanev v. Bul­ garia, wo der Gerichtshof unter „General principles“ lediglich allgemein erklärt hatte, dass den Staaten ein Beurteilungsspielraum zukomme, und den europäischen Konsens erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung heranzog. 183  EGMR (Große Kammer) – Molla Sali v. Greece, 19.12.2018 – 20452/14, Rn. 136. 184  EGMR (Große Kammer) – Molla Sali v. Greece, 19.12.2018 – 20452/14, Rn. 154, 158. Die Ausführungen erfolgten unter der ausdrücklichen Überschrift „Proportionality of the means used to the aim pursued“. 185  EGMR (Große Kammer) – Molla Sali v. Greece, 19.12.2018 – 20452/14, Rn. 161. Siehe in diesem Zusammenhang auch EGMR (Große Kammer) – Biao v. Denkmark, 24.05.2016 – 38590/10, wo eine dänische Regelung überprüft wurde, nach welcher ein Ehepartner den anderen nur nachholen kann, sofern er selber bereits 28 Jahre lang dänischer Staatsbürger war beziehungsweise 28 Jahre lang rechtmäßig in Dänemark gelebt hat. Der EGMR hatte den Staaten unter „General Principles“ zunächst ohne ausdrücklichen Verweis auf einen europäischen Konsens eine „certain margin of appreciation in assessing whether and to what extent differences in otherwise similar situations justify a difference in treatment“ zugesprochen und erklärt: „The scope of the margin of appreciation will vary according to the circumstances, the subject matter and its background, but the final decision as to the observance of the Convention’s requirements rests with the Court.“ (Rn. 93). In der Rechtfertigungsprüfung forderte er sodann für die Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Regelung „compelling or very weighty reasons unrelated to ethnic origin to justify the indirect discriminatory effect of the 28-year rule“ (Rn. 130), untersuchte ausführlich die rechtsvergleichenden Informationen (Rn. 131 ff.) und kam zu dem Schluss: „[H]aving regard to the very narrow margin of appreciation in the present case, the Court finds that the Government have failed to show that there were compelling or very weighty reasons unrelated to ethnic origin to justify the indirect discriminatory effect of the 28‑year rule.“ (Rn. 138). Wie bereits in Sorensen and Rasmussen v. Denmark ist hier auch denkbar, dass die rechtsvergleichenden Informationen die mar­ gin of appreciation weiter verringert haben – ausdrücklich erfolgte ihre Berücksichtigung aber im Rahmen der Abwägung.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“85

und berücksichtigte die rechtsvergleichenden Informationen sodann im Rahmen seiner Verhältnismäßigkeitserwägungen. Als Argument gegen eine gesonderte Verwendung des europäischen Konsenses in der Verhältnismäßigkeitsprüfung wäre zweitens denkbar, dass der Gerichtshof in Yumak and Sadak v. Turkey sowie Molla Sali v. Greece seine rechtsvergleichenden Ausführungen in der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht ausdrücklich unter Verwendung der Konsens-Terminologie vornahm – hier könnte also erneut die Überlegung relevant sein, wonach der europäische Konsens nicht mit jeglicher rechtsvergleichender Argumentation des EGMR gleichzusetzen ist. Dieser Gedanke ist jedoch ebenfalls zu relativieren: In Tănase v. Moldova sprach der Gerichtshof im Rahmen seiner Verhältnismäßigkeitserwägungen ausdrücklich von einem „consensus“186 beziehungsweise einem „common European standard“187. In Sørensen and Rasmussen v. Denmark sprach der EGMR von einem „trend which has emerged in the Contracting Parties“,188 und bewegte sich damit auch hier im Rahmen der „Konsens-Terminologie“.189 Im Ergebnis kann der europäische Konsens angesichts der dargelegten Beispiele offenbar sowohl ein Kriterium in der margin of appreciation-Bemessung als auch bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung darstellen. Ob eine derartige Differenzierung indes überhaupt Konsequenzen hätte und sich hier ein eigener Anwendungsbereich des europäischen Konsenses aufzeigt, hängt maßgeblich von dem grundlegenden Verständnis des Verhältnisses von mar­ gin of appreciation-Doktrin und Verhältnismäßigkeitsprinzip ab.190 2. Das Zusammenwirken von margin of appreciation und Verhältnismäßigkeitsprüfung

Nach steter Bekräftigung des EGMR soll die Gewährung einer margin of appreciation nicht zu einem Freifahrtschein für die Europaratsstaaten in Menschenrechtsfragen führen. Vielmehr geht sie stets einher mit einer bestimmten Form von Kontrolle durch den EGMR: „The Contracting States have a certain margin of appreciation […], but it goes hand in hand with European supervision, embracing both the legislation and the decisions ap186  EGMR

(Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 172. (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 176. 188  EGMR (Große Kammer) – Sørensen and Rasmussen v. Denmark, 11.01.2006 – 52562/99, 52620/99, Rn. 70. 189  Ebenso in EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 245. 190  So auch Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S.  216 f. 187  EGMR

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

plying it […].“191 Der EGMR fordert, dass Beschränkungen von Konven­ tionsrechten verhältnismäßig sein müssen, und überlässt den Staaten hierbei einen Beurteilungsspielraum; er vollzieht ihre Argumentation aber gleichwohl nach und kann auch zu dem Schluss kommen, dass die staatliche Maßnahme nicht verhältnismäßig ist, was wiederum stark abhängig ist von der Weite der margin of appreciation im konkreten Fall. Die Interaktion beider Rechtsfiguren ist komplex und bleibt oftmals unklar.192 In der Literatur gibt es hierzu zahlreiche unterschiedliche Auffassungen und Konzepte, was angesichts des inkonsistenten sprachlichen Gebrauchs der Rechtsfiguren durch den EGMR kaum verwundert. Einige Stimmen verstehen die margin of appreciation-Doktrin als Gegenstück zur Verhältnis­ mäßigkeitsprüfung,193 was von oftmals gegenläufigen Formulierungen des EGMR in seinen Urteilen bestärkt wird: Teilweise führt der Gerichtshof aus, die Einhaltung der staatlichen margin of appreciation begründe die Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Maßnahme;194 teilweise wiederum begründe die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme eine Überschreitung der 191  EGMR (Große Kammer) – Lindon, Otchakovsky-Laurens and July v. France, 22.10.2007 – 21279/02, 36448/02, Rn. 45. Die endgültige Entscheidung will dementsprechend immer der EGMR treffen, siehe etwa EGMR – Karhuvaara and Iltalehti v. Finland, 16.11.2001 – 53678/00, Rn. 38. 192  „[T]he distinction and interaction between proportionality and the margin of appreciation remains at best blurred“, Christoffersen, Fair balance, S. 31. 193  „It is possible to consider the application of the proportionality as the other side of the margin of appreciation.“, Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine and the principle of proportionality in the jurisprudence of the ECHR, S. 14. Er versteht die Verhältnismäßigkeitsprüfung als Kriterium um zu beurteilen, ob die Staaten ihren Beurteilungsspielraum überschritten haben („The more intense the standard of proportionality becomes, the narrower the margin allowed to nation authorities. If a reasonable or fair balance is found, the national authorities are considered to remain within the bounds of appreciation“, S. 14 f.); so weiter auch Rubel, Entscheidungsfreiräume in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes, S. 119 ff.; Gorzoni, Der ‚margin of appreciation‘ beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, S. 63 ff. Matscher, in: Mac­ donald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 63, 79 befindet: „[T]he principle of proportionality […] acts as a corrective and restriction of the margin of appreciation doctrine“. 194  „If account is taken of the broad margin of appreciation to be left to States in this area and the need to protect children’s best interests to achieve the desired balance, the refusal to authorise adoption did not infringe the principle of proportionality.“, EGMR – Frette v. France, 26.02.2002 – 36515/97, Rn. 42. „Having regard to the foregoing, the Court is of the view that, in weighing the interests at stake in the pres­ent case against each other in the light of all the relevant evidence, the domestic authorities did not overstep their margin of appreciation. Accordingly, the applicant’s conviction can be said to have been proportionate to the legitimate aim pursued.“, EGMR (Große Kammer) – Stoll v. Switzerland, 10.12.2007 – 69698/01, Rn. 162.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“87

staatlichen margin of appreciation und damit eine Konventionsverletzung.195 Dies legt den Schluss nahe, beide Rechtsfiguren seien in der Tat alternative Prüfungsmethoden zur Feststellung einer möglichen Konventionsverletzung.196 Damit wäre die margin of appreciation der Verhältnismäßigkeitsprüfung gleichgesetzt als materielles Kriterium zur Prüfung einer Konventionsverletzung zu verstehen.197 Bei diesem Verständnis fragt Christoffersen dann allerdings zu Recht nach dem Sinn der margin of appreciation: „I find it very hard to identify the need for the margin of appreciation if it is just a second­ ary test of proportionality or a way of balancing.“198 Angesichts der Bedeutung, die der EGMR der margin of appreciationDoktrin zuschreibt, zutreffender scheint ein Verständnis der Doktrin im Sinne eines institutionellen Kompetenzverteilungsinstruments zwischen dem EGMR und den Vertragsstaaten, das die Intensität der Straßburger Kontrolle variiert.199 195  „In the light of these various factors, the Court reaches the conclusion that no fair balance was struck between the interests of the private health insurance company on the one side and the interests of the individual on the other. In these circumstances, the Court considers that the German authorities overstepped the margin of appreciation afforded to them under paragraph 2 of Article 8.“, EGMR – Van Kuck v. Germany, 12.06.2003 – 35968/97, Rn. 84 f. Vgl. umgekehrt auch: „The Court further finds that, in the particular circumstances of the instant case, the resultant interference was proportionate to the legitimate aim pursued. […] In sum, it cannot be said that the national authorities overstepped the margin of appreciation available to them in assessing the necessity of the contested measure.“, EGMR (Große Kammer) – Janowski v. Poland, 21.01.1999 – 25716/94, Rn. 35. 196  Asche beschreibt einen Eindruck der margin of appreciation-Doktrin als bloßer „Alternativformel“ zur Verhältnismäßigkeitsprüfung für die Feststellung einer Konventionsverletzung, Asche, Die Margin of Appreciation, S. 65 f. Dieses Verständnis führt letztlich auch zu der von Letsas geäußerten Kritik, wonach die Begründung der Konventionskonformität eines Eingriffs mit der Einhaltung der margin of apprecia­ tion inhaltsleer sei, vgl. Letsas, A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 86 ff. 197  Asche, Die Margin of Appreciation, S. 66 f. 198  Christoffersen, Fair balance, S. 233. Vergleichbare Kritik äußert auch Letsas, A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 86 ff., m. w. N. 199  In diesem Sinne auch Legg, The margin of appreciation in international human rights law, S. 1 f.; Christoffersen, Fair balance, S. 233 ff.; Asche, Die Margin of Appreciation, S. 68 f.; weiter so wohl auch Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S.192 f. und S. 199 f. Macdonald, in: Macdonald/ Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 83, 84, beschreibt die margin of appreciation als „label about the appropriate scope of supervisory review“; in diesem Sinne wohl auch Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 1, 35, sowie insbesondere 21: „Wie genau der Gerichtshof die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme prüft, hängt […] hauptsächlich davon ab, ob er

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

Die Hintergründe der Entwicklung der Doktrin sowie ihre dogmatischen Grundlagen200 verdeutlichen, dass der Gerichtshof diese zur variablen Auflösung des kompetenziellen Spannungsverhältnisses im europäischen Menschenrechtsregime etabliert hat: „The doctrine of the margin of appreciation has always been meant as a tool to define relations between the domestic authorities and the Court.“201 Während also die margin of appreciationDoktrin die Straßburger Kontrolldichte variiert, soll die Verhältnismäßigkeitsprüfung als materielles Instrument zur Überprüfung einer möglichen Konventionsverletzung fungieren. Hiernach bestimmt der Gerichtshof also zunächst, ob die Staaten einen weiten oder engen Beurteilungsspielraum haben; sodann überprüft er die staatlich getroffene Maßnahme auf ihre Verhältnismäßigkeit, wobei die Kontrolldichte je nach Weite der margin of appre­ ciation variiert.202 Dass die margin of appreciation eine Vorfrage zur Verhältnismäßigkeitsprüfung ist, ergibt sich auch aus der Erläuterung des Gerichtshof in Dickson v. The United Kingdom: „Since the national authorities make the initial assessment as to where the fair balance lies in a case before a final evaluation by this Court, a certain margin of appreciation is, in principle, accorded by this Court to those authorities as regards that assessment.“203 dem betroffenen Staat eine margin of appreciation gewährt und welchen Umfang diese hat.“ Arai-Takahashi scheint ein Verständnis der Doktrin als materielles oder institutionelles Kriterium nicht als gegensätzlich aufzufassen: Er beschreibt sie denn auch als „measure of discretion“, Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine and the principle of proportionality in the jurisprudence of the ECHR, S. 2. Dies scheint jedoch mit der Annahme, die Verhältnismäßigkeitsprüfung gebe Aufschluss über die Einhaltung des staatlichen Beurteilungsspielraums, schwer vereinbar. 200  Siehe dafür erneut „Erster Teil, § 2 B.“ 201  EGMR (Große Kammer) – A. a.  o. v. The United Kingdom, 19.02.2009 – 3455/05, Rn. 184. Siehe in diesem Sinne auch die abweichende Meinung des Richters Marten in EGMR – Cossey v. The United Kingdom, 27.09.1990 – 10843/84, 3.6.3. 202  Vgl. Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 41: „Nach dem […] Subsidiaritätsgrundsatz ist es nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, seine Ansicht an die Stelle der nationalen Entscheidungsinstanzen zu setzen, wenn im Ergebnis ein akzeptabler Ausgleich zwischen den verschiedenen Rechten erreicht worden ist. Daher ist in jedem Einzelfall vorab über die Kontrolldichte zu entscheiden. Diese variiert von einer allgemeinen Kontrolle der Vertretbarkeit einer Maßnahme zu einer detaillierten Kontrolle auf der Grundlage vorab definierter Parameter. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof die [margin of appreciation-]Doktrin […] entwickelt, die darüber bestimmt, in welcher Weise das Verhältnismäßigkeitsprinzip im konkreten Fall zur Anwendung kommen soll.“ (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). Siehe auch Asche, Die Margin of Appreciation, S. 68 f., die dementsprechend unterscheidet zwischen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Beantwortung der substantiellen Frage, ob eine staatliche Maßnahme (WAS?) eine Konventionsverletzung darstellt, und der margin of appreciation-Doktrin zur Beantwortung der institutionellen Frage, welche Institution (WER?) zur Entscheidung dieser Frage berufen ist.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“89

Ein derart differenziertes Verständnis wird bei der Lektüre der Urteilsbegründungen des EGMR nicht immer zweifellos bestätigt. In S.A.S. v. France etwa wog der EGMR die vorgetragenen Argumente ab und stellte schließlich fest, dass die Entscheidung eine gesellschaftliche Frage sei. Er sprach dem Staat deshalb einen weiten Beurteilungsspielraum zu und schloss mit dem Befund, dass die staatliche Maßnahme unter Berücksichtigung der weiten margin of appreciation als verhältnismäßig angesehen werden könne.204 Demnach führte der weite Beurteilungsspielraum also offenbar zur Anerkennung der staatlichen Maßnahme als verhältnismäßig. In diesem Sinne beeinflusst die Entscheidung über die Weite der margin of appreciation also zugleich auch das Abwägungsergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung, denn ein weiterer Beurteilungsspielraum stärkt im Zweifel die Position der Regierung. Es erscheint jedoch denkbar, dies nicht zwingend als materielles Argument aufzufassen.205 Die Aussage könnte auch als eher deklaratorischer Hinweis auf das Ergebnis institutioneller Kompetenzverteilung, und damit lediglich als Ausdruck richterlicher Zurückhaltung zugunsten der nationalen Autoritäten verstanden werden.206 Einige Autoren sehen angesichts derartiger Ausführungen des EGMR unterdessen einen Anlass für die Annahme zweier unterschiedlicher Konzepte der margin of appreciation-Dok­trin.207 203  EGMR (Große Kammer) – Dickson v. The United Kingdom, 04.12.2007 – 44362/04, Rn. 77 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 204  EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Rn. 157. 205  So wohl auch Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 356 ff. (hier insbesondere S. 357). 206  So auch Legg, The margin of appreciation in international human rights law, S. 37. 207  Siehe Letsas, A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 80 ff. Vgl. auch Christoffersen, Fair balance, S. 227 ff., (insbesondere S. 236: „[I]t is appropriate […] to articulate two distinct meanings of the term [margin of appreciation], namely the discretion of the Contracting Parties, and the sub­ sidiarty of the Court’s review.“). Legg und Asche (siehe hierzu sogleich) sowie Cremona sehen hierin indes keinen Anlass für die Annahme zweier verschiedener Konzepte der Doktrin, vgl. Cremona, in: Beyerlin (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung, S. 323, 328: „[I]n the exercise of the Court’s supervisory function the margin of appreciation is commonly the starting point in its assessment of proportionality and also figures in the conclusion in the sense either that, having regard to the margin of appreciation, the impugned measure is found to be proportionate (no violation) or that, even having regard to the margin of appreciation, it is found to be disproportionate (violation).“ Feststellungen des EGMR wie die soeben beschriebene sind im Hinblick auf eine methodisch nachvollziehbare Urteilsfindung jedenfalls unglücklich. Eine deutliche dogmatische Unterscheidung der beiden Prinzipien entsprechend ihrer verschiedenen Funktionen wäre wünschenswert. Siehe in diesem Zusammenhang auch Greer, The Margin of Appreciation: Interpretation and Discretion under the European Convention on Human Rights, S. 8, 14, der nicht die margin of appreciation-Doktrin an sich für problematisch erachtet, sondern die undurchsichtige

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR 3. Diffusion der Grenze durch das Konsens-Kriterium

Entsprechend einer Einordnung der margin of appreciation-Doktrin als Kompetenzverteilungsinstrument im Gegensatz zum Verhältnismäßigkeitsprinzip als materiellem Prüfkriterium unterscheidet Legg zwei Arten von Kriterien, die die Rechtsfiguren determinieren: internal und external factors; die internal factors sollen die eigentliche Sachfrage klären. External factors sind dagegen „factors outside of the immediate pros and cons of a particular decision related to [the judges’] own institutional competence“.208 Mit der margin of appreciation-Doktrin wird demnach anhand von external reasons eine mögliche richterliche Zurückhaltung bei der Beurteilung der Sachfrage geprüft, während die Verhältnismäßigkeitsprüfung Ausdruck von internal reasons zur Klärung der eigentlichen Sachfrage ist.209 Während diese Einteilung im Grundsatz sinnvoll erscheint und auch das vorliegend bevorzugte Verständnis des Verhältnisses von margin of appreciation und Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erklären vermag, ist jedoch anzumerken, dass die praktische Verwendung des in dieser Arbeit intensiv behandelten Kriteriums europäischer Konsens diese logische Differenzierung durchbricht.210 Wie oben dargelegt wurde, scheint der Gerichtshof den europäischen Konsens mitunter zur Determinierung der Weite der margin of appreciation heranzuziehen, und mitunter als Argument bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe – teilweise sogar in beiden Zusammenhängen innerhalb derselben Prüfung einer Konventionsrechtsverletzung. Angesichts dessen verschwimmt die Grenze zwischen Verhältnismäßigkeit und margin of appreciation wiedeHandhabung durch den EGMR, die die Kritik an der Doktrin als zu unverständlich hervorrufe. Die Gefahr einer Verschleierung der tatsächlichen Gründe für die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den schlichten Verweis auf die Überschreitung der margin of appreciation durch den betreffenden Staat sieht auch Macdonald, in: Macdonald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 83, S. 84 f. und 124. 208  Legg, The margin of appreciation in international human rights law, S. 1. 209  Zu dieser richterlichen Zurückhaltung aufgrund external reasons siehe Legg, The margin of appreciation in international human rights law, S. 17 ff.; für eine beispielhafte Erläuterung am Fall Handyside v. The United Kingdom siehe S. 27 ff. Dementsprechend teilt Legg die verschiedenen Kriterien, die eine Entscheidung beeinflussen können, dogmatisch ihrer Art nach entweder der margin of appreciationDoktrin (siehe Kapitel 4–6) oder der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu (S. 175 ff.). 210  So auch Christoffersen, der dies darüber hinaus auch hinsichtlich weiterer Kriterien feststellt: Der Bedeutung des betroffenen Rechts, der Intensität des Eingriffs sowie der Bedeutung des damit verfolgten Ziels, vgl. Christoffersen, Fair ­balance, S. 232 f. Vgl. darüber hinaus auch Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 356 ff. Legg, The margin of appreciation in international human rights law, S. 17 ff., ordnet die „common practice of states“ indes dogmatisch als external fac­ tor ein.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“91

rum.211 Mit den Worten Christoffersens muss im Ergebnis festgestellt werden: „The interaction between the principle of proportionality [and] the margin of appreciation […] remains a partial mystery.“212 4. Schlussfolgerungen für die vorliegende Arbeit

Ist die margin of appreciation tatsächlich das Gegenstück zur Verhältnismäßigkeitsprüfung, und in diesem Sinne ebenfalls materielles Kriterium zur Entscheidung über eine Konventionsverletzung? Oder will der EGMR sie als Kompetenzverteilungsinstrument verstanden wissen und versäumt es dabei lediglich, sie in diesem Sinne stringent anzuwenden? Bei Zugrundelegung des ersten Verständnisses ist eine Unterscheidung zwischen der Anwendung des Konsens-Kriteriums bei der margin of appre­ ciation-Doktrin und der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht notwendig. Wenn beide Rechtsfiguren gleichermaßen Instrumente zur Feststellung einer Konventionsverletzung darstellen, so gibt es nicht zwei zu unterscheidende Funktionen des europäischen Konsenses, sondern er ist in beiden Zusammenhängen schlicht ein materielles Argument bei der Entscheidung über eine Konventionsverletzung. In diesem Sinne ist der europäische Konsens also nicht als Kriterium innerhalb der margin of appreciation-Doktrin oder des Verhältnismäßigkeitsprinzips einzuordnen, sondern eher als Gradmesser für die Entscheidung über eine Konventionsverletzung insgesamt.213 Bei Zugrunde211  So auch Christoffersen, Fair balance, S. 233. Siehe zu diesem Problem auch Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 356 ff. (insbesondere 360). 212  Christoffersen, Fair balance, S. 1. Der Vierte Teil dieser Arbeit zeigt jedoch zumindest Ansätze hinsichtlich des Konsens-Kriteriums auf, mit denen dieses mit dem soeben dargelegten differenzierten Verständnis vereinbar wäre. 213  Auch Grabenwarter scheint nicht zwischen einer Verwendung bei der margin of appreciation-Doktrin und der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu differenzieren. Er erklärt: „Häufig setzt [der EGMR] die Rechtsvergleichung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ein, wenn er die verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten heranzieht, um das Vorliegen oder Fehlen eines europäischen Konsenses festzustellen. Liegt ein solcher vor, so schränkt dies den Beurteilungsspielraum ein. Fehlt ein europäischer Konsens, so ist dies ein Indiz für einen weiten Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten.“, Grabenwarter, in: Gamper/Verschraegen (Hrsg.), Rechtsvergleichung als juristische Auslegungsmethode, S. 95, 104. Die beiden von ihm hierfür angebrachten Beispiele sind die Fälle Yumak and Sadak v. Turkey, sowie der Fall TV Vest AS and Rogaland Pensjonisparti v. Norway. In letzterem hatte der Gerichtshof das Konsens-Kriterium ausdrücklich in Zusammenhang mit der margin of apprecia­ tion-Doktrin angewendet. Den Umstand, dass er den Rechtsvergleich in Yumak and Sadak v. Turkey dagegen ausdrücklich zur Überprüfung der Verhältnismäßigkeit ­heranzog, nahm Grabenwarter also nicht zum Anlass für eine Unterscheidung zwischen der Verwendung des europäischen Konsenses bei der margin of appreciationDoktrin sowie der Verhältnismäßigkeitsprüfung.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

legung des zweiten Verständnisses ist eine Unterscheidung unterdessen von entscheidender Bedeutung, da der europäische Konsens in den beiden Rechtsfiguren verschiedene Funktionen erfüllen würde, beziehungsweise verschiedene Auswirkungen hätte: Bei der margin of appreciation-Doktrin wäre er ein Kriterium für die Kontrolldichte der Prüfung des EGMR; bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung wäre er ein materielles Argument in der Abwägungsentscheidung. In diesem Sinne unterscheidet auch Senden zwischen zwei verschiedenen Funktionen des Konsens-Kriteriums „either as a basis for determining the intensity of review, or in connection with the test of proportionality.“214 Die vorliegende Arbeit legt den weiteren Ausführungen, insbesondere der sogleich erfolgenden empirischen Untersuchung, dieses differenzierte Verständnis zugrunde. Zwar kann der Umgang des Gerichtshofs mit den beiden Rechtsfiguren in seinen Urteilsbegründungen nicht zweifellos von einer derartigen Differenzierung in der Praxis überzeugen; ein differenziertes Verständnis von der margin of appreciation-Doktrin als Kompetenzverteilungsinstrument zur Variation der Kontrolldichte, und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur materiellen Prüfung einer Konventionsverletzung ist jedoch angesichts der oben genannten Gründe jedenfalls in der Theorie überzeugender und zugleich angesichts der EGMR-Praxis auch nicht auszuschließen. Daher nimmt die vorliegende Arbeit die dargelegten Anhaltspunkte für eine Unterscheidung zwischen der Verwendung des europäischen Konsenses bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung sowie der margin of appreciation-Doktrin zum Anlass, die Methodik der Konsens-Prüfung auch im Hinblick auf eine gesonderte Verwendung bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu untersuchen. Zweifellos setzt sie sich damit der Gefahr von Kritik aus, die Ausführungen des EGMR an den oben dargelegten Beispielen etwa zu wörtlich genommen und die dahinter verborgene Dogmatik überschätzt zu haben. Vertreter eines weiteren Verständnisses des Konsens-Konzepts mit der Auffassung, der europäische Konsens fungiere als „Mediator“ zwischen margin of apprecia­ tion und Verhältnismäßigkeitsprüfung, mögen entgegenhalten, dass die so begründete Differenzierung zwischen dem Anwendungsbereich des europäischen Konsenses bei der margin of appreciation-Bemessung und der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht sinnvoll sei. Die dem zugrundeliegende Einordnung des europäischen Konsenses ist jedoch unpräzise und vermischt verschiedenartige Rechtsfiguren. Der europäische Konsens ist ein Instrument, das im Rahmen dieser Rechtsfiguren (also zur Bemessung der margin of ap­ preciation sowie zur Beurteilung, ob eine staatliche Maßnahme verhältnis214  Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 239.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“93

mäßig ist) angewendet wird – nicht neben ihnen.215 Fest steht, dass der Gerichtshof weder sauber zwischen beiden Anwendungsbereichen trennt, noch den europäischen Konsens eindeutig einer der beiden Rechtsfiguren zuordnet; wie die Fallbeispiele gezeigt haben, verwendet er den europäischen Konsens vielmehr in beiden Zusammenhängen, sodass eine differenzierte Untersuchung durchaus angebracht ist. III. Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Auslegung und margin of appreciation-Bemessung Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich der Verwendung des KonsensKriteriums in verschiedenen Anwendungsbereichen ergeben sich mitunter auch im Hinblick auf die Bemessung der margin of appreciation und die Auslegung einer Konventionsbestimmung. In Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece etwa erklärte der EGMR unter dem Punkt „General Principles“: „[O]ne of the relevant factors in determining the scope of the authorities’ margin of appreciation may be the existence or non-existence of common ground between the laws of the Contracting States.“216 Unter dem Punkt „Application of these principles to the present case“ erläuterte er die in Rede stehende Frage „whether Article 3 of Protocol No. 1 places States under an obligation to introduce a system enabling expatriate citizens to exercise their voting rights from abroad.“217 Um diese Frage zu beantworten, müsse Art. 3 ZP 1 unter Berücksichtigung internationalen Rechts und eines Rechtsvergleichs ausgelegt werden.218 Daraufhin untersuchte er verschiedene Erkenntnisquellen und stellte schließlich fest, dass sich aus den internationalen Übereinkommen keine derartige Verpflichtung ergebe.219 Darüber hinaus hätten die Europaratsstaaten unterschiedliche Regelungen in dieser Hinsicht getroffen.220 Wenngleich er dies nicht so ausdrücklich erklärte, scheint damit ein Konsens in der betreffenden Rechtsfrage abgelehnt worden zu sein. Die Prüfung der verschiedenen Erkenntnisquellen erfolgte hier also zur Ausle215  Ähnlich Djeffal, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), pean Consensus, S. 71, 80 f. 216  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 66. 217  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 70. 218  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 71. 219  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 72 f. 220  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 74 f.

Building Consensus on EuroGiakoumopoulos v. Greece, Giakoumopoulos v. Greece, Giakoumopoulos v. Greece, Giakoumopoulos v. Greece, Giakoumopoulos v. Greece,

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

gung von Art. 3 ZP 1 im Hinblick auf das von den Beschwerdeführern geltend gemachte Recht, und nicht in ausdrücklichem Zusammenhang mit der Bemessung einer möglichen margin of appreciation, wie er es noch in seinen Ausführungen unter „General Principles“ erklärt hatte. Damit stellt sich erneut die Frage, ob es überhaupt verschiedene Anwendungsbereiche des europäischen Konsenses gibt. Womöglich fungiert der europäische Konsens auch in dieser Hinsicht lediglich als eine Art Gradmesser zwischen einer evolutiven Auslegung von Konventionsbestimmungen auf der einen Seite, und einer weiten margin of appreciation auf der anderen Seite? Zu diesem Verständnis passen denn auch die oben genannten Auffassungen Morawas sowie Dzehtsiarous vom europäischen Konsens als „Mediator“ zwischen dynamischer Auslegung und margin of appreciation.221 Auch in A, B and C v. Ireland scheint der Gerichtshof den Konsens in beiden Zusammenhängen zu erwähnen.222 Die Vorstellung des Konsenses als „Mediator“ zwischen margin of appre­ ciation und evolutiver Auslegung ist jedoch wiederum als zu undifferenziert zurückzuweisen.223 Im Ergebnis mag mitunter der Fall eintreten, dass ein Konsens zu einer dynamischen Auslegung einer Konventionsbestimmung bei gleichzeitig eng bemessener margin of appreciation führt. Zugleich gibt es jedoch Urteile, in denen der Konsens nicht in beiden Zusammenhängen vom Gerichtshof genannt wird. Eine Verwendung erfolgt zuweilen beispielsweise nur auf der Schutzbereichsebene zur Auslegung einer Konventionsbestimmung, ohne dass dabei auf eine margin of appreciation verwiesen wird,224 oder erst auf Rechtfertigungsebene zur Bemessung der margin of apprecia­ tion.225 Letztendlich ist eine eindeutige Schlussfolgerung anhand der Ausfüh221  Ähnlich auch Carozza, Notre Dame Law Review 73 (1997–1998), 1217, 1221: Dzehtsiarou bezeichnet den europäischen Konsens auch als „[…] one of the tools of interpretations of the ECHR alongside evolutive interpretation, margin of appreciation, autonomous meaning of the convention and proportionality.“, Dzehtsiarou, Euro­pean Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 17. 222  EGMR (Große Kammer) – A, B and C v. Ireland, 16.12.2010 – 25579/05, Rn.  233 f. 223  Siehe in diesem Zusammenhang auch die von Senden hervorgehobene Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Prinzipien und Methoden der Auslegung, Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 44 ff. sowie 163 f. (zur konkreten Unterscheidung von evolutiver Auslegung und der Methode der Rechtsvergleichung). Sie betont weiter auch die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung (und ordnet die margin of appreciationDoktrin letzterer zu), S. 7 f. 224  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 123 f., 138 ff. 225  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Parrillo v. Italy, 27.08.2015 – 46470/11, Rn.  169, 174 ff.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“95

rungen des EGMR in seinen Urteilsbegründungen nicht möglich. Der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung nach erfüllt der europäische Konsens aber bei der Auslegung der EMRK sowie der Bestimmung der margin of appreciation unterschiedliche Funktionen. Die Differenzierung zwischen diesen verschiedenen Anwendungsbereichen wird daher beibehalten226 und weiter untersucht.

D. Auswirkungen eines angenommenen europäischen Konsenses Vor dem Hintergrund der soeben dargelegten Anwendungsbereiche kann der europäische Konsens im Grundsatz verschiedene Auswirkungen haben: Er kann eine ihm entsprechende Auslegung einer Konventionsbestimmung indizieren. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung fungiert er als materielles Argument zugunsten des ihm entsprechenden Prüfungsergebnisses. Wird er im Rahmen der margin of appreciation-Doktrin angewendet, spricht ein bestehender Konsens für einen verringerten Beurteilungsspielraum.227 Liegt in der betreffenden Rechtsfrage demgegenüber kein Konsens vor, spricht dies für eine Vielfalt der Regelungen in diesem Bereich, und damit gegen eine (dynamische) Auslegung im Sinne des Beschwerdeführers, beziehungsweise bei der Berücksichtigung im Rahmen der margin of appreciation-Doktrin für einen weiten Beurteilungsspielraum. Zugleich ist ein europäischer Konsens indes nicht zwingend ausschlaggebend für die Urteilsfindung des EGMR. In einigen Fällen stellt der Gerichtshof fest, dass das Vorliegen eines europäischen Konsenses für seine Entscheidung nicht maßgebend sei.228 Die soeben beschriebenen Regeln werden mithin getreu des bekannten Grundsatzes durch Ausnahmen bestätigt.229 Klare Kriterien zur Frage, ob und inwiefern der Gerichtshof einen europäi226  Auch Wildhaber, Hjartarson und Donnelly sowie Senden, Grabenwarter und Ambrus unterscheiden dementsprechend zwischen der Auslegung der EMRK und der Bemessung der margin of appreciation als zwei verschiedenen Anwendungsbereichen des europäischen Konsenses, vgl. erneut „Zweiter Teil, § 2 C.“ 227  Zu den Auswirkungen eines europäischen Konsenses innerhalb der margin of appreciation siehe auch Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 249 f. 228  So etwa in EGMR (Große Kammer) – Hirst v. The United Kingdom (No. 2), 06.10.2005 – 74025/01, Rn. 81: „[E]ven if no common European approach to the problem can be discerned, this cannot of itself be determinative of the issue“. Vergleichbar auch in EGMR (Große Kammer) – Correia de Matos v. Portugal, 04.04.2018 – 56402/12, Rn. 137. Siehe weiter auch EGMR (Große Kammer) – A, B and C v. Ireland, 16.12.2010 – 25579/05, Rn. 236 f.; EGMR (Große Kammer) – Perinçek v. Switzerland, 15.10.2015 – 27510/08, Rn. 257. 229  Zu den verschiedenen möglichen Auswirkungen eines Konsenses auf die Urteilsfindung siehe auch Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 127 ff.

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2. Teil: Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des EGMR

schen Konsens berücksichtigt, gehen aus seiner Rechtsprechung nicht eindeutig hervor. Mitunter erklärt der Gerichtshof, er müsse einen Konsens berücksichtigen, mitunter erklärt er, dieser könne für die Auslegung der EMRK relevant sein.230 Regelmäßig entscheidet der EGMR indes entsprechend des Ergebnisses der Konsens-Prüfung; eine dem entgegenstehende Entscheidung kann mithin als Ausnahme bezeichnet werden.231 Nach Dzehtsiarou ist der europäische Konsens dementsprechend eine „widerlegbare Vermutung“.232 So kann etwa der Vortrag überzeugender Argumente durch die betreffende Vertragspartei deren eigene Regelung trotz entgegenstehenden Konsenses möglicherweise als konventionskonform rechtfertigen.233 Darüber hinaus gibt es wie bereits dargelegt234 bei der margin of appreciation-Bestimmung neben dem europäischen Konsens zahlreiche andere Kriterien, die die Weite des Beurteilungsspielraums beeinflussen. Dies gilt auch für die Verhältnismäßigkeitsprüfung, sowie die Auslegung von Konventionsbegriffen.235

230  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 102: „[T]he Court must have regard to the changing conditions in Contracting States and respond, for example, to any emerging consensus […]. Furthermore, in defining the meaning of terms and notions in the text of the Convention, the Court can and must take into account elements of international law other than the Convention […]. The consensus emerging from specialised international instruments may constitute a relevant consideration for the Court […].“ (Hervorhebungen erfolgten durch Verfasserin). Siehe auch van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 463. Als „root of confusion“ bezeichnet dies auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 33. 231  Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 29, in Anlehnung an die Untersuchung von Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119. 232  Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 9. 233  Siehe hierzu auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 24 ff. 234  Siehe erneut „Erster Teil, § 2 B.“ 235  Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 121, sehen den europäischen Konsens neben den übrigen „klassischen Auslegungsmethoden“ sogar eher also als Bestätigung für das gefundene Ergebnis: „The comparative-law method in the Convention system is […] perhaps best seen as serving as an evidentiary accompaniment or supporting factor for other interpretative considerations that point to a given outcome in a case.“ Grabenwarter, in: Gamper/ Verschraegen (Hrsg.), Rechtsvergleichung als juristische Auslegungsmethode, S. 95, 110, sieht diese Funktion vor allem beim Vorliegen eines europäischen Trends gegeben.



§ 2 Grundlagen der Rechtsfigur „europäischer Konsens“97

E. Resümee Nachdem das Konzept des europäischen Konsenses in Grundzügen dargelegt ist, verbleiben einige zentrale Fragen: Wie genau ermittelt der EGMR einen europäischen Konsens aus den verschiedenen Erkenntnisquellen? Wie geht er dabei insbesondere mit der rechtlichen Unverbindlichkeit von Soft Law-Dokumenten sowie dem Umstand, dass diese womöglich gar nicht von allen Europaratsstaaten unterzeichnet wurden, um? In welchem Verhältnis stehen die Methode der Rechtsvergleichung und die Konsens-Methode in der Rechtsprechung des EGMR? Diesen Fragen wird im Rahmen der empirischen Urteilsuntersuchung im Dritten Teil näher nachgegangen. Die Untersuchung ist zwar nicht primär darauf ausgerichtet, die Konsens-Methode zu erforschen – sie will ermitteln, welche Rolle Europaratsdokumente in den Urteilsbegründungen der Großen Kammer spielen. Dieses Untersuchungsziel berührt jedoch die hier aufgeworfenen Fragen ganz wesentlich, da ein wichtiger Anwendungsbereich von Europaratsdokumenten in ihrer Berücksichtigung zur Ermittlung eines europäischen Konsenses liegt; die Ermittlung der Rolle von Europaratsdokumenten ist nicht sinnvoll möglich, ohne ihre Rolle konkret im Rahmen der Konsens-Ermittlung zu untersuchen. Dementsprechend trägt die folgende empirische Untersuchung auch wesentlich zur Erforschung der hier aufgeworfenen Fragen bei, indem sie diese anhand des konkreten Beispiels der Europaratsdokumente in den Blick nimmt. Dabei soll auch die soeben hergeleitete Differenzierung zwischen den drei verschiedenen Anwendungsbereichen des europäischen Konsenses aufgegriffen und weiter erörtert werden.

Dritter Teil

Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten in den Urteilsbegründungen der Großen Kammer „Recommendations and resolutions of the Committee of Ministers and the Parliamentary Assembly […] often serve as a source of inspiration for our judgments.“1

In jedem vierten Urteil der Großen Kammer wird ein Europaratsdokument zitiert2 – entweder vom Gerichtshof selbst, in Sondervoten einzelner Richter oder von den Verfahrensbeteiligten. Angesichts dessen lässt sich bereits erahnen, dass der Gerichtshof in der Tat häufig von Europaratsdokumenten „inspiriert“ wird, wie es der ehemalige Präsident des EGMR Costa hier ausgedrückt hat. Mit einer empirischen Urteilsuntersuchung soll ermittelt werden, wie genau die Rolle von Europaratsdokumenten in der Rechtsprechung des EGMR aussieht. Anhand der Ergebnisse sollen auch Rückschlüsse auf die Rolle internationalen Soft Laws in der Rechtsprechung des EGMR insgesamt gezogen werden, wobei das Ziel vor allem in der Aufklärung der methodischen Vorgehensweise bei dessen Verwendung zur Auslegung und Anwendung der EMRK besteht. Zunächst werden die konkreten Fragestellungen und Ziele der Untersuchung dargelegt (§ 1). Sodann wird das Untersuchungsvorgehen, das heißt die Auswahl der zu untersuchenden Urteile sowie die genaue Untersuchungsmethode erläutert (§ 2). Auf diesen Grundlagen erfolgt daraufhin die umfassende Urteilsuntersuchung. Zu Beginn werden die allgemeinen Untersuchungsergebnisse zu den verschiedenen Anwendungsbereichen und Funktionen dargelegt, die hinsichtlich der Rolle von Europaratsdokumenten in den Urteilsbegründungen des EGMR unterschieden werden können, sowie deren Bedeutung bei den jeweiligen Konventionsrechten (§ 3). Da sich ein abstraktes Abarbeiten der konkreten Fragestellungen aufgrund der oftmals variierenden Argumentationsstruktur des Gerichtshofs schwierig gestaltet, wird zu1  Costa, in: EGMR (Hrsg.), Dialogue between Judges: „The role of consensus in the system of the European Convention on Human Rights“, S. 81, 91. 2  130 der 454 in Hudoc verfügbaren, englischsprachigen Urteile der Großen Kammer, die bis zum 31.12.2018 ergangen sind (also 28,63 %; Zugriff auf die Datenbank erfolgte am 28.08.2020). Zur Ermittlung der Zahl 130 siehe sogleich ausführlich „Dritter Teil, § 3“.



§ 2 Untersuchungsvorgehen99

nächst eine bereichsspezifische Untersuchung hinsichtlich der Rolle von Europaratsdokumenten in der EGMR-Rechtsprechung zu LGBT-Rechten vorgenommen (§ 4). Anhand der hier erarbeiteten Zwischenergebnisse werden im Anschluss alle Urteile aus dem Fallpool untersucht (§ 5). Abschließend folgt eine Zusammenfassung und Bewertung (§ 6).

§ 1 Konkrete Fragestellungen und Ziele der Untersuchung Die Untersuchung soll zunächst aufzeigen, an welchen Stellen der Prüfung einer Konventionsverletzung der EGMR Europaratsdokumente berücksichtigt, das heißt, welche Anwendungsbereiche unterschieden werden können. In Verbindung damit soll weiter ermittelt werden, welche Funktionen Europaratsdokumente in den Urteilsbegründungen einnehmen und welcher Stellenwert ihnen dabei eingeräumt wird. Darüber hinaus wird untersucht, ob es in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen den einzelnen Konventionsartikeln gibt. In methodischer Hinsicht wird zwischen einer Berücksichtigung von Europaratsdokumenten neben anderen Erkenntnisquellen, sowie alleinstehend differenziert. Im ersten Zusammenhang ist vor allem die Berücksichtigung im Rahmen der Prüfung eines europäischen Konsenses von Interesse. Unter dem besonderen Blickwinkel auf Europaratsdokumente soll hier untersucht werden, ob aus den Urteilsbegründungen mögliche Kriterien für die Auswertung verschiedener Erkenntnisquellen zur Ermittlung eines europäischen Konsenses hervorgehen. Gibt es beispielsweise ein Rangverhältnis zwischen den einzelnen Erkenntnisquellen? Berücksichtigt der EGMR die unterschiedliche Rechtsqualität von (rechtsverbindlichen) völkerrechtlichen Verträgen und (rechtsunverbindlichem) Soft Law? Was geschieht, wenn sich zwei Erkenntnisquellen widersprechen? Diese Fragestellungen weisen zwang­släufig Berührungspunkte zur gesamten Methode der Konsens-Ermittlung auf, sodass im Laufe der Untersuchung auch Rückschlüsse auf Kriterien gezogen werden, welche die Konsens-Prüfung grundsätzlich oder andere Erkenntnisquellen als Europaratsdokumente betreffen. Ebenfalls wird untersucht, warum Europaratsdokumente mitunter in der Urteilsbegründung unberücksichtigt bleiben, obwohl sie in „The facts“ noch als relevant aufgeführt wurden.

§ 2 Untersuchungsvorgehen Die dargelegten Fragestellungen werden durch eine empirische Untersuchung einer bestimmten Auswahl an EGMR-Urteilen bearbeitet.

100 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

A. Zusammenstellung des Fallpools Der Zusammenstellung des Fallpools liegen die in der Datenbank „Hudoc“ enthaltenen Urteile des EGMR zugrunde. Mit der „advanced search“-Funktion besteht die Möglichkeit, die seit Beginn der EGMR-Rechtsprechung ergangenen und veröffentlichten Entscheidungen im Sinne der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit zu filtern. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, empirische Studien zur Beantwortung konkreter Forschungsfragen beziehungsweise zur Überprüfung von Thesen vorzunehmen.3 Wie einleitend dargelegt, haben einige Autoren breit angelegte Fallstudien zur Untersuchung der Rolle internationaler Übereinkommen, beziehungsweise von Soft Law angestellt.4 Die vorliegende Arbeit will insbesondere das methodische Vorgehen des EGMR bei der Berücksichtigung internationalen Soft Laws zur rechtsvergleichenden Auslegung und Anwendung der EMRK ermitteln, und untersucht dieses an einem konkreten Beispiel: Der Rolle von Europaratsdokumenten in den Urteilsbegründungen der Großen Kammer. Damit führt sie keine umfassende Rechtsprechungsanalyse zur Rolle internationalen Soft Laws durch, welche angesichts der unzähligen verschiedenen Arten und Urhebern von Soft Law-Dokumenten, die Regelungsbereiche der EMRK betreffen könnten, hier nur bedingt möglich erscheint, sondern sie untersucht eine für das Vorgehen des EGMR repräsentative Zusammenstellung von Entscheidungen. Diese Herangehensweise entspricht der Durchführung einer „small-N“-Studie anhand des „ ‚prototypical cases‘ principle[s]“:5 Das Forschungsinteresse wird durch die Untersuchung einer vergleichbar geringen Anzahl von Fällen („small-N“) anhand eines konkreten Beispiels bearbeitet, welches exemplarisch für viele weitere Fälle steht („ ‚prototypical cases‘ principle“). Diese Methode wird im Kontext verfassungsrechtlicher Rechtsvergleichung fruchtbar gemacht6 und bietet für die Forschungsziele der vorliegenden Arbeit mehrere Vorteile. 3  Im Kontext verfassungsrechtlicher Rechtsvergleichung erörtert diese Hirschl, The American Journal of Comparative Law 53 (2005), 125. Für die „Principles of Case-Selection in Inference-Oriented Comparative Studies“ siehe S. 132 ff. 4  Siehe insbesondere Forowicz, The reception of international law in the European Court of Human Rights; Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments; Glas, HRLJ 17 (2017), 97. 5  Vgl. hierzu Hirschl, The American Journal of Comparative Law 53 (2005), 125, 132 f. Er beschreibt dieses „ ‚prototypical cases‘ principle“ im Rahmen verfassungsrechtlicher Rechtsvergleichung als eines von vier möglichen Auswahlprinzipien für eine „small-N“-Studie, neben dem „ ‚most similar cases‘ principle“, dem „ ‚most different cases‘ principle“ sowie dem „ ‚outlier cases‘ principle“, vgl. S. 132 ff. 6  Vgl. erneut Hirschl, The American Journal of Comparative Law 53 (2005), 125.



§ 2 Untersuchungsvorgehen101

Wie im Ersten Teil der Arbeit dargelegt, sind die Resolutionen und Empfehlungen der beiden Organe des Europarats, der Parlamentarischen Versammlung sowie des Ministerkomitees, klassische Beispiele internationalen Soft Laws. Ihre Rolle in der Rechtsprechung des EGMR verspricht damit, auch Rückschlüsse auf die Bedeutung internationalen Soft Laws insgesamt zuzulassen.7 Über die Eigenschaft als Prototyp hinaus sind Europaratsdokumente zudem von besonderem Interesse, da sie im Hinblick auf ihren institutionellen Hintergrund eine besondere Stellung einnehmen. An ihnen sind alle, aber auch ausschließlich Mitglieder des Europarats beteiligt – im Gegensatz etwa zu UN-Dokumenten, bei denen der Kreis teilhabender Staaten weitaus größer ist, oder zu EU-Dokumenten, an denen nur 27 Europaratsstaaten beteiligt sind. Europaratsdokumente werden von den Organen des Europarats und damit in unmittelbarer Einbindung in den institutionellen Kontext der EMRK verabschiedet. Wie im Vierten Teil dieser Arbeit näher dargelegt wird, kommt ihnen damit innerhalb der Soft Law-Dokumente eine besondere Bedeutung für die Ermittlung eines europäischen Konsenses zu. Die vorliegende Auswahl ermöglicht vor diesem Hintergrund auch die Untersuchung, ob der EGMR Europaratsdokumenten im Vergleich zu anderen Soft Law-Dokumenten eine besondere Stellung einräumt. Die Beschränkung der Suchergebnisse auf Urteile der Großen Kammer filtert die Urteile erstens nicht in sachlicher Hinsicht, wie es etwa bei einer Beschränkung auf bestimmte Konventionsrechte der Fall wäre. Zweitens entscheidet die Große Kammer vor allem in Fällen, in denen sich eine Rechtsprechungsänderung andeutet oder eine schwerwiegende Auslegungsfrage zu klären ist. Dieser Umstand verspricht eine große Relevanz ihrer Urteile für das vorliegende Untersuchungsinteresse, da derartige Fälle oftmals anhand rechtsvergleichender Untersuchungen gelöst werden.8 Die Beschränkung in der Hudoc-Datenbank wurde folgendermaßen vorgenommen: Zunächst wurden die Treffer textbasiert auf die Begriffe „recommendation OR resolution“ beschränkt, wodurch alle Urteile alternativ und kumulativ hinsichtlich beider Begriffe durchsucht wurden. Die Sprachfassung der Urteile wurde auf Englisch beschränkt. Mithilfe des „organisation“-Filters wurde die Suche auf Urteile beschränkt, die auf die Parlamentarische Versammlung sowie das Ministerkomitee Bezug nehmen. Durch die Einschränkung der „document collection“ wurde die Suche auf „judgments“ beschränkt,

7  Andere Arten beschlossener Dokumente beider Organe werden in der Untersuchung mithin außer Acht gelassen; dies erfolgt auch im Sinne einer sinnvollen Möglichkeit zur textbasierten Durchsuchung der Datenbank, siehe aber auch bereits Fn. 39 im Ersten Teil. 8  Siehe erneut Fn. 56 im Zweiten Teil.

102 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

also Entscheidungen über die Begründetheit von Beschwerden. Die Analyse umfasst damit 177 Urteile.9

B. Empirische Untersuchungsmethode Die ausgewählten Urteile der Großen Kammer werden im Hinblick auf die genannten Fragestellungen empirisch untersucht. Dabei werden im Sinne einer „Mixed Methods Research“ sowohl quantitative als auch qualitative Daten erhoben, wobei letztere den überwiegenden Teil der Urteilsanalyse ausmachen.10 Die Kombination dieser beiden Ansätze ermöglicht eine umfassende Bearbeitung der aufgeworfenen Fragestellungen. I. Quantitative Analyse Quantitative Analysen unterliegen stets potenziellen Risiken, die sich auch in der vorliegenden Arbeit stellen.11 Insbesondere die für eine quantitative Textanalyse notwendige Codierung der Texte hinsichtlich bestimmter Kriterien kann sich bei komplexen Texten als schwierig gestalten.12 Hierdurch besteht die Gefahr, dass wichtige Details außer Acht gelassen und die gefundenen Ergebnisse dadurch in ihrer Aussagekraft vermindert werden. Wie im Rahmen der Untersuchung noch näher deutlich werden wird, vermag eine quantitative Untersuchung etwa die genauen Kriterien bei der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten im Rahmen der Konsens-Prüfung des EGMR nicht aufzuzeigen. Zu groß ist die jeweilige Abhängigkeit der Ausführungen des EGMR von den Einzelfallumständen. Darüber hinaus ist die Argumentation des EGMR zu uneinheitlich; wie bereits dargestellt, verwen9  Wird die Suche wiederholt, zeigt die Datenbank vereinzelt weitere Urteile an. Die Gründe hierfür sind nicht ersichtlich, das Phänomen stellte auch Glas in ihrer empirischen Untersuchung fest, vgl. Glas, HRLJ 17 (2017), 97, 100, Fn. 16. Auf Nachprüfungen hin stellten sich die zusätzlich angezeigten Urteile jedoch als Zufallstreffer dar. Letztlich wurde der Fallpool am 31.12.2018 wie im „Annex 1“ aufgeführt festgelegt; da es für die vorliegende Arbeit wie bereits dargelegt vor allem um eine qualitative Urteilsuntersuchung geht, erscheint die theoretische Möglichkeit, dass einzelne Urteile aufgrund von Schwankungen in der Datenbank nicht analysiert wurden, hinnehmbar. 10  Für eine derartige Verknüpfung qualitativer und quantitativer Untersuchungen im Sinne von „Mixed Methods Research“ argumentieren Johnson/Onwuegbuzie, Educational Researcher 33 (2004), 14. 11  Zu den Stärken und Schwächen quantitativer Forschung siehe Johnson/On­ wuegbuzie, Educational Researcher 33 (2004), 14, 19. 12  Zu den Herausforderungen bei der Codierung im Rahmen einer quantitativen Textanalyse zur verfassungsrechtlichen Rechtsvergleichung siehe auch Meuwese/Ver­ steeg, in: Adams (Hrsg.), Practice and theory in comparative law, 230–257, 241 ff.



§ 2 Untersuchungsvorgehen103

det er für die Konsens-Prüfung nicht einmal eine einheitliche Bezeichnung. Insgesamt eignet sich das vorliegende Forschungsvorhaben vor diesem Hintergrund großteils nicht für eine quantitative empirische Untersuchung.13 Über größere (methodische) Zusammenhänge kann eine quantitative Analyse aber durchaus Aufschluss geben. Weiter können quantitative Erkenntnisse als Möglichkeit zur Überprüfung einer qualitativen Untersuchung dienen. Daher wurden die ausgewählten Urteile in der vorliegenden Arbeit auf bestimmte Kriterien hin quantitativ untersucht. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind umfassend in Annex 2 einsehbar. 1. Kategorie A – Berücksichtigung/Nichtberücksichtigung in „The law“

Mit der Kategorie A wird festgehalten, ob das betreffende Europaratsdokument durch den Gerichtshof in der Urteilsbegründung verwendet wurde (1.), oder nur außerhalb davon (2.); letztere Variante betrifft Fälle, in denen das Europaratsdokument lediglich in „The facts“ aufgeführt, dann aber nicht in der Urteilsbegründung herangezogen wurde, beziehungsweise in denen das Dokument nur in den Ausführungen der Parteien, der am Verfahren beteiligten Dritten oder nur in einem Sondervotum zitiert wurde. Die Heranziehung in der Urteilsbegründung kann dabei auf unterschiedliche Arten erfolgen: Eine namentliche Nennung des Europaratsdokuments und eine darauffolgende inhaltliche Auseinandersetzung damit wurde hier ebenso eingeordnet wie der bloße Verweis auf die Randnummer, in der das Dokument in „The facts“ aufgeführt wurde. Urteile im Fallpool, die lediglich Zufallstreffer waren, sind hier unter 3. aufgeführt.14 2. Kategorie B – Jahr

In der Kategorie B wird festgehalten, in welchem Jahr das jeweilige Urteil erging.

13  Mit ähnlichen Erwägungen erklären Kapotas und Tzevelekos auch den Umstand, dass es zur Rechtsprechung des EGMR insgesamt kaum quantitative Untersuchungen gibt, vgl. Kapotas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 11 sowie Fn. 44 mit Verweis auf Fn. 89. Siehe vor diesem Hintergrund auch die Aufforderung Johnsons und Onwuegbuzies, die methodische Herangehensweise anhand ihrer Sinnhaftigkeit hinsichtlich der ­jeweiligen Forschungsfrage zu bestimmen, Johnson/Onwuegbuzie, Educational Researcher 33 (2004), 14, 15. 14  Genauer, auch mit konkreten Beispielen, hierzu sogleich (Fn. 21 im Dritten Teil).

104 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten 3. Kategorie C – Konventionsartikel

Mit der Kategorie C wird festgehalten, bei der Prüfung welches Artikels das Europaratsdokument zitiert wurde. Dabei wird Art. 14 EMRK nicht alleinstehend angeführt, da diesem nach ständiger Rechtsprechung des EGMR keine eigenständige Bedeutung zukommt.15 Wird also beispielsweise Art. 8 i. V. m. Art. 14 EMRK geprüft, wird dieser Fall zu Art. 8 EMRK gezählt. In Annex 2 ist aber aufgeführt, wenn ein Konventionsartikel i. V. m. Art. 14 EMRK geprüft wurde. 4. Kategorie D – Methodischer Zusammenhang

In der Kategorie D werden die Urteile näher untersucht, in denen Europaratsdokumente in der Urteilsbegründung herangezogen wurden (also Kategorie A, 1.). Hier wird angegeben, ob das Europaratsdokument neben anderen Erkenntnisquellen (1.) oder alleinstehend (2.) berücksichtigt wurde. Diese Unterteilung erfolgt zum einen vor dem Hintergrund, dass eine alleinstehende Berücksichtigung von Europaratsdokumenten besonderen Nährboden für die Kritik an der Urteilsfindung anhand von Soft Law bietet. Während andere Erkenntnisquellen neben Soft Law als Korrektiv für das rechtsvergleichende Ergebnis fungieren können, wird mit der Auslegung oder Anwendung der EMRK lediglich anhand eines Europaratsdokuments die Kritik an der Auslegung eines rechtsverbindlichen Vertrags anhand eines rechtsunverbindlichen Übereinkommens in besonderem Maße fruchtbar. Eine gesonderte Betrachtung alleinstehender Verweise auf Europaratsdokumente ermöglicht daher eine explizite Untersuchung dieses besonders kontroversen Falles. Darüber hinaus kann anhand der anderen Fälle das Verhältnis von Europaratsdokumenten zu anderen Erkenntnisquellen untersucht werden. Unter 1. wurden alle Fälle gefasst, in denen Europaratsdokumente nicht die einzige Erkenntnisquelle ausmachten, also daneben zumindest andere ­Arten internationaler Soft Law-Dokumente, beziehungsweise völkerrechtliche Verträge oder ein Rechtsvergleich zwischen den nationalen Rechtsordnungen in der Urteilsbegründung herangezogen wurden. Als alleinstehend (2.) gelten dagegen Fälle, in denen Europaratsdokumente an keiner Stelle des Urteils gemeinsam mit anderen Arten von Erkenntnisquellen herangezogen wurden, sondern lediglich eines herangezogen wurde, beziehungsweise mehrere Europaratsdokumente nebeneinander zitiert wurden. Die Urteile unter 1., in denen Europaratsdokumente gemeinsam mit anderen Erkenntnisquellen berücksich15  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Oršuš a.  o. v. Croatia, 16.03.2010 – 15766/03, Rn. 144: „Article 14 has no independent existence, but plays an important role by complementing the other provisions of the Convention and its Protocols.“



§ 2 Untersuchungsvorgehen105

tigt wurden, berücksichtigen diese also unter Umständen an anderer Stelle auch alleinstehend. II. Qualitative Untersuchung Neben der Einbeziehung der oben genannten Daten besteht der weitaus größere Teil der Arbeit aus einer qualitativen Untersuchung der Urteile. Hier werden im Hinblick auf die soeben dargestellten konkreten Fragestellungen die Anwendungsbereiche von Europaratsdokumenten, sowie deren Funktionen und Stellwerte in den Ausführungen des EGMR untersucht. Eingehend soll dabei vor allem die Berücksichtigung von Europaratsdokumenten neben anderen Erkenntnisquellen im Rahmen der Konsens-Prüfung analysiert werden. Die Untersuchung befasst sich in diesem Rahmen auch mit grundlegenden Kriterien der Konsens-Methode, welche Auswirkungen auf die Rolle von Europaratsdokumenten haben könnten. Im Gegensatz zu einer quantitativen bietet eine qualitative Untersuchung die Möglichkeit, die Urteilsbegründungen in ihrem Zusammenhang zu erörtern und bei den Ergebnissen zur Auswahl von Erkenntnisquellen im konkreten Fall gegebenenfalls auch auf relevante Umstände des konkreten Einzelfalls hinzuweisen. Darüber hinaus können auch das Stimmverhalten der Richter sowie eventuelle Sondervoten berücksichtigt werden, sofern diese relevant sind. So soll ein möglichst umfassender Einblick in das verfolgte Untersuchungsinteresse erlangt werden.16 Die Analyse erfolgt dabei in dem Bewusstsein, dass die Urteilsbegründungen nur bedingt Aufschluss über die tatsächlich relevanten Gründe für die Entscheidung des EGMR geben können. Die Untersuchung ist dementsprechend deskriptiv in dem Sinne, dass aus den Urteilsbegründungen nicht auf Kausalitäten geschlossen wird. Schließlich vermag die Analyse des Urteilstextes nur sehr bedingt einen Einblick in die Köpfe der Richter zu eröffnen.17 Womöglich geben die Urteilsbegründungen gar nicht wieder, wie der Entscheidungsprozess tatsächlich abgelaufen ist.18 Für die rechtswissenschaftliche Bewertung einer richterlichen Entscheidung ist dies jedoch nicht 16  Zu den Vor- und auch Nachteilen qualitativer Forschung siehe auch Johnson/ Onwuegbuzie, Educational Researcher 33 (2004), 14, 20. 17  Für eine andere Methode zur Untersuchung des Einflusses rechtsvergleichender Untersuchungen auf den Urteilsausspruch siehe Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, der seine Arbeit unter anderem auf Interviews mit EGMR-Richtern stützt. 18  Zur Differenzierung zwischen „rekonstruierende[r] Begründung“ und „kon­ struierte[r] Begründung“ siehe Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 12–20.

106 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

hinderlich. Die Urteilsausführungen des EGMR sind dessen offizielle Begründung für die im konkreten Fall getroffene Entscheidung. Hier muss der Gerichtshof die Gründe für sein Urteil nachvollziehbar darlegen, und an diesen muss er seine Entscheidungen auch messen lassen.19

§ 3 Allgemeine Untersuchungsergebnisse In 89 der insgesamt 177 untersuchten Fälle berücksichtigte die Große Kammer20 Dokumente des Europarats im Rahmen der Urteilsbegründung unter „The law“. In 41 Fällen wurden Europaratsdokumente demgegenüber nicht in der Urteilsbegründung berücksichtigt, sondern lediglich in „The facts“ aufgeführt oder von den Verfahrensbeteiligten beziehungsweise von einzelnen Richtern in ihren Sondervoten herangezogen. Diese 130 Urteile bilden damit die Grundlage für die folgende empirische Analyse. Die übrigen 47 Urteile waren demgegenüber Zufallstreffer in der Hudoc-Datenbank, in denen die gesuchten Europaratsdokumente nicht vorkamen.21 Das früheste im Fallpool enthaltene Urteil ist von 1994.22 Es wurden alle Urteile der Großen Kammer bis Ende 2018 aufgenommen. Bei der Betrach19  Zur Begründungspflicht bei (richterlichen) Entscheidungen siehe grundlegend Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 18 ff. 20  Im Folgenden wird die Große Kammer im Sinne eines vereinfachten Leseverständnisses auch unter die allgemeinen Begriffe EGMR sowie „der Gerichtshof“ gefasst. Lediglich bei Erörterungen der vorangegangenen Kammerentscheidung wird ausdrücklich zwischen Kammer und Großer Kammer differenziert. 21  Teilweise wurden die Suchbegriffe beispielsweise nur zufällig in Urteilen genannt, in denen auch Bezeichnungen der Europaratsorgane verwendet wurden, ohne dass damit ein Europaratsdokument zitiert wurde. Als Berücksichtigung wurde zudem nur ein ausdrücklicher Verweis auf Europaratsdokumente gewertet; ein Verweis auf ein früheres Urteil (oder ein internationales Übereinkommen beziehungsweise sonstiges Dokument), in dem Europaratsdokumente berücksichtigt wurden, reichte dafür nicht aus. Da Individualbeschwerden untersucht werden sollen, wurden zu den Zufallstreffern auch Staatenbeschwerden gezählt. Dies gilt weiter für Urteile, in denen Resolutionen des Ministerkomitees vorkamen, die es noch im Rahmen seiner ehemaligen Funktion als Teil des Straßburger Rechtsprechungsmechanismus erlassen hat (siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Loizidou v. Turkey, 18.12.1996 – 15318/89, Rn. 35), oder die im Zusammenhang mit der Überwachung der Umsetzung von EGMR-Urteilen durch die Staaten nach § 46 Abs. 2 EMRK beschlossen worden sind (Res DH). 22  Der EGMR wurde in seiner heutigen Form als ständiger Gerichtshof zwar erst durch das ZP 11 etabliert; bereits zuvor existierte allerdings ein Rechtsschutzsystem aus Kammern und einer Großen Kammer des EGMR, siehe Peukert, in: Frowein/ Peukert (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 43, S. 654 f. Besondere Fälle, die eine „schwerwiegende, die Auslegung der Konvention berührende Frage“ aufwarfen, oder die „zu einem Widerspruch mit einem früheren Urteil des Gerichtshofs führen“ konnten, konnten (beziehungsweise mussten im letzteren Fall) an die



§ 3 Allgemeine Untersuchungsergebnisse107

14 12

Anzahl der Urteile

10 8

Berücksichtigung in „The law“ Nichtberücksichtigung in „The law“

6 4 2

1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

0 Jahr

Abbildung 1: Entwicklung der Rolle von Europaratsdokumenten in den Urteilen der Großen Kammer

tung der Anzahl von Urteilen, in denen der EGMR über die Jahre hinweg Europaratsdokumente berücksichtigt hat, wird deutlich, dass dieses Vorgehen von Beginn an in der Rechtsprechung der Großen Kammer vorzufinden ist. Mehrere Autoren haben festgestellt, dass Verweise auf internationale Übereinkommen zugenommen haben.23 Dies hat sich hinsichtlich der vorliegend untersuchten Europaratsdokumente teilweise bestätigt, wie aus Abbildung 1 ersichtlich wird. Während von 1994 bis Anfang der 2000er Jahre nur vereinzelt Europaratsdokumente in den Urteilsbegründungen aufgegriffen wurden, ist die Anzahl seit 2008 – und damit auch dem Jahr, in dem der Gerichtshof in Demir and Große Kammer überwiesen werden, Art. 53 Abs. 1 VerfO, Frowein/Peukert, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, VerfO (A) des GH, S. 973 (beziehungsweise Art. 51 Abs. 1 VerfO i. d. F. vom 27.10.1993, für alle Staaten die das ZP 9 noch nicht ratifiziert hatten, Frowein/Peukert, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, VerfO (A) des GH, S. 938, 953 f.). Auch diese Urteile der Großen Kammer wurden entsprechend in die vorliegende Untersuchung mit aufgenommen. 23  Siehe bereits Fn. 52 im Zweiten Teil.

108 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Baykara v. Turkey die Bedeutung internationaler Übereinkommen für die Auslegung und Anwendung der EMRK grundlegend dargelegt hat – insgesamt angestiegen. Dabei wurden Europaratsdokumente nicht nur in „The facts“, den Ausführungen der Verfahrensbeteiligten oder in Sondervoten angeführt, sondern oftmals auch in der Urteilsbegründung vom Gerichtshof selbst herangezogen. Die vergleichsweise hohen Zahlen 1999, 2001 und 2006 sind insofern irreführend, als hier am jeweils selben Tag vier, fünf beziehungsweise zehn Urteile in Fällen mit vergleichbarem Sachverhalt gegen denselben Staat gefällt wurden. Diese Fälle sind daher nicht aussagekräftig für die allgemeine Berücksichtigung von Europaratsdokumenten in der Rechtsprechung des EGMR, sondern stehen vielmehr für lediglich jeweils ein Beispiel, in dem der EGMR für die Beurteilung einer Konventionsverletzung auf Europaratsdokumente zurückgegriffen hat. Seit 2008 gab es Jahre, in denen die Große Kammer vergleichsweise oft Europaratsdokumente heranzog, aber auch einige in denen dies seltener vorkam. Da der Untersuchungsgegenstand mit Europaratsdokumenten vorliegend sehr konkret gewählt ist, scheint die Frage nach konkreten Gründen für die Schwankungen wenig fruchtbar. Im Einzelfall können zahlreiche Umstände für die (unterbliebene) Heranziehung eines Europaratsdokuments ausschlaggebend sein. Festgehalten werden soll hier mithin lediglich, dass die Große Kammer in ihren Urteilsbegründungen insgesamt regelmäßig auf Europaratsdokumente Bezug nimmt.24

A. Anwendungsbereiche und methodische Zusammenhänge der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten In 89 der untersuchten Urteile verwendete die Große Kammer Europaratsdokumente bei der Prüfung einer Konventionsverletzung unter dem Punkt „The law“. Anhand dieser Urteile können mithin die Anwendungsbereiche und methodischen Zusammenhänge der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten in den Urteilsbegründungen des EGMR näher untersucht werden. I. Anwendungsbereiche Die Berücksichtigung von Europaratsdokumenten kann an allen Stellen der Urteilsbegründung erfolgen. Dabei können grundsätzlich mehrere wesentliche Anwendungsbereiche unterschieden werden; die Zuteilung eines 24  Diese Feststellung stimmt auch mit dem Ergebnis der Untersuchung von Staes zu Verweisen auf „external instruments“ generell überein, siehe Staes, When the Euro­pean Court of Human Rights refers to External Instruments to interpret the Euro­ pean Convention, S. 5.



§ 3 Allgemeine Untersuchungsergebnisse109

Verweises auf ein Europaratsdokument zu einem konkreten Anwendungsbereich ist jedoch angesichts der in dieser Hinsicht oftmals schwammigen Ausführungen des Gerichtshofs nicht immer eindeutig möglich. Überdies sind die Grenzen zwischen einzelnen Anwendungsbereichen mitunter fließend. Angesichts dessen war eine quantitative Untersuchung der Anwendungsbereiche von Europaratsdokumenten auch nicht sinnvoll möglich. Im Folgenden werden daher lediglich die wesentlichen Anwendungsbereiche skizziert und jeweils mit Beispielen belegt, bei denen die Zuteilung nach der hier vertretenen Auffassung vergleichsweise deutlich erschien. Anzumerken ist, dass Europaratsdokumente in einigen Urteilen auch an mehreren Stellen in der Urteilsbegründung herangezogen wurden. Hier liegen also mehrere Anwendungsbereiche vor.25 Zunächst können Europaratsdokumente in den Urteilsbegründungen des EGMR zur Bemessung der margin of appreciation26 sowie bei der Verhält25  So in EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04 (Zunächst erklärte der EGMR unter anderem anhand von Europaratsdokumenten, die margin of appreciation sei verringert (Rn. 134–136), und verwies daraufhin in der Abwägung (Rn. 142 ff.) zur Verhältnismäßigkeitsprüfung wiederum auf internationale Übereinkommen, darunter auch Europaratsdokumente (Rn. 145).); EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04 (Unter „General principles“ erläuterte er zunächst unter Verweis auf zwei Empfehlungen des Ministerkomitees sowie die Datenschutzkonvention des Europarats grundlegende Prinzipien, die beim Datenschutz im Sinne des Schutzes der Privatsphäre sowie der Familie aus Art. 8 EMRK beachtet werden müssen (Rn. 103), bevor er sodann die margin of appreciation anhand rechtsvergleichender Informationen, darunter auch Europaratsdokumente, bemaß (Rn. 107–112).); EGMR (Große Kam­ mer) – Von Hannover v. Germany (No. 2), 07.02.2012 – 40660/08, 60641/08 (margin of appreciation: Rn. 106; Verhältnismäßigkeitsprüfung (unter „The criteria relevant for the balancing exercise“, Rn. 108): Rn. 110); EGMR (Große Kammer) – Axel Springer AG v. Germany, 07.02.2012 – 39954/08 (margin of appreciation: Rn. 87; Verhältnismäßigkeitsprüfung: Rn. 96). 26  EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Rn. 79 ff. (insbesondere Rn. 82); EGMR (Große Kammer) – Parrillo v. Italy, 27.08.2015 – 46470/11, Rn. 176 ff. (insbesondere Rn. 181); EGMR (Große Kammer) – Animal Defenders International v. The United Kingdom, 22.04.3013 – 48876/08, Rn. 123; EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 148 ff. (insbesondere Rn. 150); EGMR (Große Kammer) – Fabris v. France, 07.02.2013 – 16574/08, Rn. 58; EGMR (Große Kammer) – Stummer v. Austria, 07.07.2011 – 37452/02, Rn. 104 f.; EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 107 und 110; EGMR (Große Kammer) – Chapman v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 27238/95, Rn. 91 ff. (insbesondere Rn. 93), sowie die vergleichbaren Fallgestaltungen in EGMR (Große Kam­ mer) – Lee v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 25289/94, Rn. 95; EGMR (Große Kammer) – Jane Smith v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 25154/94, Rn. 100; EGMR (Große Kammer) – Coster v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 24876/94, Rn. 107; EGMR (Große Kammer) – Beard v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 24882/94, Rn. 104.

110 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

nismäßigkeitsprüfung27 berücksichtigt werden. Wie bereits dargelegt, ist eine Unterscheidung dieser beiden Rechtsfiguren mit Schwierigkeiten verbunden.28 Dies galt dementsprechend auch hinsichtlich der Zuordnung von Bezugnahmen auf Europaratsdokumente zu einem dieser beiden Anwendungsbereiche. Bei dem Versuch, gleichwohl eine Zuordnung vorzunehmen, hat sich die vorliegende Arbeit an den unmittelbaren Ausführungen des EGMR im Zusammenhang mit der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten orientiert. In Animal Defenders International v. The United Kingdom beispielsweise prüfte der EGMR einen Konsens unter der Überschrift „Proportionality“,29 führte die Konsens-Prüfung aber konkret im Zusammenhang mit der Bemessung der margin of appreciation durch.30 Die dabei erfolgte Bezugnahme auf Europaratsdokumente wurde daher der margin of 27  EGMR (Große Kammer) – Molla Sali v. Greece, 19.12.2018 – 20452/14, Rn. 140 und 154; EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn. 133; EGMR (Große Kammer)  – Medžlis Islamske Zajednice Brčko a. o. v. Bosnia and Herzegowina, 27.06.2017 – 17224/11, Rn. 80 (siehe den Querverweis auf Rn. 43 f.); EGMR (Große Kammer) – Al-Dulimi and Montana Management Inc. v. Switzerland, 21.06.2016 – 5809/08, Rn. 153; EGMR (Große Kammer) – Roman Zakharov v. Russia, 04.12.2015 – 47143/06, Rn. 287; EGMR (Große Kammer) – Couderc and Hachette Filipacchi Associés v. France, 10.11.2015 – 40454/07, Rn. 120; EGMR (Große Kammer) – Sargsyan v. Azerbaijan, 16.06.2015 – 40167/06, Rn. 237; EGMR (Große Kammer) – Vallianatos a. o. v. Greece, 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09, Rn. 91; EGMR (Große Kammer) – Konstantin Markin v. Russia, 22.03.2012 – 30078/06, Rn. 140 (die Zuordnung zur Verhältnismäßigkeitsprüfung scheint hier indes besonders streitbar, da der Gerichtshof einen europäischen Konsens unter den „General principles“ noch im Zusammenhang mit der Bemessung der mar­ gin of appreciation benannt hatte, Rn. 126; da die rechtsvergleichenden Ausführungen jedoch im Rahmen der Frage erfolgten, ob die in Rede stehende Ungleichbehandlung „objectively and reasonably justified“ war (Rn. 133), scheint sie aber angebracht); EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 244; EGMR (Große Kammer)  – Tănase v. Moldova, 27.04.2010  – 7/08, Rn. 176; EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 130; EGMR (Große Kammer) – Maslov v. Austria, 23.06.2008 – 1638/03, Rn. 73; EGMR (Große Kammer) – Stoll v. Switzerland, 10.12.2007 – 69698/01, Rn. 111; EGMR (Große Kammer) – Sørensen and Rasmussen v. Denmark, 11.01.2006 – 52562/99, 52620/99, Rn. 72 (die hier in Bezug genommene Empfehlung des Ministerkomitees war indes letztlich nicht verabschiedet worden). Nicht direkt unter dem Begriff „proportionality“, sondern bei der Prüfung von „relevant and sufficient grounds“ für die staatliche Maßnahme: EGMR (Große Kammer) – Correia de Matos v. Portugal, 04.04.2018 – 56402/12, Rn. 154. Schlicht unter der Frage der „justification“ des vorliegenden Eingriffs: EGMR (Große Kammer) – Chiragov a.  o. v. Armenia, 16.06.2015 – 13216/05, Rn. 198 f. 28  Vgl. erneut „Zweiter Teil, § 2 C. II. 2.“ 29  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Animal Defenders International v. The United Kingdom, 22.04.3013 – 48876/08, die Überschrift zu Rn. 113 ff. 30  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Animal Defenders International v. The United Kingdom, 22.04.3013 – 48876/08, Rn. 123.



§ 3 Allgemeine Untersuchungsergebnisse111

appreciation zugeordnet. An diesem Beispiel zeigt sich indes erneut die Schwierigkeit einer Abgrenzung dieser beiden Rechtsfiguren, beziehungsweise die Berechtigung der Frage, ob eine solche überhaupt möglich ist. Darüber hinaus zieht der Gerichtshof Europaratsdokumente auch bei der Auslegung von Konventionsbestimmungen (meist auf Schutzbereichsebene) heran,31 wiederum sowohl im Rahmen des europäischen Konsenses als auch alleinstehend. Auch bei der Anwendung bestimmter, zuvor (durch Auslegung) hergeleiteter Grundsätze für die Prüfung einer Konventionsverletzung werden Europaratsdokumente in einigen Urteilsbegründungen berücksichtigt.32 Vereinzelt werden Europaratsdokumente bei der Rechtfertigungsprü31  EGMR (Große Kammer) – Hutchinson v. The United Kingdom, 17.01.2017 – 57592/08, Rn. 42, 49, 58, 65; EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 145; EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 167; EGMR (Große Kammer) – Murray v. The Netherlands, 26.04.2016 – 10511/10, Rn. 101 f.; EGMR (Große Kammer) – Blokhin v. Russia, 23.03.2016 – 47152/06, Rn. 138, 203 und 207; EGMR (Große Kammer) – Bochan v. Ukraine (No. 2), 05.02.2015 – 22251/08, Rn. 58; EGMR (Große Kammer) – O’Keeffe v. Ireland, 28.01.2014 – 35810/09, Rn. 147; EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 115 f.; EGMR (Große Kammer) – Boulois v. Luxembourg, 03.04.2012 – 37575/04, Rn. 103; EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 107; EGMR (Große Kammer) – Enea v. Italy, 17.09.2009 – 74912/01, Rn. 101; EGMR (Große Kammer) – Salduz v. Turkey, 27.11.2008 – 36391/02, Rn. 52 f.; EGMR (Große Kam­ mer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 104; EGMR (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 101; EGMR (Große Kam­ mer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99, Rn. 55 f.; EGMR (Große Kammer)  – Leyla Şahin v. Turkey, 10.11.2005  – 44774/98, Rn. 136; EGMR (Große Kammer) – Perez v. France, 12.02.2004 – 47287/99, Rn. 68 und 72; EGMR (Große Kammer) – Öneryıldız v. Turkey, 30.11.2004 – 48939/99, Rn. 71; EGMR (Große Kam­ mer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 76; EGMR (Große Kammer) – T. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24724/94, Rn. 74. Schwierig zuzuordnen waren die rechtsvergleichenden Ausführungen des EGMR in EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 73 (siehe bereits „Zweiter Teil, § 2 C. III.“), die jedoch unmittelbar eher der Auslegung von Art. 3 ZP 1 zuzuordnen sind. Für eine Auslegung auf Rechtfertigungsebene siehe EGMR (Große Kammer) – Saadi v. The United Kingdom, 29.01.2008 – 13229/03, Rn. 65 (genauere Darstellung sogleich in Fn. 33 im Dritten Teil). Zur Auslegung von Konventionsbestimmungen können im weiteren Sinne auch die Verweise auf Europaratsdokumente im Rahmen der Fälle gezählt werden, in denen der Gerichtshof sich mit den infolge eines Urteils erforderlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit Art. 46 EMRK befasste, siehe dazu sogleich unter „Dritter Teil, § 5 D.“ 32  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Bouyid v. Belgium, 28.09.2015 – 23380/09, Rn. 108 und 110; EGMR (Große Kammer) – Ramirez Sanchez v. France, 04.07.2006 – 59450/00, Rn. 130. Da der Gerichtshof mitunter nicht deutlich zwischen Rechtsauslegung und -anwendung trennt, ist die Einordnung von Verweisen auf Europaratsdokumente allerdings teilweise nicht eindeutig möglich. Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Bottazzi v. Italy, 28.07.1999 – 34884/97, Rn. 23, sowie die ähnli-

112 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

fung auch außerhalb des fair balance-Tests berücksichtigt, etwa bei der Frage ob die in Rede stehende staatliche Maßnahme ein legitimes Ziel verfolgt.33 Darüber hinaus zieht der Gerichtshof sie auch in allgemeinen Ausführungen zu den Hintergründen des Falles, beziehungsweise zum grundsätzlichen Rahmen seiner Entscheidung heran, welche er teilweise unter Überschriften wie „General Principles“ oder „Introductory remarks“ der Prüfung des konkreten Falles voranstellt. Hier erörtert er Grundlagen oder Prinzipien, die bei seiner Entscheidung beachtet werden sollen.34 Diese Ausführungen stellen noch nicht die eigentliche Prüfung einer Konventionsverletzung im konkreten Fall

chen Fälle EGMR (Große Kammer) – Ferrari v. Italy, 28.07.1999 – 33440/96, Rn. 21; EGMR (Große Kammer) – Di Mauro v. Italy, 28.07.1999 – 34256/96, Rn. 23; EGMR (Große Kammer) – A. P. v. Italy, 28.07.1999 – 35265/97, Rn. 18. 33  EGMR (Große Kammer) – Brosset-Triboulet a.  o. v. France, 29.03.2010 – 34078/02, Rn. 84 (siehe den Verweis auf Rn. 55), sowie EGMR (Große Kammer) – Depalle v. France, 29.03.2010 – 34033/02, Rn. 81 (siehe den Verweis auf Rn. 54), dem eine vergleichbare Fallgestaltung zugrundelag. Darüber hinaus prüfte der Gerichtshof in EGMR (Große Kammer) – Perinçek v. Switzerland, 15.10.2015 – 27510/08, Rn. 258 ff., ob die staatliche Maßnahme gerechtfertigt sei, weil sie aufgrund von Verpflichtungen der Schweiz aus internationalem Recht erforderlich war, und berücksichtigte dabei eine Empfehlung des Ministerkomitees (Rn. 261). In EGMR (Große Kammer) – Saadi v. The United Kingdom, 29.01.2008 – 13229/03, Rn. 65, legte er die Bestimmung von Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK, wonach die Freiheit einer Person „zur Verhinderung der unerlaubten Einreise“ entzogen werden darf, unter Berücksichtigung von Europaratsdokumenten aus. 34  In EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 182, verdeutlichte der Gerichtshof unter Verweis auf Europaratsdokumente allgemein die schwierige Situation der Roma in Europa: „The Court notes that as a result of their turbulent history and constant uprooting the Roma have become a specific type of disadvantaged and vulnerable minority (see also the general observations in the [PACE Rec.] 1203 (1993) on Gypsies in Europe, […], and point 4 of its Recommendation no. 1557 (2002) on the legal situation of Roma in Europe […]).“ Diese Ausführungen wurden erneut aufgegriffen in EGMR (Große Kammer) – Oršuš a. o. v. Croatia, 16.03.2010 – 15766/03, Rn. 147. In EGMR (Große Kammer) – Centro Europa 7 S.R.L. and Di Stefano v. Italy, 07.06.2012 – 38433/09, Rn. 134, verwies er unter allgemeinen Ausführungen zu den „General principles concerning pluralism in the audio-visual media“ auf eine Empfehlung des Ministerkomitees. In EGMR (Große Kammer) – Delfi AS v. Estonia, 16.06.2015 – 64569/09, Rn. 113, verwies er unter dem Punkt „Preliminary remarks and the scope of the Court’s assessment“ auf eine Empfehlung des Ministerkomitees. In EGMR (Große Kammer) – Kovačić a. o. v. Slovenia, 03.10.2018 – 44574/98 a. o., Rn. 256, verwies er unter dem Punkt „Introductory Remarks“ auf eine Resolution der Parlamentarischen Versammlung. In EGMR (Große Kammer) – Correia de Matos v. Portugal, 04.04.2018 – 56402/12, Rn. 141, verwies er im Rahmen der „General principles“ auf eine Empfehlung des Ministerkomitees. Siehe weiter EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 103 (vgl. hierzu bereits Fn. 25 im Dritten Teil).



§ 3 Allgemeine Untersuchungsergebnisse113

dar, wobei die Grenze hierzu jedoch fließend ist.35 Schließlich berücksichtigt der Gerichtshof Europaratsdokumente in seinen Urteilen vereinzelt auch zur Erläuterung des Sachverhalts beziehungsweise der Hintergründe des Falles, oder zur Beweisführung.36 Dabei dienen sie unterdessen nicht als Grundlage einer rechtsvergleichenden Untersuchung zur Auslegung oder Anwendung der EMRK, mit der er seine Urteilsfindung argumentativ unterstützt. Diese Fälle können daher keinen weitergehenden Aufschluss hinsichtlich der beschriebenen Untersuchungsziele geben und werden in den folgenden Ausführungen nicht näher behandelt. II. Methodik In methodischer Hinsicht kann zwischen zwei Arten der Berücksichtigung differenziert werden: Mitunter verweist der Gerichtshof nur alleinstehend auf Europaratsdokumente; dies war in 34 der untersuchten Urteile der Fall. Mitunter zieht er Europaratsdokumente rechtsvergleichend neben anderen Er35  Erneut sei daher angemerkt, dass zwischen den vorliegend unterschiedenen Anwendungsbereichen eine eindeutige Differenzierung nicht sinnvoll möglich ist. Dies wird etwa anhand des soeben in Fn. 34 in diesem Teil angeführten Falles Delfi AS v. Estonia deutlich, wo der Gerichtshof ein Europaratsdokument heranzog, um eine Entwicklung zugunsten einer Differenzierung zwischen rechtlichen Vorgaben zur Regulierung der Aktivitäten von Printmedien und Onlinemedien zu begründen. Hieraus ergebe sich, dass „because of the particular nature of the Internet, the ‚duties and ­responsibilities‘ that are to be conferred on an Internet news portal for the purposes of Article 10 may differ to some degree from those of a traditional publisher as regards third-party content.“, EGMR (Große Kammer) – Delfi AS v. Estonia, 16.06.2015 – 64569/09, Rn. 113. Diese Aussage wurde soeben lediglich als Vorbemerkung für die folgende Prüfung gewertet, zugleich erscheint es aber zumindest nicht ausgeschlossen, sie bereits als Teil der Abwägung für die Frage einer Konven­ tionsverletzung einzuordnen. 36  In EGMR (Große Kammer) – Baka v. Hungary, 23.06.2016 – 20261/12, Rn. 148, wurde ein Europaratsdokument als Beweismittel für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Meinungsäußerungen des Beschwerdeführers und dessen vorzeitiger Entlassung aus dem Amt als Präsident des Ungarischen Supreme Court herangezogen. In EGMR (Große Kammer) – El-Masri v. The Former Yugoslav Repub­lic of Macedonia, 13.12.2012 – 39630/09, Rn. 218, zog der Gerichtshof eine Resolution der Parlamentarischen Versammlung als Beweismittel bei der Erörterung der Menschenrechtslage im US-Gefangenenlager Guantanamo heran. Siehe auch die Berücksichtigung einer Resolution der Parlamentarischen Versammlung in EGMR (Große Kammer) – Mozer v. Moldova and Russia, 23.03.2016 – 11138/10, Rn. 107, zur Frage der Hoheitsgewalt Russlands in dem konkreten Fall im Sinne von Art. 1 EMRK; weiter EGMR (Große Kammer)  – Cumpănă and Mazăre v. Romania, 17.12.2004 – 33348/96, Rn. 56. Die Grenze zur Auslegung ist dabei jedoch fließend. Siehe auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 46 m. w. N.

114 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

kenntnisquellen wie völkerrechtlichen Verträgen, beziehungsweise neben dem nationalen Recht der Europaratsstaaten heran – oftmals unter Verweis auf die Suche nach einem europäischen Konsens. Dies war in 55 der untersuchten Urteile der Fall. In diesem Zusammenhang ist erneut auf die oben angesprochene Frage nach dem Verhältnis von rechtsvergleichender Argumentation und europäischem Konsens zurückzukommen37: Aus den untersuchten Urteilen konnten keine zweifelsfreien Schlüsse hinsichtlich der Frage gezogen werden, ob der EGMR rechtsvergleichende Untersuchungen immer als Konsens-Prüfung einordnen würde. Rechtsvergleichende Prüfungen unter Berücksichtigung eines Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten, ob neben internationalen Übereinkommen oder alleinstehend, erfolgten überwiegend38 ausdrücklich in Bezug auf die Suche nach einem europäischen Konsens.39 Demgegenüber verwies der Gerichtshof bei der rechtsvergleichenden Argumentation lediglich an internationalem Recht in der überwiegenden Zahl der untersuchten Fälle nicht auf die Suche nach einem europäischen Konsens.40 Dies spricht für das beschriebene Vorgehen vieler Autoren, derartige Prüfungen außerhalb der Konsens-Methode einzuordnen. Allerdings ordnete der Gerichtshof derartige Prüfungen mitunter in seine „Konsens-Dogmatik“ ein, und verwies hier auf die Suche nach einem internationalen Konsens.41 Vor 37  Vgl.

erneut „Zweiter Teil, § 2 B. IV.“ lediglich vereinzelt, siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99, Rn. 55; EGMR (Große Kammer) – Molla Sali v. Greece, 19.12.2018 – 20452/14, Rn. 158 f.; EGMR (Große Kammer) – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017 – 61496/08, Rn. 133. 39  Diese Feststellung macht auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 255. 40  Vgl. etwa in EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn.  143 ff.; EGMR (Große Kammer) – Öneryıldız v. Turkey, 30.11.2004 – 48939/99, Rn. 71; EGMR (Große Kammer) – O’Keeffe v. Ireland, 28.01.2014 – 35810/09, Rn. 147; EGMR (Große Kammer) – Ramirez Sanchez v. France, 04.07.2006 – 59450/00, Rn. 130; EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 76; EGMR (Große Kammer) – Al-Dulimi and Montana Management Inc. v. Switzerland, 21.06.2016 – 5809/08, Rn. 153; EGMR (Große Kammer) – Saadi v. The United Kingdom, 29.01.2008 – 13229/03, Rn. 65. EGMR (Große Kammer) – Salduz v. Turkey, 27.11.2008 – 36391/02, Rn. 53; EGMR (Große Kammer) – Stoll v. Switzerland, 10.12.2007 – 69698/01, Rn. 102; EGMR (Große Kammer) – Baka v. Hungary, 23.06.2016 – 20261/12, Rn. 121; EGMR (Große Kam­ mer) – Oršuš a. o. v. Croatia, 16.03.2010 – 15766/03, Rn. 147; EGMR (Große Kam­ mer) – Leyla Şahin v. Turkey, 10.11.2005 – 44774/98, Rn. 136. So auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 255. 41  So etwa in EGMR (Große Kammer) – Chapman v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 27238/95, Rn. 93. In EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 140, erklärte der Gerichtshof hinsichtlich seiner Untersuchung internationaler Übereinkommen: „A high degree of 38  Anders



§ 3 Allgemeine Untersuchungsergebnisse115

diesem Hintergrund erscheint es einerseits künstlich, lediglich aufgrund eines unterbliebenen Verweises auf die Suche nach einem (europäischen) Konsens auf zwei verschiedene Konzepte rechtsvergleichender Auslegung des Gerichtshofs zu schließen. Immerhin pflegt der EGMR wie bereits dargelegt mit den Begrifflichkeiten bei der Konsens-Suche eine ohnehin inkohärente Praxis. Seine Wortwahl bei der Beschreibung dieser rechtsvergleichenden Untersuchung scheint insgesamt eher zufällig zu erfolgen. Andererseits ist angesichts der Tatsache, dass im Rahmen der Argumentation anhand lediglich internationaler Übereinkommen in aller Regel kein derartiger Verweis erfolgte, in der Tat denkbar, dass der EGMR diese rechtsvergleichenden Ausführungen nicht als Konsens-Prüfung auffasst. Im Vierten Teil wird erneut hierauf zurückzukommen sein.

B. Stellenwert von Bezugnahmen auf Europaratsdokumente in den Urteilsbegründungen Der Gerichtshof äußert sich selten ausdrücklich zu dem Stellenwert, den er einem Verweis auf ein Europaratsdokument einräumt.42 Aus dem Kontext derartiger Verweise erschließt sich unterdessen, dass diese unterschiedliche Stellenwerte in den Urteilsbegründungen einnehmen können. Im weitesten Sinne ist hier zunächst zwischen einer Bezugnahme in „The facts“ und „The law“ zu differenzieren. Wenn der Gerichtshof Europaratsdokumente in „The facts“, infolge der Sachverhaltsdarstellung aufführt, werden sie als (poten­ ziell) entscheidungsrelevante rechtsvergleichende Information aufgenommen. Diese Darstellung erfolgt in erster Linie zu lediglich informatorischen Zwecken.43 Nußberger spricht auch von einer dokumentarischen Funktion.44 Werden sie dagegen in „The law“ herangezogen, sind sie ein Bestandteil der Urteilsbegründung und werden damit tatsächlich bei der Prüfung einer consensus has also emerged at the international level.“ In EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 76 f., bezeichnet der EGMR die Ergebnisse der Untersuchung internationaler Übereinkommen als „international tendency“. 42  So auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 108. 43  So auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 77 f. 44  Sie erklärt darüber hinaus, dass umstritten sei, welche Quellen hier dargelegt werden sollten – lediglich jene, die tatsächlich verwendet und in der rechtlichen Analyse zitiert werden, oder auch Material, das in Betracht gezogen wurde, auf das der Gerichtshof sich letztlich aber nicht stützte, vgl. Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 48.

116 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Konventionsverletzung berücksichtigt. Wie sogleich anhand der Analyse der jeweiligen Urteile ersichtlich wird, variiert der Stellenwert der Europaratsdokumente in den Urteilsbegründungen von Fall zu Fall.45 Die Argumentation des EGMR vermittelt teilweise den Eindruck, ein genanntes Europaratsdokument sei ein maßgebender Faktor gewesen; in anderen Fällen scheinen Europaratsdokumente dagegen eher ergänzend herangezogen zu werden, beziehungsweise zur Bestätigung eines bereits zuvor hergeleiteten Ergebnisses oder einer bereits bestehenden Auslegungs- beziehungsweise Anwendungspraxis des Gerichtshofs. Auch Nußberger erklärt hinsichtlich der Bedeutung internationaler Erkenntnisquellen generell, dass diese in die Ausführungen des Gerichtshofs in „The law“ aufgenommen werden können, ohne ein entscheidender Bestandteil der Argumentation zu sein, oder aber eine prominente Position in der Argumentation einnehmen können.46 Dies hat sich in der empirischen Untersuchung der vorliegenden Arbeit also auch hinsichtlich der Europarats­ dokumente bestätigt. Eine prominente Stellung sagt indes nicht immer etwas über den tatsächlichen Einfluss auf die Entscheidung des Gerichtshofs aus. In dieser Hinsicht sei hier schon einmal angemerkt, dass der EGMR mitunter trotz einer Hervorhebung von Europaratsdokumenten in seiner Urteilsbegründung entgegen dieser entschieden hat. Daher wird in den folgenden Darstellungen gegebenenfalls auch aufgegriffen, wie der Gerichtshof im Er­ gebnis entschieden hat.

C. Bedeutung bei den verschiedenen Konventionsrechten Am häufigsten wurden Europaratsdokumente in Urteilsbegründungen zur Frage einer Verletzung von Art. 3, 6, 8, 10 EMRK sowie bei der Behandlung von Art. 46 EMRK herangezogen. Dieser Konventionsartikel ist zwar kein Freiheitsrecht, dessen Verletzung für sich genommen in einer Individualbeschwerde geltend gemacht werden kann. Gleichwohl besteht hier ein besonderer, sogleich näher zu erläuternder Anwendungsbereich von Europarats­ dokumenten. Daher wurde er gesondert in der Übersicht aufgeführt. Bei Urteilsbegründungen zu Verletzungen der Art. 2, 4 (Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit), 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), 9, 11 EMRK sowie Art. 1 (Schutz des Eigentums), 2 (Recht auf Bildung) und 3 (Recht auf freie Beobachtungen machte auch Klocke, EuR 50 (2015), 148, 157 f. in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 49. Vergleichbar auch Dzehtsiarou, University College Dublin Law Review 10 (2010), 109, 112 ff.: „In the European Court of Human Rights, comparative law analysis serves two main purposes: to inform and to persuade.“ 45  Ähnliche

46  Nußberger,



§ 3 Allgemeine Untersuchungsergebnisse117

Wahlen) ZP 1 wurden Europaratsdokumente demgegenüber nur vereinzelt herangezogen, bei den Art. 7 (Keine Strafe ohne Gesetz), 12 (Recht auf Eheschließung) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) EMRK nie. Anhand Abbildung 2 wird deutlich, dass die Berücksichtigung von Europaratsdokumenten nicht etwa davon abhängt, ob es um die Prüfung eines Abwehr- beziehungsweise Verfahrensrechts, oder eines absoluten oder nicht absoluten Rechts geht. Daher erscheint die Heranziehung von Europaratsdokumenten bei allen Konventionsartikeln denkbar, wenngleich sich unter den vorliegend untersuchten Urteilen nicht zu jedem Konventionsrecht eine Prüfung unter Berücksichtigung von Europaratsdokumenten befand. 16 14

Anzahl der Urteile

12 10 8 6 4 2 0

Artikel

Abbildung 2: Berücksichtigung von Europaratsdokumenten bei den einzelnen EMRK-Bestimmungen47

47  In zwei Urteilen fand eine Berücksichtigung bei der Prüfung mehrerer Konventionsrechte statt, daher die gesondert Darstellung.

118 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung internationalen Soft Laws insgesamt ist zu betonen, dass für die vorliegende Untersuchung mit Europaratsdokumenten ein sehr konkretes Beispiel internationalen Soft Laws gewählt wurde. Aus dem vorliegenden Diagramm lassen sich daher kaum allgemeine Schlüsse derart ziehen, wonach Soft Law etwa bei Art. 3, 6, 8 10 sowie 46 EMRK eine besonders große Rolle spielt. Vielmehr können im Einzelfall viele verschiedene Erwägungen ausschlaggebend für die Frage nach der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten in den Urteilsbegründungen des EGMR sein. Festgehalten werden kann aber, dass eine Berücksichtigung von internationalem Soft Law grundsätzlich bei allen Arten von Konventionsrechten denkbar ist. Für die vorliegend festgestellte Verteilung von Berücksichtigungen von Europaratsdokumenten auf die einzelnen Konventionsartikel scheinen vor allem zwei grundsätzliche Aspekte relevant: Zum einen hängt die Möglichkeit einer Berücksichtigung von Europarats­ dokumenten davon ab, ob das Ministerkomitee beziehungsweise die Parlamentarische Versammlung sich überhaupt mit der in Rede stehenden Rechtsfrage befasst hat. Wie sogleich dargelegt wird, spielen bestimmte Europaratsdokumente in Entscheidungen des Gerichtshofs in Fällen zu den Art. 3, 6 und 46 EMRK eine besondere Rolle. Zum anderen ist die Anzahl der Urteile, in denen die Große Kammer sich mit Verletzungen der einzelnen Konven­ tionsbestimmungen befasst, insgesamt zu beachten. Die Art. 2, 4, 7, 9, 11, 12 EMRK sowie Art. 2 und 3 ZP 1 sind insgesamt vergleichsweise selten Gegenstand einer Beschwerde vor der Großen Kammer,48 was zumindest einen möglichen Anhaltspunkt für die vergleichsweise seltene beziehungsweise gar nicht erfolgende Berücksichtigung von Europaratsdokumenten gibt. Ob die Dokumente auf Schutzbereichs- oder Rechtfertigungsebene, und innerhalb dieser bei der margin of appreciation-Doktrin, der Verhältnismäßigkeitsprüfung oder außerhalb dieser Rechtsfiguren berücksichtigt werden, wird auch durch die Eigenheiten der einzelnen Konventionsbestimmungen beeinflusst. Bei absoluten Rechten findet beispielsweise keine Rechtfertigungsprüfung statt, weshalb Europaratsdokumente bei der Prüfung von Art. 3 EMRK auch lediglich auf der Schutzbereichsebene zur Auslegung und Anwendung der EMRK berücksichtigt wurden. Bei der Prüfung einer Verlet48  Bei Zugrundelegen der gesamten von Hudoc angezeigten 454 (englischsprachigen) Urteile der Großen Kammer bis 31.12.2018 (Durchsuchung der Datenbank Hudoc für diesen Zeitraum erfolgte am 28.08.2020) ergibt sich die folgende Verteilung: Art. 1 EMRK: 24 Urteile; Art. 2 EMRK: 38 Urteile, Art. 3 EMRK: 61 Urteile; Art. 4 EMRK: 2 Urteile, Art. 5 EMRK: 61 Urteile; Art. 6 EMRK: 190 Urteile; Art. 7 EMRK: 21 Urteile, Art. 8 EMRK: 101 Urteile; Art. 9 EMRK: 23 Urteile, Art. 10 EMRK: 71 Urteile; Art. 11 EMRK: 20 Urteile, Art. 12 EMRK: 5 Urteile; Art. 13 EMRK: 65 Urteile; Art. 1 ZP 1: 76 Urteile; Art. 2 ZP 1: 12 Urteile; Art. 3 ZP 1: 13 Urteile. Hudoc führt Urteile im Zusammenhang mit Art. 14 EMRK noch gesondert auf; diese wurden hier außer Acht gelassen.



§ 3 Allgemeine Untersuchungsergebnisse119

zung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK wurden die Europaratsdokumente überwiegend alleinstehend auf der Schutzbereichsebene berücksichtigt;49 daneben jedoch auch neben anderen Erkenntnisquellen auf der Rechtfertigungsebene im Rahmen der Frage, ob ein Eingriff in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, beziehungsweise eine Beschränkung der darin enthaltenen Rechte, verhältnismäßig ist50 beziehungsweise „relevant and sufficient grounds“ vorliegen51. Bei Art. 8–11 EMRK fand eine Berücksichtigung ebenfalls auf der Schutzbereichsebene statt.52 Insbesondere waren indes die in den jeweiligen zweiten Absätzen dieser Bestimmungen vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten für den Fall der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft oftmals Einfallstor für die Berücksichtigung von Europaratsdokumenten auf der Rechtfertigungsebene bei der Bestimmung der Weite der margin of apprecia­ tion beziehungsweise bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung.53 Einen großen Anteil der alleinstehenden Berücksichtigungen machten Fälle aus, in denen 49  Zur Einordnung der Fälle EGMR (Große Kammer) – Bottazzi v. Italy, 28.07.1999 – 34884/97, EGMR (Große Kammer) – Ferrari v. Italy, 28.07.1999 – 33440/96, EGMR (Große Kammer) – Di Mauro v. Italy, 28.07.1999 – 34256/96, EGMR (Große Kammer) – A. P. v. Italy, 28.07.1999 – 35265/97 siehe bereits Fn. 32 in diesem Teil. Neben weiteren Erkenntnisquellen in EGMR (Große Kammer) – Blokhin v. Russia, 23.03.2016 – 47152/06, Rn. 203 und 207; EGMR (Große Kammer) – Salduz v. Turkey, 27.11.2008 – 36391/02, Rn. 52 f. 50  EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 244; EGMR (Große Kammer) – Al-Dulimi and Montana Management Inc. v. Switzerland, 21.06.2016 – 5809/08, Rn. 153. 51  EGMR (Große Kammer) – Correia de Matos v. Portugal, 04.04.2018 – 56402/ 12, Rn. 154. 52  EGMR (Große Kammer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99, Rn.  55 f.; EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 107; EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 145; im Rahmen der Prüfung einer positive obligation (welche schwierig zuzuordnen ist, da der EGMR hier oft nicht zwischen positive und negative obligation unterscheidet – siehe Klatt, ZaöRV 71 (2011), 691, 694 – und damit auch eine Zuteilung zur Schutzbereichs- und Rechtfertigungsebene erschwert): EGMR (Große Kammer) – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017 – 61496/08, Rn. 133. 53  EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn. 134–136 und Rn. 142 ff.; EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 103, 107 und 110; EGMR (Große Kammer) – Maslov v. Austria, 23.06.2008 – 1638/03, Rn. 73; EGMR (Große Kam­ mer) – Animal Defenders International v. The United Kingdom, 22.04.3013 – 48876/08, Rn. 123; EGMR (Große Kammer) – Stoll v. Switzerland, 10.12.2007 – 69698/01, Rn. 111; EGMR (Große Kammer)  – Medžlis Islamske Zajednice Brčko a. o. v. Bosnia and Herzegowina, 27.06.2017 – 17224/11, Rn. 80; EGMR (Große Kammer) – Couderc and Hachette Filipacchi Associés v. France, 10.11.2015 – 40454/07, Rn. 120; EGMR (Große Kammer) – Von Hannover v. Germany (No. 2), 07.02.2012 – 40660/08, 60641/08, Rn. 106 und 110; EGMR (Große Kammer) – Axel Springer AG v. Germany, 07.02.2012 – 39954/08, Rn. 87 und 96.

120 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Dokumente des Ministerkomitees im Zusammenhang mit Art. 46 EMRK diskutiert wurden.54 Dabei sind methodische Unterschiede bei der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten zwischen den einzelnen Artikeln nicht feststellbar; das heißt, es sind nicht etwa unterschiedliche Kriterien bei der Durchführung der Konsens-Prüfung unter Berücksichtigung von Europaratsdokumenten bei den verschiedenen Konventionsbestimmungen ersichtlich.

§ 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Analyse der Urteile zu LGBT-Rechten nach Art. 8 EMRK Die vorigen Ausführungen haben allgemein die Anwendungsbereiche und methodischen Zusammenhänge von Berücksichtigungen von Europarats­ dokumenten beschrieben. Das weitere Vorhaben, die ausgewählten Entscheidungen hinsichtlich der konkreten Fragestellungen zum Vorgehen des EGMR bei der Auswahl und Gewichtung verschiedener Erkenntnisquellen für die rechtsvergleichende Auslegung und Anwendung der EMRK zu untersuchen, erwies sich unterdessen mitunter als problematisch: Die Fälle haben in der Regel keinen Bezug zueinander und die Entscheidungen sind stets stark von den Umständen des Einzelfalls geprägt.55 Darüber hinaus arbeitet der EGMR kein erkennbares stringentes Prüfschema ab, das sich abstrakt auf jede seiner Entscheidungen anwenden ließe. Vielmehr variiert seine Argumentationsstruktur meist von Fall zu Fall, sodass sie stets im Kontext der Einzelfallumstände gesehen und verstanden werden muss. Die Herauslösung einzelner Urteilspassagen, um die oben aufgeworfenen Fragen nacheinander zu beantworten, war dementsprechend oftmals nicht sinnvoll möglich. Hier stießen die Möglichkeiten einer quantitativen Untersuchung wiederum an ihre Grenzen. Angesichts dessen deutet sich bereits an, dass die rechtsvergleichende Argumentation des Gerichtshofs nur bedingt anhand methodischer Grundsätze erfolgt. Diese Schwierigkeiten wurden zum Anlass genommen, der Rolle von Europaratsdokumenten in den Urteilsbegründungen des EGMR zunächst anhand einer bereichsspezifischen Untersuchung nachzugehen. Dies eröffnet die Möglichkeit, zunächst eine kleinere Anzahl der Urteile aus dem Fallpool eingehend zu analysieren und erste Zwischenergebnisse zur Praxis des Gerichtshofs festzuhalten, welche sodann anhand der übrigen Urteile aus dem Fallpool überprüft werden können. 54  Siehe

dazu sogleich unter „Dritter Teil, § 5 D.“ stellten auch andere Autoren bei ihren Analysen der Rechtsprechung des EGMR fest, so etwa Christoffersen, Fair balance, S. 31. 55  Dies



§ 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Urteilsanalyse zu LGBT-Rechten121

Ausgewählt wurden für die bereichsspezifische Untersuchung die Urteile zu den Rechten Homo- oder Bisexueller beziehungsweise von Transgendern (folgend LGBT-Rechte), die Verletzungen von Art. 8 EMRK56 betreffen. Dies ist der Konventionsartikel, bei dem am häufigsten Europaratsdokumente berücksichtigt wurden, sodass diese Fälle exemplarisch für viele weitere Fälle mit vergleichbarem rechtlichen Kontext stehen.57 Darüber hinaus bietet eine Untersuchung dieser Fälle den Vorteil, dass sie zumindest inhaltlich zusammenhängen, sodass ein tiefergehender Einblick in die Argumentationsweise des EGMR erlangt werden kann, als dies bei einer Untersuchung aller thematisch zusammenhanglosen Urteile möglich wäre. Ungeachtet der fehlenden schematischen Prüfstruktur kann die rechtsvergleichende Argumentation des EGMR zumindest inhaltlich verglichen und dabei auch ihre Entwicklung nachvollzogen werden. Der EGMR begann bereits in der Mitte der 1980er Jahre, sich in mehreren Fällen mit LGBT-Rechten nach Art. 8 Abs. 1 EMRK zu befassen;58 seine Rechtsprechung wurde dabei maßgeblich von der steten Frage nach einem europäischen Konsens begleitet und geprägt. Anhand dieser Fälle kann daher auch die Entwicklung der Konsens-Methode weiter aufgezeigt werden. Eine vorangehende Untersuchung dieser Fälle verspricht somit insgesamt einen sinnvollen Einstieg in die Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten. Um einen möglichst umfassenden Einblick zu erhalten, werden die Urteile eingehender analysiert als die übrigen: Neben den Hintergründen der Fälle werden auch vorinstanzliche Kammerentscheidungen sowie andere damit zusammenhängende Urteile berücksichtigt, auf die im Rahmen der KonsensPrüfung jeweils verwiesen wird, sofern sie für ein umfassendes Verständnis der Rechtsprechungsentwicklung relevant sind.

A. Von Rees bis Goodwin Der erste Fall, in dem sich der EGMR mit Transgenderrechten auseinandersetzte, war Rees v. The United Kingdom (1986). Der Antragsteller war als Frau geboren worden, hatte sich jedoch einer geschlechtsumwandelnden 56  In den folgend dargestellten Urteilen stellte sich oft auch die Frage nach einer Verletzung von Art. 12 EMRK, dem Recht auf Eheschließung. Mangels Relevanz der Europaratsdokumente in dieser Rechtsfrage wird die Entwicklung der Rechtsprechung in dieser Hinsicht indes nicht in die Darstellung aufgenommen. 57  Auch Senden stellte in ihrer Untersuchung fest, dass Fälle in denen der EGMR rechtsvergleichend argumentierte am häufigsten Art. 8 EMRK betrafen, vgl. Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 240. 58  Das erste Urteil zu LGBT-Rechten erging 1986, und damit auch lange vor der Etablierung des EGMR als ständigem Gerichtshof im Rahmen des ZP 11, das 1998 in Kraft trat.

122 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Operation unterzogen und lebte fortan als Mann.59 Er beschwerte sich über eine Verletzung seines Rechts auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK, da er nach der Rechtslage in Großbritannien sein Geschlecht in der Geburtsurkunde nicht ändern lassen konnte, sodass er dort ohne weitere Erklärung auch nach der Operation noch als Frau ausgewiesen war. Fraglich war, ob Großbritannien eine positive obligation aus Art. 8 Abs. 1 EMRK zukam, dem Beschwerdeführer die Änderung seines Geschlechts in der Geburtsurkunde zu ermöglichen.60 Die EKMR hatte die britischen Regelungen als Konventionsverletzung verurteilt. Sie hatte unter anderem auf die Rechtslage in einigen anderen Europaratsstaaten hingewiesen, die bereits die Möglichkeit der Geschlechtsänderung in der Geburtsurkunde etabliert hatten.61 Der Gerichtshof hingegen entschied gegen eine Verletzung von Art. 8 EMRK. In seiner Begründung argumentierte auch er mit der Rechtslage in den Europaratsstaaten und betonte, dass es in einigen Staaten zwar die Möglichkeit für Transsexuelle zur Änderung der Geburtsurkunde gebe – diese Staaten stellten jedoch unterschiedlich strenge Anforderungen an diese Möglichkeit, beziehungsweise sähen Vorbehalte oder Ausnahmen vor. In anderen Staaten wiederum existiere diese Möglichkeit gar nicht. Es gebe daher wenig „common ground“ zwischen den Vertragsstaaten, das Recht scheine in einer „transitional stage“, sodass dem Staat eine weite margin of appreciation zukomme.62 Der Gerichtshof machte keine näheren Angaben zur Quelle der Informationen über die Rechtslage in den Europaratsstaaten, und bezifferte auch nicht die Anzahl der Staaten mit den von ihm beschriebenen Regelungen. Am Ende seines Urteils wies der EGMR indes noch auf sein Bewusstsein für die ernsthaften Probleme Transsexueller hin und bekräftigte, die Entwicklungen in diesem Bereich weiter zu beobachten.63 Diesen Punkt griff der EGMR in dem vier Jahre später behandelten Fall Cossey v. The United Kingdom, dem dieselbe rechtliche Frage zugrunde lag, auf und prüfte eine mögliche Rechtsprechungsänderung. Tatsächlich hätte es hierfür Anhaltspunkte gegeben: Die Parlamentarische Versammlung hatte 1989 die PACE Rec. 1117 (1989) verabschiedet, in der sie dem Minister­ komitee die Annahme einer Empfehlung an die Europaratsstaaten nahelegt, wonach Transsexuellen infolge einer Geschlechtsumwandlung eine Änderung des Geschlechts im Geburtenregister ermöglicht werden solle.64 Ebendies 59  EGMR –

Rees v. The United Kingdom, 17.10.1986 – 9532/81, Rn. 11 ff. die Ausführungen zur ebenfalls geltend gemachten Verletzung von Art. 12 EMRK wird mangels Relevanz für das vorliegende Untersuchungsinteresse nicht eingegangen. 61  EKMR, 12.12.1984 – 9532/81, S. 14, Rn. 44. 62  EGMR – Rees v. The United Kingdom, 17.10.1986 – 9532/81, Rn. 37. 63  EGMR – Rees v. The United Kingdom, 17.10.1986 – 9532/81, Rn. 47. 64  PACE Rec. 1117 (1989), Punkt 11.a. 60  Auf



§ 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Urteilsanalyse zu LGBT-Rechten123

empfahl auch eine Entschließung des EU-Parlaments aus dem Jahr 1989. Der EGMR erklärte, dass es in der Tat bestimmte Entwicklungen im Recht einiger Europaratsstaaten gegeben habe, fuhr aber fort: „However, the reports accompanying the resolution adopted by the European Parliament on 12 September 1989 (OJ No C 256, 9.10.1989, p. 33) and Recommendation 1117 (1989) adopted by the Parliamentary Assembly of the Council of Europe on 29 September 1989 – both of which seek to encourage the harmonisation of laws and practices in this field – reveal […] the same diversity of practice as obtained at the time of the Rees judgment. Accordingly this is still, having regard to the existence of little common ground between the Contracting States, an area in which they enjoy a wide margin of appreciation.“65

Damit untersuchte der EGMR die Entwicklungen der vergangenen vier Jahre anhand rechtsvergleichender Informationen über die nationalen Regelungen sowie anhand internationalen Soft Laws, unter anderem der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung, und diskutierte dessen Inhalt sowie Aussagekraft im Rahmen der Frage eines europäischen Konsenses. Seiner Entscheidung lag damit die Annahme zugrunde, dass Soft Law eine Erkenntnisquelle für die Beurteilung eines europäischen Konsenses sein kann. Auf die unterschiedlichen Arten der Erkenntnisquellen sowie insbesondere die rechtliche Unverbindlichkeit der Dokumente ging der EGMR nicht ein. Die genannten Dokumente der Parlamentarischen Versammlung sowie des Europaparlaments hatten inhaltlich durchaus für eine Rechtsprechungsänderung gesprochen. Die dennoch entgegen eines Konsenses getroffene Entscheidung begründete der EGMR damit, dass auch in den Berichten zu diesen Dokumenten deutlich wurde, dass auf diesem Rechtsgebiet noch eine große Diversität der nationalen Regelungen vorliege. Bei der Entscheidung über das Vorliegen eines Konsenses überwog dieser Punkt damit die Tatsache, dass die Parlamentarische Versammlung sowie das EU-Parlament (ungeachtet der nationalen Regelungen der Europaratsstaaten) die genannten Dokumente verabschiedet hatten. Auf die Mehrheitsverhältnisse bei der Verabschiedung eines Soft Law-Dokuments ging der Gerichtshof nicht ein. Auch das Ausbleiben einer dem Wunsch der Parlamentarischen Versammlung entsprechenden Empfehlung des Ministerkomitees verwendete der EGMR nicht als Argument gegen einen europäischen Konsens. Die Entscheidung war mit zehn zu acht Stimmen knapp ausgegangen, und die abweichenden Meinungen von sechs Richtern stützten sich unter anderem auf die seit Rees veränderte Rechtslage, die sich auch in der PACE Rec. 1117 (1989) sowie der

65  EGMR – Cossey v. The United Kingdom, 27.09.1990 – 10843/84, Rn. 40. Die in diesem Zusammenhang ebenfalls angestellten Ausführungen zu wissenschaftlichen Entwicklungen in Fragen der Transsexualität werden mangels Relevanz für das vorliegende Untersuchungsinteresse hier ausgeklammert.

124 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Empfehlung des EU-Parlaments zeige und für das Bestehen eines europäischen Konsenses spreche.66 1992 beurteilte der Gerichtshof in B. v. France wiederum einen vergleichbaren Fall hinsichtlich einer möglichen Rechtsprechungsänderung. Die Antragstellerin berief sich in Anlehnung an das Sondervotum des Richters Martens aus Cossey v. The United Kingdom auf die veränderte Rechtslage in zahlreichen Europaratsstaaten, die von Empfehlungen und Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung sowie des EU-Parlaments unterstützt werde.67 Der Gerichtshof erklärte jedoch, die rechtliche Lage in Transgenderfragen gestalte sich nach wie vor sehr komplex, sodass noch immer kein ausreichend breiter Konsens unter den Europaratsstaaten vorliege, um ihn von einer Rechtsprechungsänderung zu überzeugen: „The Court considers that it is undeniable that attitudes have changed, science has progressed and increasing importance is attached to the problem of transsexualism. It notes, however, […] that there still remains some uncertainty as to the essential nature of transsexualism and that the legitimacy of surgical intervention in such cases is sometimes questioned. The legal situations which result are moreover extremely complex: anatomical, biological, psychological and moral problems in connection with transsexualism and its definition; consent and other requirements to be complied with before any operation; the conditions under which a change of sex­ual identity can be authorised (validity, scientific presuppositions and legal effects of recourse to surgery, fitness for life with the new sexual identity); international aspects (place where the operation is performed); the legal consequences, retrospective or otherwise, of such a change (rectification of civil status documents); the opportunity to choose a different forename; the confidentiality of documents and information mentioning the change; effects of a family nature (right to marry, fate of an existing marriage, filiation), and so on. On these various points there is as yet no sufficiently broad consensus between the member States of the Council of ­Europe to persuade the Court to reach opposite conclusions to those in its Rees and Cossey judgments.“68

In X, Y and Z v. The United Kingdom befasste sich der EGMR 1997 mit der Beschwerde eines Transgendermannes (X), der als Vater des Kindes (Z) seiner Freundin (Y) eingetragen werden wollte. Diese hatte Z mithilfe einer 66  Siehe EGMR – Cossey v. The United Kingdom, 27.09.1990 – 10843/84, Joint partly dissenting opinion der Richter Spielmann und Macdonald, Rn. 2; Dissenting opinion von Richter Martens, Rn. 5; sowie die Joint dissenting opinion der Richter Paul, Foighel und Pekkanen, Rn. 3. 67  EGMR – B. v. France, 25.03.1992 – 13343/87, Rn. 46 b. 68  EGMR – B. v. France, 25.03.1992 – 13343/87, Rn. 48. Im Ergebnis kam der EGMR jedoch aus anderen Gründen zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK (Er stützte dies auf die im Vergleich ungleich stärkere Belastung, die Transsexuellen durch die Unmöglichkeit der Geschlechtsänderung im Geburtsregister in Frankreich im Gegensatz zu den Betroffenen aus Großbritannien zukomme, vgl. hierzu Rn. 49 ff.).



§ 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Urteilsanalyse zu LGBT-Rechten125

Samenspende und künstlichen Befruchtung zur Welt gebracht. Die Eintragung als Vater eines Kindes war in Großbritannien indes nur für Männer im „biologischen“ Sinne möglich.69 Die Beschwerdeführer machten daher eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 EMRK geltend. Der EGMR erklärte, dass sich der vorliegende Fall von den vorangegangenen, Transsexuelle betreffenden Fällen Cossey v. The United Kingdom und Rees v. The United Kingdom unterscheide. Hier gehe es nicht um die Anerkennung der neuen Identität Transsexueller. Dementsprechend prüfte der EGMR den Fall unter Art. 8 Abs. 1 EMRK in Form des Schutzes der Familie.70 Der Gerichtshof stellte fest, dass es keinen gemeinsamen europäischen Standard bezüglich der Erteilung elterlicher Rechte an Transsexuelle gebe. Darüber hinaus sei dem Gerichtshof auch kein gemeinsamer Umgang der Staaten in der generellen Frage nach der rechtlichen Erfassung der sozialen Beziehung zwischen einem mit künstlicher Befruchtung erzeugten Kind und der Person, die die Rolle des Vaters ausübt, nachgewiesen worden.71 Diese Aussage deutet darauf hin, dass der EGMR es zu diesem Zeitpunkt noch vor allem als Aufgabe der Verfahrensbeteiligten ansah, rechtsvergleichende Untersuchungen anzustellen. Er resümierte schließlich, dass die in Rede stehende Frage einen Bereich betreffe, in dem es wenig gemeinsame Grundsätze in den Europaratsstaaten gebe und sich das Recht noch entwickle. Demnach hätten die Staaten eine weite margin of appreciation.72 An dieser Argumentationsweise wird deutlich, wie der EGMR die recht­ liche Fragestellung variiert, und so den Blickwinkel auf die Beurteilung eines europäischen Konsenses verändert. Indem er die Abstraktionsebene senkte, und ganz konkret nach einem Recht Transsexueller fragte, als Vater beziehungsweise Mutter eines Kindes eingetragen zu werden, nahm er allgemeinen Entwicklungen im Bereich von Transgenderrechten jegliche Aus­ sagekraft für den vorliegenden Fall. Die von den Antragstellern angeführten Erkennt­nisquellen,73 die auch die seit Cossey v. The United Kingdom geschehenen Entwicklungen verdeutlichen sollten – ein EuGH-Urteil von 1996, in dem die Kündigung eines Transsexuellen durch den Arbeitgeber 69  EGMR (Große Kammer) – X, Y and Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – 21830/93, Rn.  12 ff. 70  EGMR (Große Kammer) – X, Y and Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – 21830/93, Rn. 42. 71  EGMR (Große Kammer) – X, Y and Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – 21830/93, Rn. 44. 72  EGMR (Große Kammer) – X, Y and Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – 21830/93, Rn. 44. 73  Darunter auch der erneute Hinweis auf die PACE Rec. 1117 (1989), vgl. EGMR (Große Kammer) – X, Y and Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – 21830/93, Rn. 38.

126 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

aus Gender-Gründen als Verstoß gegen EU-Recht gewertet wurde, sowie ­diverse Forschungsberichte zu Transsexualität – berücksichtigte der EGMR dementsprechend gar nicht. Der Gerichtshof nannte indes auch keine andere Erkenntnisquelle für seine obigen Feststellungen; wie bereits in den anderen bisher dargestellten Urteilen fanden sich in „The facts“ keine rechtsvergleichenden Informationen. Der Gerichtshof verwies in seiner Urteilsbegründung infolge der Feststellung, dass keine gemeinsamen Grundsätze im Recht der Europaratsstaaten existierten und sich das Recht noch entwickle, lediglich auf das Rees- sowie das Cossey-Urteil.74 Dieser Verweis ist jedoch insoweit inkonsequent, als zuvor erläutert wurde, dass der vorliegende Fall sich von diesen beiden unterscheide, da es vorliegend gerade nicht um dieselbe Frage nach einem Recht Transsexueller auf eine Geschlechtsänderung im Geburtenregister gehe. Nach seiner Verhältnismäßigkeitsabwägung resümierte der EGMR schlussendlich, dass angesichts der komplexen wissenschaftlichen, recht­ lichen, moralischen und gesellschaftlichen Fragen zur Transsexualität, zu denen es keine gemeinsame europäische Herangehensweise gebe, keine Pflicht der Staaten in Art. 8 EMRK hereingelesen werden könne, wonach eine Person, die nicht der biologische Vater eines Kindes sei, als Vater anerkannt werden müsse.75 Dieser Verweis auf die allgemein nicht vorhandene gemeinsame europäische Herangehensweise in Fragen der Transsexualität hob die Abstraktionsebene der rechtsvergleichenden Betrachtung wieder auf die grundsätzliche Frage nach Rechten Transsexueller. Abgesehen von diesem Widerspruch zur eingehend vorgenommenen Trennung des vorliegenden Falls von den vorhergegangenen Transsexuellenentscheidungen wären auf dieser Ebene dann zumindest die von den Antragstellern angeführten Erkenntnisquellen einschlägig gewesen und hätten dementsprechend vom EGMR herangezogen werden können. Insgesamt ist die rechtsvergleichende Argumentation des EMGR hier mithin von Unstimmigkeiten geprägt. Dass dieser Fall sich von Rees und Cossey unterschied, wurde überdies bezweifelt: Zwei Richter wiesen in ihren abweichenden Meinungen darauf hin, dass X – wenn er von Geburt an als Mann verzeichnet gewesen wäre – problemlos als Vater von Z hätte eingetragen werden können;76 es lag also durchaus ein Fall vor, der besondere Fragen von Transsexualität betraf, und nicht etwa den generellen Umgang mit der Beziehung zwischen Kindern, die 74  EGMR (Große Kammer) – X, Y and 21830/93, Rn. 44. 75  EGMR (Große Kammer) – X, Y and 21830/93, Rn. 52. 76  EGMR (Große Kammer) – X, Y and 21830/93, Dissenting opinion des Richters des Richters Vilhjálmsson.

Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – Foighel, Rn. 9, sowie Dissenting opinion



§ 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Urteilsanalyse zu LGBT-Rechten127

mit einer Samenspende künstlich erzeugt wurden, und der Person, die die Rolle des Vaters ausübt. Darüber hinaus hatten auch andere Richter für eine Konventionsverletzung gestimmt, und sich in ihrem Sondervotum unter anderem auf die veränderte Rechtslage in vielen Europaratsstaaten sowie die vom Antragsteller geltend gemachten Soft Law-Dokumente berufen.77 Ein anderes Sondervotum verdeutlicht unterdessen, dass die Konsens-Methode des Gerichtshofs zu dieser Zeit grundsätzlich noch nicht etabliert war: Der Richter De Meyer kritisierte die Bezugnahme auf rechtsvergleichende Informationen generell: „There was […] no need to consider that, on the issues at stake, there is no ‚common European standard‘, or no ‚common ground‘, ‚generally shared approach‘, or ‚consensus amongst the member States of the Council of Europe‘, or that these issues ‚remain the subject of debate‘, or that the law of member States concerning them ‚appears to be in a transitional stage‘. Nor was it helpful to remark that something ‚is impossible to predict‘, or that ‚there is uncertainty with regard to‘ a certain question. Nothing of that kind was relevant. All we had to do was to identify the principles which, in our view, had to be applied and the rules to be observed.“78

Dem nachfolgenden Fall Sheffield and Horsham v. The United Kingdom (1998) lag mit der Frage nach einem Recht auf die Geschlechtsänderung im Geburtenregister wiederum (unstrittig) derselbe Sacherhalt wie Rees v. The United Kingdom und Cossey v. The United Kingdom zugrunde. Erstmals stellte der EGMR hier rechtsvergleichende Informationen bereits unter „The facts“ dar. Er verwies auf das in X, Y, and Z v. The United Kingdom von den Antragstellern geltend gemachte EuGH-Urteil, und beschrieb daneben die Auffassung der Londoner NGO Liberty, wonach es im vergangenen Jahrzehnt einen klaren Trend in den Europaratsstaaten zugunsten einer vollen rechtlichen Anerkennung von Geschlechtsumwandlungen gegeben habe.79 Der von ihr durchgeführten Studie nach würden von den 37 untersuchten Staaten inklusive Großbritannien nur vier Staaten eine Änderung der Geburtsurkunde in diesem Zusammenhang verwehren. Die Antragstellerinnen wiesen zudem auf neue wissenschaftliche Ergebnisse hin, wonach das Ge77  Vgl. EGMR (Große Kammer) – X, Y and Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – 21830/93, Partly dissenting opinion des Richters Casadevall, der sich Russo und Makarczyk anschlossen, Rn. 2. So darüber hinaus ebenfalls der Richter Foighel in seiner Dissenting opinion, Rn. 5. 78  EGMR (Große Kammer) – X, Y and Z v. The United Kingdom, 22.04.1997 – 21830/93, Concurring opinion des Richters De Meyer. 79  EGMR (Große Kammer) – Sheffield and Horsham v. The United Kingdom, 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, Rn. 33 ff. Nach Rule 37 Abs. 2 der Rules of Court A können auch solche Personen schriftliche Stellungnahmen einreichen, die nicht Beschwerdeführer sind (vgl. hierzu auch die Erläuterung des EGMR in Rn. 6).

128 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

schlecht einer Person nicht nur „rein biologisch“ festgestellt werden darf: „[T]he sex of a person’s brain is also to be considered“.80 Trotz der vorliegenden Erkenntnisquellen entschied der EGMR in seinen darauffolgenden Ausführungen unter „The law“, dass es noch immer keinen ausreichend breiten Konsens unter den Vertragsstaaten zur Regelung der komplexen Rechtsfragen bei Geschlechtsumwandlungen gebe. Die in der Liberty-Studie ausgemachten rechtlichen Entwicklungen reichten für die Annahme eines europäischen Konsenses nicht aus. Insbesondere zeige die Studie keine gemeinsame Herangehensweise in der Frage der möglichen Auswirkungen einer rechtlichen Anerkennung von Geschlechtsumwandlungen auf andere Bereiche wie die Ehe, Abstammung, Privatsphäre, Datenschutz oder Umstände, unter denen ein Transsexueller rechtlich zur Aufklärung über sein voroperatives Geschlecht verpflichtet sein könnte.81 Durch diese Anhebung der Abstraktionsebene stützt der EGMR die rechtsvergleichende Fragestellung erneut auf den allgemeinen Status von Transsexuellenrechten. Bemerkenswerterweise verwendete der EGMR die Studie der NGO Liberty hier als wesentliche Grundlage seiner Entscheidung, was erneut verdeutlicht, dass der Gerichtshof die Durchführung rechtsvergleichender Studien offenbar nicht als eigene Aufgabe ansah. Das EuGH-Urteil berücksichtigte der EGMR nicht in seinen Erwägungen. Dass die Entwicklungen in den Europaratsstaaten noch immer nicht für eine Rechtsprechungsänderung ausreichten, wurde mit elf zu neun Stimmen und damit wie bereits in Cossey v. The United Kingdom denkbar knapp entschieden. In ihrem gemeinsamen Sondervotum erklärten sieben Richter, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung aus Rees v. The United Kingdom hätte ändern müssen: „We do not believe that the Court need[s to] wait until every Contracting Party has amended its law in this direction before deciding that Article 8 gives rise to a positive obligation to introduce reform. [… H]ow can we expect uniformity in such a complex area where legal change will necessarily take place against the background of the States’ traditions and culture? [… T]he essential point is that in these countries, unlike in the United Kingdom, change has taken place – whatever its precise form is – in an attempt to alleviate the distress and suffering of the postoperative transsexual and that there exists in Europe a general trend which seeks in differing ways to confer recognition on the altered sexual identity.“82

80  EGMR (Große Kammer) – Sheffield and Horsham v. The 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, Rn. 43. 81  EGMR (Große Kammer) – Sheffield and Horsham v. The 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, Rn. 57. 82  EGMR (Große Kammer) – Sheffield and Horsham v. The 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, Joint partly dissenting opinion

United Kingdom, United Kingdom, United Kingdom, der Richter Bern-



§ 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Urteilsanalyse zu LGBT-Rechten129

Hier wird offenbar, wie uneinig die Richter über das für die Annahme eines bestehenden Konsenses notwendige Ausmaß einheitlicher Regelungen in den Europaratsstaaten waren. Der Richter van Dijk traf darüber hinaus eine für die vorliegende Untersuchung besonders bemerkenswerte Aussage: „The recommendations and resolutions of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe and the European Parliament, although not legally binding, are […] indicative of the […] trend towards legal recognition and of the growing awareness that post-operative transsexuals are entitled to such recognition.“83

Damit wird erstmals auf die unterschiedliche Rechtsqualität der verschiedenen Erkenntnisquellen aufmerksam gemacht, die in die Beurteilung eines europäischen Konsenses Eingang finden. Van Dijk wollte hieraus jedoch keine Konsequenzen hinsichtlich der Möglichkeit ziehen, aus diesen unterschiedlichen Erkenntnisquellen gleichermaßen europäische Entwicklungen ablesen zu können, sondern argumentierte gerade dafür, diese bei der Beurteilung eines möglichen Trends in Europa zu berücksichtigen. In dem 2002 entschiedenen Fall Christine Goodwin v. The United Kingdom wandte sich erneut eine Transgenderfrau an den EGMR mit dem Anliegen, ihr Geschlecht postoperativ im Geburtenregister ändern zu lassen, und führte damit schließlich den Wendepunkt in der Rechtsprechung zu Trans­ sexuellenrechten herbei.84 Erneut prüfte der Gerichtshof, ob seit dem letzten Urteil in dieser Rechtsfrage Entwicklungen hinsichtlich eines europäischen Konsenses stattgefunden hätten, und nahm hierfür auf eine neue Erkenntnisquelle Bezug: „The Court proposes […] to look at the situation within and outside the Contracting State to assess ‚in the light of present-day conditions‘ what is now the appropriate interpretation and application of the Convention […].“85

Damit griff der EGMR ein Argument von Liberty auf und erweitert den bisher berücksichtigten Kreis an Erkenntnisquellen um nationales Recht außerhalb der Europaratsstaaten. Unter dem Punkt „The state of any European and international consensus“ stellte der EGMR in seiner Urteilsbegründung hardt, Thór, Vilhjálmsson, Spielmann, Palm, Wildhaber, Makarczyk und Voicu; eine weitere Partly dissenting opinion verfasste der Richter Casadevall. 83  EGMR (Große Kammer) – Sheffield and Horsham v. The United Kingdom, 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, Dissenting opinion des Richters van Dijk, Rn. 3 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 84  Ebenso der Fall EGMR (Große Kammer) – I. v. The United Kingdom, 11.07.2002 – 25680/94, dem dieselbe rechtliche Fragestellung zugrunde lag und der am selben Tag verhandelt und entschieden wurde, siehe hierzu auch Smith, AJIL 97 (2003), 659. Die Entscheidung enthält in Rn. 64 f. dieselben Ausführungen zur Frage eines europäischen Konsenses wie Christine Goodwin v. The United Kingdom. 85  EGMR (Große Kammer) – Christine Goodwin v. The United Kingdom, 11.07.2002 – 28957/95, Rn. 74 f.

130 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

fest, dass es bereits in Sheffield and Horsham einen „emerging consensus“ gegeben habe. Auch die jüngste Untersuchung durch die NGO Liberty zeige einen fortgesetzten internationalen Trend hin zu einer rechtlichen Anerkennung Transsexueller nach einer Geschlechtsumwandlung. So schienen die Gerichte in Australien und Neuseeland das Geschlecht einer Person nicht mehr nur aus der biologischen Sicht, sondern im Falle des Heiratswunsches der betreffenden Person anhand mehrerer Faktoren zu beurteilen. „In […] Sheffield and Horsham, the Court’s judgment laid emphasis on the lack of a common European approach as to how to address the repercussions which the legal recognition of a change of sex may entail for other areas of law such as marriage, filiation, privacy or data protection. While this would appear to remain the case, the lack of such a common approach among forty-three Contracting States with widely diverse legal systems and traditions is hardly surprising. […] The Court accordingly attaches less importance to the lack of evidence of a common European approach to the resolution of the legal and practical problems posed, than to the clear and uncontested evidence of a continuing international trend in favour not only of increased social acceptance of transsexuals but of legal recognition of the new sexual identity of post-operative transsexuals.“86

Daraufhin wurde Großbritannien einstimmig wegen der Verletzung von Art. 8 EMRK verurteilt. Über die Frage, ob trotz überwältigender Nachweise (die Rechtslage in den Europaratsstaaten, diverse Soft Law-Dokumente, ein EuGH-Urteil) für eine europäische Entwicklung hinsichtlich von Transsexuellenrechten letztendlich der Blick auf das internationale Recht den Ausschlag für die Entscheidung gegeben hat, kann hier nur gemutmaßt werden. Jedenfalls lässt sich anzweifeln, ob tatsächlich das neuseeländische und australische Recht maßgebend waren87.88 Naheliegender scheint, dass auch die Begleitumstände eine Rolle gespielt haben: Der EGMR war mit dem ZP 11 mittlerweile zum einzigen gerichtlichen Spruchkörper und zum ständigen Gerichtshof geworden. Damit einher ging eine Stärkung seiner Institution. Die zögerliche Anpassung der Rechtsprechung an die deutliche Entwicklung in den Europaratsstaaten könnte darüber hinaus auch darauf zurückgeführt werden, dass der EGMR die Berücksichtigung rechtsvergleichender Untersuchungen in seiner Rechtsprechung erst noch entwickelte. Wie gesehen be86  EGMR (Große Kammer) – Christine Goodwin v. The United Kingdom, 11.07.2002 – 28957/95, Rn. 85. 87  So Kapotas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 6, Fn. 20: „[T]he absence of [european consensus] was ‚remedied‘ by the existence of an international trend that trumped European state’s practice.“ 88  Die Entscheidung des EGMR zu Christine Goodwin v. The United Kingdom wird auch von vielen Beobachtern als eher unübliche Ausnahmeentscheidung eingeordnet, vgl. Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 45 m. w. N.



§ 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Urteilsanalyse zu LGBT-Rechten131

stand unter den Richtern denn auch Streit über das für einen Konsens notwendige Maß an europäischen Entwicklungen. Morawa schreibt, dass die Rechtsprechung des EGMR zu Transgenderrechten den Entwicklungen in Europa letztlich hinterherlief, der Gerichtshof Großbritannien mit einer weiten margin of appreciation aber schlicht besonders viel Zeit einräumen wollte, seine Rechtslage an die europäischen Entwicklungen anzupassen.89

B. Neuere Entwicklungen Seit diesen Urteilen ist viel Wasser die Straßburger Ill hinuntergelaufen. Einige Veränderungen in der rechtsvergleichenden Argumentation des EGMR werden in dem elf Jahre nach Christine Goodwin v. The United Kingdom ergangenen Urteils zu Vallianatos a. o. v. Greece deutlich. In dem Fall befasste sich der EGMR mit der Beschwerde eines homosexuellen Paares darüber, dass es nach der griechischen Rechtslage vom Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft als Parallelinstitut zur Ehe ausgenommen war. Diese stand lediglich heterosexuellen Paaren offen. Der Gerichtshof führte in „The facts“ umfassend relevante Rechtsmaterialien an und stellt diese mittlerweile deutlich strukturierter dar: Unter der Überschrift „Comparative, Euro­pean and international law“90 verwies er zunächst auf einen Rechtsvergleich zwischen den nationalen Rechtsordnungen der Europaratsstaaten. Diese wurden hier nicht von einer NGO, sondern dem Gerichtshof selbst eingeführt. Er benannte hier im Gegensatz zur Darstellung in Sheffield and Horsham v. The United Kingdom auch konkret die Staaten und deren Regelungen. Daneben führte er zahlreiche (sogleich näher erörterte) Europaratsdokumente an, und verwies auf Art. 7, 9 und 21 EUGRCh, auf den hierzu 2006 vom EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights erstellten Kommentar sowie verschiedene EU-Richtlinien.91 In „The law“ prüfte der EGMR eine Verletzung einer positive obligation unter Art. 8 EMRK und stellte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung fest, dass es einen Trend zur Einführung von Formen rechtlicher Anerkennung homosexueller Beziehungen gebe. Er verwies auf die Ergebnisse des Rechtsvergleichs, nach welchem neun Staaten die gleichgeschlechtliche Ehe 89  Morawa, GLJ 3 (2002), IV. B., Rn. 30. Ähnlich auch Smith, AJIL 97 (2003), 659, 662 f., der erklärt, der Gerichtshof habe die Rechtsprechungsänderung bereits in Sheffield and Horsham v. The United Kingdom angekündigt. 90  EGMR (Große Kammer) – Vallianatos a. o. v. Greece, 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09, Rn. 25–34. 91  European Council Directive 2003/86/EC of 22 September 2003 on the right to family reunification; Directive 2004/38/EC of the European Parliament and Council of 29 April 2004 concerning the right of citizens of the Union and their family members to move and reside freely within the territory of the Member States.

132 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

kennen, und 17 eine Form der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare. Neben Griechenland sehe nur Litauen ein Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft vor, ohne dieses für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen.92 Dieser Trend werde auch in den relevanten Europarats­ dokumenten „reflektiert“. Hierfür verwies er insbesondere auf die PACE Res. 1728 (2010) „Discrimination on the basis of sexual orientation and gender identity“, sowie die CM/Rec(2010)5 „on measures to combat discrimi­ nation on grounds of sexual orientation or gender identity.“93 Erstere sieht konkrete Regelungen für die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften vor. Zweitere empfiehlt den Europaratsstaaten insbesondere, Rechte und Pflichten, die sie unverheirateten Paaren erteilen, sowohl homosexuellen als auch heterosexuellen Paaren gleichermaßen ohne Diskriminierung zu erteilen.94 Angesichts dieser weitgehend isolierten Position Griechenlands sowie der Tatsache, dass die griechische Regierung keine überzeugenden Gründe für den Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der eingetragenen Lebenspartnerschaft vorbringen konnte, verurteilte der EGMR den Staat letztendlich wegen der Verletzung von Art. 8 EMRK. Die Anzahl der verglichenen Staaten war mit 28 eher gering; hierauf könnte auch der Umstand zurückzuführen sein, dass der EGMR nur von einem Trend sprach. Hinsichtlich eines möglichen Rangverhältnisses zwischen den Erkenntnisquellen fällt auf, dass der EGMR in seiner Urteilsbegründung lediglich auf die Europaratsdokumente verwies. Die EU-rechtlichen Erkenntnisquellen berücksichtigt er hingegen nicht ausdrücklich. Gewichtet er also Europaratsdokumente stärker als EU-Recht? Ebenfalls denkbar ist eine andere Lesart: Während die Europaratsdokumente den Mitgliedstaaten explizit empfehlen, homosexuellen Paaren die Schließung einer Ehe beziehungsweise einer vergleichbaren Partnerschaft zu ermöglichen, äußern sich die EU-Regelungen nicht derart konkret beziehungsweise deutlich zu dieser Rechtsfrage. Art. 7, 9 und 21 EUGRCh enthalten abstrakt formulierte Grundrechte, aus denen sich keine präzisen Aussagen für den vorliegenden Fall ableiten ließen. Der Kommentar zum Recht auf Eheschließung aus Art. 9 EUGRCh betont vor allem die Diversität der nationalen Regelungen im Bereich homosexueller Partnerschaften und erklärt, dass sich aus diesem Artikel keine Verpflichtung zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen ergebe. Die Richt­ linien beziehen sich nicht unmittelbar auf die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften. Die EU-Erkenntnisquellen äu92  EGMR (Große Kammer) – Vallianatos a. o. v. Greece, 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09, Rn. 91. 93  EGMR (Große Kammer) – Vallianatos a. o. v. Greece, 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09, Rn. 91. 94  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Vallianatos a.  o. v. Greece, 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09, Rn. 28 ff.



§ 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Urteilsanalyse zu LGBT-Rechten133

ßern sich somit nicht direkt zum Umgang mit homosexuellen Paaren im Zusammenhang mit eingetragenen Lebenspartnerschaften. Mit den Europaratsdokumenten zitierte der EGMR also die konkretesten Erkenntnisquellen hinsichtlich der in Rede stehenden Rechtsfrage. Dies gilt auch innerhalb dieser Dokumente: In „The facts“ hatte der EGMR neben den beiden genannten Dokumenten noch die PACE Rec. 924 (1981) „Discrimination against homosexuals“, die PACE Rec. 1474 (2000) „Situation of lesbians and gays in Council of Europe member states“, sowie die PACE Rec. 1470 (2000) „Situation of gays and lesbians and their partners in respect of asylum and immigration in the member states of the Council of Europe“ als relevante Erkenntnisquellen aufgeführt. Diese enthielten keine vergleichbar konkreten beziehungsweise aktuellen Bestimmungen über die Gleichbehandlung unverheirateter homosexueller und heterosexueller Paare: Die erstgenannte Empfehlung kritisierte grundlegend die diversen Arten von Diskriminierung gegen Homosexuelle in bestimmten Europaratsstaaten. Die zweitgenannte Empfehlung rief die Mitgliedstaaten zwar unter anderem auf, Regelungen für eingetragene Lebenspartnerschaften zu schaffen; diesen Aufruf nahm die zehn Jahre später ergangene PACE Res. 1728 (2010) jedoch auf und konkretisierte ihn weiter. Die drittgenannte Empfehlung forderte von ihnen „to review their policies in the field of social rights and protection of migrants in order to ensure that homosexual partnership and families are treated on the same basis as heterosexual partnerships and families.“95 Bemerkenswert an der vorliegenden Urteilsbegründung des EGMR ist weiter die präzise Bestimmung der rechtsvergleichenden Ebene. Der Gerichtshof schwankte nicht zwischen einem Bewusstsein für die rechtlichen Probleme Homosexueller allgemein, und dem konkreten Anliegen des Beschwerdeführers, wie er es in den Urteilen zu den Rechten Transsexueller teilweise getan hatte. Er verdeutlichte vielmehr von vornherein, dass der gemeinsame Nenner die Anerkennung als eingetragene Lebenspartnerschaft ist. Innerhalb dieser Vergleichsgruppe stellte er seine Konsens-Erwägungen an und entschied sich damit für die niedrigere Abstraktionsebene. Ein Jahr später hatte der EGMR sich erneut mit einer Beschwerde bezüglich des rechtlichen Umgangs mit Partnerschaften zu befassen, diesmal jedoch in einem etwas anderen Zusammenhang: In Hämäläinen v. Finland beschwerte sich eine Transgenderfrau über die rechtlichen Regelungen im Rahmen einer Geschlechtsumwandlung. Zwar hätte sie ihr Geschlecht in der Geburtsurkunde ändern lassen können; ihre Ehe würde in diesem Fall jedoch in eine eingetragene Partnerschaft umgewandelt, beziehungsweise müsste 95  Vgl. auch die Zusammenfassung des Gerichtshofs in EGMR (Große Kam­ mer) – Vallianatos a. o. v. Greece, 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09, Rn. 27 ff.

134 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

durch eine Scheidung beendet werden.96 Der EGMR prüfte eine Verletzung einer positive obligation aus Art. 8 EMRK und erklärte, dass die Anerkennung eines Rechts der Beschwerdeführerin auf Erhalt ihrer Ehe bei gleichzeitiger rechtlicher Anerkennung ihrer Geschlechtsumwandlung im Ergebnis ein Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe anerkennen würde. Dementsprechend müsse der Gerichtshof prüfen, ob sich dieses Recht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergebe.97 Der angestellte Rechtsvergleich ergab, dass zehn Staaten die gleichgeschlechtliche Ehe erlauben. 24 Staaten hatten keine klaren Regelungen zur in Rede stehenden Fragestellung; eine solche gab es nur in sechs Staaten (neben Finnland). Hier war vorgeschrieben, dass die betreffende Person unverheiratet sein müsse, beziehungsweise eine zuvor bestehende Ehe für nichtig erklärt würde. Lediglich drei Staaten erlaubten das Weiterbestehen der Ehe auch nach der Änderung des Geschlechts. Nach Auffassung des EGMR lag damit weder ein Konsens zur gleichgeschlecht­lichen Ehe vor, noch ein Konsens innerhalb der Staaten, die eine solche Ehe nicht erlaubten, zum Umgang mit einer Geschlechtsumwandlung im Falle einer bereits existierenden Ehe.98 Die NGO Transgender Europe hatte sich als Dritte Partei an dem Verfahren beteiligt und brachte ein anderes Argument vor: „Generally, there was a strong tendency among the Council of Europe member States to review their approach as a result of Recommendation (2010)5 of the Committee of Ministers on measures to combat discrimination on grounds of sexual orientation or gender identity, adopted on 31 March 2010. Most of the new laws, revisions and current political discussions showed that member States took greater account of the right to self-determination of transgender individuals when designing legislation.“99

Auf die hier angeführte Empfehlung des Ministerkomitees, die in dem soeben dargestellten Fall Vallianatos a. o. v. Greece noch prominent zur Begründung eines europäischen Konsenses herangezogen wurde, ging der EGMR weder in „The facts“, noch in „The law“ ein. Diese fordert in Appendix, IV. Nr. 22 jedoch konkret auch nur das Recht für Transgender, nach ihrer Geschlechtsumwandlung Personen des anderen Geschlechts zu heiraten. Für die Rechtsfrage des vorliegenden Falles hatte sie damit also nur bedingt Aussagekraft. Im Unterschied zu Vallianatos a. o. v. Greece sprach der Rechts96  EGMR Rn.  76 ff. 97  EGMR Rn. 70. 98  EGMR Rn. 73. 99  EGMR Rn. 56.

(Große Kammer) – Hämäläinen v. Finland, 16.07.2014 – 37359/09, (Große Kammer) – Hämäläinen v. Finland, 16.07.2014 – 37359/09, (Große Kammer) – Hämäläinen v. Finland, 16.07.2014 – 37359/09, (Große Kammer) – Hämäläinen v. Finland, 16.07.2014 – 37359/09,



§ 4 Bereichsspezifische Untersuchung – Urteilsanalyse zu LGBT-Rechten135

vergleich zwischen den Europaratsstaaten hier auch recht eindeutig gegen einen Konsens.100 Denkbar ist vor diesem Hintergrund, dass die Europaratsdokumente vor allem ergänzend zum Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten herangezogen werden, und der EGMR eine ausführliche Behandlung aller relevanten Erkenntnisquellen unterlässt, wenn das Ergebnis aus diesem Rechtsvergleich bereits deutlich für beziehungsweise gegen einen Konsens spricht. Aus der Empfehlung des Ministerkomitees hätte im vorliegenden Fall theoretisch noch ein zusätzliches Argument für das Nichtvorliegen eines Konsenses gewonnen werden können, denn schließlich wird selbst in diesem Dokument, das sich ausführlich mit Rechten von Transgendern befasst, nicht der Fortbestand einer Ehe nach einer Geschlechtsumwandlung eines Ehepartners gefordert. Dem Gerichtshof schien das Ergebnis der rechtsvergleichenden Untersuchung der Rechtsordnungen der Europaratsstaaten jedoch für die Ablehnung eines Konsenses auszureichen.

C. Vorläufige Beobachtungen Die dargestellten Urteile verdeutlichen, dass sich die rechtsvergleichenden Untersuchungen des EGMR gewandelt haben. Die rechtsvergleichenden Informationen werden mittlerweile (weitgehend) bereits in „The facts“ dargelegt, und die Konsens-Methode hat sich zunehmend in der Rechtsprechung des EGMR etabliert. Der Ansatz, einen europäischen Konsens bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen, wird im Grundsatz nicht mehr bestritten. Wie in der sogleich folgenden Analyse aller Urteile aus dem Fallpool ersichtlich werden wird, wird lediglich noch über das Vorgehen bei der rechtsvergleichenden Untersuchung diskutiert.101 In dieser Hinsicht lassen sich die folgenden grundlegenden Erwägungen ableiten: 1. Europaratsdokumente können trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit grundsätzlich als Erkenntnisquellen herangezogen werden. Hier differenziert der EGMR nicht zwischen verschiedenen Arten von Soft Law-Doku100  Es gibt denn auch keine abweichende Meinung zur Ablehnung einer Verletzung von Art. 8 EMRK, die sich auf das Bestehen eines europäischen Konsenses stützt. Die Richter Sajó, Keller und Lemmens sprechen sich zwar für eine Verletzung von Art. 8 EMRK aus, aber argumentieren, dass das Fehlen eines europäischen Konsenses im vorliegenden Fäll nicht hätte entscheidend sein dürfen. Stärker gewichtet werden müssen hätte die Tatsache, dass ein wichtiger Faktor der Identität des Beschwerdeführers in Rede stand, sodass die margin of appreciation trotz mangelnden Konsenses hätte verringert werden müssen, siehe EGMR (Große Kammer) – Hämä­ läinen v. Finland, 16.07.2014 – 37359/09, Joint dissenting opinion der Richter Sajó, Keller and Lemmens, Rn. 5. 101  So auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 264.

136 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

menten, und er problematisiert die rechtliche Unverbindlichkeit nicht. Dies klang lediglich in einem Sondervotum an, das hieraus jedoch auch nicht den Schluss ziehen wollte, Soft Law könne keine Erkenntnisquelle für einen Konsens sein. 2. Die Abstraktionsebene der rechtsvergleichenden Frage spielt für den Ausgang der Konsens-Prüfung eine wichtige Rolle – sie gibt vor, welche Erkenntnisquellen für die konkrete Beurteilung ausschlaggebend sind. Eine klare Methode zur Festlegung war unterdessen nicht ersichtlich. 3. Es hat sich angedeutet, dass der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten in der Argumentation des EGMR die wichtigste Rolle einnimmt, während die übrigen Erkenntnisquellen eine eher ergänzende Bedeutung zu haben scheinen. 4. Sofern mehrere internationale Übereinkommen für die in Rede stehende Rechtsfrage relevant waren, hängt die Auswahl der für die Urteilsbegründung aufgegriffenen Erkenntnisquellen womöglich weniger von deren Rechtsqualität beziehungsweise Urheber ab, als vielmehr von der inhalt­ lichen Aussagekraft für die konkrete Rechtsfrage.

§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile Im Folgenden werden alle 130 untersuchungsrelevanten Urteile aus dem Fallpool analysiert und dabei auch die in der bereichsspezifischen Untersuchung gewonnenen vorläufigen Erkenntnisse aufgegriffen. Zunächst wird der allgemeine Umgang des Gerichtshofs mit der rechtlichen Unverbindlichkeit von Soft Law-Dokumenten erörtert, also die Frage, ob und inwiefern er hierauf eingeht (A.). Daraufhin wird untersucht, wie der Gerichtshof grundsätzlich mit dem Umstand umgeht, dass Europaratsdokumente oftmals durch Mehrheitsentscheidungen beschlossen werden, und nicht einstimmig (B.) Weiter wird konkret untersucht, wie der Gerichtshof bei der Konsens-Prüfung anhand verschiedener Erkenntnisquellen argumentiert, also wie er entscheidungsrelevante Erkenntnisquellen auswählt und gewichtet (C.). Daraufhin wird die Argumentation des Gerichtshofs anhand alleinstehender Verweise auf Europaratsdokumente analysiert (D.). Schließlich werden anhand der gefundenen Ergebnisse mögliche Gründe für die Nichtberücksichtigung von Europaratsdokumenten in den Urteilsbegründungen des EGMR erörtert (E.). Hinsichtlich der Darstellung sei erneut auf die Schwierigkeiten verwiesen, die sich angesichts der kontextabhängigen Argumentation des Gerichtshofs ergaben. Während die Ergebnisse unter A., B. und E. überwiegend anhand vergleichsweise kurzer Urteilsauszüge dargelegt werden konnten, sind insbe-



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile137

sondere unter C., aber auch D. mitunter ausführlichere Darstellungen einzelner Urteile und Argumentationsschritte des Gerichtshofs notwendig, um Aussagen zu den jeweiligen Fragestellungen treffen und begründen zu können.

A. Der grundsätzliche Umgang mit der rechtlichen Unverbindlichkeit von Europaratsdokumenten Die Verwendung unverbindlicher internationaler Übereinkommen durch den EGMR bei der Auslegung der EMRK wurde von beklagten Staaten wiederholt infrage gestellt. Die Regierung Großbritanniens etwa betonte in V. v. The United Kingdom, dass die vom Beschwerdeführer angeführten UN Stand­ard Minimum Rules for the Administration of Juvenile Justice, die sogenannten Beijing Rules, eben unverbindlich seien.102 Überdies erklärte die Regierung in Hirst v. The United Kingdom hinsichtlich des Vortrags des AIRE Centers, einer als dritte Partei am Verfahren beteiligten Wohltätigkeitsorganisation: „The Council of Europe recommendation concerning the man­ agement of life prisoners relied on by the AIRE Centre in its intervention was not binding […].“103 In D. H. a. o. v. The Czech Republic argumentierte die Regierung: „[T]he failure to apply [non-binding recommendations] could not, by definition, entail international legal responsibility.“104 Auch innerhalb des Gerichtshofs wurden Bedenken gegen eine umfassende Berücksichtigung von Soft Law-Dokumenten für die Auslegung der EMRK geäußert: In Biao v. Denmark erklärten die Richter Villiger, Mahoney und Kjolbro in ihrem Sondervotum: „[T]he Court should be careful not to convert non-binding, policy-based recommendations into legally binding obligations.“105 In Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary erklärte der Richter Spano in seinem Sondervotum die Heranziehung unverbindlicher Übereinkommen, darunter auch eine Empfehlung des Ministerkomitees, zur Schutzbereichsauslegung von Art. 10 Abs. 1 EMRK: „To the extent that the Court refers to other gen­ eral soft-law international instruments, recommendations and reports of the

102  EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 66. 103  EGMR (Große Kammer) – Hirst v. The United Kingdom (No. 2), 06.10.2005 – 74025/01, Rn. 50. 104  EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 150. 105  EGMR (Große Kammer) – Biao v. Denkmark, 24.05.2016 – 38590/10, Joint dissenting opinion der Richter Villiger, Mahoney und Kjolbro, Rn. 33.

138 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

UN Special Rapporteur, these can only be assessed in this context as ‚general aspirations‘ at the level of policy.“106 Der Gerichtshof zieht Europaratsdokumente jedoch trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit und dementsprechend bisweilen geäußerter Bedenken grundsätzlich als Erkenntnisquelle heran. In V. v. The United Kingdom etwa entgegnete er dem soeben beschriebenen Einwand der Regierung: „[A]l­though not legally binding, [the Beijing Rules] might provide some indication of the existence of an international consensus […]“.107 Mit dem Hinweis auf die rechtliche Unverbindlichkeit ließ der EGMR hier erkennen, dass er sich der besonderen Rechtsqualität von Europaratsdokumenten bewusst ist. Seine darauf folgende Erklärung, wonach sich auch aus Soft Law-Dokumenten gleichwohl Rückschlüsse auf das Vorliegen eines Konsenses ziehen lassen, zeigt jedoch, dass der EGMR aus der rechtlichen Unverbindlichkeit keine Konsequenzen für die grundsätzliche Eignung derartiger Erkenntnisquellen als Grundlagen einer Konsens-Prüfung ziehen wollte. Ebenso in D. H. a. o. v. The Czech Republic,108 Biao v. Denmark109 sowie Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary,110 wo der Gerichtshof trotz der beschriebenen Kritik auf die jeweils relevanten Soft Law-Dokumente verwies. Damit entspricht sein Vorgehen dem bereits in Sheffield and Horsham v. The United Kingdom von Richter van Dijk angeregten Grundsatz, wonach Europaratsdokumente trotz ihrer recht­ lichen Unverbindlichkeit einen (europäischen) Konsens indizieren können. Dementsprechend problematisiert der Gerichtshof die fehlende Rechtsverbindlichkeit der Dokumente des Europarats in der überwiegenden Anzahl der untersuchten Urteile nicht. Lediglich mitunter finden sich Hinweise auf die rechtliche Unverbindlichkeit von Soft Law-Dokumenten in den Urteilsbegründungen oder in abweichenden oder konkurrierenden Meinungen, teils gefolgt von eher oberflächlichen Erklärungen für die dennoch erfolgende Berücksichtigung der in Rede stehenden Dokumente durch den Gerichts-

106  EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Dissenting opinion des Richters Spano, joined by Kjolbro, Rn. 36. 107  EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 73. 108  Siehe die trotz des Einwands der Regierung erfolgten zahlreichen Verweise auf internationales Soft Law in EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Repub­ lic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 182, 184, 198, 200. 109  In EGMR (Große Kammer) – Biao v. Denkmark, 24.05.2016 – 38590/10, Rn. 136 f., verwies der Gerichtshof trotz der Kritik der richterlichen Minderheit auf die unverbindlichen Standards verschiedener Institutionen – darunter jedoch nicht die Europaratsdokumente. 110  Vgl. die Verweise auf internationale Soft Law-Dokumente in EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 145.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile139

hof.111 Der Darstellung relevanter Europaratsdokumente in „The facts“ in Yumak and Sadak v. Turkey, in dem es um die 10 %-Hürde bei türkischen Parlamentswahlen ging, stellte der EGMR beispielsweise voran: „The Council of Europe has not laid down binding rules on the question of electoral thresholds.“112 Nichtsdestotrotz erwähnte der EGMR die unverbindlichen Europaratsstandards zweier Dokumente der Parlamentarischen Versammlung daraufhin in seiner Urteilsbegründung.113 In Shtukaturov v. Russia bekräftigte der EGMR bezüglich einer Empfehlung des Ministerkomitees: „Al­ though these principles have no force of law for this Court, they may define a common European standard in this area.“114 In seinen grundlegenden Erläuterungen zur evolutiven Auslegung der EMRK in Demir and Baykara v. Turkey erwähnte der Gerichtshof auch die Berücksichtigung internationaler Soft Law-Dokumente bei der Prüfung eines europäischen Konsenses, und stellte hinsichtlich der Erkenntnisquelle der Europaratsdokumente schlicht fest: „In a number of judgments the Court has used, for the purpose of interpreting the Convention, intrinsically non-binding instruments of Council of Europe organs, in particular recommendations and resolutions of the Committee of Ministers and the Parliamentary Assembly […].“115 Eine nähere 111  Neben den sogleich genannten siehe etwa auch die beiden folgenden (außerhalb des Fallpools aufgefundenen) Urteile: EGMR – Slawomir Musial v. Poland, 20.01.2009 – 28300/06, Rn. 96: „In recent judgments the Court has drawn the author­ ities’ attention to the importance of this recommendation, notwithstanding its nonbinding nature for the member States […].“; EGMR – Harakchiev and Tolumov v. Bulgaria, 08.07.2014 – 15018/11, 61199/12, Rn. 204: „The automatic segregation of life prisoners from the rest of the prison community and from each other […] runs counter to two instruments to which the Court attaches considerable importance des­ pite their non-binding character.“ Er bezog sich hier auf Rule 26 der EPR aus CM/ Rec(2006)2 sowie die CM/Rec(2003)23 „on the management by prison administrations of life sentence and other long-term prisoners“. In EGMR (Große Kammer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99 stützten die Richter Costa, Zupancic, Türmen ihre Joint dissenting opinion unter anderem auf drei Europaratsdokumente, und führten aus: „One has only to read the judgment to realise that these instruments – which admittedly are not binding – emphasise, among other things, the need to protect long-term immigrants against expulsion […].“, vgl. Rn. 7 (Hervorhebungen erfolgten jeweils durch Verfasserin). 112  EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 51. 113  EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 130. 114  EGMR – Shtukaturov v. Russia, 27.03.2008 – 44009/05, Rn. 95; so auch in EGMR – Meier v. Switzerland, 09.02.2016 – 10109/14, Rn. 78; EGMR – Harakchiev and Tolumov v. Bulgaria, 08.07.2014 – 15018/11, 61199/12, Rn. 204; EGMR – A. – M.V. v. Finland, 23.03.2017 – 53251/13, Rn. 74. 115  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 74.

140 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Rechtfertigung dieser Berücksichtigung blieb aus; die Erläuterungen konzentrierten sich vielmehr auf eine Beschreibung der in ständiger Rechtsprechung gefestigten Auslegungspraxis des Gerichtshofs, die er nicht weiter infrage stellte. Angesichts dessen gehören Europaratsdokumente als Beispiel internationalen Soft Laws für den Gerichtshof grundsätzlich zu den möglichen Erkenntnisquellen bei der Bestimmung eines europäischen Konsenses – ungeachtet ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit.116 Der Gerichtshof berücksichtigt dabei mitunter auch noch „weichere“ Dokumente als Resolutionen und Empfehlungen der Europaratsorgane: In Fabris v. France beispielsweise zog er einen Entwurf für eine Empfehlung des Ministerkomitees heran, der noch nicht einmal beschlossen worden war;117 in Molla Sali v. Greece berücksichtigte er ein „Introductory memorandum“118 zu einem Resolutionsentwurf der Parlamentarischen Versammlung, welcher selbst noch nicht fertiggestellt, geschweige denn von der Parlamentarischen Versammlung beschlossen worden war.119 Ob die rechtliche Unverbindlichkeit von Europaratsdokumenten trotz deren grundsätzlicher Heranziehung durch den Gerichtshof gleichwohl Auswirkungen auf die Gewichtung im Rahmen der rechtsvergleichenden Untersuchungen hat, gilt es im Folgenden weiter zu untersuchen.

116  Dieses Ergebnis entspricht auch der Feststellung von Glas: „[T]he inherently non-binding character of a document does not stand in the way of the Court’s reliance on it or even to the Court attaching considerable importance to it.“, Glas, HRLJ 17 (2017), 97, 105. Auch van Drooghenbroeck, Tulkens und Krenc stellen fest, dass der Gerichtshof sich nicht mit der Frage nach einer (expliziten oder impliziten) Zustimmung der Europaratsstaaten zur Verwendung von Soft Law-Instrumenten zur Auslegung der EMRK befasst, siehe van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimes­ trielle des droits de l’homme 2012, 433, 456. 117  EGMR (Große Kammer) – Fabris v. France, 07.02.2013 – 16574/08, Rn. 35, 58. In EGMR (Große Kammer) – Sørensen and Rasmussen v. Denmark, 11.01.2006 – 52562/99, 52620/99 nahm der Gerichtshof eine Empfehlung des Ministerkomitees, die letztlich mangels Erreichens der erforderlichen Mehrheit nicht verabschiedet wurde, in seine Darstellung zur internationalen Entwicklung gegen die Zulässigkeit sogenannte „closed shop agreements“ auf, mit denen die Einstellung von Arbeitnehmern von ihrer Mitgliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft abhängig gemacht wird, vgl. Rn. 72 ff. 118  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Molla Sali v. Greece, 19.12.2018 – 20452/14, Rn. 77. 119  EGMR (Große Kammer) – Molla Sali v. Greece, 19.12.2018 – 20452/14, Rn. 140, 154.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile141

B. Der grundsätzliche Umgang mit Mehrheitsbeschlüssen von Europaratsdokumenten Insgesamt hat die Stimmverteilung bei der Verabschiedung von Europaratsdokumenten keinen erkennbaren Einfluss in den Urteilsbegründungen des EGMR.120 Der Gerichtshof zog in der weit überwiegenden Anzahl der untersuchten Urteile Europaratsdokumente heran, ohne auf die genaue Stimmverteilung einzugehen.121 Lediglich ganz vereinzelt sind in den Urteilen Hinweise auf einen nur mit Mehrheit ergangenen Beschluss eines Europaratsdokuments zu finden: In A, B and C v. Ireland wies der EGMR in „The facts“ vor der Darstellung einer thematisch einschlägigen Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung darauf hin, dass die vier Vertreter Irlands gegen diese Empfehlung gestimmt und zwei von ihnen die Parlamentarische Versammlung überdies gedrängt hatten, bei den Regelungen eines früheren Dokuments zu bleiben.122 In seiner Urteilsbegründung äußerte sich der EGMR jedoch nicht weiter zu den internationalen Dokumenten, da er den Konsens aus dem angestellten Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten als so überzeugend empfand, dass eine Untersuchung des internationalen Rechts nicht notwendig sei.123 Hieraus lässt sich also kein Rückschluss auf die Auffassung des EGMR zum Einwand der Regierung ziehen. In Fabris v. France legte der EGMR in „The facts“ dar, dass die vom Ministerkomitee geplante Empfehlung die European Convention on the Legal Status of Children Born out of Wedlock von 1975 ersetzen solle, deren Be120  Diese Vermutung wurde bereits von van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 477 f., geäußert; zu diesem Schluss kommt weiter auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 99 f. 121  Überprüfbar ist die Stimmverteilung lediglich für Dokumente der Parlamentarischen Versammlung, über die Homepage (siehe Parlamentarische Versammlung, Voting Results, http://assembly.coe.int/nw/xml/Votes/DB-Votes-ListingSession-EN. asp (abgerufen am 28.08.2020)). Die in EGMR (Große Kammer) – Vallianatos a. o. v. Greece, 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09, Rn. 91 herangezogene PACE Res. 1728(2010) etwa wurde mit 51 Stimmen, 25 Gegenstimmen und 5 Enthaltungen verabschiedet, der EGMR ging in seinem Urteil indes nicht auf diese Stimmverteilung ein; ebenso in EGMR (Große Kammer)  – Medžlis Islamske Zajednice Brčko a. o. v. Bosnia and Herzegowina, 27.06.2017 – 17224/11, Rn. 80, bei PACE Res. 1729 (2010) (welche mit nur 21 Stimmen und keiner Gegenstimme oder Enthaltung verabschiedet wurde); EGMR (Große Kammer) – Sargsyan v. Azerbaijan, 16.06.2015 – 40167/06, Rn. 237, bei PACE Res. 1708 (2010) (85 Stimmen, 3 Gegenstimmen, 3 Enthaltungen). 122  EGMR (Große Kammer) – A, B and C v. Ireland, 16.12.2010 – 25579/05, Rn. 107. 123  EGMR (Große Kammer) – A, B and C v. Ireland, 16.12.2010 – 25579/05, Rn. 235.

142 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

stimmungen inzwischen nicht mehr mit der Rechtsprechung des EGMR übereinstimmten, und erwähnte dabei, dass Frankreich noch nicht einmal diese inzwischen überholte Konvention ratifiziert hatte.124 Gleichwohl verwies er in „The law“ für die Begründung eines europäischen Konsenses auf den Entwurf für die besagte Empfehlung.125 Dies entspricht dem bereits dargelegten Umgang des Gerichtshofs mit völkerrechtlichen Verträgen, die nicht von allen Europaratsstaaten beziehungsweise sogar von dem am konkreten Verfahren beteiligten Mitgliedstaat ratifiziert sind. Er stellt nicht auf die Stimmverteilung, sondern die bloße Existenz des internationalen Übereinkommens ab.126 „[I]t is not necessary for the respondent State to have ratified the entire collection of instruments that are applicable in respect of the precise subject matter of the case concerned. It will be sufficient for the Court that the relevant international instruments denote a continuous evolution in the norms and principles applied in international law or in the domestic law of the majority of member States of the Council of Europe and show, in a precise area, that there is common ground in modern societies.“127

Hinsichtlich Soft Law-Dokumenten allgemein wurde in den Ausführungen des Gerichtshofs in Demir and Baykara v. Turkey schließlich ebenfalls deutlich, dass der Urheber eines Soft Law-Dokuments für ihn nicht entscheidend ist: „[T]he Court [supports] its reasoning by reference to norms emanating from other Council of Europe organs, even though those organs have no function of represent­ ing States Parties to the Convention, whether supervisory mechanisms or expert bodies. In order to interpret the exact scope of the rights and freedoms guaranteed by the Convention, the Court has, for example, made use of the work of the European Commission for Democracy through Law […].“128

Nach eigener Aussage kommt es dem EGMR bei der Frage der Relevanz eines Soft Law-Dokuments damit nicht darauf an, ob dessen Urheber den Kreis der Europaratsstaaten repräsentieren.129

124  EGMR

(Große Kammer) – Fabris v. France, 07.02.2013 – 16574/08, Rn. 35. (Große Kammer) – Fabris v. France, 07.02.2013 – 16574/08, Rn. 58 (Verweis auf Rn. 35, wo das entsprechende Dokument dargelegt ist). 126  Vgl. erneut „Zweiter Teil, § 2 B. II. 2.“ 127  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 86. 128  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 75 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 129  Vgl. in diesem Sinne auch van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimes­ trielle des droits de l’homme 2012, 433, 455 f. 125  EGMR



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile143

C. Die Rolle von Europaratsdokumenten im Rahmen der Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter Erkenntnisquellen In 55 der untersuchten Urteile berücksichtigte der EGMR Europaratsdokumente neben anderen Erkenntnisquellen in seiner Urteilsbegründung. Die für seine Entscheidung potenziell relevanten Erkenntnisquellen führt der Gerichtshof grundsätzlich in „The facts“ auf und zitiert dabei die wichtigsten Passagen. Dabei trennt er die Erkenntnisquellen nicht anhand ihrer Rechtsqualität, sondern zumeist nach den Organisationen, in deren Rahmen sie erlassen wurden. In Stummer v. Austria etwa unterschied der EGMR zwischen „A. United Nations instruments“ und „B. Council of Europe materials“.130 Darüber hinaus führt er auch die rechtsvergleichende Untersuchung der nationalen Regelungen in den einzelnen Europaratsstaaten auf, in Stummer v. Austria etwa unter „C. Comparative European law“.131 Diese Form der Darstellung hat jedoch keine Indizwirkung für die Auswahl und Gewichtung der Erkenntnisquellen in der Urteilsbegründung unter „The law“. Fraglich ist, wie zwischen den in „The facts“ aufgeführten Erkenntnisquellen jene auswählt werden, die in „The law“ in die Urteilsbegründung einfließen. Dies wird im Folgenden am Beispiel der Europaratsdokumente untersucht. Es wird erörtert, welche Rolle den Europaratsdokumenten in der Rechtsprechung des EGMR zukommt, also insbesondere ob es bei der Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter Erkenntnisquellen feste Kriterien gibt. Bereits hier sei angemerkt, dass eindeutige Ergebnisse nicht hinsichtlich aller Fragestellungen möglich sind. Die Untersuchung lieferte mitunter lediglich einige Anhaltspunkte, anhand derer Rückschlüsse auf mögliche Auswahlkriterien des EGMR gezogen werden können. Derartige Tendenzen sollen im Folgenden aber ebenfalls dargelegt und erörtert werden. Vor dem Hintergrund des besonderen Untersuchungsinteresses am euro­ päischen Konsens wird zunächst die Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung erörtert, welche die folgende rechtsvergleichende Untersuchung zur Konsens-Ermittlung vorgibt und damit eine wichtige Weiche auch für die Rolle von Europaratsdokumenten stellen kann (I.). Daraufhin wird untersucht, in welchem Verhältnis Europaratsdokumente neben weiteren internationalen Übereinkommen zum Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten stehen (II.) – die hier relevanten rechtsvergleichenden Untersuchungen, bei denen all diese Erkenntnisquellen einbezogen werden, finden fast ausschließlich zur Ermittlung eines europäischen Konsenses statt. 130  EGMR (Große Kammer) – Stummer v. Austria, 07.07.2011 – 37452/02, Rn.  47 ff. 131  EGMR (Große Kammer) – Stummer v. Austria, 07.07.2011 – 37452/02, Rn. 60.

144 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Schließlich wird die Auswahl und Gewichtung internationaler Übereinkommen, und dabei vor allem das Verhältnis von Europaratsdokumenten zu anderen internationalen Übereinkommen untersucht (III.); da die Berücksichtigung von Europaratsdokumenten lediglich neben weiteren internationalen Übereinkommen nur selten ausdrücklich in Bezug auf die Konsens-Ermittlung erfolgt, beziehen sich die Erörterungen in diesem Abschnitt nicht ausschließlich auf die Konsens-Methode. I. Die Abstraktionsebene der rechtsvergleichenden Fragestellung als Steuerungsinstrument für die Konsens-Prüfung Die Abstraktionsebene der rechtsvergleichenden Fragestellung gibt die Konsens-Prüfung inhaltlich vor und kann damit maßgeblich über ihren Ausgang bestimmen.132 Dies wurde bereits in der bereichsspezifischen Untersuchung anhand des Falles X, Y and Z v. The United Kingdom deutlich, und zeigte sich auch in weiteren Urteilen. Bei der Festlegung der für die KonsensPrüfung maßgeblichen Fragestellung scheint der EGMR unterdessen keiner klaren Methode zu folgen. Wie sich anhand der folgenden Beispiele zeigt, variiert die Abstraktionsebene der rechtsvergleichenden Fragestellung vielmehr von Urteil zu Urteil. In Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece prüfte der EGMR eine Pflicht der Staaten aus Art. 3 ZP 1, ihren eigenen Staatsangehörigen die Teilnahme an Parlamentswahlen aus dem Ausland heraus zu ermöglichen. Er stellte zunächst fest, dass sich eine solche Pflicht weder aus internationalen oder regionalen völkerrechtlichen Verträgen (IPBürg, AMRK, Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker) noch deren Auslegung durch die zuständigen Spruchkörper ergebe.133 Es sei zwar richtig, dass die Europaratsinstitutionen den Staaten nahegelegt hätten, ihren im Ausland lebenden Bürgern so weit als möglich die Teilnahme an Wahlen zu ermöglichen. So habe die PACE Res. 1459 (2005) in dieser Hinsicht insbesondere die Briefwahl nahegelegt. PACE Rec. 1714 (2005) empfehle ebenso, die Bedingungen für im Ausland lebende Wahlberechtigte zur effektiven Ausübung ihres Wahlrechts zu verbessern. Auch die Venedig-Kommission hätte zwar festgestellt, dass die externe Wahlteilnahme in Europa zugenommen habe, und den Staaten die Ermöglichung dessen auch empfohlen; allerdings hätte sie dies nicht als Verpflichtung der Staaten angesehen.134 Der 132  Siehe auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 14 f. 133  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 72. 134  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 73.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile145

EGMR nahm sodann Bezug auf den Rechtsvergleich, nach welchem die große Mehrheit der Staaten (37) ihren Bürgern eine Teilnahme an Wahlen aus dem Ausland zwar ermöglichte; einige (acht) jedoch nicht. Bei genauerem Hinsehen würde die Ausgestaltung der Möglichkeiten zur Teilnahme aus dem Ausland zwischen den Staaten auch stark variieren. Hieraus schloss der EGMR, dass es derzeit keine Basis für eine Verpflichtung der Staaten gebe, wonach sie ihren im Ausland lebenden Bürgern die Teilnahme an Wahlen von dort aus ermöglichen müssten.135 Angesichts der Tatsache, dass 37 von 45 untersuchten Staaten ihren Bürgern die Teilnahme an Wahlen aus dem Ausland auf irgendeine Weise (per Briefwahl, im Internet oder in im Ausland errichteten Wahllokalen) ermöglichten,136 sowie der genannten Europaratsdokumente, die dies ebenfalls empfahlen, verwundert diese Schlussfolgerung. Wie auch die Kammer im erstinstanzlichen Urteil ausgeführt hatte, sind 37 immerhin die große Mehrheit der Staaten.137 Der Gerichtshof stützte sich letztlich auf die unterschiedlichen Herangehensweisen der Staaten, senkte also die Abstraktionsebene und verlangte für die Annahme eines Konsenses die übereinstimmende Anwendung konkreter Maßnahmen zur Ermöglichung der Wahlteilnahme aus dem Ausland. Durch die Verschiebung der rechtsvergleichenden Fragestellung auf diese sehr konkrete Ebene kam der EGMR damit zu dem Ergebnis, dass kein Konsens vorliege. Im Hinblick auf das Anliegen der Beschwerdeführer ist dieses Vorgehen fragwürdig; schließlich ging es ihnen nicht um eine bestimmte Art der Wahlteilnahme aus dem Ausland. Sie wollten lediglich auf irgendeine Weise die Möglichkeit hierzu haben. In Khamtokhu and Aksenchik v. Russland ist demgegenüber zu beobachten, wie der EGMR die Abstraktionsebene sehr hoch ansetzte und so wiederum zu dem Ergebnis kam, dass kein Konsens vorliege. Hier hatten die Beschwerdeführer – zwei zu lebenslangen Haftstrafen verurteilte Männer – eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 14 EMRK unter anderem dadurch geltend gemacht, dass das russische Strafgesetzbuch die Verhängung einer lebenslangen Strafe für Frauen ausschließt. Sie rügten diese Regelung als Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts. In Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung prüfte der EGMR eine mögliche margin of appreciation. Dafür berücksichtigte er zunächst verschiedene europäische und internationale Übereinkommen zum Schutz von Frauen gegen genderbasierte Gewalt, Missbrauch und sexuelle Belästigung in Gefängnissen, so135  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 74. 136  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07 Rn. 33 ff. 137  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 49.

146 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

wie den Schutz von Schwangeren und Müttern.138 Hieraus leitete der Gerichtshof ein bestehendes öffentliches Interesse am Ausschluss weiblicher Inhaftierter von lebenslangen Freiheitsstrafen ab. Darauf folgend erklärte der Gerichtshof, dass es abgesehen von dem Konsens, keine lebenslangen Freiheitsstrafen für Minderjährige zu verhängen und für verhängte Freiheitsstrafen eine nachträglich Überprüfung zu ermöglichen, in den Rechtsordnungen der Europaratsstaaten auf diesem Gebiet „little common ground“ gebe.139 In neun Staaten gebe es keine lebenslangen Freiheitsstrafen, eine Mehrheit habe sie aber in ihren Rechtsordnungen vorgesehen. Einige Konventionsstaaten würden Täterinnen von der lebenslangen Freiheitsstrafe ausschließen, die zum Zeitpunkt der Tat oder der Verurteilung schwanger waren. Eine andere Gruppe von Staaten habe die lebenslange Inhaftierung von Täterinnen darüber hinaus vollständig ausgeschlossen. Der EGMR schloss mit der Feststellung, dass es keinen Konsens gebe, und sich das Recht noch entwickle: „[T]he area in question should still be regarded as one of evolving rights, with no established consensus, in which States must also enjoy a margin of appreciation in the timing of the introduction of legislative changes […]. Since the delicate issues raised in the present case touch on areas where there is little common ground amongst the member States of the Council of Europe and, generally speaking, the law appears to be in a transitional stage, a wide margin of appreciation must be left to the authorities of each State.“140

Neben Russland waren es jedoch nur drei weitere Staaten, die Frauen von der lebenslangen Haft ausschlossen. Die vom EGMR daneben vorgebrachte Gruppe der Staaten, die Beschränkungen bei zum Zeitpunkt der Tat oder der Verurteilung schwangeren Täterinnen vorsahen, war für die Untersuchung überdies irrelevant, da in Russland gerade nicht besondere Härtefälle, sondern pauschal alle weiblichen Personen von lebenslanger Haft ausgeschlossen wurden. Darüber hinaus waren dies ohnehin nur drei Staaten.141 Im Ergebnis standen mit Russland vier Staaten gegen die übrigen 33 Staaten, die eine lebenslange Freiheitsstrafe kennen und dabei nicht zwischen den Ge138  EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Rn. 82. Herangezogen wurden der IPBürg, der den Schutz Schwangerer vor der Todesstrafe normiert; die UN Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women; weiter die unverbindlichen UN Rules for the Treatment of Women Prisoners and Non-custodial measures for Women Offenders („Bangkok Rules“); sowie die EPR der CM/Rec(2006)2 und die European Parliament’s Resolution of 13 March 2008 „on the particular situation of women in prison“. 139  EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Rn. 83. 140  EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Rn. 84 f. 141  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Rn. 22.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile147

schlechtern differenzieren.142 Damit lag eigentlich ein recht eindeutiger Konsens im Sinne der Beschwerdeführer vor. Auch die Argumentation des Gerichtshofs anhand der übrigen Erkenntnisquellen vermag nicht zu überzeugen. Diese legten in keiner Weise nahe, Frauen pauschal von lebenslanger Haft auszuschließen. Vielmehr sahen sie lediglich besondere Schutzmaßnahmen für Frauen im Gefängnis allgemein vor.143 Die Konsens-Prüfung ist damit insgesamt von einer bemerkenswerten Unstetigkeit der zugrundeliegenden rechtsvergleichenden Fragestellung geprägt. Die internationalen Übereinkommen analysierte der EGMR hinsichtlich besonderer Regelungen für Frauen in Haftanstalten, und damit auf einer geringen Abstraktionsebene; die Rechtslage in den Europaratsstaaten dagegen analysierte er hinsichtlich der Regelungen zur lebenslangen Freiheitsstrafe im Allgemeinen, wählte damit eine hohe Abstraktionsebene und kam zu dem Ergebnis, dass kein Konsens vorliege. Diese hohe Abstraktionsebene entsprach unterdessen nicht dem Anliegen der Beschwerdeführer, die ihre Beschwerde gerade nicht auf die grundsätzliche Zulässigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe, sondern auf die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafen stützten. In dieser Hinsicht hätte die Rechtslage in den Europaratsstaaten durchaus für einen Konsens gesprochen.144 Wie sich aus den Sondervoten ergibt, hatte der EGMR offenbar von vornherein das Ergebnis der Konventionsverletzung durch Russland vermeiden wollen. Die russische Regierung hatte angedeutet, dass die Konsequenz einer Verurteilung nicht etwa die Besserstellung männlicher Gefangener wäre, sondern vielmehr die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe auch für Frauen.145 Angesichts der in den Sondervoten deutlich gewordenen, offensichtlich überwiegend ablehnenden Haltung vieler Richter zur lebenslangen Freiheitsstrafe stimmten diese gegen eine Verletzung. Die Richterin Nußberger, die mit der Mehrheit gegen eine Konventionsverletzung gestimmt hatte, beschrieb dementsprechend ihre Schwierigkeiten, Russland dafür zu kritisieren, einen Schritt in die richtige Richtung gemacht zu haben und zumindest 142  Vgl. die Ausführungen unter „Comparative law“, EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Rn. 19–22. 143  So auch die Kritik der abweichenden Meinung, vgl. EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Joint partly dissenting opinion der Richter Sicilianos, Møse, Lubarda, Mourou-Vikström und Kucsko-Stadlmayer, Rn.  6 ff. 144  Vgl. wiederum auch die Kritik der abweichenden Meinung, EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Joint partly dissenting opinion der Richter Sicilianos, Møse, Lubarda, Mourou-Vikström und Kucsko-Stadlmayer, Rn. 17 ff. 145  EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Rn. 42.

148 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

eine Gruppe von Personen von der lebenslangen Freiheitsstrafe auszuschließen. Sie stimmte der abweichenden Mindermeinung zu, wonach die Gründe für die Ablehnung einer Konventionsverletzung „nicht wirklich überzeugen“, begründete ihr Votum aber mit der Aussage: „Sometimes ‚better is the enemy of good‘“.146 Im Ergebnis mag diese Entscheidung nachvollziehbar sein; methodisch ist sie jedoch unbefriedigend und offenbart ein inkonsistentes Vorgehen bei der Konsens-Prüfung durch ein ergebnisorientiertes Verschieben der Abstraktionsebene. Die Inkonsequenz bei der Festlegung der Abstraktionsebene zeigt sich auch anhand des Falles von Fabris v. France, bei dem sich theoretisch ebenso die Möglichkeit eröffnet hätte, einen Konsens durch das Verschieben der rechtsvergleichenden Fragestellung abzulehnen. Hier hatte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts aus Art. 1 Abs. 1 ZP 1 i. V. m. Art. 14 EMRK geltend gemacht, da ihm nach dem französischen Recht als unehelichem Kind ein geringerer Anteil am Erbe seiner verstorbenen Mutter zustand, als seinen ehelich geborenen Geschwistern. Der Rechtsvergleich zwischen 42 Staaten ergab, dass 40 Staaten ihr Erbrecht unabhängig vom Status der Eltern gestalten. 21 davon haben in jeder Hinsicht dieselben Regelungen für alle Kinder, 19 machen in bestimmten Rechtsbereichen zwar Unterschiede zwischen ehelichen und unehelichen Kindern, aber explizit nicht beim Erbrecht. Der EGMR las hieraus einen Konsens zugunsten der Gleichbehandlung aller Kinder, ob ehelich oder unehelich, ab,147 und entsprach damit auch dem Anliegen des Beschwerdeführers. Diese Argumentation ist nachvollziehbar; vor dem Hintergrund der Argumentation in Khamatschukov v. Russland wäre hier jedoch ebenfalls denkbar gewesen, dass der EGMR eine abstraktere rechtsvergleichende Frage stellen, und nach der einheitlichen Herangehensweise in Fragen der Gleichbehandlung ehelicher und unehelicher Kinder allgemein fragen würde. Bei 19 von 40 Staaten hätte damit zumindest kein eindeutiger Konsens vorgelegen.148 146  EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Concurring opinion der Richterin Nußberger, Rn. 1; Richterin Turkovic, die – wie auch zwei weitere Richter – mit ähnlicher Begründung gegen eine Verletzung gestimmt hatte, sprach von einem „real dilemma“, EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Concurr­ing opinion der Richterin Turkovic, Rn. 6. 147  EGMR (Große Kammer) – Fabris v. France, 07.02.2013 – 16574/08, Rn. 58. 148  Ein weiteres Beispiel für die Konsens-Bestimmung auf hoher Abstraktionsebene ist der Fall EGMR (Große Kammer)  – Leyla Şahin v. Turkey, 10.11.2005  – 44774/98, in dem es um ein Kopftuchverbot in Universitäten ging. Hier argumentierte die Mehrheit der Richter, in der Frage eines Kopftuchverbots in Bildungseinrichtungen gebe es aufgrund der vielfältigen unterschiedlichen Herangehensweisen der Europaratsstaaten keinen Konsens, vgl. Rn. 109. Die Richterin Tulkens entgegnete in ihrem Sondervotum, dass es hinsichtlich der Frage eines Kopftuchverbots in Universi-



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile149

Wie beliebig die rechtsvergleichende Argumentation des Gerichtshofs anhand der Festlegung der Fragestellung werden kann, wird auch am Fall Bărbulescu v. Romania deutlich. Hier hatte ein Angestellter geklagt, dessen Arbeitgeber seine Internetkommunikation überwacht und ihm infolge der Kenntnisnahme von der privaten Nutzung eines Yahoo Messenger Dienstes gekündigt hatte. Er beschwerte sich vor dem EGMR über eine Verletzung seiner Privatsphäre aus Art. 8 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof untersuchte, ob der Staat seine positive obligation aus der Konventionsbestimmung verletzt habe und sprach den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre eine weite margin of appreciation zu.149 Dies stützte er auf das Ergebnis des Rechtsvergleichs, wonach die untersuchten 34 Staaten zwar grundsätzlich alle den Schutz der Privatsphäre und der geheimen Korrespondenz anerkennen, unter ihnen jedoch nur sechs Staaten spezielle Regelungen zur Privatsphäre am Arbeitsplatz getroffen hätten. Der EGMR schloss hieraus, dass es keinen europäischen Konsens in diesem Bereich gebe.150 Den ausführlichen Überblick über andere Erkenntnisquellen in dem betreffenden Bereich aus „The facts“, darunter die CM/Rec(2015)5 „on the processing of personal data in the context of employment“, welche durchaus Regelungen zum Umgang mit persönlichen Daten durch den Arbeitgeber enthält,151 berücksichtigte der EGMR an dieser Stelle nicht. Da­ raufhin untersuchte er in der Verhältnismäßigkeitsprüfung die konkrete Frage nach der Einhaltung von Verfahrensvorschriften bei der Überwachung des Arbeitnehmers, insbesondere der vorherigen Ankündigung der Überwachung, und verwies hier nun auf die CM/Rec(2015)5, sowie darüber hinaus auch auf den „Code of Practice on the Protection of Workers’ Personal Data“ der

täten durchaus einen Konsens der Europaratsstaaten gebe, welcher gegen ein Kopftuchverbot spreche, vgl. Dissenting opinion der Richterin Tulkens, Rn. 3. Umgekehrt argumentierte der EGMR in dem bereits dargestellten Fall Vallianatos a. o. v. Greece (vgl. erneut „Dritter Teil, § 4 B.“) auf niedrigerer Abstraktionsebene und kam angesichts der Tatsache, dass neben Griechenland nur ein weiterer Staat die eingetragene Lebenspartnerschaft nicht für gleichgeschlechtliche Paare öffne, während 17 Staaten dies täten, zu dem Schluss dass ein Trend vorliege – wie auch Djeffal, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 71, 86, zutreffend anmerkt, hätte sich bei einer abstrakteren Sichtweise indes ein anderes Bild ergeben: Dann stünden 26 Staaten, die irgendeine Form der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften kennen, gegen 21, die keine derartigen Regelungen haben. 149  EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn. 119. 150  EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn. 118. 151  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017 – 61496/08, Rn. 43.

150 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

ILO.152 Daneben verwies er erneut auch auf die Rechtslage in den Europaratsstaaten;153 eine andere, im Hinblick auf eine konkretere Fragestellung durchgeführte rechtsvergleichende Untersuchung zwischen den Rechtsordnungen der Europaratsstaaten hatte hier nun ergeben, dass 34 Staaten Arbeitgeber zur vorherigen Ankündigung von Überwachungsmaßnahmen verpflichten.154 Unter anderem155 angesichts dessen wurde im Ergebnis trotz der staatlichen margin of appreciation auch eine Verletzung des Rechts auf Privatsphäre aus Art. 8 Abs. 1 EMRK angenommen.156 Warum die margin of appreciation nicht bereits im Hinblick auf die fallentscheidenden konkreten Fragestellungen von vornherein als eng bestimmt wurde, ist nicht ersichtlich. Dieser Fall zeigt damit zugleich wiederum auf, wie schwierig die Unterscheidung von Verhältnismäßigkeitsprinzip und margin of appreciationDoktrin anhand der rechtsvergleichenden Argumentation des Gerichtshofs in beiden Zusammenhängen ist. In X a. o. v. Austria wird deutlich, dass die Festlegung der für die Entscheidung maßgeblichen Abstraktionsebene auch innerhalb der Großen Kammer umstritten sein kann. Hier machte ein gleichgeschlechtliches Paar eine Diskriminierung gegenüber verschiedengeschlechtlichen Paaren geltend. Ein Partner wollte das leibliche Kind des anderen adoptieren (sogenannte „sec­ ond parent adoption“), was in Österreich bei gleichgeschlechtlichen Paaren verboten, bei heterosexuellen Paaren hingegen erlaubt war.157 In seinen Ausführungen zum europäischen Konsens ging der Gerichtshof von einer sehr konkreten rechtsvergleichenden Frage aus. Nach seiner Auffassung ging es vorliegend nicht um Adoptionsrechte gleichgeschlechtlicher Paare grundsätzlich, sondern um den speziellen Fall der Ungleichbehandlung nichtverheirateter heterosexueller Paare und homosexueller Paare bei der „second parent adoption“. „Although the present case may be seen against the background of the wider debate on same-sex couples’ parental rights, the Court is not called upon to rule on the 152  EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn. 133. 153  EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn. 133. 154  EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn. 53. 155  Der Gerichtshof untersuchte das Verhalten des Arbeitgebers auch im Hinblick auf den Grundsatz der Transparenz, und verwies auch hier auf die Rechtslage in den Europaratsstaaten sowie internationale Übereinkommen, vgl. EGMR (Große Kam­ mer) – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017 – 61496/08, Rn. 138. 156  EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn. 141. 157  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 11 ff.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile151 issue of second-parent adoption by same-sex couples as such, let alone on the question of adoption by same-sex couples in general. What it has to decide is a narrowly defined issue of alleged discrimination between unmarried different-sex couples and same-sex couples in respect of second-parent adoption.“158

Dementsprechend dienten als Vergleichsgruppe nur die zehn Staaten, die diese Art der Adoption bei unverheirateten Paaren erlauben. Anzumerken ist zunächst wiederum der Widerspruch dieser Argumentation zu jener in Khamtokhu and Aksenchik v. Russia. Während der Gerichtshof dort vor allem anhand der abstrakten Ebene argumentierte, wollte er in X a. o. v. Austria die rechtsvergleichende Untersuchung hinsichtlich der konkreten Fragestellung durchführen. Er erklärte, dass sechs Staaten beide Paare gleich behandeln würden, während vier ebenso wie Österreich einen Unterschied machten. Der Gerichtshof befand indes, dass die geringe Vergleichsmasse keine Rückschlüsse auf einen Konsens unter den Europaratsstaaten erlaubten.159 Es seien auch keine gewichtigen Gründe für die Ungleichbehandlung seitens der Regierung vorgebracht worden. Die Entscheidung erging mit zehn zu sieben Stimmen für eine Konventionsverletzung.160 Sieben Richter kritisierten in ihrem Sondervotum die Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung: „This approach [of the majority] raises above all a methodological issue, regarding the ‚sample‘ of member States to be taken into account. Should this have been confined to States whose legal systems lent themselves to a near-automatic comparison with that of the respondent State, or should legislation relating to the wider context of the case also have been taken into consideration?“161

Sofern ersteres der richtige Weg sei, habe die Mehrheit dem entsprochen; dann aber sei die Schlussfolgerung, hieraus ließe sich keine Aussage über einen Konsens ableiten, kurios – vielmehr ergebe sich aus dem Umstand, dass vier gegen sechs Staaten stehen, dass die Staaten sich uneinig sind und daher kein Konsens bestehe. „[I]t seems very artificial to take refuge behind the ‚narrowness of this sample‘ in order to avoid the issue by stating that no conclusions can be drawn ‚as to the existence of a possible consensus‘.“162

158  EGMR

(Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 134. (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 149. 160  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 151 ff. 161  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Joint partly dissenting opinion der Richter Casadevall, Ziemele, Kovler, Jociene, Sikuta, De Gaetano und Sicilianos, Rn. 13. 162  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Joint partly dissenting opinion der Richter Casadevall, Ziemele, Kovler, Jociene, Sikuta, De Gaetano und Sicilianos, Rn. 14. 159  EGMR

152 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Die Richter fuhren fort, dass die von der Mehrheit gewählte Abstraktionsebene jedoch zu einer Außerachtlassung eines klaren Trends führe, wonach eine große Mehrheit der Europaratsstaaten derzeit keine „second parent adop­ tion“ für unverheiratete Paare insgesamt kenne, umso weniger für gleichgeschlechtliche Paare. „To say that this is of no relevance for the purposes of the present case is, in our opinion, to take an unduly technical – and hence reductive – view of the situation Europe-wide. While the Court has and must have a sound technical grasp of issues, it must not lose sight of the major trends which are clearly in evidence across our continent, at least in the current circumstances.“163

Diese Minderheit von Richtern spricht sich also für eine höhere Abstrak­ tionsebene bei der rechtsvergleichenden Untersuchung unter Einbeziehung größerer Zusammenhänge aus. Dass auch einzelne Richter in dieser Hinsicht nicht immer stringent entscheiden, wird angesichts des Stimmverhaltens des Richters Sicilianos deutlich, der sich dem soeben dargestellten Sondervotum in X a. o. v. Austria angeschlossen hatte. In dem zuvor dargestellten Fall Khamtokhu and Aksenchik v. Russia hatte er sich ebenfalls der abweichenden Meinung angeschlossen, und hinsichtlich der maßgebenden Abstraktionsebene der rechtsvergleichenden Fragestellung eine andere Herangehensweise priorisiert. Hier wurde argumentiert, dass zur Prüfung eines europäischen Konsenses der Prüfungsbereich richtig umschrieben und damit auch die relevante Vergleichsgruppe an Staaten definiert werden müsse: „[A] comparison has to be made between what is truly comparable […]. Mixing different elements would be liable to impair the methodological clarity and lead to hasty conclusions. In the present case, what is important is to know whether there is justification for exempting female offenders from life imprisonment by way of a general rule. Consequently, the reference group is the one composed of the States which make provision in their legislation for the penalty in question. We observe that of the thirty-seven member States of the Council of Europe in which convicted offenders can be sentenced to life imprisonment, only Albania, Azerbaijan and the Republic of Moldova (in addition to Russia) generally exempt female offenders from this sentence in their criminal law […]. It thus appears that there is a large majority of States which do not exempt female offenders from life imprisonment by way of a general rule.“164

163  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Joint partly dissenting opinion der Richter Casadevall, Ziemele, Kovler, Jociene, Sikuta, De Gaetano und Sicilianos, Rn. 15. 164  EGMR (Große Kammer) – Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, 24.01.2017 – 60367/08, 961/11, Joint partly dissenting opinion der Richter Sicilianos, Møse, Lubarda, Mourou-Vikström und Kucsko-Stadlmayer, Rn. 19.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile153

Damit sollte die Vergleichsgruppe auf die Staaten reduziert werden, die lebenslange Freiheitsstrafen kennen; gewählt wurde also eine konkretere rechtsvergleichende Fragestellung, die nicht den gesamten Bereich der Freiheitsstrafen in Betracht zog. Vergleichbar hatte die Mehrheit in X a. o. v. Austria mit ihrer von Sicilianos kritisierten Herangehensweise argumentiert, indem sie die Vergleichsgruppe auf die Staaten reduzierte, die unverheirateten Paaren die „second parent adoption“ erlaubten. Wie schwierig die Bestimmung der für den jeweiligen Fall maßgebenden rechtsvergleichenden Fragestellung sein kann, wird unterdessen an V. v. The United Kingdom deutlich.165 In diesem Fall stand die Frage des Mindestalters für Strafmündigkeit in Rede. Geklagt hatte eine zum Zeitpunkt der von ihr begangenen Straftat zehn Jahre alte Person, die im Strafprozess wegen Mordes zu einer langjährigen166 Haftstrafe verurteilt worden war und eine Verletzung von Art. 3 EMRK geltend machte. Der EGMR erklärte, dass die meisten der Europaratsstaaten zwar ein höheres Mindestalter als Großbritannien festgesetzt hätten; allerdings gelte in anderen Staaten wie Zypern, Irland, Liechtenstein und der Schweiz ein geringeres Mindestalter. Weiter sei auch keine klare Tendenz aus den relevanten internationalen Übereinkommen ersichtlich. Im Ergebnis lehnte er daher einen europäischen Konsens ab, obwohl die meisten Staaten das Alter höher als 10 Jahre festsetzen. Angesichts des Zwecks der EMRK, einen Mindeststandard im Menschenrechtsschutz zu gewährleisten, ist diese Schlussfolgerung zweifelhaft. Immerhin ist Großbritannien mit seinem sehr niedrigen Mindestalter in der Minderheit – die meisten der untersuchten Staaten haben ein höheres Mindestalter für die Strafmündigkeit festgesetzt; laut abweichender Meinung steht es hier 41 zu 4.167 Der EGMR argumentierte jedoch, dass es in der Festlegung des Mindestalters extreme Unterschiede zwischen den Staaten gebe – einige machten es schon bei acht Jahre aus, andere erst bei 21 – eine klare Tendenz sei nicht zu erkennen. 165  Parallel entschieden wurde der Fall EGMR (Große Kammer) – T. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24724/94 des in dem nationalen Verfahren Mitangeklagten, welcher ebenfalls erst zehn Jahre alt war. 166  Die genaue Strafdauer stand zum Zeitpunkt des Urteils der Großen Kammer noch nicht fest, in Rede standen Strafen zwischen acht und 15 Jahre Freiheitsstrafe, vgl. EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 20–28. 167  Joint partly dissenting opinion der Richter Pastor Ridruejo, Ress, Makarczyk, Tulkens und Butkevych, EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 1. Genaue Informationen, wie viele Staaten verglichen worden waren, und wie viele von ihnen genau welche Regelung hatten, wurden im Urteil nicht dargelegt (Vgl. Rn. 50: „The age of criminal responsibility is […] fourteen in Germany, Austria, Italy and many eastern European countries […]“; Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin).

154 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Fraglos kann die Antwort hierauf lauten, dass jedenfalls ein Konsens darüber besteht, dass das Mindestalter höher als zehn Jahre sein muss.168 Wie bereits festgestellt, ist das Fordern eines einstimmigen Konsenses auf sehr konkreter Ebene illusorisch; die EMRK soll menschenrechtliche Mindeststandards setzen – wenn also eine Mehrheit der Staaten einen zumindest höheren Standard kennt als der beklagte Staat, dann liegt eine Verletzung des menschenrechtlichen Mindeststandards durch den beklagten Staat nahe. Dem EGMR reichte hier nicht, dass fast alle Staaten eine andere Regelung haben als Großbritannien. Indem er forderte, dass es alle „gleich anders“ machen, setzte er die rechtsvergleichende Ebene sehr konkret an und ging damit wiederum über die Forderung des Beschwerdeführers hinaus. Gleichwohl offenbart dieser Fall ein Dilemma: Wenn das Spektrum der Mindestalterregelungen von 7 bis 21 Jahren reicht, wo ist die Grenze zu ziehen? Im Gegensatz zu den bisher dargestellten Fällen ist vorliegend eine graduelle Entscheidung zu treffen, bei der nicht lediglich zwei Alternativen vorliegen. Das Argument des EGMR, dass das Mindestalter von zehn Jahren nicht in unverhältnismäßiger Weise von den andernorts festgesetzten Mindestaltern abweiche,169 ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Hätte er vorliegend einen Konsens angenommen, hätte sich die Frage im nächsten Fall womöglich bei Frankreich gestellt, das das Mindestalter bei 13 Jahren sieht. Mithin ist es nicht immer möglich, eine konkrete rechtsvergleichende Frage zu stellen, auf die es nur eine Antwort gibt.170 Ein weiterer Aspekt, der hinsichtlich der Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung auffällt, ist der Umstand, dass der EGMR seinen Fokus bei deren Behandlung in unterschiedlicher Weise ausrichtet: Teilweise fragt er, ob die meisten Staaten die in Rede stehende Rechtsfrage anders regeln als der beklagte Staat, und nimmt für diesen Fall einen Konsens an; so etwa in Vallianatos a. o. v. Greece171 und Khoroshenko v. Russia172. Teilweise fragt 168  Siehe in diesem Sinne die Joint partly dissenting opinion der Richter Pastor Ridruejo, Ress, Makarczyk, Tulkens und Butkevych, EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 1, die von einem europäischen Standard hinsichtlich eines Mindestalters von 13 oder 14 Jahren ausgeht. 169  „Even if England and Wales is among the few European jurisdictions to retain a low age of criminal responsibility, the age of ten cannot be said to be so young as to differ disproportionately from the age-limit followed by other European States.“, EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 74. 170  Dieses Problem stellte sich in vergleichbarer Weise auch in EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 129 ff., wo die 10 %-Hürde für türkische Parlamentswahlen in Rede stand, und der Gerichtshof mit einer Vielzahl unterschiedlicher Grenzen in den Europaratsstaaten konfrontiert war. 171  Wie bereits dargelegt („Dritter Teil, § 4 B.“) gab es in neun Europaratsstaaten die gleichgeschlechtliche Ehe und in 17 die eingetragene Lebenspartnerschaft, und



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile155

er aber darüber hinausgehend auch, ob sie die Rechtsfrage „alle gleich anders“ regeln. So war es etwa in V. v. The United Kingdom sowie Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, und in dieser Hinsicht ist auch der Fall Parrillo v. Italy zu verstehen. Hier behandelte der EGMR die Frage, ob eine Frau ihre durch In-vitro-Fertilisation erzeugten Embryos, die sie sich nach dem Tod ihres Partners nicht mehr einpflanzen lassen will, an die Wissenschaft spenden darf. Das italienische Strafrecht verbot dies. Die Betroffene klagte über eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK. Der EGMR sprach den Staaten eine weite margin of appreciation zu und stützte dies unter anderem auf das Fehlen eines europäischen Konsenses in dieser Frage. Der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten hatte ergeben, dass von den 40 untersuchten Staaten 17 Staaten die Forschung an Zellen von Embryonen erlauben; einige andere Staaten hätten keine diesbezüglichen Regelungen, sodass Forschung in diesem Bereich nicht strafbar sei. Vier Staaten verböten Forschung an Embryo-Zellen, vier weitere Staaten erlaubten dies nur unter strengen Voraussetzungen. Der EGMR interpretierte den Rechtsvergleich folgendermaßen: „Admittedly, certain member States have adopted a non-prohibitive approach in this area: seventeen of the forty member States about which the Court has information allow research on human embryonic cell lines. In some other States there are no regulations but the relevant practices are non-prohibitive. However, certain States (Andorra, Latvia, Croatia and Malta) have enacted legislation expressly prohibiting any research on embryonic cells. Others allow research of this type only subject to strict conditions, requiring for example that the purpose be to protect the embryo’s health or that the research use cells imported from abroad (this is the case lediglich Litauen und Griechenland ermöglichten die eingetragene Lebenspartnerschaft nur heterosexuellen Paaren. Daraus leitete der Gerichtshof einen Trend ab, verwies also – im Gegensatz zu dem sogleich dargelegten, anderen Fokus – nicht etwa darauf, dass die übrigen Staaten keine einheitlichen Regelungen zum Umgang mit homosexuellen Paaren kennen (ein Teil kennt die gleichgeschlechtliche Ehe, ein Teil die gleichgeschlechtliche eingetragene Lebenspartnerschaft), um so zum Ergebnis eines nicht vorliegenden Konsenses zu gelangen. 172  „There is a considerable variation in practices regarding the regulation of prison visits […]. However, among the Contracting States the minimum frequency of prison visits as regards life-sentence prisoners appears to be no lower than once every two months […]. It is noteworthy that the majority of the Contracting States do not draw any distinction in this sphere between life‑sentence and other types of prisoners […] and that in such countries a generally accepted minimum regarding the frequency of visits is not less than once a month […]. Against this background, Russia appears to be the only jurisdiction within the Council of Europe to regulate the prison visits of all life-sentence prisoners as a group by combining an extremely low frequency of prison visits and the lengthy duration of such a regime.“, EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn. 135. Trotz der unterschiedlichen Regelungen in den Europaratsstaaten nahm der Gerichtshof angesichts dessen im Ergebnis eine enge margin of appreciation an, vgl. Rn. 136.

156 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten of Slovakia, Germany, Austria and Italy). Italy is therefore not the only member State of the Council of Europe which bans the donation of human embryos to scientific research.“173

Derartige Argumentationen stehen dem Grundsatz entgegen, wonach für einen Konsens keine Einstimmigkeit unter den Staaten verlangt wird. Mit seinem Resümee, Italien sei nicht der einzige Staat mit der in Rede stehenden Regelung, verlangt der EGMR umgekehrt gerade, dass Italien der einzige Staat sein müsse, um von einem Konsens sprechen zu können. Mit vier Staaten von 40 verbietet indes nur eine Minderheit die in Rede stehende Forschung ausdrücklich und vollumfänglich. Insgesamt zeigen diese Urteilsbeispiele die Einflussmöglichkeit auf, die sich dem Gerichtshof bei der Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung hinsichtlich des Ausgangs der Konsens-Prüfung eröffnen. Mitunter fragt er nach einem Konsens zu konkreten Maßnahmen; mitunter vergleicht er die Regelungen auf eher abstrakter, grundlegenderer Ebene. Eine Methode zur Festlegung der maßgeblichen rechtsvergleichenden Fragestellung ist dabei nicht ersichtlich.174 Auch der Fokus des Gerichtshofs bei der Prüfung der rechtsvergleichenden Fragestellung variiert: Mitunter fragt er, ob die Regelungen in den Europaratsstaaten von jener des beklagten Staates abweichen; mitunter fragt er darüber hinaus, ob die Europaratsstaaten die in Rede stehende Rechtsfrage auch in vergleichbarer Weise anders als der beklagte Staat regeln. II. Das Verhältnis von Europaratsdokumenten zum Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten – besondere Stellung des Rechtsvergleichs gegenüber internationalen Übereinkommen Dem Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten kommt in der Argumentation des EGMR insgesamt eine besondere Geltung zu.175

173  EGMR

179.

(Große Kammer) – Parrillo v. Italy, 27.08.2015 – 46470/11, Rn. 177–

174  Diese Feststellung stimmt auch mit der Auffassung von Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 365 f. überein. 175  Dies bestätigt die Aussagen von Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 723, wonach „bei der Konsensfindung die Rechtsvergleichung zur nationalen Gesetzgebung im Vordergrund steht“, sowie Kapo­ tas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 7, wonach „The core element of [European Consensus] […] is […] practice at the national level.“



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile157 1. Allgemeine Beobachtungen

In der Argumentation des Gerichtshofs nimmt der zwischen den Europaratsstaaten angestellte Rechtsvergleich meist eine zentrale, wenn nicht die zentralste Rolle unter allen Erkenntnisquellen ein: Zunächst war er in allen untersuchten Urteilen die einzige Erkenntnisquelle, die der Gerichtshof stets in die Urteilsbegründung aufnahm, sofern sie in „The facts“ aufgeführt war. Es gibt denn auch kein Urteil, in dem sich der EGMR bei der Konsens-Prüfung im Ergebnis ausdrücklich entgegen des Ergebnisses seiner Auslegung des Rechtsvergleichs entschieden hat – der in dieser Hinsicht besondere Fall X a. o. v. Austria wird zum Ende dieses Abschnitts dargestellt. Betont werden muss allerdings auch, dass diese Auslegung nicht immer überzeugend war. So war die Auswertung der rechtsvergleichenden Informationen zur Rechtslage in den Europaratsstaaten mitunter fragwürdig und auch innerhalb der Großen Kammer umstritten.176 Gleichwohl zeigen die Bemühungen des Gerichtshofs, den Rechtsvergleich entsprechend des letztlichen Entscheidungsausgangs darzustellen aber jedenfalls, dass er diesem in seiner Argumentation eine besondere Bedeutung zumisst. Zugleich deuten derartige Fälle bereits an, dass der EGMR einen europäischen Konsens mitunter weniger nach methodischen Grundsätzen bestimmt, sondern gegebenenfalls als anpassungs­ fähiges Argument verwendet. 2. Konkrete Hinweise anhand von Formulierungen in einigen Urteilsbegründungen

Hinweise auf ein Rangverhältnis zwischen dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten und den übrigen Erkenntnisquellen ergeben sich auch aus einigen Formulierungen des Gerichtshofs bei der Argumentation anhand der Erkenntnisquellen. So etwa in A, B and C v. Ireland: Nachdem der Gerichtshof den Rechtsvergleich analysiert hatte, der mit großer Mehrheit der Staaten für das Bestehen eines Konsenses gesprochen hatte, konstatierte er: „Given this consensus amongst a substantial majority of the Contracting States, it is not necessary to look further to international trends and views which the first two applicants and certain of the third parties argued also leant in favour of broader access to abortion.“177 Dem Gerichtshof genügte hier also das deutliche Ergebnis des Rechtsvergleichs für die Annahme eines bestehenden europäischen Konsenses, sodass er eine Prüfung weiterer Er176  Dies wurde bereits anhand der Darstellungen unter „Dritter Teil, § 5 C. I.“ dargelegt, und hierauf wird im Laufe der folgenden Untersuchung auch immer wieder hingewiesen. 177  EGMR (Große Kammer) – A, B and C v. Ireland, 16.12.2010 – 25579/05, Rn. 235.

158 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

kenntnisquellen nicht für notwendig erachtete. In Parrillo v. Italy prüfte der EGMR, ob es einen Konsens zur Frage der Spende von Embryonen zu Forschungszwecken gebe, und verneinte dies infolge einer Analyse der Rechtsordnungen der Europaratsstaaten.178 Daraufhin erklärte er: „Furthermore, the above-cited Council of Europe and European Union materials confirm that the domestic authorities enjoy a broad margin of discretion to enact restrictive legislation where the destruction of human embryos is at stake […].“179 Hiernach war also der Rechtsvergleich die für die Konsens-Prüfung maßgebliche Erkenntnisquelle, und die übrigen Erkenntnisquellen wurden zur Bestätigung des bereits gefundenen Ergebnisses herangezogen. In diesem Sinne sind auch die Ausführungen des Gerichtshofs in Animal Defenders Interna­ tional v. The United Kingdom einzuordnen. Der Gerichtshof stellte fest, dass es ausweislich des Rechtsvergleichs zwischen den Vertragsstaaten keinen europäischen Konsens in der betreffenden Rechtsfrage nach einem Verbot bezahlter politischer Werbung im Rundfunk gebe, und den Staaten dementsprechend eine weitere margin of appreciation zukomme. Tatsächlich sei die Uneinigkeit so groß, dass es das Ministerkomitee in zwei Empfehlungen aus 1999 und 2007 ausdrücklich abgelehnt habe, einen bestimmten Umgang in dieser Rechtsfrage zu empfehlen.180 Auch hier scheinen die betreffenden Europaratsdokumente also eher als Bestätigung für das bereits aus dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten abgeleitete Ergebnis verwendet worden zu sein. Einschränkend ist jedoch festzustellen, dass der Gerichtshof nicht in jedem Urteil derart argumentiert. In Bayatyan v. Armenia etwa befasste er sich mit der Frage nach einem Konsens über die Zulässigkeit einer Kriegsdienstverweigerung aus religiösen Gründen beziehungsweise Gewissensgründen. Nachdem er erläutert hatte, dass sich in den nationalen Rechtsordnungen der Europaratsstaaten ein konstanter Trend hin zur Anerkennung dieses Rechts in fast allen Europaratsstaaten entwickelt hatte,181 fuhr er fort: „The Court would further point out the equally important developments concerning recognition of the right to conscientious objection in various international fora.“182 Während der EGMR in A, B and C v. Ireland noch erklärt hatte, aufgrund des deutlichen Ergebnisses des Rechtsvergleichs sei eine Berück178  EGMR (Große Kammer) – Parrillo v. Italy, 27.08.2015 – 46470/11, Rn. 176 –179. 179  EGMR

(Große Kammer) – Parrillo v. Italy, 27.08.2015 – 46470/11, Rn. 180. (Große Kammer) – Animal Defenders International v. The United Kingdom, 22.04.3013 – 48876/08, Rn. 123. Siehe in der Tat das Draft Explanatory Memorandum zur CM/Rec(2007)15, unter Rn. 78. 181  EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn.  103 f. 182  EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 105 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 180  EGMR



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile159

sichtigung anderer Erkenntnisquellen nicht notwendig, erklärte er in Stanev v. Bulgaria infolge der Analyse eines Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten: „The Court is also obliged to note the growing importance which international instruments for the protection of people with mental disorders are now attach­ing to granting them as much legal autonomy as possible.“183 In Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary legte der Gerichtshof den Schutzbereich von Art. 10 EMRK im Hinblick auf die Frage aus, ob dieser ein Recht auf Zugang zu Informationen und/oder offiziellen behördlichen Dokumenten gewährleiste. Die Beschwerdeführerin war eine NGO, die infolge der Weigerung einiger Polizeibehörden, auf ihre Anfrage hin Informationen über die behördliche Praxis bei der Benennung von Pflichtverteidigern herauszugeben, eine Verletzung der Meinungsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 EMRK geltend machte. Der Gerichtshof stellte fest, dass die überwiegende Mehrheit der Staaten das von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Recht gewährleiste und las hieraus einen breiten Konsens unter den Europaratsstaaten ab.184 Daraufhin erklärte er angesichts verschiedener internationaler Übereinkommen weiter: „A high degree of consensus has also emerged at the international level.“185 Abschließend stellte er anhand aller Erkenntnisquellen gleichermaßen fest: „[S]ince the Convention was adopted the domestic laws of the overwhelming majority of Council of Europe member States, along with the relevant international instruments, have indeed evolved to the point that there exists a broad consensus, in Europe (and beyond) on the need to recognise an individual right of access to State-held information in order to assist the public in forming an opinion on matters of general interest.“186

In Yumak and Sadak v. Turkey erklärte der Gerichtshof nach einer Analyse der nationalen Regelungen in der betreffenden Rechtsfrage: „The Court also attaches importance to the views expressed by the organs of the Council of Europe […].“187 Hiernach waren die Dokumente der Europaratsorgane 183  EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 244 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 184  EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 139. Diese Feststellung überrascht ein wenig angesichts der mit 31 Staaten relativ geringen Vergleichsmenge. An späterer Stelle bezeichnete der EGMR dieses Ergebnis gar als „overwhelming majority of Council of Europe member States“, vgl. Rn. 148. Im Ergebnis überzeugt die Auffassung des EGMR vor allem angesichts der deutlichen Aussagen der übrigen Erkenntnisquellen jedoch. 185  EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 140. 186  EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 148 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 187  EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 130 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin).

160 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

also neben den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten ebenfalls wichtig. Insgesamt ergibt sich aus den genannten Beispielen mithin zunächst ein eher diffuses Bild; die Ausführungen des Gerichtshofs sprechen weder eindeutig für noch gegen ein Rangverhältnis der Erkenntnisquellen. 3. Unterschied zwischen der margin of appreciation-Bemessung und der Auslegung von Konventionsbestimmungen sowie der Verhältnismäßigkeitsprüfung?

Bei einer differenzierteren Betrachtung ergeben sich indes Anhaltspunkte dafür, dass der Gerichtshof die Erkenntnisquellen bei der Bemessung der margin of appreciation anders gewichtet als bei der Auslegung von Konventionsbestimmungen sowie der Verhältnismäßigkeitsprüfung. So fällt die besondere Orientierung der Argumentation am Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten besonders in rechtsvergleichenden Untersuchungen auf, die zur Bemessung der margin of appreciation durchgeführt wurden. Die soeben dargelegten Konsens-Prüfungen in A, B and C v. Ireland, Parrillo v. Italy sowie Animal Defenders International v. The United Kingdom, die auf ein Rangverhältnis zwischen Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten und internationalen Übereinkommen schließen ließen, wurden alle im Rahmen der margin of appreciation-Prüfung durchgeführt, während die beschriebenen Untersuchungen in Bayatyan v. Armenia sowie Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary demgegenüber zur Auslegung des Schutzbereichs von Art. 9 beziehungsweise 10 EMRK vorgenommen wurden, und jene in Stanev v. Bulgaria sowie Yumak and Sadak v. Turkey im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. a) Konsens-Prüfungen im Rahmen der margin of appreciation-Bemessung Aufgrund einer derart geringen Anzahl an Beispielsfällen kann fraglos nicht auf eine allgemeine Regel geschlossen werden. In Khoroshenko v. Russia etwa sprach die Formulierung des EGMR in der margin of appreciationPrüfung nicht unbedingt für eine stärkere Gewichtung der Rechtsordnungen der Europaratsstaaten: Hier verhandelte der EGMR über die Regelungen zu Besuchszeiten in Haftanstalten für Inhaftierte und deren Familien. Er prüfte einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK durch eine Verletzung des Familienlebens und bezeichnete bei der Prüfung der Weite der margin of appreciation die EPR des Ministerkomitees in CM/Rec(2006)2 als „starting point in the regulation of visiting rights of prisoners, including life-sentence prisoners, at the



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile161

European level“.188 Erst daraufhin untersuchte er die Praxis in den Europaratsstaaten – Russland unterschied diesbezüglich als einziges Land zwischen lebenslang und nicht lebenslang Inhaftierten und erlaubte ersteren nur zwei Besuche jährlich – und schloss im Ergebnis auf eine verringerte margin of appreciation.189 Hier wurden also internationale Übereinkommen als Ausgangspunkt der Konsens-Prüfung angesehen. Dennoch ist zumindest festzustellen, dass das Ergebnis der Konsens-Prüfung dem Rechtsvergleich zwischen den Regelungen der Europaratsstaaten entsprach.190 Ähnliche Beobachtungen können in Stummer v. Austria gemacht werden. Der Beschwerdeführer hatte insgesamt 28 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht und während dieser Zeit in der Gefängnisküche und -bäckerei gearbeitet. Er beschwerte sich über eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 ZP 1 i. V. m. Art. 14 EMRK, weil er während dieser Zeit nicht in das Alterspen­ sionssystem eingegliedert war. Bei der Frage nach einer margin of apprecia­ tion im Bereich der sozialen Absicherung von Gefängnisinsassen stellte der Gerichtshof fest: „[A]lthough there is no European consensus on the matter, there is an evolving trend: in contrast to the 1987 European Prison Rules, the 2006 European Prison Rules not only contain the principle of normalisation of prison work but also explicitly recommend in Rule 26.17 that ‚[a]s far as possible prisoners who work shall be included in national social security systems“ […].‘ “191

Der EGMR begründete folglich aus der Weiterentwicklung der EPR einen Trend zur Aufnahme von Strafgefangenen in die Sozialversicherungssysteme. Diesen schränkte er sodann mit folgenden Erwägungen ein: „However, the Court notes that the wording used in Rule 26.17 is cautious (‚[a]s far as possible‘) and refers to inclusion in national social security systems in general terms. Moreover, while an absolute majority of Council of Europe member States provide prisoners with some kind of social security, only a small majority affiliate prisoners to their old-age pension system, some of them, like Austria, only by giving them the possibility of making voluntary contributions. A minority do not include prisoners in the old-age pension system at all […].“192

188  EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn. 134. 189  EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn.  134 f. 190  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn.  134 f. 191  EGMR (Große Kammer) – Stummer v. Austria, 07.07.2011 – 37452/02, Rn. 105. 192  EGMR (Große Kammer) – Stummer v. Austria, 07.07.2011 – 37452/02, Rn. 105.

162 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Letztendlich entsprach das Ergebnis der Konsens-Prüfung aber auch hier zumindest insofern dem Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten, als dieser auch nicht für einen Konsens im Hinblick auf die Aufnahme in die Alterspensionssysteme gesprochen hatte. Überdies sind die beiden Fälle aus dem Grund als außerordentlich einzuordnen, dass mit den EPR Europaratsdokumente betroffen sind, die eine besondere Rolle in der Rechtsprechung des EGMR einnehmen – eingehende Ausführungen dazu erfolgen an späterer Stelle. Bemerkenswert ist insgesamt gleichwohl erstens, dass – wie auch in den beiden soeben dargestellten Fällen – im Rahmen der margin of appreciationPrüfung kein Konsens angenommen wurde, ohne dass diesbezüglich ein Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten vorlag; als einzige Ausnahme ist lediglich die Fallkonstellation in Chapman v. The United Kingdom in Verbindung mit D. H. a. o. v. The Czech Republic anzuführen, die sogleich dargestellt wird. Diese Feststellung bestätigt die obige These, wonach der Gerichtshof dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten bei der margin of appreciation-Bemessung eine besondere Stellung einräumt. Demgegenüber wurden die Auslegung von Konventionsbegriffen sowie die Verhältnismäßigkeitsprüfung oftmals auch ohne Bezugnahme auf die Rechtslage in den Europaratsstaaten anhand rechtsvergleichender Ausführungen vorgenommen (diesbezüglich ist allerdings erneut anzumerken, dass eine rechtsvergleichende Argumentation lediglich anhand internationaler Übereinkommen in der Regel nicht unter Verweis auf die Ermittlung eines europäischen Konsenses erfolgte). Und zweitens stellte der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten auch in den übrigen untersuchten Urteilsbegründungen im Rahmen der margin of appreciation-Prüfung jedenfalls eine zentrale, wenn nicht die wichtigste Erkenntnisquelle dar: In dem oben dargestellten Fall Hämäläinen v. Finland hatte der Rechtsvergleich deutlich gegen einen Konsens gesprochen, woraufhin die übrigen Erkenntnisquellen wie eine Empfehlung des Ministerkomitees nicht mehr herangezogen wurden.193 Wenngleich die Rechtsprechungsänderung in Christine Goodwin v. The United Kingdom letztlich mit dem Verweis auf die Rechtslage außerhalb der Europaratsstaaten begründet wurde, drehte sich die Diskussion um die Weite der margin of appreciation in der Entwicklung der Rechtsprechung zu den Transsexuellenrechten unter Art. 8 EMRK insgesamt ebenfalls überwiegend um die Regelungen in den Europaratsstaaten.194 Eine zentrale Rolle nahm der Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten auch in der Argumentation des Gerichtshofs in Dickson v. 193  Vgl.

bereits die Ausführungen zu diesem Fall unter „Dritter Teil, § 4 B.“ besondere Argumentation anhand der Drittstaaten war hier ohnehin eher als Ausnahme einzuordnen, vgl. erneut „Dritter Teil, § 4 A.“ 194  Die



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile163

The United Kingdom,195 in S. and Marper v. The United Kingdom196 sowie in Odièvre v. France ein: Im letztgenannten Fall machte die Antragstellerin eine Verletzung ihres Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geltend, weil sie die Identität ihrer biologischen Eltern nicht erfahren könne. In Frankreich haben Frauen die Möglichkeit, ihr Kind anonym zur Welt zu bringen. Die vom EGMR in seine Erwägungen mit einbezogenen rechtsvergleichenden Ergebnisse hatten kein eindeutiges Resultat ergeben. Es wurden nur 13 Staaten verglichen, von denen eine Mehrheit leibliche Eltern zur Angabe ihrer Identität nach der Geburt verpflichtete;197 die Einzelheiten der Bewertung dieses Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten waren indes zwischen der Mehrheit der Richter und einer abweichenden Minderheit umstritten: Zehn Richter legten ihn entgegen eines Konsenses aus und gewährten eine margin of appreciation.198 In ihrem Sondervotum kritisierten sieben Richter unterdessen diese Auslegung, sowie die dabei erfolgte Außerachtlassung einschlägiger internationaler Übereinkommen, welche ihrer Auffassung nach einen bestehenden Konsens unterstützten.199 Die Mehrheit der Richter hatte diese – womöglich zugunsten einer (vermeintlich) überzeugenden Argumentation im Sinne des Urteilsausspruchs – in der Urteilsbegründung gar nicht aufgegriffen. Für die Urteilsbegründungen, in denen der EGMR die margin of apprecia­ tion mithilfe rechtsvergleichender Materialien bemaß, ist mithin festzuhalten, dass der Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten in der Regel die bedeutsamste Stellung in der Argumentation des Gerichtshofs innerhalb der Konsens-Prüfung einnahm. Internationale Übereinkommen spielten demgegenüber tendenziell eine nachrangige Rolle, beziehungsweise wurden nur ergänzend herangezogen.200 Wie bereits in der 195  EGMR (Große Kammer) – Dickson v. The United Kingdom, 04.12.2007 – 44362/04, Rn. 81; auch hier wurde lediglich der Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten herangezogen, obwohl in „The facts“ weitere Erkenntnisquellen dargelegt waren, vgl. Rn. 29 ff. 196  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 105–112. Auf diesen Fall wird sogleich noch näher eingegangen. 197  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Rn. 19. 198  EGMR (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Rn. 47. 199  EGMR (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Joint dissenting opinion der Richter Wildhaber, Bratza, Bonello, Loucaides, Cabral Barreto, Tulkens und Pellonpää, Rn. 12 ff. 200  Insofern ist der Feststellung Sendens partiell zu widersprechen, wonach der Gerichtshof nicht zwischen dem Rechtsvergleich nationaler Regelungen der Europaratsstaaten und sonstigen Erkenntnisquellen unterscheidet, vgl. Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 260; ihre Aussage trifft aber

164 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

bereichsspezifischen Untersuchung festgestellt, schien die Heranziehung anderer Erkenntnisquellen neben dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten in einigen Fällen von dessen Ergebnis abzuhängen – sofern dieses aus Sicht des EGMR eindeutig für oder gegen einen Konsens sprach, wurde die Konsens-Prüfung mitunter dabei belassen. b) Rechtsvergleichende Argumentation in mehreren Anwendungsbereichen innerhalb eines Urteils Den Eindruck einer besonderen Bedeutung des Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten für die margin of appreciation-Bemessung bestärken weiter die folgenden Urteile, in denen der EGMR rechtsvergleichende Materialien sowohl zur Auslegung beziehungsweise in der Verhältnismäßigkeitsprüfung, als auch zur Bemessung der margin of appreciation herangezogen hat. Nachdem der Gerichtshof in Bayatyan v. Armenia im Rahmen der Schutzbereichsauslegung unter Berücksichtigung eines Rechtsvergleichs zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten sowie zahlreicher internationaler Übereinkommen einen Konsens festgestellt hatte, prüfte er auf Rechtfertigungsebene sodann die Weite der margin of appreciation und erklärte: „The Court has already pointed out above that almost all the member States of the Council of Europe which ever had or still have compulsory military service have introduced alternatives to such service in order to reconcile the possible conflict between individual conscience and military obligations. Accordingly, a State which has not done so enjoys only a limited margin of appreciation […].“201

Er bezog sich hier mithin lediglich auf die Rechtslage in den Europaratsstaaten, um eine enge margin of appreciation zu begründen, und ging auf die übrigen Erkenntnisquellen nicht ein. In dem bereits dargelegten Fall Bărbulescu v. Romania202 hatte der Gerichtshof den Staaten aufgrund des nicht vorliegenden europäischen Konsenses eine weite margin of apprecia­ tion zugesprochen, wobei er sich lediglich auf die mangelnde Übereinstimmung der nationalen Regelungen der Europaratsstaaten stützte.203 Die in „The facts“ zahlreich aufgeführten internationalen Übereinkommen, die eher für ein anderes Ergebnis gesprochen hatten,204 berücksichtigte der Gerichtsinsofern zu, dass der Gerichtshof nie ausdrücklich zwischen der Bedeutung verschiedener Erkenntnisquellen differenziert hat. 201  EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 123. 202  Vgl. erneut die Darstellung unter „Dritter Teil, § 5 C. I.“ 203  EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn.  118 f. 204  Der Gerichtshof hatte einen Konsens abgelehnt, da die meisten Staaten keine expliziten Regelungen zur Privatsphäre am Arbeitsplatz hätten; die internationalen



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile165

hof hier nicht, sondern zog sie erst in der Verhältnismäßigkeitsprüfung he­ ran.205 Ähnlich auch in Khoroshenko v. Russia: Nachdem er die margin of appreciation anhand der EPR sowie der Rechtslage in den Europaratsstaaten bestimmt hatte,206 setzte der Gerichtshof sich auch in der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausführlich mit den relevanten internationalen Übereinkommen auseinander. Für die große Bedeutung der Berücksichtigung familiärer Inte­ ressen der Inhaftierten bei der Regelung von Besuchszeiten verwies er auf die UN Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners, den UN Body of Principles for the Protection of All Persons under Any Form of Detention or Imprisonment, die Rules Governing the Detention of Persons Awaiting Trial or Appeal before the Tribunal or Otherwise Detained on the Authority of the Tribunal of the International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, sowie die Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Hier werde es ausnahmslos als Mindeststandard für alle Häftlinge, ob lebenslang oder nicht lebenslang inhaftiert, als Recht anerkannt, ein annehmbares beziehungsweise einigermaßen gutes Verhältnis zu ihren Familien pflegen zu können.207 Sodann beurteilte er die Argumentation der russischen Regierung, die strenge Regelung zu Besuchszeiten lebenslang verurteilter Straftäter diene dem Ziel der Isolation des Verurteilten, und stellte fest, dass diese Regelung das Familienleben der Inhaftierten stark belaste und die Resozialisierung und Reintegration der Verurteilten nach der Haftzeit ernsthaft erschwere. Er verwies auf die Empfehlungen des CPT, Art. 10 IPBürg sowie die EPR und eine weitere Empfehlung des Ministerkomitees, die alle fordern, die Haftbedingungen am Ziel der Resozialisierung auszurichten,208 und schloss angesichts dessen auf die Unverhältnismäßigkeit der strengen Besuchsregelungen Russlands.209 Dies legt nahe, dass internationalen Übereinkommen in der Argumentation des EGMR zur Verhältnismäßigkeitsprüfung beziehungsweise bei der AusleÜbereinkommen aus EGMR (Große Kammer) – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017 – 61496/08, Rn. 37–51, enthielten hierzu indes durchaus konkrete Regelungen. 205  EGMR (Große Kammer)  – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017  – 61496/08, Rn. 133; hier bei der Frage, welche Verfahrensregelungen Arbeitgeber bei der Überwachung ihrer Arbeitnehmer berücksichtigen müssen. 206  EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn.  134 ff. 207  EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn. 143. 208  EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn.  144 ff. 209  EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn. 146.

166 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

gung und Anwendung der EMRK tendenziell eine bedeutendere Rolle zukommt als in der margin of appreciation-Prüfung. c) Konsens-Prüfungen im Rahmen der Auslegung von Konventionsbestimmungen sowie der Verhältnismäßigkeitsprüfung Zugleich stützt sich jedoch auch die Argumentation des EGMR außerhalb der margin of appreciation-Doktrin mitunter maßgeblich auf den Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten.210 Dies deutete sich etwa in dem soeben dargestellten Fall Yumak and Sadak v. Turkey an. Wenngleich der Gerichtshof hier den Europaratsdokumenten in der Verhältnismäßigkeitsprüfung ebenfalls Bedeutung neben der Rechtslage in den Europaratsstaaten zugesprochen hatte, entschied er trotz deutlicher Forderungen in diesen Dokumenten, die in Rede stehende 10 %-Hürde bei den türkischen Parlamentswahlen zu senken, letztlich unter Betonung der Vielfalt an Regelungen in den Europaratsstaaten gegen eine Konventionsverletzung.211 Insgesamt ergibt die Argumentation des Gerichtshofs in dieser Hinsicht ein gemischtes Bild: In Kart v. Turkey zog der EGMR in seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung lediglich die rechtsvergleichenden Informationen zu den nationalen Regelungen in den Europaratsstaaten heran.212 In Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece zog der Gerichtshof bei der Auslegung des Schutzbereichs sowohl internationale Übereinkommen als auch einen Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten heran.213 In Vallianatos a. o. v. Greece hatte der Gerichtshof aus dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einen Trend abgelesen, der in den relevanten Europaratsmaterialien „reflektiert“ werde. Angesichts dessen entschied er schließlich für das Vorliegen einer Konventionsverletzung.214 In Biao v. Denmark argumentierte der Gerichtshof gleicherma210  Siehe neben den sogleich dargestellten Fällen auch EGMR (Große Kammer) – Konstantin Markin v. Russia, 22.03.2012 – 30078/06, Rn. 140, wo der EGMR vor allem am Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten argumentierte, und die übrigen Erkenntnisquellen nur durch einen Verweis auf die entsprechenden Randnummern in „The facts“ mit einbezog. 211  EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn.  128 ff., 147 f. 212  Dies unterdessen nicht unter dem Begriff eines europäischen Konsenses, vgl. EGMR (Große Kammer) – Kart v. Turkey, 03.12.2009 – 8917/05, Rn. 98. In „The facts“ waren indes auch internationale Übereinkommen dargelegt, vgl. Rn. 38–43. 213  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 72 ff. 214  EGMR (Große Kammer) – Vallianatos a. o. v. Greece, 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09, Rn.  91 f.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile167

ßen anhand der Rechtslage in den Europaratsstaaten und internationaler Übereinkommen.215 In Correia de Matos v. Portugal argumentierte der Gerichtshof zur Erörterung der „relevancy and sufficiency“ der von der Regierung angeführten Gründe gleichermaßen anhand eines Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten und internationaler Übereinkommen sowie deren Auslegung durch die jeweils zuständigen Spruchkörper.216 In V. v. The United Kingdom lag zu der (neben dem Mindestalter für Strafmündigkeit ebenfalls aufgeworfenen) Rechtsfrage nach dem Schutz der Privatsphäre Minderjähriger im Strafverfahren217 kein Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten vor, und der EGMR entschied trotz deutlich entgegenstehender internationaler Übereinkommen gegen eine Konventionsverletzung.218 In dem bereits erwähnten Fall Stanev v. Bulgaria219 wurde ein Rechtsvergleich nur zwischen 20 Staaten angestellt, von denen im Ergebnis die meisten dem Antragsteller den mit der Beschwerde eingeforderten Zugang zum Gericht ermöglicht hätten. Aus diesem Umstand las der EGMR einen Trend zur Gewährung direkten gerichtlichen Zugangs Betroffener zur Wiederherstellung ihrer Rechtsfähigkeit ab. Er führte sodann aus, dass er auch die internationalen Übereinkommen zum Schutz von geistig Behinderten beachten müsse, welche der Gewährung rechtlicher Eigenständigkeit an die Betroffenen eine wachsende Bedeutung zumessen. Er berief sich auch auf die UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities sowie die CM/Rec(99)4 „on principles concerning the legal protection of incapable adults“. Auch hieraus las der EGMR einen „internationalen Trend“ ab.220 Schlussendlich legte er den betreffenden Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK entsprechend der sich aus dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten sowie den relevanten internationalen Übereinkommen ergebenden Trends im Sinne des Beschwerdebegehrens aus.221 215  EGMR (Große Kammer) – Biao v. Denkmark, 24.05.2016 – 38590/10, Rn. 132–137 – wobei die noch in „The facts“ genannten Europaratsdokumente hierbei außer Acht blieben. 216  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Correia de Matos v. Portugal, 04.04.2018 – 56402/12, Rn. 130. 217  Diese Rechtsfrage ist der zweite Grund, auf den der Beschwerdeführer die von ihm geltend gemachte Verletzung von Art. 3 EMRK stützte. Der gegen ihn geführte Strafprozess wurde drei Wochen lang unter Zugang für die Öffentlichkeit und begleitet von starkem medialem Interesse vor einem „adult crown court“ geführt, wobei auch der Name des beschuldigten Kindes veröffentlicht wurde. 218  EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn.  76 ff. 219  Siehe erneut „Zweiter Teil, § 2 C. II. 1.“ 220  EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 244. 221  „In the light of the foregoing, in particular the trends emerging in national leg­ islation and the relevant international instruments, the Court considers that Article 6

168 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Insgesamt ist also festzustellen, dass der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten bei der Auslegung von Konventionsbegriffen sowie in der Verhältnismäßigkeitsprüfung oftmals ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, wobei internationale Übereinkommen mitunter durchaus gleichermaßen in der Argumentation des EGMR herangezogen werden. d) Sonderfälle Abschließend sollen zwei besondere Fallkonstellationen dargestellt werden, die den soeben festgestellten Tendenzen entgegenstehen. In Chapman v. The United Kingdom (sowie vier gleichgelagerten Beschwerden gegen Großbritannien, über die am selben Tag entschieden wurde,222) argumentierte der Gerichtshof im Rahmen der Bemessung der margin of appreciation ohne das Vorliegen eines Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten. Hier nahm er anhand verschiedener internationaler Übereinkommen einen „emerging international consensus amongst the Contracting States of the Council of Europe“ an.223 Diesen befand er unterdessen nicht als konkret genug, um daraus eine verringerte margin of appreciation herzuleiten224 und lehnte eine Konventionsverletzung im Ergebnis ab. Anders jedoch in D. H. a. o. v. The Czech Republic. In beiden Fällen ging es um die Rechte von Roma-Minderheit in Europa. In D. H. a. o. v. The Czech Republic machten die Beschwerdeführer eine Diskriminierung aufgrund ihrer Rasse beziehungsweise Ethnie geltend, da sie Sonderschulen für „Kinder mit besonderen Bedürfnissen“ besuchten.225 Ob§ 1 of the Convention must be interpreted as guaranteeing in principle that anyone who has been declared partially incapable, as is the applicant’s case, has direct access to a court to seek restoration of his or her legal capacity.“, EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, Rn. 245. 222  EGMR (Große Kammer) – Lee v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 25289/94, Rn. 95; EGMR (Große Kammer) – Jane Smith v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 25154/94, Rn. 100; EGMR (Große Kammer) – Coster v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 24876/94, Rn. 107; EGMR (Große Kammer) – Beard v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 24882/94, Rn. 104. 223  EGMR (Große Kammer) – Chapman v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 27238/95, Rn. 93. Da hier lediglich ein „emerging international consensus amongst the Contracting States of the Council of Europe“ angenommen wurde, stellt der Fall auch nur eine partielle Ausnahme zu der obigen Feststellung dar, wonach der EGMR ohne das Vorliegen eines Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten keinen europäischen Konsens für gegeben hält. 224  EGMR (Große Kammer) – Chapman v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 27238/95, Rn. 94. Dies wurde indes von sieben Richtern in ihrem Sondervotum bestritten, vgl. Joint partly dissenting opinion der Richter Pastor Ridruejo, Bonello, Tulkens, Stráznická, Lorenzen, Fischbach und Casadevall, Rn. 3. 225  Vgl. hierzu EGMR (Große Kammer) – D. H. a.  o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 15 ff.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile169

wohl diese Schulen sich nicht speziell an Roma richten, gingen in Tschechien überdurchschnittlich viele Roma-Kinder zu einer solchen. Diese bestanden zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerden zu über 50 % aus RomaKindern; für ein Roma-Kind war es über 27 Mal wahrscheinlicher auf eine Sonderschule geschickt zu werden, als für ein Nichtroma-Kind.226 Dies stelle eine Verletzung des Rechts auf Bildung aus Art. 2 S. 1 ZP 1 i. V. m. Art. 14 EMRK dar.227 In seiner Urteilsbegründung verwies der EGMR auf den bereits in Chapman v. The United Kingdom festgestellten Umstand „that there could be said to be an ­emerging international consensus among the Contracting States of the Council of Europe recognising the special needs of minorities and an obligation to protect their security, identity and lifestyle […].“228 Tatsächlich hatten zahlreiche der im vorliegenden Fall aufgeführten internationalen Übereinkommen auf die Diskriminierung der Roma-Minderheit auch im Bildungsbereich aufmerksam gemacht,229 und sich auch gegen Sonderschulen für Roma-Kinder ausgesprochen230.231 An späterer Stelle erklärte der Gerichtshof darüber hinaus, dass Tschechien nicht der einzige Europaratsstaat sei, der Schwierigkeiten mit der schulischen Ausbildung von Roma-Kindern habe.232 Nichtsdestotrotz wurde Tschechien im Ergebnis wegen einer Konventionsverletzung verurteilt – entsprechend der internationalen Übereinkommen, und trotz der Feststellung, dass Tschechien mit seiner Regelung nicht allein ist. Ein weiterer Sonderfall ist der bereits beschriebene X a. o. v. Austria.233 Hier hatte der Gerichtshof im Rahmen seiner Ausführungen hinsichtlich einer 226  Vgl. EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 134. Andere Berichte wiesen sogar noch höhere Anteile von RomaKindern an Sonderschulen aus, vgl. Rn. 192. 227  EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 124. 228  EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 181. 229  Vgl. die umfassende Darstellung internationaler Übereinkommen und Dokumente in EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn.  54 ff. 230  Vgl. etwa die ECRI General Policy Recommendation No. 3: Combating racism and intolerance against Roma/Gypsies, EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 59, sowie den Final Report by Mr. Alvaro Gil-Robles on the Human Rights Situation of the Roma, Sinti and Travellers in Europe, Rn. 77 ff. im Urteil. 231  Der Gerichtshof berief sich in seiner Argumentation wiederholt auf diese Übereinkommen, vgl. EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 185 ff. 232  EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 205. 233  Siehe erneut „Dritter Teil, § 5 C. I.“

170 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

möglichen margin of appreciation234 einen Konsens anhand des Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten aufgrund der zu geringen Anzahl vergleichbarer Staaten abgelehnt.235 Daraufhin wandte er sich den internationalen Übereinkommen zu und erklärte: „In the Court’s view, the same holds true for the 2008 Convention on the Adoption of Children. Firstly, it notes that this Convention has not been ratified by Austria. Secondly, given the low number of ratifications so far, it may be open to doubt whether the Convention reflects common ground among European States at present.“236

Zunächst einmal wich er damit völlig außergewöhnlich von seiner ständigen Rechtsprechung ab, wonach es unerheblich sei, ob der betreffende Staat, beziehungsweise alle Europaratsstaaten einen völkerrechtlichen Vertrag ratifiziert hätten – ein Vorgehen, für das er auch stark von der abweichenden Meinung kritisiert wurde.237 In der weiteren Urteilsbegründung zog er die internationalen Übereinkommen sodann gleichwohl für seine Auffassung heran, wonach eine Ungleichbehandlung zwischen unverheirateten gleichgeschlechtlichen und verschiedengeschlechtlichen Paaren nicht erlaubt sei. „In any event, the Court notes that Article 7 § 1 of the 2008 Convention on the Adoption of Children provides that States are to permit adoption by two persons of different sex (who are married or, where that institution exists, are registered partners) or by one person. Under Article 7 § 2, States are free to extend the scope of the Convention to same-sex couples who are married or have entered into a registered partnership, as well as ‚to different-sex couples and same-sex couples who are living together in a stable relationship‘. This indicates that Article 7 § 2 does not mean that States are free to treat heterosexual and same-sex couples who live in a stable relationship differently. The […] CM/Rec (2010)5 […] appears to point in the same direction: paragraph 23 calls on member States to ensure that the rights and obligations conferred on unmarried couples apply in a non-discriminatory way to both same-sex and different-sex couples.“238

Diese Interpretation wurde wiederum von der abweichenden Meinung bestritten, die auch aus den internationalen Übereinkommen ablas, dass kein Konsens vorliege.239 Hierauf ist womöglich auch die abschließende Bemerkung des Gerichtshofs zurückzuführen: 234  EGMR

(Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 147 ff. (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 149. 236  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 150. 237  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Joint partly dissenting opinion der Richter Casadevall, Ziemele, Kovler, Jociene, Sikuta, De Gaetano und Sicilianos, Rn. 16 ff. 238  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 150. 239  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Joint partly dissenting opinion der Richter Casadevall, Ziemele, Kovler, Jociene, Sikuta, De Gaetano und Sicilianos, Rn. 20 ff. 235  EGMR



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile171 „In any event, even if the interpretation of Article 7 § 2 of the 2008 Convention were to lead to another result, the Court reiterates that States retain Convention lia­bility in respect of treaty commitments subsequent to the entry into force of the Convention.“240

Bemerkenswert ist jedenfalls, dass der Gerichtshof vorliegend entsprechend der internationalen Übereinkommen entschied – zumindest in der Weise, wie er sie ausgelegt hat – und das, obwohl er das Ergebnis des Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten nicht für aussagekräftig genug befunden hatte, um es bei seiner Urteilsfindung zu berücksichtigen. In dieser Hinsicht sind D. H. a. o. v. The Czech Republic und X a. o. v. Austria Fälle, die von den zuvor festgestellten Tendenzen abweichen. 4. Zwischenergebnis

Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten in den rechtsvergleichenden Untersuchungen des EGMR eine zentrale Rolle einnimmt. Während er bei der Konsens-Prüfung zur Bemessung der Weite der margin of appreciation meist die bedeutendste Stellung einnahm, ergab sich außerhalb dieses Zusammenhangs in dieser Hinsicht ein gemischtes Bild: In einigen Fällen hatte auch hier der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten die bedeutendste Stellung in der Argumentation inne; in anderen Fällen wurde dieser gleichermaßen neben anderen Erkenntnisquellen herangezogen. Mitunter wurde auch ohne das Vorliegen eines solchen Rechtsvergleichs lediglich anhand internationaler Übereinkommen argumentiert241 – dies aber in der Regel nicht unter Verweis auf einen europäischen Konsens.242 III. Das Verhältnis von Europaratsdokumenten zu anderen internationalen Übereinkommen – die Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter internationaler Übereinkommen In „The facts“ sind in der Regel alle möglicherweise in der Urteilsbegründung zu berücksichtigenden völkerrechtlichen Verträge sowie Soft Law-Dokumente aufgeführt; nicht alle von ihnen werden jedoch tatsächlich in „The law“ aufgegriffen. Während der Rechtsvergleich der nationalen Regelungen 240  EGMR

(Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 150. eine ähnliche Richtung geht Staes’ Feststellung, wonach der EGMR fast nie eine evolutive Auslegung vornimmt, ohne dafür auch auf internationale Übereinkommen zu verweisen, Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 145 f. 242  Vgl. auch erneut „Dritter Teil, § 3 A. II.“ 241  In

172 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

der einzelnen Europaratsstaaten in den untersuchten Urteilen immer auch in der Urteilsbegründung herangezogen wurde, und dabei unter mehreren Erkenntnisquellen tendenziell die soeben beschriebene Sonderstellung einnahm, wurden die übrigen Erkenntnisquellen wie etwa Europaratsdokumente mitunter nur teilweise, mitunter auch gar nicht in der Urteilsbegründung erwähnt.243 Fraglich ist, ob hinter diesen Auswahlentscheidungen rational nachvollziehbare Gründe stehen. In der Literatur wird dem Gerichtshof mitunter Inkonsistenz bei der Auswahl entscheidungsrelevanter internationaler Übereinkommen vorgeworfen.244 Im Folgenden wird anhand des Beispiels Europarats­ dokumente untersucht, ob feste Kriterien, oder zumindest bestimmte Muster in der Auswahl und Gewichtung ersichtlich sind. Hinsichtlich der folgenden Ausführungen sei angemerkt, dass die herangezogenen Beispiele mitunter Konsens-Prüfungen des EGMR sind, und mitunter Ausführungen des EGMR anhand internationaler Übereinkommen ohne expliziten Verweis auf eine Konsens-Prüfung. Hinsichtlich der Auswahl entscheidungsrelevanter unter mehreren in „The facts“ genannten Übereinkommen war jedoch kein Unterschied zwischen diesen beiden Zusammenhängen erkennbar, sodass diesbezüglich im Folgenden nicht differenziert wird. Die Bedeutung internationaler Übereinkommen, ohne dass daneben ein Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten berücksichtigt wurde, wird aber explizit untersucht. 1. Grundsatz: „It is for the Court to decide“

Die als Leitentscheidung zur Berücksichtigung internationaler Übereinkommen bereits im Hinblick auf den europäischen Konsens erörterte Urteilsbegründung in Demir and Baykara v. Turkey ist hinsichtlich der Frage nach der Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter internationaler Übereinkommen nur bedingt aufschlussreich. Wie in der Frage der Berücksichtigung völkerrechtlicher Verträge, die nicht von allen Staaten unterzeichnet beziehungsweise ratifiziert sind, stellte der Gerichtshof auch hinsichtlich in243  Zwar mag der Gerichtshof seine Entscheidung dennoch auf alle in „The facts“ genannten Erkenntnisquellen gestützt haben – hier gilt erneut die Feststellung, dass eine Analyse der Urteilsbegründungen die tatsächlichen Entscheidungsgründe für ein Urteil nicht zu ermitteln vermag. Gleichwohl ist es untersuchenswert, welche internationalen Übereinkommen der Gerichtshof für offenbar so maßgeblich hielt, dass er seine Argumentation in der Urteilsbegründung explizit auf sie stützen wollte. 244  Siehe Forowicz, The reception of international law in the European Court of Human Rights, S. 383; Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 34. Siehe im Hinblick auf die Ermittlung eines europäischen Konsenses Dzehtsiarou, University College Dublin Law Review 10 (2010), 109, 130 f.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile173

ternationalen Soft Laws im Wesentlichen lediglich die bisherige Rechtsprechungspraxis dar, mit der er derartige Übereinkommen berücksichtigt hat. Eine dogmatische Erklärung oder Rückführung auf die Regelungen zur Vertragsauslegung der WVK findet sich dabei nicht. Zwar verwies der Gerichtshof auf Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK – ob er damit aber auch die Berücksichtigung rechtsunverbindlicher Übereinkommen rechtfertigen wollte, welche womöglich nicht einmal von allen Europaratsstaaten oder aber von Gremien beschlossen wurden, die keine repräsentative Funktion für die Europaratsstaaten ausüben,245 bleibt unklar.246 Aus den Ausführungen ergibt sich weder Aufschluss über die generelle Rolle internationaler Übereinkommen bei der Auslegung der EMRK, noch konkret über das Verhältnis rechtsverbindlicher und -unverbindlicher internationaler Übereinkommen.247 In Tănase v. Moldova erklärte der Gerichtshof dazu unterdessen: „The Court emphasises that it has consistently held that it must take into account relevant international instruments and reports […] in order to interpret the guarantees of the Convention and to establish whether there is a common European standard in the field. It is for the Court to decide which international instruments and reports it considers relevant and how much weight to attribute to them.“248

Hiernach entscheidet also der Gerichtshof darüber, welche Erkenntnisquellen für die Urteilsfindung relevant sind und wie diese gewichtet werden. Diese Aussage lässt sich dahingehend deuten, dass es tatsächlich keine feststehenden Kriterien für die Auswahl der in der Urteilsbegründung zu berücksichtigenden Erkenntnisquellen gibt. Das Beanspruchen einer eigenen Entscheidung über die Relevanz im konkreten Fall legt eine vielmehr kasuistische Auswahlpraxis nahe, bei der der Gerichtshof ohne feststehende Kriterien von Fall zu Fall entscheidet, welche internationalen Übereinkommen er für seine Entscheidung heranzieht und wie er diese gewichtet. Im Folgenden wird überprüft, ob dennoch Maßstäbe oder zumindest bestimmte Muster bei der Auswahl entscheidungsrelevanter internationaler Übereinkommen ersichtlich sind.

245  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn.  74 f. 246  So auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 31. 247  So auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 32 f. Sie stellt insgesamt fest: „[T]he Court makes an attempt to clarify the use of external instruments, but it does not offer a comprehensive understanding of the referencing practice including its underlying method. The Grand Chamber case of Demir and Baykara does not provide much more than a disjointed enumeration of interpretation principles and scattered illustrations of instruments that had been imported in the Court’s earlier decisions.“, S. 30. 248  EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 176.

174 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten 2. Differenzierung zwischen rechtsverbindlichen und -unverbindlichen internationalen Übereinkommen?

Fraglich ist zunächst, ob der Gerichtshof zwischen rechtsverbindlichen und -unverbindlichen internationalen Übereinkommen differenziert. Denkbar wäre insbesondere, dass er rechtsverbindlichen internationalen Übereinkommen in seinen Ausführungen ein stärkeres Gewicht beimisst als Soft LawDokumenten. Wie bereits festgestellt, verdeutlichte der EGMR in mehreren der untersuchten Urteile sein Bewusstsein von der rechtlichen Unverbindlichkeit von Europaratsdokumenten.249 Darüber hinaus verdeutlichte er mitunter auch die unterschiedliche Rechtsqualität von völkerrechtlichen Verträgen und Soft Law, indem er die im Gegensatz zu Soft Law bestehende Rechtsverbindlichkeit völkerrechtlicher Verträge betonte. In dem bereits beschriebenen Fall V. v. The United Kingdom etwa griff der EGMR vier Randnummern nach seiner Bekräftigung, wonach Soft Law trotz mangelnder Rechtsverbindlichkeit ein möglicher Indikator für einen europäischen Konsens sein könne, die UNKinderrechtskonvention auf, die sich für den Schutz der Privatsphäre von jungen Straftätern aussprach, und erklärte: „The Court considers that the foregoing demonstrates an international tendency in favour of the protection of the privacy of juvenile defendants, and it notes in par­ ticular that the UN Convention is binding in international law on the United Kingdom in common with all the other member States of the Council of Europe.“250

Hier betonte er also die Rechtsverbindlichkeit des völkerrechtlichen Vertrages.251 Derartige Hinweise auf die unterschiedliche Rechtsqualität der Erkenntnisquellen indizierten aber keinen derartigen grundsätzlichen Vorzug von verbindlichem vor unverbindlichem Recht, dass lediglich völkerrecht­ liche Verträge in den Urteilsbegründungen zitiert wurden. So untersuchte der Gerichtshof die in Rede stehende Rechtsfrage in V. v. The United Kingdom gleichermaßen anhand rechtsverbindlicher und -unverbindlicher internationaler Übereinkommen.252 Mit der Hervorhebung der Rechtsverbindlichkeit der UN-Konvention verlieh er seiner Argumentation aber zusätzliches Gewicht. 249  Siehe

erneut „Dritter Teil, § 5 A.“ (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 77 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 251  Zwar ohne einen derartigen Grund zu nennen, hob der EGMR in EGMR (Große Kammer) – Chapman v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 27238/95, Rn. 93, in seinem Verweis auf mehrere internationale Übereinkommen ebenfalls den unter ihnen befindlichen völkerrechtlichen Vertrag (die Council of Europe Framework Convention for the Protection of National Minorities) hervor. 252  Vgl. EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 76. 250  EGMR



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile175

Ähnliches ist im Übrigen auch zu beobachten wenn der EGMR betont, dass der beklagte Staat einen berücksichtigten völkerrechtlichen Vertrag ratifiziert hat. So etwa in dem ebenfalls bereits genannten Fall Biao v. Denmark, in dem der Gerichtshof erklärte: „It is noteworthy that [the European Convention on Nationality] has been ratified by 20 member States of the Council of Europe, including Denmark“.253 Auch hier argumentierte der Gerichtshof aber zugleich auch anhand anderer internationaler Übereinkommen, darunter auch Soft Law.254 Auch in weiteren Fällen wurden völkerrechtliche Verträge und internationales Soft Law gleichermaßen nebeneinanderstehend zur Urteilsbegründung herangezogen.255 In O’Keeffe v. Ireland etwa leitete der EGMR eine positive obligation zum Schutz von Kindern aus Art. 3 EMRK ab, wonach Kinder insbesondere in der Schule durch besondere Maßnahmen vor Missbräuchen geschützt werden müssten. Diese Verpflichtung habe auch zu dem im konkreten Fall relevanten Zeitpunkt, 1979, bereits bestanden. Hierfür verwies er auf verschiedene internationale Übereinkommen, wobei er deren unterschiedliche Rechtsqualität nicht zum Anlass für eine Differenzierung nahm (erfasst waren die PACE Rec. 561 (1969) „Protection of Minors against ill-treatment“, die daraufhin ergangene CM/Rec(79)1, sowie die europäische Sozialcharta von 1961; weiter die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie der IPBürg, welcher von Irland zum betreffenden Zeitpunkt zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert war)256.257 Damit hatte sich der Ge253  EGMR (Große Kammer) – Biao v. Denkmark, 24.05.2016 – 38590/10, Rn. 132. 254  EGMR (Große Kammer) – Biao v. Denkmark, 24.05.2016 – 38590/10, Rn. 134–137 (Europaratsdokumente wurden indes nicht herangezogen). 255  Neben dem sogleich dargestellten Fall siehe auch etwa EGMR (Große Kam­ mer) – Parrillo v. Italy, 27.08.2015 – 46470/11, Rn. 180–182; EGMR (Große Kam­ mer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 105–107; EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 140 ff. In EGMR (Große Kammer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99, Joint dissenting opinion der Richter Costa, Zupancic und Türmen, Rn. 9, betonten die Richter neben Europaratsresolutionen auch die UN-Kinderrechtskonvention und resümierten schließlich: „Of course, we are not arguing that all these international instruments – which, moreover, do not all have the same legal force – mean that foreign nationals can never be expelled, as is the case with nationals under Article 3 of Protocol No. 4. That would be ridiculous. But we do believe that Article 8 of the Convention must be construed in the light of these texts.“ (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). Damit wiesen sie auf die unterschiedliche rechtliche Qualität der herangezogenen internationalen Übereinkommen hin, verwiesen für die Auslegung der EMRK aber gleichwohl auf alle Dokumente. 256  EGMR (Große Kammer) – O’Keeffe v. Ireland, 28.01.2014 – 35810/09, Rn. 91– 95. 257  EGMR (Große Kammer) – O’Keeffe v. Ireland, 28.01.2014 – 35810/09, Rn. 147.

176 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

richtshof über die Minderheitsmeinung hinweggesetzt: Sechs Richter argumentierten in ihrem Sondervotum, dass die vom Gerichtshof herangezogenen internationalen Regelungen unbestimmt und unverbindlich seien, und erst 1989 mit der UN-Kinderrechtskonvention verbindliche Regelungen geschaffen wurden. Die Staaten hätten bis dahin unverbindliche Übereinkommen völkerrechtlichen Verträgen, welche ihnen rechtliche Verpflichtungen auferlegt hätten, vorgezogen. Dementsprechend dürfe aus den Regelungen vor 1989 auch keine rechtliche Verantwortlichkeit Irlands hergeleitet werden.258 Die Mehrheit der Richter bewertete die internationalen Übereinkommen indes anders. Insofern setzte der Gerichtshof das eingangs dargelegte Vorgehen fort, mit dem er aus der rechtlichen Unverbindlichkeit internationalen Soft Laws grundsätzlich keine Konsequenzen für dessen Berücksichtigung bei rechtsvergleichenden Untersuchungen zieht.259 In diesem Sinne stellen auch Wildhaber, Hjartarson und Donnelly fest: „The Court does not really attempt to distinguish between […] binding treaties and soft law.“260 Insgesamt ist also im Hinblick auf die Ausführungen des EGMR anhand internationaler Übereinkommen kein grundsätzliches Rangverhältnis zwischen rechtsverbindlichen und –unverbindlichen Übereinkommen dergestalt feststellbar, dass der Gerichtshof seine Argumentation eher auf rechtsverbindliche Übereinkommen stützt als auf Soft Law. 3. Differenzierung innerhalb von Soft Law-Dokumenten, insbesondere Europaratsdokumenten?

Darüber hinaus gilt es, ein mögliches Rangverhältnis innerhalb der Erkenntnisquelle internationalen Soft Laws zu untersuchen. Wie eingangs dargelegt wurde, umfasst der Begriff Soft Law eine Vielzahl unterschiedlicher Normen und Handlungsformen, und „the norms can be not only soft, but very soft indeed.“261 Vor diesem Hintergrund ist ein Rangverhältnis zwischen verschiedenen Quellen internationalen Soft Laws vorstellbar, im Kontext der vorliegenden Arbeit insbesondere zwischen Europaratsdokumenten und den übrigen internationalen Soft Law-Dokumenten. Immerhin entstammen sie derselben Organisation, in deren Rahmen auch die EMRK geschaffen wurde 258  EGMR (Große Kammer) – O’Keeffe v. Ireland, 28.01.2014 – 35810/09, Joint partly dissenting opinion der Richter Zupančič, Gyulumyan, Kalaydjieva, De Gaetano und Wojtyczek, Rn. 10. 259  In dieser Hinsicht ist auch erneut auf die eingangs dargelegte Kritik von Grabenwarter und Pabel hinzuweisen, der EGMR verschleiere „die nicht-bindende Natur der Instrumente“, Fn. 6 in der Einführung. 260  Vgl. Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 253, Fn. 51. 261  Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 43.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile177

und in der alle Vertragsstaaten Mitglied sind. Die Aussage des Gerichtshofs in Tănase v. Moldova legte in dieser Hinsicht auch nahe, dass Europaratsdokumente in der Urteilsfindung eine besondere Rolle spielen. „The Court emphasises that it has consistently held that it must take into account relevant international instruments and reports, and in particular those of other Council of Europe organs, in order to interpret the guarantees of the Convention and to establish whether there is a common European standard in the field.“262

Ebendies deutet auch die Hervorhebung von Europaratsdokumenten in den Grundsatzausführungen des EGMR in Demir and Baykara v. Turkey zur rechtsvergleichenden Auslegung an.263 Eine grundsätzliche Priorisierung von Europaratsdokumenten konnte jedoch bei der Urteilsanalyse insgesamt nicht festgestellt werden. Der EGMR differenziert innerhalb der Erkenntnisquelle internationalen Soft Laws nicht grundsätzlich formell anhand der verschiedenen Arten beziehungsweise Urheber,264 wenngleich dies im Einzelfall durchaus vorkommt.265 Dies gilt weiter auch hinsichtlich des Verhältnisses der Europaratsdokumente untereinander. In dieser Hinsicht wäre erstens eine abgestufte Berücksichtigung von Dokumenten des Ministerkomitees, als dem Organ, das den Europarat nach außen vertritt, vor solchen der Parlamentarischen Versammlung als beratendem Organ denkbar. Für eine derartige Differenzierung sind indes keine Anhaltspunkte ersichtlich. Sofern in einem Urteil in „The facts“ Europaratsdokumente von verschiedenen Urhebern aufgeführt waren, verwies der Gerichtshof mitunter auf alle Dokumente;266 sofern er lediglich eines oder einen Teil berücksichtigte, erfolgte die Auswahl wiederum nicht 262  EGMR (Große Kammer)  – Tănase v. Moldova, 27.04.2010  – 7/08, Rn. 176 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). Auch hinsichtlich rechtsverbindlicher internationaler Übereinkommen wies ein Sondervotum auf eine besondere Bedeutung völkerrechtlicher Verträge aus dem Rahmen des Europarats hin, vgl. EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Partly dissenting opinion der Richter Casadevall, Ziemele, Kovler, Jociene, Sikuta, De Gaetano und Sicilianos, Rn. 22.: „[The] approach based on harmonisation – rather than opposition – between the relevant treaty instruments seems to us all the more preferable in the instant case given that the 2008 Convention on the Adoption of Children is a recent Council of Europe instrument.“ 263  Der Gerichtshof unterteilte seine Darstellung der Rechtsquellen, die bei der Auslegung der EMRK zu berücksichtigen seien, in „General international Law“ und „Council of Europe instruments“, vgl. EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 68 ff. 264  Dieses Ergebnis stimmt auch mit der Feststellung der „[i]rrelevance of Organ and Document“ von Glas, HRLJ 17 (2017), 97, 103 f. überein. 265  Siehe dazu insbesondere sogleich den Fall Muršić v. Croatia. 266  Siehe etwa EGMR (Große Kammer)  – Leyla Şahin v. Turkey, 10.11.2005  – 44774/98, Rn. 136; EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 182; EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia,

178 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

anhand eines feststehenden Rangverhältnisses. In Sargsyan v. Azerbaijan beispielsweise waren in „The facts“ zwei Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung sowie eine Empfehlung des Ministerkomitees aufgeführt, und der Gerichtshof wies in seiner Urteilsbegründung explizit auf die Resolution der Parlamentarischen Versammlung hin.267 Ebenso in Chiragov a. o. v. Armenia, wo zwei Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung sowie eine Empfehlung des Ministerkomitees in „The facts“ dargelegt waren,268 und der Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung lediglich eine der Resolu­ tionen der Parlamentarischen Versammlung aufgriff.269 Auch die Reaktion des Ministerkomitees auf eine Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung bezieht der Gerichtshof grundsätzlich nicht in seine Urteilsbegründungen ein. Hier wäre denkbar, eine ablehnende Antwort des Ministerkomitees als Grund für die Nichtberücksichtigung der Empfehlung in der Urteilsfindung anzuführen. Dementsprechend sprach sich der Richter Gyulumyan in seiner abweichenden Meinung zum Urteil in Bayatyan v. Armenia auch gegen eine Auslegung von Art. 9 Abs. 1 EMRK als Gewährleistung eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus religiösen Gründen aus: Wie bereits dargelegt, hatte die Mehrheit der Richter die Rechtsprechungsänderung unter anderem mit den Entwicklungen in internationalen Übereinkommen gerechtfertigt – Gyulumyan argumentierte hingegen, dass das Ministerkomitee die Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung von 2001 und 2006, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus religiösen beziehungsweise Gewissensgründen als von Art. 9 Abs. 1 EMRK erfasst anzusehen, nicht annahm. Erst 2010 habe es eine dementsprechende Empfehlung erlassen, sodass das Recht zum entscheidungsrelevanten Zeitpunkt nicht im Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 EMRK enthalten gewesen sei.270 Eine derartige Argumentation war jedoch in keiner der untersuchten Urteilsbegründungen ersichtlich. In Üner v. The Netherlands etwa legte der EGMR den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht entsprechend der PACE Rec. 1504 (2001) aus. Diese hatte sich für eine Empfehlung an die Europaratsstaaten ausgesprochen, wonach Migranten, die in einem Europaratsstaat ­geboren wurden oder aufwuchsen, von diesem nicht ausgewiesen werden 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 107; EGMR (Große Kammer) – Medžlis Islamske Zajednice Brčko a. o. v. Bosnia and Herzegowina, 27.06.2017 – 17224/11, Rn. 80. 267  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Sargsyan v. Azerbaijan, 16.06.2015 – 40167/06, Rn.  237 f. 268  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Chiragov a. o. v. Armenia, 16.06.2015 – 13216/ 05, Rn.  100 ff. 269  EGMR (Große Kammer) – Chiragov a. o. v. Armenia, 16.06.2015 – 13216/05, Rn. 198. 270  EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Dissenting opinion des Richters Gyulumyan, Rn. 2 f.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile179

können. Das Ministerkomitee hatte sich dieser Empfehlung indes nicht angeschlossen.271 Die Urteilsbegründung nimmt jedoch auf diese Antwort keinen Bezug, und legt auch nicht nahe, dass die Auslegung entsprechend der PACE Rec. 1504 (2001) aufgrund dieser ablehnenden Reaktion des Ministerkomitees unterblieb. Vielmehr begründete der EGMR seine Entscheidung mit dem Wortlaut des Art. 8 Abs. 2 EMRK, der eine dementsprechende Auslegung nicht zulasse.272 Zweitens ist auch ein Rangverhältnis anhand der Art des Dokuments denkbar – bei der Parlamentarischen Versammlung angesichts der hierfür erforderlichen Zweidrittelmehrheit eines zwischen Empfehlungen und Resolutionen. Eine derartige Differenzierung deutete die Regierung in A, B and C v. Ireland in ihrer Stellungnahme an: „PACE Resolution 1607 (2008), relied on by the applicants, demonstrated the divergence of views in Contracting ­States as it was a resolution and not a recommendation […].“273 Diese Aussage kann derart interpretiert werden, dass eine Resolution generell eher als gegen einen Konsens sprechend ausgelegt werden sollte, da für sie nur eine einfache Mehrheit erforderlich ist, die Mehrheitsverhältnisse damit also nicht für eine Empfehlung ausreichten. Der Gerichtshof äußerte sich in seiner Urteilsbegründung indes nicht zu den internationalen Dokumenten, da er den Konsens aus dem angestellten Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten ausdrücklich als so überzeugend empfand, dass er eine Untersuchung des internationalen Rechts nicht für notwendig erachtete.274 Auch in den übrigen Urteilen sind keine Anhaltspunkte für eine derartige Differenzierung ersichtlich.275 Insgesamt ist mithin zu bekräftigen, dass es für die Auswahl der in der Urteilsbegründung herangezogenen Erkenntnisquellen nicht auf deren formelle Eigenschaften (Urheber/Art des Dokuments) ankommt. 271  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99, Rn. 37. 272  EGMR (Große Kammer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99, Rn. 55. 273  EGMR (Große Kammer) – A, B and C v. Ireland, 16.12.2010 – 25579/05, Rn. 187 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 274  EGMR (Große Kammer) – A, B and C v. Ireland, 16.12.2010 – 25579/05, Rn. 235. 275  Siehe auch erneut EGMR (Große Kammer) – Vallianatos a.  o. v. Greece, 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09: Hier erklärte der Gerichtshof, dass es einen Trend zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften gebe, der durch die Europaratsdokumente reflektiert werde. In „The facts“ waren zwei Empfehlungen (von 1981 und 2000) sowie eine Resolution (von 2010) der Parlamentarischen Versammlung aufgeführt; der EGMR hob in seiner Urteilsbegründung unterdessen besonders die Resolution hervor („the Court refers particularly to Resolution 1728(2010) of the Parliamentary Assembly“), vgl. Rn. 91.

180 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten 4. Auswahl anhand der inhaltlichen Relevanz

In einigen Fällen war ein Auswahlmuster anhand der inhaltlichen Relevanz einschlägiger internationaler Übereinkommen erkennbar. Wenn in „The facts“ mehrere internationale Übereinkommen aufgeführt waren, verwies der Gerichtshof in der Urteilsbegründung sodann entweder schlicht auf alle (erste Variante); sofern nur ein Teil zitiert wurde, schien die Auswahl anhand der inhaltlichen Aussagekraft erfolgt zu sein (zweite Variante). Er verwies dementsprechend lediglich auf die aktuellsten beziehungsweise inhaltlich konkretesten hinsichtlich der in Rede stehenden Rechtsfrage. Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass die verschiedenen Erkenntnisquellen in diesen Fällen keine eindeutig entgegenstehenden Regelungen enthielten; der Gerichtshof stützte seine Entscheidung also nicht etwa auf Soft Law, obwohl es einen anderslautenden völkerrechtlichen Vertrag gab. Derartige Widersprüche traten in der überwiegenden Zahl der untersuchten Urteile auch nicht auf; vielmehr enthielten die einschlägigen völkerrechtlichen Verträge hier oftmals allgemeinere Bestimmungen als Soft Law-Dokumente wie die Europaratsdokumente, sodass die Übereinkommen sich eher ergänzten.276 Neben O’Keeffe v. Ireland277 sowie Konstantin Markin v. Russia278 ist der Fall Demir and Baykara v. Turkey ein Beispiel für die erstgenannte Variante. Für seine Auslegung von Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK und die damit verbundene Auffassung, nach der sich die Beschwerdeführer auch als Angehörige der Staatsverwaltung vorliegend auf Art. 11 Abs. 1 EMRK berufen könnten, griff der Gerichtshof Dokumente aller in „The facts“ genannten internationalen Organisationen279 auf: Während der IPwsk ebenso wie die EMRK Einschränkungsmöglichkeiten der Vereinigungsfreiheit für Verwaltungsangestellte vorsehe, normiere der ähnlich lautende Art. 22 IPBürg diese zwar für die Polizei, aber gerade nicht für Verwaltungsangestellte.280 Weiter hob der Gerichtshof besonders die ILO hervor, die das Recht auf Gewerkschaftsgrün276  Die verschiedenen internationalen Übereinkommen nehmen weiter mitunter auch aufeinander Bezug. So etwa in EGMR (Große Kammer) – Chiragov a. o. v. Armenia, 16.06.2015 – 13216/05, Rn. 198, wo der Gerichtshof eine Resolution der Parlamentarischen Versammlung heranzog, die sich unter anderem auf die EMRK, die Europäische Sozialcharta, die Framework Convention for the Protection of National Minorities sowie die UN Pinheiro Principles stützt (vgl. Rn. 100). 277  EGMR (Große Kammer) – O’Keeffe v. Ireland, 28.01.2014 – 35810/09, Rn. 147. 278  EGMR (Große Kammer) – Konstantin Markin v. Russia, 22.03.2012 – 30078/06, Rn. 140. 279  Vgl. hierzu EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 37 ff. 280  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 99.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile181

dung für Angehörige des öffentlichen Dienstes normiert hat.281 Auch die Instrumente europäischer Organisationen sprächen in diese Richtung;282 so etwa Art. 5 der Europäischen Sozialcharta, der wie der IPBürg ausdrücklich keine Ausnahme für Verwaltungsangestellte vorsieht. Darüber hinaus sehe auch die CM/Rec(2000)6 vor, dass öffentliche Angestellte grundsätzlich dieselben Rechte genießen sollten wie alle Bürger, und ihre Gewerkschaftstätigkeit nur insoweit eingeschränkt werden sollte, wie es für die effektive Ausübung ihrer öffentlichen Funktion erforderlich ist. Auch die EUGRCh sehe schließlich vor, dass „jeder“ das Recht zur Gewerkschaftsgründung habe. Darüber hinaus berief sich der Gerichtshof auf einen Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten, der ergeben hatte, dass alle Europaratsstaaten Angehörigen des öffentlichen Dienstes das Recht auf den Beitritt zu Gewerkschaften gewähren, wobei sich in den meisten Staaten die wenigen bestehenden Beschränkungen dieses Rechts auf Justizbehörden, die Polizei und die Feuerwehr beziehen.283 Der EGMR setzte sich damit umfassend mit den in „The facts“ genannten Erkenntnisquellen auseinander. Bis auf den IPwsk, der im Wortlaut mit der Bestimmung aus Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK übereinstimmt, sprachen alle Erkenntnisquellen auch gegen den Ausschluss von im öffentlichen Dienst angestelltem Verwaltungspersonal vom Recht zur Gründung von beziehungsweise zum Beitritt zu Gewerkschaften.284 Dementsprechend fiel die Entscheidung des Gerichtshofs letztendlich auch aus.285 Entsprechend der zweiten Variante griff der Gerichtshof in anderen Fällen nur die inhaltlich relevantesten der in „The facts“ benannten internationalen Erkenntnisquellen auf.286 In Baka v. Hungary etwa verhandelte der EGMR 281  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn.  100 ff. 282  Vgl. die Ausführungen in EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 103 ff. 283  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 106. 284  Die zweite Rechtsfrage in dem Verfahren betraf die Vereinbarkeit der gericht­ lichen Aufhebung des zwei Jahre zuvor von der beschwerdeführenden Gewerkschaft und der betreffenden Gemeinde ausgehandelten Tarifvertrags mit Art. 11 EMRK. Da die einschlägige Empfehlung des Ministerkomitees diesbezüglich keine konkrete Aussage trifft (vgl. EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 46), wurde sie an dieser Stelle (konsequenterweise) auch nicht erwähnt, vgl. Rn. 147 ff. 285  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 108. 286  Neben den sogleich dargestellten Urteilen siehe auch EGMR (Große Kam­ mer) – Guja v. Moldova, 12.02.2008 – 14277/04, wo der Gerichtshof in Rn. 72 den „Explanatory Report to the Council of Europe’s Civil Law Convention on Corrup-

182 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

eine Beschwerde des ehemaligen Präsidenten des obersten ungarischen Gerichtshofs. Er war infolge einer Verfassungsänderung 2012 vorzeitig aus diesem Amt entlassen worden. Da ihm gegen diese Entlassung kein Rechtsweg offenstand, machte er eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK geltend.287 Der EGMR erklärte unter Verweis auf ausgewählte Randnummern seiner Darstellungen in „The facts“, dass internationale Übereinkommen und Europaratsübereinkommen sowie die Rechtsprechung internationaler Gerichte und die Praxis anderer internationaler Gremien der verfahrensrecht­ lichen Fairness in Fällen der Absetzung von Richtern eine wachsende Bedeutung beimessen. Die Erkenntnisquellen, auf die der EGMR dabei nicht verwies, befassten sich im Gegensatz zu den zitierten nicht konkret mit diesem Erfordernis eines fairen Gerichtsverfahrens in Fällen der Richterentlassung.288 Weiter zu nennen ist der Fall S. and Marper v. The United Kingdom. Beide Beschwerdeführer waren jeweils als Verdächtige in einem Strafverfahren von der Polizei festgenommen worden; von ihnen wurden die Fingerabdrücke sowie DNA-Proben genommen. Der erste Beschwerdeführer wurde in seinem Strafverfahren freigesprochen; die Anklage gegen den zweiten Beschwerdeführer wurde fallen gelassen.289 Beide beschwerten sich daraufhin über eine Verletzung von Art. 8 EMRK, da nach der englischen Rechtslage Fingerabdrücke von der Polizei nicht gelöscht werden müssen, nachdem Verdächtige beziehungsweise Festgenommene freigesprochen wurden oder tion“ heranzog, der sich – im Gegensatz zu der in „The facts“ ebenfalls aufgeführten CM/Rec(2000)10 „on Codes of Conduct for Public Officials“ – konkret auf die in Rede stehende Rechtsfrage (Schutz der Meinungsfreiheit eines Staatsbediensteten, der interne Dokumente an die Presse weitergeleitet hatte, um auf einen Korruptionsfall aufmerksam zu machen) bezieht. Siehe weiter EGMR (Große Kammer) – Bărbulescu v. Romania, 05.09.2017 – 61496/08, Rn. 133, 138, sowie die Verweise auf spezifische internationale Übereinkommen in EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Rn. 200. Vgl. darüber hinaus auch die Ausführungen zu Vallianatos a. o. v. Greece unter „Dritter Teil, § 4 B.“ Für eine entsprechende Auswahl innerhalb von Ministerkomiteesempfehlungen siehe EGMR (Große Kam­ mer) – Blokhin v. Russia, 23.03.2016 – 47152/06, Rn. 138 und 170 mit Verweis auf Rn. 79, Rn. 203 mit Verweis auf Rn. 77 f. und Rn. 207 mit Verweis auf Rn. 77. Die beschriebene Auswahlpraxis war überdies auch in Fällen zu beobachten, in denen letztlich nur ein Europaratsdokument alleinstehend in der Urteilsbegründung berücksichtigt wurde, wie etwa in EGMR (Große Kammer) – Delfi AS v. Estonia, 16.06.2015 – 64569/09, Rn. 44–47, und 113. 287  EGMR (Große Kammer) – Baka v. Hungary, 23.06.2016 – 20261/12, Rn. 24 ff., 88. 288  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Baka v. Hungary, 23.06.2016 – 20261/12, Rn. 121. 289  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 10 f.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile183

das betreffende Verfahren eingestellt wurde.290 Unter dem Prüfungspunkt „Necessary in a democratic society“ leitete der EGMR zunächst das allgemeine Bedürfnis nach einem Schutz persönlicher Daten aus der Datenschutzkonvention des Europarats, sowie der CM/Rec(87)15 und der CM/Rec(92)1 her.291 Sodann erklärte er, die Frage der Rechtfertigung des vorliegenden Eingriffs in die Privatsphäre der Beschwerdeführer unter Einbeziehung der relevanten Europaratsdokumente sowie des Rechts der Vertragsstaaten beurteilen zu wollen. Die Grundprinzipien des Datenschutzes forderten, dass die Verwaltung von Daten verhältnismäßig sein müsse und nur für eine beschränkte Zeit erfolgen dürfe.292 Für diese Feststellung verwies der Gerichtshof auf die Rn. 41–44 unter „The facts“, die zahlreiche Erkenntnisquellen aus dem Rahmen des Europarats aufführen: Die Datenschutzkonvention des Europarats von 1981, die CM/Rec(87)15 „regulating the use of personal data in the police sector“, die CM/Rec(92)1 „on the use of analysis of DNA within the framework of the criminal justice system“, sowie ein „Explanatory memorandum“ zu dieser Empfehlung. Die hier vertretenen Grundprinzipien seien von den Europaratsstaaten konsistent im Einklang mit der Datenschutzkonvention sowie den darauffolgenden Empfehlungen des Ministerkomitees angewendet worden.293 Speziell im Hinblick auf Zellentnahmen stellte der EGMR fest, dass diese in den meisten Vertragsstaaten nur möglich seien, wenn Straftaten einer bestimmten Schwere in Frage stünden. In der großen Mehrheit der Staaten mit DNA-Datenbanken müssten die Zellproben sowie hieraus erlangte DNA-Informationen darüber hinaus sofort oder nach einer bestimmten Zeit nach Freispruch/Einstellung des Verfahrens zerstört beziehungsweise gelöscht werden, wobei einige Staaten wenige und sehr begrenzte Ausnahmen kennen würden.294 Er verwies hierfür auf die Ergebnisse des Rechtsvergleichs in „The facts“,295 wonach Großbritannien der einzige Staat sei, der eine systematische und unbestimmte Aufbewahrung von Zellproben freigesprochener 290  Vgl. EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 27. 291  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 103 ff. 292  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 107. 293  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 107 unter Verweis auf den Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen und Vorgehensweisen der Europaratsstaaten in Rn. 45–49. 294  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 108. 295  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 47 f.

184 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Personen beziehungsweise Personen, gegen die das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde, erlaube. Fünf Staaten forderten die sofortige Zerstörung, zehn andere Staaten wendeten dieselbe Grundregel an, mit einigen sehr begrenzten Ausnahmen. Frankreich, Estland und Litauen würden die Speicherung nach einem Freispruch noch für eine bestimmte Zeit erlauben. In seiner Urteilsbegründung verwies der EGMR zusätzlich noch darauf, dass sogar das zu Großbritannien gehörende Schottland eine Aufbewahrung von DNA-Proben nicht verurteilter Personen ebenfalls nur in bestimmten Fällen und nur in zeitlich begrenztem Umfang erlaube. Diese Position stehe insbesondere in Einklang mit der CM/Rec(92)1, die die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Fällen und einem genau festgelegten Zeitraum für die Speicherung statuiere. Vor diesem Hintergrund seien eine unbegrenzte Aufbewahrung von Fingerabdrücken und DNA-Material von allen Personen allen Alters, gleich welcher Straftat sie verdächtigt werden, lediglich in England, Wales sowie Nordirland erlaubt.296 Im Ergebnis sprach der EGMR von einem starken Konsens der Europaratsstaaten, der eine engere margin of appreciation nach sich ziehe.297 Dieser Schluss ist insofern etwas überraschend, als mit 18 Staaten (neben Großbritannien) eine eher geringe Anzahl von Europaratsmitgliedern im Hinblick auf ihre nationalen Regelungen untersucht wurde.298 Die hervorgehobene CM/Rec(92)1 bestätigte indes den Konsens aus dem Rechtsvergleich, sodass die Schlussfolgerung im Ergebnis nachvollziehbar ist. Der Gerichtshof orientierte seine Argumentation zur konkreten Frage eines Konsenses im Hinblick auf Zellentnahmen vor allem am Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten, der damit wiederum im Mittelpunkt der Konsens-Prüfung stand. Die Heranziehung interna­ tionaler Übereinkommen erfolgte eher knapp mit der Bezugnahme auf die Empfehlung des Ministerkomitees. Hinsichtlich der Auswahl der internationalen Übereinkommen ist insgesamt bemerkenswert, dass der EGMR lediglich Übereinkommen aus dem Rahmen des Europarats anführte, und bei der konkreten Frage nach den Regelungen im Zusammenhang mit Zellentnahmen lediglich die CM/Rec(92)1. In „The facts“ waren darüber hinaus noch zahlreiche weitere Erkenntnisquellen aufgezählt: Eine EG-Richtlinie zum Schutz natürlicher Personen bei der 296  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 109 f. 297  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 112. 298  In EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 45, spricht der EGMR von mindestens 20 Staaten, dies jedoch in Bezug auf allgemeine Regelungen. Speziell zur Frage der Speicherung von DNA und Zellproben finden sich nur Ausführungen zu 18 namentlich genannten Staaten.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile185

Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr diverser EU-Rechtsquellen; das Prümer Übereinkommen zur Verstärkung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration; ein Urteil des kanadischen Supreme-Courts sowie die UN-Kinderrechtskonvention.299 Diese Erkenntnisquellen griff er bei der Beurteilung eines Konsenses nicht auf, sie äußerten sich jedoch auch nicht vergleichbar konkret zur in Rede stehenden Rechtsfrage. Dies trifft zunächst innerhalb der Übereinkommen aus dem Europarat zu: Die Datenschutzkonvention des Europarats von 1987 bezieht sich auf den Schutz personenbezogener Daten im Allgemeinen. Die CM/Rec(87)15 bestimmt bereits relativ konkrete Regelungen zur Begrenzung der Speicherung persönlicher Daten.300 Demgegenüber betrifft die fünf Jahre später ergangene CM/Rec(92)1 schließlich konkret die Verwendung und Speicherung von DNA-Proben in der Strafverfolgung; unter Punkt 8 enthält sie ausdrücklich Regelungen zur Speicherung von DNAProben. Auch in Verbindung mit dem ebenfalls in der Urteilsbegründung zitierten „Explanatory memorandum“ zu dieser Empfehlung301 ergibt sich hieraus eindeutig, dass eine unbegrenzte Speicherung und Aufbewahrung von DNA- sowie Zellproben nicht möglich sein soll. Sie ist damit die aktuellste und auch aussagekräftigste Erkenntnisquelle für den vorliegenden Fall. Dies gilt überdies auch im Vergleich mit den anderen Erkenntnisquellen: Die EG-Richtlinie 95/46 enthält allgemeine Regelungen zum Datenschutz im Sinne des Rechts auf Privatsphäre, das damals noch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts hergeleitet wurde. Sie normiert eine Reihe von Grundsätzen, um die Bestimmungen des Datenschutzübereinkommens des Europarats zu konkretisieren und zu erweitern. In diesem Sinne enthält sie also lediglich die bereits in den Europaratsdokumenten aufgestellten Grundsätze. Das Prümer Übereinkommen enthält zwar Regelungen zur Speicherung personenbezogener Daten wie Fingerabdrücke oder DNA, bezieht sich jedoch ebenfalls auf ein Europaratsdokument: So verpflichtet es die Vertragsparteien, die CM/Rec(87)15 zu berücksichtigen. Der Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Juni 2008 zum Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bearbeitet werden, sieht unter anderem vor, dass für die Löschung personenbezogener Daten oder für eine regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit der Speicherung der Daten angemessene 299  EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 50 ff. 300  Principle 3 betrifft die Aufbewahrung der Daten, Principle 7 die Dauer der Aufbewahrung sowie die Aktualisierung der Daten. 301  Vgl. den relevanten Auszug hieraus in EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 47.

186 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Fristen festzulegen sind. Diese Erkenntnisquelle passt inhaltlich also zur in Rede stehenden Rechtsfrage, ist allerdings nicht so konkret hinsichtlich der Art der Daten (Fingerabdrücke, DNA- oder Zellproben) wie die CM/ Rec(92)1. Auch die UN-Kinderrechtskonvention wird in dieser Hinsicht nicht konkret. Lediglich das Urteil des kanadischen Supreme Courts behandelte konkret den Fall eines Minderjährigen, der gegen die Aufbewahrung seiner DNA-Probe geklagt und aufgrund der Unverhältnismäßigkeit dieses Vorgehens Recht bekommen hatte. Damit ist insgesamt festzustellen, dass der Gerichtshof mit den genannten Europaratsdokumenten die konkretesten Erkenntnisquellen für die rechtsvergleichende Fragestellung in seiner Urteilsbegründung heranzog. Auch innerhalb verschiedener Europaratsdokumente ist bei mehreren Übereinkommen, die inhaltlich in dieselbe Richtung deuten, eine Auswahl anhand der konkreten Aussagekraft für die zu untersuchende Rechtsfrage erkennbar. In dem bereits genannten Fall Sargsyan v. Azerbaijan beispielsweise, in dem lediglich die Resolution der Parlamentarischen Versammlung aufgegriffen wurde, enthielt diese auch umfassendere und konkretere Angaben zur in Rede stehenden Rechtsfrage als die ebenfalls noch in „The facts“ genannte Empfehlung des Ministerkomitees;302 ebenso in Chiragov a. o. v. Armenia303.304 Vor diesem Hintergrund ist mithin erneut zu bekräftigen, dass es für die Auswahl der in der Urteilsbegründung herangezogenen Erkenntnisquellen oftmals weniger auf deren formelle Eigenschaften als vielmehr auf ihren Inhalt ankam. Dass dabei durchaus ein völkerrechtlicher Vertrag nicht in der Urteilsbegründung aufgegriffen werden kann, während Soft Law herangezogen wird, wird in X a. o. v. Austria ersichtlich. Hier zog der Gerichtshof die noch in „The facts“ genannte UN-Kinderrechtskonvention nicht in seiner Urteilsbegründung heran; verglichen mit dem in der Urteilsbegründung berücksichtigten Europäischen Übereinkommen über die Adoption von Kindern sowie der CM/Rec(2010)5 traf diese jedoch auch keine ähnlich konkrete Aussage zu der in Rede stehenden Rechtsfrage.305 Ebenso in V. v. The Unit­ed Kingdom, wo der EGMR den noch in „The facts“ aufgeführten306 Art. 14 IPBürg nicht in seiner Urteilsbegründung aufgriff, sondern besondere Anfor302  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Sargsyan v. Azerbaijan, 16.06.2015 – 40167/06, Rn. 98 und Rn. 100. 303  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Chiragov a. o. v. Armenia, 16.06.2015 – 13216/ 05, Rn.  100 ff. 304  Siehe zu diesen Fällen erneut „Dritter Teil, § 5 C. III. 3.“ 305  EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 150. 306  EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 48.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile187

derungen an Gerichtsverfahren unter Beteiligung Minderjähriger anhand der UN-Kinderrechtskonvention sowie zweier Soft Law-Dokumente beurteilte;307 diese äußerten sich indes wiederum konkreter zur in Rede stehenden Rechtsfrage. 5. Besondere Hervorhebung von Europaratsdokumenten am Beispiel der Rechtsprechung zu Gefangenenrechten

Wie etwa an der eingehenden Auseinandersetzung des EGMR mit den internationalen Übereinkommen in Demir and Baykara v. Turkey deutlich wurde, können internationale Dokumente durchaus einen bedeutenden Stellenwert in der Urteilsbegründung des EGMR einnehmen. Im speziellen Hinblick auf die Europaratsdokumente sind in diesem Zusammenhang vor allem die European Prison Rules (EPR) zu benennen. Dies sind Empfehlungen des Ministerkomitees, deren umfassendes Regelwerk über die Rechte von und den angebrachten Umgang mit Strafgefangenen die Rechtsprechung des EGMR zu Gefangenenrechten maßgeblich geprägt haben. An ihrem Beispiel werden auch die soeben beschriebenen Feststellungen, wonach der EGMR entscheidungsrelevante internationale Übereinkommen mitunter anhand ihrer inhaltlichen Aussagekraft auswählt, und deren Rechtsnatur und Urheber hier keine maßgebliche Rolle spielen, besonders deutlich. Die EPR und ihre Rezeption durch den EGMR sind ein Paradebeispiel für den Einfluss unverbindlicher internationaler Übereinkommen auf die Auslegung der EMRK, hier insbesondere von Art. 3 EMRK. Der Richter Pinto de Albuquerque bezeichnet sie als „[…] prototype of hardened soft law in the Council of Europe’s normative system.“308 1973 erließ das Ministerkomitee eine erste Version europäischer Gefängnisregeln, 1987 folgte eine überarbeitete Fassung. Nachdem seither 25 neue Mitgliedstaaten, insbesondere im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion, dem Europarat beigetreten waren, und in den Europaratsstaaten zahlreiche Entwicklungen auf dem Gebiet der Gefängnisregeln stattgefunden hatten, entschied sich das Ministerkomitee 2006 zu einer weiteren, umfassenden Überarbeitung und Aktualisierung der Regeln.309 Neben den EPR in Form der CM/Rec(2006)2 erließen das Ministerkomitee sowie die Parlamentarische Versammlung weitere Europaratsdokumente zu Gefangenenrechten, die – wie 307  Vgl. EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 76. 308  EGMR (Große Kammer)  – Muršić v. Croatia, 20.10.2016  – 7334/13, Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, I. 309  Siehe genauer zu den Entwicklungen Council of Europe, European Prison Rules, S. 39 f. sowie Chapter 3 (S. 101 ff.).

188 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

sogleich zu sehen – gemeinsam mit den EPR regelmäßig für die Auslegung der EMRK hinsichtlich von Gefangenenrechten herangezogen wurden. In V. v. The United Kingdom hatte der Gerichtshof die Empfehlung des Ministerkomitees zu gesellschaftlichen Reaktionen auf Jugendkriminalität berücksichtigt, als er über die Verletzung des Privatlebens der beschwerdeführenden Minderjährigen zu entscheiden hatte.310 In dem bereits dargestellten Fall Stummer v. Austria berücksichtigte der EGMR die EPR maßgeblich bei der Frage, ob Strafgefangene, die während ihrer Haft arbeiteten, ein Recht auf die Aufnahme in das Alterspensionssystem haben.311 Weiter beeinflussten die Europaratsdokumente zu Gefangenenrechten auch die Rechtsprechung zu Haftbedingungen.312 Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht der bereits besprochene Fall Khoroshenko v. Russia, in dem die Europaratsdokumente eine zentrale Rolle einnahmen. Der Gerichtshof erklärte die Standards aus den EPR sowie jene des CPT als Ausgangspunkt für die Besuchsregelungen in Haftanstalten. Die übereinstimmende Praxis der Europaratsstaaten in diesem Bereich ordnete er als Umsetzung dieser Standards ein.313 Ein ähnliches Beispiel ist der Fall Enea v. Italy. Hier beschwerte sich ein Gefängnisinsasse über die ihm auferlegten, besonders strengen Haftbedingungen (unter anderem die Beschränkung von Besuchen der Familie auf einen einstündigen Besuch pro Monat, ein Verbot von Besuchen von Nicht­ familienmitgliedern, das Verbot zu telefonieren, sowie die Überwachung 310  EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn. 49, 76. 311  EGMR (Große Kammer) – Stummer v. Austria, 07.07.2011 – 37452/02, Rn. 105 und 130 ff. (vgl. zur Darstellung des Falles erneut „Dritter Teil, § 5 C. II. 3. a)“). 312  Siehe neben den sogleich dargestellten Fällen EGMR (Große Kammer) – Ramirez Sanchez v. France, 04.07.2006 – 59450/00, Rn. 130, sowie die Concurring opinion des Richters Costa in EGMR – McGlinchey a. o. v. the United Kingdom, 29.04.2003 – 50390/99. Der betreffende Fall behandelte die Haftbedingungen der unter Asthma leidenden heroinsüchtigen Beschwerdeführerin. Sie war wegen Diebstahls zu vier Monaten Haft verurteilt worden und litt während ihres Gefängnisaufenthalts unter starken gesundheitlichen Problemen, infolge derer sie während der Haft verstarb. Der Gerichtshof urteilte, dass die unzureichende ärztliche Überwachung und Versorgung, die letztlich im Tod der Inhaftierten resultierten, eine unmenschliche Behandlung darstellten. Dabei bezog er sich nicht auf das mögliche Vorliegen eines europäischen Konsenses; Richter Costa bemerkte in seiner Concurring opinion indes, dass Gefängnisinsassen mit Gesundheitsproblemen eine besondere Behandlung benötigen; das wachsende Bewusstsein für dieses Bedürfnis reflektierten auch diverse Empfehlungen des Ministerrats: Recommendation on the EPR (87) 3, Recommendation (98) 7 „concerning the ethical and organisational aspects of health care in prison“ und Rec(2000)22 „on improving the implementation of the European rules on community sanctions and measures“. 313  EGMR (Große Kammer) – Khoroshenko v. Russia, 30.06.2015 – 41418/04, Rn. 134.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile189

seines Briefverkehrs314. Er machte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK aufgrund „systemic delays“ von Gerichtsentscheidungen über die von ihm eingereichten Beschwerden über die Haftbedingungen geltend.315 Fraglich war, ob ein Streit über einen zivilrechtlichen Anspruch nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK vorlag. Der EGMR erklärte: „The Court notes that most of the restrictions to which the applicant was allegedly subjected relate to a set of prisoners’ rights which the Council of Europe has recognised by means of the European Prison Rules, adopted by the Committee of Ministers in 1987 and elaborated on in a Recommendation of 11 January 2006 (Rec(2006)2). Although this Recommendation is not legally binding on the member States, the great majority of them recognise that prisoners enjoy most of the rights to which it refers and provide for avenues of appeal against measures restricting those rights. It follows that a ‚dispute (contestation) over a right‘ for the purposes of Article 6 § 1 can be said to have existed in the instant case.“316

Trotz der rechtlichen Unverbindlichkeit der Empfehlung stützte der Gerichtshof seine Entscheidung mithin maßgeblich auf dieses Europaratsdokument. Er unterstützte dies mit der Begründung, dass die meisten der darin enthaltenen Rechte von der großen Mehrheit der Europaratsstaaten gewährleistet würden. Ein Bereich, in dem die Rechtsprechung des EGMR ebenfalls in bemerkenswertem Maße durch die Europaratsdokumente zu Gefangenenrechten geprägt wurde, ist die Vereinbarkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne die Aussicht auf Entlassung mit Art. 3 EMRK. Hier sollen im Sinne eines umfassenden Einblicks wie bereits in der bereichsspezifischen Untersuchung auch Urteile anderer Spruchkörper neben der Großen Kammer berücksichtigt werden. Die EKMR hatte bereits 1978 die besondere Schutzbedürftigkeit lebenslang Inhaftierter betont: In Kotälla v. The Netherlands erklärte sie, dass der Umgang mit Langzeithäftlingen, insbesondere mit lebenslang Verurteilten, wachsenden Anlass zur Besorgnis gebe.317 Sie verwies dafür auf den vom Unterausschuss des European Committee on Crime Problems vorbereiteten Bericht über den Umgang mit Langzeithäftlingen von 1975, der die lebenslange Inhaftierung einer Person ohne jegliche Aussicht auf Entlassung als unmenschlich bezeichnete. Darüber hinaus verwies sie auf die CM/ Res(76)2 „on the treatment of long-term prisoners“ von 1976. Auch der Bericht zu dieser Resolution bezeichnete eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Aussicht auf Entlassung als unmenschlich. Die Resolution empfahl den Regierungen der Mitgliedstaaten, auf lebenslange Freiheitsstrafen dieselben EGMR (Große Kammer) – Enea v. Italy, 17.09.2009 – 74912/01, Rn. 11 ff. EGMR (Große Kammer) – Enea v. Italy, 17.09.2009 – 74912/01, Rn. 71 ff. 316  EGMR (Große Kammer) – Enea v. Italy, 17.09.2009 – 74912/01, Rn. 101. 317  Vgl. den Auszug aus „The law“ in EKMR, 06.05.1978 – 7994/77, S. 240. 314  Siehe 315  Vgl.

190 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Prinzipien wie bei Langzeitinhaftierten anzuwenden. Sie sollten eine Überprüfung lebenslanger Freiheitsstrafen hinsichtlich einer möglichen bedingten vorzeitigen Freilassung ermöglichen, spätestens nach acht bis 14 Jahren Haft und in regelmäßigen Intervallen.318 Die EKMR erkannte an, dass die Etablierung einer Freiheitsstrafe unter regelmäßiger Prüfung einer möglichen vorzeitigen Entlassung erstrebenswert sei. Ein solches Recht könne jedoch in keine Konventionsbestimmung, auch nicht Art. 3 EMRK, hineingelesen werden.319 2001 erklärte der EGMR in Einhorn v. France, dass er die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne die Aussicht auf vorzeitige Entlassung nicht ausschließe. In diesem Zusammenhang seien die vom Antragsteller in dem betreffenden Fall angeführten Europaratsdokumente, der Bericht des European Committee on Crime Problems sowie die CM/Res(76)2 „on the treatment of long-term prisoners“, „nicht ohne Relevanz“.320 Im konkreten Fall nahm der EGMR in dieser Hinsicht aber keine Konventionsverletzung an, da es für den Beschwerdeführer nicht völlig aussichtslos sei, vorzeitig entlassen zu werden.321 In Leger v. France (2006) machte der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 EMRK geltend, da er 41 Jahre im Gefängnis hatte verbringen müssen, was einer Strafe ohne Aussicht auf Entlassung gleichgekommen sei. Die Kammer des EGMR legte in „The facts“ wiederum ausführlich die Regelungen des Europarats zur lebenslangen Freiheitsstrafe dar. Neben der bereits zuvor genannten CM/Res(76)2 „on the treatment of long-term prisoners“ wies sie auf die CM/Rec(99)22 „concerning prison overcrowding and prison population inflation“ hin, in der das Ministerkomitee eine vorzeitige Entlassung als eines der effektivsten Mittel bezeichne, überfüllte Gefängnisse zu entlasten.322 Weiter führte sie die aktuelle Version der EPR von 2006 an, nach der das primäre Ziel der Haft die Resozialisierung der Gefangenen in ein straffreies Leben sein sollte. Diese Regelungen müssten überdies in Zusammenhang mit der CM/Rec(2003)22 „on conditional release (parole)“ sowie der CM/Rec(2003)23 „on the management by prison administrations of life sentence and other long-term prisoners“ gelesen werden.323 Diese Europaratsdokumente waren die einzigen rechtsvergleichenden Erkenntnisquellen neben rechtsvergleichenden Informationen zu den Regelungen in den Euro318  Vgl. den Auszug aus „The law“ in EKMR, 06.05.1978 – 7994/77, S. 240. Da­ raufhin erfolgten weiter noch Vergleiche mit dem Bundesverfassungsgericht sowie dem italienischen Verfassungsgericht. 319  EKMR – Kotälla v. The Netherlands, 06.05.1978 – 7994/77, S. 240. 320  EGMR – Einhorn v. France, 16.10.2001 – 71555/01, Rn. 27. 321  EGMR – Einhorn v. France, 16.10.2001 – 71555/01, Rn. 27. 322  EGMR – Leger v. France, 11.04.2006 – 19324/02, Rn. 43. 323  EGMR – Leger v. France, 11.04.2006 – 19324/02, Rn. 44 f.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile191

paratsstaaten, welche der Gerichtshof aus den Reports zu den CM/ Rec(2003)22 und (2003)23 entnahm.324 In „The law“ nahm die Kammer indes nicht weiter auf diese Erkenntnisquellen Bezug, sondern legte lediglich die bisherige Rechtsprechung dar, wonach die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch eine nicht reduzierbare lebenslange Freiheitsstrafe nicht ausgeschlossen sei.325 Sie untersuchte daraufhin, ob die Regelungen Frankreichs eine solche nicht reduzierbare lebenslange Freiheitsstrafe darstellten. Trotz der im Ergebnis ablehnenden Entscheidung anerkannte er damit erneut, dass eine derartige Freiheitsstrafe grundsätzlich Art. 3 EMRK verletzen könne.326 Für die Nichtberücksichtigung der rechtsvergleichenden Materialien aus „The facts“ gibt es verschiedene denkbare Anhaltspunkte. Sie könnte darauf zurückzuführen sein, dass der EGMR in seinem Urteil keine evolutive Auslegung von Art. 3 EMRK vornahm, die von seiner bisherigen Rechtsprechung abwich. Dass eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Aussicht, jemals entlassen zu werden, gegen Art. 3 EMRK verstoßen kann, hatte der Gerichtshof bereits in Einhorn v. France zumindest nicht ausgeschlossen. Die ausführliche Darlegung der Entwicklungen in den Europaratsstaaten sowie im Europarat in „The facts“ kann dementsprechend als Verdeutlichung des Bewusstseins des EGMR für die aktuellen Entwicklungen aufgefasst werden, ohne dass er eine Berücksichtigung auch in „The law“ für seine Urteilsbegründung für erforderlich hielt. In Verbindung damit ist auch hervorzuheben, dass der Staat im vorliegenden Fall nicht wegen einer Konventionsverletzung verurteilt wurde. Es bedurfte der legitimierenden Wirkung des Konsens-Kriteriums nach Auffassung der Kammer damit womöglich nicht. In Kafkaris v. Cyprus (2008) erließ nun erstmalig die Große Kammer ein Urteil in der Frage der Vereinbarkeit lebenslanger Freiheitsstrafen ohne die Aussicht auf Entlassung mit Art. 3 EMRK. In „The facts“ hatte sie wiederum einschlägige Europaratsübereinkommen benannt und zahlreiche relevante Passagen daraus zitiert: Art. 21 der Council of Europe Convention on the Prevention of Terrorism, sowie erneut die CM/Res(76)2 „on the treatment of long-term prisoners“, die CM/Rec(99)22 „concerning prison overcrowding and prison population inflation“, die CM/Rec(2003)22 „on conditional release“, die EPR von 2006 und zwei Berichte des Menschenrechtskommissars 324  EGMR –

Leger v. France, 11.04.2006 – 19324/02, Rn. 46 ff. Leger v. France, 11.04.2006 – 19324/02, Rn. 89 ff. 326  Der Richter Mularoni ging noch einen Schritt weiter und argumentierte, unter anderem anhand des Rechtsvergleichs sowie der konsistenten Bemühungen des Europarats in dem betreffenden Gebiet seit den 1970er Jahren, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK stattgefunden habe, vgl. EGMR – Leger v. France, 11.04.2006 – 19324/02, Partly concurring, partly dissenting opinion des Richters Mularoni; ähnlich Dissenting opinion der Richterin Fura-Sandström, Rn. 9 ff. 325  EGMR –

192 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

zu Besuchen in Zypern.327 Darüber hinaus führte sie auch ein EU-Dokument an, die Council Framework Decision 2002/584/JHA „on the European arrest warrant and the surrender procedures between member States“, sowie Auszüge aus dem Römischen Statut des IStGH.328 Bemerkenswert ist, dass sich keine Informationen über die Rechtslage in anderen Europaratsstaaten finden. In seiner Urteilsbegründung erklärte der EGMR, wiederum lediglich unter Verweis auf die bisherige Rechtsprechung in diesem Bereich, dass die Verbüßung einer lebenslangen Haftstrafe für sich genommen noch keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstelle. Zugleich könne die Verurteilung zu einer nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafe aber durchaus eine Konventionsverletzung begründen.329 Obwohl die EMRK kein Recht auf die Überprüfung einer Haftstrafe hinsichtlich einer möglichen vorzeitigen Entlassung enthalte, sei das Bestehen eines solchen Überprüfungsmechanismus ein Faktor, der bei der Frage nach der Vereinbarkeit einer Verurteilung zu lebenslanger Haftstrafe mit Art. 3 EMRK berücksichtigt werden müsse. In dieser Hinsicht komme es darauf an, ob die lebenslange Freiheitsstrafe de jure und de facto prinzipiell reduzierbar sei.330 Gleichwohl müsse betont werden, dass die Wahl eines Strafsystems einschließlich Vorkehrungen zu Haftüberprüfungen sowie Entlassungsregelungen grundsätzlich „outside the scope of super­vision“ des Gerichtshofs stünden.331 Mit diesen etwas umständlichen Ausführungen wollte der Gerichtshof offenbar verdeutlichen, dass die Frage der Vereinbarkeit der Verurteilung einer Person zu lebenslanger Haft mit Art. 3 EMRK eine Einzelfallentscheidung sein soll. Ob im vorliegenden Fall tatsächlich die Möglichkeit einer derartigen Überprüfung und eventuellen vorzeitigen Entlassung bestanden habe, hätte er unter Berücksichtigung der Standards in den Europaratsstaaten sowie der aus den Europaratsdokumenten ersichtlichen wachsenden Sorge über den Umgang mit Langzeitgefangenen entschieden.332 Hinsichtlich der Standards in den Europaratsstaaten verwies der EGMR auf zwei frühere Urteile, aus denen sich jedoch keine Informationen zur Rechtslage in den Europaratsstaaten ergeben: Der Verweis des EGMR auf den Fall Soering v. The United Kingdom belegt lediglich, dass der EGMR auch schon in der Vergangenheit Art. 3 EMRK evolutiv unter Berücksichtigung eines Rechtsvergleichs zwischen den 327  EGMR

(Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 68–

328  EGMR

(Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 74–

329  EGMR

(Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 97. (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 97–

73. 76.

330  EGMR

99.

331  EGMR 332  EGMR

(Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 98 f. (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 101.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile193

Europaratsstaaten ausgelegt hat, in diesem Fall eines Rechtsvergleichs zur Todesstrafe in den Europaratsstaaten; der Verweis auf V. v. The United Kingdom belegt ebenfalls lediglich die evolutive Auslegung von Art. 3 EMRK. In dieser Hinsicht fällt mithin auf, dass der EGMR noch immer nicht konsequent alle rechtsvergleichenden Informationen offenlegt, die seiner Entscheidung zugrunde liegen. Die Hervorhebung der Europaratsdokumente bekräftigt unterdessen erneut deren besondere Stellung in der Rechtsprechung des EGMR zu Gefangenenrechten. Das Römische Statut, das ebenfalls konkrete Aussagen zur in Rede stehenden Rechtsfrage enthält und in Art. 110 Abs. 3 die Möglichkeit einer Überprüfung lebenslanger Haftstrafen vorsieht, benannte der EGMR demgegenüber an dieser Stelle nicht. Bei der Beurteilung des konkreten Falles des Beschwerdeführers hob der EGMR die in Zypern bestehende Möglichkeit der Begnadigung lebenslang Verurteilter durch den Präsidenten hervor. Er führte aus, dass er die Defizite in dem Verfahren zwar anerkenne, dieses aber gleichwohl dazu führe, dass lebenslange Freiheitsstrafen faktisch nicht immer unwiderruflich seien. So seien 1993 neun Häftlinge freigelassen worden, und 1997 sowie 2005 zwei weitere.333 Die Ausführungen des Beschwerdeführers stützten sich insbesondere darauf, dass „under the legislative scheme currently in force in Cyprus there was no parole board system […]. The procedure currently in place granted unfettered discretion to the President and was arbitrary in its nature.“334 Der Gerichtshof erwiderte hierauf jedoch, dass die Ausgestaltung des Strafjustiz- und Strafverfolgungssystems im Beurteilungsspielraum der Staaten liege; „[T]he Court observes that at the present time there is not yet a clear and commonly accepted standard amongst the member States of the Council of Europe concerning life sentences and, in particular, their review and method of adjustment. Moreover, no clear tendency can be ascertained with regard to the system and procedures implemented in respect of early release.“335

Der Gerichtshof resümierte, dass der Beschwerdeführer nicht ohne jegliche Aussicht auf Entlassung sei und seine Inhaftierung dementsprechend keine unmenschliche Behandlung darstelle. Er bemerkte jedoch noch: „However, the Court is conscious of the shortcomings in the procedure currently in place […] and notes the recent steps taken for the introduction of reforms.“336 Die Entscheidung erging mit zehn zu sieben Stimmen eher knapp gegen eine Verletzung von Art. 3 EMRK. In ihren Sondervoten verdeutlichten fünf Richter ihre abweichende Auffassung, wonach das Ablehnen eines Konsen333  EGMR

(Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 103. (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 80. 335  EGMR (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 104. 336  EGMR (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 105. 334  EGMR

194 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

ses zu lebenslangen Freiheitsstrafen und Überprüfungsmechanismen nicht mit den relevanten Europaratsdokumenten übereinstimmte: „The judgment states that ‚at the present time there is not yet a clear and commonly accepted standard amongst the member States of the Council of Europe concerning life sentences and, in particular, their review and method of adjustment. Moreover, no clear tendency can be ascertained with regard to the system and procedures implemented in respect of early release‘ (see paragraph 104). In our view, such an assessment quite simply does not appear compatible with the relevant Council of Europe instruments which the judgment takes care to cite. For more than thirty years the Committee of Ministers and the Parliamentary Assembly have repeatedly concerned themselves with matters relating to long-term sentences and have expressly called on member States to ‚introduce conditional release in their legislation if it does not already provide for this measure‘ ([CM/ Rec(2003)22 …]). The same Recommendation further acknowledges that conditional release – which is not a form of leniency or of lighter punishment but a means of sentence implementation – ‚is one of the most effective and constructive means of preventing reoffending and promoting resettlement‘. The [EPR in CM/ Rec(2006)2], reflecting the existing European consensus in this field, also refer to the question of release of sentenced prisoners: ‚In the case of those prisoners with longer sentences in particular, steps shall be taken to ensure a gradual return to life in free society‘ (107.2).“337

Weiter könne derselbe Trend auch im EU-Recht sowie dem internationalen Strafrecht beobachtet werden. Das Urteil bemühe sich, alle relevanten internationalen Übereinkommen zu zitieren; es ziehe jedoch keine praktischen Schlüsse aus ihnen und riskiere daher einen Rückschritt im Menschenrechtsschutz.338 Die Richter kritisierten weiter, dass das Urteil keinen Bezug auf die Rechtslage in den Europaratsstaaten nimmt. So sei es in vielen Europaratsstaaten anerkannt, dass Strafen neben einem strafenden Effekt auch Anreize zur Resozialisierung von Strafgefangenen geben müssten. Obwohl lebenslange Freiheitsstrafen in den meisten Staaten gesetzlich vorgesehen seien, impliziere dies nicht notwendigerweise eine tatsächlich lebenslange Haftstrafe. Die meisten Rechtssysteme sähen die Möglichkeit einer Überprüfung der Strafe und vorzeitiger Entlassung vor.339 Dzehtsiarou ist der Auffassung, die abweichende Meinung argumentiere damit für ein Überwiegen des 337  EGMR (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Joint partly dissenting opinion der Richter Tulkens, Cabral Barreto, Fura-Sandström, Spielmann und Jebens, Rn. 4. 338  EGMR (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Joint partly dissenting opinion der Richter Tulkens, Cabral Barreto, Fura-Sandström, Spielmann und Jebens, Rn. 4. 339  EGMR (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Joint partly dissenting opinion der Richter Tulkens, Cabral Barreto, Fura-Sandström, Spielmann und Jebens, Rn. 5.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile195

Konsenses aus internationalem Recht;340 tatsächlich beruft sie sich jedoch wie auch die Mehrheit der Richter auf den Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten, und wertet diesen lediglich anders aus. Vor diesem Hintergrund ist die fehlende Darstellung der Entscheidungsgrundlage in „The facts“ besonders misslich, da die Diskussion sowie die Schlussfolgerung des Gerichtshofs mangels Informationen über die ihr zugrundeliegenden Daten nicht nachvollzogen und überprüft werden können. Der abweichenden Meinung nach gebe es eine Möglichkeit der vorzeitigen Haftentlassung für den Beschwerdeführer im konkreten Fall realistischerweise nicht. Die Richter resümierten: „[W]e […] believe that ‚the time has come when the Court should clearly affirm that the imposition of an irreduc­ ible life sentence, even on an adult offender, is in principle inconsistent with Article 3 of the Convention‘.“341 Damit fordern sie, dass die eingangs dargelegte, umständliche und eher zurückhaltende Aussage des EGMR, wonach zumindest bei einer Reduzierbarkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine Verletzung von Art. 3 EMRK ausgeschlossen ist, umgekehrt gerade dahingehend verstärkt wird, dass das Fehlen eines Überprüfungsmechanismus für lebenslange Haftstrafen prinzipiell eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründet. Bei dieser Diskussion ist insgesamt eine Parallele zur Entwicklung der LGBT-Rechte zu beobachten; auch dort hatten zunächst knappe Mehrheiten gegen eine evolutive Auslegung der Konvention und eine dementsprechende Konventionsverletzung gestimmt, bevor dann in Christine Goodwin v. The United Kingdom letztlich einstimmig das Recht auf Geschlechtsänderung in der Geburtsurkunde anerkannt wurde. In Kafkaris v. Croatia war sich die Große Kammer offensichtlich ebenso uneinig über das für eine Anpassung der Rechtsprechung notwendige Ausmaß an europäischen Entwicklungen. Die Mehrheit der Richter im vorliegenden Fall war noch zurückhaltend und wollte den betroffenen Staaten offensichtlich noch Zeit einräumen, die Rechtslage zu ändern. Dies wird nicht zuletzt am abschließenden Hinweis des Gerichtshofs auf dessen Bewusstsein über die Defizite des zypriotischen Überprüfungsverfahrens sowie die geplanten Reformvorhaben Zyperns in diesem Bereich deutlich.342 Auch die umfassende Darstellung aller relevanten rechtsvergleichenden Materialien in „The facts“ kann als Hinweis auf das Bewusstsein des Gerichtshofs für die europäische Entwicklung aufgefasst 340  Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 58. 341  EGMR (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Joint partly dissenting opinion der Richter Tulkens, Cabral Barreto, Fura-Sandström, Spielmann und Jebens, Rn. 6. 342  EGMR (Große Kammer) – Kafkaris v. Cyprus, 12.02.2008 – 21906/04, Rn. 105.

196 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

werden. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den rechtsvergleichenden Materialien in „The law“ unterblieb indes erneut; das Urteil erklärt pauschal, dass es im Bereich lebenslanger Freiheitsstrafen und möglicher Überprüfungsmechanismen keinen Konsens gebe. Erneut gilt es auch sich zu vergegenwärtigen, dass der Staat vorliegend im Ergebnis nicht wegen einer Konventionsverletzung verurteilt wurde, sodass es der besonderen legitimierenden Wirkung des Konsens-Kriteriums nach Auffassung der Mehrheit der Richter womöglich nicht bedurfte. Wie sich an der ausführlichen Analyse der abweichenden Meinung zeigte, hätte eine genaue Auseinandersetzung mit den rechtsvergleichenden Dokumenten die Ablehnung eines Konsenses unterdessen auch schwer aufrechterhalten können. Fünf Jahre später befasste sich die Große Kammer in Vinter a. o. v. The United Kingdom erneut mit einer Beschwerde über die Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne die Aussicht auf Entlassung, und führte mit ihrer Entscheidung eine bedeutende Rechtsprechungsänderung herbei. Im Gegensatz zu Kafkaris v. Cyprus legte der Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung unter Berücksichtigung aller relevanten rechtsvergleichenden Informationen dar, warum lebenslang Inhaftierte die Aussicht auf eine mögliche Reduzierung der Haftstrafe haben müssten, und ein dementsprechender Überprüfungsmechanismus vorliegen müsse.343 Er erklärte, dass es inzwischen eine klare Unterstützung im europäischen und internationalen Recht für das Prinzip gebe, wonach alle, auch lebenslang Inhaftierte eine Möglichkeit zur Rehabilitation und damit verbunden die Aussicht haben müssten, aus dem Gefängnis entlassen zu werden.344 Dafür analysierte er ausführlich die einschlägigen Europaratsdokumente345 und verwies dabei insbesondere auf die EPR: „[W]hile punishment remains one of the aims of imprisonment, the emphasis in European penal policy is now on the rehabilitative aim of imprisonment, particularly towards the end of a long prison sentence […]. In the Council of Europe’s legal instruments, this is most clearly expressed in Rule 6 of the European Prison Rules, which provides that all detention shall be managed so as to facilitate the reintegration into free society of persons who have been deprived of their liberty, and Rule 102.1, which provides that the prison regime for sentenced prisoners shall be designed to enable them to lead a responsible and crime‑free life […]. The rele­ vant Council of Europe instruments set out in paragraphs 60–64 and 76 above also 343  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 110 ff. 344  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 114. 345  Über die bereits genannten hinaus verwies er auch auf einen Bericht des CPT, vgl. EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 116.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile197 demonstrate, first, that commitment to rehabilitation is equally applicable to life sentence prisoners; and second, that, in the event of their rehabilitation, life sentence prisoners should also enjoy the prospect of conditional release.“346

Dies ergebe sich weiter auch aus dem Recht der Europaratsstaaten. Im Gegensatz zu Kafkaris v. Cyprus hatte der Gerichtshof in „The facts“ diesbezüglich tatsächlich einen Rechtsvergleich zur Rechtslage in den Europaratsstaaten dargelegt,347 auf den er sich hier berufen konnte.348 Er verwies insbesondere auch auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung des italienischen sowie deutschen Verfassungsgerichts und stellte fest: „[A] large majority of Contracting States either do not impose life sentences at all or, if they do impose life sentences, provide some dedicated mechanism, integrated within the sentencing legislation, guaranteeing a review of those life sentences after a set period, usually after twenty-five years’ imprisonment […].“349

Darauffolgend verwies die Große Kammer noch auf das „international law“, genauer die UN Standard Minimum Rules for the Treatment of Pris­ oners, den IPBürg sowie das Römische Statut des IStGH.350 Art. 3 EMRK sei dementsprechend dahingehend auszulegen, dass er die grundsätzliche Möglichkeit der Reduzierung einer lebenslangen Haftstrafe enthalte, welche von den zuständigen staatlichen Behörden geprüft werden müsse. Gleichwohl betonte der Gerichtshof, dass den Staaten im Bereich der Strafjustiz und Strafrechtspflege eine margin of appreciation zukomme; dementsprechend sei es nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, über die Form (exekutiv oder judikativ) oder den richtigen Zeitpunkt der Überprüfung zu entscheiden. Er stelle jedoch fest, dass die Rechtslage in den Europaratsstaaten sowie internationales Recht eine Überprüfung nach spätestens 25 Jahren nahelegten, mit 346  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 115 f. 347  In neun Staaten gab es keine lebenslange Freiheitsstrafe. Die überwiegende Zahl der Staaten, in der es eine lebenslange Freiheitsstrafe gab (32 Staaten), kannten ein spezielles Verfahren zur Überprüfung dieser Strafe, nachdem der Gefangene eine bestimmte (gesetzlich festgelegte) Mindestzeit abgeleistet hat. Fünf Staaten kannten keine vorzeitige Entlassung, wobei einer von ihnen Island war, wo noch nie eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wurde. Neben England und Wales gab es sechs Staaten, die eine vorzeitige Entlassung kannten, aber nichtsdestotrotz spezielle Regeln für bestimmte Verbrechen hatten, bei denen eine solche nicht möglich war, EGMR (Große Kammer) – Vinter a.  o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 68 ff. 348  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 117. 349  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 117. 350  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 118.

198 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

weiteren darauffolgenden periodischen Überprüfungen.351 Hinsichtlich der konkreten Rechtslage in Großbritannien stellte der Gerichtshof fest, dass die Regelungen zur Überprüfung lebenslanger Haftstrafen insgesamt zu unbestimmt seien. Zwar gebe Section 30(1) des Crime (Sentences) Act 1997 dem Secretary of the State die Möglichkeit, lebenslang Inhaftierte vorzeitig zu entlassen. Dieser sei nach Section 6 des Human Rights Act auch an die Vorgaben der EMRK gebunden. Vor diesem Hintergrund könne Section 30(1) des Crime (Sentences) Act 1997 derart ausgelegt werden, dass dem Secretary of the State nicht nur die Möglichkeit zur vorzeitigen Entlassung lebenslang Inhaftierter gegeben wird, sondern auch die Pflicht auferlegt wird, diese Möglichkeit auszuüben, wenn eine weitergehende Inhaftierung des Gefangenen eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde. So hatte die Regierung im konkreten Fall argumentiert, und diese Auffassung hatte auch der Court of Appeal im Fall R. v. Bieber vertreten, in dem er die EGMR-Rechtsprechung aus Kafkaris v. Cyprus im Hinblick auf die britische Rechtslage diskutiert hatte.352 Nichtsdestotrotz entließ der Secretary of the State nach Auffassung des EGMR lebenslang Inhaftierte tatsächlich jedoch nur unter außergewöhnlichen Umständen.353 Der von ihm hierzu herausgegebene Pris­on Service Order 4700 sieht vor, dass der Gefangene an einer tödlichen Krankheit leiden muss, die bald zum Tod führen wird, beziehungsweise bettlägerig oder in sonstiger Weise außer Gefecht gesetzt sein muss, etwa infolge eines Schlaganfalls. Darüber hinaus müssen weitere Kriterien erfüllt sein, wie ein minimales Risiko einer erneuten Straftat sowie die Reduzierung der Lebenserwartung des Gefangenen bei fortdauernder Inhaftierung.354 Der Gerichtshof sah lebenslange Freiheitsstrafen unter diesen sehr begrenzten Bedingungen nicht als reduzierbar an. Da die vom Court of Appeal vertretene Auffassung im Hinblick auf die Vereinbarkeit dieser Praxis mit der EMRK in den Prison Service Order 4700 nicht aufgenommen wurde, sei die Rechtslage unklar. Im Ergebnis stellte der Gerichtshof angesichts dessen eine Verletzung von Art. 3 EMRK fest.355 Die Entscheidung fiel mit 16 zu einer Stimme deutlich aus.356 351  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 120. 352  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 27 ff., 125. 353  EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 126. 354  Vgl. den Auszug aus dem Prison Service Order 4700 in EGMR (Große Kam­ mer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn.  42 ff. 355  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Vinter a. o. v. The United Kingdom, 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10, Rn. 127 ff.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile199

Im Zeitraum zwischen den beiden letztgenannten Urteilen hatten sich keine wesentlichen Änderungen in der internationalen Rechtslage ergeben; die rechtsvergleichenden Informationen, die der EGMR hier so umfangreich heranzog und diskutierte, stimmten weitgehend mit den in Kafkaris v. Cy­ prus in „The facts“ angegebenen überein – abgesehen von dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten, der wie gesagt in Kafkaris v. Cyprus nicht aufgeführt war. Mit der erstmaligen Verurteilung eines Staates in diesem Bereich ist in Vinter a. o. v. The United Kingdom nun eine ausführliche und umsichtige Herleitung der zugrundeliegenden Prinzipien zu beobachten. Zugleich nahm der Gerichtshof trotz des Umstandes, dass er einen Konsens über die Überprüfung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach höchstens 25 Jahren annahm, keine verringerte margin of appreciation bei der Einrichtung eines Überprüfungsmechanismus in dieser Hinsicht an. Dieser Umstand, sowie die Reaktionen auf das Urteil verdeutlichen, dass die Entscheidung in politischer Hinsicht heikel war. Sie rief heftige Diskussionen in Großbritannien hervor, in denen die Legitimität des EGMR ernsthaft in Frage gestellt wurde.357 Vor diesem Hintergrund ist denn auch das 2017 ergangene Urteil in Hutch­ inson v. The United Kingdom zu lesen, in dem wiederum die britischen Regelungen zur lebenslangen Haftstrafe auf dem Prüfstand waren. Hier erachtete der Gerichtshof diese für mittlerweile konventionskonform.358 Er stützte sein Urteil im Wesentlichen auf ein Urteil des englischen Court of Appeal zu R. v. McLoughlin/R v. Newell.359 Ob dieses Urteil aber tatsächlich die noch in Vinter a. o. v. The United Kingdom bemängelte Unklarheit der Rechtslage

356  Siehe darüber hinaus auch das drei Jahre später ergangene Urteil EGMR (Große Kammer) – Murray v. The Netherlands, 26.04.2016 – 10511/10, in dem der EGMR seine Feststellungen aus Vinter v. The United Kingdom unter erneutem Verweis auf die verschiedenen internationalen Instrumente noch einmal bekräftigte, vgl. Rn.  101 f. 357  Siehe etwa „Calls grow to boycott ‚toxic‘ human rights court“, in The Telegraph, 09.07.2013, https://www.telegraph.co.uk/news/uknews/law-and-order/101703 25/Calls-grow-to-boycott-toxic-human-rights-court.html (abgerufen am 28.08.2020). 358  Die Europaratsdokumente wurden erneut besonders hervorgehoben: In „The facts“ unter dem Punkt der relevanten internationalen Rechtsquellen erklärte der EGMR, dass er sich auf die Materialien aus Vinter a. o. v. The United Kingdom beziehe, „insbesondere“ auf die CM/Rec(2003)22 sowie die EPR von 2006, welche er als einzige Erkenntnisquellen auch noch einmal in ihren wesentlichen Bestimmungen darlegte, Rn. 20 f. Auch in der Urteilsbegründung verwies er allgemein auf sein Urteil in Vinter a. o. v. The United Kingdom, und hob hier erneut explizit die beiden Europaratsdokumente hervor, vgl. Rn. 58. 359  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Hutchinson v. The United Kingdom, 17.01.2017 – 57592/08, Rn.  63 f.

200 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

beseitigte,360 erscheint zweifelhaft.361 Der Court of Appeal hatte hier hinsichtlich der Auffassung des EGMR, wonach die aktuelle Rechtslage zu unklar sei und die restriktiven Vorgaben des Secretary of the State hinsichtlich einer Überprüfung von und möglichen vorzeitigen Entlassung aus lebenslanger Haft gegen Art. 3 EMRK verstießen, unverblümt erklärt: „We disagree.“362 Daraufhin erläuterte er in Anlehnung an die Entscheidung in R. v. Bieber, dass die vorliegende Rechtslage ausreiche.363 Angesichts dessen ist schwer nachvollziehbar, dass der Gerichtshof dieses Urteil als so starke Veränderung der Rechtslage erachtete, dass diese nun im Vergleich zu jener in Vinter a. o. v. The United Kingdom ausreichend bestimmt sei.364 Im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung nach der Rolle von Europaratsdokumenten lässt sich zusammenfassen, dass die Europaratsdokumente zu Gefangenenrechten in der Rechtsprechung zur lebenslangen Freiheitsstrafe stets besonders hervorgehoben wurden. Dieses Vorgehen fügt sich in die bereits dargelegte Tendenz des Gerichtshofs zur Fokussierung auf die inhaltlich aussagekräftigsten internationalen Übereinkommen ein; die Organe des Europarats beschäftigten sich intensiv und fortlaufend mit den Rechten Strafgefangener und entwickelten die Standards in diesem Bereich stetig weiter. Ihre Empfehlungen und Resolutionen enthielten dementsprechend stets aktuelle und konkrete Hinweise auf die maßgeblichen europäischen Standards in diesem Bereich. Gleichwohl ist aber ebenfalls festzuhalten, dass der EGMR die EMRK nicht ohne weiteres entsprechend dieser Standards auslegte. Erst unter Darlegung eines dementsprechenden Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten, sowie neben Verweisen auf andere einschlägige internatio360  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Hutchinson v. The United Kingdom, 17.01.2017 – 57592/08, Rn. 70. 361  So auch Dzehtsiarou, Is there hope for the right to hope?; Appleton/van Zyl Smit, in: Appleton/van Zyl Smit (Hrsg.), Life imprisonment and human rights, S. 217, 229 f. 362  Court of Appeal, 18.2.2014 – 2013/05646/A7, 2013/05317/A5, Rn. 29. 363  Vgl. Court of Appeal, 18.2.2014 – 2013/05646/A7, 2013/05317/A5, Rn. 29 ff. 364  Vgl. auch die dementsprechende Kritik von Appleton/van Zyl Smit, in: Appleton/van Zyl Smit (Hrsg.), Life imprisonment and human rights, S. 217, 228 ff. Siehe auch die Kritik des Richters Pinto de Albuquerque in dessen Sondervotum, EGMR (Große Kammer) – Hutchinson v. The United Kingdom, 17.01.2017 – 57592/08, Dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, Rn. 11–34. Er sprach angesichts der Entscheidung der Richtermehrheit vielmehr von einem Risiko einer Anwendung der EMRK mit „double standards“, vgl. Rn. 38. Diese Kritik an einer Sonderbehandlung Großbritanniens wiederholte er auch in dem jüngst entschiedenen Fall EGMR – Petukhov v. Ukraine (No. 2), 12.03.2019 – 41216/13, Partly concurring, partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, Rn. 3. Siehe hierzu weiter auch Graham, Petukhov v. Ukraine No. 2: Life Sentences Incompatible with the Convention, but only in Eastern Europe?.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile201

nale Übereinkommen, begründete er in Vinter a. o. v. The United Kingdom letztlich die Feststellung einer Konventionsverletzung durch nicht überprüfbare lebenslange Haftstrafen. Dies gilt überdies auch hinsichtlich des eingangs erwähnten Falles Enea v. Italy, in dem der EGMR die EPR einerseits besonders hervorgehoben hatte, andererseits im Ergebnis lediglich mit Unterstützung der Rechtslage in den Europaratsstaaten entsprechend der EPR entschied. Umgekehrt war es in dem gut ein Jahr später entschiedenen Fall Boulois v. Luxembourg, in dem erneut eine Auslegung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK anhand der EPR in Rede stand. Der Beschwerdeführer war ein Gefängnisinsasse, dessen Antrag auf einen eintägigen Freigang vom Generalstaatsanwalt abgelehnt worden war. Da eine rechtliche Überprüfung dieser Entscheidung von den nationalen Gerichten abgelehnt wurde, machte er eine Verletzung des Rechts auf ein faires gerichtliches Verfahren geltend. Die Kammer hatte das Vorliegen eines zivilrechtlichen Anspruchs, über den ­vorliegend gestritten werde, unter anderem unter Verweis auf die EPR bejaht365 – eine Argumentation, die von drei Richtern in ihrem Sondervotum kritisiert wurde: „Without wishing to underestimate the significance of these texts, which have the considerable merit of guiding the member States of the Council of Europe in devising and implementing increasingly modern and humanitarian penal policies, I would not go so far as to describe them as binding, which, by definition, they are not.“366

Die Große Kammer verwarf das Urteil sodann. Neben dem Umstand, dass die EPR nach Auffassung der Großen Kammer selbst nicht zwangsläufig für ein Recht auf Freigang sprachen, entschied diese auch angesichts der uneinheitlichen Rechtslage in den Europaratsstaaten (in dieser Hinsicht unterscheide sich der vorliegende Fall von Enea v. Italy) im Ergebnis entgegen eines solchen Rechts.367 Damit machte die Große Kammer eine Entscheidung entsprechend der EPR in beiden Fällen auch von der Rechtslage in den Euro­ paratsstaaten abhängig.

365  „[T]he restrictions on the right to a court to which the applicant claimed to have been subjected in the context of his requests for prison leave related to a set of prisoners’ rights which the Council of Europe has recognised by means of the [EPR], adopted by the Committee of Ministers and elaborated upon in three Recommendations (Rec(2006)2, point 103.6, Rec(2003)23 and R(82)16) […]. Accordingly, the Court concludes that a dispute over a „right“ for the purposes of Article 6 § 1 can be said to have existed in the instant case.“, EGMR – Boulois v. Luxembourg, 14.12.2010 – 37575/04, Rn. 61. 366  EGMR – Boulois v. Luxembourg, 14.12.2010 – 37575/04, Dissenting opinion des Richters Raimondi, joined by Jociene und Sajó, Rn. 12. 367  EGMR (Große Kammer) – Boulois v. Luxembourg, 03.04.2012 – 37575/04, Rn.  102 f.

202 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Neben einer Bestätigung der dargelegten Muster des EGMR beim Umgang mit internationalen Übereinkommen – Auswahl anhand der inhaltlichen Relevanz, dementsprechende Hervorhebung von EPR, zugleich aber unter Beibehaltung der besonderen Berücksichtigung der Rechtslage in den Europaratsstaaten – wurde auch deutlich, dass sich die Entscheidungen des EGMR nicht immer rational nachvollziehbar nach den rechtsvergleichenden Informationen richten, sondern der EGMR diese vielmehr insgesamt flexibel handhabt. Die Bedeutung, die der EGMR relevanten Erkenntnisquellen in seiner Rechtsprechung zusprach, und auch die Schlussfolgerungen, die er aus ihnen zog, schienen sich in den dargelegten Beispielen vor allem auch am letztlichen Urteilsausspruch zu orientieren. Erst, als in Vinter a. o. v. The United Kingdom eine dynamische Auslegung vorgenommen und der betreffende Staat wegen einer Konventionsverletzung verurteilt wurde, griff der EGMR maßgeblich auf das Konsens-Kriterium zurück und legte die rechtsvergleichenden Informationen dementsprechend im Sinne eines vorliegenden Konsenses aus. In vorangegangenen Urteilen hatte er diesen Schluss aus weitgehend denselben Informationen noch nicht gezogen. 6. Nichtberücksichtigung beziehungsweise Entscheidung entgegen inhaltlich einschlägiger Europaratsdokumente

In vielen Urteilsbegründungen wurden Europaratsdokumente mithin zitiert, mitunter sogar besonders hervorgehoben. In anderen Urteilen ließ der EGMR Europaratsdokumente dagegen außer Acht, obwohl sie sich inhaltlich durchaus konkret zur in Rede stehenden Frage äußerten und das Prüfungsergebnis anhand des Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten auch nicht so eindeutig war, dass dies das Unterbleiben jeglicher weiterer Prüfung rechtsvergleichender Informationen erklärt hätte. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür ist der Fall Odièvre v. France.368 Wie bereits dargelegt, waren die Auslegung und Bewertung der vorliegenden Erkenntnisquellen hier umstritten. Die Entscheidung erging mit zehn zu sieben Stimmen eher knapp gegen das von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Recht auf Informationen über die eigenen leiblichen Eltern. Die Mehrheit der Richter analysierte lediglich die Rechtslage in den Europaratsstaaten und entschied, dass sich hieraus kein Konsens ableiten lasse. Hiernach verlangten zehn Staaten die Registrierung der Identität der Eltern nach der Geburt eines Kindes. Der Gerichtshof verwies jedoch darauf, dass auch andere Staaten neben Frankreich die Möglichkeit zur anonymen Geburt gewährten.369 Dies wurde von der abweichenden Meinung indes dahingehend 368  Siehe

zu diesem Fall erneut „Dritter Teil, § 5 C. II. 3. a)“. (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Rn. 47.

369  EGMR



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile203

präzisiert, dass die betreffenden zwei Staaten diese Regelung nur hinsichtlich von Angaben in der Geburtsurkunde hätten – sie verhindere jedoch nicht die Identifizierung der Mutter zu einem späteren Zeitpunkt auf anderem Wege.370 Die abweichenden Richter zogen darüber hinaus zahlreiche internationale Übereinkommen zur Unterstützung ihres Standpunktes heran.371 Das Nichtberücksichtigen dieser Erkenntnisquellen durch die Mehrheit kritisierte sie deutlich: „The majority argue that there is a lack of consensus, but fail to refer to the various international instruments that play a decisive role in achieving a consensus and which seek to ensure a balance between competing rights in individual cases.“372

Sie zitierte dafür unter anderem aus der PACE Rec. 1443 (2000), die die Staaten auffordert, das Recht adoptierter Kinder auf Kenntnis ihrer Abstammung zu gewährleisten, und entgegenstehende nationale Regelungen zu beseitigen. Daneben benannten die Richter die UN-Kinderrechtskonvention, die Kindern soweit als möglich das Recht zuspricht, ihre Eltern zu kennen, sowie die Haager Konvention zum Schutz von Kindern, die den Staaten aufgibt, Informationen über die Identität der Eltern aufzubewahren. Da die Einzelheiten der Bewertung des Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten offensichtlich umstritten waren, und mit der verglichenen Anzahl von 13 Staaten eine sehr geringe Vergleichsgruppe vorlag, hätte die Heranziehung anderer Erkenntnisquellen für die Ermittlung eines europäischen Konsenses durchaus nahegelegen; die Mehrheit der Richter ließ diese jedoch – womöglich zugunsten einer (vermeintlich) schlüssigen Argumentation im Sinne ihres Urteilsausspruchs – völlig außer Acht; sie wurden nicht einmal in „The facts“ aufgenommen. Dieses Vorgehen steht einer transparenten und schlüssigen Urteilsfindung entgegen. In ihrem Sondervotum kritisierte die abweichende Minderheit der Richter diese Art der Argumentation denn auch als methodische Verfehlung:

370  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Joint partly dissenting opinion der Richter Wildhaber, Bratza, Bonello, Loucaides, Cabral Barreto, Tulkens und Pellonpää, Rn. 13. Weiter verwies der EGMR auch auf einen Trend in drei Staaten zur Akzeptanz anonymer beziehungsweise zumindest diskreter Geburt (neben Belgien und Ungarn auch Deutschland; verwiesen wird bezüglich letzterem auf die Einführung sogenannter Babyklappen in einigen deutschen Städten), was wiederum von der abweichenden Meinung anders bewertet wurde, vgl. Rn. 14. 371  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Joint partly dissenting opinion der Richter Wildhaber, Bratza, Bonello, Loucaides, Cabral Barreto, Tulkens und Pellonpää, Rn. 15. 372  EGMR (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Joint dissenting opinion der Richter Wildhaber, Bratza, Bonello, Loucaides, Cabral Barreto, Tulkens und Pellonpää, Rn. 15.

204 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten „[B]y relying on the alleged diversity of practice among the legal systems and traditions (and even going so far as to take into account parliamentary bills that are no more than mere proposals) as justification for the margin of appreciation and for declaring the mother’s absolute right to keep her identity secret compatible with the Convention, the majority have stood the argument concerning the European consensus on its head and rendered it meaningless. Instead of permitting the rights guaranteed by the Convention to evolve, taking accepted practice in the vast majority of countries as the starting-point, a consensual interpretation by reference to the virtually isolated practice of one country [France] is used to justify a restriction on those rights.“373

In diesen Zusammenhang ist weiter auch der zweite Fall S.A.S. v. France einzuordnen, in dem der EGMR über die Vereinbarkeit eines Verbots der Vollverschleierung mit Art. 9 EMRK374 zu entscheiden hatte. Hinsichtlich der Frage der Verhältnismäßigkeit dieses Verbots erklärte der EGMR zwar: „It should […] be observed that a large number of actors, both international and national, in the field of fundamental rights protection have found a blanket ban to be disproportionate.“375 Er verwies dafür unter anderem auf die PACE Res. 1743 (2010) und PACE Rec. 1927 (2010). Hieraus zog er jedoch keine unmittelbaren Schlüsse in seiner Prüfung und berücksichtigte die Dokumente insbesondere nicht, als er einige Randnummern später auf das Vorliegen eines europäischen Konsenses Bezug nahm: Der EGMR sprach den Staaten in der Frage eines Vollverschleierungsverbots, die eine „choice of society“ sei, eine weite margin of appreciation zu376 und begründete dies vor allem mit dem „little common ground“, der zwischen den Europaratsstaaten bestehe. Zugegebenermaßen sei Frankreich von einem „streng normativen Punkt her“ sehr stark in einer Minderheitsposition in Europa: So kenne außer Belgien kein Staat ein Vollverschleierungsverbot. Allerdings werde das Thema in einigen Staaten diskutiert; darüber hinaus sei es in einigen anderen Staaten gar kein Thema. Aus diesem Grund liege kein Konsens vor.377 Im Ergebnis lehnte der Gerichtshof eine Konventionsverletzung ab. Die Auslegung des Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten durch den EGMR erscheint zweifelhaft. Immerhin stand Frankreich mit seiner Rechtslage ein373  EGMR (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Joint dissenting opinion der Richter Wildhaber, Bratza, Bonello, Loucaides, Cabral Barreto, Tulkens und Pellonpää, Rn. 16. 374  Der Gerichtshof hatte den hier entscheidenden Teil seiner Prüfung („necessary in a democratic society“) für Art. 8 und Art. 9 EMRK zusammengefasst; er schreibt jedoch selbst, dass er dabei vor allem bei Art. 9 EMRK einen Schwerpunkt setzt, vgl. EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Rn. 109. Dementsprechend wurde der Fall auch für die empirische Untersuchung eingeordnet. 375  EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Rn. 147. 376  EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Rn. 153 ff. 377  EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Rn. 156.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile205

deutig in der Minderheit. Erneut ist festzustellen, dass der Gerichtshof mit seiner rechtsvergleichenden Fragestellung eine konkrete übereinstimmende Rechtslage verlangt, und infolgedessen zu dem Ergebnis gelangt, dass kein Konsens bestehe. Diese verneinte er hier mit der Erwägung, dass Frankreich eben nicht der einzige Staat sei. Wie schon in Odièvre v. France gab es auch in diesem Fall indes eine abweichende Meinung. Hier argumentierten die Richterinnen Nußberger und Jäderblom für ein anderes Ergebnis der Konsens-Prüfung und kritisierten die methodische Herangehensweise der Mehrheit. „[I]t is difficult to understand why the majority are not prepared to accept the existence of a European consensus on the question of banning the full-face veil […].“378 Für die Beurteilung eines Konsenses seien drei Faktoren relevant: Völkervertragsrecht, ein Rechtsvergleich sowie internationales Soft Law. Aus dem Rechtsvergleich ergebe sich durchaus ein Konsens hinsichtlich des Verbotes eines pauschalen Vollverschleierungsverbots angesichts der Tatsache, dass mit 45 von 47 Staaten eine überwältigende Mehrheit ein Vollverschleierungsverbot nicht für notwendig halte. Weiter ergebe sich dies aus zahlreichen internationalen Übereinkommen, welche sich gegen ein Vollverschleierungsverbot aussprechen.379 Die Richterinnen hoben hierfür unter anderem die PACE Res. 1743 (2010) hervor, die sogar auf die vom EGMR angesprochenen Diskussionen in einigen Staaten hinsichtlich Vollverschleierungsverboten Bezug nimmt, und sich dennoch bewusst gegen ein solches Verbot ausspricht,380 sowie die PACE Rec. 1927 (2010), die das Minister­ komitee auffordert, den Europaratsstaaten zu empfehlen, kein generelles Vollverschleierungsverbot zu erlassen. Im Ergebnis waren die Außerachtlassung internationaler Übereinkommen bei der Konsens-Prüfung, wie auch die Auslegung des Rechtsvergleichs durch den Gerichtshof nicht rational nachvollziehbar. Wenngleich Europaratsdokumente in vielen Urteilen aufgegriffen wurden, sagt dies also nicht zwangsläufig etwas über deren Entscheidungserheblichkeit aus. Dass der EGMR einschlägige Europaratsdokumente (mitunter neben weiteren internationalen Übereinkommen) in der Urteilsbegründung zwar aufgriff, sich im Ergebnis aber – obwohl sie sich inhaltlich durchaus konkret zur in Rede stehenden Frage äußerten – entgegen ihnen entschied, wurde auch an anderen untersuchten Fällen deutlich. In dem bereits benannten Fall V. v. The United Kingdom beispielsweise untersuchte der EGMR die Frage nach dem Schutz der Privatsphäre Minder378  EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Joint dissenting opinion der Richterinnen Nußberger und Jäderblom, Rn. 19. 379  EGMR (Große Kammer) – S.A.S. v. France, 01.07.2014 – 43835/11, Joint dissenting opinion der Richterinnen Nußberger und Jäderblom, Rn. 19. 380  Ziffer 16 der PACE Res. 1743 (2010).

206 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

jähriger im Strafverfahren anhand internationaler Übereinkommen: Er zitierte die UN-Kinderrechtskonvention, die das besondere Bedürfnis für den Schutz der Privatsphäre minderjähriger Straftäter oder Tatverdächtiger in allen Verfahrensstadien hervorhebt. Die ebenfalls angeführten Beijing Rules forderten darüber hinaus sogar, dass prinzipiell keine Informationen veröffentlicht werden sollen, die zur Identifikation eines minderjährigen Straftäters führen könnten. Weiter bezog sich der EGMR auf die CM/Rec (87)20, nach der die Europaratsstaaten es vermeiden sollten, minderjährige Angeklagte vor ein Erwachsenengericht zu stellen, wenn es Jugendgerichte gibt, und darüber hinaus das Recht der Minderjährigen auf ihr Privatleben beachten sollten. Diese Erkenntnisquellen sprachen mithin eindeutig und auch detailliert für den Schutz der Privatsphäre im Sinne des Beschwerdeführers. Der EGMR leitete indes hieraus nur eine „internationale Tendenz“ ab,381 und lehnte im Ergebnis eine Konventionsverletzung ab.382 Ein weiteres Beispiel ist der ebenfalls bereits angesprochene Fall Yumak and Sadak v. Turkey zur 10 %-Hürde bei den türkischen Parlamentswahlen. Die einschlägigen Dokumente der Parlamentarischen Versammlung383 forderten nicht nur die Festsetzung der Hürde bei Parlamentswahlen auf höchstens 3 %, sondern äußerten sich auch explizit zur Türkei, und forderten von dieser ausdrücklich die Absenkung der 10 %-Hürde. Der Gerichtshof sprach diesen Dokumenten zwar eine Bedeutung für seine Entscheidung zu. Gleichwohl erachtete er die türkische Regelung, unter anderem angesichts der unterschiedlichen Wahlsysteme in den Europaratsstaaten,384 im Ergebnis für konventionskonform: „[T]he Court considers that in general a 10 % electoral threshold appears excessive. In that connection, it concurs with the organs of the Council of Europe, which have stressed the threshold’s exceptionally high level and recommended that it be lowered […]. In the present case, however, the Court is not persuaded that, when assessed in the light of the specific political context of the elections in question, and attended as it is by correctives and other guarantees which have limited its effects in practice, the threshold has had the effect of impairing in their essence the rights secured to the applicants by Article 3 of Protocol No. 1. There has accordingly been no violation of that provision.“385 381  EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn.  76 f. 382  EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, Rn.  79 f. 383  Insbesondere die PACE Res. 1547 (2007), „State of human rights and democracy in Europe“, sowie die gleichlautende Rec. 1791 (2007); vgl. insgesamt die Aufzählung in EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn. 52–60. 384  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn.  130 ff.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile207

Diese Ausführungen stehen in einem bemerkenswerten Widerspruch zur Entscheidung des EGMR in dem rund zwei Jahre später ergangenen Urteil in Tănase v. Moldova. Auch in diesem, bereits besprochenen Fall386 ging es um eine mögliche Verletzung des passiven Wahlrechts aus Art. 3 ZP 1. Diese machte der Beschwerdeführer geltend, da er infolge seiner Wahl in das moldauische Parlament seine zweite Staatsbürgerschaft abgeben musste. Die Kammer hatte die Republik Moldau in der vorangegangenen Entscheidung wegen einer Konventionsverletzung verurteilt, und sich hierbei unter anderem auf Soft Law-Dokumente berufen.387 Die moldauische Regierung argumentierte vor der Großen Kammer, dass sie nicht in Anlehnung an die genannten internationalen Übereinkommen verurteilt werden dürfe, weil die Türkei in Yumak and Sadak auch nicht wegen ihrer 10 %-Klausel verurteilt wurde, obwohl die Parlamentarische Versammlung dies in mehreren Empfehlungen gefordert hatte.388 In ihren Urteilsausführungen sprach die Große Kammer den Staaten bei der Regelung zum passiven Wahlrecht aus Art. 3 ZP 1 grundsätzlich eine weite margin of appreciation zu.389 In der Verhältnismäßigkeitsprüfung betonte sie zunächst, dass neben der Republik Moldau lediglich drei weitere Staaten Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft die Wahl zum Abgeordneten verwehren; von diesen erlaubten zwei Staaten unterdessen generell keine doppelte Staatsbürgerschaft. Hieraus ergebe sich ein Konsens, bei grundsätzlicher Zulässigkeit der doppelten Staatsangehörigkeit auch die Wahl ins Parlament zu erlauben.390 In Bezug auf den Einwand der Regierung stellte sie mit der bereits erörterten Aussage klar: „The Court emphasises that it has consistently held that it must take into account relevant international instruments and reports, and in particular those of other Council of Europe organs, in order to interpret the guarantees of the Convention and to establish whether there is a common European standard in the field. It is for the Court to decide which international instruments and reports it considers relevant and how much weight to attribute to them.“391 385  EGMR (Große Kammer) – Yumak and Sadak v. Turkey, 08.07.2008 – 10226/03, Rn.  147 f. 386  Siehe erneut „Zweiter Teil, § 2 C. II. 1.“ 387  Konkret die Kritik zur Gesetzesänderung, die die Venedig-Kommission sowie die ECRI geäußert hatten, vgl. hierzu EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 45 und 51 sowie Rn. 134 f. 388  EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 138. 389  EGMR (Große Kammer)  – Tănase v. Moldova, 27.04.2010  – 7/08, Rn. 161. Dabei stütze er sich auf ein früheres Urteil, in dem den Staaten bereits aufgrund der divergierenden Regelungen in den Europaratsstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Regelung zum Wahlrecht eingeräumt wurde, siehe Rn. 156 ff. 390  EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 171 f. 391  EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 176.

208 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Daraufhin erklärte sie (im Gegensatz zu Yumak and Sadak v. Turkey), dass sie die inhaltlich einschlägigen Soft Law-Dokumente, darunter Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung im vorliegenden Fall für entscheidungsrelevant halte.392 Eine denkbare Erklärung hierfür wäre, dass im vorliegenden Fall mehrere Soft Law-Dokumente von verschiedenen Urhebern zur in Rede stehenden staatlichen Maßnahme vorlagen,393 während in Yumak and Sadak v. Turkey lediglich Dokumente der Parlamentarischen Versammlung vorlagen. Allerdings stützte sich der Gerichtshof nicht auf eine derartige Erwägung. Seine einzige Begründung war die soeben dargelegte, wonach er über Auswahl und Gewichtung internationaler Übereinkommen entscheide und er die Soft Law-Dokumente im vorliegenden Fall für relevant halte. Hier wird deutlich, wie einzelfallabhängig die Gewichtung internationaler Übereinkommen ist. Auch in Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece entschied der Gerichtshof im Ergebnis entgegen einschlägiger Europaratsdokumente. Wie bereits dargelegt, prüfte der EGMR eine Pflicht der Staaten aus Art. 3 ZP 1, ihren eigenen Staatsangehörigen die Teilnahme an Parlamentswahlen aus dem Ausland zu ermöglichen. Zunächst stellte er fest, dass sich weder aus den einschlägigen völkerrechtlichen Verträgen (IPBürg, AMRK, Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker) noch deren Auslegung durch die jeweils zuständigen Stellen eine derartige Pflicht ergebe.394 Hinsichtlich bestehender Europaratsstandards stellte er fest: „It is true that, in order to give greater effect to the right to vote in parliamentary elections, the institutions of the Council of Europe have, inter alia, invited member States to enable their citizens living abroad to participate to the fullest extent possible in the electoral process. Hence, [PACE Res.] 1459 (2005) […] states that member States should take appropriate measures to facilitate the exercise of voting rights to the fullest extent possible, in particular by means of postal voting. Furthermore, in Recommendation 1714 (2005), the Parliamentary Assembly invited the Council of Europe to develop its activities aimed at improving the conditions for the effective exercise of election rights by groups facing special difficulties, including expatriates. The Venice Commission, for its part, observed that since the 1980s the recognition of external voting rights had gained ground in Europe. While it also recommended that member States facilitate the exercise of expatriates’ voting rights, it did not consider that they were obliged to do so. Rather, it viewed such a 392  EGMR

(Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 176 f. Bericht der ECRI, Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung, Stellungnahmen des Committee on the Honouring of Obligations and Commitments by Member States of the Council of Europe der Parlamentarischen Versammlung, sowie ein Bericht der Venedig-Kommission, EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 177. 394  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 72. 393  Ein



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile209 move as a possibility to be considered by the legislature in each country, which had to balance the principle of universal suffrage on the one hand against the need for security of the ballot and considerations of a practical nature on the other.“395

Damit benannte der Gerichtshof zwar die einschlägigen Dokumente der Parlamentarischen Versammlung; im Gegensatz zu Yumak and Sadak v. Turkey, wo der Gerichtshof immerhin andere Verhältnismäßigkeitserwägungen anführte, aufgrund derer er im Ergebnis entgegen der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung entschied, wurden sie hier jedoch mit einer fragwürdigen Argumentation anhand des Berichts der Venedig-Kommission außer Acht gelassen. Diese hatte anhand einer Untersuchung der Regelungen ihrer 57 Mitgliedstaaten festgestellt, dass es keine einheitliche Herangehensweise gebe. Abschließend erklärte sie jedoch: „Although the introduction of the right to vote for citizens who live abroad is not required by the principles of the European electoral heritage, the European Com­ mission for Democracy through Law suggests that States, in view of citizens’ Euro­ pean mobility, and in accordance with the particular situation of certain States, adopt a positive approach to the right to vote of citizens living abroad, since this right fosters the development of national and European citizenship.“396

Die Aussage des Gerichtshofs, die Venedig-Kommission halte die Etablierung dieses Rechts nicht für zwingend, gründet auf einer schiefen Interpretation des Dokuments, denn diese Feststellung schloss lediglich deren Bericht über die bestehende Rechtslage in den Mitgliedstaaten ab. Ihre eigene Auffassung äußerte die Kommission jedoch erst darauffolgend in ihrer abschließenden Aufforderung an die Staaten, eine „positive Herangehensweise“ an die Etablierung des Rechts auf Wahlteilnahme aus dem Ausland anzunehmen. Der Teil des Dokuments, auf den sich der Gerichtshof vorrangig stützte, war demgegenüber lediglich ein Bericht über die Rechtslage in den Europaratsstaaten. Er wäre allenfalls im Rahmen der Untersuchung der Rechtslage in den Europaratsstaaten einzubeziehen gewesen. Stattdessen suggeriert die Interpretation des Gerichtshofs, die Kommission sei der Auffassung, die Staaten müssten das in Rede stehende Recht nicht einführen, womit der Gerichtshof zugleich jegliche Bedeutung der Dokumente der Parlamentarischen Versammlung für ausgeräumt zu halten schien. Letztlich erwies der EGMR den Europaratsdokumenten hier mithin nur ein Lippenbekenntnis. Im Ergebnis entschied er damit entsprechend rechtsverbindlicher völkerrechtlicher Verträge (wobei die Europaratsstaaten lediglich durch den IPBürg gebunden sind, und nicht durch die ebenfalls genannte AMRK oder die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker). Ob die Rechtsquali395  EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 73. 396  Punkt 98, vgl. EGMR (Große Kammer) – Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, 15.03.2012 – 42202/07, Rn. 25 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin).

210 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

tät in diesem Fall aber tatsächlich ein Argument bei der Gewichtung der Erkenntnisquellen gespielt hat, wird nicht deutlich. Letztlich argumentierte der EGMR hier erneut eher am Inhalt der Soft Law-Dokumente, und stützte sich zumindest nicht explizit auf deren rechtliche Unverbindlichkeit. In ihrer Überzeugungskraft positiver zu beurteilen ist die im Ergebnis ebenfalls entgegen einschlägiger Europaratsdokumente erfolgte Entscheidung in dem bereits angesprochenen Fall Üner v. The Netherlands: Der Antragsteller war ein türkischer Staatsangehöriger, der seit seinem zwölften Lebensjahr in den Niederlanden lebte und seit seinem 19. Lebensjahr eine permanente Aufenthaltsgenehmigung hatte. Mit seiner Partnerin hatte er in den Niederlanden zwei gemeinsame Kinder. Der Antragsteller beging wiederholt Straftaten und wurde 1994 wegen Totschlags verurteilt, nachdem er eine Person im Streit erschossen hatte. 2006 wurde der Antragsteller schließlich zum Schutz der niederländischen Bevölkerung in die Türkei abgeschoben. In „The facts“ führte der EGMR die CM/Rec(2000)15 „concerning the security of residence of long-term migrants“ an, die CM/Rec(2002)4 „on the legal status of persons admitted for family reunification“, und die PACE Rec. 1504 (2001) „on the non-expulsion of long-term immigrants“.397 In seinen Urteilsausführungen erklärte der EGMR, jeder Staat habe das Recht, über den Aufenthalt von Ausländern im eigenen Land zu bestimmen. Dies gelte unabhängig davon, ob die betreffende Person im Erwachsenenalter oder sehr jung ins Land gekommen, womöglich sogar dort geboren sei. Der Gerichtshof beziehe sich in diesem Kontext auf die PACE Rec. 1504 (2001) an das Ministerkomitee, die es auffordert, den Europaratsstaaten zu empfehlen, dass Langzeitmigranten die im Gastland geboren oder aufgewachsen sind unter keinen Umständen ausgewiesen werden sollen. Während es auch in einigen Mitgliedstaaten eine dementsprechende Regelung gebe, könne ein derart absolutes Recht jedoch nicht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK hergeleitet werden, da Art. 8 Abs. 2 EMRK ausdrücklich Beschränkungen zulasse.398 Hier war mithin die Grenze der dynamischer Auslegung durch die Berücksichtigung rechtsvergleichender Informationen erreicht, und der Gerichtshof entschied sich anhand dieser nachvollziehbaren Begründung gegen eine Auslegung von Art. 8 EMRK entsprechend der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung.

397  EGMR (Große Kammer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99, Rn.  35 ff. 398  EGMR (Große Kammer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99, Rn. 54 f. Mit derselben Argumentation lehnte er überdies auch die Empfehlung aus diesem Europaratsdokument, bei straffällig gewordenen Langzeitmigranten dieselben Verfahren und Strafen anzuwenden wie bei eigenen Staatsangehörigen, ab, vgl. Rn. 56.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile211

Abschließend sei der Fall Muršić v. Croatia aufgegriffen. Wenngleich sich die Diskussion nicht hauptsächlich um Dokumente der Parlamentarischen Versammlung beziehungsweise des Ministerkomitees, sondern um Soft LawDokumente eines anderen Urhebers drehte, stellt dieser Fall ein bemerkenswertes Beispiel für die Entscheidung entgegen eines Soft Law-Dokuments aufgrund dessen Urhebers dar. Der Beschwerdeführer war ein Gefängnisinsasse, der eine Verletzung von Art. 3 EMRK unter anderem aufgrund des geringen persönlichen Freiraums in seiner Haftzelle geltend machte. Das Urteil beschäftigt sich ausführlich mit der Frage, ob in Gemeinschaftszellen pro Häftling eine Mindestgröße von 3 oder 4 m2 als Standard anzusetzen ist. Dabei bekräftigte der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung, wonach der Standard bei 3 m2 festzusetzen sei. In „The facts“ hatte er neben zwei Empfehlungen des Ministerkomitees Dokumente zu den Standards in Haftanstalten des CPT aufgeführt. Das CPT ist eine Institution des Europarats, die sich unter anderem speziell mit den Rechten Inhaftierter beschäftigt. Sie überwacht die Lage Gefangener in den Europaratsstaaten und hat bereits mehrere Soft Law-Dokumente zu den Standards in Haftanstalten erlassen. Der Gerichtshof setzte sich in seiner Urteilsbegründung zwar nicht mit den Empfehlungen des Ministerkomitees auseinander, befasste sich aber mit den CPT-Dokumenten. In dem Dokument „Living space per prisoner in prison establishments: CPT standards“ von 2015 erklärt das CPT in Ansehung zahlreicher, seit den 1990er Jahren angefertigter Berichte, dass jeder Haftgefangene in einer Gemeinschaftszelle einen persönlichen Bereich von mindestens 4 m2 zur Verfügung haben sollte.399 Der EGMR erklärte jedoch, die Standards des CPT nicht als entscheidend für seine Urteilsfindung zu berücksichtigen. Der wesentliche Grund liege in seiner Pflicht, für die Entscheidung über eine Verletzung von Art. 3 EMRK alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, während andere internationale Institutionen wie das CPT generelle Standards auf dem betreffenden Gebiet entwickelten.400 „[T]he Court performs a conceptually different role to the one assigned to the CPT, whose responsibility does not entail pronouncing on whether a certain situation amounts to inhuman or degrading treatment or punishment within the meaning of Article 3 […]. The thrust of CPT activity is pre-emptive action aimed at prevention, which, by its very nature, aims at a degree of protection that is greater than that upheld by the Court when deciding cases concerning conditions of detention […]. Nevertheless, the Court would emphasise that it remains attentive to the standards developed by the CPT and, notwithstanding their different positions, it 399  Vgl. „Living space per prisoner in prison establishments: CPT standards“ (CPT/ Inf (2015) 44), Rn. 16, EGMR (Große Kammer)  – Muršić v. Croatia, 20.10.2016  – 7334/13, Rn.  49 ff. 400  EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 111 f.

212 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten gives careful scrutiny to cases where the particular conditions of detention fall below the CPT’s standard of 4 sq. m […].“401

Diese Argumentation wurde von sieben Richtern nicht unterstützt; in ihren Sondervoten übten sie deutliche Kritik an dem Entschluss der Mehrheit, die CPT-Standards nicht als maßgeblich zu berücksichtigen. „The majority attempt to explain why they do not refer to the standards laid down by the CPT as the point of departure for the assessment of prison conditions, but instead prefer to set their own standard. On the one hand, we agree with the argument put forward by the majority that the role of the CPT differs from that of the Court. Furthermore, we likewise consider that the recommendations of the CPT, though relevant, are not decisive for interpretation of the Convention. On the other hand, we are not convinced at all by the part of the reasoning where the majority underline the duty of the Court to take into account ‚all relevant circumstances‘ in order to justify their reluctance to adopt the CPT standard […]. The CPT not has only special expertise in the field of prison systems but also unique experience of conditions in prisons throughout Europe. Therefore, when setting its space standards, the CPT had in mind a comprehensive picture of the overcrowding problem and the interrelations between different factors. According to the CPT itself, the space factor is ‚often a very significant one or the decisive one‘ for the purpose of assessing whether the prison conditions amount to inhuman or degrading treatment […].“402

Darüber hinaus wiesen die Richter darauf hin, dass die Mehrheit der Richter in anderen Fragen als der Mindestgröße persönlichen Freiraums in einer Haftzelle bei seinen Entscheidungen ohne weiteres auf CPT Empfehlungen zurückgriff. „The approach does not seem fully consistent as some of those standards are accepted as such […] and some are rejected. Such a differen­ tiated treatment of CPT standards would require an explanation.“403 Der Richter Pinto de Albuquerque verfasste ein besonders langes Sondervotum, in dem er ausführlich die wichtige Rolle internationalen Soft Laws für die Gewährleistung menschenrechtlicher Standards in Haftanstalten darlegte. Keine internationale Institution habe so viel für die Entwicklung von Gefangenenrechten geleistet wie das Ministerkomitee sowie das CPT; deren Soft Law habe in der bisherigen Rechtsprechung dementsprechend stets eine wichtige Rolle gespielt. Die Erklärung, wonach die CPT-Standards vorliegend kein entscheidendes Argument in der Urteilsfindung des EGMR dar401  EGMR

(Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 113. partly dissenting opinion der Richter Sajó, López Guerra und Wojtyczek in EGMR (Große Kammer)  – Muršić v. Croatia, 20.10.2016  – 7334/13, Rn. 5. Ähnlich auch die Joint partly dissenting opinion der Richter Lazarova Trajkovska, De Gaetano und Grozev, EGMR (Große Kammer)  – Muršić v. Croatia, 20.10.2016  – 7334/13, Rn. 9. 403  Joint partly dissenting opinion der Richter Sajó, López Guerra und Wojtyczek, EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 6. 402  Joint



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile213

stellten, sei eine Abkehr von dieser Praxis und damit ein bedauerlicher Rückschritt für den Schutz von Gefängnisinsassen.404 Pinto de Albuquerque kritisierte insbesondere auch, dass die Mehrheit der Richter die Entwicklung der EPR ignoriert habe, indem es die CM/Rec(2006)2 in dieser Hinsicht überhaupt nicht beachtete. „Worse still, the majority do not seem to care about the fact that the CPT position was confirmed politically at the highest level within the Council of Europe, by its own ruling body, the Committee of Ministers. The majority ignore the fact that the Commentary to Rule 18 of the EPR took on board, to the letter, the CPT standards on the minimum space in multi-occupancy accommodation in prisons.[…] The EPR and the corresponding Commentary have the seal of the highest political body of the Council of Europe, its Committee of Ministers, which recommended that governments of member States ‚be guided in their legislation, policies and practice by the rules contained in the appendix to this recommendation‘ and ‚ensure that this recommendation and the accompanying commentary to its text are translated and disseminated as widely as possible and more specifically among judicial authorities, prison staff and individual prisoners‘. Such a clear and unanimous expression of political will and legal understanding that ‚Council of Europe member states continue to update and observe common principles regarding their prison policy‘ should not so easily be discarded by the majority.“405

Pinto de Albuquerque stützte sich mithin vor allem darauf, dass das Ministerkomitee die CPT-Standards in seine EPR aufgenommen, und ihnen somit die Zustimmung von „höchster politischer Ebene“ des Europarats verliehen habe. Schließlich wies er noch darauf hin, dass der Gerichtshof sich über die einhellige Expertenmeinung hinwegsetze, ohne dies mit substantiierten Argumenten zu begründen, während er eine eben solche Argumentation eines Verfahrensbeteiligten in einem anderen Urteil zuvor kritisiert hatte.406 Er kritisiert damit insgesamt vor allem die Inkonsequenz der Straßburger Jurisdiktion. „By failing to pay due attention to the Council of Europe’s own sources of law, and ignoring the hardening of the soft law concerning prison standards in Europe and worldwide, the majority set a standard that will lead to a strictly casuistic, factsensitive application of the Convention, leaving the door wide open to a slipperyslope regression of the human rights protection level already attained by the Council of Europe itself. With judgments of this kind, weakening as they do the Council 404  Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 34 ff. 405  Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 40 f. 406  Vgl. die Ausführungen in Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 42, Fn. 86 mit Verweis auf die Urteilsausführungen des Gerichtshofs in EGMR – Kiyutin v. Russia, 10.03.2011 – 2700/10, Rn. 67.

214 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten of Europe’s human rights protection system from within, the Court not only discourages the work of other Council of Europe bodies, but, worse still, reinforces the impression of an incoherent European human rights protection system.“407

An diesem Urteil wird deutlich, dass es zur Frage der Rolle von Europaratsdokumenten, beziehungsweise von internationalem Soft Law allgemein, innerhalb des Gerichtshofs für die Auslegung und Anwendung der EMRK unter den Richtern keine grundsätzliche Übereinstimmung gibt. Wie etwa an Enea v. Italy gesehen, beruft sich der Gerichtshof mitunter durchaus auch auf Dokumente der CPT. Insofern ist der Aussage Pinto de Albuquerques zuzustimmen, wonach der EGMR hier keinen konsistenten Umgang pflegt. Letztlich bestätigt dieses Beispiel erneut die Einzelfallabhängigkeit der Relevanz internationalen Soft Laws in der Rechtsprechung des EGMR.408 7. Die Bedeutung internationaler Übereinkommen ohne (ausdrücklichen) Bezug zur Konsens-Ermittlung

Für die Frage der Bedeutung von Europaratsdokumenten in den Urteilsbegründungen des EGMR gilt es zu differenzieren: Eine Berücksichtigung von Europaratsdokumenten (sowie möglicherweise weiteren Erkenntnisquellen) neben einem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten erfolgte in aller Regel ausdrücklich zur Ermittlung eines europäischen Konsenses. Dessen Stellenwert in der Urteilsbegründung ist wie dargelegt tendenziell hoch, da er die Entscheidung des EGMR bei der Auslegung und Anwendung der EMRK als widerlegbare Vermutung maßgeblich beeinflussen kann. Eine Berücksichtigung von Europaratsdokumenten lediglich neben weiteren internationalen Übereinkommen wurde demgegenüber selten als Konsens-Prüfung bezeichnet. Ungeachtet der Frage, ob sie dennoch zur Konsens-Methode zu zählen ist, ergibt sich hinsichtlich des Stellenwerts dieser Erkenntnisquellen in der Argumentation des EGMR ein differenzierteres Bild: Die Gewichtung bezie407  Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 63. 408  Vgl. diesbezüglich auch die mit vielen Fallbeispielen für derartige „Kuriositäten“ in der Rechtsprechung des EGMR erfolgten Ausführungen von van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 463 ff. Auch Rozakis, Tulane Law Review 80 (2005), 257, 274 stellt fest, dass es keine festen Kriterien gebe – er erklärt diesbezüglich jedoch (weniger kritisch), der EGMR verwende Europaratsübereinkommen „with a certain degree of liberty, usually disregarding whether or not an instrument of the Council of Europe is binding on the respondent State concerned, or, we could add, whether it has binding force at all. Yet, to be fair in regard to the way in which the ECHR assesses the value of these documents, reference to one of them does not automatically lead it to rely solely or exclusively on it in reaching its decisions; the ECHR is free to consider all the material before it, in full knowledge if its legal value and validity, and to decide accordingly.“



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile215

hungsweise Bedeutung von Prüfungen internationaler Übereinkommen für die Entscheidungsfindung des EGMR variierte in den hier analysierten Urteilen von Fall zu Fall.409 Mitunter schien der EGMR Europaratsdokumenten (wie auch weiteren, daneben berücksichtigten internationalen Übereinkommen) durchaus eine wichtige Rolle zuzuschreiben.410 Dies ist im Rahmen der harmonischen Auslegung der EMRK mit internationalem Recht411 zu beobachten. Hiernach gilt für den EGMR: „[T]he Convention cannot be interpreted in a vacuum but must be interpreted in harmony with the general principles of international law.“412 In Saadi v. The United Kingdom beispielsweise betonte der Gerichtshof unter Verweis auf Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK: „The Court must also take into account any relevant rules and principles of international law applicable in relations between the Contracting Parties.“413 Sodann erklärte er im Rahmen seiner Prüfung einer Verletzung von Art. 5 EMRK: „To interpret the first limb of Article 5 § 1 (f) as permitting detention only of a person who is shown to be trying to evade entry restrictions would be […] inconsistent with Conclusion no. 44 of the Executive Committee of the United Nations High Commissioner for Refugees’ Programme, the UNHCR’s Guidelines and the Committee of Ministers’ Recommendation […], all of which envisage the detention of asylum-seekers in certain circumstances, for example while identity checks are taking place or when elements on which the asylum claim is based have to be determined.“414

In dem bereits dargelegten Fall O’Keeffe v. Ireland stützte der Gerichtshof seine Begründung einer positive obligation Irlands im konkreten Fall unter 409  An dieser Stelle ist unterdessen erneut darauf hinzuweisen, dass die vorliegend untersuchte Auswahl an Urteilen nicht repräsentativ für die Rolle internationaler Übereinkommen insgesamt in den Urteilsbegründungen ist, da lediglich das spezielle Beispiel von Europaratsdokumenten in den Blick genommen wurde. Diese Feststellung machte aber auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 121 ff., sowie auch S. 34, wo sie hinsichtlich internationaler Übereinkommen generell feststellt: „The Court has afforded itself a large freedom in respect of external referencing, without real transparency.“ 410  Neben den sogleich dargelegten Urteilen siehe auch EGMR (Große Kammer) – Blokhin v. Russia, 23.03.2016 – 47152/06, Rn. 138, 170, 203 und 207. 411  Siehe zu dieser „harmonization method“ Forowicz, The reception of interna­ tional law in the European Court of Human Rights, S. 355 ff.; siehe weiter auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 279 ff.; Wildhaber, International and Comparative Law Quarterly 56 (2007), 217, 222 ff. 412  EGMR – National Union of Rail, Maritime and Transport Workers v. The United Kingdom, 08.04.2014 – 31045/10, Rn. 76. 413  EGMR (Große Kammer) – Saadi v. The United Kingdom, 29.01.2008 – 13229/03, Rn. 62. 414  EGMR (Große Kammer) – Saadi v. The United Kingdom, 29.01.2008 – 13229/03, Rn. 65.

216 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

anderem auf internationale Übereinkommen.415 In Ramirez Sanchez v. France erörterte der Gerichtshof die französischen Haftbedingungen im Hinblick auf eine in Rede stehende Verletzung von Art. 3 EMRK und stellte fest: „In the present case, the Court finds that the physical conditions in which the applicant was detained were proper and complied with the European Prison Rules adopted by the Committee of Ministers on 11 January 2006. These conditions were also considered to be ‚globally acceptable‘ by the CPT (see its report on the visit from 14 to 26 May 2000, cited at paragraph 83 above). Accordingly, no violation of Article 3 can be found on this account.“416

In anderen Fällen schienen Europaratsdokumente neben weiteren interna­ tionalen Übereinkommen lediglich eine untergeordnete Rolle in den Ausführungen des EGMR einzunehmen. Hier waren sie nur eines von vielen Argumenten des Gerichtshofs.417 So beispielsweise in Stoll v. Switzerland, in dem neben einem Europaratsdokument auch ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte herangezogen wurde. Hier hatte ein Journalist ein als vertraulich eingestuftes Regierungsdokument veröffentlicht und war infolge dessen zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt worden. Der Gerichtshof verwies bei der Beurteilung der Notwendigkeit des vorliegenden Eingriffs in die Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft vor allem auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach der Schutz der Pressefreiheit umso wichtiger sei, wenn staatliche Entscheidungen infolge ihrer Einstufung als geheim der demokratischen beziehungsweise gerichtlichen Kontrolle entzogen sind.418 Daraufhin erklärte er: „This is confirmed in particular by the principle adopted within the Council of Europe whereby publication of documents is the rule and classification the exception ([…] [CM Res. (2001)6 on access to Council of Europe documents] and [PACE Res.] 1551 (2007) […] on fair-trial issues in criminal cases concerning espionage or divulging State secrets […]) Similarly, the Inter-American Commission on Human Rights has taken the view that the disclosure of State-held information should play a very important role in a democratic society because it enables civil society to control the actions of the government to which it has entrusted the protection of its interests […].“419

415  Siehe

erneut „Dritter Teil, § 5 C. III. 2.“ (Große Kammer) – Ramirez Sanchez v. France, 04.07.2006 – 59450/00,

416  EGMR

Rn. 130. 417  Auch Staes stellte in ihrer Arbeit zu internationalen Übereinkommen insgesamt fest, dass einige Verweise lediglich eine derartige untergeordnete Rolle einnehmen. Sie bezeichnet diese als „general interpretative support“, vgl. Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 117 ff. 418  EGMR (Große Kammer) – Stoll v. Switzerland, 10.12.2007 – 69698/01, Rn. 110. 419  EGMR (Große Kammer) – Stoll v. Switzerland, 10.12.2007 – 69698/01, Rn. 111 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin).



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile217

Hier schienen die genannten Übereinkommen die bereits in zuvor ergangenen Urteilen gefestigte Auslegungspraxis also lediglich bestätigt zu haben. Ebenso in Salduz v. Turkey, wo der Gerichtshof nach der Darlegung der in vorangegangenen Urteilen gefestigten Entscheidungsgrundlagen420 unter Verweis auf Europaratsdokumente (sowie weitere internationale Übereinkommen) erklärte, dass die Entscheidungsgrundlagen allgemein anerkannten internationalen Menschenrechtsstandards entsprächen.421 Ein weiteres Beispiel ist der Fall Öneryıldız v. Turkey. Hier befasste sich der EGMR mit der Beschwerde eines Mannes, der mit seiner Familie neben einer Müllentsorgungsstelle gelebt hatte. Nach einer Methanexplosion waren seine Eltern und Kinder gestorben. Er macht eine Verletzung von Art. 2 EMRK geltend, weil die Behörden keine Schutzvorkehrungen für die Menschen getroffen hatten, die neben der Deponie lebten. Der Gerichtshof entwickelte eine Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 1 EMRK und erklärte sodann: „The Court considers that this obligation must be construed as applying in the context of any activity, whether public or not, in which the right to life may be at stake, and a fortiori in the case of industrial activities, which by their very nature are dangerous, such as the operation of waste-collection sites (‚dangerous activ­ ities‘ – for the relevant European standards, see paragraphs 59–60 above).“422

Der Verweis erfolgte unter anderem auf die PACE Res. 587 (1975) „on problems connected with the disposal of urban and industrial waste“, PACE Res. 1087 (1996) „on the consequences of the Chernobyl disaster“, die PACE Rec. 1225 (1993) „on the management, treatment, recycling and marketing of waste“, sowie die CM/Rec(96)12 „on the distribution of powers and re­ sponsibilities between central authorities and local and regional authorities with regard to the environment“. Wie der Gerichtshof in „The facts“ dargelegt hatte, geht aus diesen Dokumenten hervor, dass die Hauptverantwortung für die Behandlung von Haushaltsabfällen bei den lokalen Behörden liegt, denen die Regierungen finanzielle und technische Hilfe leisten müssen. Der Betrieb eines Standorts für die dauerhafte Deponierung von Abfällen durch die Behörden wird als gefährliche Tätigkeit bezeichnet, und der Verlust des Lebens infolge der Lagerung von Abfällen als Schaden, der eine Haftung der Behörden nach sich zieht. Angesichts der Argumentation des EGMR, in der er zunächst aus eigenen Erwägungen auf das Bestehen einer Schutzpflicht im vorliegenden Fall schloss, und daraufhin eher zusätzlich auf die einschlägi420  EGMR

(Große Kammer) – Salduz v. Turkey, 27.11.2008 – 36391/02, Rn. 52. principles, outlined in paragraph 52 above, are also in line with the generally recognised international human rights standards […].“, EGMR (Große Kammer) – Salduz v. Turkey, 27.11.2008 – 36391/02, Rn. 53. 422  EGMR (Große Kammer) – Öneryıldız v. Turkey, 30.11.2004 – 48939/99, Rn. 71. 421  „These

218 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

gen Europaratsstandards verwies, scheint der Verweis auch hier zur Bestätigung der Auffassung des EGMR erfolgt zu sein. 8. Zwischenergebnis

Die Relevanz internationaler Übereinkommen für die Urteilsfindung hängt nicht grundsätzlich von ihrer rechtlichen Qualität, von ihrem Urheber oder ihrer Art ab, obgleich diese Kriterien im Einzelfall durchaus zur Begründung der Auswahl oder Gewichtung von Europaratsdokumenten (sowie anderer internationaler Übereinkommen) herangezogen werden mögen. In vielen Urteilen stützte der EGMR seine Argumentation gleichermaßen auf völkerrechtliche Verträge und Soft Law. Sofern er lediglich eine Auswahl berücksichtigte, erfolgte diese oftmals anhand des Inhalts: Waren mehrere interna­ tionale Übereinkommen einschlägig, stützte der Gerichtshof seine Argumentation auf alle, oder lediglich die aktuellsten beziehungsweise konkretesten Übereinkommen – unabhängig von deren Rechtsqualität. In diesen Fällen widersprachen sich Europaratsdokumente und völkerrechtliche Verträge indes im Grundsatz auch nicht, sondern ergänzten einander vielmehr. In der Regel lag eine komplexe Vielzahl internationaler Übereinkommen vor, welche sich oft darin unterschieden, wie konkret sie sich zu Schutzmaßnahmen für das in Rede stehende Menschenrecht äußerten. Insofern wird Nußbergers Aussage, wonach der EGMR verbindliches Recht grundsätzlich ernster nehme als Soft Law,423 vorliegend bestätigt. Dieser Aussage kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung lediglich hinsichtlich des konkreten Beispiels der Europaratsdokumente begegnet werden. Für diese ist aber festzuhalten, dass es durchaus Fälle gab, in denen sich der Gerichtshof bewusst zu Europaratsdokumenten in Widerspruch setzte. Es gibt insofern also tatsächlich keine „harmonious interpretation at any price“.424 Festzuhalten ist aber auch, dass der Gerichtshof mitunter Europaratsdokumente in seiner Urteilsbegründung berücksichtigte, obwohl die Staaten in rechtsverbindlichen völkerrechtlichen Verträgen keine derart konkreten Standards vereinbart hat423  Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 42. 424  Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 53. Dass derartige Fälle jedoch auch im Hinblick auf völkerrechtliche Verträge auftreten, wurde etwa an dem im Fallpool enthaltenen Fall Correia de Matos v. Portugal deutlich. Hier erklärte der Gerichtshof, dass die Beschlüsse des UN-Menschenrechtsrats im Hinblick auf die Auslegung des IPBürg nicht zwingend zu berücksichtigen seien, und sich seine Auslegung der EMRK auch bei einer fast gleichlautenden Bestimmung im IPBürg hiervon unterscheiden könne, EGMR (Große Kammer) – Correia de Matos v. Portugal, 04.04.2018 – 56402/12, Rn. 133 ff. (siehe insbesondere 135); kritisch hierzu Pinto de Albuquerque in seiner Dissenting opinion, joined by Sajo, Rn. 22 ff.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile219

ten. Wie am Beispiel der EGMR-Rechtsprechung zur lebenslangen Haftstrafe ohne die Aussicht auf Entlassung gesehen, wurden die Standards aus den Europaratsdokumenten hier jedoch nicht ohne weiteres übernommen. Vielmehr legte der Gerichtshof die EMRK erst unter Heranziehung weiterer hierfür sprechender Erkenntnisquellen dementsprechend aus. Die rechtsvergleichenden Untersuchungen des EGMR waren mithin von mehreren Erkenntnisquellen geprägt, deren Beurteilung im Hinblick auf einen europäischen Konsens vom Einzelfall abhing. In einigen Fällen ließ der EGMR inhaltlich einschlägige Europaratsdokumente denn auch völlig außer Acht, in anderen griff er sie zwar in seiner Urteilsbegründung auf, entschied aber im Ergebnis ihnen entgegen. Hinsichtlich der Bedeutung von Bezugnahmen auf internationale Übereinkommen insgesamt ist festzustellen, dass diese variiert: Wurden Europaratsdokumente ohne einen Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten lediglich neben weiteren internationalen Übereinkommen und nicht bei einer Konsens-Prüfung herangezogen, kam ihnen mitunter ein zentraler, mitunter auch ein untergeordneter Stellenwert in der Urteilsbegründung zu. Insgesamt hat sich damit hinsichtlich der Auswahl und Gewichtung von Europarats­ dokumenten die Aussage des Gerichtshofs aus Tănase v. Moldova bestätigt:425 Über die Auswahl und Gewichtung von Europaratsdokumenten (wie auch anderen internationalen Übereinkommen) entscheidet der Gerichtshof im Einzelfall nach eigener Wertung, ohne dass es hierbei ein kohärentes Vorgehen anhand fester Kriterien gäbe.426

D. Alleinstehende Berücksichtigung von Europaratsdokumenten Der EGMR berücksichtigt Europaratsdokumente nicht nur im Rahmen einer rechtsvergleichenden Untersuchung unter Einbeziehung weiterer Erkenntnisquellen; in 34 der untersuchten Fälle verwies er in seiner Urteilsbegründung auf ein Europaratsdokument, ohne daneben andere Erkenntnisquellen heranzuziehen. Vor dem Hintergrund der einleitend dargestellten Kritik an der Orientierung einer Auslegung und Anwendung der EMRK anhand 425  Vgl. erneut EGMR (Große Kammer) – Tănase v. Moldova, 27.04.2010 – 7/08, Rn. 176. 426  So anhand anderer Beispiele zur Verwendung internationaler Übereinkommen auch van Drooghenbroeck/Krenc/van der Noot, in: Brems/Desmet (Hrsg.), Integrated human rights in practice, S. 31, 41, 44 f.; siehe weiter auch Forowicz, The reception of international law in the European Court of Human Rights, S. 383 („Overall, the Strasbourg bodies’ approach to international law has been marked by selectivity: references to international law have been cherry-picked, often to advance to aims and objectives of the ECHR and to reinforce to jurisdiction of the Court.“).

220 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

rechtlich unverbindlicher Soft Law-Dokumente ist diese Art der Berücksichtigung von besonderer Brisanz, denn hier gibt es kein Korrektiv durch andere Erkenntnisquellen wie das nationale Recht der Europaratsstaaten oder von diesen rechtsverbindlich verabschiedete völkerrechtliche Verträge. Die alleinstehende Berücksichtigung von Europaratsdokumenten interessiert hier mithin vor allem im Hinblick auf ihre Anwendungsbereiche und ihren Stellenwert in den Urteilsbegründungen.427 Im Hinblick auf die Frage, ob derartige Verweise methodisch noch der Konsens-Prüfung zuzuordnen sind, oder diese außerhalb hiervon stehen, sei angemerkt, dass die Heranziehung eines Europaratsdokuments als einziger Erkenntnisquelle im Gegensatz zu Untersuchungen mehrerer verschiedener internationaler Übereinkommen in den untersuchten Urteilen nie mit der erklärten Suche nach einem europäischen Konsens verbunden war. Der Gerichtshof bezeichnete einen Grundsatz, der allein aus einem Europaratsdokument hergeleitet war, nie als europäischen Konsens. Hinsichtlich der Anwendungsbereiche alleinstehender Verweise auf Europaratsdokumente ist ein wichtiger Unterschied zur Berücksichtigung von Europaratsdokumenten im Rahmen der Konsens-Methode festzustellen: Alleinstehend wurden Europaratsdokumente in den untersuchten Urteilen nicht zur Bemessung einer margin of appreciation herangezogen. Hier ist lediglich auf zwei (vermeintliche) Sonderfälle hinzuweisen. In Axel Springer AG v. Germany sowie Von Hannover v. Germany argumentierte der EGMR, dass es in Fällen wie dem vorliegenden, in dem zwischen dem Recht auf Privatsphäre prominenter Persönlichkeiten und der Pressefreiheit abgewogen werden musste, für die Bemessung der margin of appreciation nicht darauf ankommen solle, welcher der Beteiligten die Beschwerde wegen einer Konventionsverletzung eingereicht habe. Er erklärte daher, dass der Beurteilungsspielraum hinsichtlich beider Rechte auch gleich zu bemessen sei. Hierfür verwies er auf vorangegangene Urteile, sowie Punkt 11 der PACE Res. 1165 (1998) „on the right to privacy“.428 Der EGMR verwendete das Europaratsdokument also nur für seine Auffassung, wonach die Beurteilungsspielräume gleich sein sollten, und nicht für die eigentliche Bemessung dieses Beurteilungsspielraums. Überdies findet sich bereits in den ebenfalls herangezogenen vorangegangenen Urteilen diese Aussage wieder; keines verweist aber 427  Da Europaratsdokumente hier die einzigen Erkenntnisquellen waren, die in der Urteilsbegründung berücksichtigt wurden, wird die Frage nach ihrer Bedeutung neben anderen Erkenntnisquellen anhand dieser Urteile nicht näher behandelt. Für die Auswahl zwischen mehreren einschlägigen Erkenntnisquellen aus „The facts“ kann insoweit unterdessen nach oben verwiesen werden, „Dritter Teil, § 5 C. III.“ 428  EGMR (Große Kammer) – Axel Springer AG v. Germany, 07.02.2012 – 39954/08. Rn. 87; EGMR (Große Kammer) – Von Hannover v. Germany (No. 2), 07.02.2012 – 40660/08, 60641/08, Rn. 106.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile221

auf die genannte Resolution. Der Gerichtshof zog die Resolution in Axel Springer AG v. Germany beziehungsweise Von Hannover v. Germany mithin erstmalig heran, obwohl diese immerhin 1998 und damit auch vor den zitierten Urteilen verabschiedet wurde. Es scheint daher, als habe der Gerichtshof die Resolution schlicht zur weiteren Untermauerung seiner Feststellung verwendet. Sie hatte damit keinen entscheidenden Einfluss auf die Bemessung des Beurteilungsspielraums. Abgesehen von diesen beiden Fällen wurden Europaratsdokumente alleinstehend lediglich in anderen Zusammenhängen berücksichtigt, insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sowie zur Auslegung und Anwendung der EMRK.429 In Axel Springer AG v. Germany etwa verwies der Gerichtshof auch hinsichtlich der in der Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwendenden Abwägungskriterien auf ein Europaratsdokument: Die journalistische Berichterstattung müsse sich auf ein Thema von allgemeinem Interesse beziehen; die Öffentlichkeit habe grundsätzlich ein legitimes Interesse an Informationen zu strafrechtlichen Ermittlungen, wobei die Unschuldsvermutung – wie in CM/Rec(2003)13 normiert – strengstens beachtet werden müsse.430 Derartige Verweise, mit denen der EGMR für die Frage nach der Rechtfertigung eines Eingriffs, insbesondere für die Abwägung in der Verhältnismäßigkeitsprüfung, an Standards aus Europaratsdokumenten anknüpft, finden sich in zahlreichen weiteren Urteilen;431 ebenso bei der Beurteilung, 429  Neben diesen beiden Anwendungsbereichen wurden sie auch verwendet unter dem Punkt „Preliminary remarks and the scope of the Court’s assessment“ in EGMR (Große Kammer) – Delfi AS v. Estonia, 16.06.2015 – 64569/09, Rn. 113. Unter „Introductory remark“ in EGMR (Große Kammer)  – Kovačić a. o. v. Slovenia, ­ 03.10.2018 – 44574/98 a. o., Rn. 256. Unter „General principles“ in EGMR (Große Kammer) – Centro Europa 7 S.R.L. and Di Stefano v. Italy, 07.06.2012 – 38433/09, Rn. 134, sowie EGMR (Große Kammer) – Karácsony a. o. v. Hungary, 17.05.2016 – 42461/13; 44357/13, Rn. 147. 430  EGMR (Große Kammer) – Axel Springer AG v. Germany, 07.02.2012 – 39954/08, Rn. 96. 431  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, Rn. 105; EGMR (Große Kammer) – Von Hannover v. Germany (No. 2), 07.02.2012 – 40660/08, 60641/08, Rn. 110; EGMR (Große Kam­ mer) – Couderc and Hachette Filipacchi Associés v. France, 10.11.2015 – 40454/07, Rn. 120; EGMR (Große Kammer) – Sargsyan v. Azerbaijan, 16.06.2015 – 40167/06, Rn.  237 f., sowie EGMR (Große Kammer) – Chiragov a. o. v. Armenia, 16.06.2015 – 13216/05, Rn. 198 f. im Rahmen von Art. 1 ZP 1; EGMR (Große Kammer) – Medžlis Islamske Zajednice Brčko a. o. v. Bosnia and Herzegowina, 27.06.2017  – 17224/11, Rn. 80 (Verweis auf Rn. 43 und 44, in denen zwei Europaratsdokumente aufgeführt sind). Siehe auch EGMR (Große Kammer) – Roman Zakharov v. Russia, 04.12.2015 – 47143/06, wo der Gerichtshof im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung eine Empfehlung des Ministerkomitees hinsichtlich der Frage berücksichtigt, ob die russischen Regelungen zur geheimen Überwachung der Telekommunikation die Anforderungen an ein Gesetz erfüllen, das sicherstellt, dass Eingriffe in die Privatsphäre nach Art. 8

222 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

ob ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt.432 Auffällig hierbei war die wiederholte Bezugnahme auf verschiedene Dokumente des Ministerkomitees (insbesondere im Zusammenhang mit Art. 46 EMRK) hinsichtlich der Beurteilung der Maßnahmen, die ein Staat zur Umsetzung eines gegen diesen ergangenen EGMR-Urteils vorgenommen hat (beziehungsweise hätte vornehmen müssen).433 Zunächst wurde unter Verweis auf die CM/Rec(2000)2 insbesondere die Frage behandelt, ob der Beschwerdeführer nach erfolgreicher Beschwerde beim EGMR wegen einer Konventionsverletzung ein Recht auf die Wiederaufnahme eines gerichtlichen Verfahrens hat.434 Nach der CM/ Rec(2000)2 stellt die Wiederaufnahme des Verfahrens in bestimmten Fällen die effektivste Maßnahme dar, um ein vorangegangenes Urteil des EGMR umzusetzen. Darüber hinaus trugen zwei Dokumente des Ministerkomitees maßgeblich zur Entwicklung des Piloturteil-Verfahrens durch den EGMR bei. Die steigende Anzahl an Fällen, in denen oftmals wiederholt zahlreiche Individualbeschwerden über ähnliche Konventionsverletzungen in demselben EMRK nur erfolgen, sofern sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, Rn. 287. 432  Im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK siehe EGMR (Große Kammer) – Bouyid v. Belgium, 28.09.2015 – 23380/09, Rn. 108 und 110. Siehe weiter EGMR (Große Kammer) – Di Mauro v. Italy, 28.07.1999 – 34256/96, Rn. 23 zur Frage, ob das von Art. 6 EMRK vorgeschriebene Erfordernis eines Gerichtsverfahrens innerhalb angemessener Frist erfüllt war, sowie EGMR (Große Kam­ mer) – Perez v. France, 12.02.2004 – 47287/99, Rn. 68 und 72, wo der EGMR das Vorliegen eines zivilrechtlichen Anspruchs im Sinne von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK prüfte. 433  Neben den sogleich dargelegten siehe auch EGMR (Große Kammer) – Cocchia­ rella v. Italy, 29.03.2006 – 64886/01, Rn. 128, sowie die im wesentlichen wortgleichen Ausführungen in den Urteilen Nr. 49–56 (vgl. Annex 1). 434  Im Rahmen der Ausführungen zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in EGMR (Große Kammer) – Moreira Ferreira v. Portugal (No. 2), 11.07.2017 – 19867/12, Rn. 48; siehe weiter EGMR (Große Kammer) – Burmych a. o. v. Ukraine, 12.10.2017 – 46852/13 a. o., Rn. 222, hier im Zusammenhang mit Art. 37 EMRK; zwar neben einem Hinweis auf die Rechtslage in den Vertragsstaaten (vgl. Rn. 57), siehe jedoch auch den Verweis auf die CM/Rec(2000)2 in EGMR (Große Kammer) – Bochan v. Ukraine (No. 2), 05.02.2015 – 22251/08, Rn. 58. Im Rahmen von Art 46 EMRK in EGMR (Große Kammer) – Sejdovic v. Italy, 01.03.2006 – 56581/00, Rn. 126. Im Rahmen der Prüfung von Art. 10 EMRK vorgenommen, beziehen sich auch die Ausführungen des EGMR in EGMR (Große Kammer) – Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) v. Switzerland (No. 2), 30.06.2009 – 32772/02, Rn. 89, auf das Recht auf Wiederaufnahme eines Gerichtsverfahrens zur Umsetzung eines EGMR-Urteils im Sinne von Art. 46 Abs. 1 EMRK. Schließlich ist auch auf EGMR (Große Kam­ mer) – Maestri v. Italy, 17.02.2004 – 39748/98 hinzuweisen. Hier beantragte der Beschwerdeführer als gerechte Entschädigung nach Art. 41 EMRK unter Verweis auf die CM/Rec(2000)2 die Wiederaufnahme seines nationalen Gerichtsverfahrens, welches nach der Entscheidung des EGMR im vorliegenden Fall Gegenstand der Konventionsverletzung gewesen war, vgl. Rn. 45.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile223

Europaratsstaat eingereicht wurden, führte innerhalb des Europarats zu Beginn der 2000er Jahre zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Möglichkeiten zur Erreichung einer effektiveren Umsetzung von EGMR-Urteilen in den betreffenden Staaten.435 In der CM/Res(2004)3 „on judgments revealing an underlying systemic problem“ bat das Ministerkomitee den Gerichtshof schließlich, infolge der Feststellung einer Konventionsverletzung in seinen Urteilen soweit als möglich auch mögliche systembedingte Probleme in dem betreffenden Europaratsstaat sowie deren Ursachen darzulegen, insbesondere wenn diese voraussichtlich zu einer Vielzahl an weiteren Beschwerden führen würden; dies sollte dem Ministerkomitee dabei helfen, die betreffenden Staaten effektiver bei der Umsetzung des Urteils zu unterstützen.436 In diesem Zusammenhang verabschiedete es weiter die CM/Rec(2004)6 „on the improvement of domestic remedies“, in der es den Staaten nahelegte, infolge der Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR auch die dieser Konventionsverletzung zugrundeliegenden Probleme generell zu lösen.437 Gut einen Monat später etablierte der Gerichtshof daraufhin das Pilot­ urteil-Verfahren: In Broniowski v. Poland behandelte der EGMR eine Beschwerde über die Verletzung von Art. 1 ZP 1; angesichts der Verschiebung der östlichen Grenze Polens nach dem Zweiten Weltkrieg sollten alle polnischen Bürger entschädigt werden, deren Eigentum sich infolge der Grenzverschiebung nun auf anderem Staatsgebiet befand. Der Beschwerdeführer hatte keine Entschädigung erhalten, und der EGMR stellte eine Konventionsverletzung fest. Beim Gerichtshof waren 167 ähnliche Fälle anhängig; darüber hinaus waren insgesamt fast 80.000 weitere Personen von der Umsiedlung und damit verbundenen potenziellen Problemen im Zusammenhang mit Entschädigungen betroffen.438 Angesichts dessen führte der Gerichtshof unter Art. 46 EMRK unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die CM/Res(2004)3 sowie CM/Res(2004)6 aus, dass der konkrete Fall ein systembedingtes Problem offenbare: Insgesamt existiere kein wirksamer Mechanismus zum Schutz des Eigentumsrechts der von der Umsiedlung Betroffenen. Polen müsse daher grundsätzliche Maßnahmen treffen und über die Entschädigung im konkreten Fall eine Lösung für alle Betroffenen finden; die bestehenden Regelungen 435  Siehe hierzu etwa Leach/Hardman/Stephenson, Responding to Systemic Human Rights Violations, S. 9 ff., sowie Garlicki, in: Caflisch (Hrsg.), Liber amicorum Luzius Wildhaber: human rights – Strasbourg views, S. 177, 183 ff. 436  CM/Res(2004)3, Punkt I. 437  CM/Res(2004)6, Punkt II. 438  EGMR (Große Kammer) – Broniowski v. Poland, 22.06.2004 – 31443/96, Rn. 193. Zu den Hintergründen des Falles siehe auch Leach/Hardman/Stephenson, Responding to Systemic Human Rights Violations, S. 16 f., sowie Garlicki, in: Caflisch (Hrsg.), Liber amicorum Luzius Wildhaber: human rights – Strasbourg views, S.  177 ff.

224 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

reichten hierfür nicht aus.439 Infolgedessen wurde die Entscheidung in den übrigen Fällen zunächst aufgeschoben.440 2011 wurde das Piloturteil-Verfahren schließlich in die Verfahrensordnung des EGMR aufgenommen.441 Wenngleich nicht wie in den übrigen in dieser Arbeit behandelten Fällen direkt im Hinblick auf die Auslegung beziehungsweise Anwendung eines Individualrechts, haben die Dokumente des Ministerkomitees die Rechtsprechung des EGMR hier also gleichwohl maßgeblich beeinflusst.442 Nach Art. 46 Abs. 1 EMRK ist der Gerichtshof zunächst einmal nur für den Erlass eines Urteils in einem konkreten Verfahren zuständig; dessen Durchführung überwacht nach Art. 46 Abs. 2 EMRK das Ministerkomitee. Nach den im ZP 14 hinzugefügten Art. 46 Abs. 3 und 4 EMRK kann das Ministerkomitee den Gerichtshof erneut bei Fragen zur Auslegung des Urteils anrufen, beziehungsweise bei der Weigerung des betreffenden Staates, das Urteil umzusetzen. Darüber hinaus ist grundsätzlich jedoch keine Mitwirkung des Gerichtshofs bei der Umsetzung seiner Urteile vorgesehen. Mit der an die genannten Dokumente des Ministerkomitees angelehnten Einführung des PiloturteilVerfahrens gestaltete er seine Rolle in diesem Prozess bedeutend aktiver.443

439  EGMR (Große Kammer) – Broniowski v. Poland, 22.06.2004 – 31443/96, Rn.  193 f. 440  Vgl. die Pressemitteilung des EGMR (issued by the Registrar), „Bug River“ cases adjourned, 31.08.2004, https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22itemid%22: [%22003-1062015-1099568 %22]} (abgerufen am 28.08.2020). 441  Art. 61 VerfO EGMR. 442  Siehe in diesem Zusammenhang auch EGMR (Große Kammer) – Kurić a. o. v. Slovenia, 12.02.2014 – 26828/06, Rn. 132, und EGMR (Große Kammer) – Ališić a. o. v. Bosnia and Herzegovina, Croatia, Serbia, Slovenia and the former Yugoslav Repub­ lic of Macedonia, 16.07.2014 – 60642/08, Rn. 143 sowie die partly dissenting opinion der Richterin Nußberger, unter Beitritt von Popovic unter C. Kritisch zu diesem Umgang des EGMR mit den genannten Dokumenten des Ministerkomitees äußerte sich in dem hierauf folgenden Urteil EGMR (Große Kammer) – Hutten-Czapska v. Poland, 19.06.2006 – 35014/97 der Richter Zagrebelsky in seiner Partly dissenting opinion: „The arguments set out by the [CM/]Res(2004)3 and Res(2004)6 of 12 May 2004, which are addressed to Governments, are undoubtedly of much importance and must be taken into account by the Court with a view to ensuring that the reasons given in its judgments are as clear as possible. […] However, I would observe in this connection that, although the Committee of Ministers’ well‑established practice of indicating general measures to Governments and asking them to implement them in order to prevent further violations is usually justified on the basis of Article 46 rather than by the Committee of Ministers’ general obligations (under Articles 3, 8 and 15 of the Statute of the Council of Europe), it concerns a Convention institution whose nature, composition and responsibilities are entirely different from those of the Court, which reflect the latter’s judicial function.“ 443  Dies kritisierte der Richter Zagrebelsky in seinem Sondervotum zu EGMR (Große Kammer) – Hutten-Czapska v. Poland, 19.06.2006 – 35014/97.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile225

Während die Europaratsdokumente bei der Einführung des PiloturteilVerfahrens einen wesentlichen Stellenwert in den Ausführungen des EGMR einnahmen, kam alleinstehenden Verweisen auf Europaratsdokumente in den übrigen Urteilen in der Regel keine vergleichbar zentrale Bedeutung zu. Sie nahmen vielmehr eine untergeordnete Rolle in den Ausführungen des EGMR ein, und wurden als eines von vielen Argumenten angeführt. Das bereits in Axel Springer AG v. Germany beobachtete Vorgehen, mit dem Europaratsdokumente lediglich zitiert wurden, um Standards zu bestätigen beziehungsweise zu unterstützen, welche der EGMR aufgrund anderer Erwägungen beziehungsweise bestehender Rechtsprechung für konventionskonform hielt, konnte in weiteren Urteilen festgestellt werden. Dieser Schluss drängt sich insbesondere in Fällen auf, in denen der EGMR auf Europaratsdokumente verwies, die erst nach der Entwicklung der betreffenden Konventionsstandards verabschiedet wurden. Hier sind Verweise auf Europaratsdokumente nicht zwangsläufig Zeugnis des Einflusses der Dokumente auf die Auslegung der EMRK, sondern vielmehr umgekehrt Belege für die Rezeption gefestigter EGMR-Rechtsprechung in Dokumenten der Europaratsorgane. Ein Beispiel sind die EGMR-Urteile zum Schutz von Langzeitmigranten vor der Ausweisung aus ihren Aufenthaltsstaaten. In Boultif v. Switzerland (2001) stellte die zweite Kammer des EGMR Kriterien auf, anhand derer die Vereinbarkeit der Ausweisung eines straffällig gewordenen Langzeitmigranten mit Art. 8 EMRK überprüft werden solle. Für die Frage nach der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft wollte die Kammer unter anderem die Schwere der Straftat, die bisherige Dauer des Aufenthalts in dem betreffenden Staat, sowie die familiäre Situation des Migranten berücksichtigen.444 Dem in dieser Arbeit bereits angesprochenen Fall Üner v. The Netherlands lag 2006 ein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde, und die Große Kammer bezog sich bei der Frage nach der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft auf die in Boultif v. Switzerland entwickelten Kriterien. Dabei hob sie besonders das Wohlergehen betroffener Kinder als relevanten Punkt hervor, und erklärte: „[T]he Court notes that this [point] is already reflected in its existing case-law […] and is in line with the [CM]Rec(2002)4 on the legal status of persons admitted for family reunification […].“445

Er zitierte damit zusätzlich zum Verweis auf die bestehende Rechtsprechung eine inzwischen ergangene Empfehlung des Ministerkomitees. Diese bezieht sich in ihren Erwägungsgründen ausdrücklich auf die relevante Rechtsprechung des EGMR, bevor sie Kriterien für die Familienzusammen444  EGMR – 445  EGMR

Rn. 58.

Boultif v. Switzerland, 02.08.2001 – 54273/00, Rn. 48. (Große Kammer) – Üner v. The Netherlands, 18.10.2006 – 46410/99,

226 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

führung von Migranten hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus aufstellt. Hier liegt also, im Gegensatz zu den bisher dargelegten Fällen, eine umgekehrte Rezeption bestehender europäischer Menschenrechtsstandards vor: In dieser Resolution zieht das Ministerkomitee die Standards aus der EGMR-Rechtsprechung heran. Die hierauf folgende Aufnahme der Resolution durch den EGMR in seine Urteilsbegründung offenbart den Dialog, den der Gerichtshof und die Europaratsorgane bei der Entwicklung menschenrechtlicher Standards unterhalten. Nicht nur der Gerichtshof bezieht Europaratsdokumente in seine Rechtsprechung mit ein; auch die Europaratsorgane berücksichtigen die Rechtsprechung des EGMR in ihren Dokumenten.446 Kleijssen bezeichnet diese Beziehung auch als Symbiose,447 Grabenwarter spricht von einem „ ‚selbstreferentielle[n]‘ System“448. Derartige Bezugnahmen auf Europaratsdokumente in den Urteilsbegründungen deuten also weniger auf eine (evolutive) Auslegung der EMRK anhand der Dokumente hin; sie sind vielmehr als Beleg für die Vereinbarkeit bestehender, aus EGMR-Rechtsprechung hervorgegangener Konventionsstandards mit den von den Europaratsorganen beschlossenen Standards aufzufassen.449 Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass Europaratsdokumente alleinstehend zwar oftmals als Argument herangezogen wurden, ihnen dabei aber in der Regel kein maßgeblicher Stellenwert zukam.450 Die Entwicklung des Piloturteil-Verfahrens unter Bezug auf entsprechende Dokumente des Ministerkomitees ist die wohl bemerkenswerteste und gewichtigste Ausnahme.

446  Mitunter verweisen diese auch ausdrücklich auf ein bestimmtes EGMR-Urteil, so beispielsweise in Punkt 12.1.9 der PACE Res. 2143 (2017) „Online media and journalism: challenges and accountability“. 447  Kleijssen, Nederlands Tijdschrift voor de Mensenrechten 35 (2010), 897, 902. 448  Grabenwarter, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges – Fluch oder Segen, S. 45, 63. 449  So auch der Verweis in EGMR (Große Kammer) – Maslov v. Austria, 23.06.2008 – 1638/03, Rn. 73, der ebenfalls das Aufenthaltsrecht von Langzeitmi­ granten betraf: Hier befand der Gerichtshof, dass es auch ausschlaggebend sei, ob eine Person in dem betreffenden Land geboren beziehungsweise als Kind dorthin gekommen, oder als Erwachsene ins Land gekommen sei, und erklärte: „This tendency is also reflected in various Council of Europe instruments, in particular in [CM/]Rec(2000)15 and Rec(2002)4 […].“ Auch hier dienten die Europaratsdokumente zur Bestätigung der materiellen Standards, anhand derer der EGMR über eine Konventionsverletzung entscheiden wollte, welche die Europaratsdokumente „reflektierten“. 450  Insoweit ist das Ergebnis von Staes’ Untersuchung zu bestätigen: „The most controversial phenomenon of the Court explicitly expanding the interpretation of the convention on the basis of non-binding instruments is extremely rare.“ Staes, When the European Court of Human Rights refers to External Instruments to interpret the European Convention, S. 7.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile227

E. Denkbare Hintergründe einer unterbliebenen Berücksichtigung von Europaratsdokumenten Einleitend wurde die Frage aufgeworfen, warum der EGMR relevante Europaratsdokumente mitunter nicht in seiner Urteilsbegründung berücksichtigt, und diese nur in „The facts“ aufführt beziehungsweise sie lediglich in einem Sondervotum oder dem Vortrag der Prozessbeteiligten auftauchen. Dies war in 41 der untersuchten Urteile der Fall. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen sind hierfür zahlreiche Erklärungen denkbar. Der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten war oftmals die bedeutendste Erkenntnisquelle für den Gerichtshof bei der Konsens-Prüfung, sodass sich die Außerachtlassung von Europaratsdokumenten aus einem deutlichen Ergebnis dieses Rechtsvergleichs ergeben könnte. Weiter berücksichtigt der EGMR tendenziell vornehmlich solche Erkenntnisquellen, die eine konkrete Aussage zur rechtsvergleichenden Fragestellung treffen. Der Grund für die Nichtberücksichtigung kann also auch darin liegen, dass die betreffenden Erkenntnisquellen schlicht keinen Mehrwert für die KonsensPrüfung hätten.451 In diesem Zusammenhang spielt indes auch die bereits erörterte Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung eine wichtige Rolle; hierdurch wird bereits maßgeblich vorgegeben, welche Erkenntnisquellen relevant sind. Diese Faktoren vermögen etwa die Nichtberücksichtigung zahlreicher in „The facts“ aufgeführter internationaler Übereinkommen im Fall Lambert a. o. v. France zu erklären. Die Beschwerdeführerin war die Ehefrau eines Mannes, der sich in einem „chronic vegetative state“ befand.452 Der behandelnde Arzt hatte – mit Unterstützung der Gerichte – entschieden, 451  Siehe EGMR (Große Kammer) – Bédat v. Switzerland, 29.03.2016 – 56925/08. In „The facts“ wurde neben einem Rechtsvergleich auch die CM/Rec(2003)13 „to member States on the provision of information through the media in relation to crimi­ nal proceedings“ dargestellt, Rn. 21. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung verwies der EGMR lediglich auf das Ergebnis des Rechtsvergleichs, vgl. Rn. 80; danach stellten alle 30 untersuchten Staaten die in dem Fall in Rede stehende Veröffentlichung von Ermittlungsgeheimnissen unter Strafe. Der unterbliebene Verweis auf die Empfehlung des Ministerkomitees könnte folglich auf dieses eindeutige Ergebnis zurückgeführt werden. Weiter enthielt die Empfehlung des Ministerkomitees auch keine konkreten Regelungen zu Strafmaßnahmen infolge der Veröffentlichung von Ermittlungsgeheimnissen, vgl. Rn. 21. Vgl. weiter den Fall EGMR (Große Kammer) – Kart v. Turkey, 03.12.2009 – 8917/05, Rn. 98, in dem sich aus den internationalen Regelungen (Rn. 38 ff.) neben dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten keine weitergehenden Erkenntnisse ergaben. In EGMR (Große Kammer) – Morice v. France, 23.04.2015 – 29369/10, wurden in Rn. 134 von den in „The facts“ genannten internationalen Übereinkommen lediglich die konkreten Core Principles of the European Legal Profession des CCBE herangezogen, und nicht die Europaratsdokumente. 452  EGMR (Große Kammer) – Lambert a. o. v. France, 05.06.2015 – 46043/14, Rn. 11 ff. und 40.

228 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

die künstliche Ernährung zu beenden.453 Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung von Art. 2 EMRK in Form einer Schutzpflichtverletzung Frankreichs, das Leben ihres Ehemannes zu schützen. Der EGMR stellte fest, dass der Rechtsvergleich zwischen 39 Staaten keinen Konsens zur Vornahme ­lebenserhaltender Maßnahmen zur künstlichen Verlängerung des Lebens ergebe.454 Dementsprechend komme den Staaten eine margin of appreciation zu. Andere Erkenntnisquellen wurden hier nicht berücksichtigt, wobei in „The facts“ durchaus einige internationale Übereinkommen genannt worden waren;455 aus diesen lassen sich indes keine konkreten Aussagen zu der betreffenden Rechtsfrage ableiten. Ihre Nichtberücksichtigung kann demnach sowohl dadurch erklärt werden, dass in der vorliegenden schwierigen Rechtsfrage bereits die Rechtslage in den Europaratsstaaten keine eindeutigen Schlüsse zugelassen hatte, als auch anhand des Umstands, dass aus den internationalen Übereinkommen keine konkreten Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Auch die Nichtberücksichtigung der Europaratsdokumente in Biao v. Denmark kann anhand dieser Überlegungen nachvollzogen werden. Hier stand die Rechtmäßigkeit der dänischen Regelung zur Familienzusammenführung in Frage, nach welcher ein Ehepartner den anderen nur nachholen kann, sofern er selber bereits 28 Jahre lang dänischer Staatsbürger war beziehungsweise 28 Jahre lang rechtmäßig in Dänemark gelebt hat. Während in „The facts“ neben einem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten die CM/ Rec(2002)4 „to member States on the legal status of persons admitted for family reunification“ sowie die PACE Rec. 1686 (2004) „on human mobility and the right to family reunion“, UN- sowie EU-Dokumente aufgeführt wurden,456 bezog der EGMR in seiner Urteilsbegründung die Europarats­ 453  EGMR (Große Kammer) – Lambert a. o. v. France, 05.06.2015 – 46043/14, Rn.  14 ff. 454  EGMR (Große Kammer) – Lambert a. o. v. France, 05.06.2015 – 46043/14, Rn.  147 f. 455  Die Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine („Oviedo Convention“); der Guide on the decision-making process regarding medical treatment in end-of-life situations vom Committee on Bioethics of the Council of Europe, der die Umsetzung der Oviedo Convention erleichtern soll; PACE Rec. 1418 (1999), die empfiehlt, die Würde der Betroffenen zu beschützen und respektieren, das Recht auf Selbstbestimmung eingeschlossen, wenn sie die nötigen Maßnahmen treffen; PACE Res. 1859 (2012), die das Selbstbestimmungsprinzip aus der Oviedo Convention betont, nach dem niemand gegen seinen Willen medizinisch behandelt werden darf, EGMR (Große Kammer) – Lambert a. o. v. France, 05.06.2015 – 46043/14, Rn.  59 ff. 456  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Biao v. Denkmark, 24.05.2016 – 38590/10, Rn.  47 ff.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile229

dokumente nicht mit ein. Die stichhaltigeren Argumente ergaben sich jedoch auch aus anderen internationalen Instrumenten.457 Ungeachtet dieser Kriterien scheint die Berücksichtigung eines Europaratsdokuments in der Urteilsbegründung mitunter auch schlicht eine Frage der Ausführlichkeit und Genauigkeit bei der rechtsvergleichenden Untersuchung zu sein.458 In dieser Hinsicht fielen besonders die sehr ausführlichen Sondervoten des Richters Pinto de Albuquerque auf.459 Er vertritt die Auffassung, dass Soft Law die wichtigste Erkenntnisquelle für die Ermittlung eines europäischen Konsenses ist,460 und stützt seine Sondervoten regelmäßig auf vergleichsweise eingehende rechtsvergleichende Analysen. In Konstantin Markin v. Russia etwa verwies die Urteilsbegründung des EGMR lediglich pauschal auf die Randnummern 49–75 in „The facts“, in denen sämtliche inhaltlich relevante internationale Erkenntnisquellen sowie rechtsvergleichende Informationen zu den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten aufgeführt waren, und erklärte, dass sich hieraus eine allgemeine internationale Entwicklung hin zur Gewährung von Elternzeit auch für Männer ergebe. Gesondert verwies der Gerichtshof lediglich noch einmal auf die nationalen 457  Dies waren insbesondere EU-Regelungen, EGMR (Große Kammer) – Biao v. Denkmark, 24.05.2016 – 38590/10, Rn. 134 f., und daneben auch Berichte der ECRI und Stellungnahmen des Committee on the Elimination of Racial Discrimination sowie des Europäischen Menschenrechtskommissars, die sich direkt zur dänischen 28-Jahre-Regelung äußerten, vgl. Rn. 136 f. In seiner Concurring opinion berücksichtigte der Richter Pinto de Albuquerque dagegen auch die Europaratsdokumente und resümierte anhand einer Gesamtschau aller rechtsvergleichenden Materialien, dass es einen fortschreitenden internationalen Trend zur Priorisierung von Familienzusammenführungen über einwanderungspolitische Interessen gebe, Rn. 23 f. 458  Dementsprechend schwierig konnte sich auch die Zuteilung der Urteile innerhalt der Kategorie A gestalten. In EGMR (Große Kammer) – Dvorski v. Croatia, 20.10.2015 – 25703/11, Rn. 78, wies der EGMR darauf hin, dass das in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK anerkannte Recht auf anwaltlichen Beistand für Beschuldigte in einem Strafverfahren Teil des international anerkannten Menschenrechtsstandards sei. In „The facts“ waren internationale Übereinkommen, darunter auch Europaratsdokumente, dargelegt, die dies belegen (Rn. 62–66); auf diese verwies der EGMR jedoch nicht ausdrücklich. Da er in anderen Urteilen teilweise durchaus zumindest auf die entsprechenden Randnummern verweist, wurde dieser Fall nicht als Berücksichtigung von Europaratsdokumenten eingeordnet. 459  In EGMR (Große Kammer) – Lopes de Sousa Fernandes v. Portugal, 19.12.2017 – 56080/13 etwa bestand sein Sondervotum aus 94 Randnummern mit 273 Fußnoten. Nicht selten stellt er seinen Sondervoten sogar ein Inhaltsverzeichnis voran, das in der Hudoc-Datenbank mit der jeweiligen Gliederungsebene verknüpft ist. 460  „In Strasbourg, soft law has provided, and still provides, the most important source of crystallisation of the European consensus and the common heritage of ­values.“, Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 14.

230 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

Regelungen in den Europaratsstaaten, die überwiegend sowohl Soldatinnen als auch Soldaten das Recht auf Elternzeit gewährten.461 Damit wurden die Europaratsdokumente im Urteilstext nicht explizit angesprochen; der Verweis auf die allgemeine internationale Entwicklung verdeutlicht jedoch, dass der Gerichtshof diese bei seiner Urteilsfindung mit einbezogen hat. In seinem Sondervotum zählte Pinto de Albuquerque unterdessen die wesentlichen Erkenntnisquellen einzeln auf und leitete anhand einer ausgiebigen Analyse einen internationalen Konsens ab; er führte damit also eine wesentlich ausführlichere rechtsvergleichende Untersuchung durch.462 Auch in dem oben genannten Fall Biao v. Denmark argumentierte Pinto de Albuquerque viel ausführlicher anhand rechtsvergleichender Materialien als die Urteilsbegründung, sodass er hier auch explizit auf die relevanten Europaratsdokumente Bezug nahm, welche in der Urteilsbegründung wie gesagt nicht erneut aufgegriffen wurden.463 In Lopes de Sousa Fernandes v. Portugal führte der EGMR in „The facts“ ausführlich internationale Erkenntnisquellen, darunter auch ein Europaratsdokument, an,464 stützte seine Entscheidung jedoch nicht auf ein rechtsvergleichendes Argument und setzte sich in seiner Urteilsbegründung dementsprechend auch nicht mit internationalen Erkenntnisquellen auseinander. Pinto de Albuquerque hingegen führte eine ausführliche rechtsvergleichende Analyse durch, in der er die in „The facts“ aufgeführten internationalen Erkenntnisquellen aufgriff und aus ihnen ein völkergewohnheitsrechtliches Recht auf Gesundheitsversorgung herleitete.465 In Mouvement raëlien suisse v. Switzerland sowie Centre for Legal Resources on Behalf of Valentin Câmpenau v. Romania unterstütze er seine Argumentation durch Verweise auf Europaratsdokumente in Fußnoten, während das Urteil (sowie die Sondervoten anderer Richter) ohne rechtsvergleichende Hinweise argumentierten.

461  EGMR (Große Kammer) – Konstantin Markin v. Russia, 22.03.2012 – 30078/06, Rn. 140. 462  Siehe weiter auch die ausführliche rechtsvergleichende Darstellung in Pinto de Albuquerques Sondervotum in EGMR (Große Kammer) – Murray v. The Netherlands, 26.04.2016 – 10511/10, Rn. 6 ff., sowie die in EGMR (Große Kammer) – A and B v. Norway, 15.11.2016 – 24130/11, 29758/11, Rn. 6–15. 463  Concurring opinion des Richters Pinto de Albuquerque, EGMR (Große Kam­ mer) – Biao v. Denkmark, 24.05.2016 – 38590/10, Rn. 22 f. 464  EGMR (Große Kammer) – Lopes de Sousa Fernandes v. Portugal, 19.12.2017 – 56080/13, Rn.  110 ff. 465  Partly concurring, partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, EGMR (Große Kammer) – Lopes de Sousa Fernandes v. Portugal, 19.12.2017 – 56080/13, Rn. 3 ff. Vgl. in diesem Sinne auch die Concurring opinion von Pinto de Albuquerque in EGMR (Große Kammer) – Ramos Nunes De Carvalho e Sá v. Portugal, 06.11.2018 – 55391/13 a. o.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile231

Vor dem Hintergrund der aufgeführten Fallbeispiele ist auch festzustellen, dass die Nichtberücksichtigung eines inhaltlich einschlägigen Europaratsdokuments in der Urteilsbegründung in vielen Fällen auf eine geringe Bedeutung rechtsvergleichender Argumente grundsätzlich für die Urteilsfindung des EGMR zurückgeführt werden kann.466 Dies zeigt sich auch unabhängig von den soeben genannten Beispielen der Sondervoten Pinto de Albuquerques: In Jersild v. Denmark etwa verhandelte der EGMR den Fall eines dänischen Journalisten, der ein Fernsehinterview mit der als rassistisch bekannten Gruppe „the Greenjackets“ geführt hatte; im Zuge des Interviews hatten Mitglieder der Gruppe Äußerungen getätigt, woraufhin der Journalist wegen Beihilfe zu Rassismuspropaganda verurteilt wurde. Er machte eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK geltend. Seine Argumentation stützte er unter anderem auf eine Bestimmung der UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, die den teilhabenden Staaten aufgab, Maßnahmen gegen rassistische Diskriminierung „unter der Berücksichtigung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gewährleisteten Rechte“ zu treffen. Dieser Zusatz sei auf Nachdruck einiger Staaten hinzugefügt worden, die befürchtet hatten, dass andere Menschenrechte wie insbesondere die Meinungsfreiheit durch die Bestimmung in Art. 4 a der genannten UN Convention, wonach jegliche Verbreitung rassistischen Gedankenguts zu bestrafen sei, zu sehr eingeschränkt werden könnten. Die UN Convention hatte der Gerichtshof auch in „The facts“ zitiert. Der Antragsteller stützte seine Ausführungen weiter auf die CM/Res(68)30, in der das Ministerkomitee die Europaratsstaaten zur Ratifizierung der UN Convention aufgerufen hatte, zugleich jedoch dazu aufforderte, eine Stellungnahme beizufügen, wonach bei der Durchführung der in der UN Convention vorgesehenen Maßnahmen auch die Menschenrechte aus der EMRK beachtet werden müssten.467 Der EGMR ging auf diesen Punkt nicht ein, sondern gelangte durch 466  Neben den sogleich dargestellten Fallbeispielen siehe auch die Concurring opin­ion des Richters Lord Reed in EGMR (Große Kammer) – V. v. The United Kingdom, 16.12.1999 – 24888/94, der bezüglich der als Verletzung von Art. 3 EMRK geltend gemachten Veröffentlichung der Identität des beschwerdeführenden minderjährigen Straftäters erklärte: „The disclosure of the applicant’s identity, following his conviction, was in accordance with English law and practice in such circumstances. It was submitted on behalf of the applicant that such disclosure was inappropriate having regard to a number of international texts, including in particular Article 40 § 2 (b) of the United Nations Convention on the Rights of the Child. It does not ­appear to me to be necessary to determine whether the disclosure was consistent with Article 40 § 2 (b) (the interpretation of which was in dispute before the Court) or the other texts in question, since any distress or humiliation attributable to that specific aspect of the applicant’s treatment cannot in any event, in my opinion, be regarded as attaining the minimum level of severity necessary, according to prevailing standards, to bring it within the scope of Article 3 of the Convention.“ 467  EGMR (Große Kammer) – Jersild v. Denmark, 23.09.1994 – 15890/89, Rn. 28.

232 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

eine andere Argumentation zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller mit seinem Fernsehbeitrag keine rassistische Propaganda hatte verbreiten wollen, sodass eine Verletzung von Art. 10 EMRK vorlag.468 Auch hier hatte ein rechtsvergleichendes Argument in der Urteilsbegründung des EGMR damit keine entscheidende Rolle gespielt, sodass die vom Antragsteller geltend gemachte Resolution des Ministerkomitees auch nicht aufgegriffen wurde. In Sanoma Uitgevers B.V. v. The Netherlands lehnte der EGMR bereits das Vorliegen einer Rechtsgrundlage für den vorliegenden Eingriff in die Meinungsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 EMRK ab, sodass er sich gar nicht mehr mit der Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs befasste, in deren Rahmen die in „The facts“ angeführten rechtsvergleichenden Erkenntnisquellen eine Rolle hätten spielen können.469 In Cha’are Shalom ve Tsedek v. France prüfte der Gerichtshof, ob das Verbot des rituellen Schlachtens einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellte. Er verneinte dies mit dem Argument, die Antragsteller könnten derart geschlachtetes Fleisch auch in Belgien kaufen.470 Er fuhr gleichwohl mit einer hypothetischen Rechtfertigungsprüfung fort und untersuchte eher summarisch im Rahmen nur einer Randnummer, ob ein Eingriff verhältnismäßig wäre. Dabei ließ er indes die zahlreichen internationalen Dokumente, die in „The facts“ aufgeführt waren, außer Acht. Auch in weiteren Urteilen stützte der Gerichtshof seine Urteilsbegründung nicht auf eine rechtsvergleichende Untersuchung, weil er im konkreten Fall keine evolutive Auslegung vornehmen wollte, oder aber weil er anhand anderer Auslegungsmethoden beziehungsweise materieller Anhaltspunkte argumentierte, sodass rechtsvergleichende Erkenntnisquellen insgesamt nicht in der Urteilsbegründung berücksichtigt wurden.471 Insofern kann also auch die „Grenze der dynami468  EGMR (Große Kammer) – Jersild v. Denmark, 23.09.1994 – 15890/89, Rn. 30 ff.

469  EGMR (Große Kammer) – Sanoma Uitgevers B.V. v. The Netherlands, 14.09.2010 – 38224/03, Rn. 101. 470  EGMR (Große Kammer) – Cha’are Shalom Ve Tsedek v. France, 27.06.2000 – 27417/95, Rn.  80 ff. 471  EGMR (Große Kammer) – Kyprianou v. Cyprus, 15.12.2005 – 73797/01: In „The facts“ hatte der EGMR rechtsvergleichende Informationen zu den Regelungen der als dritte Parteien am Verfahren beteiligten Common Law Staaten des Europarats, sowie die „Basic Principles on the Role of Lawyers“ der UN und die CM/Rec(2000)21 angeführt; diese zog er jedoch nicht für seine Urteilsbegründung heran. Lediglich in seinen Ausführungen zu einer möglichen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK nahm er kurz auf den nationalen Rechtsvergleich Bezug, erklärte jedoch sogleich, dass eine Erörterung dieser Rechtssysteme vorliegend nicht entscheidend sei; seine Aufgabe bestehe im vorliegenden Fall vielmehr darin zu untersuchen, ob der Umgang mit dem Antragsteller im vorliegenden konkreten Fall eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK darstelle, Rn. 124 f. Siehe weiter EGMR (Große Kammer) – Calvelli and Ciglio v. Italy, 17.01.2002 – 32967/96; EGMR (Große Kammer) – Lindon, OtchakovskyLaurens and July v. France, 22.10.2007 – 21279/02, 36448/02: Hier hatten lediglich die Richter Rozakis, Bratza, Tulkens und Sikuta in ihrer Joint partly dissenting opin­



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile233

schen Auslegung“ ein Grund für die Nichtberücksichtigung von Europaratsdokumenten darstellen.472 Wie sich in dem Vergleich der Fälle Kafkaris v. Cy­ prus und Vinter a. o. v. The United Kingdom angedeutet hat, argumentiert der EGMR ausführlicher anhand der Konsens-Methode, wenn er die EMRK evolutiv auslegt und der betreffende Staat infolgedessen wegen einer Konventionsverletzung verurteilt wird. Andernfalls erfolgt bei Begründung des Urteils keine vergleichbar ausführliche Argumentation anhand des Konsens-Krite­ riums, sodass dabei womöglich auch Europaratsdokumente außer Acht gelassen werden. Ein in diesem Zusammenhang bemerkenswerter Fall, der diese Feststellung gewissermaßen umgekehrt bestätigt, ist die Entscheidung des EGMR in Hirst v. The United Kingdom. Hier ging es um die britische Regelung, wonach Strafgefangene während ihrer Haftdauer nicht an Parlaments- und Kommunalwahlen teilnehmen dürfen. Der Antragsteller machte einen Verstoß gegen Art. 3 ZP 1 EMRK geltend, welcher das Recht auf freie Wahlen normiert. Der EGMR prüfte das Vorliegen eines europäischen Konsenses, bezog jedoch nur die Rechtslage in den Europaratsstaaten in seine Beurteilung ein. Hiernach ermöglichten 18 Staaten Gefängnisinsassen die Teilnahme an Wahlen, 15 Staaten aber nicht; in zwölf Staaten konnte das Recht zur Teilnahme an Wahlen beschränkt werden. Damit hatte der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten weder eindeutig für noch gegen einen vollständigen Ausschluss Strafgefangener von Wahlen gesprochen. In „The facts“ hatte der Gerichtshof die EPR von 1987 sowie die CM/Rec(2003)23 „on the management by prison administrations of life sentence and other long-term prisoners zitiert“, die er jedoch in seiner Urteilsbegründung nicht aufgriff. Den Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten interpretierte er folgendermaßen: ion eine Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung herangezogen (Rn. 7), während das Urteil selbst keine rechtsvergleichenden Ausführungen anstellt. Ebenso EGMR (Große Kammer) – Jeronovics v. Latvia, 05.07.2016 – 44898/10, wo sich lediglich die Regierung (Rn. 43) und der Antragsteller (Rn. 90) auf die CM/Rec(2000)2 beriefen, der Gerichtshof (der das Dokument in Rn. 35 in „The facts“ aufgeführt hatte) in „The law“ jedoch ohne Bezugnahme hierauf zum Ergebnis der Verletzung von Art. 3 EMRK gelangte. Siehe weiter EGMR (Große Kammer) – Öcalan v. Turkey, 12.05.2005 – 46221/99, wo der Richter Garlicki in seinem Sondervotum anhand rechtsvergleichender Ausführungen argumentierte, der Gerichtshof hätte im vorliegenden Fall feststellen sollen, dass die Verhängung einer Todesstrafe per se eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründe, Rn. 1–7; eine derartige evolutive Auslegung war im Urteil indes nicht vorgesehen, sodass auch keine rechtsvergleichenden Erkenntnisquellen herangezogen wurden; EGMR (Große Kammer) – Salman v. Turkey, 27.06.2000 – 21986/93, wo lediglich der Richter Greve, unter Beitritt von Bonello, in seiner Concurring opinion anhand internationaler Übereinkommen argumentierte (2. und 3.). 472  Vgl. hierzu auch Klocke, EuR 50 (2015), 148, 161 f.

234 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten „[A]lthough there is some disagreement about the legal position in certain States, it is undisputed that the United Kingdom is not alone among Convention countries in depriving all convicted prisoners of the right to vote. […] However, the fact remains that it is a minority of Contracting States in which a blanket restriction on the right of convicted prisoners to vote is imposed or in which there is no provision allowing prisoners to vote. […] Moreover, and even if no common European approach to the problem can be discerned, this cannot in itself be determinative of the issue.“473

Der Gerichtshof verurteilte Großbritannien im Ergebnis wegen einer Konventionsverletzung, da ein derart umfassender vollständiger Ausschluss Strafgefangener von Wahlen außerhalb jeder margin of appreciation liege, wie weit diese auch immer sei. Die gesamte Argumentation ist unter mehreren Gesichtspunkten konfus: Zunächst hatte der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten kein eindeutiges Ergebnis ergeben. Die abweichende Meinung argumentierte denn auch, dass folglich kein Konsens vorliege, also keine Verurteilung Großbritanniens angesagt gewesen sei. Die Mehrheit legte den Rechtsvergleich unterdessen eher halbherzig zugunsten eines Konsenses aus, erklärte im folgenden Satz jedoch zugleich, dass dieser Konsens ohnehin nicht maßgebend für die Entscheidung sei. Europaratsdokumente wurden nicht berücksichtigt. Sie enthielten auch keine konkrete Aussage direkt zum Wahlrecht Strafgefangener, die CM/Rec(2003)23 erklärt unter Punkt 4. jedoch zumindest, dass die Haftbedingungen „as closely as possible to the realities of life in the community“ ausgestaltet werden sollten.474 Das uneindeutige Ergebnis des Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten hatte auch im Sinne der Auslegung durch die Mehrheit nicht zwangsläufig dafür gesprochen, weitere Erkenntnisquellen außer Acht zu lassen; offenbar wollte der Gerichtshof seine Argumentation (womöglich auch angesichts der Kritik der abweichenden Meinungen) jedoch lieber gar nicht maßgebend auf das Konsens-Kriterium stützen, und erklärte dieses mithin für ohnehin nicht entscheidend. Dies steht dem Grundsatz entgegen, wonach der Gerichtshof die evolutive Auslegung der EMRK an den Entwicklungen im nationalen und internationalen Recht orientiere.475 Der Fall Hirst v. The United Kingdom zeugt damit erneut von einem schwer nachvollziehbaren Umgang des EGMR mit dem Konsens-Kriterium, obwohl – beziehungsweise im Ergebnis wohl gerade weil – er im vorliegenden Fall eine evolutive Auslegung vornehmen wollte. So kritisierte die abweichende Meinung auch: 473  EGMR (Große Kammer) – Hirst v. The United Kingdom (No. 2), 06.10.2005 – 74025/01, Rn. 81. 474  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Hirst v. The United Kingdom (No. 2), 06.10.2005 – 74025/01, Rn. 31. 475  Vgl. erneut EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 68.



§ 5 Analyse aller untersuchungsrelevanten Urteile235 „[I]t is essential to bear in mind that the Court is not a legislator and should be careful not to assume legislative functions. An ‚evolutive‘ or ‚dynamic‘ interpretation should have a sufficient basis in changing conditions in the societies of the Contracting States, including an emerging consensus as to the standards to be achieved. We fail to see that this is so in the present case. The majority submit that ‚it is a minority of Contracting States in which a blanket restriction on the right of serving prisoners to vote is imposed or in which there is no provision allowing prisoners to vote‘ […]. Our conclusion is that the legislation in Europe shows that there is little consensus about whether or not prisoners should have the right to vote. In fact, the majority of member States know such restrictions, although some have blanket and some limited restrictions. Thus, the legislation in the United Kingdom cannot be claimed to be in disharmony with a common European standard.“476

Erneut entsteht der Eindruck, die Mehrheit der Richter habe die Struktur der Konsens-Prüfung allein am Urteilsergebnis orientiert; diesmal jedoch nicht durch die Außerachtlassung wichtiger Erkenntnisquellen beziehungsweise die fragwürdige Interpretation des Rechtsvergleichs zwischen den ­Europaratsstaaten, um die Annahme beziehungsweise Ablehnung eines Konsenses zu ermöglichen, sondern durch die grundsätzliche Abwertung der Bedeutung des Konsens-Kriteriums für seine Entscheidung. Auch aus diesem Grund wurde das Urteil in Großbritannien äußerst kritisch aufgenommen;477 zwölf Jahre lang machte die britische Regierung keine Anstalten, die Reglungen zum Wahlrecht von Strafgefangenen zu ändern.478 Im Ergebnis vermitteln einige Urteilsbegründungen des EGMR damit den Eindruck, der EGMR sehe die rechtsvergleichenden Informationen weniger als Orientierung bei der Entscheidung über eine möglicherweise evolutive Auslegung der EMRK, sondern nutze vielmehr die schwammigen Konturen 476  Joint dissenting opinion der Richter Wildhaber, Cosa, Lorenzen, Kovler und Jebens, EGMR (Große Kammer) – Hirst v. The United Kingdom (No. 2), 06.10.2005 – 74025/01, Rn. 6. 477  Siehe etwa Davis, in: Flogaitis/Zwart/Fraser (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 65. 478  Siehe zum Stand 2012 etwa Daily Mail, I will defy Europe on jail votes, says Cameron as he sets on collision course with judges in Strasbourg, 24.05.2012, https:// www.dailymail.co.uk/news/article-2149005/I-defy-Europe-jail-votes-says-Cameronsets-collision-course-judges-Strasbourg.html. 2017 wurde ein Vorschlag unterbreitet, um das Urteil umzusetzen, vgl. Secretariat General, H-DD(2017)1229, Communication from the United Kingdom concerning the case of HIRST (No. 2) v. the United Kingdom, Action Plan Execution of Judgments of the European Court of Human Rights, https://rm.coe.int/1680763233. Im September 2018 erklärte das Minister­ komitee den Fall für abgeschlossen, siehe Committee of Ministers, Execution of Judgments of the European Court of Human Rights, Action Report; Information submitted by the United Kingdom Government on 1 September 2018; DH-DD (2018) 843, https://hudoc.exec.coe.int/eng#{%22EXECIdentifier%22:[%22DH-DD(2018)84 3E%22]} (alle abgerufen am 28.08.2020).

236 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

des Konsens-Kriteriums, um das Ergebnis der Konsens-Prüfung zu beeinflussen und ein Argument für seinen letztlichen Urteilsausspruch zu formen.479 Nachvollziehbar ist eine in diesem Zusammenhang unterbleibende Berücksichtigung relevanter Erkenntnisquellen – wie auch bereits an anderen Fällen, insbesondere Odièvre v. France sowie S.A.S. v. France deutlich wurde – nicht immer.

§ 6 Zusammenfassung und Bewertung Lediglich unverbindliche Standards; Inspiration; die wichtigste Quelle für einen europäischen Konsens – über die Bedeutung von Europaratsdokumenten in der Rechtsprechung des EGMR gibt es verschiedene Aussagen und Einschätzungen. In der empirischen Urteilsuntersuchung haben sich die vorläufigen Beobachtungen der bereichsspezifischen Untersuchung weitgehend bestätigt. Zusammengefasst kann Folgendes zur Rolle von Europaratsdokumenten festgehalten werden: Europaratsdokumente können grundsätzlich trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit bei der Auslegung und Anwendung der EMRK berücksichtigt werden. Der Gerichtshof hat in mehreren Urteilen sein Bewusstsein über ihre fehlende Rechtsverbindlichkeit verdeutlicht, pflegt damit aber insgesamt einen eher pragmatischen Umgang: Sofern ein Europaratsdokument thematisch zur in Rede stehenden Rechtsfrage passt, kann es potenziell auch bei der Entscheidungsfindung des EGMR, etwa im Rahmen der Ermittlung eines europäischen Konsenses, ausschlaggebend sein. Es ist also unerheblich, ob ein internationales Übereinkommen rechtlich bindend oder unverbindlich ist, wie viele Europaratsstaaten ihm zugestimmt haben und ob der im Verfahren betroffene Staat unter jenen Staaten ist – es kann grundsätzlich im Rahmen der Auslegung und Anwendung der EMRK berücksichtigt werden. Hinsichtlich der Konsens-Prüfung hat die Urteilsanalyse nur begrenzt Hinweise für ein methodisches Vorgehen des EGMR gegeben. Viele Urteile ließen verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu, sodass lediglich Tendenzen zu den Kriterien für die Auswahl der maßgebenden Erkenntnisquellen dargelegt werden können. Deutlich wurde, dass die Abstraktionsebene der rechtsvergleichenden Frage für den Ausgang der Konsens-Entscheidung eine wichtige Rolle spielt, für ihre Festlegung unterdessen keine klare Methode erkennbar ist. Der Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten scheint für den Gerichtshof grundsätzlich die wichtigste Erkenntnisquelle für die Ermittlung 479  Eine derartige Möglichkeit der Verwendung des Konsens-Kriteriums durch den EGMR geben auch Kapotas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 12 zu bedenken.



§ 6 Zusammenfassung und Bewertung237

eines europäischen Konsenses zu sein. Demgegenüber werden Europaratsdokumente, wie auch andere internationale Übereinkommen eher ergänzend herangezogen. Dabei haben sich Unterschiede zwischen der Argumentation im Rahmen der margin of appreciation und in der Verhältnismäßigkeitsprüfung sowie der Auslegung von Konventionsbestimmungen angedeutet – diese Erwägung setzt fraglos voraus, dass eine derartige Unterscheidung verschiedener Anwendungsbereiche des europäischen Konsenses überhaupt möglich ist; wie dargelegt, ist der EGMR in seinen Ausführungen in dieser Hinsicht nicht immer konsequent. Bei einer gleichwohl dementsprechend differenzierten Betrachtung fallen aber durchaus Unterschiede auf: Während der Rechtsvergleich zwischen dem nationalen Recht der Europaratsstaaten bei der margin of appreciation-Bemessung in der Regel die bedeutendste Stellung in der Konsens-Prüfung einnimmt, werden internationale Übereinkommen in den anderen Zusammenhängen mitunter durchaus gleichermaßen herangezogen. Hier werden internationale Übereinkommen überdies oft auch ohne einen Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten berücksichtigt; derartige Ausführungen erfolgen aber in der Regel nicht unter Verweis auf einen europäischen Konsens. Bei der Auswahl in der Urteilsbegründung zu berücksichtigender interna­ tionaler Übereinkommen unter mehreren (meist in „The facts“ aufgezählten) inhaltlich einschlägigen Dokumenten ist indes keine vergleichbar deutliche Abstufung zwischen verschiedenen Erkenntnisquellen erkennbar. So differenziert der EGMR insbesondere nicht derart zwischen rechtsverbindlichen und -unverbindlichen internationalen Übereinkommen, dass er bei Vorliegen beider Arten von Erkenntnisquellen lediglich die rechtsverbindlichen für seine Urteilsbegründung heranzieht. Er stützte seine Argumentation in vielen der untersuchten Urteile vielmehr gleichermaßen auf völkerrechtliche Verträge und Soft Law. Damit kann potenziell jedes thematisch einschlägige internationale Dokument Berücksichtigung finden. Dies gilt auch für die Auswahl innerhalb der Erkenntnisquelle internationalen Soft Laws. Auch beim konkreten Hinblick auf Europaratsdokumente ist weder eine Differenzierung anhand des Urhebers (also Ministerkomitee oder Parlamentarische Versammlung) ersichtlich, noch eine abgestufte Gewichtung anhand der Art der Dokumente (Differenzierung zwischen Resolution und Empfehlung). Insgesamt entscheidet der Gerichtshof einzelfallabhängig über die Berücksichtigung internationaler Übereinkommen, wobei verschiedene Muster in den untersuchten Urteilen beobachtet werden konnten. Wenn in „The facts“ mehrere internationale Übereinkommen unterschiedlicher Rechtsqualität aufgeführt waren, die sich alle inhaltlich ähnlich zur Rechtsfrage äußerten, ließ die Auswahl in vielen Fällen auf eine Entscheidung anhand des Inhalts (und damit gerade nicht der Rechtsqualität) der jeweiligen Dokumente schließen: Wenn der EGMR nicht alle Dokumente in seiner Urteilsbegründung aufgriff,

238 3. Teil: Empirische Untersuchung der Rolle von Europaratsdokumenten

benannte er lediglich die aktuellsten beziehungsweise konkretesten Übereinkommen – unabhängig von deren Rechtsqualität. In diesem Zusammenhang hob der Gerichtshof Europaratsdokumente mitunter auch besonders hervor, was am Beispiel der EPR deutlich wurde. Wenn ein Europaratsdokument mit konkreten Schutzstandards in der Urteilsbegründung aufgegriffen und unter „The law“ herangezogen wird heißt dies unterdessen noch nicht, dass diese Standards auch für die EMRK übernommen werden. Anhand der Rechtsprechung zur lebenslangen Haftstrafe ohne die Aussicht auf Entlassung etwa legte der Gerichtshof die EMRK erst entsprechend der EPR aus, als auch die Rechtslage in den Europaratsstaaten hierfür sprach. Es wurden jedoch auch Fälle aufgezeigt, in denen die Standards aus Europaratsdokumenten (meist neben anderen internationalen Übereinkommen) offenbar maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung des EGMR hatten; dies auch ohne das Vorliegen eines Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten. Ihr Stellenwert variierte insgesamt. Mitunter stützte der EGMR seine Argumentation maßgeblich auf sie; mal maß er ihnen eine eher untergeordnete Bedeutung zu und sie dienten etwa lediglich zur Bestätigung materieller Standards, die der Gerichtshof entweder zuvor anhand anderer Argumente entwickelt hatte, oder die durch bereits bestehende Rechtsprechung in anderen Urteilen etabliert worden waren. In einigen Urteilen entschied er im Ergebnis entsprechend, in anderen entgegen einschlägiger Europaratsdokumente; dies geschah mitunter begründet, mitunter ließ er inhaltlich relevante Europaratsdokumente jedoch auch unbegründet beziehungsweise in nicht nachvollziehbarer Weise außer Acht. Alleinstehend spielen Europaratsdokumente meist eine lediglich untergeordnete Rolle in der Argumentation des EGMR. Die Etablierung des Pilot­ urteil-Verfahrens auf Grundlage von Dokumenten des Ministerkomitees ist in dieser Hinsicht ein (prominenter) Ausnahmefall. Angesichts dieser Ergebnisse kann die Nichtberücksichtigung von Europaratsdokumenten viele Erklärungen haben. Erstens kann sie darauf zurückzuführen sein, dass rechtsvergleichende Informationen für den Gerichtshof letztlich allgemein keinen Ausschlag gaben, und er andere Auslegungsmethoden bei der Urteilsfindung anwandte. Darüber hinaus scheint eine unterbliebene Heranziehung eines in „The facts“ genannten Europaratsdokuments auch nicht zwangsläufig auf eine bewusste Außerachtlassung des Dokuments zurückzuführen, sondern mitunter auch schlicht eine Frage der Ausführlichkeit der rechtsvergleichenden Argumentation zu sein. Schlussendlich wurden also einige Kriterien, beziehungsweise Muster in der Vorgehensweise des EGMR hinsichtlich der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten festgestellt. Zugleich ist jedoch auch zu bekräftigen, dass dies lediglich Tendenzen sind. Es gab stets Gegenbeispiele, Ausnahmefälle



§ 6 Zusammenfassung und Bewertung239

und Mehrdeutigkeiten. In einigen Fällen war die Argumentation des EGMR in keiner Weise rational nachvollziehbar, und schien sich zuvorderst an dem Ziel einer (vermeintlich) überzeugenden Argumentation im Sinne des Urteilsausspruchs zu orientieren. Insbesondere konkret hinsichtlich des Konsens-Kriteriums ist festzustellen, dass der Gerichtshof dieses als anpassungsfähiges Instrumentarium verwendet. Mitunter legte er das Ergebnis des Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten in nicht nachvollziehbarer Weise aus, berücksichtigte inhaltlich einschlägige internationale Übereinkommen nicht, oder nutzte die Festlegung der Abstraktionsebene der für die Entscheidung maßgeblichen rechtsvergleichenden Fragestellung als Steuerungsmöglichkeit hinsichtlich des Ausgangs der Konsens-Prüfung. Die Beurteilung der Relevanz eines Europaratsdokuments sieht der EGMR dabei letztlich als seine eigene Entscheidung an, die er oft auch nicht erläutert. Damit kann der Schluss auf einen europäischen Konsens schwerlich in allgemeingültige Maßstäbe gefasst werden. Der Gerichtshof hat nicht spezifiziert, wie genau er die verschiedenen Erkenntnisquellen auswertet, und so über das Vorliegen eines Konsenses entscheidet. Im Gegenteil wurden viele verschiedene Argumentationsmuster des EGMR bei der Auswertung rechtsvergleichender Materialien dargelegt, sodass diese letztlich als Einzelfallentscheidung ohne feste Maßstäbe bezeichnet werden muss.480 Diese Schlussfolgerung ist fraglos insofern zu relativieren, als sie auf der Grundlage eines Fallpools getroffen wird, der im Hinblick auf Europaratsdokumente zusammengestellt wurde – empirisch untersucht wurde hier die Rolle von Europaratsdokumenten in rechtsvergleichenden Untersuchungen, nicht die KonsensPrüfung des EGMR im Allgemeinen.481 Gleichwohl fand sich eine nicht unbeachtliche Zahl von Urteilen mit Konsens-Prüfungen in der Analyse wieder. Wie an mehreren Stellen bereits angemerkt wurde und auch in der weiteren Bearbeitung deutlich werden wird, stimmen diese Schlussfolgerung überdies mit den Ergebnissen anderer Autoren überein, die die Konsens-Prüfung aus anderen Blickwinkeln untersucht haben. Die dargelegten Feststellungen werden mithin im Vierten Teil zum Anlass einer Bewertung genommen. Hier wird erörtert, ob und inwiefern das Vorgehen des EGMR bei der Konsens-Prüfung methodisch verbesserungsbedürftig ist. 480  Damit bestätigt sich auch die Feststellung von Staes hinsichtlich internationaler Übereinkommen generell, wonach „The Court has afforded itself a large freedom in respect of external referencing, without real transparency.“, Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 34. 481  Angesichts der vielen verschiedenen Bezeichnungen des EGMR für die Konsens-Methode ist hier aber anzumerken, dass eine umfassende empirische Untersuchung dieser Methode ohnehin nur schwer möglich scheint.

Vierter Teil

Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode „In foreign law you can find anything you want. If you don’t find it in the decisions of France or Italy, it’s in the decisions of Somalia or Japan or Indonesia or wherever.“1

Die hier vom Vorsitzenden des US-Supreme Court Roberts angesprochene Beliebigkeit von Rechtsvergleichung vermittelt stellenweise auch die Rechtsprechung des EGMR: Wie in der empirischen Urteilsanalyse deutlich wurde, scheinen die rechtsvergleichenden Untersuchungen oftmals unmethodisch und einzelfallabhängig erfolgt zu sein. Angesichts dessen erscheint der Vorwurf des „cherry picking“ an den EGMR durchaus angebracht.2 Allerdings ist eine unmethodische und ergebnisorientierte Berücksichtigung rechtsvergleichender Informationen nicht per se problematisch. Hier gilt es zu differenzieren zwischen Verweisen, denen für die Urteilsbegründung eine entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt, und solchen, mit denen der EGMR seine auf andere Grundlagen gestützte Argumentation lediglich zusätzlich unterstützen will, denen also eine untergeordnete Bedeutung zukommt; wie soeben dargelegt können vor allem alleinstehende Verweise auf Europaratsdokumente in diesem Sinne eingeordnet werden. Da sich das Urteil hier maßgeblich auf andere Gründe stützt, erscheinen unmethodische rechtsvergleichende Ausführungen weniger problematisch.3 Die folgenden Ausführungen befassen sich unterdessen mit einem Teilbereich der rechtsvergleichenden Argumentation des EGMR, für den eine andere Bewertung zu treffen ist:4 Der Konsens-Ermittlung. Wie sogleich in 1  John G. Roberts, United States Senate, Confirmation Hearing on the Nomination of John G. Roberts, Jr. to be Chief Justice of the United States, Hearing before the Committee on the Judiciary United States Senate; First Session; Serial No. J-10937, 12.–15.09.2005, https://www.senate.gov/reference/Supreme_Court_Nomination_ Hearings.htm (=> John G. Roberts, Jr.) (abgerufen am 28.08.2020), S. 210. 2  Siehe etwa Staes, Correia de Matos v. Portugal: Fragmented protection of the right to defend oneself in person (hier in Bezug auf das Urteil EGMR (Große Kam­ mer) – Correia de Matos v. Portugal, 04.04.2018 – 56402/12). 3  Auch Ambrus erklärt hinsichtlich derartiger Verweise: „[I]t is less important to what extent this comparison complies with the rule of law.“, Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 354. 4  So auch von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 331 f. („Die Besonderheit der Konsensmethode des EGMR liegt […] darin, dass sie sich



§ 1 Erfordernis einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung241

§ 1 dargelegt wird, ist dem EGMR hier zu einer transparenten und kohärenten rechtsvergleichenden Untersuchung anhand methodischer Grundsätze zu raten. Unter § 2 sollen dementsprechend Vorschläge zur Strukturierung der rechtsvergleichenden Untersuchungen des EGMR im Rahmen der KonsensErmittlung unterbreitet werden. Dabei soll insbesondere auf die Frage eingegangen werden, wie der EGMR internationales Soft Law, speziell Europaratsdokumente, bei der Konsens-Prüfung verwenden sollte.

§ 1 Das Erfordernis einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung Angesichts der dargelegten Ergebnisse der empirischen Untersuchung mag bezweifelt werden, ob die Konsens-Ermittlung überhaupt methodisch erfolgt.5 Dieser Umstand ist Anlass für in der Literatur oftmals geäußerte prozedurale Kritik am Kriterium des europäischen Konsens,6 die auch bereits im Rahmen dieser Arbeit anklang und im vorliegenden Abschnitt eingehend ausgeführt werden soll. Berücksichtigt werden muss dabei jedoch auch eine Erwägung, die für einen (deutschen) Juristen auf den ersten Blick nur schwer nachvollziehbar sein mag: (Warum) muss die Konsens-Ermittlung überhaupt anhand einer festen Methode erfolgen?

A. Herleitung Die Antwort hierauf ist keinesfalls selbstverständlich. Carozza beispielsweise erklärt: „[W]hat comparative law cannot do is precisely what the European Court’s jurisprudence implicitly claims for it. It is not an objective ‚method‘ that yields clear conclusions about the proper scope of uniform international standards. It cannot give us the normative basis for making judgments about when common standards ought to be enforced and when diversity should be given freer play.“7

gerade nicht in einer rein argumentativen Beschäftigung mit der Praxis erschöpft, sondern diese als konstitutiv für die Reichweite eines Konventionsrechts begreift.“). 5  Carozza erklärt daher auch: „I deliberately avoid calling the Court’s exercises either ‚comparative analysis‘ or ‚comparative method.‘ [T] here appears to be little analysis and even less method involved.“, vgl. Carozza, Notre Dame Law Review 73 (1997–1998), 1217, 1219, Fn. 8. 6  Neben der substanziellen Kritik (die an späterer Stelle aufgegriffen wird) stellt die prozedurale Kritik die wesentliche Kritik am europäischen Konsens dar, siehe zu dieser Einteilung Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 115. 7  Carozza, Notre Dame Law Review 73 (1997–1998), 1217, 1219.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

Asche weist darauf hin, dass die Aufgabe des EGMR in der Entscheidung von Einzelfällen besteht, und er „zu methodologischen Rechenschaftslegungen […] weder berufen noch verpflichtet“ ist.8 In der Tat soll der Gerichtshof nach Art. 46 Abs. 1 EMRK über Einzelfälle entscheiden;9 seine Urteile haben inter partes-Wirkung. Warum also können rechtsvergleichende Informationen unter dem Begriff europäischer Konsens nicht schlicht Argumente sein, die der Gerichtshof im Einzelfall nach eigenem Dafürhalten anführen kann, wenn sie seinen Urteilsausspruch unterstützen?10 Zunächst einmal ist zu erwidern, dass der EGMR fraglos stets Einzelfallentscheidungen trifft die nur die jeweils beteiligten Parteien binden,11 die Wirkung der Urteile des EGMR aber dennoch über den Einzelfall hinausgeht.12 Sie entfalten auch für unbeteiligte Europaratsstaaten eine „Orientierungswirkung“13, aufgrund derer mitunter sogar von einer „de facto erga omnes“ Wirkung gesprochen wird.14 8  Asche, Die Margin of Appreciation, S. 3. Nichtsdestotrotz hebt sie daraufhin den Wert einer „heterogenen“ Handhabung der margin of appreciation hervor. 9  Die Urteile müssen dementsprechend unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände gelesen werden, Gerards, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 419. 10  Dzehtsiarou und Tzevelekos wollen dem EGMR denn auch einen Beurteilungsspielraum einräumen, wenn es um die Ermittlung eines europäischen Konsenses geht: „To ensure that EuC is practical, i. e. it can serve its purpose, which is to act as a basis for the Court to establish pan-European standards, ECtHR Judges should enjoy certain discretion in defining what consensus is and what its particular features are, such as the criteria for establishing the moment when consensus is formed and when this becomes applicable.“, Tzevelekos/Dzehtsiarou, in: Benedek/Benoît-Rohmer/Kettemann u.  a. (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights 2016, S. 313, 321. Weiter ist auch bei Rozakis festzustellen, dass er die unmethodische Rechtsvergleichung durch den EGMR nicht unbedingt negativ beurteilt: „[T]he ECHR uses [regional agreements, decisions or recommendations of the Council of Europe] with a certain degree of liberty, usually disregarding whether or not an instrument of the Council of Europe is binding on the respondent State concerned, or, we could add, whether it has binding force at all. Yet, to be fair in regard to the way in which the ECHR assesses the value of these documents, reference to one of them does not automatically lead it to rely solely or exclu­ sively on it in reaching its decisions; the ECHR is free to consider all the material before it, in full knowledge of its legal value and validity, and to decide accordingly. Even trends showing societal reorientations or reappraisal of the status quo may have an impact on the ECHR, which is always open and sensitive to ‚environmental‘ changes.“, Rozakis, Tulane Law Review 80 (2005), 257, 274. 11  Siehe hierzu m. w. N. Gerards, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 409 (siehe hier auch Fn. 8). 12  Siehe auch Stone Sweet/Keller, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of rights, S. 677, 703 f. 13  Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 16 Rn. 8 f. 14  Myjer, in: Flogaitis/Zwart/Fraser (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 37, 45. Vor diesem Hintergrund gibt es auch eine rege



§ 1 Erfordernis einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung243

Dies spricht dafür, die Urteile anhand transparenter methodischer Maßstäbe zu fällen, sodass diese über verschiedene Einzelfälle hinaus auch vergleichbar und kohärent sind. Dies gilt insbesondere für die Große Kammer, die Entscheidungen in besonders wichtigen Fällen trifft, welche eine schwierige Auslegungsfrage oder mögliche Rechtsprechungsänderung indizieren und damit Folgewirkungen für die darauffolgende Rechtsprechung des EGMR haben und auch haben sollen.15 So würde weiter auch eine effektive Implementierung der EMRK-Standards auf nationaler Ebene gefördert,16 welche insbesondere auch von den nationalen Gerichten der Europaratsstaaten abhängt.17 Sind die EGMR-Urteile für nationale Gerichte nachvollziehbar anhand klarer Grundsätze gefällt, können diese die hier festgelegten Menschenrechtsstandards idealerweise schon auf nationaler Ebene umsetzen,18 sodass Diskussion um den EGMR als Verfassungsgericht Europas, siehe hierzu eingehend Keller/Kühne, ZaöRV 76 (2016), 245 (insbesondere S. 255 ff. sowie 293 ff.); Wildha­ ber, in: Christoffersen/Madsen (Hrsg.), The European Court of Human Rights be­ tween Law and Politics, S. 204, 226 ff.; Ziemele, in: Spielmann/Tsirli/Voyatzis (Hrsg.), La Convention européenne des droits de l’homme, un instrument vivant/The European Convention on Human Rights, a Living Instrument, S. 741, 750 ff. Der EGMR bezeichnete die EMRK in EGMR (Große Kammer) – Loizidou v. Turkey, 23.03.1995 – 15318/89, Rn. 75, als „constitutional instrument of European public order“. Aufgrund der klaren Grenzen, die einer möglichen Verfassungsgerichtsbarkeit durch den EGMR gesetzt sind (vgl. hierzu Keller/Kühne, ZaöRV 76 (2016), 245, 302 ff.), erscheint eher die Einordnung als „Quasi-Verfassungsgericht“ zutreffend (Keller/Kühne, ZaöRV 76 (2016), 245, 306. Garlicki spricht auch von einer „constitutional component“ des EGMR, Garlicki, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 389, 390). 15  „[The Grand Chamber] has the central function of ensuring overall coherence and consistency of the court’s case law.“, Harris u. a., Law of the European Convention on Human Rights, S. 129. Siehe weiter auch Gerards, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 426. 16  Siehe hierzu weiter Helfer, Cornell International Law Journal 23 (1993), 133, 165. Regan, Trinity College Law Review 14 (2011), 51, 57 betont dies weiter auch im Hinblick auf die Beschwerdeführer: „If the way in which the consensus is measured is uncertain and ambiguous, then those asserting their rights will have difficulty trying to prove the presence of a consensus.“ 17  So beispielsweise auch Huls, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 3, 16. 18  So auch Thomassen, in: Flogaitis/Zwart/Fraser (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 96, 101: „The importance of legal certainty is vital if national courts are expeccted to follow and apply established Strasbourg case law and to do so without the fear that it may be overturned or departed from easily. National courts should be able to predict to a large extent the outcome of proceedings in Strasbourg.“ Siehe weiter auch Gerards, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 427: [I]t is clear that it is sometimes difficult for national courts to decide fundamental rights cases, precisely because the case law of the Court is highly individualised. Indeed, it would seem hardly reasonable to expect inexperienced national judges to distil general criteria from the Court’s

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

keine Beschwerde vor dem EGMR notwendig wird.19 „Since voluntary acceptance of the Court’s case law is the main avenue for the Court to work changes in national law and practice, it is of great importance that it makes clear and acceptable choices and applies a coherent and well-reasoned set of interpretive principles.“20 Neben diesen generellen Argumenten für methodische Rechtsfindung durch den EGMR sprechen insbesondere legitimatorische sowie rechtsstaatliche Erwägungen konkret auch für eine methodische Anwendung des Konsens-Kriteriums. Einige Beobachter des EGMR kritisieren dessen Rechtsprechung als zu progressiv und nehmen den EGMR mehr als politischen denn juristischen Akteur wahr, dessen Rechtsprechung auf eigenen Ansichten der Richter beruhe und unvorhersehbar sei.21 Derartige Kritik wird auch konkret hinsichtlich der Konsens-Ermittlung des EGMR geäußert. Zwart wirft dem EGMR vor: „The Court makes policy judgments while using standards like European consensus to rationalise them.“22 Murray befindet: case law that it can apply in its own case law, if the Court itself uses a purely casebased approach.“ Siehe weiter auch Kerr, in: Flogaitis/Zwart/Fraser (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 104, 105. 19  Fraglos ist dies nicht der einzige Grund für eine mangelnde Umsetzung der EMRK in den Europaratsstaaten, siehe hierzu auch Fraser, in: Flogaitis/Zwart/Fraser (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 192, 207 ff. 20  Gerards, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 436. 21  Über derartige Kritik von Richtern aus einzelnen Europaratsstaaten sowie Politikern siehe etwa Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 72 ff. m. w. N. Vgl. auch Wildhaber, in: Christoffersen/Madsen (Hrsg.), The European Court of Human Rights between Law and Politics, S. 204, 205 f., der etwa auf die Stellungnahme des russischen Außenministeriums zum Urteil in Ilascu v. Russia verweist, in der Moskau „bewilderment at the inconsistency, contradictoriness, subjectivity and the obvious political engagement of the European Court of Human Rights in Strasbourg“ ausdrückte (siehe Statement by the Russian Ministry of Foreign Affairs Concerning the Ruling of the European Court of Human Rights in Strasbourg on the „Case of Ilascu“, 08.07.2004, https://www.mid.ru/en_GB/foreign_ policy/news/-/asset_publisher/cKNonkJE02Bw/content/id/465018 (abgerufen am 28.08.2020)). Hartwig, EuGRZ 44 (2017), 1, 23, spricht von einem „missionarischen Drang [des EGMR] einen idealen Rechtsraum zu schaffen, unbekümmert um die Grenzen seines Auftrags und die rechtlichen Grundlagen seiner Argumente.“ Als symptomatisch für die mitgliedstaatliche Skepsis kann auch die zunehmende Hervorhebung des Prinzips der Subsidiarität der EMRK zu nationalen Mechanismen durch die Europaratsstaaten erachtet werden, die insbesondere in der Brigthon Declaration von 2012 (sowie auch in der Copenhagen Declaration von 2018, siehe insbesondere Nr. 31) deutlich wurde. Art. 1 des noch nicht in Kraft getretenen ZP 15 sieht vor, die Begriffe Subsidiarität und margin of appreciation in die Präambel der EMRK aufzunehmen. 22  Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 79.



§ 1 Erfordernis einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung245 „There is also a more flexible, if not lax, approach to the objective indicia used to discern consensus. From the inception of the consensus doctrine, the Court has taken a flexible approach, relying not only on specific legislation in the national systems of the Contracting Parties but also looking to other sources such as international conventions.“23

Die hieraus folgende Inkohärenz der Konsens-Ermittlung kritisieren zahlreiche weitere Autoren.24 Brauch wirft dem EGMR vor: „The ECHR’s experience of over thirty years in hundreds of cases demonstrates that it is simply unable to articulate and apply a clear, predictable, and workable consensus standard.“25 Wildhaber, Hjartarson und Donnelly beschreiben ihren Eindruck, wonach: „It appears that the Court is hoping to keep the concept fuzzy enough to avoid the consequences for adopting one particular theory of the many held by judges and academics.“26 Regan erklärt: „In terms of offering a comprehensive definition of consensus, the Court has been at best unintentionally ambiguous and at worst deliberately equivocal.“27 Wie bereits in der empirischen Analyse deutlich wurde, gab es auch von EGMR-Richtern (in Sondervoten) immer wieder Kritik an einer unklaren oder inkonsistenten Verwendung des Konsens-Kriteriums. Zugleich birgt der europäische Konsens aber nach der hier vertretenen Auffassung grundsätzlich ein großes Potenzial, Rationalität in EGMR-Urteile zu bringen – sofern er transparent und kohärent nach festen Maßstäben angewendet wird. Von der Grundannahme ausgehend, dass methodische Argumentation „Rechtsprobleme rational überzeugend zu begründen“28 und vertretbare Entscheidungen hervorzubringen29 vermag, kann der europäische Konsens bei Ausschöpfung seines Potenzials als rechtsvergleichender Me23  Murray, in: EGMR (Hrsg.), Dialogue between Judges: „The role of consensus in the system of the European Convention on Human Rights“, S. 25, 36. Er bemängelt angesichts des Urteils in Marckx v. Belgium die „elasticity of the consensus doctrine, a laxity which, it might be said, has become ever more marked in the jurisprudence of the court in the three decades since that decision“, S. 37. 24  Neben den sogleich genannten siehe weiter auch Helfer, Cornell International Law Journal 23 (1993), 133, 136; Regan, Trinity College Law Review 14 (2011), 51, 55: „The ambiguity surrounding the meaning of consensus means that predicting the outcome of an individual case is a hazardous exercise.“; Asche, Die Margin of Appreciation, S.  143 f. 25  Brauch, Howard Law Journal 52 (2009), 277, 288. 26  Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 249. Dies geben auch Kapotas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 10 zu bedenken, wenngleich sie dies nicht (erkennbar) als Kritik äußern. 27  Regan, Trinity College Law Review 14 (2011), 51, 53. 28  Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 2. 29  Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 11 ff. Er weist damit auch die Vorstellung zurück, es gebe stets nur eine richtige Lösung, vgl. dazu S. 7 ff. Zur Frage der

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

thode willkürlichen Entscheidungen entgegenwirken und so eine wesentliche Komponente rechtsstaatlicher Gerichtsurteile erfüllen.30 In Verbindung damit vermag er gerade vor dem Hintergrund der soeben dargelegten Kritik am EGMR als zu progressiv agierendem Gerichtshof weiter auch die Legitimität31 der EGMR-Urteile zu stärken.32 Denn ein anhand methodischer Grundsätze ermittelter europäischer Konsens wäre durch die mit ihm erfolgende Rückbindung der EGMR-Entscheidung an andere Erkenntnisquellen ein

Gerechtigkeit und dem „inhaltlichen Gerechtigkeitsanspruch juristischer Methoden“ siehe S.  28 ff. 30  Siehe hierzu Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, die die Vereinbarkeit der rechtsvergleichenden Untersuchungen des EGMR mit der Rule of Law untersucht und ihren Erwägungen die „arbitrary use of power“ als „what is generally seen as prohibited by the rule of law“ zugrundelegt, S. 354. Zur Leistungsfähigkeit juristischer Methodenlehre siehe grundlegend Sauer, in: Krüper/Augenhofer/Funke u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, S. 176, 178 ff. („Methodische Standards dienen dazu, den Prozess der Rechtsanwendung zu strukturieren, zu kanalisieren und zu rationalisieren und dadurch die Gesetzesbindung des Rechtsanwenders zu gewährleisten. Dadurch wird dieser Prozess soweit möglich vorhersehbar, jedenfalls aber nachvollziehbar gemacht. Die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung ist eine Forderung der Rechtssicherheit und auch der Rechtsgleichheit; und ihre Nachvollziehbarkeit […] ermöglicht […] die Überprüfbarkeit der Entscheidung und den Anstoß eines recht­ lichen Wandels. Durch all dies erhält und behält die juristische Methodenlehre ihre wichtige rechtsstaatliche Funktion.“, S. 180). 31  Der Begriff Legitimität wird vorliegend mit Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 281, 297, (in Anlehnung an Weber) verstanden als „Akzeptanz“ im Sinne „faktische[r] Anerkennung“. Siehe hierzu weiter auch Thiele, in: Thiele (Hrsg.), Legitimität in unsicheren Zeiten, S. 1, 4 ff. 32  Zur „Method as a basis of legitimacy“ siehe auch Londras/Dzehtsiarou, Great debates on the European Convention on human rights, S. 6 ff. Es gibt viele Faktoren, die die Legitimität richterlicher Urteile fördern; die Frage nach derartigen Faktoren ist komplex und kann und soll hier nicht weiter behandelt werden, siehe hierzu aber Slaughter/Helfer, The Yale Law Journal 107 (1997), 273, 300 ff. Die folgenden Ausführungen erfolgen unterdessen auf der Prämisse, dass eine auf methodischen Grundlagen beruhende Urteilsbegründung die Legitimität der EGMR-Urteile jedenfalls stärkt. In diesem Sinne auch Asche, Die Margin of Appreciation, S. 5; Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 92, sowie (auch konkret hinsichtlich des europäischen Konsenses) Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 143. Wie wertvoll dieser Umstand ist, erschließt sich wiederum auch vor dem Hintergrund der oben dargelegten erforderlichen Umsetzung der EGMR-Rechtsprechung (unter anderem) durch nationale Gerichte. Der ehemalige EGMR-Richter Garlicki erklärt: „The Court understands that it’s judgments will be faithfully followed only if the national actors can be convinced that the Court’s position was right.“, Garlicki, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 389, 394. Hinsichtlich des Werts rechtsvergleichender richterlicher Argumentation (hier allerdings am Beispiel des EuGH) siehe Slaughter/Helfer, The Yale Law Journal 107 (1997), 273, 324 ff. m. w. N.



§ 1 Erfordernis einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung247

Kriterium, das von der persönlichen Meinung der Richter unabhängig ist.33 Eben diese Rückbindung ist schließlich auch der Wert, den die Argumentation mit einem europäischen Konsens für den EGMR hat. Rechtsvergleichung gilt oftmals als objektives Kriterium in der Rechtsfindung;34 aus diesem Grund wird der europäische Konsens von vielen Autoren begrüßt.35 Mahoney und Kondak erklären beispielsweise: „The convention is where law and politics, law and social policy, law and practice, and even law and morals meet. The rulings given by the Court are not simply derived from orthodox legal reasoning of the kind applicable to black letter law, but necessarily invole a dose of value-judgment. Hence the desirability, in the adjudi­ cative process under the convention, of relying on empirical and objective consid­ erations such as identifiable trends in national or international legislation.“36

Sie sehen den europäischen Konsens dementsprechend als „convincing and reliable interpretative technique“, die Objektivität in die Entscheidungsfindung bringe.37 Genau hier liegt also der Grund für das Erfordernis einer methodischen Vorgehensweise bei der Ermittlung eines europäischen Konsenses. Andern33  Bates, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 42, 45, bezeichnet den europäischen Konsens als „key foundation upon which Strasbourg’s legitimacy was built“. Siehe weiter auch Helfer, Cornell International Law Journal 23 (1993), 133, 141 f. 34  Konkret zum europäischen Konsens Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 42; siehe weiter Rubel, Entscheidungsfreiräume in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes, S. 91; Ulf­ stein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 92 (hinsichtlich der Heranziehung internationaler Übereinkommen); van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 460 ff.; Brems, Human Rights: Universality and Diversity, S. 419. Vgl. in diesem Sinne auch Simma, in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 46, 46 (im Hinblick auf die Berücksichtigung von nachfolgender Staatenpraxis nach der WVK): „While it is possible to manipulate the other methods more or less according to the desired outcome, and while one can make interpretation arrive where one’s preconceptions […] of what the treaty ought to prescribe want it to arrive, and then garnish the result with that wonderful formula you find in art 31 (1), if there exists – and this a matter of fact – subsequent practice or a subsequent agreement, there is, lege artis, simply no way to get around it.“ (Erste Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 35  Neben den sogleich genannten siehe weiter auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 142; Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 92. 36  Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 123 f. (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 37  Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 120.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

falls ist der europäische Konsens lediglich ein weiteres wertendes Kriterium in der Rechtsprechung des EGMR, das die Überzeugungskraft von dessen Urteilen nicht nennenswert stärken kann.38 Wenn rechtsvergleichende Informationen nur wertende Argumente sind, kann dem Konsens-Kriterium derselbe Vorwurf gemacht werden, den Christoffersen zur margin of apprecia­ tion-Doktrin geäußert hat:39 Warum hat der EGMR es überhaupt eingeführt? Indem mit dem europäischen Konsens eine objektive Entscheidungskomponente suggeriert wird,40 welche dann aber letztlich ebenfalls der Wertung des Gerichtshofs unterliegt, birgt eine unmethodische Konsens-Bestimmung umgekehrt sogar die Gefahr, dass die Vorwürfe einer willkürlichen Rechtsfindung hierdurch noch weiter unterfüttert werden.41 So fragt Murray zu Recht: 38  Siehe in diesem Zusammenhang (hinsichtlich der „evolutive and dynamic interpretation“) auch Gerards, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 435: „[T]he ECtHR’s meta-principle is highly flexible and adaptable and is often used as a rhetorical tool, either to justify an interpretation that is highly protective and progressive, but contrary to the wishes of certain member states, or to justify an interpretation that is conservative in character, but clearly respects the European divergence of opinions. Having regard to its particular problematic, the Court’s pragmatic and flexible use of the principle is understandable and perhaps even reasonable. At the same time, it is clear that the Court’s meta-principle lacks force, to the extent that the Court’s judgments do not derive persuasive and legitimising power from its use. In practice, the Court will have to make up for the meaninglessness of the evolutionary method by providing elaborate substantive arguments […].“ 39  Siehe erneut „Zweiter Teil, § 2 C. II. 2.“ 40  Rechtsvergleichende Informationen für sich werden bereits als „Fakten“ unter „The facts“ dargelegt; in Lambert v. France erklärte der Gerichtshof sogar schon in „The facts“, dass ein Konsens vorliege EGMR (Große Kammer) – Lambert a. o. v. France, 05.06.2015 – 46043/14, Rn. 72; ähnlich auch in EGMR (Große Kammer) – Kart v. Turkey, 03.12.2009 – 8917/05, Rn. 54. Dies ist unterdessen ein Vorgehen, das zu kritisieren ist – wenngleich die vorliegende Arbeit für eine feste Methodik bei der Konsens-Findung argumentiert, so wurde anhand der obigen Urteilsanalyse wohl unverkennbar, dass das Bestehen oder Nichtbestehen eines europäischen Konsenses eine oftmals hochumstrittene Frage bei der Urteilsfindung ist. Dies wird in zahlreichen abweichenden Meinungen deutlich. Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Joint dissenting opinion von Richter Wildhaber und sechs anderen, Rn. 12: „[I]n our view, the suggestion that the States had to be afford­ed a margin of appreciation owing to the absence of a common denominator between their domestic laws simply does not tally with the extracts of comparative law on which the Court itself relies.“ Die Feststellung eines europäischen Konsenses ist mithin Teil der Urteilsbegründung und sollte daher auch unter dem Punkt „The law“ vorgenommen und diskutiert werden. 41  In Verbindung damit könnte auch der Vorwurf einer unterschiedlichen Behandlung verschiedener Europaratsstaaten durch den EGMR genährt werden. Beispielsweise kritisierte Pinto de Albuquerque in seinem Sondervotum in EGMR (Große Kammer) – Correia de Matos v. Portugal, 04.04.2018 – 56402/12, Rn. 18, die Ablehnung eines europäischen Konsenses im vorliegenden Fall als „distort[ion of]



§ 1 Erfordernis einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung249

„Firstly, is the Court relying on consensus as a determinative factor in many of its decisions or is consensus simply a mask for engaging in the process of a substantive analysis of the matter in issue? Secondly, if the latter is the case, why is the doctrine of consensus invoked at all?“42 Es ist eine Sache, auf andere Rechtsordnungen (nationale oder internationale Regelungen) zu verweisen, um der zuvor mithilfe (anderer) rationaler Kriterien beziehungsweise Methoden erreichten Entscheidung mehr Gewicht zu verleihen; eine andere Sache ist es jedoch, ein Kriterium „europäischer Konsens“ einzuführen, dieses als determinierend für die Auslegung und Anwendung der EMRK zu bezeichnen43 und mit ihm zu suggerieren, sich an nationalem Recht der Europaratsstaaten (und internationalen Übereinkommen) zu orientieren, wenn sich dahinter jedoch wiederum nur eine ergebnisorientierte Auswahl an rechtsvergleichenden Informationen verbirgt.44 Wenn der EGMR sich auf das (vermeintlich) objektive Konsens-Kriterium stützt und damit eine objektive european consensus“ (Überschrift) und erklärte im Hinblick auf das Urteil in Christine Goodwin v. The United Kingdom: „In a subject as contentious as the legal recognition of perceived gender, the Grand Chamber overruled a previous precedent in the face of a ‚continuing international trend in favour of legal recognition … of the new sexual identity of post-operative transsexuals‘. It should be pointed out that on this topic the Court noted that ‚out of thirty-seven countries analysed only four […] did not permit a change to be made to a person’s birth certificate‘. The numbers are almost identical to the instant case, although they led to quite different conclusions. One is left to wonder why Portugal is being treated differently from the United Kingdom.“ Zur Gefahr von beziehungsweise Kritik an „double standards“ siehe weiter auch das Sondervotum von Pinto de Albuquerque in EGMR (Große Kammer) – Hutchinson v. The United Kingdom, 17.01.2017 – 57592/08, Rn. 38, sowie die Joint dissenting opinion der Richter Ziemele, Sajo, Kalaydjieva, Vucinic und De Gaetano in EGMR (Große Kammer) – Animal Defenders International v. The United Kingdom, 22.04.3013 – 48876/08. 42  Murray, in: EGMR (Hrsg.), Dialogue between Judges: „The role of consensus in the system of the European Convention on Human Rights“, S. 25, 39. 43  In diesem Sinne auch von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 332. 44  Carozza merkt in diesem Sinne an, dass die rechtsvergleichenden Untersuchungen des EGMR dafür, dass diese in vielen Fällen als entscheidendes Argument verwendet werden, „remarkably casual, superficial and incomplete“ bleiben, Carozza, Notre Dame Law Review 73 (1997–1998), 1217, 1224. Zwart erklärt hinsichtlich der dynamischen Auslegung der EMRK: „The main concern of judges in interpreting a founding document should be to make this exercise predictable and transparent, to prevent them from being tempted to read their own policy preferences into the document. […] Therefore, the members of the US Supreme Court rely on yardsticks like ‚Originalism‘ or ‚Active liberty‘. Lacking such interpretative tools, the ECHR creates the impression that it is moving the goal posts, which makes it look like a political rather than a judicial organ. The Court will argue that the so-called consensus approach serves such a standard. […] However, this consensus method has several flaws.“, Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 89.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

und verlässliche Komponente in seiner Urteilsfindung suggeriert, diese jedoch inkonsequent anwendet, erweist er der Rationalität seiner Rechtsprechung einen Bärendienst. Vor diesem Hintergrund kann die vorliegende Forderung nach einer methodischen Heranziehung rechtsvergleichender Informationen auch nicht ohne weiteres auf die rechtsvergleichende Argumentation des Gerichtshofs insgesamt übertragen werden; bloße Hinweise auf einzelne rechtsvergleichende Informationen, die lediglich von einer „Inspiration“ des Gerichtshofs zeugen, können auch als solche in das Urteil aufgenommen werden, sofern das Ergebnis anhand anderer Auslegungsmethoden beziehungsweise Rechtsfiguren ra­ tional begründet werden kann.45 Umgekehrt kann die Forderung nach einer methodischen Heranziehung rechtsvergleichender Informationen auch auf eine rechtsvergleichende Argumentation übertragen werden, die nicht ausdrücklich unter dem Begriff des europäischen (oder internationalen) Konsenses durchgeführt wird, wenn sich die Urteilsbegründung maßgeblich auf diese Argumentation stützt. Insofern ist auch die in dieser Arbeit bereits mehrfach zur Sprache gekommene Frage, ob die rechtsvergleichenden Ausführungen des EGMR mit der Konsens-Methode gleichgesetzt werden können, oder der Gerichtshof diese als außerhalb hiervon betrachtet, letztlich gar nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, ob die Ausführungen als maßgebliche Stütze der ­Urteilsbegründung fungieren; für diesen Fall sollte die rechtsvergleichende Untersuchung anhand methodischer Grundsätze erfolgen. Fraglos muss die Rechtsprechung des EGMR flexibel sein, alle einzelfallrelevanten Aspekte beachten und die nationalen Besonderheiten und Interessen der Staaten – wie aber auch der Individuen – berücksichtigen. Die Vorstellung eines Richters als „la bouche qui prononce les paroles de la loi“ ist überholt.46 In einigen der oben dargestellten Fälle war es inhaltlich daher auch durchaus nachvollziehbar, dass der EGMR ein bestimmtes Ergebnis erzielte – entweder weil alles andere für einen effektiven Menschenrechtsschutz fatal gewesen wäre,47 oder aber weil der Fall große politische Spreng45  Insofern ist erneut auf das einleitend angemerkte Erfordernis einer Differenzierung zwischen Verweisen, die das Urteil maßgeblich stützen, und Verweisen, die lediglich zusätzlich zu anderen Gründen hinzukommen, zu verweisen. Auch für die letztgenannte Art der Aufnahme internationaler Übereinkommen in die Urteilsbegründung kann jedoch kritisch angemerkt werden, dass diese – sofern der EGMR ihre Rolle für die Urteilsbegründung nicht klar formuliert – so zumindest „einen Schein von Legitimation erwecken, über den sie nicht verfügen“, Grabenwarter, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges – Fluch oder Segen, S. 45, 70. 46  Siehe dazu Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 82  ff. m. w. N. Zu dem „case by case-approach“ des EGMR siehe auch Gerards, in: Huls/ Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 407, 418 ff. 47  Wie beispielsweise in Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, vgl. erneut „Dritter Teil, § 5 C. I.“



§ 1 Erfordernis einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung251

kraft barg.48 Gerade aufgrund der Bedeutung derartiger Entscheidungen muss der Gerichtshof hier jedoch nachvollziehbar und rational argumentieren, um dem Eindruck entgegenzuwirken, selbst als politischer Akteur aufzutreten. Das Konsens-Kriterium kann hier als rationales Argument dienen. Es gibt – und dies ist ein wesentlicher Aspekt – schließlich auch andere Wege, die nationalen Interessen und Besonderheiten des betreffenden Staates sowie die menschenrechtlichen (individuellen) Interessen und Besonderheiten des Beschwerdeführers in die Entscheidung mit einzubeziehen: So ist der europäische Konsens nur ein Kriterium zur Bemessung der margin of appre­ ciation neben vielen weiteren. Für die Auslegung der EMRK gibt es andere Methoden, die herangezogen werden können. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung können andere materielle Faktoren eine Rolle spielen. Nach der hier vertretenen Auffassung ist der europäische Konsens in all diesen Zusammenhängen hingegen gerade kein Kriterium, das der EGMR flexibel handhaben sollte. Vielmehr sind die genannten Möglichkeiten schon flexibel genug – was schließlich auch der Grund für starke Kritik vieler Autoren an der mar­ gin of appreciation-Doktrin,49 der Verhältnismäßigkeitsprüfung50 sowie der evolutiven Auslegung der EMRK51 ist. Gerade auch vor dem Hintergrund dieser Kritik kann der europäische Konsens hier ein rationalisierendes Kriterium sein52 – sofern es denn methodisch verstanden und angewendet wird. Kurzum plädiert diese Arbeit dafür, die verschiedenen relevanten Erkenntnisquellen anhand methodischer Grundsätze auszuwerten und besondere Umstände des Einzelfalls an anderer Stelle der Urteilsfindung zu berücksichtigen. Der EGMR sollte sich vorzugsweise ausdrücklich entgegen eines vorliegenden europäischen Konsenses entscheiden, anstatt das Konsens-Kriterium zu verbiegen, um zu einer bestimmten Entscheidung zu gelangen; denn bei letzterem Vorgehen muss er sich erst recht mit dem Vorwurf konfrontieren lassen, eigene Werturteile unter dem Mantel der Objektivität des europäischen Konsenses durchzusetzen. Wenn er sich entgegen eines europäischen Konsenses entscheidet, muss er sich diesem Vorwurf zwar auch stellen – in diesem Fall gilt es dann aber schlicht, dieses Ergebnis anhand überzeugender Argumente im Rahmen anderer anerkannter Auslegungsmethoden nachvollziehbar zu begründen. Da eine ergebnisorientiert zusammengestellte Auswahl 48  Wie

beispielsweise in S.A.S. v. France, vgl. erneut „Dritter Teil, § 5 C. III. 6.“ bereits „Erster Teil, § 2 B.“; weiter Asche, Die Margin of Appreciation, S.  5 f. sowie 49 ff. m. w. N. 50  Siehe bereits „Erster Teil, § 2 A.“ 51  Siehe hierzu etwa Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 88 f. 52  So auch ausführlich und m. w. N. Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 129 ff. Explizit zur margin of appreciation so auch Brems, Human Rights: Universality and Diversity, S. 419. 49  Siehe

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

nationaler beziehungsweise internationaler Rechtserkenntnisquellen nicht zur Begründung eines Urteils ausreicht, müsste der Gerichtshof aber ohnehin in der Lage sein, eine solche Begründung zu präsentieren. Fraglos wird auch eine Entscheidung entgegen eines europäischen Konsenses stets stark kritisiert.53 So etwa in Hirst v. The United Kingdom, wo der EGMR erklärt hatte: „[E]ven if no common European approach to the problem can be discerned, this cannot in itself be determinative of the issue.“54 Diese Kritik ist auch berechtigt, wenn der EGMR seine Entscheidung nicht nachvollziehbar begründen kann.55 Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Kritik an Hirst v. The United Kingdom vor allem auch angesichts des in Großbritannien teils unliebsamen Ausgangs der Entscheidung zugunsten der Minderheit Strafgefangener aufkam. In S.A.S. v. France beispielsweise wurde umgekehrt entgegen des Schutzes der Minderheit muslimischer Frauen zugunsten des Vollverschleierungsverbots entschieden, und dies auf das Ergebnis einer – wie bereits erläutert56 – nicht überzeugenden Konsens-Prüfung gestützt. Hätten die rechtsvergleichenden Instrumente für ein Vollverschleierungsverbot gesprochen, der Gerichtshof das Vorliegen eines europäischen Konsenses aber abgelehnt und das Vollverschleierungsverbot als Konventionsverletzung verurteilt, hätte sich Kritik an diesem Ergebnis mutmaßlich auch auf diese unüberzeugende Konsens-Prüfung gestützt. Was sollen diese Beispiele zeigen? Sie verdeutlichen, dass mit einer unmethodischen Konsens-Prüfung relativ wenig gewonnen, aber zugleich potenziell relativ viel verloren ist: Gewonnen ist schlicht ein weiteres materielles Argument, das jedoch ohnehin nur neben weiteren Argumenten für die Entscheidungsbegründung genügt und der Überzeugungskraft des Urteils keinen nennenswerten Mehrwert verleiht; zugleich untergräbt eine unmethodische, 53  Siehe etwa Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 91. 54  EGMR (Große Kammer) – Hirst v. The United Kingdom (No. 2), 06.10.2005 – 74025/01, Rn. 81. Dies kritisierten die Richter Wildhaber, Costa, Lorenzen, Kovler und Jebens in ihrer Joint dissenting opinion, Rn. 6. Siehe weiter Davis, in: Flogaitis/ Zwart/Fraser (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 65, 67 ff., sowie Zwart: „[T]o overturn the prisoner voting ban in Hirst, [the Court] had to bend the consensus rule“, Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 79. Dzehtsiarou stellt fest, dass die Entscheidung in Großbritannien zu einer Debatte über die Legitimität des EGMR verwandelt wurde, vgl. Dzehtsiarou, in: Flogaitis/Zwart/Fraser (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 116, 122. 55  Dass diese Möglichkeit besteht, zeigte sich etwa in Üner v. The Netherlands, wo der Gerichtshof anhand der Wortlautgrenze entgegen rechtsvergleichender Informationen entschied, vgl. erneut die Darstellung des Falles unter „Dritter Teil, § 5 C. III. 6.“ 56  „Dritter Teil, § 5 C. III. 6.“



§ 1 Erfordernis einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung253

inkohärente und einzelfallabhängige Konsens-Prüfung das legitimierende Potenzial des Kriteriums europäischer Konsens insgesamt.

B. Resümee Eine einzelfallabhängige Argumentation mit dem europäischen Konsens unter dem Schleier methodischer Urteilsfindung ist abzulehnen. Die willkürliche Zitierung rechtsvergleichender Materialien zur Begründung eines europäischen Konsenses richtet im Zweifel mehr Schaden als Nutzen an, verstärkt sie doch den Eindruck des EGMR als „kreativem Gerichtshof“57, dem – überspitzt ausgedrückt – für jeden beliebigen Urteilsausspruch eine Begründung einfallen wird.58 Der EGMR hat bereits ausreichend (– manche würden sagen zu viele –) andere flexible und wertende Elemente in seiner Rechtsprechung. Der europäische Konsens vermag dagegen als vergleichbar objektives Kriterium Rationalität zu vermitteln. Die Konsens-Ermittlung sollte daher transparent und anhand methodischer Grundsätze kohärent erfolgen.59 Die Forderung nach mehr Transparenz bei der Konsens-Prüfung wird von vielen Autoren geteilt.60 Der Gerichtshof sollte zumindest erklären, warum er eine bestimmte Abstraktionsebene der rechtsvergleichenden Fragestellung gewählt hat,61 und offenlegen, auf welcher Grundlage seine rechtsvergleichenden Untersuchungen basieren.62 Grundsätzlich würde die über die Zu57  Letsas,

EJIL 15 (2004), 279, 279. auch Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 84 und 91. 59  Diese Anforderungen legt auch Ambrus zugrunde, die die rechtsvergleichende Argumentation des EGMR im Hinblick auf die „formal conception of the rule of law“ untersucht, siehe Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 355 f. Siehe weiter Brems, ZaöRV 56 (1996), 240, 285. Auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 11, fordert grundsätzlich Transparenz und Objektivität, steht der Etablierung einer rechtsvergleichenden Methodik aber wie sogleich dargelegt skeptisch gegenüber. 60  Siehe etwa Thomassen, in: Huls/Adams/Bomhoff (Hrsg.), The Legitimacy of Highest Courts’ Rulings, S. 399, 403 f. Staes schreibt: „Regardless of whether one is in favor of rigid or of flexible interpretation methods, it is important, under all circumstances, that the ECtHR develops insights into the rationale and characteristics of its interpretation process and to share such knowledge with its audience, for the sake of transparency.“, Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 30. Ähnlich Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 366: „[T]he court should at least clarify why it has chosen a particular source of comparison.“; weiter Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 265. 61  So auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 15. 62  Hier ist erneut kritisch auf den Fall Kafkaris v. Cyprus („Dritter Teil, § 5 C. III. 5.“) hinzuweisen, wo der Gerichtshof unter anderem anhand der Rechtslage in den 58  So

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

sammenfassung der rechtsvergleichenden Informationen in „The facts“ hi­ nausgehende Veröffentlichung der rechtsvergleichenden Studien für mehr Transparenz sorgen.63 Dies als Teil des Beratungsgeheimnisses geheim zu halten64 überzeugt nicht. Wenn der Gerichtshof seine Entscheidungsgrundlage in „The facts“ nicht aufführt, und die Entscheidung über das Vorliegen eines europäischen Konsenses überdies womöglich noch unter den Richtern umstritten ist, vermag dieses Vorgehen den Eindruck zu vermitteln, er lege die Informationen bewusst nicht offen, um keine Aufmerksamkeit auf die Fragwürdigkeit seiner Auslegung zu lenken.65 Über die Forderung nach mehr Transparenz hinaus sollte der Gerichtshof jedoch auch kohärenter bei der Konsens-Prüfung vorgehen, und diese an festen Kriterien orientieren.66 Diese Auffassung wird nicht von allen Autoren geteilt; Senden beispielsweise bezweifelt die Möglichkeit der Festlegung von Standards zur Bestimmung eines europäischen Konsenses.67 Wie soEuroparatsstaaten argumentiert, entsprechende rechtsvergleichende Informationen jedoch nicht in „The facts“ dargelegt hatte. Die Offenlegung der rechtsvergleichenden Untersuchung unterblieb auch in anderen Fällen; so etwa in EGMR (Große Kam­ mer) – Dickson v. The United Kingdom, 04.12.2007 – 44362/04. Kritisch hierzu (auch mit weiteren Beispielen) auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 84 ff. 63  Auch Thomassen, in: Flogaitis/Zwart/Fraser (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 96, 101, ist der Auffassung, dass diese Berichte veröffentlicht werden könnten. 64  Siehe Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 125 f. 65  Dzehtsiarou erklärt ähnlich, eine rechtsvergleichende Argumentation ohne Darlegung der genauen rechtsvergleichenden Informationen „makes the Court’s findings appear groundless.“, Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 84. 66  So auch Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 255 f. Gless und Martin sehen ein „set of binding, broad, yet rigid, rules governing [the process of comparison]“ als „ideal“, Gless/Martin, Bergen Journal of Criminal Law and Criminal Justice 1 (2013), 36, 37. Auch van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 463 f., 469, fordern die Einführung von Parametern, damit die Auswahl relevanter internationaler Übereinkommen nicht in einer rein willkürlichen Entscheidung getroffen wird. 67  „It might not be possible to draw up a general standard to determine when one can speak of consensus. This is not a mathmatical exercise and the context of a specific case cannot be ignored.“, Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 265. Ähnlich auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, der lediglich das Erfordernis von Transparenz hervorhebt und darüber hinaus ausführt: „[Can] consensus based on international law trump a lack of european consensus[?] It is nearly impossible to answer [this] question[…] in the abstract.“ (S. 58). „It is not suggested that the Court should establish fixed and inflexible rules in order to find a balance between these two types of consensus.“ (S. 59). Siehe allerdings jüngst Dzehtsiarou, Georgetown



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung255

gleich ersichtlich wird, kann in der Tat keine „mathematische“ Methode zur Ermittlung eines europäischen Konsenses vorgegeben werden; es können aber grundlegende Kriterien sowie Leitlinien aufgestellt werden, anhand derer die Konsens-Prüfung methodisch strukturiert werden kann.68 Diesem Vorhaben widmet sich der folgende Abschnitt.

§ 2 Ausarbeitung einer strukturierten Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung Fraglich ist, nach welchen Maßstäben Kriterien für eine Strukturierung der Konsens-Ermittlung gefunden werden können. Zunächst sind rechtliche Maßstäbe und Grenzen der rechtsvergleichenden Vertragsauslegung aus der WVK in Erwägung zu ziehen (A.). Wie sogleich aufgezeigt wird, ergeben sich hieraus jedoch nur bedingt Anhaltspunkte zur Strukturierung der Konsens-Methode – dementsprechend knapp wird dieser Ansatz ausgeführt. Da­ raufhin werden anhand methodischer Grundlagen der Rechtsvergleichung an den jeweiligen Anwendungsbereichen der Konsens-Methode orientierte Kriterien für eine kohärentere Konsens-Ermittlung entwickelt (B.).

A. Rechtliche Maßstäbe Für die Entwicklung von Kriterien zur Auswahl und Gewichtung relevanter Erkenntnisquellen zur Konsens-Ermittlung sind zunächst die Regelungen zur Auslegung von Verträgen aus den Art. 31 ff. WVK zu beachten. Wenngleich die WVK nach Art. 4 WVK nicht rückwirkend auf Verträge Anwendung findet, die von Staaten geschlossen wurden bevor sie für diese in Kraft getreten ist, hat der EGMR bereits 1985 in Golder v. The United Kingdom festgestellt, dass ihre Vorschriften zur Vertragsauslegung als gewohnheitsrechtlich anerkannte Regelungen69 auch bei der Auslegung der EMRK angewendet werden sollen.70 Journal of International Law 49 (2017), 89, 121 ff., wo er eine bevorzugte Berück­ sichtigung interner vor externen Quellen fordert. 68  Vgl. in diesem Sinne auch Kischel, Rechtsvergleichung, S. 165 f., für den die funktionale Rechtsvergleichung mit dem Verständnis einer „zielgerichtete[n] und planmäßige[n] Vorgehensweise zur Erlangung von zumindest subjektiv neuen Erkenntnissen“ durchaus als Methode bezeichnet werden kann. 69  Vgl. hierzu. Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31, S. 561, Rn. 6. 70  EGMR – Golder v. The United Kingdom, 21.02.1975 – 4451/70, Rn. 29. Zu einigen sprachlichen Relativierungen, die im Ergebnis aber nichts an der Anwendbarkeit ändern, siehe Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 86 f.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

Mitunter greift der Gerichtshof im Zusammenhang mit seiner rechtsvergleichenden Auslegung denn auch die Regelungen zur Vertragsauslegung aus Art. 31 f. WVK auf; dies wurde insbesondere am Urteil Demir and Baykara v. Turkey ersichtlich.71 Dabei äußert er sich jedoch nicht ausdrücklich dazu, inwiefern er die Konsens-Ermittlung damit in die WVK-Bestimmungen einordnet;72 seine Erläuterungen erfolgten jedenfalls nicht explizit in Bezug auf das Konsens-Konzept.73 Hinsichtlich der Frage, inwiefern die Konsens-Ermittlung des EGMR mit den Art. 31 f. WVK vereinbar ist, ist insbesondere denkbar, die Berücksichtigung der verschiedenen Erkenntnisquellen als Ermittlung einer späteren Übung der Vertragsparteien im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK74 bezie71  Vgl.

„Zweiter Teil, § 2 C. I. 1.“ auch Ziemele, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 23, 28. Mitunter wird der europäische Konsens daher auch als autonome Methode eingeordnet (zu dieser von Art. 5 WVK vorgesehenen Möglichkeit siehe Villiger, Commentary on the 1969 ­Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 119); dies erwägt etwa von UngernSternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 328. Ziemele, in: van Aaken/ Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General Internation­al Law, S. 23, hält (neben einer Einordnung des europäischen Konsenses als nachfolgende Staatenpraxis sowie regionales Gewohnheitsrecht) auch ein autonomes Konzept des europäischen Konsenses für denkbar, vgl. S. 36 ff. Ulfstein, in: van Aaken/ Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 85, stellt infolge der Analyse der Ausführungen des EGMR in Demir and Baykara v. Turkey fest, dass „no distincition is made between national and international norms, and […] the combined set of norms seems to be a seperate basis for an evolutive interpretation, which reaches beyond the use of subsequent practice according to VCLT Article 31(3)(b) and systemic interpretation based on VCLT Article 31(3)(c).“ In ILC, First report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 19.03.2013, UN Doc. A/CN.4/660, Rn. 17 wird unterdessen betont, dass der „living instrument“ approach keine Ausnahme von Art. 31–33 WVK darstelle. Letztlich ist die Einordnung als autonome Auslegungsmethode angesichts der Flexibilität und Offenheit der WVKRegelungen zur Vertragsauslegung (siehe dazu sogleich) abzulehnen. 73  So (hinsichtlich des Verweises auf Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK) auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 31. Hinzu kommt die weitere Komplikation, dass er oftmals internationale Übereinkommen berücksichtigt und dabei weder auf Art. 31 f. WVK noch auf die Konsens-Methode verweist. Siehe dazu auch Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 237. 74  In seinen Erläuterungen zur Konsens-Ermittlung in Demir and Baykara v. Turkey verwies der Gerichtshof nicht auf diese Bestimmung; auch ILC, First report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 19.03.2013, UN Doc. A/CN.4/660, Rn. 37, stellt fest, dass der EGMR meist ohne expliziten Verweis auf Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK auf die Rechtslage der Europaratsstaaten verweist. Für eine eingehende Analyse der rechtsvergleichenden Untersuchungen des EGMR im Hinblick auf „subsequent practice“ 72  Vgl.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung257

hungsweise eines ergänzenden Auslegungsmittels nach Art. 32 WVK75 oder im Sinne einer teleologischen Auslegung der EMRK nach Art. 31 Abs. 1 WVK76 einzuordnen. Laut den „Draft conclusions on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties“ der ILC erfordert eine spätere Übung gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK eine Übereinstimmung über die Auslegung des Vertrags, die nicht rechtsverbindlich sein, aber zwischen allen Vertragsparteien bestehen müsse.77 Eine Einordnung der nationalen Rechtslage in den Europaratsstaaten als spätere Übung in diesem Sinne scheint somit für die weit überwiegende Anzahl der Fälle einer Konsens-Prüfung ausgeschlossen, da in den Rechtsfragen, die der Konsens-Untersuchung des EGMR zugrunde liegen, in aller Regel gerade keine Übereinstimmung in allen Europaratsstaaten vorliegt;78 diese Erkenntnisquelle wäre siehe Nolte, in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 210, 244 ff. Zu einer möglichen Einordnung der Berücksichtigung internationaler Übereinkommen zu Art. 31 Abs. 3 lit. b WKV siehe Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83 (insbesondere S.  87 f.). 75  Die ILC differenziert in Report on the work of its 70th session (30.04.– 10.08.2018), UN Doc. A/73/10, Rn. 51, Draft conclusions on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties, Conclusion 4, zwischen späterer Übung im engeren und weiteren Sinne, und ordnet letztere als Übung, die nicht von allen Vertragsparteien vorgenommen wird, bei Art. 32 WVK ein (siehe insbesondere auch den Commentary zu Conclusion 4, Rn. 52, (16)). 76  Vgl. erneut EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 76: „[W]hen [the Court] considers the object and pur­ pose of the Convention provisions, it also takes into account the international law background to the legal question before it.“ (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). Für möglich hält diese Einordnung von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 328 f. Siehe weiter auch Djeffal, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 71, 86 ff. Im Ergebnis ähnlich Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, der den europäischen Konsens bei Art. 31 Abs. 1 WVK einordnet (S. 88) und Art. 31 Abs. 1 WVK als „by far the most important basis for the Court’s use of international instruments in its evolutive interpretation“ bezeichnet (S. 91). Für die Möglichkeit der Berücksichtigung internationaler Übereinkommen bei der teleologischen Auslegung argumentiert (nicht konkret in Bezug auf die EMRK) weiter auch McLachlan, International and Comparative Law Quarterly 54 (2005), 279, 315. 77  Vgl. ILC, Report on the work of its 70th session (30.04.–10.08.2018), UN Doc. A/73/10, Rn. 51, Draft conclusions on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties, Conclusion 10 Abs. 1. 78  Zwar kann auch die stillschweigende Akzeptanz für die Zustimmung einer Vertragspartei ausreichen (vgl. Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 30; ILC, Report on the work of its 70th session (30.04.– 10.08.2018), UN Doc. A/73/10, Rn. 51, Draft conclusions on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties, Conclusion 10 Abs. 2, sowie Rn. 52, Commentaries thereto, Commentary zu Conclusion 10, (12) ff.)

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

also eher als spätere Übung nach Art. 32 WVK einzuordnen.79 Dieselbe Erwägung gilt grundsätzlich auch für internationale Übereinkommen, die nicht mit den Stimmen aller Europaratsstaaten beschlossen wurden80,81 wobei sich hier zusätzlich die Frage stellt, ob diese als zwischen den Parteien anwendbare Völkerrechtssätze im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. c WKV eingeordnet werden können.82 Davon ist bei einer entgegenstehenden nationalen Regelung aber nicht auszugehen. Siehe aber für eine eingehendere Diskussion verschiedener dabei relevanter Aspekte Seibert-Fohr, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 61, 71 ff. Die nationale Rechtslage als Ausdruck der Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung der EMRK einzuordnen, scheint zumindest für den EGMR keine Hürde darzustellen: Er geht offenbar davon aus, dass die Europaratsstaaten stets in dem Bewusstsein ihrer Verpflichtungen aus der EMRK handeln und aus ihrem Handeln dementsprechend Rückschlüsse auf ihr Verständnis über den Gehalt dieser Verpflichtungen gezogen werden können, vgl. ILC, Second report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 26.03.2014, UN Doc. A/CN.4/671, Rn. 14. 79  Siehe insbesondere ILC, Report on the work of its 70th session (30.04.– 10.08.2018), UN Doc. A/73/10, Rn. 52, Commentaries to Draft conclusions on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties, Commentary zu Conclusion 4, (27), sowie ILC, First report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 19.03.2013, UN Doc. A/CN.4/660, Rn. 97 f. Vgl. auch Baade, Der Euro­ päische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 36 ff. m. w. N. Zu der Differenzierung der ILC zwischen späterer Übung im weiteren und engeren Sinne siehe erneut Fn. 75 in diesem Teil. 80  Vgl. auch Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S.  38 ff. 81  In diese Richtung deutet insgesamt auch EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 76: „[T]he common international or domestic law standards of European States reflect a reality that the Court cannot disregard when it is called upon to clarify the scope of a Convention provision that more conventional means of interpretation have not enabled it to establish with a sufficient degree of certainty.“ (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 82  Diese Einordnung durch den EGMR liegt nahe, weil er – sofern er sich denn auf eine genaue Norm der WVK stützt – dafür in der Regel auf Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK verweist. So insbesondere in den „leading cases“ EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 67 und EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 123, in denen er sich eingehender mit der Methodik der Konsens-Ermittlung befasste. Siehe auch Ziemele, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 23, 28: „The Court prefers to approach the developments in State practice at a domestic level or an international scene through Article 31 (3) (c)“. Einige Autoren lehnen die Einordnung von Soft Law unter diese Bestimmung jedoch unter Verweis auf die erforderliche Anwendbarkeit (also eine nach ihrer Auffassung rechtsverbindliche Regelung) beziehungsweise auf die Anwendbarkeit zwischen den Parteien (also die rechtsverbindliche Geltung für alle



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung259

Ungeachtet dieser Erwägungen sind für die vorliegenden Zwecke indes in erster Linie lediglich zwei Feststellungen relevant: Erstens ist die KonsensErmittlung durch den EGMR – wie auch immer sie konkret eingeordnet wird – jedenfalls mit den Vorgaben der WVK vereinbar;83 zweitens ergeben sich hieraus wiederum nur sehr bedingt Maßstäbe für die Konsens-Prüfung.84 Schließlich ist die Auslegung entsprechend der verschiedenen Kriterien85 „a Europaratsstaaten, oder aber zumindest den am konkreten Verfahren beteiligten Staat – siehe hierzu ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, Report of the Study Group of the International Law Commission, finalized by Martti Koskenniemi (13.04.2006), UN Doc. A/CN.4/L.682, Rn. 470 ff.) ab. So Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 433; Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 92 ff.; Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 31 ff.; van Drooghenbroeck, Tulkens und Krenc ordnen die Verweise des EGMR auf „ ‚sources externes‘ “ außerhalb der „logique binaire et formaliste“ von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK ein. Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 88 ff., ist angesichts der undifferenzierten Berücksichtigung von völkerrecht­ lichen Verträgen und Soft Law durch den EGMR der Auffassung, der EGMR fühle sich durch die Grenzen des Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK nicht gehindert, auch über diese Bestimmung hinaus zu gehen. Er ordnet diese Berücksichtigung eher zu einer Auslegung im Sinne der „evolutive intention of the member States“ gemäß Art. 31 Abs. 1 WVK ein (siehe S. 91). Andere Autoren halten die Einordnung von Soft Law unter Art. 31 Abs. 3 lit. c WKV bei einem weiten Verständnis dieser Norm dagegen für möglich. Rietiker, Nordic Journal of International Law 79 (2010), 245, 274 f. erklärt, dass Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK bei der Auslegung multilateraler völkerrechtlicher Verträge mit einer gewissen Flexibilität angewendet werden müsse. Simma und Kill leiten aus dem Erfordernis der Anwendbarkeit kein Erfordernis der Rechtsverbindlichkeit ab, Simma/Kill, in: Binder/Kriebaum/Reinisch u. a. (Hrsg.), International investment law for the 21st century, S. 678, 697. Siehe weiter auch die Darstellung der Debatte bei Broekhuijsen, Bulletin for International Taxation 67 (2013), S. 4 f. 83  Selbst wenn einzelne Erkenntnisquellen, die der EGMR berücksichtigt, nicht als spätere Übereinkunft oder Übung der Vertragsparteien im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. a oder b WVK oder als Übereinkommen nach Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK eingeordnet werden können, ist eine Einordnung bei der teleologischen Auslegung der EMRK im Sinne eines effektiven, an aktuelle Entwicklungen angepassten Menschenrechtsschutzes nach Art. 31 Abs. 1 EMRK denkbar (siehe dazu sogleich unter „Vierter Teil, § 2 B. II. 2. a) bb) (2)“), oder zumindest eine Einordnung bei Art. 32 WVK. 84  Ausgehend von einer Einordnung als teleologischer Auslegung ähnlich Ulf­ stein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 91 f. („[W]hile Article 31 (3) (b) and (c) contains restrictions on which practice and rules can be taken into account, the question arises about what should control evolutive intention based on Article 31 (1).“). Siehe auch Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 252, nach denen die WVK Rechtsvergleichung weder anordne noch verbiete. 85  Auch jener aus Art. 31 Abs. 3 WVK, („in gleicher Weise zu berücksichtigen“), Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 63.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

single combined operation“;86 unter ihnen gibt es keine wie auch immer geartete Rangfolge.87 Lediglich bei einer Einordnung der Erkenntnisquellen bei Art. 32 WVK wären diese als ergänzende Auslegungsmittel zu behandeln.88 Wenn diese Einordnung indes, wie soeben anhand der ILC-Conclusions erwogen, sowohl hinsichtlich eines Rechtsvergleichs zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten als auch hinsichtlich nicht von allen Vertragsparteien beschlossener internationaler Übereinkommen erfolgt, ergibt sich zwischen diesen Erkenntnisquellen wiederum keine grundsätzliche Rangfolge.89 Die Art. 31 f. WVK geben vor diesem Hintergrund lediglich den generellen Rahmen für die Vertragsauslegung vor. Wie Pauwelyn und Elsig erklären, besteht innerhalb dieses Rahmens ein „ample scope for manoeuvre [which] allows different tribunals to prioritize different interpretative methods or elements (e. g. text, context or purpose). […] In addition, the VCLT rules, though generally applicable, are not necessarily exhaustive and […] other additional principles or guidelines may exist or can develop, as part of customary international law or within specific treaty regimes. This gives international tribunals additional flexibility.“90 Mit dem europäischen Konsens 86  UN/ILC, Yearbook of the International Law Commission (1966), Volume II, S. 219 f. (Nr. 8). 87  Siehe hierzu auch Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31, S. 580, Rn. 38; Gardiner, Treaty interpretation, S. 35 ff., sowie insbesondere in Bezug auf die Arbeit der ILC Seibert-Fohr, in: van Aaken/ Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 61, 64 ff. Die einzelnen Bestandteile der „Allgemeinen Auslegungsregel“ können denn auch eng miteinander verbunden sein; siehe insbesondere zum Verhältnis von späteren Übereinkünften und späterer Übung der Vertragsparteien mit der ­teleologischen Auslegung ILC, First report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 19.03.2013, UN Doc. A/CN.4/660, Rn. 51–53. 88  Siehe zu der lediglich unterstützenden Bedeutung dieser Materialien Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 32, S. 618, Rn. 4. Damit würden sie beispielsweise als Bestätigung eines Ergebnisses fungieren, das mit der allgemeinen Auslegungsregel nach Art. 31 WVK erlangt wurde; siehe hierzu Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 446 ff. 89  Die im Einzelfall sicherlich komplexere Einordnung soll hier nicht näher beleuchtet werden. Die vorliegende Arbeit will sich vor allem darauf konzentrieren, die Konsens-Ermittlung unter Einbeziehung der methodischen Grundlagen der Rechtsvergleichung zu strukturieren, wie im folgenden Abschnitt deutlich wird. Die hier angerissenen Aspekte werden dabei aber an relevanten Stellen wieder aufgegriffen. 90  Pauwelyn/Elsig, The Politics of Treaty Interpretation: Variations and Explanations Across International Tribunals, S. 5. In ILC, First report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 19.03.2013, UN Doc. A/CN.4/660, Rn. 9 ff., wird deutlich, welche ver-



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung261

hat der EGMR mithin eine Rechtsfigur zur Auslegung der EMRK anhand verschiedener rechtsvergleichender Erkenntnisquellen entwickelt, die sich in dem von den Art. 31 f. WVK vorgegebenen Rahmen bewegt, ohne dass sich hieraus nähere Vorgaben für die Auswahl und Gewichtung dieser Erkenntnisquellen ergeben. Es gilt darüber hinaus auch anzumerken, dass die Anwendbarkeit der WVKRegelungen auf die margin of appreciation-Doktrin in Frage gestellt werden könnte. Während „[t]he object of interpretation is [t]o determine the meaning of a treaty provision“91, wird mit dieser die Entscheidungskompetenz zwischen dem EGMR und den Europaratsstaaten verteilt. Mit der oben dargelegten Unterteilung Leggs ist der europäische Konsens in diesem Zusammenhang damit ein external reason, der nicht den Schutzgehalt der EMRK an sich betrifft. Vor diesem Hintergrund erscheint es denkbar, die Bemessung der mar­ gin of appreciation nicht als Auslegung im eigentlichen Sinne einzuordnen.92 Bezeichnend hierfür ist auch, dass der EGMR im Rahmen der margin of ap­ preciation-Doktrin nicht auf die WVK verweist.93 Diese Überlegungen müssen jedoch für die Zwecke der folgenden Ausführungen nicht näher ausgeführt werden. Insgesamt kann vielmehr festgehalten werden, dass sich die KonsensErmittlung durch den EGMR jedenfalls im Rahmen des geltenden Rechts bewegt, soweit dieses denn Anwendung findet, ohne dass sich hieraus nähere Vorgaben für eine grundsätzliche Strukturierung der Konsens-Methode ergeschiedenen Schwerpunkte hier gesetzt werden können. Siehe weiter auch McLachlan, International and Comparative Law Quarterly 54 (2005), 279, 310 der Vertragsauslegung als einen „process of legal reasoning“ bezeichnet, bei dem die Relevanz verschiedener Auslegungsregeln variieren kann, sowie Nolte, in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 1, 1 f. 91  Simma/Kill, in: Binder/Kriebaum/Reinisch u. a. (Hrsg.), International investment law for the 21st century, S. 678, 692. Siehe weiter Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31, S. 560, Rn. 2. 92  So wohl auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 226. Gleichwohl wird sie etwa von Benavides Casals, Die Auslegungsmethoden bei Menschenrechtsverträgen, S. 129, als „Element der Auslegung“ eingeordnet. Siehe weiter auch Brems, Human Rights: Universality and Diversity, S. 393: „[T]he margin of appreciation can be seen as technique[…] for the interpretation of the ECHR’s obligations.“; vgl. weiter auch S. 399. 93  Auch die Verhältnismäßigkeitsprüfung mag eher als Vertragsanwendung denn -auslegung eingeordnet werden. Djeffal, Static and evolutive treaty interpretation, S. 335, unterscheidet beispielsweise „balancing“ von dem „process of interpretation“. Zum Unterschied zwischen Vertragsauslegung und -anwendung siehe Gardiner, ­Treaty interpretation, S. 26 ff. Hier stellt der europäische Konsens allerdings immerhin ein internal reason dar, der am Ende ausschlaggebend für die Entscheidung über den Schutzgehalt der EMRK ist. Da insbesondere mit der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ wie dargelegt auch ein textueller Anknüpfungspunkt für die Verhältnismäßigkeitsprüfung besteht, liegt eine Einordnung bei der Vertragsauslegung ebenso nahe.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

ben. Wie der nächste Abschnitt darlegt, bieten jedoch die Grundlagen der Methode(n) der Rechtsvergleichung dafür Anknüpfungspunkte.

B. Orientierung an den methodischen Grundlagen der Rechtsvergleichung: Die Konsens-Ermittlung als rechtsvergleichende Methode Dieser Abschnitt will einen methodischen Rahmen für die Rechtsfigur des europäischen Konsenses aufzeigen, indem er die Konsens-Ermittlung als rechtsvergleichende Methode versteht und sich für deren Strukturierung an den Grundlagen der Rechtsvergleichung orientiert. Anhand dieser werden im Folgenden die Rechtsfigur europäischer Konsens (I.) eingeordnet und Kriterien herausgearbeitet, mit denen eine methodische Konsens-Ermittlung erreicht werden kann (II.). Es wird ein differenzierter Blick auf die KonsensErmittlung geworfen, der sich an den verschiedenen Anwendungsbereichen des europäischen Konsenses orientiert. So eröffnen sich neue Maßstäbe, anhand derer auch viele bereits in der Literatur erarbeitete Erkenntnisse zum europäischen Konsens eingeordnet werden können. I. Grundlagen der Rechtsvergleichung Nachdem soeben das grundlegende Erfordernis nach mehr Kohärenz bei der Konsens-Prüfung dargelegt wurde, gestaltet sich das Vorhaben der Formulierung von Kriterien beziehungsweise Leitlinien für eine rechtsvergleichende Methode der Konsens-Ermittlung nunmehr als Herausforderung. Rechtsvergleichung (‚comparative law‘) ist ein komplexes Gebiet, über dessen Gegenstand, Methodik und Methode(n)94 kontrovers diskutiert wird.95 Mit ihrer Interdisziplinarität96 einhergehend gibt es viele verschiedene He­ rangehensweisen an rechtsvergleichende Untersuchungen.97 Bereits in der 94  Den Unterschied zwischen Methodik und Methode erläutert Husa folgendermaßen: „Method can refer to a very specifically defined scientific study approach in which case methodology refers to a theory on such scientfic methods. A method is in this respect a particular way in which a chain of study steps are taken in a predetermined way […].“, Husa, A new introduction to comparative law, S. 98. 95  „Comparative legal studies, if it has done nothing else, has provoked a number of fundamental questions about methodology.“, Samuel, in: van Hoecke (Hrsg.), Methodologies of Legal Research, S. 177, 178. 96  „[C]omparative law […] sees its place somewhere between the social sciences on the one hand and legal studies on the other“, Michaels, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 339, 344. 97  Siehe hierzu Michaels, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 339, 341; van Hoecke, Law and Method 2015, 1, 8. Die



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung263

Einleitung zu seiner „New introduction to Comparative Law“ muss Husa darauf hinweisen „that there are no generally accepted theoretical frames, established terminology or aims set in comparative law.“98 Zugleich erfreut sich das Thema Rechtsvergleichung zunehmender Beliebtheit; ein Umstand, der auch auf die Praxis rechtsvergleichender Argumentation von (europäischen) Gerichten wie dem EGMR zurückgeführt werden kann.99 Vor allem die verfassungsrechtliche Rechtsvergleichung wird rege diskutiert.100 Viele Aspekte dieser Diskussion sollen im Folgenden auch für die Rechtsvergleichung bei der Auslegung und Anwendung der EMRK erörtert und fruchtbar gemacht werden. Bei einer grundlegenden Einordnung der Praxis des EGMR in die verschiedenen Ansätze stellt sich diese als „micro-comparison“101 dar, die einen funktionalen Ansatz verfolgt102. Hinter dieser auch als „functional method“103 Diskussion um Rechtsvergleichung umfasst dabei ein weites Spektrum an Meinungen, in dem die unter § 1 dargelegten Zweifel an der Möglichkeit einer methodischen Konsens-Ermittlung auch hinsichtlich der (wissenschaftlichen) Rechtsvergleichung generell geäußert werden. Legrand kritisiert besonders drastisch: „To be sure, method, ‚the most effective and most durable anxiety reducing device‘, is the last refuge of the pervasive ‚theotechnical thought‘. Now, this dispositif of control and discipline still informing orthodox comparative legal studies, largely under the influence of the seemingly insatiable (German) homiletic yearning for a dystopian world where epistemic certainty would reign, simply cannot ensure the passage from world to thought, form foreign law to the comparative mind.“, Legrand, The Journal of Comparative Law 10 (2015), 405, 435. 98  Husa, A new introduction to comparative law, S. 1. 99  Zu richterlicher Rechtsvergleichung in menschenrechtlichen Fragen siehe Mc­ Crudden, in: Örücü/Nelken (Hrsg.), Comparative law, S. 371, 371 f.; zu den Entwicklungen (und Herausforderungen) siehe auch Andenæs/Fairgrieve, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 3. Husa, Comparison, S. 9, bezeichnet „the European integration including human rights“ als „pivotal, yet regional, factor behind the rise of comparative public law“. 100  Siehe nur Hirschl, Comparative matters, der auf S. 1–3 die „Renaissance“ verfassungsrechtlicher Rechtsprechung beschreibt und von den „heydays of comparative constitutional law“ spricht (S. 3). 101  Zur Rechtsvergleichung auf „micro-level and macro-level“ siehe Husa, A new introduction to comparative law, S. 100 ff.; Augenhofer, in: Krüper/Augenhofer/Funke u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, S. 197, 203. 102  Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 728. 103  Michaels, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 339, 343. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33, erklären: „Das methodische Grundprinzip der gesamten Rechtsvergleichung, aus dem sich alle anderen Methodenlehrsätze – Auswahl der zu vergleichenden Rechte, Spannweite der Untersuchung, Systembildung etc. – ergeben, ist das der Funktionalität.“ Über die Ursprünge der Funktionalität siehe auch Husa, in: van Hoecke (Hrsg.), Methodologies of Legal Research, S. 209, 212 ff.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

bezeichneten Vorgehensweise steht eine problemlösungsorientierte rechtsvergleichende Untersuchung: „The idea behind functionalism is to look at the way practical problems of solving conflicts of interest are dealt with in different societies according to different legal systems. This allows us to perceive those problems (largely) independently from the doctrinal framework of each of the compared legal systems.“104 In diesem Sinne fragt auch der EGMR, wie die in Rede stehende Rechtsfrage in den Rechtsordnungen der Europaratsstaaten (oder anderen Erkenntnisquellen, wie insbesondere internationalen Übereinkommen) gelöst wird;105 wenn sich hier weitgehende Übereinstimmungen finden, legt er die EMRK dementsprechend aus beziehungsweise wendet sie dementsprechend an. Eine erste strukturelle Feststellung kann angesichts dessen also bereits festgehalten werden: Es gilt für die Konsens-Ermittlung erstens, das „zu lösende Problem“ im Sinne der im konkreten Fall relevanten rechtlichen Fragestellung auszumachen, und diese daraufhin zweitens anhand einer vergleichenden Betrachtung verschiedener Erkenntnisquellen zu beantworten. II. Anwendung auf die Konsens-Prüfung Die Formulierung einer detaillierten Methode für die rechtsvergleichende Untersuchung des EGMR ist nicht möglich. In dieser Hinsicht ist Rechtsvergleichung also tatsächlich keine „Mathematik“;106 vielmehr ist das Ergebnis einer rechtsvergleichenden Untersuchung nie in Stein gemeißelt, wie auch die zahlreichen Sondervoten in den untersuchten Urteilsbegründungen gezeigt haben. Jeder Einzelfall kann das rechtsvergleichende Vorhaben vor neue Herausforderungen stellen – ein Umstand, der bei der Formulierung von Kriterien zur Konsens-Ermittlung bedacht werden muss.107 Zugleich 104  Van Hoecke, Law and Method 2015, 1, 9. Michaels beschreibt zur Bedeutung dieser Methode: „[F]unctionalist comparative law is factual, it focuses not on rules but on their effects, not on doctrinal structures and arguments, but on events. As a consequence, its objects are often judicial decisions as responses to real life situations, and legal systems are compared by considering their various judicial responses to similar situations.“ Michaels, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 339, 342. Siehe weiter auch Augenhofer, in: Krüper/Augenhofer/Funke u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, S. 197, 202 f.; Kischel, Rechtsvergleichung, S.  93 ff. 105  Zu anderen Zielen im Rahmen des „functionalism“ siehe van Hoecke, Law and Method 2015, 1, 9. 106  Dementsprechend stellt Husa (im Vergleich zu Methoden der Naturwissenschaften sowie Wirtschaftswissenschaften) fest: „[I]n legal study the concept of a method and methodology are essentially more extensive and far less exact as to their nature.“, Husa, A new introduction to comparative law, S. 98. 107  Dies ist unterdessen keine Feststellung, die lediglich auf den EGMR zutrifft; vielmehr gilt generell: „[P]ractical comparative law settles for a lower methodologi-



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung265

kann eine Methode zur Rechtsvergleichung aber grundlegende Schritte vorgeben, anhand derer die rechtsvergleichende Untersuchung durchgeführt wird.108 Mit der soeben hergeleiteten Unterteilung der Konsens-Ermittlung in die Fragestellung und deren Beantwortung anhand einer rechtsvergleichenden Untersuchung wurde bereits eine erste Grundlage geschaffen. In deren Rahmen sollen im Folgenden einige Kriterien für eine kohärentere KonsensErmittlung vorgeschlagen werden. 1. Die Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung

„Am Beginn jeder rechtsvergleichenden Untersuchung steht die Fragestellung […]“.109 Fraglich ist, nach welchem Maßstab die rechtsvergleichende Fragestellung festgelegt werden könnte – ein Aspekt, der sich in der empirischen Analyse als defizitär hinsichtlich einer nachvollziehbaren, beziehungsweise kohärenten Praxis erwiesen hat. Wie hier bereits festgestellt, kann die rechtsvergleichende Fragestellung den Ausgang der Konsens-Prüfung maßgeblich beeinflussen. Ihre Festlegung darf also nicht willkürlich durch den Gerichtshof erfolgen.110 Zunächst einmal sollte der Gerichtshof transparent vorgehen und zumindest erläutern, warum er eine bestimmte Abstraktionsebene gewählt hat.111 Eine darüber hinausgehende Formulierung fester Kriterien ist indes schwierig. In der Regel behandelt jeder Fall ein einzigartiges Menschenrechtsproblem. Damit einhergehend erfolgt auch eine mögliche rechtsvergleichende Untersuchung in der Regel im Hinblick auf eine einzigartige rechtsvergleichende Fragestellung; allgemeingültige Vorgaben, wie etwa immer die konkretere oder abstraktere Ebene der möglichen Fragestellungen zu wählen, erscheinen vor diesem Hintergrund wenig sinnvoll. Nach der vorliegend vertretenen Auffassung sollte indes zumindest der Ausgangspunkt für die rechtsvergleichende Fragestellung stets der Beschwerdegegenstand sein. So würde sichergestellt, dass die rechtsvergleichende Untersuchung tatsächlich auch im Sinne der Prüfung der in Rede stehenden Konventionsverletzung erfolgt, und dabei nicht dem Belieben des Gerichtshofs unterliegt. Dieser Vorschlag erfolgt in dem Bewusstsein mög­ licher Einwände: Zunächst könnte entgegnet werden, er räume dem Becal and theoretical standard than the more demanding comparative law research, which seeks not only to understand but also to explain.“, Husa, A new introduction to comparative law, S. 88. 108  In diesem Sinne (im Hinblick auf Verfassungsrechtsvergleichung) auch Husa, Comparison, S.  11 f. 109  Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33. 110  So auch Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 366. 111  So auch Djeffal, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 71, 86.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

schwerdeführer zu viel Einfluss auf die Urteilsbegründung des Gerichtshofs ein. Allerdings ist dieser bereits dem Charakter des Individualbeschwerdeverfahrens der EMRK selbst inhärent. Das Verfahren wird nur auf einen Antrag des Beschwerdeführers hin eröffnet.112 Er muss gemäß Art. 34 S. 1 EMRK die Verletzung eines Konventionsrechts durch einen Europaratsstaat geltend machen und bestimmt mit diesem Vorbringen zugleich den Gegenstand des Verfahrens.113 Der Gerichtshof ist angehalten, das vom Beschwerdeführer geltend gemachte staatliche Verhalten im Hinblick auf eine mögliche Konventionsverletzung zu untersuchen. Wie das Anliegen des Beschwerdeführers dabei durch die Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung missachtet werden kann, zeigte sich etwa in dem bereits besprochenen Fall Sita­ropoulos and Giakoumopoulos v. Greece.114 Hier hatten die Beschwerdeführer nicht etwa eine bestimmte Möglichkeit gefordert, aus dem Ausland an der griechischen Parlamentswahl teilzunehmen, sondern lediglich irgendeine Möglichkeit. Die Orientierung am Vorbringen des Beschwerdeführers hätte zur Feststellung geführt, dass 37 Staaten eine Wahlmöglichkeit aus dem Ausland vorsehen und damit ein vergleichsweise deutlicher Konsens vorlag. Der Gerichtshof lehnte einen Konsens jedoch unter Verweis auf die vielen Unterschiede bei der konkreten Ausgestaltung der Wahlmöglichkeiten im Ausland ab. Damit ging er über das sachliche Anliegen der Beschwerdeführer hinaus und verwehrte diesen im Ergebnis einen konventionsrecht­lichen Schutz. Ein schon gewichtigerer Einwand gegen die Orientierung am Beschwerdegegenstand liegt in der Erinnerung, dass die EMRK lediglich menschenrechtliche Mindeststandards gewährleisten soll.115 Hätten die Beschwerdeführer in Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece beispielsweise die Möglichkeit gehabt, im Internet an der Wahl teilzunehmen, aber die Einführung einer Briefwahl gefordert, und hätten 37 Europaratsstaaten auch eine derartige Regelung vorgesehen, hätte sich ein dementsprechender Konsens ergeben – es ist zugleich offensichtlich, dass die Verurteilung Griechenlands problematisch wäre, da der Gerichtshof damit auf sehr konkreter Ebene in die Rechtsetzungsbefugnis des Staates bei der Ausgestaltung des Wahlrechts eingriffe. Ambrus spricht in diesem Zusammenhang von einer „ ‚basic‘ mar112  Art. 34 EMRK, Dispositionsmaxime – siehe hierzu Meyer-Ladewig/Ebert, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK: Handkommentar, Art. 37, Rn. 1. 113  Meyer-Ladewig/Ebert, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK: Handkommentar, Art. 38, Rn. 2; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: Ein Studienbuch, § 9 Rn. 2. 114  Siehe erneut „Dritter Teil, § 5 C. I.“ 115  Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK: Handkommentar, Art. 53, Rn. 1.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung267

gin of appreciation“, die den Staaten bei der konkreten Ausgestaltung vorgegebener Menschenrechtsziele zukommt. „[I]t is not for the Court to tell the states which concrete provisions they should adopt as long as the goals are reached.“116 Diese Problematik wird jedoch unter zwei Gesichtspunkten relativiert: Zunächst ist denkbar, dass derartige Beschwerden bereits nach Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK für unzulässig erklärt werden, weil der Beschwerdeführer keinen erheblichen Nachteil117 erlitten hat. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass derartige staatliche Eingriffe trotz eines festgestellten Konsenses nicht als unverhältnismäßig erachtet werden. Grundsätzlich erscheint die Ausrichtung am Beschwerdevorbringen damit ein möglicher Weg hin zu einer kohärenten Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung zu sein. Abweichungen hiervon sollte der EGMR zumindest rational begründen. 2. Die Durchführung der rechtsvergleichenden Untersuchung

Wenngleich die Konsens-Ermittlung des EGMR bereits der „functional method“ zugeordnet werden konnte, ist hiermit für die aufgeworfene Frage nach Kriterien für deren Durchführung erstaunlich wenig gewonnen. Im Hinblick auf die funktionale Herangehensweise an rechtsvergleichende Untersuchungen (wie die Herangehensweisen an rechtsvergleichende Untersuchungen generell) bestehen viele Unklarheiten – klar ist lediglich, dass sich aus ihr keine unmittelbaren Vorgaben für die genaue Durchführung der rechtsvergleichenden Untersuchungen ergeben, denn: „There is not one (‚the‘) functional method, but many.“118 Angesichts der vielen verschiedenen denkbaren rechtsvergleichenden Fragestellungen und, damit verbunden, der verschiedenen funktionalen Ansätze wird das Ziel der Rechtsvergleichung als Ausgangs- und Orientierungspunkt für die Entscheidung über die konkrete Methode hervorgehoben: „Th[e] variety of ‚functional methods‘ points to the importance of the research aim and research question for choosing an appropriate comparative method. Basically, what the researcher will compare and how, largely depends on the research question(s) and research interest. The 116  Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 366 f. Zum Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip siehe auch Mowbray, HRLJ 15 (2015), 313, 321 f. 117  Siehe hierzu Meyer-Ladewig/Peters, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK: Handkommentar, Art. 35, Rn. 53; Zwaak/Haeck/Burbano Her­ rera, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn u. a. (Hrsg.), Theory and practice of the European Convention on Human Rights, S. 79, 168. 118  Michaels, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 339, 342. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kischel, Rechtsvergleichung, S. 92 f., der die Suche nach einer „genauen Methode“ als illusorisch bezeichnet.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

method followed should serve that goal.“119 Diese Orientierung der Methode für die rechtsvergleichende Untersuchung am Untersuchungsziel soll im Folgenden auf die Konsens-Prüfung übertragen werden. a) Untersuchungsziel Während die inhaltliche Bestimmung der rechtsvergleichenden Frage soeben erörtert wurde, gilt es darüber hinaus noch zu ermitteln, mit welchem Ziel diese Frage beantwortet werden soll. Hier eröffnen sich zwei Dimensionen: Einerseits soll das Vorliegen eines Konsenses untersucht werden, welcher andererseits wiederum zur (dynamischen) Auslegung der EMRK beziehungsweise der Bemessung der margin of appreciation (oder der Verhältnismäßigkeitsprüfung) herangezogen wird. aa) Konsens-Ermittlung Wenn das Ziel der rechtsvergleichenden Untersuchung in der KonsensErmittlung besteht, stellt sich unmittelbar die Frage, um wessen Konsens es eigentlich geht. Das Konsens-Konzept des EGMR hat, wie bereits aufgezeigt, verschiedene Facetten. So spricht der Gerichtshof mitunter von einem europäischen, mitunter von einem internationalen Konsens. Was mit den jeweiligen Bezeichnungen genau gemeint ist, ist damit fraglos noch nicht aufgezeigt, denn der EGMR hat die Begriffe nie definiert. Der europäische Konsens wurde oben zunächst als europäische herrschende Meinung beschrieben. Aber geht es dabei konkret um die Auffassung der Europaratsstaaten, oder geht es genereller um eine „in Europa vorherrschende Auffassung“, die sich nicht zwangsläufig vorrangig aus nationalstaatlichen Auffassungen ergibt? Viele Autoren verstehen den europäischen Konsens im ersteren Sinne als Konsens zwischen den Europaratsstaaten120 im Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Konsensprinzip (‚state 119  Van

Hoecke, Law and Method 2015, 1, 9. legt seiner Arbeit folgende Definition zugrunde: „European consensus can be conceptualised as a tool of interpretation of the Convention which prioritises a particular solution to a complex human rights issue if this solution is supported by the majority of the 47 Contracting Parties.“, Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 2. So weiter auch Henrard, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 141, 146 („the Court uses [European Consensus] to refer to common ground among the contracting parties“); Douglas-Scott, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 167, 167; siehe weiter Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 89; Harris u. a., Law of the European Convention on Human Rights, S. 9. 120  Dzehtsiarou



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung269

consent‘).121 Nach diesem grundlegenden Prinzip entsteht eine völkerrecht­ liche Bindung eines Staates nur mit dessen Zustimmung;122 Geltungsgrund eines völkerrechtlichen Vertrags ist mithin allein der souveräne Wille der Vertragsstaaten.123 Nußberger erklärt, „die Zustimmungserklärung der Europaratsstaaten“ sei „gewissermaßen als Kehrseite der Medaille des ‚living instrument‘ […] als ‚living consent‘ zu interpretieren: Auch der ‚consent‘ muss an dem dynamischen Entwicklungsprozess des Konventionsinhalts teilhaben. Bindeglied ist insofern die rechtliche Fiktion eines europäischen Konsenses, den der Gerichtshof in jeder neuen Konstellation ermitteln muss: der ‚consent‘ wird im Sinne des ‚consensus‘ interpretiert.“124 Die untersuchten Urteilsbegründungen geben auch gewichtige Anhaltspunkte für ein solches Verständnis des europäischen Konsenses im Sinne eines Konsenses der Europaratsstaaten. So beschrieb der EGMR sein Vorhaben oftmals als die Suche nach einem „consensus amongst Contracting States“.125 Es gibt jedoch vereinzelt auch Anhaltspunkte für ein erweitertes Verständnis: In Bayatyan v. Armenia las der EGMR aus dem nationalen Recht der Europaratsstaaten einen „consensus among [nearly] all Council of Europe member States“ ab. Daraufhin untersuchte er im Rahmen der „various international fora“ internationale Übereinkommen, warf einen speziellen Blick 121  Siehe von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 320 ff.; Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 149; Thürer, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, S. 452, 456. 122  Zu diesem (in Anlehnung an die maßgebende Lotus-Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs) auch als Lotus-Prinzip bezeichneten Grundsatz siehe etwa von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 320 f. m. w. N. Zum „consent to be bound by a treaty“ siehe etwa Aust, Modern treaty law and practice, S. 87 ff. 123  Asche, Die Margin of Appreciation, S. 117. 124  Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 719 f. In diesem Sinne auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 149 ff. Zum Verständnis von Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK als der Auslegung entsprechend eines „aktuellen Parteikonsens“ siehe auch Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 87 ff. 125  EGMR (Große Kammer) – Animal Defenders International v. The United Kingdom, 22.04.3013 – 48876/08, Rn. 123. Siehe weiter auch EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 139 („consensus […] within the Council of Europe member States“); EGMR (Große Kammer) – Fabris v. France, 07.02.2013 – 16574/08, Rn. 58 („common ground between the member States of the Council of Europe“); EGMR (Große Kammer) – Sheffield and Horsham v. The United Kingdom, 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, Rn. 55 („consensus among the member States“); EGMR – Tyrer v. The United Kingdom, 25.04.1978 – 5856/72, Rn. 31 („developments and commonly accepted standards […] of the member States of the Council of Europe“).

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

auf regionale Übereinkommen aus „Europe“,126 und erklärte schlussendlich: „[T]he domestic law of the overwhelming majority of Council of Europe member States, along with the relevant international instruments, has evolv­ed to the effect that at the material time there was already a virtually general consensus on the question in Europe and beyond.“127 Mit diesem „general consensus in Europe“ scheint sich der Gerichtshof jedenfalls in terminologischer Sicht von einem rein formalen Konsens zwischen den Europaratsstaaten zu entfernen. In Demir and Baykara v. Turkey ermittelte er gar einen „common ground in modern societies“,128 womit ebenfalls hinterfragt werden kann, ob der Fokus des europäischen Konsenses auf dem formalen Willen der Europaratsstaaten liegt.129

126  EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 106. 127  EGMR (Große Kammer) – Bayatyan v. Armenia, 07.07.2011 – 23459/03, Rn. 108. Ähnlich auch in EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 148. 128  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 86. Auch in Marckx v. Belgium hatte der EGMR infolge der Prüfung der Rechtslage in den Europaratsstaaten zwei völkerrechtliche Verträge mit einbezogen, und anhand dessen abschließend das Vorliegen eines „common ground in this area amongst modern societies“ festgestellt EGMR – Marckx v. Belgium, 13.06.1979 – 6833/74, Rn. 41. Siehe weiter EGMR (Große Kammer) – Konstantin Markin v. Russia, 22.03.2012 – 30078/06, Rn. 139 f., wo der Gerichtshof ebenfalls eine „evolution of society“ beobachtete, und von „widespread and consistently developing views and associated legal changes to the domestic laws of Contracting States“ sprach (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). 129  Ähnlich auch Ulfstein, der hinsichtlich Demir and Baykara v. Turkey erklärt, dass ein „common ground in modern societies […] is not explicitly limited to member States.“, Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 86. In diesem Sinne auch Letsas, A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 77 f. Auch bei Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 51 ff., klingt eine derartige Ausrichtung an, wenn sie den europäischen Konsens als „method in determining changes in society on the basis of international and comparative law“ bezeichnet (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). Sie beschreibt die Berücksichtigung nationaler Gesetze aber auch als „Kunstgriff“ zur Ermittlung der Rechtsauffassungen in den Europaratsstaaten, Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 200 f. Siehe in diesem Zusammenhang auch Walter, ZaöRV 75 (2015), 753, 764: „Die Konvention ist nicht mehr nur ein einfacher völkerrechtlicher Vertrag, sondern sie formt die Vertragsparteien zu einer Grundrechtsgemeinschaft, in der auch das Verhalten der anderen Mitglieder sich auf die Fortentwicklung der gemeinsamen Standards auswirkt. Rechtliche Bindungen entstehen nicht mehr nur durch die freie, souveräne Entscheidung eines einzelnen Mitgliedstaats, sondern sie können auch durch das Verhalten der Gemeinschaft insgesamt vermittelt werden.“



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung271

Ein weiteres Indiz dafür, dass es dem EGMR nicht immer ausschließlich um den Willen der Europaratsstaaten geht, ist überdies auch die bisweilen erfolgte Berücksichtigung von Expertenmeinungen im Sinne wissenschaft­ licher Erkenntnisse, welche keine Rückbindung an die Europaratsstaaten haben. Die Ermittlung eines Konsenses entfernt sich hiermit von einem rein am Willen der Europaratsstaaten orientierten Konsens, hin zu dem Verständnis einer allgemein „in Europa vorherrschenden Meinung“. Angesichts der darüber hinaus mitunter auftretenden Berücksichtigung der Rechtslage in außereuropäischen Staaten oder von völkerrechtlichen Verträgen, an denen die Europaratsstaaten nicht Vertragsparteien sind, könnte dies auch als Andeutung eines (regionalen) universellen Fokus verstanden werden, der im menschenrechtlichen Diskurs häufiger auftritt130 und Bobek ein „strong normative argument for comparative inspiration“ generieren kann.131 Er erklärt weiter auch: „It is in the area of comparative arguments in constitutional adjudication that one most frequently encounters unspecified references to ‚common Western legal traditions‘ or ‚values shared by European civilization‘, etc.“132 Letzteren Beispielen ähneln die soeben dargelegten Termini des EGMR („general consensus in Europe“, „common ground in modern societies“) in bemerkenswerter Weise. Die Einordnung der Bedeutung der Erkenntnisquelle internationaler Übereinkommen ist in diesem Zusammenhang nicht immer klar. Europäische Übereinkommen wie insbesondere solche aus dem Rahmen des Europarats werden in der Regel zur Ermittlung eines europäischen Konsenses herangezogen. Demgegenüber benennt der EGMR, wie bereits dargelegt, einen Konsens aus internationalen Übereinkommen als internationalen Konsens.133 Ein derartiger Konsens kann also als herrschende Meinung im internationalen 130  Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, S. 61; Jackson, in: Rosenfeld/Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, S. 54, 62. Siehe weiter McCrudden, in: Örücü/Nelken (Hrsg.), Comparative law, S.  371, 376 ff. Slaughter, A New World Order, S. 79, spricht auch von einer „Global community of human rights law“. Sie erklärt: „Courts may well feel a particular common bond with one another in adjudicating human rights cases, […] because such cases engage a core judicial function in many countries around the world.“ Mit der Regelung grundlegender Menschenrechte in völkerrechtlichen Verträgen, deren Auslegung und Anwendung internationalen Gerichten zugewiesen werde, entstehe gemeinsam mit dem „mix of national constitutional courts […] a genuinely global community of courts and law.“, S. 80. 131  Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, S. 61. 132  Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, S. 62. 133  So etwa in EGMR (Große Kammer) – Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, 08.11.2016 – 18030/11, Rn. 140 („a high degree of consensus has […] emerged at the international level“). In diesem Sinne auch Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 39 f. Ähnlich differenziert weiter Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 362 f.: „[…] the ECtHR relies

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

Bereich verstanden werden, der von einem europäischen Konsens zu unterscheiden ist.134 Allerdings kann die Berücksichtigung internationaler Übereinkommen offenbar auch als Indiz für einen Konsens der Europaratsstaaten verstanden werden,135 wie am Beispiel Chapman v. The United Kingdom deutlich wurde. Hier sprach der Gerichtshof von einem „emerging interna­ tional consensus amongst the Contracting States of the Council of Europe“136. Letztlich ist festzustellen, dass die Ausrichtung der Konsens-Prüfung und mit ihr die Auswahl und Gewichtung verschiedener Erkenntnisquellen offenbar nicht immer auf den formellen Willen der Europaratsstaaten gerichtet ist, sondern zu variieren scheint.137 Dieser Umstand wird denn auch von vielen on different sources: it looks for a common European standard and often also relies on international legal norms.“ 134  So etwa in EGMR (Große Kammer) – Christine Goodwin v. The United Kingdom, 11.07.2002 – 28957/95, Rn. 85 („The Court […] attaches less importance to the lack of evidence of a common European approach […], than to the clear and uncontested evidence of a continuing international trend“). Nußberger erklärt, dass Regelungen aus völkerrechtlichen Verträgen „auch dann genannt [werden], wenn der Staat, gegen den sich die Beschwerde richtet, nicht Vertragspartner ist, um den allgemeinen Status quo der Konsensfindung im internationalen Bereich zu dokumentieren.“, Nuß­ berger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, S. 722. Siehe in diesem Zusammenhang auch Slaughter, A New World Order, S. 78, die (nicht konkret hinsichtlich des EGMR, sondern) auf einen internationalen Kontext bezogen erklärt: „Increasing cross-fertilization of ideas and precedents among constitutional judges around the world is gradually giving rise to increasingly visible international consensus on various issues – a consensus that, in turn, carries its own compelling weight.“ 135  So auch Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 153. Gless und Martin sprechen von einem „common spirit of the States reflected in international law“, Gless/Martin, Bergen Journal of Criminal Law and Criminal Justice 1 (2013), 36, 44. Von Ungern-Sternberg erklärt: „Der EGMR scheint […] allgemeine völkerrechtliche Entwicklungen auf regionaler und universeller Ebene als Indiz für einen allgemeinen Wertewandel in den Mitgliedsstaaten zu sehen.“, von UngernSternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 331. 136  EGMR (Große Kammer) – Chapman v. The United Kingdom, 18.01.2001 – 27238/95, Rn. 93. Ein weiteres Beispiel ist EGMR (Große Kammer) – Scoppola v. Italy (No. 2), 17.09.2009 – 10249/03, Rn. 105 f. Hier resümierte der Gerichtshof angesichts von „important developments internationally“, wofür er Art. 9 AMRK, Art. 49 EUGRCh, eine EuGH-Entscheidung sowie das IStGH-Statut und die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien anführte, dass „a consensus has gradually emerged in Europe and internationally“. Eine hierbei erfolgte Berücksichtigung der nationalen Rechtslage der Europaratsstaaten kann allenfalls mittelbar und auch lediglich in Teilen darin gesehen werden, dass der EuGH in dem vom EGMR zitierten Urteil an die gemeinsamen Verfassungstraditionen der EU-Staaten anknüpfte. 137  Ähnlich auch Helfer, Cornell International Law Journal 23 (1993), 133, 139, der drei Nachweise eines Konsenses unterscheidet: „legal consensus […]; expert con-



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung273

Autoren kritisiert, die dem EGMR wie unter § 1 dargelegt eine inkonsistente Verwendung des Konsens-Kriteriums vorwerfen. Womöglich ist dieser Ansatz allerdings bereits in seinen Grundannahmen verfehlt, denn angesichts der verschiedenen Ausrichtungen der Konsens-Prüfung scheint es gar nicht das eine Konsens-Konzept des EGMR zu geben. Vetrovsky offenbart den vor diesem Hintergrund im Grunde paradoxen Ansatz, der in der Literatur oftmals aufzufinden ist: Sie setzt verbreitet die Existenz eines bestimmten Konsens-Konzepts voraus, untersucht die Rechtsprechung des EGMR, findet hier weder eine klare Definition noch Kriterien zur Anwendung dieses Konzepts vor, und schlussfolgert, der EGMR wende es inkohärent an.138 Die variierende Konsens-Prüfung muss jedoch nicht per se als inkohärente Anwendung „des“ Konsens-Konzepts abgetan werden. Was aus der Rechtsprechung in jedem Fall ersichtlich wurde ist, dass der EGMR nach einem vorherrschenden Standard sucht, anhand dessen er die Auslegung beziehungsweise Anwendung der EMRK orientiert. Wie sogleich näher darzulegen ist, kann die festgestellte Variation der Ausrichtung dieser Standard-Suche jedoch im Grundsatz nachvollzogen werden, wenn die verschiedenen Anwendungsbereiche mit berücksichtigt werden, an denen dieser Standard ermittelt wird. Es gilt sich zu vergegenwärtigen, dass die Konsens-Ermittlung kein Selbstzweck ist; sie erfolgt an verschiedenen Prüfungspunkten, an denen die Berücksichtigung vorherrschender Standards dementsprechend verschiedene Funktionen erfüllt. Anstatt die Strukturierung der rechtsvergleichenden Untersuchungen des EGMR also lediglich am mitunter schwer greifbaren Ziel der Ermittlung eines (europäischen) Konsenses zu orientieren wird im Folgenden aufgezeigt, wie die Auswahl und Gewichtung verschiedener Erkenntnisquellen anhand der jeweiligen Anwendungsbereiche der Konsens-Ermittlung ausgerichtet werden können.

sensus; and European public consensus“. Auch ILC, First report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 19.03.2013, UN Doc. A/CN.4/660, stellt bei der Untersuchung der EGMRPraxis fest: „[W]henever the Court has recognized that it is engaging in „evolutive interpretation“, it has typically referred to State, social or international legal practice as orientation.“, Rn. 38 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). Zugleich prüfe der Gerichtshof aber stets auch, ob sich gesellschaftliche Entwicklungen in der Staatenpraxis (vor allem der Gesetzgebungs- und Verwaltungspraxis) reflektieren, vgl. Rn. 132–134. 138  Vetrovsky, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 120, 126 ff.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

bb) Ausrichtung an den verschiedenen Anwendungsbereichen der Konsens-Ermittlung Der (europäische) Konsens wird bei der (dynamischen) Auslegung der EMRK, zur Bemessung der margin of appreciation sowie im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ermittelt. Entsprechend dieser verschiedenen Anwendungsbereiche erfüllt er jeweils verschiedene Funktionen,139 aus denen auch Konsequenzen für Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter Erkenntnisquellen bei der die Konsens-Prüfung gezogen werden können. (1) Margin of appreciation-Bemessung Im Rahmen der margin of appreciation ist der europäische Konsens mit der oben genannten Differenzierung Leggs ein external reason, der die Kontrolldichte der Prüfung des EGMR bestimmt und die eigentliche Sachfrage im betreffenden Beschwerdeverfahren nicht berührt. Wie bereits dargelegt, fußt die margin of appreciation auf der Subsidiarität der EMRK gegenüber den nationalen Menschenrechtsschutzsystemen, der direkten demokratischen Legitimation nationaler Autoritäten sowie deren größerer Sachnähe140 – Aspekte, die nahelegen, dass die Mitgliedstaaten unter Umständen die besseren Entscheidungsträger sind. Ein Umstand, der zugunsten der Entscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten spricht, ist das Nichtvorliegen eines europäischen Konsenses. Dies gründet auf der Erwägung, dass der EGMR in einer Rechtsfrage zurückhaltend agieren sollte, wenn schon die Staaten selber die unterschiedlichsten Umgänge mit dieser Rechtsfrage pflegen, und damit grundlegend verschiedene Auffassungen über die richtige Vorgehensweise in dieser Frage haben. Umgekehrt spricht ein vergleichbarer Umgang in der Rechtsfrage zwischen den meisten Europaratsstaaten dafür, dass der EGMR genauer überprüfen sollte, warum der im konkreten Verfahren betroffene Staat hier ausschert und ob dies als konventionskonform erachtet werden kann, wo doch die Mehrheit der Staaten die in Rede stehende Rechtsfrage offenbar ohne menschenrechtliche Beeinträchtigung zu regeln vermag.141 139  So auch Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 239, und Asche, Die Margin of Appreciation, siehe S. 101 und 110 ff., die hinsichtlich der Verwendung des europäischen Konsenses im Rahmen der evolutiven Auslegung sowie der margin of appreciation-Bemessung von einer „Doppelfunktion“ spricht (S. 109). Kapotas und Tzevelekos sprechen in diesem Zusammenhang ähnlich von zwei Leveln, auf denen der europäische Konsens fungiert, siehe Kapotas/Tzeve­ lekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S.  1, 12 f. 140  Vgl. „Erster Teil, § 2 B.“ 141  Asche, Die Margin of Appreciation, S. 102 f.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung275

Da die margin of appreciation-Doktrin die Verteilung der Kompetenz zur Entscheidung über eine Konventionsverletzung zwischen dem EGMR und den Mitgliedstaaten regelt, sind hier weder ein internationaler Fokus über den Rand des Europarats hinaus noch die Rechtssysteme anderer Staaten als der Europaratsstaaten relevant; hier geht es vielmehr konkret um die Europaratsstaaten und deren Auffassung zu der betreffenden Rechtsfrage, sodass die rechtsvergleichende Untersuchung auch an diesem Ziel orientiert werden sollte. Es gilt also, einen europäischen Konsens im Sinne eines Konsenses zwischen den Europaratsstaaten zu ermitteln.142 (2) (Dynamische) Auslegung Bei der (dynamischen) Auslegung der EMRK fungiert der europäische Konsens demgegenüber als Kriterium zur Bestimmung des Schutzgehalts der betreffenden Konventionsbestimmung. Er betrifft damit die Sachfrage und stellt in diesem Sinne einen internal reason dar.143 Zunächst einmal kann der europäische Konsens hier in dem oben bereits dargelegten Sinne eines fortgesetzten „state consent“ verstanden werden, mit dem die dynamische Auslegung entsprechend des Willens der Europaratsstaaten an aktuelle Entwicklungen angepasst wird. Geht eine Veränderung der bisherigen Rechtsprechung oder eine neue Auslegung auf den Willen der Staaten zurück, stärkt dies die Akzeptanz dieser Auslegung in den Staaten. Bei diesem Verständnis des europäischen Konsenses gilt es daher ebenfalls, die entscheidungsrelevanten Erkenntnisquellen entsprechend ihres Aussagegehalts über den Willen der Staaten zu einer dynamischen Auslegung auszuwählen und zu gewichten. Mit dem Hinweis auf die Eigenschaft des europäischen Konsenses als internal reason kann jedoch auch ein anderer Gedanke fruchtbar gemacht werden: Wird die rechtsvergleichende Untersuchung zur Auslegung der EMRK durchgeführt, fungiert sie als Kriterium zur Bestimmung des Schutzgehalts der betreffenden Konventionsbestimmung und entfaltet somit normative Geltungskraft. Diese Herangehensweise wird auch als „determin­ ing the better law“-Funktion der funktionalen Rechtsvergleichung bezeich142  Siehe

364 f.

in diesem Sinne auch Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353,

143  Asche, Die Margin of Appreciation, S. 114. Sie hält indes auch eine mittelbare Wirkung als externem Faktor für möglich – ein Punkt, auf den hier nicht näher eingegangen werden soll (siehe dazu Asche, Die Margin of Appreciation, S. 114). Anzumerken ist, dass Legg diesen Faktor als „external factor affecting the margin of appreciation“ einordnet, Legg, The margin of appreciation in international human rights law, S. 116.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

net.144 Die Kritik an einem solchen Einsatz der Rechtsvergleichung zur Ermittlung der „besten“ Lösung eines rechtlichen Problems145 entspricht auch der am europäischen Konsens geäußerten substantiellen Kritik:146 Bei einem Verständnis des europäischen Konsenses als herrschender Meinung der Europaratsstaaten wird die Verhaltensweise der Mehrheit als maßgeblicher Bezugspunkt für die Auslegung der EMRK verwendet. So setzt ein realpolitisches Kriterium Menschenrechtsstandards, unabhängig davon wie gering beziehungsweise hoch diese sind.147 Warum aber ist etwas normativ richtig, nur weil es in der Mehrheit der Staaten vorzufinden ist?148 Nußberger hinterfragt diesen „Schluss von einem ‚normativen Sein‘ auf ein ‚normatives Sollen‘ “ anhand der Fiktion europaweit verbreiteter Guantanamos: „Gäbe es Guantanamos in der Mehrzahl der europäischen Staaten – könnte man aus einem derartigen von den einzelnen Rechtsordnungen tolerierten IstZustand auf einen Soll-Zustand schließen und argumentieren, in Situationen der terroristischen Bedrohung hätten grundlegende Menschenrechtsgarantien zurückzutreten? – Es ist mehr als offensichtlich, dass dies nicht richtig sein kann.“149 Besonders schwer wiegt diese Kritik, wenn Minderheitenrechte betroffen sind.150 Letsas erklärt: „Member States agreed in the aftermath of the Second World War to undertake the legal obligation towards their own people to respect human rights; they did not undertake the obligation to respect what, at each given time, most of them take these rights 144  Michaels, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 339, 363, 373 ff.; siehe hierzu auch Jackson, in: Rosenfeld/Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, S. 54, 60 f. 145  Siehe hierzu etwa Michaels, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 339, 373 ff. 146  Siehe hierzu etwa Douglas-Scott, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 167, 177 ff. 147  Martens kritisiert es als „weakness of ‚consensual logic‘, that it appears to favour the status quo over progress, running the risk of letting States guide the development of a common legal order, of letting their lowest common denominator prevail“, Martens, in: EGMR (Hrsg.), Dialogue between Judges: „What are the limits to evolutive interpretation of the Convention?“, S. 53, 57 f. 148  Die Kritik wird vor diesem Hintergrund auch als „anti-majoritarian argument“ bezeichnet, siehe Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 116 (ff. für eine eingehende Auseinandersetzung). 149  Nußberger, Rechtswissenschaft: Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 3 (2012), 197, 206. Carozza, Notre Dame Law Review 73 (1997–1998), 1217, 1228, spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „vulgar form of positiv­ ism“,. Benvenisti, New York University Journal of International Law and Politics 31 (1998–1999), 843, 852, erklärt, mit der Berücksichtigung eines Konsenses werde die Erfüllung der „[…] crucial task of becoming the external guardian against the tyranny by majorities“ beschränkt. 150  Siehe hierzu umfassend Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 122 ff.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung277

to be.“151 Daneben wird andererseits auch der Aspekt der EMRK als Gewährleistung von Mindeststandards relevant: Muss etwas als von der EMRK gewährleisteter Bestandteil menschenrechtlicher Garantie erachtet werden, nur weil die Mehrheit der Staaten in dieser Frage vergleichbar ver­ fährt?152 Diese Erwägungen könnten das Ziel der Konsens-Prüfung im Rahmen der dynamischen Auslegung auch in eine andere Richtung lenken. Sie sprechen dafür, die rein an der Suche nach dem Willen der Europaratsstaaten ausgerichtete Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter Erkenntnisquellen aufzugeben,153 den Fokus für die dynamische Auslegung über den Willen der Europaratsstaaten hinaus zu erweitern und auch andere (Quellen zur Ermittlung von) Entwicklungen einzubeziehen.154 „[I]deas of democratic legitimacy at domestic level or state consent at international level cannot be the only values when considering how and which legal obligations are created. This is particularly so in the case of human rights.“155 Hiernach mögen sich für die dynamische Auslegung der EMRK relevante aktuelle Entwicklungen ebenso in Erkenntnisquellen zeigen, die nicht unbedingt den Willen aller Europaratsstaaten wiedergeben.156 Vor diesem Hintergrund erschließen sich auch die 151  Letsas, A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 124. 152  Diese Gefahr eines „flattening of the diversity of national practices and cultures simply because a certain number of states have made common political decisions regarding contested social values“ beschreibt auch Carozza, Notre Dame Law Review 73 (1997–1998), 1217, 1218 f. 153  Siehe in diesem Zusammenhang zur Einordnung menschenrechtlicher Verträge grundlegend Pergantis, The Paradigm of State Consent in the Law of Treaties, S. 58 ff.; er erklärt insbesondere: „[T]he purpose of [human rights treaties] is not to concede reciprocal rights and obligations between the States but to establish a common public order, […] which […] will assure the protection of the interests of individuals (and not of the interests of States)“, vgl. S. 60. 154  Siehe in diesem Sinne auch Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 364 f., die ebenfalls den Unterschied zwischen rechtsvergleichenden Untersuchungen zur Auslegung der EMRK sowie zur Bemessung der margin of appreciation hervorhebt und zur Auslegung des Schutzbereichs der EMRK erklärt: „[T]he Court is not (or much less) bound by subsidiarity considerations in this respect. However, this is clearly not the case with respect to the determination of the margin of appreciation.“ 155  Letsas, A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 73. 156  In diesem Sinne erklärt Pinto de Albuquerque in seiner Partly dissenting opinion in EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 24 f.: „In the Council of Europe’s legal order, State consent is framed within the context of a cosmopolitan perspective of the universality of human rights and a dialogic understanding of the common heritage of values of European societies. In the Council of Europe, the recognition rule is no more a Lotus-type […], State-centred, narrowly bilateral, exclusively voluntaristic, top-down norm-creation mechanism, but a demo-

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

Einbeziehungen eines internationalen Konsenses beziehungsweise eines „consensus amongst modern societies“, die in der Rechtsprechung des EGMR beobachtet wurden. Derartige Ausrichtungen der Konsens-Prüfung verdeutlichen, dass sich die ausschlaggebenden „present day conditions“ für den Gerichtshof nicht zwangsläufig aus den Auffassungen der Europaratsstaaten ergeben.157 Es geht um die Suche nach „changes in the society on the basis of changes in normative approaches“,158 welche aber nicht auf Erkenntnisquellen beschränkt ist, aus denen sich ein formaler „state consent“ aller Europaratsstaaten ablesen lässt. Die Kritik am Schluss von einem normativen Sein auf ein normatives Sollen wird hiermit zwar nicht vollends entkräftet;159 zumindest aber werden der Fokus auf entscheidende Erkenntnisquellen erweitert und der mehrheitsbasierte Ansatz relativiert.160 Fraglos ist eine derartige, die Bedeutung des „state consent“ womöglich relativierende Ausrichtung der rechtsvergleichenden Untersuchungen zur dynamischen Auslegung der EMRK umstritten. Von Ungern-Sternberg spricht sich beispielsweise dagegen aus, „dass der EGMR wie ein Menschenrechtsstaubsauger alle übrigen, weltweit oder regional anzutreffenden menschenrechtlichen Verbürgungen in die Konvention hineinzieht.“161 Young hingegen erwägt die grundlegende Möglichkeit, wonach „the VCLT itself could be cratic-type, individual-centred, broadly multi-lateral, purposefully consensual, bottom-up norm creation mechanism which involves European States and other European and non-European non-State actors. Distancing itself from an outdated jus inter gentes, the Council of Europe legal order has become a truly jus gentium, based on a participated, accountable and multi-level international law-making system which is not the preserve of States […].“ Vgl. hierzu weiter auch Rietiker, Nordic Journal of International Law 79 (2010), 245, 259 f. 157  Letsas interpretiert diese „evolutive interpretation“ des Gerichtshofs sogar als eine Suche nach „the moral truth of the ECHR rights, not in evolution towards some commonly accepted standards, regardless of its content“, Letsas, A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 79. 158  Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 51. 159  Zur weiterhin bestehenden, ebenfalls kontrovers diskutierten Frage eines möglichen Absenkens des Konventionsschutzes durch das Konsens-Kriterium siehe m. w. N. Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S.  251 ff. 160  Vor diesem Hintergrund befindet Vetrovsky, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 120, 135, zu Recht, dass das „antimajoritiarian“-Argument etwa hinsichtlich des „expert-consensus“ in wissenschaft­ lichen Fragen nicht greift. 161  Von Ungern-Sternberg, Archiv des Völkerrechts 51 (2013), 312, 323. Sie macht neben dem völkerrechtlichen Konsensprinzip auch das Demokratieprinzip geltend. Vor allem die Berücksichtigung von wissenschaftlichen Expertenmeinungen kann anhand dieser Prinzipien infrage gestellt werden, siehe dementsprechend etwa Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 253.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung279

interpreted in an evolutionary fashion to incorporate a spectrum of ‚international consensus‘ as opposed to binary questions of consent and nonconsent.“162 Selbst wenn herangezogene Erkenntnisquellen nicht als spätere Übung der Vertragsparteien beziehungsweise als internationale Übereinkommen im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. c WKV eingeordnet werden können, sei an die teleologische Auslegung nach Art. 31 Abs. 1 EMRK erinnert.163 In der Präambel haben die Europaratsstaaten erklärt, die Menschenrechte schützen und fortentwickeln zu wollen, woraus sich zunächst einmal das Ziel ableiten lässt,164 einen effektiven Menschenrechtsschutz zu gewährleisten, der an aktuelle Entwicklungen angepasst wird.165 Weiter betonen die Unterzeichnerstaaten den Wert ihres gemeinsamen Verständnisses der Menschenrechte, ihren gleichen Geist und ihr gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit; dies spricht auch für eine Ausrichtung der angestrebten „Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte“ anhand dieser gemeinsamen Standards in den Europaratsstaaten, und damit für eine Orientierung der Konsens-Prüfung am Konsens der Europaratsstaaten.166 Die Präambel nimmt darüber hinaus aber auch Bezug auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN – ein 162  Young, International and Comparative Law Quarterly 56 (2007), 907, 930. Siehe in diesem Zusammenhang auch Crema, in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 13, 22, der verschiedene bei der dynamischen Auslegung zu beachtende Aspekte „independent of the intentions of the parties“ darlegt. 163  Auch Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 137 ordnen die Berücksichtigung internationalen Rechts hier ein. Siehe in diesem Zusammenhang auch Djeffal, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 71, 86 ff., der den Sinn und Zweck der EMRK schon für die Lösung des Problems unterschiedlicher Rechtsauffassungen in den Europaratsstaaten anführt. 164  Ziel und Zweck eines völkerrechtlichen Vertrags können insbesondere aus der Präambel ersehen werden, vgl. Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 428; Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31, S. 585, Rn. 55. 165  Matscher, in: Macdonald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 63, 69. Eben dies hat der EGMR mit der Statuierung der EMRK als „living instrument“, das „in the light of present-day conditions“ ausgelegt werden müsse, getan. Vgl. hierzu Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31, S. 574, Rn. 26; er erklärt: „[T]he dynamic approach to treaty interpretation, rather than being founded on – and confined to – a certain category of terms used in the treaty, follows from the quasi-constitutional character of the ECHR and the need to receive directions from it for effectively implementing human rights guarantees in a modern world.“ Grabenwarter, in: Zimmermann (Hrsg.), 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, S. 21, 30, ordnet die rechtsvergleichende Auslegung dementsprechend ein als „Auslegung nach dem Grundsatz des effet-utile ‚in the ligt of present day conditions‘.“. 166  Vgl. hierzu und m. w. N. Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 120 ff.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

universelles Soft Law-Dokument,167 aus dem auch der universelle Fokus der Unterzeichnerstaaten bei der Einführung der EMRK deutlich wird.168 Insofern ist die Praxis des EGMR gar nicht zwangsläufig als Abkehr vom „state consent“ einzuordnen – da die Mitgliedstaaten die EMRK selber in den universellen Kontext des Menschenrechtsschutzes eingeordnet haben, kann im Sinne der teleologischen Auslegung hieraus durchaus die Zustimmung abgeleitet werden, die Konventionsrechte auch unter Berücksichtigung menschenrechtlicher Entwicklungen außerhalb des Kreises der Europaratsstaaten169 auszulegen.170 Überdies ist erneut zu bekräftigen, dass der EGMR in der weit überwiegenden Anzahl der untersuchten Fälle denn auch auf die Praxis der Europaratsstaaten abstellte; die Suche nach einem „gesellschaftlichen“ Konsens war nur vereinzelt aufzufinden171 und hier wurde immer auch ein Bezug zu (der Rechtslage in) den Europaratsstaaten hergestellt.172 Crema verdeutlicht denn auch den Wert der Berücksichtigung internationaler Entwicklungen neben 167  Für eine genaue Einordnung dieser Erklärung siehe Rodley, in: Evans (Hrsg.), International law, S. 774, 779. 168  Douglas-Scott, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 167, 184. Mit der Ausrichtung der Konsens-Prüfung über den Kreis der Europaratsstaaten hinaus liegt denn auch nicht unbedingt ein Widerspruch zu diesem universellen Verständnis vor, wie Douglas-Scott ihn hier annimmt. 169  Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 255  f., sprechen im Hinblick auf die Berücksichtigung der Rechtslage außereuropäischer Staaten von einer besonders weitsichtigen dynamischen Auslegung der EMRK, bei der der EGMR als „indefatigable, widely visible human rights locomotive“ auftrete. 170  Vgl. auch Rubel, Entscheidungsfreiräume in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes, S. 92 f. Zu der Möglichkeit, in diesem Zusammenhang auch solche Erkenntnisquellen als Hinweise auf eine spätere Übung der Vertragsparteien zu berücksichtigen, deren Vereinbarkeit mit den Vorgaben der Art. 31 Abs. 3 lit. a oder b WVK abgelehnt wurde siehe auch Crema, in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 13, 26. 171  EGMR (Große Kammer) – Demir and Baykara v. Turkey, 12.11.2008 – 34503/97, Rn. 86; EGMR – Marckx v. Belgium, 13.06.1979 – 6833/74, Rn. 41; darüber hinaus in den in der bereichsspezifischen Untersuchung analysierten Fällen zu Transsexuellenrechten (EGMR – Rees v. The United Kingdom, 17.10.1986 – 9532/81, Rn. 47; EGMR – Cossey v. The United Kingdom, 27.09.1990 – 10843/84, Rn. 40; EGMR (Große Kammer) – Sheffield and Horsham v. The United Kingdom, 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94, Rn. 45; EGMR (Große Kammer) – Christine Goodwin v. The United Kingdom, 11.07.2002 – 28957/95, Rn. 92.) So auch ILC, First report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 19.03.2013, UN Doc. A/CN.4/660, Rn. 133. 172  So auch ILC, First report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 19.03.2013, UN Doc. A/CN.4/660, Rn. 133–134.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung281

Rechtsentwicklungen in den Europaratsstaaten: „It allows the intentions of the parties and a dynamic vision of international law to be taken together, avoiding the risk of arbitrary interpretations of a text, but also breaking up the common, static couplet of loyality to the parties’ intentions and strict textualism.“173 Die komplexe Debatte soll nicht weitergehend ausgeführt werden174 – das Ziel der vorangegangenen Darstellung bestand vielmehr darin, die verschiedenen Aspekte zu strukturieren und aufzuzeigen, an welcher Stelle sie relevant werden. (3) Verhältnismäßigkeitsprüfung Wie im zweiten Teil der Arbeit dargelegt, war eine Unterscheidung zwischen der Verwendung des Konsens-Kriteriums im Rahmen der margin of appreciation-Doktrin sowie der Verhältnismäßigkeitsprüfung besonders problematisch. Daher mag die Differenzierung zwischen diesen beiden Anwendungsbereichen lediglich theoretische Relevanz haben; in dieser Hinsicht ist jedoch anzumerken, dass für die Berücksichtigung des europäischen Konsenses im Grundsatz dieselben Erwägungen gelten wie bei der Auslegung der EMRK. Es handelt sich mit der Abwägung der im konkreten Fall betroffenen Interessen um eine materielle Prüfung, an deren Ende die Entscheidung über das Vorliegen einer Konventionsverletzung steht. Auch hier fungiert der europäische Konsens als internal reason,175 mit dem letztlich ebenfalls der Schutzgehalt der EMRK festgelegt wird, sodass für die Ausrichtung der rechtsvergleichenden Untersuchung auf die obigen Ausführungen unter (2) verwiesen werden kann. cc) Schlussfolgerungen Sowohl in Ansehung der Literatur als auch der Rechtsprechung des EGMR kann der europäische Konsens grundsätzlich als Konsens zwischen den Europaratsstaaten verstanden werden. Mitunter wird jedoch ein stärkeres Gewicht auf internationale Entwicklungen gelegt, die nicht zwangsläufig oder nur eingeschränkt einen Bezug zu den Europaratsstaaten aufweisen. Hieraus muss jedoch nicht der Schluss gezogen werden, der EGMR verfolge kein 173  Crema,

in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 13, 23. hierzu aber grundlegend die Beiträge in Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, im vorliegenden Zusammenhang insbesondere die Ausführungen von Boisson de Chazournes zur „ ‚Practice Family‘ “, Boisson de Chazournes, in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 53. 175  So wohl auch Asche, Die Margin of Appreciation, S. 114. 174  Siehe

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

einheitliches Konsens-Konzept, beziehungsweise wende dieses inkonsequent an. Soeben wurde vielmehr eine Möglichkeit aufgezeigt, die variierende Ausrichtung der Konsens-Prüfung anhand der verschiedenen Funktionen des Konsens-Kriteriums an dessen verschiedenen Anwendungsbereichen zu erklären. In diesem Sinne ist die vielleicht unerwartete Schlussfolgerung zu ziehen, dass diese Variation nicht zwangsläufig von der inkohärenten Anwendung dieser Rechtsfigur durch den EGMR zeugt – sie vermag vielmehr mit einem flexiblen Konsens-Konzept erklärt werden, in dessen Rahmen die Ausrichtung der rechtsvergleichenden Untersuchung anhand ihrer jeweiligen Funktionen an den verschiedenen Anwendungsbereichen angepasst wird. Angesichts dessen erscheint die in der empirischen Untersuchung festgestellte Tendenz, wonach der Gerichtshof bei der margin of appreciation-Bemessung stärker auf die Rechtslage der Europaratsstaaten abstellte, während er internationale Übereinkommen bei der (dynamischen) Auslegung der EMRK sowie der Verhältnismäßigkeitsprüfung durchaus auch gleichermaßen heranzog und hier auch explizit nach einem internationalen Konsens suchte, geradezu plausibel. Fraglos setzt eine derart differenzierte Betrachtung voraus, dass diese Anwendungsbereiche des europäischen Konsenses überhaupt unterschieden werden können;176 auch gilt es zu beachten, dass aufgrund des speziellen Blickwinkels der empirischen Untersuchung mit dem sehr konkreten Beispiel von Europaratsdokumenten nicht von einer allgemeinen Regel gesprochen werden sollte, sondern lediglich Tendenzen angenommen wurden. Weiter schließt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Verwendung desselben Kriteriums an mehreren Anwendungsbereichen an; mit der Möglichkeit, den europäischen Konsens an verschiedenen Stellen im Urteil, womöglich auch mehrfach innerhalb desselben Urteils, zu verwenden, ergeben sich Einflussmöglichkeiten für den Gerichtshof auf die Auswirkungen dieses Kriteriums, die zu einer willkürlichen Verwendung führen können.177 176  Problematisch ist die hier vorgeschlagene Differenzierung insbesondere hinsichtlich der Prüfung der Verletzung einer positive obligation, da eine Unterscheidung einzelner Prüfungspunkte hier oftmals nicht möglich ist; so etwa in den Urteilen zu Rechten Transsexueller, die unter „Dritter Teil, § 4“ analysiert wurden. 177  Siehe in diesem Zusammenhang etwa van Drooghenbroeck/Krenc/van der Noot, in: Brems/Desmet (Hrsg.), Integrated human rights in practice, S. 31, 33 ff., zum Urteil in EGMR – National Union of Rail, Maritime and Transport Workers v. The United Kingdom, 08.04.2014 – 31045/10. Hier entstand die paradoxe Situation, dass internationale Übereinkommen sowie auch ein Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten vom Gerichtshof maßgeblich für die Auslegung des Schutzbereichs herangezogen wurden (Rn. 76), er diese Informationen im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung dann aber nicht mehr für entscheidend erachtete, sodass im Ergebnis eine Konventionsverletzung doch abgelehnt wurde. Hier schien insbesondere die Bemessung der margin of appreciation als weit angesichts der Tatsache, dass Großbritannien neben wenigen anderen Staaten die strengsten Regelungen in der betreffenden Rechtsfrage kannte (Rn. 86 und 91), fragwürdig (vgl. auch van Drooghenbroeck/



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung283

Einige Autoren fordern denn auch, den europäischen Konsens lediglich an bestimmten Stellen der Konventionsprüfung anzuwenden.178 Letztlich bleibt die dargelegte Erklärung lediglich ein theoretischer Versuch einer differenzierten Konzeptionierung des europäischen Konsenses – eine derartige Begründung für die variierende Auswahl und Gewichtung der verschiedenen Erkenntnisquellen wurde in den analysierten Urteilsbegründungen des EGMR nicht geäußert. Solange der EGMR sein Vorgehen nicht erläutert und keine klare Zuteilung des Konsens-Kriteriums zu einem oder mehreren Anwendungsbereichen vornimmt, verbleibt Grund für die dargelegte prozessuale Kritik an einer inkonsistenten sowie schlicht ergebnisorientierten rechtsvergleichenden Argumentation unter dem Begriff europäischer Konsens. b) Untersuchungsvorgehen Nachdem soeben das Ziel der rechtsvergleichenden Untersuchung als die Ermittlung eines möglichen europäischen Konsenses zur (dynamischen) Auslegung der EMRK, zur Bemessung der margin of appreciation beziehungsweise im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bestimmt wurde, sollen nun methodische Vorschläge für die Durchführung der rechtsvergleichenden Untersuchung unterbreitet werden. Diese können sowohl die Ermittlung rechtsvergleichender Informationen als auch die Auswertung dieser Informationen im Hinblick auf die Konsens-Prüfung betreffen.179 Zunächst werden die Erkenntnisquellen Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten (aa)) und internationale Übereinkommen (bb)) für sich genommen behandelt. Sodann wird ihr Verhältnis zueinander erörtert, wobei Kriterien für die Auswahl und Gewichtung dieser Erkenntnisquellen im Hinblick auf die jeweiligen Krenc/van der Noot, in: Brems/Desmet (Hrsg.), Integrated human rights in practice, S. 31, 36). 178  Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 360, fordert, sauberer zwischen beiden Rechtsfiguren zu trennen und die rechtsvergleichende Methode lediglich bei der Bemessung der margin of appreciation anzuwenden. Djeffal, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 71, 95 erklärt dagegen „[T]he consensus doctrine should be limited to situations in which the Court balances different considerations in the context of assessing the proportionality of a specific case, and not to treaty interpretation.“ Asche, Die Margin of Appreciation, lehnt den europäischen Konsens sowohl als Faktor im Rahmen der margin of appreciation-Bemessung als auch bei der dynamischen Auslegung der EMRK ab, vgl. S. 116 ff. und 136 ff. 179  „In comparative law a method denotes all practices and operations by means of which pieces of information describing phenomena are collected and the justifiable rules on the basis of which interpretations concerning the study topics are formed and argumentatively expressed.“, Husa, A new introduction to comparative law, S. 98.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

Untersuchungsziele aufgestellt werden sollen [cc)]. Im Sinne der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit soll dabei ein besonderes Augenmerk auf der Rolle internationalen Soft Laws, insbesondere von Europaratsdokumenten liegen. aa) Vergleichende Untersuchung des nationalen Rechts der Europaratsstaaten Mangels Veröffentlichung der rechtsvergleichenden Studien der Research Division, die der Konsens-Ermittlung des EGMR zugrundeliegen, ist eine Beurteilung der rechtsvergleichenden Untersuchung zwischen den Europaratsstaaten nicht vollumfänglich möglich. Daher sollen hier lediglich die wesentlichen Aspekte aufgegriffen und knapp erörtert werden. Die Frage der „case selection“, also der Auswahl der für die Beantwortung der Rechtsfrage zu vergleichenden Systeme, ist für eine erfolgreiche Rechtsvergleichung essenziell und daher wohl zu überdenken.180 Die Auswahl der Europaratsstaaten für die rechtsvergleichenden Studien sind oftmals Gegenstand von Kritik. So lassen die rechtsvergleichenden Untersuchungen in den meisten Fällen eine umfassende Analyse aller Europaratsstaaten vermissen.181 Møse erklärt: „For administrative and budgetary reasons, it is not possible to include all forty-seven CoE member states in the comparative research conducted in each case. Normally, the survey is limited to around thirty to thirtyfive countries.“182 Unklar ist darüber hinaus auch, wie viele Staaten mindestens verglichen werden müssen, damit der Rechtsvergleich für die Beurtei180  Siehe hierzu etwa Hirschl, The American Journal of Comparative Law 53 (2005), 125. 181  Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 729. Dzehtsiarou, Consensus from within the Palace Walls, S. 6. Auch in den für diese Arbeit untersuchten Urteilen der Großen Kammer wurde in der überwiegenden Zahl der Fälle kein umfassender Rechtsvergleich aller 47 Europaratsstaaten vorgenommen. Siehe nur als einige Beispiele von vielen: 20 von 47 in EGMR (Große Kammer) – Stanev v. Bulgaria, 17.01.2012 – 36760/06, vgl. Rn. 88 ff.; offenbar ebenfalls nur 20 von 47 in EGMR (Große Kammer) – S. and Marper v. The United Kingdom, 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04, vgl. Rn. 45; 39 von 47 in EGMR (Große Kammer) – Lambert a. o. v. France, 05.06.2015 – 46043/14; 39 von 47 in EGMR (Große Kammer) – X a. o. v. Austria, 19.02.2013 – 19010/07, Rn. 56; 40 von 47 in EGMR (Große Kammer) – Stummer v. Austria, 07.07.2011 – 37452/02; 42 von 47 in EGMR (Große Kammer) – Fabris v. France, 07.02.2013 – 16574/08, Rn. 34. Mahoney und Kondak erklären, dass in Fällen vor der Großen Kammer ca. 40 Staaten verglichen werden, in Fällen vor einer Kammer etwa 30–35, Mahoney/Kondak, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law, S. 119, 125. 182  Møse, in: Müller/Kjos (Hrsg.), Judicial Dialogue and Human Rights, S. 410, 411. Darüber hinaus hätten die Richter sowie die Angestellten oftmals weitergehende Kenntnisse über Situationen in den Europaratsstaaten, die nicht in dem Bericht aufgeführt würden.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung285

lung eines europäischen Konsenses verwendet werden kann, und wie viele dieser Staaten derselben Auffassung sein müssen, damit von einem europäischen Konsens gesprochen werden kann.183 Grundsätzlich ist die Berücksichtigung auch einer lediglich mehrheitlich praktizierten Übung der Europaratsstaaten für die Vertragsauslegung nach der WVK jedoch nicht ausgeschlossen.184 Weiter mag ein lückenhafter Rechtsvergleich zunächst vor dem Hintergrund der mit dem europäischen Konsens bezweckten legitimierenden Wirkung kritikwürdig erscheinen; wenn das Konsens-Kriterium eine evolutive Auslegung rechtfertigen soll, indem es die neue beziehungsweise veränderte Rechtsprechung mit dem Argument begründet, in den Europaratsstaaten herrsche ohnehin bereits ebendiese Auffassung vor, so erscheint dieses Argument mit jedem Staat, den der EGMR bei der Analyse der herrschenden Auffassung außer Acht lässt, schwächer. Die Möglichkeit der Zusammenfassung mehrerer Rechtsordnungen unter einer „Mutterordnung“,185 in „legal families“186 beziehungsweise Rechtskreise187 wird im Schrifttum zur rechtsvergleichenden Methodik jedoch durchaus diskutiert.188 Møse erklärt dementsprechend auch, dass der Gerichtshof bei der Auswahl der zu untersuchenden Staaten auf eine repräsentative Zusammenstellung bedacht sei, die die unterschiedlichen Rechtstraditionen in den Europaratsstaaten reflektiere.189 Im Schrifttum wird jedoch kritisiert, dass die Auswahl der zu vergleichenden Rechtsordnungen offenbar keinem System folge.190 Vor diesem Hintergrund wird erneut die Problematik deutlich, dass der EGMR die Grundlagen seiner rechtsvergleichenden Ausführungen nicht transparent offenlegt. Eine Erklärung für die getroffene Auswahl bleibt er stets schuldig; mitunter legt er nicht einmal offen, welche Staaten konkret untersucht wur183  Siehe

hierzu bereits „Zweiter Teil, § 2 B. III.“ erneut „Vierter Teil, § 2 A.“ 185  Zu derartigen „in ihrer Entwicklung reife[n] Rechtssysteme[n]“ und ihrer „Rezeption oder […] Nachahmung“ durch „Tochterrecht[e]“ siehe Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 40 ff. 186  Siehe hierzu eingehend Pargendler, The American Journal of Comparative Law 60 (2012), 1043. 187  Siehe hierzu Augenhofer, in: Krüper/Augenhofer/Funke u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, S. 197, 212 ff. 188  Vgl. auch die umfassende (und mitunter kritische) Darstellung von Kischel, Rechtsvergleichung, S. 217 ff., sowie Husa, A new introduction to comparative law, S. 224 ff. und S. 253 ff. m. w. N. Konkret im Kontext der EGMR-Rechtsprechung steht die Erörterung von Dzehtsiarou, University College Dublin Law Review 10 (2010), 109, 125 f. 189  Møse, in: Müller/Kjos (Hrsg.), Judicial Dialogue and Human Rights, S. 410, 411. 190  Kritisch hierzu Zwart, in: Phlogaitēs (Hrsg.), The European Court of Human Rights and its discontents, S. 71, 90. 184  Siehe

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

den. Ob die Auswahl bewusst oder zufällig (also willkürlich) erfolgt, bleibt damit letztlich unklar. Neben der Frage der Auswahl zu untersuchender Rechtsordnungen ist auch die Frage nach der konkreten Untersuchung dieser Rechtsordnungen relevant. Welche Rechtsquellen des jeweiligen Staates untersucht wurden (Gesetze, Rechtsprechung), geht meist ebenfalls nicht aus den Urteilen hervor.191 Laut Nußberger wird bei der Beurteilung der Rechtslage in den Europaratsstaaten jedenfalls „weder der historische noch der soziologische Kontext in den Blick genommen“.192 Die Frage, wie eingehend die jeweiligen (Rechts-)Ordnungen der betreffenden Staaten untersucht werden müssen, stellt einen wesentlichen Streitpunkt in der Literatur rund um die Rechtsvergleichung dar; angesprochen ist damit der „context of the law“193. Die Grundannahme der funktionalen Rechtsvergleichung, vergleichbare Funktionen durch eine bloße Analyse von Rechtsquellen zu ermitteln, mag verlockend erscheinen.194 Hervorgehoben wird jedoch das Erfordernis, neben Gesetzen sowie anderen Rechtsquellen auch gesellschaftliche, kulturelle sowie historische Umstände in die Analyse mit einzubeziehen.195 Vor dem Hintergrund der engen Verwobenheit nationalen Rechts mit diesen Umständen kritisieren einige Autoren bereits den Ansatz der Suche nach Gemeinsamkeiten in verschiedenen Rechtsordnungen an sich.196 Wenngleich diese Erwägungen durchaus ihre Berechtigung haben, so scheinen sie doch vor allem für wissenschaftliche, an reiner Erkenntnisgewinnung orientierte rechtsvergleichende Untersuchungen relevant. Angesichts des Umstands, dass der Gerichtshof nicht einmal über ausreichend Kapazitäten verfügt, um alle 47 Rechtsordnungen der Europaratsstaaten im Hinblick auf die konkrete rechtliche Fragestellung zu untersuchen, ist offenkundig, dass die Durchführung dieser Untersuchung unter zusätzlicher Berücksichtigung des gesamten jeweiligen Rechtssystems und historischer und soziologischer Hintergründe praktisch schwer umsetzbar wäre. Auch hier kann jedoch zumindest ein koauch Regan, Trinity College Law Review 14 (2011), 51, 55. in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 728. 193  Van Hoecke, Law and Method 2015, 1, S. 6. Siehe hierzu auch Kischel, Rechtsvergleichung, S. 98. 194  Jackson, Constitutional engagement in a transnational era, S. 182. 195  Van Hoecke, Law and Method 2015, 1, 6 f. Siehe weiter auch Eberle, Roger Williams University Law Review 16 (2011), 51, 52 ff. („Law sits within a culture.“); Jackson, in: Rosenfeld/Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, S. 54, 66 f. 196  Siehe etwa Legrand/Munday (Hrsg.), Comparative legal studies, S. 245  f.: „The desire for sameness breeds the expectation of sameness which, in turn, begets the finding of sameness.“ Vgl. auch die Darstellung der „Kritik an den Hintergründen“ der funktionalen Rechtsvergleichung von Kischel, Rechtsvergleichung, S.  100 ff. 191  So

192  Nußberger,



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung287

härentes Vorgehen gefordert werden. In der Regel beantwortet der EGMR für jeden Staat die rechtsvergleichende Frage und zählt daraufhin, wie viele Staaten welche Regelung treffen.197 In einigen der untersuchten Urteilsbegründungen argumentierte er indes anhand einer tiefergehenden Analyse. Dies fiel etwa in den Fällen S.A.S. v. France sowie Odièvre v. France auf, in denen die Argumentation offenbar ergebnisorientiert erfolgte und wie bereits dargelegt nicht zu überzeugen vermochte.198 Der EGMR bezog neben der Rechtslage in den Europaratsstaaten gesellschaftliche Entwicklungen und Debatten sowie regionale Besonderheiten innerhalb der Staaten in seine Konsens-Prüfung mit ein. Eine eingehendere Analyse der Hintergründe und Entwicklungen der Regelungen in den einzelnen Staaten mag im Grundsatz begrüßenswert sein.199 Wird ein derartiges Vorgehen jedoch (ohne nähere Begründung eines entsprechenden Bedürfnisses im konkreten Fall) selektiv nur in besonders kontroversen Fällen angewandt, um das anhand der Rechtslage gewonnene Ergebnis zu relativieren, erweckt dies den Eindruck willkürlicher rechtsvergleichender Argumentation. bb) Internationale Übereinkommen Während einige Arbeiten auch die Einbeziehung internationalen Rechts in die Rechtsvergleichung besprechen,200 ist die Disziplin vorrangig doch auf nationale Rechtsordnungen ausgerichtet.201 Internationales Recht steht damit nicht im Fokus der Diskussion um rechtsvergleichende Methodik.202 Reimann stellt dementsprechend fest: „[C]omparative lawyers normally do not study classic international law. […] Comparatists are focused on national systems and have by […] large ignored international law as an object of 197  Insofern ist übrigens durchaus eine im wahrsten Sinne des Wortes mathematische Komponente in der Rechtsvergleichung des EGMR ausgemacht. 198  Siehe erneut „Dritter Teil, § 5 C. III. 6.“ 199  Van Hoecke, Law and Method 2015, 1, 7. 200  Im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Rechtsvergleichung siehe etwa Cleveland, The Yale Journal of International Law 31 (2006), 1; Jackson, Con­ stitutional engagement in a transnational era, S. 183. Grundlegend zur Rechtsvergleichung siehe Kischel, Rechtsvergleichung, S.  947 ff. 201  „Comparative research is still mainly about comparing national legal systems“, van Hoecke, Law and Method 2015, 1, 3. „The essence of comparative law is the act of comparing the law of one country to that of another“, Eberle, Roger Williams University Law Review 16 (2011), 51, 52. Wie einleitend bereits dargelegt, gilt diese Ausrichtung auf die vergleichende Untersuchung nationaler Rechtsordnungen auch konkret für die Literatur zur Konsens-Ermittlung durch den EGMR. 202  Wie Jackson erläutert, stellen sich bei der Berücksichtigung internationalen Rechts unterdessen auch weniger rechtsvergleichende Probleme, vgl. Jackson, Constitutional engagement in a transnational era, S. 170 f.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

study.“203 Er hält die Untersuchung internationalen Rechts auch im Vergleich zu nationalem Recht jedoch für potenziell „highly informative“204 und erklärte in dieser Hinsicht bereits: „[C]omparative law fell behind the times“.205 In der Rechtsprechung des EGMR ist diese Art der Rechtsvergleichung dagegen gängige Praxis. Wie im Zweiten und Dritten Teil der Arbeit deutlich wurde, zieht der EGMR mit völkerrechtlichen Verträgen (sowie deren Auslegung durch dafür berufene gerichtliche Stellen) und Soft Law-Dokumenten eine Vielfalt internationaler Übereinkommen in Betracht. Bei der Untersuchung der internationalen Übereinkommen im Hinblick auf die rechtsvergleichende Fragestellung stellen sich die soeben bei der Rechtsvergleichung nationalen Rechts aufgezeigten Probleme nicht in vergleichbarer Weise. Wie bereits dargelegt nimmt der EGMR dafür oftmals die von den zuständigen Spruchkörpern vorgenommenen Konkretisierungen zur Hilfe; darüber hinausgehend möglicherweise zu berücksichtigende Umstände, wie die gesellschaftlichen oder historischen Besonderheiten einzelner Staaten beim Rechtsvergleich nationaler Regelungen, liegen hier nicht vor. Insofern ist die Argumentation des Gerichtshofs an internationalen Übereinkommen auch besser nachvollziehbar als Erörterungen der nationalen Rechtslage in den Europaratsstaaten.206 Hinsichtlich der „case selection“ ist indes (vergleichbar mit der Auswahl zu untersuchender Staaten) zu fragen, wie die Zusammenstellung relevanter internationaler Übereinkommen erfolgen sollte.207 Hier geht es noch nicht um die Frage, ob die Übereinkommen tatsächlich ausschlaggebend für die Konsens-Ermittlung sind; dieser Punkt wird im nächsten Abschnitt bei der Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter Erkenntnisquellen erörtert. Es geht vielmehr darum, welche Dokumente überhaupt in die Auswahl potenziell ausschlaggebender Erkenntnisquellen aufgenommen werden. Grundsätzlich können alle inhaltlich einschlägigen internationalen Überein203  Reimann, in: Bussani/Mattei (Hrsg.), The Cambridge companion to comparative law, S. 13, 18. 204  Reimann, in: Bussani/Mattei (Hrsg.), The Cambridge companion to comparative law, S. 13, 18. 205  Reimann, Tulane Law Review 75 (2001), 1103, 1104. „[T]here are actually a few works that pay more than passing attention to international materials, but they are rare and present happy exceptions to the unhappy rule of ignorance or neglect.“, S. 1110. 206  Senden, Interpretation of fundamental rights in a multilevel legal system, S. 253–258. 207  Zur Frage, ob internationale Übereinkommen prozedural eher den Tatsachen des Falles, oder aber dem Recht zuzuordnen sind, anhand dessen die Tatsachen geprüft werden, siehe van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 470 ff.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung289

kommen für die Konsens-Ermittlung in Betracht kommen. Der EGMR überschreibt die in „The facts“ dargelegten internationalen Übereinkommen regelmäßig mit Überschriften wie „relevant international materials“.208 Als relevant könnten prinzipiell alle Übereinkommen gelten, die sich mit demselben Rechtsbereich befassen wie die auszulegende Konventionsbestimmung, aus denen also eine Aussage zur in Rede stehenden rechtlichen Fragestellung ableitbar ist.209 Fraglich ist, wie diese Dokumente ermittelt werden. Jedenfalls sollten erstens die von den Verfahrensbeteiligten angeführten Übereinkommen einbezogen werden. In einigen der untersuchten Urteile hatte sich der EGMR nicht mit Erkenntnisquellen, die von den Antragstellern, dritten Parteien oder Sondervoten angebracht wurden, auseinandergesetzt, und diese – was besonders kritisch zu bewerten ist – nicht einmal in „The facts“ in das Urteil aufgenommen. Angesichts der dokumentarischen Funktion, die dem Teil „The facts“ zukommt,210 vermittelt dies den Eindruck, dass der Gerichtshof diese Dokumente damit auch nicht in seine Erwägungen mit einbezogen hat.211 Dies war in Hämäläinen v. Finland sowie in Odièvre v. France der Fall, wo jeweils nur das Ergebnis eines Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten in „The facts“ dargelegt wurde, und andere relevante Erkenntnisquellen lediglich von einer dritten Partei beziehungsweise durch eine abweichende Meinung angeführt wurden.212 Überdies kritisierte der Richter Jungwiert in seinem Sondervotum zu D. H. a. o. v. The Czech Republic, dass ein zentrales Dokument im Urteil fehle:

208  Siehe etwa EGMR (Große Kammer) – Stummer v. Austria, 07.07.2011 – 37452/02, Rn. 46 (III.). 209  Zur ähnlichen Fragestellung im Rahmen des Begriffs der Relevanz in Art. 31 Abs. 3 lit. c WKV siehe etwa Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31, S. 610, Rn. 102. 210  Vgl. erneut Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 48. 211  Zwar erklärt Nußberger, dass es umstritten ist, welche Materialien in „The facts“ zitiert werden sollten: „According to one school of thought, the material quoted should be restricted to what will be directly used and quoted in the legal analysis. Others argue that even material consulted but not relied upon should be included.“, Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 48 f. Allerdings trat in der empirischen Urteilsanalyse eine Vielzahl von Fällen auf, in denen der EGMR Soft Law-Übereinkommen in „The facts“ aufnahm, und es in seiner Urteilsbegründung nicht aufgriff, sodass davon auszugehen ist, dass der EGMR die zweite von Nußberger genannte Auffassung praktiziert. 212  Vgl. EGMR (Große Kammer) – Hämäläinen v. Finland, 16.07.2014 – 37359/09, Rn.  31  ff. und 56; EGMR (Große Kammer) – Odièvre v. France, 13.02.2003 – 42326/98, Joint dissenting opinion der Richter Wildhaber, Sir Nicolas Bratza, Bonello, Loucaides, Cabral Barreto, Tulkens und Pellonpää, Rn. 15.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

„[T]he majority of the recommendations, reports and other documents [the judgment] cites are relatively vague, largely theoretical and, most important of all, were published after the period with which the instant case is concerned […]. The sole resolution on the subject that is concrete and accurate […] is the Resolution of the Council and the Ministers of Education meeting within the Council of 22 May 1989 on school provision for gypsy and traveller children. Regrettably and to my great surprise, this crucial document is not among the sources cited in the Grand Chamber’s judgment.“213

Der Gerichtshof sollte diese Dokumente in „The facts“ aufnehmen. Zweitens sollte er auch selbst prüfen, ob einschlägige internationale Übereinkommen vorliegen. Zwar erscheint es angesichts deren Vielfalt und Anzahl schwierig, jedes inhaltlich einschlägige Dokument zu ermitteln;214 durch die Begrenzung auf den speziellen Bereich des Menschenrechtsschutzes ist die Auswahl jedoch eingegrenzt.215 Das Vorliegen relevanter Übereinkommen, welche im Rahmen internationaler Organisationen verabschiedet wurden, sollte überprüft werden, und hierbei insbesondere das Vorliegen von Europaratsdokumenten, welche wie sogleich dargelegt eine besondere Bedeutung für die rechtsvergleichende Auslegung und Anwendung der EMRK haben. cc) Auswahl und Gewichtung entscheidungsrelevanter Erkenntnisquellen Welche Bedeutung sollten die verschiedenen Erkenntnisquellen für die Konsens-Ermittlung haben? Dies hängt im Hinblick auf die verschiedenen Anwendungsbereiche des europäischen Konsenses davon ab, welche Erkenntnisquelle über das jeweilige Ziel der rechtsvergleichenden Untersuchung am ehesten Aufschluss gibt. Sofern bei der Entscheidung über den Schutzgehalt der EMRK (im Rahmen der dynamischen Auslegung der EMRK oder der Verhältnismäßigkeitsprüfung) weniger der Wille der Europaratsstaaten, sondern internationale Standards (im Sinne eines internationalen Konsenses) als maßgeblich erachtet werden, sind internationale Übereinkommen die ausschlaggebenden Erkenntnisquellen.216 Hier kommt es auch nicht zwangsläufig darauf an, ob die 213  EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Dissenting opinion des Richters Jungwiert, Rn. 5 f. 214  Siehe hierzu eingehend van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimes­ trielle des droits de l’homme 2012, 433, 472 f., die den Bestand mit einem Ozean vergleichen; Staes, When the European Court of Human Rights refers to External Instruments to interpret the European Convention, S. 2 spricht von einem Dschungel. 215  Zu diesem Vorteil im Rahmen der Auswahl zu vergleichender internationaler Übereinkommen als „The Toughest Challenge“ siehe Reimann, Tulane Law Review 75 (2001), 1103, 1118. 216  So im Ergebnis auch Ambrus, Erasmus Law Review 2 (2009), 353, 370 f.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung291

Europaratsstaaten dem Abschluss eines Übereinkommens rechtsverbindlich zugestimmt haben, und es können auch andere regionale Menschenrechtsregime beachtet werden, wie die AMRK. Auch bei der Ermittlung eines europäischen Konsenses im Sinne eines allgemeinen europäischen Werteverständnisses kommt es nicht vorrangig auf den Willen der Europaratsstaaten an, sodass hier beispielsweise auch Expertenmeinungen mit einbezogen werden können. Diese Ausrichtung bietet sich insbesondere in Fällen des Minderheitenschutzes an, in denen die oben genannten Argumente gegen die Auslegung der EMRK anhand des Konsenses der Europaratsstaaten besonders schwer wiegen.217 Der europäische Konsens wird indes sowohl in der Rechtsprechung des EGMR als auch in der Literatur regelmäßig als Konsens der Europaratsstaaten verstanden. Ungeachtet der genannten denkbaren Schwerpunktsetzungen soll im Folgenden daher grundlegend erörtert werden, wie die Auswahl und Gewichtung der Erkenntnisquellen in diesem Sinne bei der Ermittlung eines europäischen Konsenses der Europaratsstaaten erfolgen sollte.218 (1) R  echtsvergleich zwischen dem nationalen Recht der Europaratsstaaten und völkerrechtliche Verträge Aufschluss über den Willen der Europaratsstaaten zu einer Rechtsfrage vermögen insbesondere deren nationale Rechtslage sowie völkerrechtliche Verträge zu geben, in welchen sich die Europaratsstaaten verbindlich zur Einhaltung der hier vereinbarten Regeln verpflichten. Wie Ulfstein hervorhebt weisen letztere überdies den Vorteil auf, dass sich die Vertragsparteien hier verbindlich zu einer internationalen Verpflichtung bekennen.219 Das Ergebnis eines Rechtsvergleichs zwischen nationalen Regelungen entfaltet dagegen keine Rechtsverbindlichkeit für die Europaratsstaaten in diesem Sinne220 und entstammt überdies deren nationalrechtlichem Bereich, weshalb argumentiert werden kann, dass es nicht zwangsläufig unmittelbar Aufschluss 217  Siehe erneut „Vierter Teil, § 2 B. II. 2. a) bb) (2)“. Hier seien erneut die wiederholte Bezugnahme auf gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen in Fällen zu Transsexuellenrechten (siehe erneut Fn. 171 in diesem Teil) sowie die besondere Ausrichtung der Konsens-Prüfung an internationalen Übereinkommen in den Fällen zur Roma-Minderheit, (siehe erneut „Dritter Teil, § 5 C. II. 3. d)“) hervorgehoben, die vor diesem Hintergrund besonders einleuchten. 218  In den nachfolgenden Ausführungen wird der Begriff europäischer Konsens dementsprechend im Sinne eines Konsenses der Europaratsstaaten verwendet. 219  Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 92. 220  Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Jackson, Constitutional engagement in a transnational era, S. 169, zur verfassungsrechtlichen Rechtsvergleichung.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

über die Zustimmung der Europaratsstaaten zu einer internationalen Verpflichtung gibt.221 Auch hier zeigt sich jedoch die Auffassung der Europaratsstaaten zu einer Rechtsfrage „in vergleichsweise verbindlicher Form“.222 Der Verweis auf einen Unterschied zwischen der Zustimmung zu einer natio­ nalen beziehungsweise internationalen Verpflichtung wird darüber hinaus im Hinblick auf die EMRK angesichts des Umstands relativiert, dass sich die Europaratsstaaten immerhin zur Einhaltung der hier verbürgten Menschenrechte verpflichtet haben; sie haben die Konventionsbestimmungen ohnehin (wie auch immer konkret ausgestaltet) ins nationale Recht integriert und setzen die Urteile des EGMR in aller Regel im Rahmen ihrer nationalen Jurisdiktion um. Daher kann umgekehrt auch davon ausgegangen werden, dass sich aus der Einführung nationaler Regelungen ebenso ein Verständnis der Europaratsstaaten im Hinblick auf die EMRK ableiten lässt.223 Darüber hinaus kann ein Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten in der Praxis eine weitaus bedeutsamere Erkenntnisquelle zur Ermittlung eines europäischen Konsenses sein, da sich hieraus Rückschlüsse auf den Willen der Europaratsstaaten auch zu konkreten rechtlichen Fragestellungen ziehen lassen, die vor dem EGMR relevant werden können. Internationales Recht verbleibt demgegenüber zumindest im Rahmen multilateraler menschenrechtlicher Verträge oftmals allgemein, und mögliche Konkretisierungen durch judizielle Organe teilen nicht unbedingt die Rechtsverbindlichkeit der betreffenden Vertragswerke.224 Vereinzelt treten jedoch auch Fälle auf, in denen nicht alle Europaratsstaaten Regelungen zu der betreffenden Rechtsfrage getroffen haben, weil es sich dabei um regionale Probleme handelt, die in den Europaratsstaaten in völlig unterschiedlichem Ausmaß und in einigen Staaten gar nicht auftreten;225 so 221  Ulfstein leitet hieraus den Schluss ab, dass völkerrechtliche Verträge eher geeignet seien, über die Zustimmung der Staaten zu einer internationalen Verpflichtung Aufschluss zu geben: „While developments in national legislation indicate the attitudes of member States on rights protection as an aspect of domestic law, it does not necessarily establish a basis for assessing their views on their international obligations.“, Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 92. 222  Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 723. Überdies ist daran zu erinnern, dass bereits eine spätere Übung der Vertragsparteien im (engeren) Sinne des Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK kein rechtsverbind­ liches Handeln der Staaten erfordert, vgl. Fn. 77 in diesem Teil. 223  Vgl. in diesem Sinne auch Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 29 f., sowie bereits Fn. 78 in diesem Teil. 224  Vgl. auch Jackson, Constitutional engagement in a transnational era, S. 172 (hinsichtlich verfassungsrechtlicher Rechtsvergleichung). 225  Siehe hierzu auch Nußberger, in: Beckmann (Hrsg.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft, S. 717, 729.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung293

etwa in den bereits untersuchten Fällen zu den Rechten der Roma-Minderheiten, insbesondere in D. H. a. o. v. The Czech Republic226.227 In derartigen Fällen können internationale Übereinkommen durchaus die bedeutsamere Erkenntnisquelle sein, wenn sich hier auch jene Staaten zu der betreffenden Rechtsfrage äußern, die keine nationalen Regelungen dazu haben. Dies gilt unmittelbar indes nur für völkerrechtliche Verträge, bei denen sich auch alle Europaratsstaaten rechtsverbindlich gebunden haben. Wie in dieser Arbeit immer wieder hervorgehoben wurde, berücksichtigt der EGMR neben solchen Dokumenten jedoch eine Vielfalt anderer internationaler Übereinkommen, mit unterschiedlicher Rechtsqualität und einem unterschiedlichen Kreis teilhabender Staaten. Damit ist die Rolle internationalen Soft Laws angesprochen. (2) Die Bedeutung internationalen Soft Laws Da sich aus der Zustimmung zu einem Soft Law-Dokument kein rechtsverbindlicher Wille hinsichtlich der hier enthaltenen Regelungen ergibt, sollten Soft Law-Dokumente für die Ermittlung eines europäischen Konsenses im Grundsatz weniger stark gewichtet werden als die soeben genannten beiden Erkenntnisquellen.228 Nichtsdestotrotz birgt Soft Law ein nicht zu verkennendes Potenzial, Aufschluss über die Auffassung der Staaten zu den in Rede stehenden Fragen zu geben. Gegenüber einem Rechtsvergleich zwischen Europaratsstaaten können Soft Law-Dokumente vereinzelt (ebenso wie völkerrechtliche Verträge) den Vorteil aufweisen, dass sich hier alle Europaratsstaaten zu einer Rechtsfrage äußern, zu der es womöglich nicht in allen Europaratsstaaten auch nationale Regelungen gibt. Wie im ersten Teil dargelegt, bieten sie den Staaten darüber hinaus im Vergleich zu völkerrechtlichen Verträgen flexiblere Möglichkeiten, sich zu einem Thema oder Problem zu äußern. Für die Aussagekraft internationaler Übereinkommen über den Willen der Europaratsstaaten sind die

226  Während beispielsweise in Deutschland zwischen 110.000 und 140.000 Roma bei einer Bevölkerungszahl von 80 Millionen Menschen lebten, waren es in Tschechien zwischen 200.000 und 250.000 Roma bei einer Bevölkerungszahl von 10 Millionen Menschen, vgl. EGMR (Große Kammer) – D. H. a. o. v. The Czech Republic, 13.11.2007 – 57325/00, Dissenting opinion des Richters Jungwiert, Rn. 4. 227  Weiter ist auch an Entscheidungen im Zusammenhang mit regionalen Konflikten zu denken, wie im bereits dargestellten Fall Broniowski v. Poland, „Dritter Teil, § 5 D.“ 228  Eine abgestufte Berücksichtigung „between binding and non-binding instruments“ fordert auch Ulfstein, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 83, 92 f.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

Aktualität229 sowie die Prägnanz der Informationen aus den jeweiligen Erkenntnisquellen im Hinblick auf die rechtsvergleichende Fragestellung maßgebliche Aspekte. Die Urteilsanalyse hat denn auch gezeigt, dass der Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung oftmals die internationalen Übereinkommen aufgriff, die die aktuellsten beziehungsweise konkretesten Aussagen zu der in Rede stehenden Rechtsfrage enthielten, und dies waren oftmals auch Soft Law-Dokumente. Weiter wird die Aussagekraft eines Soft Law-Dokuments verstärkt, wenn sich eine hier vereinbarte Regelung auch in den nationalen Rechtsordnungen wiederfindet.230 Umgekehrt spricht die unterlassene Umsetzung einer solchen Vereinbarung im nationalen Recht eher gegen einen dementsprechenden europäischen Konsens. Die Entscheidungsrelevanz eines Soft Law-Dokuments hängt damit auch von seiner Rezeption durch die Europaratsstaaten,231 und damit konkret auch vom Vorliegen anderer Erkenntnisquellen ab.232 Im Einzelfall kann es dementsprechend auch durchaus vorkommen, dass dasselbe Dokument, oder Dokumente derselben Art und desselben Urhebers, in unterschiedlichen Fällen eine unterschiedliche Entscheidungserheblichkeit aufweisen.233 Soft Law ist nicht gleich Soft Law – wie im ersten Teil der Arbeit dargelegt, gibt es die unterschiedlichsten Arten und Urheber derartiger Übereinkommen. Der folgende Abschnitt befasst sich eingehender mit der Frage der normativen Geltungskraft dieser Dokumente und ihrer damit verbundenen Aussagekraft über einen europäischen Konsens der Europaratsstaaten. Diskutiert werden mögliche Maßstäbe zur Rationalisierung der Gewichtung dieser 229  Zu diesem Kriterium siehe eingehend van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 481–483. 230  Vgl. in diesem Sinne auch die Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque in EGMR (Große Kammer) – Muršić v. Croatia, 20.10.2016 – 7334/13, Rn. 28 („Seventh“). 231  Diese Rezeption ist auch in Form internationalen Soft Laws denkbar. So argumentierte beispielsweise Pinto de Albuquerque in seinem Sondervotum zu EGMR (Große Kammer)  – Muršić v. Croatia, 20.10.2016  – 7334/13, Rn. 40, mit der Einbeziehung eines CPT-Dokuments durch die Europaratsstaaten in einer Empfehlung des Ministerkomitees (der EPR). 232  So konkret hinsichtlich Europaratsdokumenten Helfer, Cornell International Law Journal 23 (1993), 133, 163. Vgl. auch Matscher, in: Bernhardt (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung, internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, S. 545, 565, der in diesem Sinne feststellt, „dass die Aufstellung einer starren, allgemeingültigen Rangordnung zwischen den einzelnen von der Vertragsrechtsvergleichung gebotenen Auslegungshilfen nicht möglich ist.“ 233  Van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, behandeln diese Erwägung unter dem Stichwort der „effectivité“ des Soft Law-Dokuments, vgl. S. 483 ff.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung295

diversen Übereinkommen innerhalb der Erkenntnisquelle internationalen Soft Laws. Zuvor gilt es jedoch, das Erfordernis der Etablierung derartiger Maßstäbe unter erneutem Aufgreifen der bereits dargelegten Gründe konkret hinsichtlich internationalen Soft Laws zu begründen. (a) Erreicht die Forderung nach methodischer Konsens-Ermittlung mit Soft Law ihre Grenze? „The Court is […] free to decide which rules of soft law it wants to accept as guidelines and which ones it rather puts aside as not to the point, be they outdated or too far-reaching. Due to the ‚soft‘ character of these norms, the Court does not necessarily have to justify its position.“234

Diese Aussage bezieht Nußberger nicht konkret nur auf die Konsens-Ermittlung; mit ihr entsteht aber dennoch hinsichtlich der Erkenntnisquelle internationalen Soft Laws ein besonderes Bedürfnis nach der unter § 2 dargelegten Rechtfertigung der Forderung nach einer transparenten und kohärenten Konsens-Ermittlung. Nußberger erklärt weiter am Beispiel der CPT-Standards: „In as far as the Court develops a consistent case law in taking such standards as a basis for its legal assessment, it is bound to give a justification if it considers taking a different approach. This is a basic requirement of rule of law and legal certainty in the Court’s jurisprudence. On the contrary, as long as there is no generalized approach, the non-binding character of such norms would leave a leeway to the Court to take such standards up and to follow them or to interpret the vague notions in the Convention in a different way.“235

Zuzustimmen ist der Aussage, wonach den Gerichtshof bei Abweichungen von etablierten Berücksichtigungspraxen eine Begründungspflicht trifft. Wie an der bereits dargelegten Argumentation der Republik Moldau in Tǎnase v. Moldova236 ersichtlich wird, birgt eine in dieser Hinsicht inkohärente Vorgehensweise die Gefahr des Vorwurfs willkürlicher Entscheidungsfindung. Zugleich erscheint die Aussage, der Gerichtshof könne grundsätzlich nach Belieben über die Relevanz von Soft Law-Dokumenten entscheiden, solange er hier keine einheitliche Herangehensweise einführt, jedenfalls in Bezug auf die Konsens-Ermittlung bedenklich, könnte sie doch als fatale Bestätigung des Vorwurfs Wildhabers, Hjartarsons und Donnellys aufgefasst werden,

234  Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 49. 235  Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 50. 236  „Dritter Teil, § 5 C. III. 6.“

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

wonach es scheine, als halte der Gerichtshof sein Konzept absichtlich schwammig genug, um sich nicht für ein konkretes entscheiden zu müssen.237 Sofern der EGMR die EMRK anhand des Konsens-Kriteriums rechts­ vergleichend auslegt beziehungsweise anwendet, sollte er bei der in diesem Zusammenhang erfolgenden Auswahl entscheidungsrelevanter Erkenntnisquellen auch methodisch, zumindest anhand wesentlicher grundlegender Kriterien vorgehen. Angesichts der gefestigten Praxis des EGMR, Soft Law im Grundsatz als mögliche Erkenntnisquelle zu erachten, gilt dies trotz seiner rechtlichen Unverbindlichkeit auch für diese Erkenntnisquelle; schließlich beraubt die dem entgegenstehende Annahme, Soft Law könne aufgrund seiner rechtlichen Unverbindlichkeit beliebig und ohne Rechtfertigungsbedürfnis herangezogen werden, dieser Erkenntnisquelle im Grunde jeglicher Überzeugungskraft für die Bestimmung eines europäischen Konsenses: Sie suggeriert, dass Soft Law für sich genommen keinen normativen Wert hat, sondern diesen allenfalls durch das Aufgreifen durch den Gerichtshof erhält, wenn dieser es als Ausdruck eines europäischen Konsenses erklärt.238 Diese Argumentation macht Soft Law für die Konsens-Ermittlung, welche schließlich im Rahmen eines von der Auffassung der Richter unabhängigen Krite­ riums erfolgen soll, letztlich redundant und kann daher nicht als Grundlage für die Konsens-Ermittlung des EGMR gelten. Für die Heranziehung eines Soft Law-Dokuments zur Begründung eines europäischen Konsenses ist vielmehr die Annahme zugrunde zu legen, dass dieses bereits ein gewisses normatives Potenzial trägt, über einen europäischen Konsens Aufschluss zu geben. Soft Law-Dokumente sind eben nicht bloß rechtsunverbindliche Erklärungen, sondern besitzen eine gewisse Geltungskraft und vermögen in diesem (begrenzten) Sinne auch über den Willen der Europaratsstaaten Aufschluss zu geben. Nach van Drooghenbroeck, Tulkens und Krenc kann die Praxis des EGMR, auf „externe Quellen“ zu verweisen, denn auch nicht anhand einer „binären“ Einteilung in Recht und Nicht-Recht erklärt werden.239 Die Logik liegt vielmehr in einer 237  Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 33 (2013), 248, 249. Dies geben auch Kapotas/Tzevelekos, in: Kapotas/Tzevelekos (Hrsg.), Building Consensus on European Consensus, S. 1, 10 zu bedenken, wenngleich sie dies nicht (erkennbar) als Kritik äußern. 238  Fraglos trifft es zu, dass der Gerichtshof hier eine wichtige Rolle hinsichtlich „the growth of international soft law“ spielt, „as it can act and acts as a catalyst grad­ ing up (and down) soft law.“, Nußberger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 48. Nach der hier vertretenen Auffassung kommt Soft Law aber auch unabhängig davon bereits durch andere, sogleich näher dargelegte Kriterien eine gewisse normative Geltungskraft zu. 239  Van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 468.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung297 „logique ternaire, de type ‚gradualiste‘, qui envisage qu’une norme déposée dans une source intrinsèquement non obligatoire puisse néanmoins avoir une certaine valeur normative et qui admet, de manière supplémentaire, que cette valeur normative – conçue en l’occurrence en termes d’aptitude à influencer l’interprétation et l’application des garanties de la Convention – puisse être d’intensité variable. Il n’est pas question de tout ou rien, mais de plus ou moins […].“240

Die Geltungskraft von Soft Law-Dokumenten kann mithin anhand von Nuancen unterschieden werden. Pinto de Albuquerque spricht auch von einer „gradual normativity“, die mit dem Vorliegen mehrerer „hardening factors“ erhöht wird.241 In diesem Zusammenhang kann zwar keine „fonction algébrique“, können durchaus aber grundlegende Kriterien formuliert werden,242 anhand derer der Grad der Aussagekraft eines Dokuments über das Vorliegen eines europäischen Konsenses bemessen wird.243 (b) M  ögliche Kriterien zur Bemessung der Aussagekraft von Soft Law-Dokumenten Einige Kriterien zur Bestimmung der Aussagekraft von Soft Law-Dokumenten hinsichtlich eines europäischen Konsenses klingen mitunter in den Urteilsbegründungen des EGMR an. In der Literatur haben sich vor allem van Drooghenbroeck, Tulkens und Krenc mit diesbezüglichen Vorschlägen 240  Van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 469. Siehe in diesem Zusammenhang weiter die Ausführungen zur „relative normativity“ von Shelton, in: Evans (Hrsg.), International Law, S. 137, S. 160 f. Eine sehr kritische Auffassung hierzu vertritt Weil, AJIL 77 (1983), 413, S. 415 ff. 241  „In the continuum between hard law and soft law, several factors may harden the text. Like a degradé normatif […], the gradual normativity of the text increases with the number of these factors that are present and decreases with their absence […].“, EGMR (Große Kammer)  – Muršić v. Croatia, 20.10.2016  – 7334/13, Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque, Rn. 27. Das Konzept der „rela­ tive normativity“ liegt denn auch Nußbergers Ausführungen zugrunde, vgl. Nußber­ ger, in: van Aaken/Motoc (Hrsg.), The European Convention on Human Rights and General International Law, S. 41, 42 und 43–45. 242  Van Drooghenbroeck, Tulkens und Krenc lehnen eine „fonction algébrique“ ab, sondern fordern vom Gerichtshof die Etablierung einer „méthode itérative fondée sur quelques orientations transparentes et dûment motivées.“, van Drooghenbroeck/ Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 469. 243  So auch van Drooghenbroeck/Krenc/van der Noot, in: Brems/Desmet (Hrsg.), Integrated human rights in practice, S. 31, 41: „Why are some ‚external sources‘ rele­ vant and some others not? […] Do all ‚external sources‘ have the same ‚persuasive weight‘? If not, which criteria enable the making of a difference? These questions are not easy to deal with but they must – at the very minimum – be addressed and evoked in a transparent and coherent way, methodologically speaking. Otherwise, the objection of ‚cherry picking‘ could be raised.“

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

verdient gemacht.244 Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden verschiedene Kriterien erörtert. Ein erstes Kriterium ist der Urheber des Soft Law-Dokuments. Je stärker dessen Verbindung zum Kreis der Europaratsstaaten, desto stärker die Aussagekraft des von ihm beschlossenen Soft Law-Dokuments für die Ermittlung eines europäischen Konsenses.245 Lediglich mittelbar ist diese Verbindung etwa bei Dokumenten von Expertengremien, welche bis auf die Tatsache, dass sie von den Staaten gegründet wurden, keine unmittelbare Rückbindung an die Europaratsstaaten haben.246 Ein zweites Kriterium ist die Art der Beschlussfassung: Je größer die Mehrheit, mit der Soft Law-Dokumente beschlossen wurden, desto größer die Aussagekraft über den Willen der Europaratsstaaten. Schließlich liegt mit der Aktualität des Soft Law-Dokuments247 ein dritter Punkt vor, der bereits mehrfach erwähnt wurde und auch im ersten Zitat Nußbergers des vorherigen Abschnitts (a) anklang.248 Pinto de Albuquerque hebt darüber hinaus noch weitere mögliche „harden­ ing factors“ hervor, die den Inhalt der Dokumente betreffen: „First, the prescriptive language adopted in a text or the label attached to the instrument is indicative of its normative nature. A text with a prescriptive language or label must be read, in principle, as a standard-setting text, which goes beyond a mere declaratory statement or a purely programmatic assertion. Second, the degree of linguistic accuracy and content precision of the text is a clear indication of its normative nature. The more accurate the terminology of the text and the more precise its content, the stronger its normative claim […]. An extensive, detailed de244  Siehe grundlegend van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433. 245  Van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 474. 246  Für eine Einordnung der Dokumente von Expertengremien (auch unter Berücksichtigung des ILC, Fourth report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 07.03.2016, UN Doc. A/CN.4/694) im Hinblick auf die WVK-Regelungen zur Vertragsauslegung siehe Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 355 ff. Zu den „Treaty and Expert Bodies in the Council of Europe“ siehe eingehend Polakiewicz, in: Wolfrum (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making, S. 245, 256 ff. Sie weist darauf hin, dass auch hier differenziert werden muss. Wenn die Expertengremien dem Ministerkomitee Bericht erstatten, werden diese Berichte mitunter Grundlage daraufhin erlassener Dokumente des Minister­ komitees: „In most cases, the treaty bodies only prepare the relevant decisions by the Committee of Ministers.“, S. 265. 247  Siehe hierzu eingehend van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 481–483. 248  „be they outdated“.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung299 scription of what is being regulated speaks in favour of a hardened law, which leaves no room for grey areas.“249

(c) Das besondere Potenzial der Europaratsdokumente In Anwendung der soeben dargelegten Kriterien soll schließlich das besondere Potenzial dargelegt werden, das mit der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten zur Ermittlung eines europäischen Konsenses einhergeht. Dokumente des Ministerkomitees sowie der Parlamentarischen Versammlung entstammen genau dem Kreis der Europaratsstaaten, was sie einerseits von Dokumenten unterscheidet, an denen nicht alle Europaratsstaaten teilhaben – dies gilt insbesondere für Dokumente der EU, an denen fast die Hälfte der Staaten nicht mitwirkt; sowie andererseits von internationalen Übereinkommen, an denen neben den Europaratsstaaten noch weitere Staaten beteiligt sind – bei Soft Law-Dokumenten der UN sind beispielsweise neben den Europaratsstaaten so viele weitere Staaten beteiligt, dass die Europaratsstaaten selbst bei einstimmiger Auffassung von den übrigen beteiligten Staaten überstimmt werden könnten. Dieser Aspekt verleiht Europaratsdokumenten im Vergleich zu anderen Soft Law-Dokumenten ein stärkeres Gewicht für die Ermittlung des Willens der Europaratsstaaten.250 Darüber hinaus kann ihnen 249  Partly dissenting opinion des Richters Pinto de Albuquerque in EGMR (Große Kammer)  – Muršić v. Croatia, 20.10.2016  – 7334/13, Rn. 28. Ähnlich auch Crema, in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 13, 26. 250  Ob aus der Beschlussfassung der beiden Organe des Europarats eine spätere Übung der Vertragsparteien abgelesen werden kann, könnte hinterfragt werden: Laut ILC, Report on the work of its 70th session (30.04.–10.08.2018), UN Doc. A/73/10, Rn. 51, Draft conclusions on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties, Conclusion 12 Abs. 1 und 2, kann sich eine spätere Übung der Vertragsparteien im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. b beziehungsweise 32 WVK in der Übung einer internationalen Organisation (oder womöglich auch in Beschlüssen ihrer Organe, siehe hierzu insbesondere Rn. 52, Commentaries to Draft conclusions on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties, Commentary zu Conclusion 12, (15) – (20)) bei der Anwendung ihres Gründungsvertrages ausdrücken. Diese Conclusion bezieht sich jedoch explizit nicht auf Verträge, die innerhalb einer internationalen Organisation angenommen wurden. Zugleich scheint aber nicht ausgeschlossen, dass auch die Auslegung der EMRK anhand einer derartigen Übung möglich sein kann; laut dem Commentary zu Conclusion 12, Rn. 52, (5) adressiert die Conclusion 12 diesen Aspekt schlicht nicht. Ulfstein, Interpretation of the ECHR in the light of other international instruments, beispielsweise scheint grundsätzlich davon auszugehen, dass Europaratsdokumente eine solche Übung darstellen könnten, siehe seine Ausführungen auf S. 4 f.; dies deutet überdies ILC, Second report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to treaty interpretation (Sonderberichterstatter Nolte), 26.03.2014, UN Doc. A/CN.4/671, an, vgl. Rn. 40 (zur Ermittlung einer späteren Übung der Euro­ paratsstaaten durch den EGMR wird dargelegt, dass dieser hierfür „broad and some­

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

auch über den Kreis der Soft Law-Übereinkommen hinaus eine besondere Aussagekraft zugeschrieben werden, denn anders als viele völkerrechtliche Verträge werden sie immerhin von allen Europaratsstaaten beschlossen.251 Ist an einem völkerrechtlichen Vertrag lediglich ein Teil der Europaratsstaaten beteiligt, liegt jedoch zur in Rede stehenden Rechtsfrage ein Europaratsdokument vor, mag sich der Wille der Europaratsstaaten angesichts dessen unter Umständen252 eher aus diesem Dokument ergeben, als aus dem völkerrechtlichen Vertrag. An dieser Stelle verschwimmt insofern auch die Grenze zwischen „Hard Law“ und Soft Law, als die Rechtsqualität eines internationalen Übereinkommens nicht der einzig ausschlaggebende Faktor für die Gewichtung sein kann. So ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der für einige Europaratsstaaten gilt, für andere, daran unbeteiligte Europaratsstaaten auch bloß eine externe Regelung, die für sie keine Rechtsverbindlichkeit entfaltet.253 Es gilt hervorzuheben, dass die beschriebene besondere Bedeutung von Europaratsdokumenten nicht etwa aus einer zufälligen Übereinstimmung ihrer Urheber mit jenen Staaten, die auch durch die EMRK verpflichtet sind, herrührt – sie entstammen vielmehr gerade derselben internationalen Organisation, die auch die EMRK erarbeitet und verabschiedet hat. Der Europarat und die EMRK sind institutionell eng verflochten. Die EMRK ist eine geschlossene Konvention, der nach Art. 59 Abs. 1 S. 1 EMRK nur Europaratsmitglieder beitreten können. Zugleich wird der Beitritt zum Europarat an die Unterzeichnung der EMRK geknüpft, sodass alle Europaratsstaaten zwangsläufig Mitglieder der EMRK sind.254 Badenhop ordnet die EMRK wie auch die sonstigen Konventionen sowie Resolutionen des Europarats als „Teil des Vertragsrechts des Europarates“ ein, deren Auslegung zur Vermeidung von times rough comparative assessments of the domestic legislation or international positions adopted by States“ vornehme, und als Beispiel in Fn. 83 auf EGMR – Cossey v. The United Kingdom, 27.09.1990 – 10843/84, Rn. 40 verwiesen, wo der EGMR unter anderem eine PACE Rec. einbezieht), und Rn. 42 („voting at the international level“). Wie dargelegt, sind aber jedenfalls die Einordnung als teleologische Auslegung, oder aber bei Art. 32 WVK denkbar. 251  Nach Kleijssen reflektieren sie daher eine „common European position“, was er ebenfalls als Vorteil gegenüber rechtsverbindlichen Verträgen bezeichnet, Kleijs­ sen, Nederlands Tijdschrift voor de Mensenrechten 35 (2010), 897, 899. 252  Hier ist erneut auch auf das oben genannte Zusammenwirken mit dem Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten hinzuweisen. 253  Staes, When the European Court of Human Rights refers to external instruments, S. 94, ordnet diese Übereinkommen denn auch als „non-binding instruments“ ein, im Sinne von „ ‚hard‘ legal instruments that did not yet enter into force, that are not ratified by the respondent State, or that are issued by bodies of which the respondent State is not a member.“ 254  Siehe hierzu Klein, in: Schmahl/Breuer (Hrsg.), The Council of Europe, S. 40, 46.



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung301

Widersprüchen auch unter Berücksichtigung dieses Vertragsrechts vorgenommen werden sollte, das „Aufschluss über einen europäischen Grundkonsens“ geben könne.255 In ihrer Präambel verweist die EMRK darauf, „dass es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist“ – ein Ziel, dessen Umsetzung die Europaratssatzung wiederum in Art. 1 lit. b ihren Organen, dem Ministerkomitee sowie der Parlamentarischen Versammlung zuweist. Unter diesem Gesichtspunkt kann den Europaratsdokumenten vor allem für die dynamische Auslegung der EMRK im Sinne eines europäischen Konsenses der Europaratsstaaten eine besondere Rolle zugeschrieben werden.256 Eine entscheidende Rolle für die Aussagekraft eines Europaratsdokuments spielt seine Beschlussfassung. Empfehlungen des Ministerkomitees werden nach Art. 20 lit. a (i) i. V. m. Art. 15 lit. b S. 1 ERS einstimmig mit der Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder beschlossen. Da die Vorstellung im Grunde paradox ist, die Staaten würden auf Regierungsebene Empfehlungen an sich selbst richten, ohne vorzuhaben, diese umzusetzen,257 tragen vor allem Empfehlungen des Ministerkomitees ein großes Potenzial, Aufschluss über den Willen der Europaratsstaaten zu geben. Diese Auffassung hat auch der EGMR in seiner Rechtsprechung bereits erkennen lassen: In M. C. v. Bulgaria erklärte er beispielsweise: „The Court […] notes that the member States of the Council of Europe, through the Committee of Ministers, have agreed that penalising non-consensual sexual acts, ‚[including] in cases where the victim does not show signs of resistance‘, is necessary for the effective protection of women against violence […] and have urged the implementation of further reforms in this area.“258

Fraglos gilt diese Überlegung aus zwei Gründen nur eingeschränkt: Erstens sind die Europaratsstaaten nach ihrem Gentlemen’s Agreement von 1994 angehalten, bei einer Zweidrittelmehrheit dem Beschluss einer Empfehlung nicht entgegenzustehen, sodass diese Mehrheit faktisch für den Abschluss eines solchen Dokuments ausreicht; zweitens bleibt eine Empfehlung trotz staatlicher Zustimmung noch immer eine rechtsunverbindliche Erklärung, 255  Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der Europäischen Menschenrechtskonvention, S.  78 f. 256  Klocke, EuR 50 (2015), 148, 153 f. 257  Van Drooghenbroeck/Tulkens/Krenc, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2012, 433, 485. 258  EGMR – M. C. v. Bulgaria, 04.12.2003 – 39272/98, Rn. 162 (Hervorhebung erfolgte durch Verfasserin). Vgl. in ähnlicher Weise auch EGMR (Große Kammer) – Animal Defenders International v. The United Kingdom, 22.04.3013 – 48876/08, Rn. 123.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

der womöglich nur aus eben diesem Grund zugestimmt wurde. Hier gilt es wie bereits gesagt, die Entscheidung auch unter Berücksichtigung der anderen Erkenntnisquellen zu treffen, und den Willen der Staaten insbesondere auch anhand ihrer nationalen Rechtslage zu hinterfragen und verifizieren.259 Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung ergehen mit einer Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen; ihre Resolutionen ergehen mit der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Beschlussfähig ist die Parlamentarische Versammlung indes schon bei einem Drittel ihrer Mitglieder, und selbst wenn dieses Quorum nicht erreicht wird, muss eine Überprüfung der Beschlussfähigkeit von einem Sechstel der Abgeordneten aus mindestens fünf verschiedenen Delegationen beantragt werden. Vor diesem Hintergrund ist für die Bestimmung der Aussagekraft dieser Dokumente für den Willen der Europaratsstaaten hinsichtlich jedes Dokuments zu beachten, wie viele Vertreter tatsächlich dafür gestimmt haben. Selbst wenn ein Europaratsdokument indes nur mit einer Mehrheit der Stimmen verabschiedet wurde – im Forum des Europarats hatten immerhin alle Europaratsstaaten die Möglichkeit, sich am Prozess zu beteiligen, was sie gegenüber internationalen Übereinkommen von anderen Urhebern, bei denen dies nicht der Fall ist, hervorhebt.260 Darüber hinaus erscheint der Umstand eines mehrheitlich getroffenen Beschlusses im Grundsatz auch nicht problematischer als die Annahme eines Konsenses aufgrund eines Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten, bei dem lediglich in der Mehrheit der Europaratsstaaten übereinstimmende nationale Regelungen ermittelt wurden. Angesichts der Praxis des EGMR, einen europäischen Konsens auf diese Weise anzunehmen, erscheint auch die von Klocke dargelegte „Gefahr, [durch die Berücksichtigung von Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung] keinen einheitlichen Grundkonsens, sondern eine europäische herrschende Meinung einem Grundkonsens gleichzusetzen“,261 nicht problematisch. 259  Ein derartiges Vorgehen des EGMR wurde im Rahmen der empirischen Urteilsanalyse auch beobachtet; erinnert sei etwa an Enea v. Italy, vgl. erneut „Dritter Teil, § 5 C. III. 5.“ 260  Zu erwähnen ist an dieser Stelle die mögliche Suspendierung von Vertretern einzelner Europaratsstaaten; mit der (zwischenzeitlichen) Suspendierung von Stimmrechten der russischen Abgeordneten infolge der Annexion der Krim weist dieser Aspekt eine hohe praktische Relevanz auf. Er schwächt die Aussagekraft von Dokumenten der Parlamentarischen Versammlung, insbesondere gegenüber Dokumenten des Ministerkomitees, bei denen der russische Vertreter nach wie vor mitwirkte. Das Ministerkomitee hat nicht von seiner Möglichkeit aus Art. 8 S. 1 ERS Gebrauch gemacht, einem Mitglied des Europarats bei einer schweren Verletzung der Bestimmungen nach Art. 3 ERS das Recht auf Vertretung vorläufig zu entziehen, beziehungsweise das Mitglied aus dem Rat auszuschließen (siehe hierzu Art. 8 S. 2 ERS).



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung303

Fraglich ist, ob eine grundlegende Differenzierung zwischen Dokumenten des Ministerkomitees und der Parlamentarischen Versammlung etabliert werden sollte. Vor dem Hintergrund der dargelegten institutionellen Verbundenheit von EMRK und Europarat kann argumentiert werden, dass die Dokumente des Ministerkomitees stärker gewichtet werden sollten, da dieses den Europarat nach außen vertritt, während die Parlamentarische Versammlung lediglich eine beratende Funktion hat.262 Andererseits geht es bei der Suche nach einem europäischen Konsens der Europaratsstaaten jedoch um Willen der Staaten, nicht des Europarats. Dokumente des Ministerkomitees werden auf Regierungsebene beschlossen, Dokumente der Parlamentarischen Versammlung von Abgeordneten der nationalen Parlamente. Welche der beiden vermag eher als Ausdruck des Willens der Staaten verstanden werden? Hier kann es keinen grundlegenden Unterschied zwischen den Urhebern geben. Der Abschluss völkerrechtlicher Verträge wird zwar im Wesentlichen auf Regierungsebene verhandelt; zugleich werden nationale Gesetze indes von den nationalen Parlamenten beschlossen. Da die nationalen Regelungen der Europaratsstaaten soeben als ebenso geeignet erachtet wurden wie völkerrechtliche Verträge, über die Auffassung der Staaten zu einer Rechtsfrage Aufschluss zu geben, kann auch zwischen Dokumenten des Ministerkomitees und der Parlamentarischen Versammlung kein grundlegender Unterschied angenommen werden.263 Ein solcher mag allenfalls aufgrund der soeben erörterten Beschlussfassung bestehen. Die Berücksichtigung von Europaratsdokumenten kann auch gegenüber der Erkenntnisquelle eines Rechtsvergleichs zwischen den Europaratsstaaten Vorteile aufweisen. Dieser Aspekt wurde bereits in Bezug auf völkerrecht­ liche Verträge aufgezeigt: In Fällen, in denen nicht in allen Europaratsstaaten eine nationale Regelung zu der in Rede stehenden Rechtsfrage vorhanden ist, 261  Klocke, EuR 50 (2015), 148, 163. Seiner Einschätzung liegt überdies die Annahme zugrunde, dass Empfehlungen des Ministerkomitees einstimmig beschlossen werden (vgl. S. 162); er lässt damit aber die Vereinbarung des Gentlemen’s Agreement außer Acht. 262  Helfer, Cornell International Law Journal 23 (1993), 133, 163; in diesem Sinne auch Klocke, EuR 50 (2015), 148, 161, nach dem Dokumente der Parlamentarischen Versammlung im „akademischen Fall, dass es zu Diskrepanzen in den Dokumenten kommt“, hinter Empfehlungen des Ministerkomitees zurückstehen müssten, da „[n]ur so […] den Art. 22 und 23 der Satzung Rechnung getragen [wird].“ 263  Aus verfassungsrechtlicher Perspektive könnten mögliche Bedenken hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Berücksichtigung nachfolgender Staatenpraxis zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge (siehe hierzu Kadelbach, in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 145–153 (insbesondere S. 145 f. und S. 150)) sogar eher zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der Praxis nationaler Parlamente sprechen, siehe hierzu Wuerth, in: Nolte (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 154, 158.

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4. Teil: Vorschläge zur Strukturierung der Konsens-Methode

haben Europaratsdokumente aufgrund ihrer Beschlussfassung unter Beteiligung aller Europaratsstaaten ein besonderes Potenzial, über deren Willen Aufschluss zu geben. Insofern sind die bereits dargelegten rechtsvergleichenden Ausführungen des EGMR in S.A.S. v. France264 denn auch besonders kritikwürdig: Die Argumentation, es gebe keinen Konsens zwischen den Europaratsstaaten, weil sich viele Staaten nicht mit der Frage eines Vollverschleierungsverbots befasst haben, und die dabei erfolgte Außerachtlassung der mit einer Zweidrittelmehrheit gefassten Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung vermag nicht zu überzeugen. Ein solches Dokument zeigt vielmehr, dass auf europäischer Ebene bereits eine Entscheidung getroffen wurde, und zwar im Rahmen einer internationalen Organisation, in der alle Europaratsstaaten involviert sind. Gerade in solchen Fällen sollten Europaratsdokumente besonders berücksichtigt werden.

C. Resümee Für die Strukturierung der Konsens-Ermittlung als rechtsvergleichender Methode kann zwar keine „mathematische Funktion“ aufgestellt werden. In den vorstehenden Ausführungen konnten aber zumindest ein grundlegender Rahmen für die Ermittlung eines europäischen Konsenses aufgezeigt und dafür bestimmte Leitlinien und Kriterien entwickelt werden: Die Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung sollte am Beschwerdevorbringen orientiert werden; die Ermittlung der rechtsvergleichenden Informationen sollte transparent und anhand rationaler Kriterien erfolgen. Insbesondere sollten alle grundsätzlich in Betracht kommenden rechtsvergleichenden Informationen in „The facts“ dargelegt werden – dieser Teil des Urteils hat eine dokumentarische Funktion und sollte im Sinne einer transparenten Urteilsfindung auch alle potenziell entscheidungsrelevanten Übereinkommen aufführen. Bei der darauffolgenden rechtsvergleichenden Untersuchung zur Ermittlung eines (in Europa) vorherrschenden Standards sollten auch die jeweiligen Funktionen der Konsens-Methode an den verschiedenen Anwendungsbereichen beachtet werden. Diese Differenzierung verdeutlicht wichtige Aspekte: Es wurde aufgezeigt, dass verschiedene Erwägungen und Kritikpunkte, die in der Literatur zum europäischen Konsens geäußert werden, lediglich in bestimmten Hinsichten auf das Konsens-Konzept zutreffen. Während die prozedurale Kritik die rechtsvergleichende Untersuchung des EGMR generell betrifft, wird die substanzielle Kritik am europäischen Konsens lediglich relevant, wenn der europäische Konsens für die Bestimmung des materiellen Konventionsgehalts herangezogen wird – und damit nicht bei der margin of appreciation-Doktrin als strukturellem Konzept zur Zuordnung der Entschei264  „Dritter

Teil, § 5 C. III. 6.“



§ 2 Ausarbeitung strukturierter Vorgehensweise zur Konsens-Ermittlung305

dungskompetenz. Weiter wurde aufgezeigt, dass der substantiellen Kritik am (europäischen) Konsens mit einer entsprechenden Ausrichtung der KonsensErmittlung begegnet werden kann. Während es bei der margin of apprecia­ tion-Doktrin um das kompetenzielle Verhältnis zwischen EGMR und Europaratsstaaten geht, und eine rechtsvergleichende Untersuchung hier die Auffassung der Europaratsstaaten ermitteln soll, geht es bei der (dynamischen) Auslegung sowie Verhältnismäßigkeitsprüfung hingegen um materielle Menschenrechtsfragen, bei denen durchaus auch eine stärkere Berücksichtigung internationaler sowie außerrechtlicher (im Sinne wissenschaftlicher) Entwicklungen denkbar ist. Derartige Tendenzen haben sich im Rahmen der Urteilsuntersuchung gezeigt. Insofern ist indes die Forderung nach einer transparenteren und nachvollziehbaren Vorgehensweise des EGMR zu bekräftigen, denn die dargelegte Erklärung ist zuvorderst theoretischer Art und aus den Urteilsbegründungen des EGMR nicht explizit ersichtlich. Der Gerichtshof sollte seine Vorgehensweise mithin erklären und die Berücksich­ tigung sowie Außerachtlassung inhaltlich einschlägiger Erkenntnisquellen ratio­nal begründen. Sofern es bei der rechtsvergleichenden Untersuchung um die Ermittlung des Willens der Europaratsstaaten geht, sind ein Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten sowie völkerrechtliche Verträge aufgrund der hier (vergleichbar) verbindlich zum Ausdruck kommenden Auffassungen der Europaratsstaaten die am stärksten zu gewichtenden Erkenntnisquellen. Zugleich ist jedoch das Potenzial internationalen Soft Laws, insbesondere von Europaratsdokumenten, nicht zu unterschätzen. In dieser Hinsicht hat sich gezeigt, dass die Vorstellung eines starren Rangverhältnisses zwischen den verschiedenen Erkenntnisquellen nicht sinnvoll ist – vielmehr bedingen sich die einzelnen Erkenntnisquellen in ihrer Aussagekraft auch gegenseitig. Damit hat sich der europäische Konsens nicht nur erneut als variable Konstellation von Erkenntnisquellen erwiesen, sondern als solche auch bewährt. Die dargelegten grundlegenden Leitlinien können und sollten bei der Auswahl und Gewichtung der Europaratsdokumente aber beachtet werden. Dies gilt trotz seiner rechtlichen Unverbindlichkeit auch für internationales Soft Law.

Schlussbetrachtungen Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, die Rolle rechtsunverbindlicher Europaratsdokumente in der Rechtsprechung des EGMR, insbesondere bei der Ermittlung eines europäischen Konsenses, zu ermitteln. Dafür wurde eine empirische Untersuchung aller bis zum 31.12.2018 ergangenen Urteile der Großen Kammer, in denen Europaratsdokumente zitiert wurden, durchgeführt. Die Ergebnisse zeichnen ein komplexes Bild: Der EGMR greift für die Auslegung und Anwendung der EMRK regelmäßig auf Europaratsdokumente zurück. Sie können – sowohl alleinstehend als auch neben weiteren Erkenntnisquellen – an allen Stellen der Prüfung einer Konventionsverletzung herangezogen werden. Ihre rechtliche Unverbindlichkeit ist folglich kein grundsätzlicher Anlass für den EGMR, diese nicht im Rahmen seiner Argumentation zu berücksichtigen. Der Gerichtshof nahm in mehreren Urteilen zwar auf ihre fehlende Rechtsverbindlichkeit Bezug, pflegt damit aber insgesamt einen eher pragmatischen Umgang. So kann ein inhaltlich zu der in Rede stehenden Rechtsfrage passendes Europaratsdokument potenziell stets bei der Auslegung und Anwendung der EMRK berücksichtigt werden. Allerdings ist festzustellen, dass die Europaratsdokumente alleinstehend keinen maßgeblichen Einfluss in der Urteilsbegründung einnehmen, sondern in aller Regel lediglich untergeordnet oder zur Bestätigung eines bereits erarbeiteten Ergebnisses herangezogen werden. Insofern kann hinsichtlich der eingangs aufgeworfenen Frage mithin festgehalten werden, dass Europaratsdokumente kein „Wolf im Schafspelz“ sind; ihre Standards werden durch den EGMR nicht ohne Weiteres übernommen. Neben der alleinstehenden Berücksichtigung von Europaratsdokumenten wurde auch ihre Heranziehung neben anderen Erkenntnisquellen, und hier insbesondere die Rolle im Rahmen der Prüfung eines europäischen Konsenses untersucht. Das Vorliegen eines europäischen Konsenses, welcher auch als europäische herrschende Meinung bezeichnet werden kann, prüft der Gerichtshof anhand verschiedener Erkenntnisquellen, darunter insbesondere eines Rechtsvergleichs zwischen dem nationalen Recht der Europaratsstaaten, völkerrechtlicher Verträge sowie internationalen Soft Laws. Dabei stellt sich der europäische Konsens als variable Konstellation der verschiedenen Erkenntnisquellen dar. Die vieldiskutierte Frage nach der genauen Bestimmung dieser Konstellation im konkreten Fall, also der Auswahl und Gewichtung relevanter Erkenntnisquellen für die Beurteilung eines europäischen

Schlussbetrachtungen307

Konsenses, wurde im Rahmen der empirischen Urteilsuntersuchung mit aufgeworfen und somit anhand einer in der Literatur in diesem Zusammenhang bisher weniger beleuchteten Erkenntnisquelle, dem internationalen Soft Law, behandelt. Im Ergebnis ist festzustellen, dass keine stringente Vorgehensweise bei der Auswahl und Gewichtung verschiedener Erkenntnisquellen zur Ermittlung eines europäischen Konsenses ersichtlich ist. Vor allem die für den Ausgang der Konsens-Prüfung weichenstellende Festlegung der (Abstraktionsebene der) rechtsvergleichenden Fragestellung erfolgt nicht anhand einer erkennbaren Methode. Hinsichtlich der darauf folgenden Konsens-Prüfung selbst konnten bestimmte Muster abgeleitet werden: Der Rechtsvergleich zwischen den nationalen Regelungen der Europaratsstaaten scheint für den Gerichtshof grundsätzlich die wichtigste Erkenntnisquelle für die Ermittlung eines europäischen Konsenses zu sein. Demgegenüber werden Europaratsdokumente, wie auch andere internationale Übereinkommen eher ergänzend herangezogen. Dabei haben sich Unterschiede zwischen verschiedenen Anwendungsbereichen der Konsens-Prüfung angedeutet, wonach die besondere Bedeutung des Rechtsvergleichs zwischen dem nationalen Recht der Europaratsstaaten vor allem bei der margin of appreciation-Bemessung zu gelten scheint. Die Auswahl der in der Urteilsbegründung zu berücksichtigenden internationalen Übereinkommen unter mehreren inhaltlich einschlägigen Dokumenten schien – unabhängig davon, ob sie im Rahmen einer Konsens-Prüfung herangezogen wurden – eher anhand deren Inhalts zu erfolgen, als deren Rechtsnatur. Wenn der EGMR nicht alle Dokumente in seiner Urteilsbegründung aufgriff, benannte er lediglich die aktuellsten beziehungsweise konkretesten Übereinkommen – unabhängig von deren Rechtsqualität. Auch beim konkreten Hinblick auf Europaratsdokumente ist weder eine Differenzierung anhand des Urhebers, noch eine abgestufte Gewichtung anhand der Art der Dokumente ersichtlich. Zugleich ist jedoch festzustellen, dass sich die einschlä­ gigen internationalen Übereinkommen in diesen Fällen in der Regel nicht widersprachen, sondern vielmehr ergänzten; es wurde also insbesondere keine Entscheidung auf ein Soft Law-Dokument gestützt, obwohl ein anderslautender völkerrechtlicher Vertrag vorlag. Es gilt auch zu betonen, dass die Bezugnahme auf Standards aus Europaratsdokumenten in einer Urteilsbegründung nicht ohne weiteres zu deren Übernahme in den Schutzgehalt der Konvention führte, sondern deren Stellenwert insgesamt variierte. Die beschriebenen Muster waren nicht in allen Urteilen auffindbar und da der Gerichtshof seine Vorgehensweise nicht ausdrücklich mit festen Kriterien begründete, bleibt letztlich unklar, ob sie bewusste Entscheidungsgrundlagen darstellen. Letztendlich spielen Europaratsdokumente damit eine einzelfallabhängige Rolle in den Urteilsbegründungen des EGMR. Einige Fälle vermittelten dabei den Eindruck einer zuvorderst ergebnisorientierten Argu-

308 Schlussbetrachtungen

mentation, wobei sich insbesondere das Konsens-Kriterium als anpassungsfähiges Instrument des Gerichtshofs herausstellte. Der europäische Konsens wurde in der Literatur bereits eingehend untersucht; auf dieser Grundlage beleuchtet die vorliegende Arbeit über die empirische Urteilsuntersuchung hinaus auch in dogmatischer und methodischer Hinsicht einige neue Facetten dieser kontroversen Rechtsfigur. Die Arbeit zeigt auf, warum die Einordnung des europäischen Konsenses als „Mediator“ zwischen der margin of appreciation-Doktrin und der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unpräzise und dogmatisch unsauber ist und differenziert daraufhin zwischen verschiedenen Anwendungsbereichen: Der (dynamischen) Auslegung der EMRK, der margin of appreciation-Bemessung sowie der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dabei werden auch die unterschiedlichen Funktionen des Konsens-Kriteriums an den jeweiligen Anwendungsbereichen erörtert. Die Arbeit fragt weiter nach dem grundlegenden Verhältnis der Rechtsfigur europäischer Konsens zur Methode der Rechtsvergleichung und unternimmt eine Strukturierung der Konsens-Prüfung, die an den Grundlagen rechtsvergleichender Methodik orientiert ist. Mit dem besonderen Augenmerk auf internationalen Übereinkommen, insbesondere internationalem Soft Law, wird auch hinsichtlich der Rechtsvergleichung ein Aspekt beleuchtet, der in dieser vorrangig an nationalen Rechtsordnungen ausgerichteten Disziplin weniger im Fokus steht. Wie die empirische Urteilsuntersuchung gezeigt hat und zahlreiche Beobachter des EGMR kritisieren, wird das Konsens-Kriterium vom Gerichtshof nicht immer kohärent und nachvollziehbar verwendet. Nach der hier vertretenen Auffassung birgt der europäische Konsens bei transparenter und anhand methodischer Grundsätze erfolgender Anwendung aber großes Potenzial, die Urteilsbegründungen des EGMR als rationales Kriterium zu stärken. Die Aufstellung derartiger Grundsätze ist fraglos kein leichtes Unterfangen: Rechtsvergleichung ist eine konturarme und in hohem Maße anpassungs­ fähige Disziplin; die Konsens-Prüfung entspricht einem funktionalen Ansatz, mit dem rechtsvergleichende Untersuchungen flexibel am Untersuchungs­ interesse orientiert werden können – damit ist angesichts der terminologischen und konzeptionellen Unklarheiten um den europäischen Konsens für die Rechtsprechung des EGMR bereits das wesentliche Problem aufgezeigt. Grundlegende Schritte für die rechtsvergleichende Untersuchung können aber durchaus formuliert werden: So sollte die Festlegung der rechtsvergleichenden Fragestellung grundsätzlich am Beschwerdevorbringen orientiert werden. Sämtliche der Untersuchung zugrundeliegenden rechtsvergleichenden Informationen sollten in „The facts“ dargelegt werden; darüber hinaus würde eine Veröffentlichung der rechtsvergleichenden Berichte der Research Division zu einer transparenten Konsens-Ermittlung beitragen. Mit der ­erweiterten Betrachtung des Untersuchungsziels „Konsens-Ermittlung“ unter

Schlussbetrachtungen309

Einbeziehung der jeweiligen Anwendungsbereiche der Konsens-Prüfung vermag die vorliegende Arbeit Orientierungspunkte für die Ausrichtung der rechtsvergleichenden Untersuchung aufzuzeigen. Dementsprechend wurden mögliche Kriterien für die Auswahl und Gewichtung der einzelnen Erkenntnisquellen dargelegt. Ungeachtet ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit sollten auch die Auswahl und Gewichtung von Soft Law-Dokumenten anhand der aufgezeigten Kriterien erfolgen. In diesem Zusammenhang wurde auch das besondere Potenzial von Europaratsdokumenten für die Ermittlung eines europäischen Konsenses dargelegt. Hinsichtlich der Differenzierung zwischen den verschiedenen Anwendungsbereichen der Konsens-Methode beruhen die unterbreiteten Vorschläge sicherlich auf streitbaren Prämissen. Mag die Rechtsfigur europäischer Konsens von einigen Autoren anders eingeordnet werden, so wird hier aber jedenfalls wiederum das Bedürfnis nach einer nachvollziehbareren Rechtsprechung des EGMR deutlich. Die verschiedenen Auffassungen und Unklarheiten rund um den europäischen Konsens sind das Resultat einer einzelfall­ abhängigen und mitunter nicht rational nachvollziehbaren Anwendung dieser Rechtsfigur, welche nach mehr Transparenz und Kohärenz verlangt. Ungeachtet dessen gelten die EMRK und ihr Rechtsschutzsystem als „the most effective human rights regime in the world“.1 Vor diesem Hintergrund sind die in dieser Arbeit dargelegten Vorschläge und kritischen Anmerkungen auch einzuordnen: Sie richten sich an die Rechtsprechung eines internationalen Gerichtshofs, der in den vergangenen 70 Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen und maßgeblich zu einem erfolgreichen Menschenrechtsschutz in Europa beigetragen hat. Fraglos muss das „Kron­ juwel des Europarats“2 auch stetig um seinen Glanz kämpfen: Urteile werden mitunter zögerlich umgesetzt;3 die Legitimität des Gerichtshofs wird wie1  Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of rights, S. 3; Grabenwarter, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges – Fluch oder Segen, S. 45, 46. Für Wildhaber, in: Christoffersen/Madsen (Hrsg.), The European Court of Human Rights between Law and Politics, S. 204, 205, ist die EMRK der erfolgreichste Versuch, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch rechtsverbindliche Gerichtsurteile umzusetzen. Er bezeichnet sie als „product of realistic idealism“, vgl. S. 204. 2  So bezeichnet den EGMR etwa Lalumière, in: Macdonald/Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. XV, S. XV. 3  Vgl. zur Anzahl der „pending cases“ und der Entwicklung dieser Anzahl Committee of Ministers, Supervision of the Execution of Judgments and Decisions of the European Court of Human Rights, 12th Annual Report 2019, https://rm.coe.int/ annual-report-2019/16809ec315 (abgerufen am 28.08.2020), insbesondere S. 51 ff. Für eine Bewertung des Reports von 2017 siehe etwa Moxham, Implementation of ECtHR judgments – What do the latest statistics tell us?. Im Jahr 2017 gipfelte die verweigerte Umsetzung des Urteils in dem Fall des Oppositionspolitikers Mammadov (EGMR – Ilgar Mammadov v. Azerbaijan, 22.05.2014 – 15172/13), der trotz erfolg-

310 Schlussbetrachtungen

derholt infrage gestellt;4 auch die jüngst aufgetretenen Konflikte innerhalb des Europarats lassen den EGMR nicht unberührt:5 Die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem Europaratsmitglied Russland infolge der KrimAnnexion 2014 hat den Europarat in eine Krise gestürzt und deutliche Differenzen zwischen der Parlamentarischen Versammlung, die den russischen Abgeordneten das Stimmrecht entzogen, und dem Ministerkomitee, das keine Sanktionen verhängt hatte, hervorgerufen.6 In der Folge stellte Russland auch die Legitimität des EGMR infrage, weil es inzwischen fast die Hälfte der Richter nicht mitgewählt habe.7 Zugleich war eines der meistgenannten Argumente in der Debatte um eine mögliche Aufhebung der Sanktionen in der Parlamentarischen Versammlung trotz unterbliebener Umsetzung der hierfür genannten Forderungen8, dass den 140 Millionen Russen der Zugang zum EGMR gewährleistet werden sollte9 – ein Schutz, der mit dem drohenreicher Beschwerde vor dem EGMR auch nach fast 4 Jahren nicht aus dem Gefängnis entlassen worden war, darin, dass erstmals das in Art. 46 Abs. 4 EMRK vorgesehene Verfahren eingeleitet wurde, mit dem das Ministerkomitee erneut den EGMR anrufen kann, wenn es den betreffenden Staat nicht zur Umsetzung eines EGRM-Urteils bewegen konnte. Siehe hierzu Glas, The Committee of Ministers goes nuclear: infrin­ge­ ment proceedings against Azerbaijan in the case of Ilgar Mammadov. 4  Siehe anschaulich Nußberger, JZ 73 (2018), 845. Der ehemalige Menschenrechtskommissar des Europarats Muiznieks erklärte 2016: „[D]irect challenges to the authority of the Court within a handful of member states have also become more explicit and vocal. They have gone beyond prolonged non-implementation of a few of the Court’s judgments.“, Muiznieks, Non-implementation of the Court’s judgments: our shared responsibility. 5  In seiner Ansprache zur Eröffnung des „Judicial year“ 2019 relativierte Raimondi infolge der Darstellung der Errungenschaften des EGMR aus den vergangenen Jahren: „Nevertheless, in spite of all these achievements, there is no longer much cause for optimism – first of all, because of the serious and unprecedented crisis in the Council of Europe.“, Raimondi, Solemn hearing for the opening of the judicial year of the European Court of Human Rights, Opening speech, S. 4. 6  Verstärkt wurde die Krise durch die Aussetzung der Beitragszahlungen Russlands seit 2017, durch die der Europarat auch finanziell unter Druck geriet; zu den Entwicklungen siehe etwa Glas, The Assembly’s row with Russia and its repercussions for the Convention system. 7  „PACE’s thoughtless actions have already resulted in the fact that almost one half of the judges of the European Court of Human Rights and the Commissioner for Human Rights have been elected without the participation of Russian parliamentar­ians. […]. For Russia, the legitimacy of high-ranking officials of the Council of Europe is in question if they have been elected without Russia’s participation.“, Foreign Ministry statement on the situation in PACE and prospects for resuming contributions to the Council of Europe, 04.07.2018, https://www.mid.ru/en/foreign_policy/rso/coe/-/asset_ publisher/uUbe64ZnDJso/content/id/3287714 (abgerufen am 28.08.2020). 8  Siehe PACE Res. 2034 (2015). 9  Siehe etwa Auswärtiges Amt, Warum Russland im Europarat bleiben muss, 15.01.2019, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/internationale-organisa

Schlussbetrachtungen311

den Austritt Russlands aus dem Europarat gefährdet war. Infolge einer überaus kontroversen Debatte billigte die Parlamentarische Versammlung im Juni 2019 letztlich die Rückkehr der Delegation. Diese Geschehnisse mögen im Hinblick auf die Folgen für den Europarat zwiespältig bewertet werden,10 sind aber jedenfalls auch als Zeichen für die erfolgreiche Arbeit des EGMR zu werten. Vor diesem Hintergrund soll die vorliegende Arbeit als Anregung für eine transparentere und kohärentere Rechtsprechung des EGMR verstanden werden, welche dazu beiträgt, dass der Gerichtshof seine bedeutende Funktion als Garant eines effektiven Menschenrechtsschutzes in Europa auch weiterhin erfolgreich wahrnehmen kann.

tionen/russland-europarat-maas/2177470 (abgerufen am 28.08.2020), sowie zahlreiche Redebeiträge (insbesondere Nr. 15, 22, 24, 36, 52) in der Debatte der Parlamentarischen Versammlung zum Report „Strengthening the decision-making process of the Parliamentary Assembly concerning credentials and voting“ von Petra de Sutter, 24.06.2019, 16 Uhr, https://vodmanager.coe.int/coe/webcast/coe/2019-06-24-2/en (ab­ gerufen am 28.08.2020). 10  „We are being bought“, kritisierte der britische Abgeordnete Leigh in der Debatte der Parlamentarischen Versammlung zum Report „Strengthening the decisionmaking process of the Parliamentary Assembly concerning credentials and voting“ von Petra de Sutter, 24.06.2019, 16 Uhr, https://vodmanager.coe.int/coe/webcast/ coe/2019-06-24-2/en (abgerufen am 28.08.2020), Redebeitrag 71. Siehe weiter Glas, Russia left, threatened and won: Its return to the Assembly without sanctions.

Annex 1 Liste der im Fallpool enthaltenen Urteile der Großen Kammer 1.

Jersild v. Denmark, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 23.09.1994 – 15890/89

2.

Loizidou v. Turkey, Judgment (Preliminary Objections), 23.03.1995 – 15318/89

3.

McCann a. o. v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 27.09.1995 – 18984/91

4.

Chahal v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 15.11.1996 – 22414/93

5.

Saunders v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.12.1996 – 19187/91

6.

Loizidou v. Turkey, Judgment, Judgment (Merits), 18.12.1996 – 15318/89

7.

X, Y and Z v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 22.04.1997 – 21830/93  

8. Sheffield and Horsham v. The United Kingdom, Judgment (Merits), 30.07.1998 – 22985/93, 23390/94 9.

Di Mauro v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 28.07.1999 – 34256/96

10. Ferrari v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 28.07.1999 – 33440/96 11. A. P. v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 28.07.1999 – 35265/97   12. Bottazzi v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 28.07.1999 – 34884/97   13. V. v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 16.12.1999 – 24888/94   14. T. v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 16.12.1999 – 24724/94   15. Comingersoll S.A. v. Portugal, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 06.04.2000 – 35382/97 16. Salman v. Turkey, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 27.06.2000 – 21986/93 17. Cha’are Shalom Ve Tsedek v. France, Judgment (Merits), 27.06.2000 – 27417/95  18. Scozzari and Giunta v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 13.07.2000 – 39221/98, 41963/98  



Liste der im Fallpool enthaltenen Urteile der Großen Kammer313

19. Hasan and Chaush v. Bulgaria, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 26.10.2000 – 30985/96   20. Beard v. The United Kingdom, Judgment (Merits), 18.01.2001 – 24882/94 21. Coster v. The United Kingdom, Judgment (Merits), 18.01.2001 – 24876/94   22. Jane Smith v. The United Kingdom, Judgment (Merits), 18.01.2001 – 25154/94  23. Chapman v. The United Kingdom, Judgment (Merits), 18.01.2001 – 27238/95 24. Lee v. The United Kingdom, Judgment (Merits), 18.01.2001 – 25289/94 25. Cyprus v. Turkey, Judgment (Merits), 10.05.2001 – 25781/94   26. Calvelli and Ciglio v. Italy, Judgment (Merits), 17.01.2002 – 32967/96   27. I. v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 11.07.2002 – 25680/94 28. Christine Goodwin v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 11.07.2002 – 28957/95 29. Odièvre v. France, Judgment (Merits), 13.02.2003 – 42326/98   30. Tahsin Acar v. Turkey, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 08.04.2004 – 26307/95 31. Perez v. France, Judgment (Merits), 12.02.2004 – 47287/99 32. Gorzelik a. o. v. Poland, Judgment (Merits), 17.02.2004 – 44158/98 33. Maestri v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.02.2004 – 39748/98 34. Assanidze v. Georgia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 08.04.2004 – 71503/01 35. Broniowski v. Poland, Judgment (Merits), 22.06.2004 – 31443/96 36. Edwards and Lewis v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 27.10.2004 – 39647/98, 40461/98 37. Öneryıldız v. Turkey, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 30.11.2004  – 48939/99 38. Cumpănă and Mazăre v. Romania, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.12.2004 – 33348/96 39. Öcalan v. Turkey, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 12.05.2005 – 46221/99 40. Broniowski v. Poland, Judgment (Struck out of the List), 28.09.2005 – 31443/96 41. Hirst v. The United Kingdom (No. 2), Judgment (Merits and Just Satisfaction), 06.10.2005 – 74025/01 42. Maurice v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 06.10.2005 – 11810/03 43. Draon v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 06.10.2005 – 1513/03 44. Leyla Şahin v. Turkey, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 10.11.2005  – 44774/98 45. Kyprianou v. Cyprus, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 15.12.2005 – 73797/01

314

Annex 1

46. Sørensen and Rasmussen v. Denmark, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 11.01.2006 – 52562/99, 52620/99 47. Sejdovic v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 01.03.2006 – 56581/00 48. Cocchiarella v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2006 – 64886/01 49. Riccardi Pizzati v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2006 – 62361/00 50. Giuseppe Mostacciuolo v. Italy (No. 2), Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2006 – 65102/01 51. Scordino v. Italy (No. 1), Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2006 – 36813/97 52. Apicella v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2006 – 64890/01 53. Musci v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2006 – 64699/01 54. Giuseppe Mostacciuolo v. Italy (No. 1), Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2006 – 64705/01 55. Ernestina Zullo v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2006 – 64897/01 56. Giuseppina and Orestina Procaccini v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2006 – 65075/01 57. Hutten-Czapska v. Poland, 19.06.2006 – 35014/97

Judgment

(Merits

and

Just

Satisfaction),

58. Ramirez Sanchez v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 04.07.2006 – 59450/00 59. Üner v. The Netherlands, Judgment (Merits), 18.10.2006 – 46410/99 60. Lindon, Otchakovsky-Laurens and July v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 22.10.2007 – 21279/02, 36448/02 61. D. H. a. o. v. The Czech Republic, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 13.11.2007 – 57325/00 62. Dickson v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 04.12.2007 – 44362/04 63. Stoll v. Switzerland, Judgment (Merits), 10.12.2007 – 69698/01 64. E.B. v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 22.01.2008 – 43546/02 65. Saadi v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.01.2008 – 13229/03 66. Kafkaris v. Cyprus, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 12.02.2008 – 21906/04 67. Guja v. Moldova, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 12.02.2008 – 14277/04 68. Saadi v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 28.02.2008 – 37201/06



Liste der im Fallpool enthaltenen Urteile der Großen Kammer315

69. Hutten-Czapska v. Poland, Judgment (Struck out of the List), 28.04.2008 – 35014/97 70. Maslov v. Austria, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 23.06.2008 – 1638/03 71. Yumak and Sadak v. Turkey, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 08.07.2008 – 10226/03 72. Kovačić a. o. v. Slovenia, Judgment (Struck out of the List), 03.10.2008  – 44574/98, 45133/98, 48316/99 73. Demir and Baykara v. Turkey, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 12.11.2008 – 34503/97 74. Salduz v. Turkey, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 27.11.2008 – 36391/02 75. S. and Marper v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 04.12.2008 – 30562/04, 30566/04 76. A. a. o. v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 19.02.2009 – 3455/05 77. Bykov v. Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 10.03.2009 – 4378/02 78. Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) v. Switzerland (No. 2), Judgment (Merits and Just Satisfaction), 30.06.2009 – 32772/02 79. Enea v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.09.2009 – 74912/01 80. Scoppola v. Italy (No.2), Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.09.2009 – 10249/03 81. Kart v. Turkey, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 03.12.2009 – 8917/05 82. Guiso-Gallisay v. Italy, Judgment (Just Satisfaction), 22.12.2009 – 58858/00 83. Sejdić and Finci v. Bosnia and Herzegovina, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 22.12.2009 – 27996/06, 34836/06 84. Oršuš a. o. v. Croatia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 16.03.2010 – 15766/03 85. Depalle v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2010 – 34044/02 86. Brosset-Triboulet a. o. v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 29.03.2010 – 34078/02 87. Tănase v. Moldova, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 27.04.2010 – 7/08 88. Sanoma Uitgevers B.V. v. The Netherlands, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 14.09.2010 – 38224/03 89. Mangouras v. Spain, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 28.09.2010 – 12050/04 90. A, B and C v. Ireland, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 16.12.2010 – 25579/05 91. Paksas v. Lithuania, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 06.01.2011 – 34932/04

316

Annex 1

92. M.S.S. v. Belgium and Greece, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 21.01.2011 – 30696/09 93. Bayatyan v. Armenia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 07.07.2011 – 23459/03 94. Al-Skeini a. o. v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 07.07.2011 – 55721/07 95. Stummer v. Austria, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 07.07.2011 – 37452/02 96. Stanev v. Bulgaria, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.01.2012 – 36760/06 97. Axel Springer AG v. Germany, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 07.02.2012 – 39954/08 98. Von Hannover v. Germany (No. 2), Judgment (Merits and Just Satisfaction), 07.02.2012 – 40660/08, 60641/08 99. Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece, Judgment (Merits), 15.03.2012 – 42202/07 100. Konstantin Markin v. Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 22.03.2012 – 30078/06 101. Boulois v. Luxembourg, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 03.04.2012 – 37575/04 102. Centro Europa 7 S.r.l. and Di Stefano v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 07.06.2012 – 38433/09 103. Kurić a. o. v. Slovenia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 26.06.2012  – 26828/06 104. Mouvement raëlien suisse v. Switzerland, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 13.07.2012 – 16354/06 105. Chabauty v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 04.10.2012 – 57412/08 106. Catan a. o. v. Moldova and Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 19.10.2012 – 43370/04, 18454/06, 8252/05 107. El-Masri v. The former Yugoslav Republic of Macedonia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 13.12.2012 – 39630/09 108. De Souza Ribeiro v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 13.12.2012 – 22689/07 109. Fabris v. France, Judgment (Merits), 07.02.2013 – 16574/08 110. X a. o. v. Austria, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 19.02.2013 – 19010/07 111. Animal Defenders International v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 22.04.2013 – 48876/08 112. Vinter a. o. v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 09.07.2013 – 66069/09, 130/10, 3896/10 113. Allen v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 12.07.2013 – 25424/09



Liste der im Fallpool enthaltenen Urteile der Großen Kammer317

114. Maktouf and Damjanović v. Bosnia and Herzegovina, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 18.07.2013 – 2312/08, 34179/08 115. Vallianatos a. o. v. Greece, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 07.11.2013 – 29381/09, 32684/09 116. X v. Latvia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 26.11.2013 – 27853/09 117. O’Keeffe v. Ireland, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 28.01.2014 – 35810/09 118. Cyprus v. Turkey, Judgment (Just Satisfaction), 12.05.2014 – 25781/94 119. Marguš v. Croatia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 27.05.2014 – 4455/10 120. S.A.S. v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 01.07.2014 – 43835/11 121. Georgia v. Russia (I), Judgment (Merits), 03.07.2014 – 13255/07 122. Hämäläinen v. Finland, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 16.07.2014 – 37359/09 123. Ališić a. o. v. Bosnia and Herzegovina, Croatia, Serbia, Slovenia and the former Yugoslav Republic of Macedonia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 16.07.2014 – 60642/08 124. Svinarenko and Slyadnev v. Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.07.2014 – 32541/08, 43441/08 125. Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu v. Romania, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.07.2014 – 47848/08 126. Mocanu a. o. v. Romania, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.09.2014 – 10865/09, 45886/07, 32431/08 127. Jaloud v. The Netherlands, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 20.11.2014 – 47708/08 128. Bochan v. Ukraine (No.  2), Judgment (Merits and Just Satisfaction), 05.02.2015 – 22251/08 129. Morice v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 23.04.2015 – 29369/10 130. Lambert a. o. v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 05.06.2015 – 46043/14 131. Delfi AS v. Estonia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 16.06.2015 – 64569/09 132. Sargsyan v. Azerbaijan, Judgment (Merits), 16.06.2015 – 40167/06 133. Chiragov a. o. v. Armenia, Judgment (Merits), 16.06.2015 – 13216/05 134. Khoroshenko v. Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 30.06.2015 – 41418/04 135. Parrillo v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 27.08.2015 – 46470/11 136. Bouyid v. Belgium, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 28.09.2015 – 23380/09

318

Annex 1

137. Perinçek v. Switzerland, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 15.10.2015 – 27510/08 138. Kudrevičius a. o. v. Lithuania, Judgment (Merits), 15.10.2015 – 37553/05 139. Vasiliauskas v. Lithuania, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 20.10.2015 – 35343/05 140. Dvorski v. Croatia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 20.10.2015 – 25703/11 141. Couderc and Hachette Filipacchi Associés v. France, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 10.11.2015 – 40454/07 142. Roman Zakharov v. Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 04.12.2015 – 47143/06 143. Mozer v. Moldova and Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 23.02.2016 – 11138/10 144. Blokhin v. Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 23.03.2016 – 47152/06 145. Bédat v. Switzerland, Judgment (Merits), 29.03.2016 – 56925/08 146. Murray v. The Netherlands, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 26.04.2016 – 10511/10 147. Karácsony a.  o. v. Hungary, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.05.2016 – 42461/13, 44357/13 148. Biao v. Denmark, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 24.05.2016 – 38590/10 149. Al-Dulimi and Montana Management Inc. v. Switzerland, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 21.06.2016 – 5809/08 150. Baka v. Hungary, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 23.06.2016 – 20261/12 151. Jeronovičs v. Latvia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 05.07.2016  – 44898/10 152. Ibrahim a. o. v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 13.09.2016 – 50541/08, 50571/08, 50573/08, 40351/09 153. Muršić v. Croatia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 20.10.2016  – 7334/13 154. Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 08.11.2016 – 18030/11 155. A and B v. Norway, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 15.11.2016 – 24130/11, 29758/11 156. Khlaifia a. o. v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 15.12.2016 – 16483/12 157. Hutchinson v. The United Kingdom, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 17.01.2017 – 57592/08 158. Khamtokhu and Aksenchik v. Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 24.01.2017 – 60367/08, 961/11



Liste der im Fallpool enthaltenen Urteile der Großen Kammer319

159. De Tommaso v. Italy, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 23.02.2017 – 43395/09 160. Medžlis Islamske Zajednice Brčko a. o. v. Bosnia and Herzegovina, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 27.06.2017 – 17224/11 161. Satakunnan Markkinapörssi Oy and Satamedia Oy v. Finland, Judgment (Mer­ its and Just Satisfaction), 27.06.2017 – 931/13 162. Moreira Ferreira v. Portugal (No. 2), Judgment (Merits and Just Satisfaction), 11.07.2017 – 19867/12 163. Bărbulescu v. Romania, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 05.09.2017 – 61496/08 164. Burmych a. o. v. Ukraine, Judgment (Struck out of the List), 12.10.2017 – 46852/13, 47786/13, 56605/13, 54125/13, 3653/14 165. Garib v. The Netherlands, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 06.11.2017 – 43494/09 166. Merabishvili v. Georgia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 28.11.2017 – 72508/13 167. Chiragov a. o. v. Armenia, Judgment (Just Satisfaction), 12.12.2017 – 13216/05 168. Sargsyan v. Azerbaijan, Judgment (Just Satisfaction), 12.12.2017 – 40167/06 169. Lopes de Sousa Fernandes v. Portugal, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 19.12.2017 – 56080/13 170. Naït-Liman v. Switzerland, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 15.03.2018 – 51357/07 171. Correia de Matos v. Portugal, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 04.04.2018 – 56402/12 172. G.I. E.M. S.r.l. a. o. v. Italy, Judgment (Merits), 28.06.2018 – 1828/06, 34163/07, 19029/11 173. Denisov v. Ukraine, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 25.09.2018 – 76639/11 174. Ramos Nunes de Carvalho e Sá v. Portugal, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 06.11.2018 – 55391/13, 57728/13, 74041/13 175. Navalnyy v. Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 15.11.2018 – 29580/12, 36847/12, 11252/13, 12317/13, 43746/14 176. Murtazaliyeva v. Russia, Judgment (Merits and Just Satisfaction), 18.12.2018 – 36658/05 177. Molla Sali v. Greece, Judgment (Merits), 19.12.2018 – 20452/14

Annex 2 Ergebnisse der quantitativen empirischen Untersuchung Kategorie A: Stelle der Berücksichtigung von Europaratsdokumenten im Urteil 1. Berücksichtigung in „The law“ 2. Berücksichtigung nur an anderer Stelle („The facts“, Vorbringen der Beteiligten, Sondervotum) 3. Zufallstreffer Kategorie B: Jahr Kategorie C: Konventionsartikel1 Kategorie D: Methodischer Zusammenhang der Berücksichtigung 1. Neben anderen Erkenntnisquellen 2. Alleinstehend Nr.2

Beschwerdeführer

Beschwerdegegner

A

B

C

D

177

Molla Sali

Greece

1

2018

1 ZP 1 i. V. m. 14

1

171

Correia de Matos

Portugal

1

2018

6

1

163

Bărbulescu

Romania

1

2017

8

1

158

Khamtokhu and Aksenchik

Russia

1

2017

5 i. V. m. 14

1

157

Hutchinson

The United Kingdom

1

2017

3

1

154

Magyar Helsinki Bizottság

Hungary

1

2016

10

1

153

Muršić

Croatia

1

2016

3

1

150

Baka

Hungary

1

2016

10

1

1  Sofern nicht als Artikel eines ZP bezeichnet, sind die angegebenen Artikel solche der EMRK. 2  Die Nummer bezieht sich auf die Liste der untersuchten Urteile in Annex 1.



Ergebnisse der quantitativen empirischen Untersuchung321 Nr.2

Beschwerdeführer

Beschwerdegegner

A

B

C

D

149

Al-Dulimi and Montana Management Inc.

Switzerland

1

2016

6

1

146

Murray

The Netherlands

1

2016

3

1

144

Blokhin

Russia

1

2016

3, 5, 6

1

137

Perinçek

Switzerland

1

2015

10

1

135

Parrillo

Italy

1

2015

8

1

134

Khoroshenko

Russia

1

2015

8

1

133

Chiragov a. o.

Armenia

1

2015

1 ZP 1

1

128

Bochan

Ukraine (No. 2)

1

2015

6

1

120

S.A.S.

France

1

2014

9

1

117

O’Keeffe

Ireland

1

2014

3

1

115

Vallianatos a. o.

Greece

1

2013

8 i. V. m. 14

1

112

Vinter a. o.

The United Kingdom

1

2013

3

1

111

Animal Defenders International

The United Kingdom

1

2013

10

1

110

X a. o.

Austria

1

2013

8 i. V. m. 14

1

109

Fabris

France

1

2013

1 ZP 1 i. V. m. 14

1

107

El-Masri

The former Yugoslav Republic of Macedonia

1

2012

3

1

101

Boulois

Luxembourg

1

2012

6

1

100

Konstantin Markin

Russia

1

2012

8 i. V. m. 14

1

99

Sitaropoulos and Giakoumopoulos

Greece

1

2012

3 ZP 1

1

96

Stanev

Bulgaria

1

2012

6

1

95

Stummer

Austria

1

2011

1 ZP 1 i. V.m 14; 4

1

93

Bayatyan

Armenia

1

2011

9

1

(Fortsetzung nächste Seite)

322

Annex 2

(Fortsetzung Tabelle) Nr.2

Beschwerdeführer

Beschwerdegegner

A

B

C

D

87

Tănase

Moldova

1

2010

3 ZP 1 i. V. m. 14

1

86

Brosset-Triboulet a. o.

France

1

2010

1 ZP 1

1

85

Depalle

France

1

2010

1 ZP 1

1

84

Oršuš a. o.

Croatia

1

2010

2 ZP 1 i. V. m. 14

1

79

Enea

Italy

1

2009

6

1

75

S. and Marper

The United Kingdom

1

2008

8

1

74

Salduz

Turkey

1

2008

6

1

73

Demir and Baykara Turkey

1

2008

11

1

71

Yumak and Sadak

Turkey

1

2008

3 ZP 1

1

66

Kafkaris

Cyprus

1

2008

3

1

65

Saadi

The United Kingdom

1

2008

5

1

63

Stoll

Switzerland

1

2007

10

1

61

D.  H. a. o.

The Czech Republic

1

2007

2 ZP 1 i. V. m. 14

1

59

Üner

The Netherlands

1

2006

8

1

58

Ramirez Sanchez

France

1

2006

3

1

46

Sørensen and Rasmussen

Denmark

1

2006

11

1

44

Leyla Şahin

Turkey

1

2005

2 ZP 1

1

37

Öneryıldız

Turkey

1

2004

2

1

24

Lee

The United Kingdom

1

2001

8

1

23

Chapman

The United Kingdom

1

2001

8

1

22

Jane Smith

The United Kingdom

1

2001

8

1



Ergebnisse der quantitativen empirischen Untersuchung323 Nr.2

Beschwerdeführer

Beschwerdegegner

A

B

C

D

21

Coster

The United Kingdom

1

2001

8

1

20

Beard

The United Kingdom

1

2001

8

1

14

T.

The United Kingdom

1

1999

3

1

13

V.

The United Kingdom

1

1999

3

1

164

Burmych a. o.

Ukraine

1

2017

37

2

162

Moreira Ferreira

Portugal (No. 2)

1

2017

6

2

160

Medžlis Islamske Zajednice Brčko a. o.

Bosnia and Herzegovina

1

2017

10

2

147

Karácsony a. o.

Hungary

1

2016

10

2

143

Mozer

Moldova and Russia

1

2016

1

2

142

Roman Zakharov

Russia

1

2015

8

2

141

Couderc and Hachette Filipacchi Associés

France

1

2015

10

2

136

Bouyid

Belgium

1

2015

3

2

132

Sargsyan

Azerbaijan

1

2015

1 ZP 1

2

131

Delfi AS

Estonia

1

2015

10

2

123

Ališić a. o.

Bosnia and Herzegovina, Croatia, Serbia, Slovenia and the former Yugoslav Republic of Macedonia

1

2014

46

2

103

Kurić a. o.

Slovenia

1

2012

46

2

102

Centro Europa 7 S.r.l. and Di Stefano

Italy

1

2012

10

2

(Fortsetzung nächste Seite)

324

Annex 2

(Fortsetzung Tabelle) Nr.2

Beschwerdeführer

Beschwerdegegner

A

B

C

D

98

Von Hannover

Germany (No. 2)

1

2012

10

2

97

Axel Springer AG

Germany

1

2012

10

2

78

Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)

Switzerland (No. 2) 1

2009

10

2

72

Kovačić a. o.

Slovenia

1

2008

1 ZP 1 (allein und i. V. m. Art. 14)

2

70

Maslov

Austria

1

2008

8

2

56

Giuseppina and Orestina Procaccini

Italy

1

2006

46

2

55

Ernestina Zullo

Italy

1

2006

46

2

54

Giuseppe Mostacciuolo

Italy (No. 1)

1

2006

46

2

53

Musci

Italy

1

2006

46

2

52

Apicella

Italy

1

2006

46

2

51

Scordino

Italy (No. 1)

1

2006

46

2

50

Giuseppe Mostacciuolo

Italy (No. 2)

1

2006

46

2

49

Riccardi Pizzati

Italy

1

2006

46

2

48

Cocchiarella

Italy

1

2006

46

2

47

Sejdovic

Italy

1

2006

46

2

35

Broniowski

Poland

1

2004

46

2

31

Perez

France

1

2004

6

2

12

Bottazzi

Italy

1

1999

6

2

11

A.P.

Italy

1

1999

6

2

10

Ferrari

Italy

1

1999

6

2

9

Di Mauro

Italy

1

1999

6

2

174

Ramos Nunes de Carvalho e Sá

Portugal

2

2018







Ergebnisse der quantitativen empirischen Untersuchung325 Nr.2

Beschwerdeführer

Beschwerdegegner

A

B

C

D

173

Denisov

Ukraine

2

2018





169

Lopes de Sousa Fernandes

Portugal

2

2017





168

Sargsyan

Azerbaijan

2

2017





166

Merabishvili

Georgia

2

2017





161

Satakunnan Markkinapörssi Oy and Satamedia Oy

Finland

2

2017





155

A and B

Norway

2

2016





151

Jeronovičs

Latvia

2

2016





148

Biao

Denmark

2

2016





145

Bédat

Switzerland

2

2016





140

Dvorski

Croatia

2

2015





139

Vasiliauskas

Lithuania

2

2015





130

Lambert a. o.

France

2

2015





129

Morice

France

2

2015





125

Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu

Romania

2

2014





122

Hämäläinen

Finland

2

2014





114

Maktouf and Damjanović

Bosnia and Herzegovina

2

2013





108

De Souza Ribeiro

France

2

2012





104

Mouvement raëlien suisse

Switzerland

2

2012





90

A, B and C

Ireland

2

2010





88

Sanoma Uitgevers B.V.

The Netherlands

2

2010





83

Sejdić and Finci

Bosnia and Herzegovina

2

2009





(Fortsetzung nächste Seite)

326

Annex 2

(Fortsetzung Tabelle) Nr.2

Beschwerdeführer

Beschwerdegegner

A

B

C

D

81

Kart

Turkey

2

2009





76

A. a. o.

The United Kingdom

2

2009





69

Hutten-Czapska

Poland

2

2008





67

Guja

Moldova

2

2008





62

Dickson

The United Kingdom

2

2007





60

Lindon, Otchakovsky-Laurens and July

France

2

2007





57

Hutten-Czapska

Poland

2

2006





45

Kyprianou

Cyprus

2

2005





41

Hirst

The United Kingdom (No. 2)

2

2005





38

Cumpănă and Mazăre

Romania

2

2004





33

Maestri

Italy

2

2004





29

Odièvre

France

2

2003





26

Calvelli and Ciglio

Italy

2

2002





17

Cha’are Shalom Ve Tsedek

France

2

2000





16

Salman

Turkey

2

2000





8

Sheffield and Horsham

The United Kingdom

2

1998





7

X, Y and Z

The United Kingdom

2

1997





5

Saunders

The United Kingdom

2

1996





1

Jersild

Denmark

2

1994





176

Murtazaliyeva

Russia

3







175

Navalnyy

Russia

3









Ergebnisse der quantitativen empirischen Untersuchung327 Nr.2

Beschwerdeführer

Beschwerdegegner

A

B

C

D

172

G.I. E.M. S.R.L. a. o.

Italy

3







170

Näit-Liman

Switzerland

3







167

Chiragov a. o.

Armenia

3







165

Garib

The Netherlands

3







159

De Tommaso

Italy

3







156

Khlaifia a. o.

Italy

3







152

Ibrahim a. o.

The United Kingdom

3







138

Kudrevičius a. o.

Lithuania

3







127

Jaloud

The Netherlands

3







126

Mocanu a. o.

Romania

3







124

Svinarenko and Slyadnev

Russia

3







121

Georgia

Russia (I)

3







119

Marguš

Croatia

3







118

Cyprus

Turkey

3







116

X

Latvia

3







113

Allen

The United Kingdom

3







106

Catan a. o.

Moldova and Russia

3







105

Chabauty

France

3







94

Al-Skeini a. o.

The United Kingdom

3







92

M.S.S. 

Belgium and Greece

3







91

Paksas

Lithuania

3







89

Mangouras

Spain

3







82

Guiso-Gallisay

Italy

3







(Fortsetzung nächste Seite)

328

Annex 2

(Fortsetzung Tabelle) Nr.2

Beschwerdeführer

Beschwerdegegner

A

B

C

D

80

Scoppola

Italy (No. 2)

3







77

Bykov

Russia

3







68

Saadi

Italy

3







64

E.B.

France

3







43

Draon

France

3







42

Maurice

France

3







40

Broniowski

Poland

3







39

Öcalan

Turkey

3







36

Edwards and Lewis The United Kingdom

3







34

Assanidze

Georgia

3







32

Gorzelik a. o.

Poland

3







30

Tahsin Acar

Turkey

3







28

Christine Goodwin

The United Kingdom

3







27

I.

The United Kingdom

3







25

Cyprus

Turkey

3







19

Hasan and Chaush

Bulgaria

3







18

Scozzari and Giunta

Italy

3







15

Comingersoll S. A.

Portugal

3







6

Loizidou

Turkey

3







4

Chahal

The United Kingdom

3







3

McCann a. o.

The United Kingdom

3







2

Loizidou

Turkey

3







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Stichwortverzeichnis Auslegung  72 ff., 93 ff. –– dynamische  75 ff. –– evolutive  75 ff. –– harmonische  215 –– WVK  72 ff., 255 ff. Beurteilungsspielraum siehe margin of appreciation-Doktrin Concurring opinion  47 f. Dissenting opinion  47 f. Dokumente des Europarats  25 ff., 299 ff.

Fallpool –– Übersicht  312 ff. –– Zusammenstellung  100 ff. Funktionalismus  263 f., 267 f. Große Kammer  44 f. Individualbeschwerdeverfahren  44 f. Internal reasons  90 Internationale Übereinkommen  58, 287 ff. Internationaler Konsens  65, 271 f. Kammer  44 f.

Emerging consensus  65 Empfehlungen  25 ff. Empirische Untersuchung  102 ff. –– qualitativ  105 ff. –– quantitativ  102 ff., 320 ff. EPR  187 ff.  Erkenntnisquellen  58 f. Europäische herrschende Meinung  55 f., 268 ff. Europäischer Konsens  17 f., 54 ff., 65, 268 ff. –– Anwendungsbereiche und Funktionen  70 ff., 274 ff. –– Auswirkungen  95 f. –– Erkenntnisquellen  58 ff. –– Ermittlung  64 ff., 290 ff. –– rechtsvergleichende Fragestellung  58, 144 ff., 265 ff. Europaratsdokumente  siehe Dokumente des Europarats External reasons  90

Legitimität  246 LGBT-Rechte  120 ff.

Fair balance  35 f.

Soft Law  15 ff., 21 ff., 62 f., 293 ff.

Margin of appreciation-Doktrin  37 ff., 79 ff. Methode  55, 262 Methodik  262 Micro-comparison  263 Ministerkomitee  26 f. Parlamentarische Versammlung  27 ff. Partly concurring opinion  47 f. Partly dissenting opinion  47 f. Positive obligation  34 Rechtsvergleichung  49 f., 67 ff., 240, 262 ff. Rechtsvergleich zwischen den Europaratsstaaten  59 f., 284 ff. Research Division  53 Resolutionen  25 ff.

Stichwortverzeichnis347 Sondervotum  47 f. State consent  55, 268 f. Subsidiarität  38 ff. Superior Court Network  53 f. The facts  45, 53 The law  46

Trend  57, 65 Urteilsaufbau  45 ff. Verhältnismäßigkeitsprinzip  31 ff., 79 ff. Völkerrechtliche Verträge  60 ff.