Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK [1 ed.] 9783428526482, 9783428126484

Das von Angela Brett behandelte Thema ist deshalb von solcher Brisanz, weil es in keinem der Konventionsstaaten einen de

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Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK [1 ed.]
 9783428526482, 9783428126484

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Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Band 93

Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK

Von Angela Brett

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ANGELA BRETT

Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann K r i s t i a n K ü h l , H a n s v. M a n g o l d t We r n h a r d M ö s c h e l , M a r t i n N e t t e s h e i m Wo l f g a n g G r a f Vi t z t h u m , J o a c h i m Vog e l sämtlich in Tübingen

Band 93

Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK

Von Angela Brett

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Arbeit im Sommersemester 2007 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 21 Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 978-3-428-12648-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2007 von der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Meinem verehrten Lehrer und Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Wolfgang Graf Vitzthum, LL.M. (Columbia), danke ich von ganzem Herzen. Diese Arbeit wäre ohne seine Förderung, seine wertvollen Anregungen und die Unterstützung, welche mir in allen Phasen des Promotionsvorhabens zuteil wurde, nicht zu einem so erfolgreichen Ende gebracht worden. Herrn Professor Dr. Martin Nettesheim danke ich für die überaus schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Besonderer Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Thomas Oppermann für die ehrenvolle Aufnahme der Arbeit in die „Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht“. Danken möchte ich des Weiteren meinen Kollegen der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Kroll & Partner, welche meine Arbeit in der zweiten Phase begleitet haben und mir stets Rückhalt sowie den notwendigen Freiraum für die Fertigstellung dieser Arbeit gegeben haben. Ohne Verständnis und Unterstützung aus meinem persönlichen Umfeld wäre diese Arbeit niemals entstanden. An erster Stelle danke ich von ganzem Herzen meinem Lebensgefährten, Herrn Richter Dr. Philipp Molsberger, der mit wertvoller Hilfe und großem Verständnis die gesamte Entstehungsphase der Dissertation begleitet und darüber hinaus mit unendlicher Geduld die Durchsicht des Manuskripts auf sich genommen hat. Ferner danke ich ganz besonders Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Josef Molsberger, der mir in der Schlussphase der Arbeit zur Seite stand und in kürzester Zeit die Schlussdurchsicht des Manuskripts übernahm. Der letzte Dank gilt meinen Eltern, welche die Entstehung dieser Arbeit in jeder Hinsicht gefördert und unterstützt haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Tübingen, im Oktober 2008

Angela Brett

Inhaltsverzeichnis Einführung

17

I.

Was ist Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

II.

Bedeutung der Zeit im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Erster Teil

Rechtsprechungsübersicht

35

Kapitel 1 „Wemhoff“ und „König“ – die Anfänge der Rechtsprechung zur „Entscheidung in angemessener Frist“

35

I.

Wemhoff gegen Deutschland – Neuland „Verfahrensdauer“ . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 27. Juni 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35 37

II.

König gegen Deutschland – ärztliche Approbation als „zivilrechtlicher Anspruch“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 28. Juni 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37 39

Kapitel 2 Von „Buchholz“ bis „Bock“ – Rechtsprechungswandel innerhalb einer halben Dekade

43

I.

Buchholz gegen Deutschland – die „alte“ Rechtsprechung des EGMR . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 6. Mai 1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 43 44

II.

Eckle gegen Deutschland – Beginn einer „schematischen“ Rechtsprechung . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 15. Juli 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 46 48

III. Deumeland gegen Deutschland – Kehrtwendung in der Rechtsprechung? . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 29. Mai 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 52

8 IV.

Inhaltsverzeichnis Bock gegen Deutschland – Festigung und Fortführung der „neuen“ Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 29. März 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 55 57

Kapitel 3 Von „Süßmann“ bis „Gast und Popp“ – Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht

59

Süßmann gegen Deutschland – ein Novum: Verfahrensdauer allein vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 16. September 1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 59 60

Pammel gegen Deutschland – Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Normenkontrollverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 1. Juli 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64 64 65

III. Probstmeier gegen Deutschland – Parallelentscheidung zum Fall Pammel . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 1. Juli 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 67 67

I.

II.

IV.

V.

Osteo Deutschland GmbH gegen Deutschland – Abschluss durch Rücknahme der Beschwerde (Art. 37 Abs. 1 EMRK; Art. 44 Abs. 3 VerfO) . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 3. November 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68 68 69

Gast und Popp gegen Deutschland – Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils auf Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 25. Februar 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 70 71

Kapitel 4 Von „Klein“ bis „Janssen“ – 5 Entscheidungen zur Verfahrensdauer aus dem Jahr 2001

73

I.

Der Fall Klein – „Stein des Anstoßes“ aus deutscher Sicht? . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 27. Juli 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73 73 74

II.

Metzger gegen Deutschland – die erste Verurteilung wegen überlanger Verfahrensdauer in einem Strafverfahren seit dem legendären Fall Eckle aus dem Jahr 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

Inhaltsverzeichnis

9

1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 31. Mai 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 77

III. H. T. gegen Deutschland – ein Sozialgerichtsverfahren von annähernd 12 Jahren Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 11. Oktober 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 78 79

IV.

Mianowicz gegen Deutschland – fast 13 Jahre Dauer eines Arbeitsgerichtsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 18. Oktober 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 81 82

Bayrak gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 20. Dezember 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83 83 85

VI. Janssen gegen Deutschland – kein „Bedarf“ der Einbeziehung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens aufgrund immenser Verfahrenslänge . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 20. Dezember 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86 86 87

V.

Kapitel 5 Von „Volkwein“ bis „Thieme“ – die Entscheidungen des Jahres 2002

89

I.

Volkwein gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 4. April 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 89 90

II.

Becker gegen Deutschland – über 13 Jahre Dauer, allein 10 davon vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 26. September 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 91 92

III. Thieme gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 17. Oktober 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93 93 94

Kapitel 6

I.

Die Urteile „Hesse-Anger“ bis „Herbolzheimer“ – 2003

95

Hesse-Anger gegen Deutschland – 111/2 Jahre Dauer sind nicht zu rechtfertigen, Bezugnahme auf den Fall Süßmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 6. Februar 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95 95 96

10

Inhaltsverzeichnis

II.

Kind gegen Deutschland – ein Verfahren von exorbitanter Länge (15 Jahre und 9 Monate) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil des EGMR vom 20. Februar 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97 97 98

III. Niederbörster gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Urteil des EGMR vom 27. Februar 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 IV.

Axen u. a. gegen Deutschland – Abschluss durch gütliche Einigung (Art. 39 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Urteil des EGMR vom 27. Februar 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

V.

Herbolzheimer gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Urteil des EGMR vom 31. Juli 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Kapitel 7 Von „Trippel“ bis „Koroniotis“ – Festigung der Rechtsprechung

107

I.

Trippel gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Urteil des EGMR vom 4. Dezember 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

II.

Voggenreiter gegen Deutschland – Verfahrensdauer eines Gesetzesverfassungsbeschwerdeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Urteil des EGMR vom 8. Januar 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

ˇ evicovic´ gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 III. C 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Urteil des EGMR vom 29. Juli 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 IV.

Uhl gegen Deutschland – EGMR contra BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Urteil des EGMR vom 10. Februar 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

V.

Wimmer gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Urteil des EGMR vom 24. Februar 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

VI. Koroniotis gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Urteil des EGMR vom 21. April 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Inhaltsverzeichnis

11

Kapitel 8 Von „Müller“ bis „Dzelili“ – das Jahr 2005

122

I.

Müller gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Urteil des EGMR vom 6. Oktober 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

II.

Dzelili gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Urteil des EGMR vom 10. November 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

Kapitel 9 Von „Siebert“ bis „Kirsten“ – die aktuelle Rechtsprechung des EGMR

130

I.

Siebert gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Urteil des EGMR vom 23. März 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

II.

Sürmeli gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Urteil des EGMR vom 8. Juni 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

III. Nold gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Urteil des EGMR vom 29. Juni 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 IV.

Stork gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Urteil des EGMR vom 13. Juli 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

V.

Gräßer gegen Deutschland – „Rekord“ im Bereich Verfahrensdauer . . . . . . . . 143 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2. Urteil des EGMR vom 5. Oktober 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

VI. Klasen gegen Deutschland – Parallele zum Fall Janssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Urteil des EGMR vom 5. Oktober 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 VII. Herbst gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Urteil des EGMR von 11. Januar 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 VIII. Kirsten gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Urteil des EGMR vom 15. Februar 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

12

Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil

Betrachtungen zur Verfahrensdauer

161

Kapitel 1 Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht – „Bis dat, qui cito dat!“ I. II.

161

Verfahrensdauer im historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Magna Charta Libertatum vom 15. Juni 1215 – die ältesten Wurzeln der Verfahrensrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation – Verfahrensdauer in der Kammergerichtsordnung (1495/1555) unter Maximilian I. . . . . . . . . . . . . . 3. Zweite Landesordnung von Michael Gaismair (Januar–März 1526) . . . . . 4. Verfahrensrechte in der Petition of Rights (1627/28), Bill of Rights (1689) und der Habeas-Corpus-Akte (von 1640 und 1679) . . . . . . . . . . . . . 5. Bemühungen um Verfahrensbeschleunigung im 18. Jahrhundert in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Virginia Bill of Rights von 1776 und der VI. Zusatzartikel der US-Verfassung von 1791 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Wiener Schlussakte im Deutschen Bund vom 15. Mai 1820 . . . . . . . . 8. Die Paulskirchenverfassung von 1849 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Frankfurter Reformakte von 1863 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Verfahrensdauer in der Reichsverfassung von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 . . . . . . . . 13. Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12. 1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18. Dezember 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164 164 165 168 169 171 173 174 176 177 178 179 180 182 184 186 187

Kapitel 2 Methoden zur Auslegung der EMRK

191

I.

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

II.

Die Auslegungsmethoden nach Art. 31 ff. WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Art. 31 Abs. 1 WVK – Wortlautinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Systematik – Art. 31 Abs. 1 und 2 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Inhaltsverzeichnis

13

3. Ziel und Zweck der Konvention – Art. 31 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 4 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 4. Die Entstehungsgeschichte (Art. 32 WVK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 5. „Margin of appreciation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Kapitel 3 Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

218

I.

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

II.

„Zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestand und Klagbarkeit eines Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Zivilrechtlicher“ Charakter des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220 220 225 235

III. Entscheidung über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage . . . . . . . 1. Der Begriff des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff der Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237 237 242 244

Kapitel 4 Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist“

246

I.

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

II.

Festlegung des relevanten Zeitraumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 1. Beginn der Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2. Ende der Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

III. Angemessenheit der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absolute Zeitgrenze oder Verfahrensdauer als Indikator für Unangemessenheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bemessung der Angemessenheit nach einzelnen Kriterien . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umfang und Schwierigkeit des Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhalten des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Behandlung des Falles durch die mit dem Verfahren befassten Behörden und Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Bedeutung des Verfahrensausgangs für den Beschwerdeführer contra Popularinteresse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Erweiterung um zusätzliche Kriterien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

252 252 254 254 262 264 266 269 272 274

14

Inhaltsverzeichnis Kapitel 5 Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren“

277

I.

Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

II.

Die Rechtsprechung des EGMR zum Institut der Verfassungsbeschwerde . . . 280 1. Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Verfassungsgerichtsverfahren – insbesondere Verfassungsbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Berücksichtigung der Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens im Rahmen der Angemessenheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

III. „Vereinbarkeit“ mit deutschem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wesen und Genese der Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gründe für die Einführung der Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . c) Das Annahmeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Charakter der Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Vom außerordentlichen Rechtsbehelf zum effektiven Rechtsmittel und zurück? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verfassungsbeschwerde im europäischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . .

295 295 298 298 301 305 312 315 325

Kapitel 6 Lösungsansätze zur Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens durch den EGMR

329

I.

Konsequenz nationaler Sichtweise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

II.

Subsidiarität der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

III. Der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 1. Aussonderung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 2. Aussonderung der Nichtannahmeentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 IV.

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Angemessenheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Souveränitätsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Lehre vom Beurteilungsspielraum – „margin of appreciation“ . . . . . . 5. Anwendung dieser Grundsätze auf die Angemessenheit der Dauer von Verfassungsbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zeitlicher „Aufschlag“ für Verfassungsbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . .

348 348 349 351 359

Résumé und Ausblick

371

364 367

Inhaltsverzeichnis

15

Dokumentenverzeichnis

379

I.

Völkerrechtliche Verträge, Dokumente und Deklarationen . . . . . . . . . . . . . . . . 379

II.

Europarechtliche Verträge, Rechtsakte und sonstige Dokumente . . . . . . . . . . . 379

III. Rechtsquellen und sonstige Dokumente anderer Konventionsstaaten . . . . . . . . 380 IV.

Gesetze und Dokumente der Bundesrepublik Deutschland und der Länder . . 380

V.

Historische Dokumente und Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408

Einführung I. Was ist Zeit? „Zeit ist, wie lange wir warten“ (Richard Feynman)1

Dieses Zitat – obgleich nicht der juristischen Literatur entnommen – vermag auf das Thema der vorliegenden Arbeit trefflich hinzuleiten. Der Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen die zeitliche Dauer eines gerichtlichen Verfahrens als angemessen beurteilt werden kann, ist die Frage nach der Bedeutung von „Zeit“ und „Dauer“ jenseits des Rechts voranzustellen. Hier wie dort ist die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der Zeit umstritten und bis heute nicht eindeutig geklärt.2 Mit der Frage, was „Zeit“ sei, hat sich bereits der der Eleatischen Schule der Philosophie, gegründet von dem Religionsphilosophen und Dichter Xenophan,3 angehörende Zenon von Elea4 (490 bis 430 v. Chr.) beschäftigt, der 450 Jahre vor unserer Zeitrechnung versuchte, die Flugbahn eines abgeschossenen Pfeils zu beschreiben. Er behauptete, dieser Pfeil fliege nicht, sondern ruhe still in einem Kontinuum von aufeinanderfolgenden Bildern.5 Zenon von Elea kam damit der Einsteinschen Erkenntnis „Zeit ist relativ“ 6 recht nahe, indem er von einer Abhängigkeit der Zeit vom Raum-Zeit-Kontinuum des Beobachters ausging.7 1

Zit. bei Eigen, Evolution und Zeitlichkeit, S. 35. „Was ist Zeit?“, Augustinus, Bekenntnisse, S. 312; „Was ist denn die Zeit?“, Mann, Der Zauberberg, Darmstadt 1967, S. 73, 358; „Was ist Zeit?“, Eigen, Evolution und Zeitlichkeit, S. 35; Hawking, Illustrierte kurze Geschichte der Zeit, S. 2. 3 Vertiefend Berger, Paradoxien, S. 14. 4 Philosoph der griechischen Antike, aus Elea, einer kleinen griechischen Kolonie nahe bei Neapel stammend. 5 Beck, Antizipation in der Bildenden Kunst. – Eine Annäherung, S. 186; vgl. zum Pfeilparadox auch Berger, Paradoxien, S. 24 ff.; sowie Cohen, 99 philosophische Rätsel, S. 55 ff., 171 ff. 6 Hierzu Hawking, Illustrierte kurze Geschichte der Zeit, S. 31 f. 7 Koch, Was war, wird erst noch sein, in: Die Welt, Beilage Geistige Welt G 1, v. 8. Juni 1996. – Ähnliches klingt bei Manns Zauberberg (S. 358) an: Die Zeit sei „ein Geheimnis – wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt! Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie ,zeitigt‘. Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. (. . .).“ 2

18

Einführung

Der heilige Augustinus (354–430 n. Chr.) entgegnete auf die Frage, was Zeit sei, hierauf wisse er eine Antwort nur so lange, wie ihn keiner danach frage; wolle er es aber einem Fragendem erklären, so wisse er es nicht.8 „Quid est ergo tempus?“9 Der griechische Philosoph und Naturforscher Aristoteles (384– 322 v. Chr.) hegte gar Zweifel daran, ob die Zeit überhaupt etwas Seiendes sei: Da die Zeit einerseits Vergangenheit, die zweifelsohne nicht mehr ist, und Zukunft, die noch nicht ist, umfasst, und zwischen beiden nur die Gegenwart als ständig verschwindender Moment liegt, neigt er dem Ergebnis zu, Zeit sei etwas nicht Seiendes.10 Augustinus findet letztendlich nach tiefgreifenden Reflektionen in seinen berühmten Bekenntnissen (Confessiones) für sich eine Antwort auf die Frage, was Zeit ist: Indem er die Zeit in drei verschiedene Abschnitte einteilt (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft)11, gelangt Augustinus zu folgendem Ergebnis: „Dennoch behaupte ich zu wissen, dass es eine vergangene Zeit nicht geben würde, wenn nichts verginge, eine zukünftige Zeit nicht sein könnte, wenn nichts auf uns zukäme und die gegenwärtige Zeit nicht erfassbar wäre, wenn nichts existieren würde.“ 12 Zeit stellt sich für ihn dabei als subjektive Erfahrung dar: „Das Künftige erwartend, auf das Gegenwärtige achtend, des Vergangenen sich erinnernd.“ 13 Albert Einstein, dessen relative Betrachtungsweise des Zeitbegriffs bereits angedeutet wurde, kommt zu folgendem Schluss: „Zeit und Raum sind Denkweisen, die wir benutzen. Raum und Zeit sind nicht Zustände, unter denen wir leben.“ 14 8

Augustinus, Bekenntnisse, S. 312. Augustinus, Bekenntnisse, S. 312. 10 Aristoteles: „ob die Zeit zum Seienden oder Nichtseienden gehört und was ihre Natur ist“, zit. bei Buchheim, Die Virtualität der Zeit nach Aristoteles, S. 11; Nachweise außerdem bei Rudolph, Augustins mystische Lehre von der Zeit, S. 27 f. 11 Diese Aufteilung greift Michael Ende in seinem 1973 erschienenen Roman „Momo“ mit dem Rätsel über die drei Brüder auf: „Drei Brüder wohnen in einem Haus, die sehen wahrhaftig verschieden aus, doch willst du sie unterscheiden, gleicht jeder den anderen beiden. Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus. Der zweite ist nicht da, er ging schon hinaus. Nur der dritte ist da, der Kleinste der drei, denn ohne ihn gäb’s nicht die anderen zwei. Und doch gibt’s den dritten, um den es sich handelt, nur weil sich der erst’ in den zweiten verwandelt. Denn willst du ihn anschaun, so siehst du nur wieder immer einen der anderen Brüder! Nun sage mir: Sind die drei vielleicht einer? Oder sind es nur zwei? Oder ist es gar – keiner? Und kannst du, mein Kind, ihre Namen mir nennen, so wirst du drei mächtige Herrscher erkennen. Sie regieren gemeinsam ein großes Reich – und sind es auch selbst! Darin sind sie gleich.“ (Ende, Momo, Stuttgart 1973, S. 154). Die Antwort ist die Zeit. Das Haus, in dem die drei Brüder wohnen, ist die Welt, und die drei Brüder sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 12 Augustinus, Bekenntnisse, S. 312. 13 Augustinus, Bekenntnisse, S. 328. 14 Zit. bei Wheeler, Jenseits aller Zeitlichkeit, S. 17. 9

Einführung

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Die Vielfältigkeit der ausgesuchten – freilich nur einen eng umgrenzten Ausschnitt der vorhandenen Abhandlungen zur Frage, welche Bedeutung die Zeit hat, dokumentierenden – Antworten verdeutlicht, wie wenig griffig und abstrakt definierbar das Wesen der Zeit ist. Wohl aus diesem Grund beschäftigt das Thema Zeit die Menschen seit jeher; der Umgang mit ihr war anfangs geprägt von religiösen Faktoren, denen im Lauf der Epochen immer weniger Bedeutung zugemessen wurde. Der Wandel des Umgangs mit Zeit wird etwa an folgendem Beispiel sichtbar: Bis zum 14. Jahrhundert ergab sich die Zeiteinteilung für die Menschen aus dem Läuten der Kirchenglocken zu den Gebetszeiten, die ihrerseits an Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gebunden waren. Da sich die Tageslänge über das Jahr hinweg veränderte, veränderte sich auch die Stundenlänge. Im Laufe des 14. Jahrhunderts wurden – beginnend in Italien – in die Rathaustürme Räderuhren eingebaut; auf diese Weise wurde der Schritt zur abstrakten Zeitmessung, der 60-Minuten-Stunde, vollzogen. Die Kirche hielt indes noch lange an der alten Zeiteinteilung fest, so dass unterschiedliche Zeiten innerhalb und außerhalb der Klöster die Folge waren.15 Die Vorstellung, es gäbe keine einheitliche Weltzeit, sondern stattdessen differenzierte Ortszeiten ist heute kaum denkbar – obwohl es diese in ländlichen Gebieten bis ins 19. Jahrhundert hinein gegeben hat.16 Die Frage nach der Zeit beziehungsweise deren Bestimmung hat aber auch in Zeiten moderner Technik und präziser Uhrwerke nichts an Bedeutung und Aktualität eingebüßt. Wissenschaftler jeglicher Couleur beschäftigen sich mit dem Faktor Zeit und seiner Bedeutung für die Menschen: „Was ist die Zeit? Wird sie je ein Ende finden? Neuere Erkenntnisse in der Physik, die teilweise phantastischen neuen Technologien zu verdanken sind, legen einige Antworten auf diese alten Fragen nahe. Eines Tages werden uns diese Antworten vielleicht so selbstverständlich erscheinen wie die Tatsache, dass die Erde um die Sonne kreist – oder so lächerlich wie der Schildkrötenturm17. Nur die Zukunft (was auch immer das sein mag) kann uns eine Antwort darauf geben“ (Stephen Hawking)18. „Zeit“ wird heutzutage aber auch vielfach als „Fessel“ empfunden, das Orientierungsmittel der Armbanduhr gar als Medium, welches den Menschen seiner 15

Sprandel, Die Geschichtlichkeit des Naturbegriffs, S. 254. Buchheim, Die Virtualität der Zeit nach Aristoteles, S. 36. 17 Es existiert die Anekdote, dass der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell im Rahmen eines seiner öffentlichen Vorträge zur Astronomie bei der Schilderung, wie die Erde um die Sonne und die Sonne ihrerseits um den Mittelpunkt einer riesigen Ansammlung von Sternen kreist, die wir unsere Galaxis nennen, von einer alten Dame unterbrochen wurde, die erklärte: „Was Sie uns da erzählt haben, stimmt alles nicht. In Wirklichkeit ist die Welt eine flache Scheibe, die von einer Riesenschildkröte auf dem Rücken getragen wird.“ Der Wissenschaftler hielt ihr sodann entgegen: „Und worauf steht die Schildkröte?“, woraufhin die alte Dame antwortete: „Sehr schlau, junger Mann. Ich werd’s Ihnen sagen: Da stehen lauter Schildkröten aufeinander.“ 18 Hawking, Illustrierte kurze Geschichte der Zeit, S. 2. 16

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Einführung

persönlichen Zeit enteigne:19 „Zeit ist das, was wir haben, wenn wir unsere Uhren wegwerfen.“ 20 Moderne Zeit ist gezählte Zeit,21 Zeit bestimmt das Leben der Menschen, der Mensch ist abhängig von Zeit. Dem Nobelpreisträger für Chemie Manfred Eigen zufolge ist die Frage „Was ist Zeit?“ zumindest für den Physiker wenig ergiebig:22 Aus naturwissenschaftlichem Blickwinkel kommt es vor allem darauf an, wie man Zeit misst, nicht wie sie definiert wird. Auch die Literatur hat sich des Themas „Zeit“ angenommen. In Thomas Manns Zauberberg steht Zeit – „die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Wesens“ 23 – ebenfalls im Zentrum der Erzählung. Im Roman stehen sich das Davoser Sanatorium mit seiner unwirklichen und zeitlosen Atmosphäre der Bergwelt und die bürgerliche Arbeitswelt mit ihrer minutiösen Zeiteinteilung als Gegensätze gegenüber. Obschon chronologisch aufgebaut beschleunigt die Handlung im Verlaufe des Romans zunehmend: Während die ersten fünf Kapitel detailreich und ausschweifend lediglich das erste von Hans Castorps sieben Zauberbergjahren beschreiben, raffen und verdichten die beiden letzten Kapitel einen Zeitraum von sechs, vornehmlich von Routine und Monotonie geprägten Jahren. Zum Ausdruck kommt darin die verzerrte Wahrnehmung der Zeit, verstärkt durch die morbide Umgebung des Sanatoriums, durch die Hauptfigur Castorp selbst. Ebenso befasst sich Michael Ende in seinem Roman „Momo“ mit dem Thema Zeit: In einer Phantasiewelt, die sehr an die Gegenwart erinnert, ist die Gesellschaft der grauen Herren am Werk. Sie versuchen, alle Menschen dazu zu bringen, Zeit bei einer „Zeit-Spar-Kasse“ zu sparen. In Wahrheit werden die Menschen um ihre Zeit betrogen – während sie versuchen, Zeit für später zu sparen, vergessen sie, im Jetzt zu leben. Denn Zeit kann man nicht sparen, wie beispielsweise Geld. Je mehr man versucht, Zeit zu sparen, desto „kürzer“ werden die Tage und Wochen. Als die Welt schon fast den grauen Herren gehört, beschließt der weise Meister Hora (der geheimnisvolle „Verwalter der Zeit“) zu handeln. Er stoppt die Zeit, wodurch die ganze Welt stehen bleibt, und schickt seine Schildkröte Kassiopeia mit dem kleinen, strubbligen Mädchen Momo, das eine Stundenblume für eine Stunde Zeit in die Hand bekommt, in den Kampf gegen die übermächtig erscheinenden grauen Herren, um den Menschen das kostbare Gut Zeit zurückzugeben: „Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die we19

So Buchheim, Die Virtualität der Zeit nach Aristoteles, S. 37. Aschoff, Die innere Uhr des Menschen, S. 133. 21 Cipolla, Gezählte Zeit, S. 1 ff. Der Professor für Wirtschaftsgeschichte Carlo M. Cipolla untersuchte die Geschichte der Uhr seit Erfindung der mechanischen Uhr und beschreibt in seinem Werk die Veränderung des Menschen durch die mechanische Uhr hin zu einem präzisen Zeitbewusstsein. 22 Eigen, Evolution und Zeitlichkeit, S. 35. 23 Mann, Der Zauberberg, S. 7. 20

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nigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit.“ 24 Eine klare Definition der Zeit wurde bis heute in keinem wissenschaftlichen Fachbereich gefunden. Dies wird an dem eingangs erwähnten Zitat deutlich. Zwar wurde dem physikalischen absoluten Zeitbegriff Isaac Newtons25 eine Absage erteilt mit der Formulierung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein („Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für uns Wissenschaftler eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.“) im Jahr 1905.26 Eine Definition der Zeit zu liefern, erweist sich gleichwohl bis heute als schwierig, ganz abgesehen von den sich stellenden Fragen philosophischer, psychologischer und theologischer Art. Das Warten auf ein Ereignis, etwa – im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit – auf den Ausgang eines Verfahrens, ist ein Zustand, liefert aber genaugenommen keine Definition für den Terminus Zeit. Dieser Zustand hängt mitunter auch von subjektiven Empfindungen ab: Beim zermürbenden Warten auf ein mit Spannung erwartetes Ereignis wird die verstreichende Zeit als zähfließend, nicht enden wollend, wahrgenommen. Die Zeit verrinnt dabei gefühlt sehr viel langsamer, als im Zustand völligen Entspanntseins und Genießens des Augenblicks.27 Auch nimmt der ältere Mensch den Ablauf der Zeit innerlich anders wahr als der junge Mensch: Mit zunehmendem Alter wird die verrinnende Zeit als immer schneller empfunden; dem Kind hingegen werden etwa die Wochen und Tage vor Weihnachten unendlich lang.28 Man kann also zu Recht von einem subjektiven – gefühlten – Zeitbegriff sprechen. Wenn sich ersichtlich bereits außerhalb des Rechts Schwierigkeiten bei der Begriffsklärung ergeben, stellt sich die Frage, wie sich dies innerhalb des Rechts verhält, wo das Faktum Zeit für den Juristen erst recht spannend werden kann. II. Bedeutung der Zeit im Recht Aus dem römischen Recht ist die Rechtsregel „tempus regit actum“ 29 wohl bekannt: Nach ihr sind Rechtsgeschäfte und Prozesshandlungen nach der 24

Ende, Momo, S. 57. „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.“, Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, London 1687. 26 Nachweise bei Eigen, Evolution und Zeitlichkeit, S. 35 f. 27 Zur physikalische Herleitung der Gründe für dieses Phänomen der „starken“ Zeitlichkeit bei Katastrophen Eigen, Evolution und Zeitlichkeit, S. 47 ff.; sowie Heimann, Zeitstrukturen in der Psychopathologie, S. 61 ff. 28 Vgl. hierzu Heimann, Zeitstrukturen in der Psychopathologie, S. 59. 29 Die Zeit beherrscht den Rechtsakt. 25

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Rechtslage zu beurteilen, die im Augenblick ihrer Vornahme bestand.30 Die Relevanz des Faktors Zeit im Recht kommt darüber hinaus im Vorhandensein von Fristen zum Ausdruck: Auch sie entstammen dem römischen Recht („Currit tempus contra desides et sui juris contemtores“ – „Fristen laufen gegen Träge und ihr Recht nicht Achtende.“ 31 Dagegen wiederum: „Ignoranti non currit tempus.“ – „Dem Unwissenden läuft keine Frist.“ 32). Die sogenannte clausula rebus sic stantibus hat ihren Ursprung ebenfalls im römischen Recht und kann als Vorgängerin des heutigen Instituts des Wegfalls der Geschäftsgrundlage33 bezeichnet werden: Sie besagte, dass jeder schuldrechtliche Vertrag nur so lange bindend sein soll, wie die Verhältnisse, die für seinen Abschluss bestimmend waren, sich nicht von Grund auf geändert haben.34 Änderten sich danach die maßgebenden Verhältnisse im Laufe der Zeit, konnte die entsprechende vertragliche Grundlage hinfällig werden. Die Bedeutung des zeitlichen Aspekts wird damit auch hier spürbar. Bedeutung in zeitlicher Hinsicht kommt zudem dem Rechtsinstitut der Bedingung zu, deren Besonderheit darin besteht, dass der in ihr enthaltene Zeitfaktor unbestimmt ist, weil auf ungewisse künftige Handlungen oder Ereignisse abgestellt wird.35 Erwähnenswert erscheint ferner die sogenannte „juristische Sekunde“ oder auch „logische Sekunde“, bei der es sich freilich nur um eine Konstruktion der ziviljuristischen Dogmatik handelt, um den Eintritt von Rechtswirkungen36 innerhalb einer gedachten, unendlich kurzen Zeitspanne begründen und veranschaulichen zu können. Dem Faktor Zeit kommt in diesem Kontext eine rein hypothetische Rolle zu, es handelt sich bei der „juristischen Sekunde“ keineswegs um eine Sekunde im natürlichen Zeitsinn;37 stellt man sich den gedachten Zeitabschnitt von einer „juristischen Sekunde“ auf einem Zeitstrahl vor, so lässt sich das Nacheinander verschiedener Rechtswirkungen auf diesem gedachten Zeitstrahl begründen. Zeit dient hier folglich der besseren Verständlichmachung juristischer Geschehensabläufe.38 In besonderem Maße relevant – das eigentliche Thema dieser Arbeit – sind natürlich die zahlreichen Beschleunigungsvorschriften in den deutschen Prozessgesetzen, in der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreihei-

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Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, T 11. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, C 130. 32 Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, J 13. 33 Heute geregelt in § 313 BGB. 34 Roth in MüKo, Band 2a, § 313 Rn. 42. 35 Vgl. Winkler, Zeit und Recht, S. 301. 36 Vornehmlich tritt diese Konstruktion beim Durchgangs- und Direkterwerb im Rahmen mittelbarer Stellvertretung – Kommissionärsgeschäft – auf. 37 v. Münch, Die Zeit im Recht, S. 6. 38 Zum Ganzen Kuhnel, Die juristische Sekunde, S. 1 ff. 31

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ten (EMRK) oder auf der Ebene des Europarechts. Diesem Komplex soll an dieser Stelle freilich inhaltlich nicht vorgegriffen werden. Auch die Zeitmessung selbst wurde bereits frühzeitig einer gesetzlichen Regelung zugeführt. Mit der Päpstlichen Bulle Inter Gravissimas des Papstes Gregor XIII. (1502–1585) aus dem Jahr 1582 wurde der Gregorianische Kalender angeordnet und in den katholischen Ländern sofort, in den evangelischen Ländern erst später eingeführt.39 Papst Gregor XIII. strebte damit in Übereinstimmung mit der Julianischen Kalenderordnung Julius Caesars die optimale Angleichung des rechtlich geregelten Jahres an das natürliche (tropische) Sonnenjahr an.40 Konsequenz dessen war ein vorgeschriebener Kalendersprung von 10 Tagen, indem der Tag nach dem 4. Oktober 1582 zum 15. Oktober erklärt wurde.41 Folge war die Verkürzung des rechtlichen Kalenderjahres. In Deutschland wurden die Maßgaben der Zeitmessung und -bestimmung durch das Reichsgesetz über die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung vom 12. März 1893 kodifiziert.42 Als „gesetzliche Zeit“ in Deutschland wurde „die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich“ festgelegt, die Mitteleuropäische Zeit (MEZ). Grund für diese Einführung war eigentlich eine Banalität: Der wachsende Eisenbahnverkehr in Deutschland hatte bereits im Jahr 1892 Baden, Bayern, Württemberg und Elsass-Lothringen dazu bewogen, für ihre Bahnen die Mitteleuropäische Zeit einzuführen. In Norddeutschland zeigten die öffentlichen Uhren bis 1893 noch die jeweilige Ortszeit, während die Bahnen zumeist nach Berliner Zeit43 fuhren und die lokal ausgehängten Fahrpläne jeweils auf die Ortszeit umgerechnet werden mussten.44 Unter Geltung des Grundgesetzes ist die Zeitbestimmung – die so genannte gesetzliche Zeit, das heißt die in Deutschland geltende Uhrzeit – bundesgesetzlich aufgrund ausschließlicher Gesetzgebungskompetenz des Bundes, Art. 73 Nr. 4 GG, im Gesetz über die Zeitbestimmung vom 25. Juli 1978 geregelt.45 39 Nachweise bei v. Münch, Die Zeit im Recht, S. 2; Winkler, Zeit und Recht, S. 329 f. 40 Winkler, Zeit und Recht, S. 358. 41 Winkler, Zeit und Recht, S. 358. 42 RGBl. 1893, 93. „Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc., verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und des Reichstags, was folgt: Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich (. . .) Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Kaiserlichen Insiegel. Gegeben Berlin Schloß, den 12. März 1893. Wilhelm. Graf von Caprivi.“ 43 Berlin hatte die „mittlere“ Ortszeit 1810 eingeführt, nachdem diese in Genf bereits seit 1780, und in London seit 1772 galt; Nachweise bei Jörn, Hundert Jahre gesetzliche Zeit, S. T1. 44 Nachweise bei Jörn, Hundert Jahre gesetzliche Zeit, S. T1. 45 BGBl. I 1978, 1110, berichtigt S. 1262; geändert durch Gesetz vom 13. September 1994 (BGBl. I 1994, 2322).

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Dieses Bundesgesetz gründet auf dem vorgenannten Reichsgesetz. Der halbjährliche Wechsel zwischen Sommer- und Winterzeit erfolgt durch Rechtsverordnung. Dahinter steht die Intention, durch bestmögliche Ausnutzung des Tageslichtes Energie einzusparen, weshalb im englischsprachigen Raum auch der Ausdruck „daylight saving time“, den die Iren für die Zeitumstellung fanden, gebräuchlich ist. Die Sommerzeitverordnung dient der Umsetzung der Richtlinie 2000/84/EG des Europäischen Parlamentes zur Regelung der Sommerzeit, die wiederum den Zweck verfolgt, das Funktionieren des EU-Binnenmarktes durch europäische Rechtsangleichung maßgeblich zu unterstützen.46 Auch die Zeitmaße als solche erfuhren eine gesetzliche Verbriefung. So wurde als Basiseinheit der Zeit die international und national längst verbindlich definierte Sekunde gesetzlich festgelegt. Die erste europäische Richtlinie für die Zeitmaße stammt vom 18. Oktober 197147 und wurde zwei Mal novelliert.48 Die Staaten waren daraufhin angewiesen, diese Richtlinien in ihren Rechtsordnungen umzusetzen.49 Dem Faktor Zeit kommt aber auch beim In- und Außerkrafttreten von Gesetzen eine tragende Rolle zu: Für die Berechtigten oder Verpflichteten muss jeglicher Zweifel über die zeitliche Geltung des jeweiligen Rechts ausgeräumt sein. Gleichwohl gibt es Ausnahmen: Kurioserweise ist nämlich sogar der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes umstritten. Art. 145 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) bestimmt, dass das Grundgesetz mit „Ablauf des Tages der Verkündung“ in Kraft tritt. Tag der Verkündung war der 23. Mai 1949. Streitig ist aber, wann dieser Tag abgelaufen war: am 23. Mai um 24 Uhr oder am 24. Mai um 0 Uhr? Hierzu wird unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Norm ersteres vertreten.50 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dagegen äußerte sich hierzu missverständlich: „von Inkrafttreten am 23. Mai 1949 ab“ 51, „vom 23. Mai 1949 an“ 52 beziehungsweise gar „vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, dem 24. Mai 1949“ 53. Anderer Ansicht zufolge soll das Grundgesetz erst am 24. Mai 1949 um 0 Uhr in Kraft getreten sein, was mit dem Wortlaut 46 9. Richtlinie vom 19. Januar 2001, 2000/84/EG, in der die Sommerzeit vorerst „auf unbestimmte Zeit entsprechend der bisherigen Regelung fortgeführt wird“. 47 Richtlinie 71/354/EWG, zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Einheiten im Messwesen. 48 Durch die durch Richtlinie 76/770/EWG vom 27. Juli 1976 und wenig später durch die Richtlinie 80/181/EWG vom 20. Dezember 1979 (Abl. v. 15. Februar 1980, S. 40), zuletzt geändert durch die Richtlinie 1999/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.1.2000. 49 Vgl. hierzu Winkler, Zeit und Recht, S. 347 f. 50 Jauernig, Wann ist das Grundgesetz in Kraft getreten?, S. 617. 51 BVerfGE 2, 237 (258). 52 BVerfGE 4, 331 (341). 53 BVerfGE 4, 331 (339).

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des Art. 145 Abs. 2 GG begründet wird.54 Die Verfassungen der neuen Länder haben für ihre Verfassungen als Tag des Inkrafttretens den „Tag nach der Verkündung“ 55 bestimmt. Für Bundesgesetze und Rechtsverordnungen besagt Art. 82 Abs. 2 S. 1 GG, dass jedes Gesetz und jede Rechtsverordnung den Tag des Inkrafttretens festlegen soll. Geschieht dies nicht, so greift die Regel des Art. 82 Abs. 2 S. 2 GG, wonach das Gesetz mit dem 14. Tage nach Ablauf des Tages der Ausgabe des Bundesgesetzblattes in Kraft tritt.56 Hinter dieser Norm steht ebenfalls der Gedanke der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Möglich ist darüber hinaus die Befristung von Gesetzen („Zeitgesetze“), die aus dem Bereich der Haushaltsgesetzgebung bekannt ist und unter anderem bezweckt, die „endlose Dauerhaftigkeit“ 57 von Gesetzen zu vermeiden, die Johann Wolfgang von Goethe in seinem Faust I so treffend charakterisiert hat:58 „Es erben sich Gesetz’ und Rechte Wie eine ew’ge Krankheit fort, Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte, Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage; Weh dir, dass du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Von dem ist leider! Nie die Frage.“ (Mephistopheles zum Studenten im Studierzimmer)

Das Problem der Überalterung von Gesetzen stellt sich heutzutage freilich kaum noch. Es ist vielmehr einer schnelllebigen ,Produktion von Gesetzen‘ – insbesondere auf den Gebieten des Arbeits-, Steuer- und Sozialrechts – gewichen, häufig geprägt von tagespolitischem Kalkül und aktuell herrschender political correctness. Der Beseitigung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber völlig entzogen sind die in der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes, Art. 79 Abs. 3 GG, niedergelegten Grundsätze59: Sie werden als Grundentscheidungen 54 „mit Ablauf des Tages der Verkündung“, v. Camphausen in v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG III, Art. 145 Rn. 6. – Freilich könnte der Wortlaut genau gegen dieses Argument angeführt werden, stellt doch der 24. Mai, 0 Uhr, genau genommen den Zeitpunkt nach Ablauf des Tages der Verkündung dar. Vgl. zur Problematik auch den aktuellen Beschluss des BGH v. 8.5.2007 – VI ZB 74/06. 55 Art. 117 BbgVerf.; Art. 122 Abs. 3 SächsVerf.; Art. 101 Abs. 1 SachsAnhVerf.; Art. 106 Abs. 2 ThürVerf. 56 Brenner in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 82 Rn. 45. 57 Winkler, Zeit und Recht, S. 236. 58 Goethe, Faust I, S. 177, Szene im Studierzimmer nach dem Paktschluss. 59 Vgl. hierzu Dürig, Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III GG, S. 43, sowie Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln, S. 597 ff.

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des Verfassungsgebers, als „änderungsfestes Minimum“ 60, als „unberührbar“ geschützt.61 Auf die Bedeutung und Tragweite dieser Norm soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden; aufgrund ihrer zeitlichen Dimension – Bestandsschutz des Grundgesetzes in Ewigkeit? – ist sie in diesem Zusammenhang zumindest zu erwähnen.62 Die Verknüpfung von Zeit und Recht kommt weiter bei der Auslegung von Gesetzen zum Ausdruck: Da Gesetze immer zugleich „Produkte ihrer Zeit“ (Ingo von Münch) 63 sind, kommt der zeitabhängigen Auslegung erhebliche Bedeutung zu. Der Blick soll hier nicht auf novellierte, den jeweiligen Gegebenheiten erneut angepasste Normen gelenkt werden, sondern auf die viel interessantere Sparte derjenigen Normen, deren Wortlaut nie geändert wurde. Gleichwohl waren sie an die jeweiligen Zeitanschauungen durch Auslegung anzupassen. Als anschauliches Beispiel kann hier § 14 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931 (PrPVG)64 dienen: Diese Norm wurde in das Polizei- und Ordnungsrecht der Länder nach 1945 inhaltlich unverändert übernommen.65 Zentral ist dabei die Frage der Auslegung des Begriffs der „öffentlichen Ordnung“. Walter Jellinek nennt in seinem 1931 erschienenen und das Inkrafttreten des PrPVG im Nachtrag berücksichtigenden Werk „Verwaltungsrecht“ zahlreiche, die Störung der öffentlichen Ordnung bejahende und verneinende Beispiele. Erstaunlich erscheint dabei aus heutiger Sicht, dass beispielsweise das Verkaufen von Speiseeis an Kinder66, Vorträge über geschlechtliche Aufklärung67 oder das Tragen von Kopfbedeckungen im Theater68 eine Störung der öffentlichen Ordnung darstellte; hingegen sollte keine zum Einschreiten der Polizei führende Störung der öffentlichen Ordnung vorliegen, wenn sich eine Gemeinde weigert, eine Wasserleitungsanlage zu errichten, da die bloße Möglichkeit einer späteren Typhusepidemie hierfür nicht ausreiche.69

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Dürig, Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III GG, S. 43. Hain in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 79 Rn. 28. 62 Streitig ist, inwiefern die Verfassung als ganze geändert werden kann, vgl. Art. 146 GG. 63 v. Münch, Die Zeit im Recht, S. 4. 64 § 14 Abs. 1 PrPVG lautete: „Die Polizeibehörden haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtmäßigem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird.“ 65 v. Münch, Die Zeit im Recht, S. 4 f. 66 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 436. 67 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 438. 68 Denn „das Unlustgefühl derer, die das Unglück haben, hinter einer hochbehuteten Dame zu sitzen“, sei eine Störung der öffentlichen Ordnung, die das polizeirechtliche Einschreiten rechtfertige; Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 438. 69 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 437. 61

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Selbstredend bedarf es keiner weiteren Überlegung, ob heutzutage eines der genannten Beispiele ein Einschreiten der Polizei rechtfertigen würde. Es ist aber gerade diese Schnittstelle zwischen Moral, Sitte und Recht, an der sich ändernde Anschauungen Eingang in die Gesetzesauslegung finden. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft oder gar das am 1. August 2001 in Kraft getretene Lebenspartnerschaftsgesetz70 stellen treffende Beispiele hierfür dar. Die Aufführung des Films „Die Sünderin“ 71, der zu öffentlichen Protesten geführt hatte und das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vor die Frage der Zulässigkeit eines polizeilichen Verbots stellte,72 würde heute nicht einmal mehr zu einer behördlichen Überprüfung führen.73 Auch das BVerfG hat in seinem Soraya-Urteil74 zur Frage der Auslegung eines damals seit über 70 Jahren in Kraft stehenden Gesetzes – des Bürgerlichen Gesetzbuchs75 – Stellung genommen: Mit dem „Altern der Kodifikationen [wächst] mit zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung notwendig die Freiheit des Richters zur schöpferischen Fortbildung des Rechts.“ 76 Zeitablauf bietet damit zugleich ein Substrat für die fortschreitende Entwicklung des Rechts. 70 I. d. F. v. 16. Februar 2001 (BGBl. I, S. 266), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts v. 6. Februar 2005 (BGBl. I, S. 203). 71 Mit der inzwischen verstorbenen Schauspielerin Hildegard Knef in der Hauptrolle. 72 BVerwGE 1, 303. 73 Eine weitere Aufsehen erregende Entscheidung zum Begriff der öffentlichen Ordnung stellt die – recht junge – Entscheidung des BVerwG zu den sog. „Laserdromen“ (BVerwG, Beschl. v. 24. Oktober 2001 = NVwZ 2002, 598 ff.) dar: Das Bundesverwaltungsgericht hatte darüber zu befinden, ob das simulierte, aber gezielte Erschießen von Menschen mittels Laserpistolen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung wegen Verstoßes insbesondere gegen die Menschenwürde im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG (zur Frage, ob Art. 1 GG überhaupt ein Grundrecht darstellt, oder nicht vielmehr als „Basis für ein ganzes Wertesystem“ [Günter Dürig] oberhalb des Grundrechtekatalogs anzusiedeln ist, Graf Vitzthum, Zurück zum klassischen Menschenwürdebegriff!, S. 349 ff.) darstelle. Das Bundesverwaltungsgericht bejahte einen Verstoß, legte den Rechtsstreit aber trotz Entscheidungsreife dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vor. Der EuGH seinerseits urteilte, das Gemeinschaftsrecht stehe einem Verbot nicht entgegen, da die Grundrechte „zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehör(t)en, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat; dabei (lasse) er sich von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Hierbei (komme) der EMRK besondere Bedeutung zu.“ (EuGH, Urt. v. 14. Oktober 2004 – Rs. C-36/02 – (Omega) = DÖV 2005, 116 ff.). Trotz steter Änderung der sittlichen Moralvorstellungen befanden beide Gerichte, dass die Grenzen des Vertretbaren hier erreicht seien. 74 BVerfGE 34, 269. 75 Hier: § 253 BGB a. F., der eine Entschädigung in Geld auch für immaterielle Schäden gewährt. 76 BVerfGE 34, 269 (288).

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Schließlich kommt dem Faktor Zeit Bedeutung im Zusammenhang mit dem Begriffspaar Lebensalter und Recht zu. Schließlich sind Verfahren, im Laufe derer die Partei starb und den Ausgang somit nicht miterleben konnte, seit langem keine Seltenheit: „Die Prozesse lebten länger als die Menschen und wurden von Generationen zu Generationen vererbt.“ 77 Relevanz kommt dem heute insbesondere im Hinblick auf Strafverfahren gegen Angeklagte hohen Alters zu. Prominentes Beispiel ist der Fall Honecker:78 Angesichts des hohen Alters des Angeklagten79 im Zeitpunkt der Urteilsfindung sowie dessen schweren Krebsleidens80 begründete die Fortführung des Verfahrens nach Auffassung des urteilenden Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin einen Verstoß gegen die Menschenwürde des Angeklagten, da dieser das Ende der Prozesse aufgrund seiner schweren Krankheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben würde. Zuletzt sei in diesem Zusammenhang noch das Thema Verjährung angesprochen: Auch hier besteht eine Verknüpfung zwischen Zeit und Recht beziehungsweise Zeit im Recht. Sinn und Zweck des Instituts der Verjährung ist der Rechtsfrieden.81 Ansprüche beziehungsweise Verpflichtungen verjähren binnen bestimmter Fristen, das heißt, der Geltendmachung nach Fristablauf steht die Einrede der Verjährung entgegen. Schließlich unterliegen auch verwirklichte Straftatbestände sowie die Strafvollstreckung der Verjährung – mit einer einzigen Ausnahme: Mord verjährt gem. § 78 Abs. 2 StGB nie. Diese Ausnahme ist darauf zurückzuführen, dass die Verfolgung von NS-Tätern als politisches Bedürfnis angesehen wurde.82 Aufgrund dessen wurde durch das 16. Strafrechtsänderungsgesetz vom 16. Juni 197983, Ergebnis langwährender Diskussionen um die Verjährungsfrage, die Verfolgungsverjährung für Mord beseitigt. Noch einmal kam die Verjährungsfrage seither auf: Am 26. März 1993 trat das Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten (VerjährungsG)84 in Kraft. In dessen Art. 1 ist geregelt, dass bei der Berechnung der Verjährungsfrist für die Verfolgung von Taten, die während der Herrschaft des SED-Unrechtsregimes begangen, aber nicht geahndet wurden, die Zeit vom 11. Oktober 1949 bis 2. Oktober 1990 außer Ansatz bleibt: In dieser Zeit hat die Verjährung

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Troller, Von den Grundlagen des zivilprozessualen Formalismus, S. 86. Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschl. v. 12. Januar 1993 = EuGRZ 1993, 48 ff. 79 Erich Honecker war zu diesem Zeitpunkt bereits 81 Jahre alt. 80 Honecker starb bereits ein Jahr nach Verkündung dieser Entscheidung am 29. Mai 1994 in Santiago de Chile. 81 BGH 128, 82. 82 Vormbaum, Mord sollte wieder verjähren, S. 492. Vertiefend Schneider, NS-Verbrechen und Verjährung, S. 199 ff. 83 BGBl. I, 1046. 84 BGBl. I 1993, 392. 78

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geruht, Zeit stellt also hier – ausnahmsweise und zu Recht – keinen relevanten Faktor dar. Zeit spielt damit im Recht – ungeachtet der besagten Ausnahmen – eine nicht zu unterschätzende Rolle.85 Eingangs wurde der subjektive Zeitbegriff erwähnt: Das spannende Erwarten eines Ereignisses lässt die bis dahin verstreichende Zeit ungleich langsamer erscheinen. Hier lässt sich – insofern schließt sich der Kreis – eine Verknüpfung herstellen zum Thema dieser Arbeit: Das Warten auf ein ersehntes Ereignis, nämlich auf das Ereignis einer verfahrensabschließenden Entscheidung „innerhalb angemessener Frist“. Ähnlich schwierig wie eine Definition der „Zeit“ gefunden werden kann ist die Beantwortung der Frage, ob beziehungsweise wann noch von einer Entscheidung innerhalb angemessener Frist gesprochen werden kann. Zeit wird – je nach subjektivem Empfinden – unterschiedlich empfunden; entsprechend unterschiedlich und abhängig von den verschiedensten subjektiven, aber auch objektiven Rahmenbedingungen erweist sich die Bestimmung der Angemessenheit einer Frist.

III. Gang der Untersuchung Die vorliegende Arbeit86 befasst sich mit dem Problemkreis überlanger Verfahrensdauer im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 Abs. 1 EMRK. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht dabei das deutsche Verfassungsbeschwerdeverfahren, welches nach der Straßburger Judikatur den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ebenfalls unterliegen und im Grunde nach denselben Maßstäben wie jedes andere „normale“ Verfahren beurteilt werden soll. Ob die Verfassungsbeschwerde hierbei vom EGMR grundsätzlich gleich behandelt werden darf wie jedes andere gerichtliche Verfahren ist das Kernproblem dieser Arbeit, welches einer Lösung zugeführt werden soll. Obschon außerordentlicher Rechtsbehelf „de luxe“ (Udo Steiner)87 und kein gewöhnliches Rechtsmittel, eben „Königin‘ der Wege zum Verfassungsgericht“ (Peter Häberle)88, scheint man der Verfassungsbeschwerde in Straßburg nicht die Bedeutung zubilligen zu wollen, die man ihr hierzulande beimisst. So wurde die Bundesrepublik Deutschland bislang 32 Mal wegen überlanger Verfahrensdauer vom EGMR verurteilt – bis auf wenige Ausnahmen auch deshalb, weil die im Anschluss an den ordentlichen Rechtsweg eingelegte Verfassungsbeschwerde vom BVerfG nicht mit der gebo-

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Ebenso betreffend „Zeit und Staat“ Klein, Staat und Zeit, S. 1 ff. Vorliegende Arbeit berücksichtigt Rechtsprechung und Literatur bis Mai 2007. 87 Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, S. 1009. 88 Häberle, Die Verfassungsbeschwerde im System der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 112. 86

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tenen Zügigkeit beschieden wurde. Muss es daher in Bezug auf die Verfassungsbeschwerde heißen: „Justice delayed is justice denied“ 89? Nach der Jahresstatistik 2006 des BVerfG betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer von Verfassungsbeschwerden der Eingangsjahre 1994 bis 2006 in 67,6% der Fälle 1 Jahr, in 20,3% der Fälle 2 Jahre, in 4,9% der Fälle 3 Jahre, in 3% der Fälle mehr als 4 Jahre; 4,2% der eingehenden Beschwerden blieben aufgrund Nichterledigung anhängig.90 Erst jüngst meldet der „Kummerkasten der Nation“ (Reinhard Müller)91 einen neuen Verfahrens-Höchststand: deutlich mehr als 6000 Verfahren gingen bis Ende 2006 beim BVerfG ein. Die Verurteilungen der Bundesrepublik geben mitunter deshalb Anlass zur Kritik, weil der EGMR seinerseits mit denselben Problemen der Überlastung zu kämpfen hat wie das BVerfG: Der EGMR ertrinkt mittlerweile in einer Flut von Verfahren92 – hauptsächlich Individualbeschwerden93 – und benötigt in zahlreichen Fällen für die Erledigung einer Beschwerde länger, als er es bei den nationalen Gerichten hinnimmt. Waren es im Jahr 1981 noch 400 Beschwerden pro Jahr94 und im Jahr 1997 4.750 Beschwerden,95 so werden derzeit jährlich über 40.000 Beschwerden anhängig gemacht.96 Für das Jahr 2010 werden gar 89 So schon die Magna Charta Libertatum, in der es heißt: „To none will we sell, to none deny or delay, right or justice.“ (Art. 40); zur historischen Auslegung dieser Norm vgl. die Nachweise bei Gaede, Das Recht auf Verfahrensbeschleunigung gemäß Art. 6 I 1 EMRK in Steuer- und Wirtschaftsstrafverfahren, S. 168 (Fn. 28). – Andererseits zeigt ein Blick auf die Statistik des Jahres 2005, dass Deutschland im europäischen Vergleich gar nicht so schlecht dasteht: Ausgewertet wurde die Anzahl der Verletzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf die Verfahrensdauer zwischen 1999 und 2005: Danach wurde Italien 906 Mal eine Verletzung bescheinigt; es folgen: Frankreich 220, Polen: 159, die Türkei: 79, Ungarn: 48, Tschechien: 46, Österreich: 42, Belgien: 31, Bulgarien: 29 und Kroatien: 25. Die Bundesrepublik dagegen hat mit 19 konstatierten Verletzungen vergleichsweise wenige Verstöße zu verzeichnen. Vgl. hierzu ECHR, Annual Report 2005, Statistical Tables by State. 90 Jahresstatistik 2005 des BVerfG, abrufbar unter http://www.bundesverfassungs gericht.de/organisation/gb2006. 91 Müller, Kummerkasten der Nation, in: F.A.Z. v. 28. Dezember 2006, S. 1. 92 Faisst, Verfahrensflut setzt Richter unter Druck, in: Schwäb. Tagblatt v. 5. Oktober 2006. 93 Daneben sieht die Konvention die Staatenbeschwerde vor (Art. 33 EMRK), die freilich zahlenmäßig kaum ins Gewicht fällt, vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 33 Rn. 2. 94 Nachweise im Bericht vom Dezember 2005 der Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Lord Woolf of Barnes (Lord Chief Justice von England und Wales), abrufbar unter http://www.echr.coe.int/ECHR/Resources/Home/LORDWOOLFREVIEWONWORKING METHODS.pdf. 95 http://www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/The+Court/The+Court/History+of+the+ Court. 96 In der Zeit vom 1. Januar 2006 bis zum 31. Oktober 2006 hatte der EGMR 41.000 Neueingänge zu verzeichnen – gegenüber 2005 (37.350 Neueingänge) eine Steigerung von 10%. Statistik abrufbar unter http://www.echr.coe.int/NR/rdonlyres/ 5211CDBA-8208-47DE-A9CA-AE8B8FD13872/0/stats2006.pdf.

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250.000 Neueingänge erwartet.97 Diese Zunahme ist vor allem auf die Erweiterung der Europaratsstaaten zurückzuführen. Derzeit hat der Europarat 46 Mitglieder; der EGMR ist zuständig für Menschenrechtsfragen von 800 Millionen Menschen. Grund für den Anstieg der Beschwerden ist aber auch die in den Jahren stetig gewachsene Bekanntheit der EMRK. Obwohl Straßburg also mit den Problemen überhandnehmender Verfahrenseingänge bestens vertraut ist, bewertet und beurteilt es die Verfahrensdauer von Verfassungsbeschwerden vergleichsweise streng – wohlwissend, dass das BVerfG als höchstes und einziges Gericht, welches über Verfassungsbeschwerden zu befinden hat, ähnlich „überrollt“ wird mit eingehenden Verfassungsbeschwerden98 wie der EGMR selbst. In Anbetracht dessen stellt sich folgende zentrale Frage: Können der Bundesrepublik Deutschland Verletzungen des Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer durch das BVerfG in Rechnung gestellt werden, obgleich die Verfassungsbeschwerde anerkanntermaßen – dies wird auch von den Straßburger Richtern im Grunde nicht bestritten – auch im europäischen Vergleich einen einzigartigen und außerordentlichen Rechtsbehelf darstellt, oder muss die Verfassungsbeschwerde aufgrund ihrer Eigenarten vielmehr gar „außen vor“ gelassen werden bei der Überprüfung, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt wurde?99 Handelt es sich um „legitime Außenperspektive bei deutscher innerbetrieblicher Grundrechtsblindheit, oder werden nationale, bei der Auslegung auch von Menschenrechtsgewährleistungen legitime Besonderheiten ignoriert“ (Udo Steiner)100? Der Klärung dieser Frage soll die vorliegende Arbeit dienen. Diese gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil stellt rein deskriptiv alle gegen die Bundesrepublik gerichteten Urteile wegen überlanger Verfahrensdauer in chronologischer Reihenfolge dar. Diese Aufstellung soll nicht zuletzt einen vollständigen Überblick über sämtliche ergangenen Judikate in Urteilsform vermitteln. Zu erwähnen ist, dass lediglich sämtliche Urteile („judgments“, „jugements“) des EGMR, nicht aber alle zur Verfahrensdauer gegen die Bundesrepublik ergangenen Entscheidungen („decisions“, „décisions“)101, aufgeführt sind; Letzteres 97 Auf internen und externen Anhörungen basierendes Memorandum des Generalsekretärs des Europarates, Terry David, vom 12. Mai 2005. Vgl. überdies Dombek, Der EGMR – wichtiger als viele meinen, S. 45. 98 Seit Einführung der Verfassungsbeschwerde gingen beim BVerfG insgesamt 151.424 Verfassungsbeschwerden ein; im Jahr 2005 waren 4.967 Eingänge zu verzeichnen – die Zahl der Gesamteingänge in diesem Jahr von 5.105 verdeutlicht das Dilemma des BVerfG; Jahresstatistik 2005 des BVerfG, abrufbar unter http://www. bundesverfassungsgericht.de/organisation.html. 99 Teilweise werden angesichts dessen bereits Überlegungen angestellt, die Verfassungsbeschwerde stark einzuschränken bzw. überhaupt abzuschaffen, um derartigen Verurteilungen aus dem Weg zu gehen: So gelte fortan „Er kommt früher, aber immer seltener.“ anstatt des früheren „Spät kommt er, doch er kommt.“ (Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, S. 1009). 100 Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, S. 1008.

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hätte den Rahmen dieser Arbeit bei weitem gesprengt, sind doch mehrere hundert Zulässigkeitsentscheidungen, die gegen die Bundesrepublik Deutschland bislang ergangen sind, zu verzeichnen.102 Die Zulässigkeitsentscheidungen wurden früher von der Europäischen Kommission für Menschenrechte (KOM)103 erlassen. Mit der Reform des EGMR durch das Protokoll Nr. 11 zur EMRK wurde diese „Filterfunktion“ der KOM – vergleichbar dem „engmaschigen Sieb des Annahmeverfahrens“ (Graf Vitzthum)104 bei der Verfassungsbeschwerde – auf den EGMR übertragen, um das Nebeneinander zweier Organe, Kommission und Gerichtshof, zu beseitigen. Zulässigkeitsentscheidungen werden daher seit dem Inkrafttreten dieser Neuerungen am 1. November 1998 vom EGMR beschieden. Nicht näher eingegangen werden soll an dieser Stelle auf die in der Folge des 14. Protokolls zur EMRK zu erwartenden Neuerungen: Dieses Protokoll sollte eigentlich bereits Mitte 2006 in Kraft treten; mangels Ratifikation durch sämtliche Mitgliedstaaten konnte dies freilich bislang nicht geschehen.105 Bei den erwähnten und in der Urteilssammlung enthaltenen Urteilen handelt es sich um stattgebende und ablehnende Urteile. Außerdem sind Verfahren erfasst, die durch Beschwerderücknahme oder gütliche Einigung endeten: Gem. 101 Diese „decisions“ werden zumeist mit der entsprechenden deutschen Übersetzung „Entscheidung“ bezeichnet; teilweise wird indes in der deutschen Übersetzung die aus dem nationalen Prozessrecht geläufige Bezeichnung „Beschluss“ verwendet. Da beide Bezeichnungen „richtig“ sind, wurde vorliegend dem „näher am Übersetzungstext“ liegenden ersteren Weg gefolgt. 102 Dass es in diesen Fällen bei einer Entscheidung über die Zulässigkeit der Beschwerde verblieb, hat unterschiedliche Gründe: Der Großteil der dort beschiedenen Beschwerden wurde für unzulässig erklärt. Andere Beschwerden waren zwar zulässig, wurden jedoch vom Beschwerdeführer (Bf.) aus irgendwelchen Gründen nicht weiterverfolgt. 103 Die KOM fungierte vor der Reform des Beschwerdeverfahrens durch das am 1. November 1998 in Kraft getretene Protokoll Nr. 11 gewissermaßen als Filter für die eingehenden Beschwerden und überprüfte deren Zulässigkeit. Ein Entscheidungsorgan war sie insofern, als sie unzulässige Beschwerden zurückweisen konnte. Vgl. zum Rechtsschutzsystem der EMRK vor und nach der Reform Schlette, Das neue Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 905 ff. 104 Graf Vitzthum, Annahme nach Ermessen bei Verfassungsbeschwerden?, S. 327. 105 Das Protokoll Nr. 14 soll nochmals verstärkt der Überlastungssituation des EGMR entgegenwirken. Interessant an diesen Neuerungen sind die erkennbaren Parallelen zum deutschen Annahmeverfahren (vor allem zu § 93c des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes [BVerfGG]): So wird zukünftig ein Einzelrichter anstelle des Dreierausschusses über eine eindeutig unzulässige Beschwerde allein entscheiden können. Außerdem sollen die Dreierausschüsse erhalten bleiben und über die Zulässigkeit und Begründetheit einer Beschwerde entscheiden können, sofern das dem Fall zugrundeliegende Problem bereits Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist (bislang ist dies nur bei der Entscheidung über die Unzulässigkeit der Beschwerde möglich). Zuletzt soll eine Beschwerde auch dann für unzulässig erklärt werden können, wenn dem Bf. kein erheblicher Nachteil entstanden ist und die Rechtssache von einem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist, sofern nicht die Achtung der Menschenrechte eine Prüfung der Begründetheit erfordert. Vertiefend Keller/ Bartschi, Erfolgspotenzial des 14. Protokolls zur EMRK, S. 204 ff.

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Art. 38 Abs. 1 lit. b EMRK soll der EGMR nämlich versuchen, eine gütliche Einigung herbeizuführen. Kommt eine solche zustande, so genehmigt der Gerichtshof das Ergebnis, nachdem er überprüft hat, ob die Einigung auf der Grundlage der Achtung der konventionsrechtlich anerkannten Menschenrechte getroffen wurde. Ist dies der Fall, streicht er die Beschwerde aus dem Register (Art. 39 EMRK, Art. 62 Abs. 3 der Verfahrensordnung des EGMR106 [VerfO]). Diese Streichung erfolgt gem. Art. 43 Abs. 3 VerfO n. F. (Art. 44 Abs. 2 VerfO a. F.)107 durch Urteil. Ähnlich verhält es sich verfahrenstechnisch mit der Rücknahme der Beschwerde nach ergangener Zulässigkeitsentscheidung: Nimmt der Bf. seine Beschwerde zurück, so streicht der EGMR die Beschwerde gem. Art. 37 Abs. 1 lit. a EMRK aus dem Register. Diese Entscheidung ergeht ebenfalls durch Urteil, Art. 43 Abs. 3 VerfO n. F. Der Vollständigkeit der Urteilssammlung halber wurden diese Verfahren ebenfalls miteinbezogen, auch wenn sie eine Entscheidung in der Sache nicht enthalten. Bei jedem Urteil wird – entsprechend der Handhabung des EGMR – zunächst der Sachverhalt („The Facts“, „En Fait“) des betreffenden Verfahrens dargestellt. Sodann werden die Entscheidungsgründe („The Law“, „En Droit“) in Anlehnung an die Darstellungsweise des EGMR erläutert. Auffallen wird dabei, dass die Entscheidungsgründe durchgängig überaus formelhaft gefasst sind und sich in ihren Formulierungen nicht maßgeblich unterscheiden. Um die Herangehensweise des EGMR beziehungsweise die Fortentwicklung seiner Rechtsprechung zu verdeutlichen, wurde diese Schematisierung auch bei der Übersetzung im Wesentlichen beibehalten, wenn sie auch zu einer eher monotonen Wiedergabe der einzelnen Urteile führt. Die chronologische Darstellung der ergangenen Judikate wird zeigen, dass der EGMR sich von einer anfangs sehr ausführlichen, dem Einzelfall Rechnung tragenden Behandlung der Beschwerde hin zu einer sehr schematischen „Abhandlung“ des Falles „im Baukastensystem“ unter Verwendung immer derselben Floskeln bewegt. Nicht eingegangen werden soll auf die Rechtsfolgen der einzelnen Fälle: Für den Verlauf und das Ergebnis dieser Arbeit ist die Rechtsfolgenseite, also der Zuspruch von Entschädigung, nicht von Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bejahen ist oder nicht. Aus diesem Grund enthält die Urteilssammlung die Aspekte der Rechtsfolgenseite nicht. Gleichwohl soll an dieser Stelle der Vollständigkeit halber kurz auf die Frage der Entschädigung eingegangen werden. Bejaht der EGMR die Verletzung einer Garantie der EMRK, so befindet er unter dem Punkt „Anwendbarkeit von Art. 41 EMRK“ über das Ob und Wie einer Entschädigung für den Bf. Die Entschädigung umfasst zum einen den Ersatz für materiellen und 106 Vom 4. November 1998 (BGBl. 2002 II, 1080) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 2006 (BGBl. 2006 II, 693). 107 Im Juli 2006 hat sich der EGMR eine neue Verfahrensordnung gegeben, woraus die Verschiebung einiger Normen resultierte.

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immateriellen Schaden sowie den Ersatz der Kosten und Ausgaben im Verfahren. Hinsichtlich beider Kategorien entscheidet der EGMR nach Billigkeit. Sofern der Bf. völlige Wiedergutmachung durch Umsetzung des Urteils nach Art. 46 EMRK erfährt, wird keine Entschädigung zugesprochen. Der materielle Schaden kann im Einzelfall auch den Ersatz entgangenen Gewinns umfassen.108 Der Ersatz immateriellen Schadens unterliegt keinen festen Kriterien – der EGMR entscheidet hier einzelfallbezogen. Je schwerer der Eingriff in ein Konventionsrecht wiegt, desto höher fällt in der Regel aber auch der Ersatz für immaterielle Schäden aus. So hat der EGMR beispielsweise angesichts einer Verfahrensdauer von 5 Jahren und acht Monaten eine Entschädigung in Höhe von 3.000,00 A zugesprochen;109 im Falle einer Verfahrensdauer von fast 30 Jahren hingegen 45.000,00 A.110 Andererseits spricht er überhaupt keine Entschädigung zu, wenn bereits die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK für sich genommen ausreicht als Entschädigung,111 oder wenn etwa in Strafverfahren die Verfahrensdauer bereits bei der Bemessung der Haftdauer mitberücksichtigt wurde.112 Der zweite Teil dieser Arbeit beginnt zunächst historisch mit der Bedeutung der Verfahrensdauer als Faktor im Recht anhand verschiedener, gleichfalls chronologisch geordneter Quellen. Kapitel 2 dieses Teils betrifft sodann die auf die EMRK anzuwendenden Auslegungsmethoden, auf die im Fortgang der Arbeit wiederholt zurückzugreifen sein wird. Kapitel 3 befasst sich mit einem der für den gefundenen Lösungsweg relevanten Probleme – der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK –, wohingegen Kapitel 4 die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK behandelt. Kapitel 5 und 6 stellen gewissermaßen die zentralen Kapitel der Arbeit dar: Entwickelt wird ein Lösungsweg zur Behandlung der Verfassungsbeschwerde durch den EGMR unter Berücksichtigung der ihr eigenen Besonderheiten. Ausgegangen wird dabei zunächst von der Rechtsprechung des EGMR zur Behandlung von Verfassungsbeschwerdeverfahren im Zusammenhang mit einer Verletzung der Garantie angemessener Verfahrensdauer. Sodann wird überprüft, ob diese Vorgehensweise mit deutschem Verfassungsrecht kompatibel ist – auch unter Berücksichtigung der Einzigartigkeit der Verfassungsbeschwerde im europäischen Kontext. Das Kapitel schließt mit dem Lösungsvorschlag dieser Arbeit, der sich nach hier vertretener Ansicht allein aus dem Völkerrecht ergeben kann. 108 Barbéra, Messegué und Jabardo, Beschwerden Nr. 10588/83 – 10509/83, Urt. v. 13. Juni 1994, Ziff. 16 ff. 109 Trippel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 68103/01, Urt. v. 4. Dezember 2003, Ziff. 41. 110 Gräßer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 66491/01, Urt. v. 5. Oktober 2006, Ziff. 66. 111 Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000, Ziff. 51. 112 C ˇ evicovic´ ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 49746/99, Urt. v. 29. Juli 2004, Ziff. 67 f.

Erster Teil

Rechtsprechungsübersicht Kapitel 1

„Wemhoff“ und „König“ – die Anfänge der Rechtsprechung zur „Entscheidung in angemessener Frist“ I. Wemhoff gegen Deutschland – Neuland „Verfahrensdauer“ 1. Sachverhalt Am 9. November 1961 wurde der Bf. Wemhoff unter dem Verdacht, in umfangreiche Vermögensstraftaten verwickelt zu sein, in Untersuchungshaft genommen. Der Haftbefehl war auf fortgesetzten Betrug gem. § 263 StGB, fortgesetzte Beihilfe zum Betrug gem. §§ 263, 49 des Strafgesetzbuchs a. F. (StGB) und fortgesetzte Beihilfe zur Untreue gem. §§ 266, 49 StGB (a. F.) gestützt. Sowohl Flucht- als auch Verdunkelungsgefahr wurden bejaht. Mehrere Haftbeschwerden blieben in allen Instanzen erfolglos. Die langwierigen strafrechtlichen Ermittlungen gegen insgesamt 13 Personen dauerten vom 9. November 1961 bis zum 24. Februar 1964; unter anderem wurde wegen Scheckmanipulationen beträchtlichen Umfangs ermittelt. Dies führte zur Durchsuchung von 169 Konten bei 13 Banken in Berlin, 35 Banken in Westdeutschland und 8 Banken in der Schweiz. Die untersuchten Banktransaktionen beliefen sich auf insgesamt 776 Mio. DM. Allein im Fall des Bf. wurden Transaktionen im Wert von 284,2 Mio. DM zwischen dem 1. August 1960 und dem 27. Oktober 1961 untersucht, die 53 Konten bei 26 Banken betrafen. Mehrere Dutzend Zeugen wurden vernommen – sowohl in der Bundesrepublik als auch im Ausland. Insgesamt wurden 15 Sachverständigengutachten von Rechnungsprüfungs- und Wirtschaftsprüfungsfirmen sowie dem ehemaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank erlangt. Insgesamt benötigte man 6.000 Arbeitstage für die Ermittlungen, die Gutachten der Finanzsachverständigen umfassten 1.500 Seiten. Zum Zeitpunkt der Anklageerhebung bestanden die Gerichtsakten aus 45 Bänden, die insgesamt ungefähr 10.000 Seiten umfassten. Nach Abschluss der Ermittlungen wurde die Anklageschrift – ein 855seitiges Dokument – am 23. April 1964 beim Landgericht (LG) Berlin eingereicht, die dem Bf. zweifache fortgesetzte Anstiftung zur Untreue, fortgesetzten Betrug in

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

einem dieser beiden Fälle, einen Fall der fortgesetzten Beihilfe zur Untreue und sieben Verstöße gegen § 239 Abs. 1i und § 241 der Konkursordnung vorwarf. Das Verfahren gegen den Bf. begann am 9. November 1964. Im Verlauf des Verfahrens stellte er 117 Anträge auf Zeugenvernehmung zu 230 verschiedenen Themen und lehnte drei Richter sowie vier Finanzsachverständige wegen Befangenheit ab. Das LG hörte 97 Zeugen, drei medizinische Sachverständige und vier Finanzsachverständige. Die Protokolle der Vernehmungen umfassten fast 1.000 Seiten – abgesehen von den Anhängen, die nochmals etwa 600 Seiten umfassten. Am 7. April 1965 befand das LG Wemhoff eines besonders schweren Falls der fortgesetzten Beihilfe zur Untreue für schuldig und verurteilte ihn zu sechs Jahren und sechs Monaten Zuchthaus sowie zu einer Geldstrafe von 500 DM. Der Zeitraum der Untersuchungshaft wurde auf die Zuchthausstrafe angerechnet. Das Gericht ordnete an, dass der Bf. aus den im Haftbefehl vom 7. Juli 1964 genannten Gründen in Haft bleiben sollte. Nach seiner Verurteilung legte der Bf. nochmals mehrere Haftbeschwerden ein, die jedoch ebenfalls keinen Erfolg hatten. Am 17. Dezember 1965 wies der Bundesgerichtshof (BGH) die vom Bf. im Juli 1965 gegen seine Verurteilung durch das LG eingelegte Revision zurück. Am 8. November 1966 wurde Wemhoff vorläufig entlassen, nachdem er zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hatte. Mit seiner ersten Menschenrechtsbeschwerde, die der Bf. am 9. Januar 1964 bei der KOM eingelegt hatte, beklagte er die Unvereinbarkeit der Dauer seiner Untersuchungshaft mit Art. 5 Abs. 3 EMRK, sowie die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund der Länge des Strafverfahrens. Gleichzeitig beanspruchte er Wiedergutmachung des erlittenen Schadens. Hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK trug der Bf. vor, es sei möglich gewesen, seinen Fall schneller zu behandeln, insbesondere durch die Möglichkeit der Verfahrenstrennung und der Beschleunigung der Arbeit der Sachverständigen. Am 2. Juli 1964 erklärte die KOM die Beschwerde für zulässig. In ihrem an das Ministerkomitee des Europarats gerichteten Bericht im Sinne von Art. 31 EMRK (a. F.) vertrat sie unter anderem mit sieben zu drei Stimmen die Ansicht, Art. 5 Abs. 3 EMRK sei verletzt, und einstimmig, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei im vorliegenden Fall – selbst wenn man den Zeitraum von 9. November 1961 bis zum 17. Dezember 1965 betrachte – nicht verletzt worden. Ob die Dauer „angemessen“ war, sei bei Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 EMRK jeweils gesondert zu überprüfen, da Art. 5 Abs. 3 EMRK aufgrund seines Schutzzweckes – physische Fortbewegungsfreiheit – eine strengere Anwendung verlange, während Art. 6 Abs. 1 EMRK den einzelnen vor ungewöhnlich langen Gerichtsverfahren ohne Rücksicht auf die tatsächliche Haftdauer schützen wolle. Demgemäß begründete sie ihre Rechtsauffassung hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK damit, dass Gegenstand des Strafverfahrens sehr komplexe Vorgänge gewesen seien. Das Verfahren sei

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von den deutschen Behörden auch nicht unnötig in die Länge gezogen worden. Der Vertreter der deutschen Regierung schloss sich diesen Ausführungen zu Art. 6 Abs. 1 EMRK an. 2. Urteil des EGMR vom 27. Juni 1968 Was Art. 6 Abs. 1 EMRK1 angeht, hebt der EGMR zunächst hervor, dass diese Bestimmung in Bezug auf Strafverfahren die Intention hat, Angeklagte nicht zu lange unter der Last einer Beschuldigung zu belassen und zügig über deren Begründetheit zu entscheiden. Der Zeitraum, der bei der Bemessung der Verfahrensdauer zugrunde zu legen ist, beginnt nach Ansicht des EGMR am 9. November 1961, dem Datum der Erhebung der ersten offiziellen strafrechtlichen Vorwürfe gegen Wemhoff und der Anordnung seiner Verhaftung. Hinsichtlich dessen Ende stellt der EGMR zunächst fest, dass der Schutz von Art. 6 Abs. 1 EMRK sich mindestens bis zum Freispruch oder zur Verurteilung erstreckt. Er endet jedenfalls nicht mit der Hauptverhandlung, die den Prozess eröffnet: Eine ungerechtfertigte Aussetzung des Verfahrens oder übermäßige Verzögerungen während des sich anschließenden Prozesses seien von Seiten der Instanzgerichte genauso zu befürchten. Im vorliegenden Fall gelangt der EGMR zu dem Ergebnis, dass sich die relevanten Zeiträume von Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 EMRK größtenteils decken, abzustellen sei jedenfalls auf die Zeit der Inhaftierung, die ihrerseits durch Art. 5 Abs. 3 EMRK gedeckt sei. Nach Ansicht des EGMR ist den Justizbehörden nicht vorzuwerfen, dass sie ihre Pflicht zu besonderer Eile, wie sie Art. 5 Abs. 3 EMRK fordert, missachtet hätten. Daher muss der EGMR a fortiori anerkennen, dass der in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Verpflichtung nicht zuwidergehandelt wurde. Der EGMR kommt demzufolge einstimmig zu dem Schluss, dass selbst bei Einbeziehung der Länge des Revisionsverfahrens die angemessene Dauer nicht überschritten und aufgrund dessen Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht verletzt wurde. II. König gegen Deutschland – ärztliche Approbation als „zivilrechtlicher Anspruch“? 1. Sachverhalt Der Beschwerde des seit 1949 als Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten niedergelassenen Bf. König liegen verwaltungsrechtliche Verfahren zugrunde, mit welchen dieser die Rücknahme der Erlaubnis zum Betrieb seiner 1 Der EGMR hatte in einem ersten Schritt eine mögliche Verletzung von Art. 5 EMRK geprüft (und verneint), der indes im Rahmen dieser Urteilssammlung nicht Schwerpunkt sein soll.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Klinik sowie den Widerruf seiner Approbation als Arzt angefochten hatte. Er war seit 1960 Eigentümer und einziger Arzt einer Klinik in Bad Homburg. Am 12. April 1967 nahmen die Behörden aufgrund eines am 16. Oktober 1962 durch die Landesärztekammer eingeleiteten Verfahrens wegen Verstoßes gegen die Berufspflichten die Erlaubnis zum Betrieb der Klinik zurück und widerriefen 1971 die Approbation. 1972 wurde gegen den Bf. ein Strafverfahren wegen unerlaubter Heilbehandlung eröffnet. Die beiden verwaltungsbehördlichen Bescheide focht der Bf. nach erfolglosem Widerspruchsverfahren2 im verwaltungsrechtlichen Klagewege an. Gegen die Rücknahme der Erlaubnis erhob der Bf. am 9. November 1967 Klage beim Verwaltungsgericht (VG) Frankfurt. Dieses Verfahren war geprägt von erheblichen Hindernissen bei der Ermittlung von Zeugen3 und der Beiziehung von Akten aus anderen, den Bf. betreffenden Verfahren. Außerdem gestaltete sich die Vernehmung eines Belastungszeugen als äußerst schwierig.4 Zahlreiche Anwaltswechsel durch den Bf. taten ihr übriges.5 Darüber hinaus lehnte der Bf. zweimal ein Mitglied der zuständigen IV. Kammer des VG Frankfurt als befangen ab. Im Jahr 1973 legte er zusätzlich Verfassungsbeschwerde wegen der Dauer des Verfahrens ein, die mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Nach Ruhen des Verfahrens von Dezember 1976 bis Juni 1977 wies das VG schließlich durch Urteil vom 22. Juni 1977 die Klage gegen die Rücknahme der Erlaubnis zum Betrieb der Klinik ab. Nach einer von der Regierung vorgelegten Statistik entfielen 1149 Verhandlungstage auf Aktivitäten des Gerichts, 1725 Tage auf Handlungen des Bf. und seiner Anwälte, sowie 555 Tage auf Handlungen Dritter – der beklagten Verwaltungsbehörde, der Ärztekammer und der Zeugen. Gegen den Widerruf der Approbation vom 12. Mai 1971 erhob der Bf. am 20. Oktober 1971 Klage beim VG Darmstadt, welches das Verfahren aus Zuständigkeitsgründen an das VG Frankfurt verwies. Der Fall wurde der II. Kammer zugeteilt. Dieses Verfahren wurde für fast ein Jahr ausgesetzt, da der Ausgang des parallel gegen den Bf. geführten Strafverfahrens abgewartet werden sollte. Auch wegen der Dauer dieses Verfahrens legte der Bf. in den Jahren 1973, 1974 und 1975 erfolglos Verfassungsbeschwerden ein.

2 Der Widerspruch betreffend die Rücknahme der Erlaubnis wurde eingelegt am 13. Juli 1967, der Widerspruch betreffend den Widerruf der Approbation am 18. Mai 1971. 3 Die diesbezüglichen Ermittlungen dauerten bis Ende Juli 1973. 4 Bis 1972 wurden größtenteils erfolglose Versuche unternommen, diesen Zeugen zu vernehmen; mehrfach wurde gegen ihn ein Ordnungsgeld wegen Nichterscheinens verhängt, welches dieser daraufhin mit der Beschwerde anfocht. 5 Insgesamt erfolgten über ein halbes Dutzend Mandatsniederlegungen respektive Neumandatierungen.

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Es erfolgten mehrfache Anwaltswechsel auf Seiten des Bf. sowie Ablehnungsanträge gegen Mitglieder der II. Kammer. Am 9. Juni 1976 wies die Kammer die Klage gegen den Widerruf der Approbation durch Urteil ab, gegen welches der Bf. erfolglos Berufung einlegte. Nach einer statistischen Erhebung der Bundesregierung entfielen 569 Tage auf Tätigkeiten des Gerichts, 841 Tage auf Handlungen des Bf. und seiner Anwälte sowie 311 Tage auf Handlungen Dritter – der beklagten Verwaltungsbehörde, der Ärztekammer und der Zeugen. Das Strafverfahren, welches zwar nicht Gegenstand der Menschenrechtsbeschwerde war, aber Auswirkungen auf diese hatte, dauerte vier Jahre und endete nach 23 Verhandlungstagen mit der Einstellung gem. § 153 a der Strafprozessordnung (StPO) wegen geringer Schuld des Angeklagten. Der Bf. rügte in seiner am 3. Juli 1973 bei der KOM eingelegten Beschwerde die lange Dauer der Verfahren und behauptete eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die KOM erklärte die Beschwerde für zulässig und äußerte in ihrem Bericht vom 14. Dezember 1976 mit zehn gegen sechs Stimmen, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die geltend gemachten Rechte anwendbar sei und mit neun gegen sechs Stimmen bei einer Enthaltung, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden sei. 2. Urteil des EGMR vom 28. Juni 1978 Der EGMR überprüft in einem ersten Schritt die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die in Frage stehenden Verfahren. Der EGMR ist mit KOM und Regierung der Ansicht, dass der Begriff der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen nicht allein unter Bezug auf das inländische Recht des belangten Staates interpretiert werden könne. Er erinnert daran, dass das Problem der „eigenständigen“ Bedeutung der in der Konvention verwendeten Begriffe im Verhältnis zu ihrer Bedeutung im innerstaatlichen Recht schon mehrfach6 vor dem EGMR aufgeworfen wurde. Auch im vorliegenden Fall ist er der Auffassung, dass das Prinzip der Eigenständigkeit auf den in Frage stehenden Begriff Anwendung findet. Ob ein Rechtsanspruch als zivilrechtlich im Sinne der Konvention anzusehen ist, bestimme sich nicht nach seiner juristischen Bezeichnung im inländischen Recht. Zwar sei das Recht des betroffenen Staates nicht ganz ohne Belang, der materielle Gehalt und die Rechtsfolgen des Anspruchs im inländischen Recht seien daher bei der Qualifizierung des Anspruchs zu berücksichtigen. Ebenso müssten aber Ziel und Zweck der Konvention sowie die nationalen Rechtssysteme der übrigen Konventionsstaaten berücksichtigt werden. 6 Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Urt. v. 27. Juni 1968, Série A Nr. 8, S. 41, Ziff. 18 = EuGRZ 1975, 393 ff.; Urteil Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971, Série A Nr. 13, S. 45, Ziff. 94, 110; Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968, Série A Nr. 7, S. 26–27, Ziff. 19; Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, Urt. v. 8. Juni 1976, Série A Nr. 22, S. 34, Ziff. 81.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Unter Verweis auf sein Urteil Ringeisen7 legt der EGMR dar, es sei unerheblich, ob die Parteien des Rechtsstreits Privatpersonen sind; es sei also nicht entscheidend, ob eine öffentliche Behörde als Privatperson oder als Träger öffentlicher Gewalt gehandelt hat. Es komme vielmehr allein auf den Rechtscharakter des in Streit befindlichen Anspruchs an, so dass vorliegend zu klären sei, ob die vom Bf. geltend gemachten Ansprüche, weiterhin eine Privatklinik zu betreiben und den Arztberuf auszuüben, zivilrechtlicher Natur im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK sind. Hierzu stellt der EGMR fest, dass es sich bei dem Betrieb einer Privatklinik in der Bundesrepublik Deutschland um eine unter gewissen Gesichtspunkten kaufmännische, zur Gewinnerzielung ausgeübte Tätigkeit handelt, die das deutsche Recht als „Gewerbe“ bezeichnet. Zwischen der Klinik und den Patienten kommt es zu Vertragsabschlüssen, was sich als Ausübung eines Privatrechts darstelle. In gewisser Hinsicht ähnele dies dem Eigentumsrecht, unabhängig davon, ob Privatkliniken der verwaltungsbehördlichen Aufsicht unterliegen. Die öffentlich-rechtliche Kontrolle mache die Tätigkeit des Betreibens einer Klinik nicht zu einer öffentlich-rechtlichen Tätigkeit. Unter diesen Umständen sei es auch von geringer Bedeutung, dass die Rechtsstreitigkeiten Verwaltungsakte betreffen, da für Art. 6 Abs. 1 EMRK allein maßgeblich sei, dass die in Frage stehenden Rechtsstreitigkeiten die Entscheidung über privatrechtliche Ansprüche zum Gegenstand haben („the determination of rights of a private nature“8). Der EGMR gelangt damit mit 15 Stimmen gegen eine9 beziehungsweise mit 14 Stimmen gegen zwei10 zum Ergebnis der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK, ohne über die Frage entscheiden zu müssen, ob der Begriff „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ („civil rights and obligations“ 11) über Rechte privater Natur hinausgeht. In einem zweiten Schritt befasst sich der EGMR mit der Frage, ob das Verfahren den inhaltlichen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK genügt. Entgegen der Auffassung von Bundesregierung und KOM beginnt der für die Fristbemessung relevante Zeitraum nach Ansicht des EGMR nicht erst mit der Einreichung der Klagen beim VG, sondern jeweils mit dem Tag, an dem der Bf. 7 Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971, Série A Nr. 13, S. 29, Ziff. 94. 8 Ziff. 94 des Urteils in der englischen Originalfassung. 9 Bezüglich der Rücknahme der Erlaubnis zum Betrieb der Klinik vertritt der Richter Franz Matscher in seinem Sondervotum (Art. 45 Abs. 2 EMRK) die Ansicht, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei vorliegend nicht anwendbar. Der EGMR kreiere nicht nur einen „eigenständigen“ Begriff des „Zivilrechts“, sondern auch einen Begriff, der in den Rechtssystemen der Mehrheit der Vertragsstaaten keine Grundlage finde. 10 Die Richter Franz Matscher und João de Deus Pinheiro Farinha sind bezüglich des Widerrufs der Approbation der abweichenden Meinung, dass das durch den Widerruf der Approbation betroffene Recht öffentlich-rechtlicher Natur sei, weil der Widerruf durch die Verwaltungsbehörde den öffentlichen Zweck habe, die Gesundheit des gesamten Volkes zu schützen. 11 Ziff. 95 des Urteils.

Kap. 1: „Wemhoff‘‘ und „König‘‘

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Widerspruch gegen die Rücknahme bzw. den Widerruf eingelegt hat.12 Der maßgebliche Zeitraum umfasse nämlich das gesamte Verfahren einschließlich der Rechtsmittelinstanzen und habe daher bereits am 13. Juli 196713 begonnen. Zum Zeitpunkt der Beurteilung durch den EGMR war das innerstaatliche Verfahren noch nicht beendet und dauerte damit bereits mehr als 10 Jahre und 10 Monate an. Ob die Dauer eines Verfahrens angemessen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK war, beurteilt sich nach Auffassung des EGMR jeweils nach den Umständen des Einzelfalls. In diesem Zusammenhang verweist er auf einige Strafverfahren,14 über deren Dauer er bereits zu entscheiden hatte, und in denen er unter anderem Kriterien wie die Kompliziertheit des Verfahrens, das Verhalten des Bf. sowie die Art und Weise, in der das Verfahren von den Verwaltungsund Justizbehörden betrieben wurde, in Betracht gezogen hat. Der EGMR ist der Ansicht, vorliegend entsprechend vorgehen zu müssen. Vorab betont der EGMR freilich, es sei nicht seine Aufgabe, über das deutsche Verfahrenssystem vor den Verwaltungsgerichten zu urteilen, welches eine lange Tradition besitze. Zwar sei das gegenwärtige System sehr komplex; gleichwohl verkennt der EGMR nicht, dass sich diese Situation aus der höchst achtbaren Sorge erklärt, die Rechtsgarantien des einzelnen zu verbessern. Wenn dies dazu führt, dass die Verfahren unübersichtlich werden, sei es allein Aufgabe des Staates, das System gegebenenfalls im Hinblick auf die Einhaltung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu vereinfachen. Was das Verfahren betreffend die Rücknahme der Erlaubnis zum Betrieb der Klinik angeht, nimmt der EGMR vorweg, es sei bedenklich, dass nach mehr als 10 Jahren und 10 Monaten keine Entscheidung in der Sache ergangen ist. Er gesteht dem Ausgangsgericht zwar zu, es habe vor großen Schwierigkeiten gestanden, Zeugen ausfindig zu machen. Keineswegs habe die Regierung indes vorgebracht, das Verfahren sei außergewöhnlich kompliziert gewesen. Zu bemängeln sei im Übrigen die schlechte Koordination zwischen den beiden Kammern des VG. Zugestanden wird der Regierung seitens des EGMR, dass auch die häufigen Anwaltswechsel des Bf. zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen haben, wenn auch nur zu einer solchen von wenigen Monaten. Auch die zahlreichen vom Bf. eingelegten Rechtsbehelfe fallen nach Auffassung des 12 Der EGMR begründet diesen früheren Fristbeginn unter Berufung auf sein Urteil im Fall Golder (Golder ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 4451/70, Urt. v. 21. Februar 1975, Série A Nr. 18, S. 15, Ziff. 32 = EuGRZ 1975, 93) damit, dass der Bf. vorliegend das zuständige Gericht gar nicht anrufen konnte, bevor er nicht in einem Vorverfahren bei der Verwaltungsbehörde die Verwaltungsakte auf ihre Recht- und Zweckmäßigkeit hat überprüfen lassen (§ 68 der deutschen VwGO). 13 Tag der Widerspruchseinlegung. 14 Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 20–21 = EuGRZ 1975, 393 ff.; Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971, Série A Nr. 13, S. 45, Ziff. 110.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

EGMR nicht sehr ins Gewicht, da all diese Rechtsbehelfe erst nach Juli 1973 eingelegt wurden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem das Verfahren bereits seit sechs Jahren in Gang war. Was die Prozessleitung durch die IV. Kammer angeht, hätten dem Gerichtshof zufolge erhebliche Verzögerungen vermieden werden können. So hält er insbesondere eine Aussetzung des Verfahrens für annähernd zwei Jahre, um den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten, nicht für gerechtfertigt. Bei einer Gesamtbewertung der verschiedenen Umstände gelangt der EGMR zu dem Ergebnis, die durch das Verhalten des Bf. bedingten Verzögerungen rechtfertigten für sich allein die Dauer des Verfahrens nicht. Vielmehr liege die Hauptursache in der Prozessleitung des Gerichts. Der EGMR urteilt daher mit 15 Stimmen gegen eine, die „angemessene Frist“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK sei überschritten worden. Betreffend den Widerruf der Approbation stellt der EGMR zunächst fest, dass die II. Kammer ihr Urteil nach mehr als fünf Jahren gefällt hat. Wenn die Dauer dieses Verfahrens auch nicht so übermäßig war wie diejenige des Verfahrens über die Rücknahme der Erlaubnis zum Betrieb der Klinik, so hält der EGMR sie gleichwohl für nicht weniger schwerwiegend. Der Fall erscheint nach Auffassung des EGMR nicht so kompliziert wie derjenige, mit dem die IV. Kammer befasst war. Die II. Kammer konnte zudem von Ermittlungsergebnissen der IV. Kammer profitieren. Das Verhalten des Bf. hat nach Ansicht des EGMR zu Verzögerungen geführt; insbesondere seinen häufigen Anwaltswechseln komme hier größere Bedeutung zu als in dem vor der IV. Kammer geführten Verfahren. Was das Verhalten des Gerichts anbelangt, so hat die Tatsache, dass die beiden Verfahren nicht verbunden wurden, nach Auffassung des EGMR beide Prozesse verlängert. Auch habe sich das Gericht wenig bemüht, das Verfahren voranzutreiben. Hauptursache der Verzögerung ist nach Meinung des EGMR die Aussetzung des Verfahrens für fast zwei Jahre. Die Aussetzung erfolgte, um den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten, obwohl dieses für den Ausgang des Verfahrens nur eine geringe Rolle gespielt habe. Bei einer umfassenden Bewertung und mit Rücksicht auf die Tatsache, dass es um die berufliche Existenz des Bf. ging, kommt der EGMR mit 15 Stimmen gegen eine15 zum Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden ist.

15 Der Richter Franz Matscher hat in seinem Sondervotum bereits die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK verneint und lehnt nun konsequenterweise auch eine Verletzung ab. Er betont aber ausdrücklich, dass er – soweit diese Bestimmung im vorliegenden Fall anwendbar gewesen wäre – die Ansicht des Gerichts teile, wonach die „angemessene Frist“ nicht eingehalten worden ist.

Kap. 2: Von „Buchholz‘‘ bis „Bock‘‘

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Kapitel 2

Von „Buchholz“ bis „Bock“ – Rechtsprechungswandel innerhalb einer halben Dekade I. Buchholz gegen Deutschland – die „alte“ Rechtsprechung des EGMR 1. Sachverhalt Der Bf. Buchholz, der von 1949 bis 1974 bei einem Unternehmen für chemische Reinigung beschäftigt war, erhob am 10. Juli 1974 Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses vom 28. Juni 1974. Das Urteil des Arbeitsgerichts (ArbG) Hamburg erging am 8. Januar 1975. Der Bf. obsiegte mit seiner Kündigungsschutzklage und bekam 5.700 DM rückständiges Gehalt zugesprochen. Dagegen legte die Gegenseite am 13. März 1975 Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg ein, woraufhin der Bf. am 25. März 1975 Anschlussberufung einlegte. Bis zum Termin der mündlichen Verhandlung am 22. Juli 1975 wurde das Verfahren ausschließlich auf schriftlichem Wege betrieben, weil die Parteien darum gebeten hatten, zwischen bestimmten Zeitabschnitten keine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Mit Schreiben vom 3. Oktober 1975 bat der Anwalt des Bf. das Gericht um Anberaumung eines zeitnahen Termins zur mündlichen Verhandlung. Er wies dabei insbesondere darauf hin, dass „der unverhältnismäßig lange Schwebezustand“ für seinen Mandanten „physisch und psychisch unerträglich geworden“ sei. Auch im Folgenden mahnte der Anwalt des Bf. beschleunigende Maßnahmen an. Vermutlich im Zusammenhang mit diesem Vorstoß richtete das LAG Anfang 1976 eine Sechste Kammer ein, so dass die Dritte Kammer, bei der das Verfahren des Bf. anhängig war, einen Großteil der bei ihr anhängigen Verfahren an diese neue Sechste Kammer abgeben konnte. Am 19. Mai 1976 wurde erneut streitig verhandelt; ein Vergleichsversuch scheiterte auch hier. Am 21. September 1976 legte der Bf. erfolglos16 Verfassungsbeschwerde wegen der Dauer des Verfahrens ein, woraufhin er sich am 18. Dezember 1976 mit einer Individualbeschwerde an die KOM wandte. Am 3. Februar 1977 erging das Urteil des LAG, welches der Berufung des Beklagten stattgab und die Anschlussberufung des Bf. zurückwies. Auf die Revision des Bf. hin wies das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Revision am 26. April 1979 als unbegründet zurück. Am 10. Mai 1979 legte der Bf. erneut Verfassungsbeschwerde wegen der Dauer der Verfahren vor den Arbeitsgerichten ein und warf dem BAG au16 Die Annahme der Verfassungsbeschwerde wurde in der Besetzung eines Ausschusses von drei Richtern (§ 93a BVerfGG[1970]) mangels Erfolgsaussicht abgelehnt.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

ßerdem vor, einen Prozess beendet zu haben, „der unter normalen Umständen noch gar nicht hätte sein Ende finden dürfen“. Angesichts der bei der KOM anhängigen Beschwerde habe das BAG „ganz offenbar die Konventionsverletzung nicht noch deutlicher machen (. . .) und die Prozesse fortsetzen (wollen)“. Das Urteil des BAG sehe er als Sanktion an, mit der man ihn für die Anrufung der KOM maßregeln wolle. Am 19. Juli 1979 beschloss das BVerfG in der Besetzung eines Dreierausschusses, die Verfassungsbeschwerde wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung anzunehmen.17 Der Bf. ist seit seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis arbeitslos, die Suche nach einer anderen Beschäftigung verlief erfolglos. Die am 18. Dezember 1976 eingelegte Menschenrechtsbeschwerde wurde von der KOM am 7. Dezember 1977 für zulässig erklärt. In ihrem Bericht vom 14. Mai 1980 bejahte sie mit sieben gegen fünf Stimmen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. 2. Urteil des EGMR vom 6. Mai 1981 Vorab stellt der EGMR fest, dass es sich bei dem Anspruch des Bf. unstreitig um einen „zivilrechtlichen Anspruch“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK handele, weshalb er allein darüber zu entscheiden habe, ob die angemessene Frist überschritten worden ist. Im Rahmen der Bestimmung des relevanten Zeitraumes verneint der EGMR wie bereits die KOM die Einbeziehung des Verfassungsgerichtsverfahrens mit der Begründung, das BVerfG sei nicht dazu berufen gewesen, über die arbeitsgerichtliche Klage zu entscheiden; die Entscheidung habe nicht den Anspruch betroffen, den der Bf. gegenüber seinem Arbeitgeber geltend gemacht hatte. Demzufolge unterfalle das dem Urteil des BAG nachfolgende Verfahren nicht dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Es bestehe auch keine Veranlassung zu entscheiden, ob dies in anderem Zusammenhang abweichend zu beurteilen sein könnte.18 Nach Auffassung des EGMR erstreckt sich damit der zu prüfende Zeitabschnitt vom 10. Juli 1974 bis zum Urteil des BAG am 26. April 1979, mithin auf 4 Jahre, 9 Monate und 16 Tage. Was die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens angeht, so muss diese aus Sicht des EGMR nach den Umständen des einzelnen Falls beurteilt werden. Der 17 Das BVerfG bemängelte, dass die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht deutlich gemacht worden sei; insbesondere lasse sich aus der beanstandeten Verfahrensdauer nicht herleiten, dass das Ergebnis des Verfahrens gegen Grundrechte verstoße. 18 Die Begründung der KOM für die Nichteinbeziehung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens in diesem Fall lautet anders: Nach ihrer Spruchpraxis ist ein verfassungsgerichtliches Verfahren nicht einzubeziehen, wenn das BVerfG in der Besetzung eines Ausschusses von drei Richtern eine Verfassungsbeschwerde für unzulässig erklärt. Sie nimmt ferner Bezug auf eine jüngere Entscheidung, aus der hervorgeht, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das genannte Gericht wegen der besonderen Art der Rechte, über die ein Verfassungsgericht zu entscheiden hat, unanwendbar ist. Der EGMR ging auf diese Frage indes nicht vertieft ein.

Kap. 2: Von „Buchholz‘‘ bis „Bock‘‘

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EGMR verweist in diesem Zusammenhang auf seine bisherige Rechtsprechung zu Strafsachen, bei welchen er insbesondere die Schwierigkeit des Verfahrens, das Verhalten des Bf. und der zuständigen Behörden berücksichtigt hat.19 Neben diesen Kriterien hat der EGMR in Verfahren, in denen „zivilrechtliche Ansprüche“ („civil rights“/„droits [. . .] de caractère civil“) vor den Verwaltungsgerichten im Streit standen, das Verhalten des Beklagten sowie die Bedeutung der Sache für den Bf. einbezogen.20 Vorliegend ist nach Ansicht des EGMR entsprechend vorzugehen, wobei er betont, nur Verzögerungen, die dem Staat zuzurechnen sind, rechtfertigten die Feststellung, dass den Erfordernissen der „Entscheidung in angemessener Frist“ nicht entsprochen worden ist. Allerdings gelte es hier noch die Besonderheit zu beachten, dass es sich im Gegensatz zu den vorgenannten Straf- und Verwaltungsverfahren um ein arbeitsgerichtliches Verfahren handelt, für welches wie für alle zivilgerichtlichen Verfahren21 der Grundsatz der Verfahrensbetreibung durch die Parteien (Parteimaxime) gilt. Außerdem solle nach deutschem Recht die gütliche Regelung von Arbeitsgerichtsprozessen angestrebt werden (§§ 54, 57, 64 und 72 des Arbeitsgerichtsgesetzes [ArbGG[). Andererseits betont der EGMR, diese Besonderheiten entbänden den Richter nicht davon, trotzdem die zügige Durchführung des Verfahrens sicherzustellen. In § 9 ArbGG sei schließlich der Grundsatz der Beschleunigungspflicht der Arbeitsgerichte verankert. Zum Einwand der Regierung, die Zahl der Arbeitsgerichtsprozesse habe sich in den Jahren 1974 bis 1976 infolge wirtschaftlicher Rezession erhöht, was einen Geschäftsüberhang bei den Gerichten zur Folge gehabt habe, äußert sich der EGMR dahingehend, dass die Vertragsstaaten eben ihre Gerichte so auszustatten hätten, dass sie den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen können. Er räumt indes ein, dass ein Konventionsstaat für nur vorübergehenden Geschäftsüberhang nicht verantwortlich sei, sofern rasch genug geeignete Gegenmaßnahmen seitens des Staates ergriffen würden. Um beurteilen zu können, ob die Gesamtverfahrensdauer von mehr als vier Jahren und neun Monaten mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar ist – insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung des Verfahrensausgangs für den Bf. –, wendet sich der EGMR nun den drei nacheinander mit der Sache befassten Gerich-

19 Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Urt. v. 27. Juni 1968, Série A Nr. 8, S. 42–43, Ziff. 20–21 = EuGRZ 1975, 393 ff.; Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971, Série A Nr. 13, S. 45, Ziff. 110. 20 Vgl. das oben dargestellte Urteil König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Série A Nr. 27, S. 34–40, Ziff. 99, 102–105 und 107–111 = EuGRZ 1978, 406 (417 ff.). 21 „Zivilgerichtliches Verfahren“ meint hier nicht die Unterordnung der Arbeitsgerichtsverfahren unter den Oberbegriff Zivilgerichtsverfahren; der EGMR will vielmehr zum Ausdruck bringen, dass für das Arbeitsgerichtsverfahren die meisten prozessualen Normen der ZPO Anwendung finden.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

ten zu, um auf der Grundlage der vorgenannten Kriterien den jeweiligen Verfahrensgang zu überprüfen. Hinsichtlich des Verfahrens vor dem ArbG Hamburg gelangt der EGMR zu dem Ergebnis, bei diesem Verfahrensabschnitt von weniger als acht Monaten Dauer seien keine außergewöhnlichen Verzögerungen festzustellen, weshalb eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK auszuschließen sei. Das Verfahren vor dem LAG mit einer Dauer von zwei Jahren, 10 Monaten und 21 Tagen war nach seiner Auffassung äußerst komplex, unter anderem wegen der zahlreichen vom Bf. eingesetzten Verteidigungsmittel. Der Gerichtshof meint gleichwohl, die Schwierigkeit des Verfahrens für sich genommen könne die Verfahrensdauer nicht rechtfertigen. Der Bf. hingegen hat nach den Feststellungen des EGMR in dem Verfahren vor dem LAG durch die Art seiner Prozessbetreibung in erheblichem Maße zu Verzögerungen beigetragen. Allerdings habe auch die Beklagte hierzu beigesteuert, was indes nur gering ins Gewicht falle, da diese Verzögerungen hauptsächlich auf der Prozessführung des Bf. beruht hätten. Hauptursächlich für die Verzögerungen sei freilich die Verfahrensführung durch das LAG, welches mehrere Fristen jeweils in großen Zeitabständen gesetzt hatte. Die Belastung der Berufungsgerichte für Arbeitssachen in dieser Zeitspanne rechtfertigt nach Ansicht des Gerichtshofs zu einem gewissen Grad die lange Verfahrensdauer. So wurde die Zahl der Richterstellen schon 1974, als die Anzahl der Klagen anzuwachsen begann, vermehrt. Außerdem wurde 1979 eine Gesetzesreform zur Entlastung dieser Gerichte verabschiedet. Diese Maßnahmen zeigen nach Ansicht des EGMR, dass die Regierung verantwortungsvoll auf den Geschäftsüberhang reagiert hat. Die außerordentliche Belastung, unter der das Gericht zu leiden hatte, müsse demzufolge bei der Frage, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden ist, berücksichtigt werden. Die Verfahrensdauer vor dem BAG beanstandet der EGMR dagegen nicht. Bei Würdigung aller Umstände des Falles hält er die Gesamtverfahrensdauer – vor allem in der zweiten Instanz – zwar für nicht unerheblich; sie sei jedoch in erheblichem Maße auch vom Bf. zu vertreten. Hervorzuheben sei im Übrigen das intensive Bemühen der Behörden um Beschleunigung. Demzufolge befindet der EGMR einstimmig, dass die den zuständigen Gerichten zuzurechnenden Verzögerungen die angemessene Frist nicht überschritten haben. II. Eckle gegen Deutschland – Beginn einer „schematischen“ Rechtsprechung 1. Sachverhalt Gegen den Bf. Eckle, Inhaber einer Baufirma, die kapitalschwache Kunden mit Baugrundstücken und Baumaterial bediente, sowie gegen dessen Ehefrau wurden drei verschiedene Strafverfahren wegen dubioser Geschäftspraktiken ge-

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führt, von denen das erste und das letzte beim Gerichtshof zur Entscheidung anstanden. Im November 1959 eröffnete die Staatsanwaltschaft Trier das erste dieser Verfahren wegen des Verdachts des Betruges zu Lasten zahlreicher Kunden. Dieses Verfahren erwies sich als äußerst umfangreich; so wurden zwischen 1960 und 1965 insgesamt 540 Zeugen vernommen und 3000 Dokumente geprüft. 37 Haupt- und 300 Nebenakten wurden angelegt, denen 120 Zivilprozessakten beigefügt wurden. Am 26. Oktober 1966 erhob die Staatsanwaltschaft schließlich Anklage beim LG Trier. Im Januar 1967 wurde die Anklage wegen neu zur Kenntnis gelangter Delikte fallengelassen und – nachdem sich die Kölner Staatsanwaltschaft bereit erklärt hatte, diese zu übernehmen – im Februar 1968 unverändert neu erhoben. Am 28. Januar 1969 eröffnete das LG Trier das Hauptverfahren, welches bis zum 12. Februar 1973 andauerte und von Vertagungs- und Unterbrechungsanträgen seitens des Bf. geprägt war. Die Eheleute Eckle stellten insgesamt über 30 Befangenheitsanträge, formulierten zahlreiche Beweisanträge und lehnten zwei Gutachter ab. Außerdem beantragte der Bf. zehnmal Haftentlassung und erklärte mehrfach, außerstande zu sein, den Verhandlungen zu folgen, so dass jeweils ein Arzt gehört werden musste. Am 17. März 1972 verurteilte das LG den Bf. wegen Betruges zu vier Jahren und sechs Monaten Haft, seine Ehefrau zu einem Jahr und sechs Monaten. Im Rahmen der Strafzumessung trug das Gericht ausdrücklich dem Umstand Rechnung, „dass sie [die Bf.] eine überlange Zeit den Nachteilen und Unannehmlichkeiten eines Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens unterworfen waren, für die sie nicht allein die Verantwortung traf“. Die im Februar 1973 von den Bf. eingelegte Revision wurde am 19. Februar 1976 zurückgewiesen. In seinem Urteil betonte der BGH unter dem Gesichtspunkt des Erfordernisses einer Gesamtstrafenbildung mit den anderen laufenden Verfahren: „Die übermäßige Dauer eines Strafverfahrens kann – das Landgericht hat das nicht aus den Augen verloren – einen besonderen Milderungsgrund begründen (BGHSt 24, 239). Wenn es sich darum handelt, nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden, müssen diese Umstände auch für den Zeitabschnitt erhoben werden, der zwischen mündlicher Verkündung des Urteils und dem Eintritt der Rechtskraft der abgeurteilten Sache liegt und der bis zur endgültigen Entscheidung andauert. Auch muss man in diesem Fall die besondere Last berücksichtigen, die die Aufteilung in Fallgruppen, bestehend aus wiederholter Begehung ähnlicher Rechtsverletzungen, auf zwei Strafverfahren für die Angeklagten bedeutet hat. Der Senat hat nicht über die Zweckmäßigkeit dieser Aufteilung zu urteilen. Er meint deshalb, dass man den Willen des Gesetzgebers verkennt (. . .), wenn man bei Festsetzung der Strafe diesen Umständen nicht deutlich Rechnung trägt.“ 22

Die von den Bf. im Mai 1976 eingelegten Verfassungsbeschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer wurden am 30. Juni 1977 mangels hinreichender Erfolgsaussicht von einem Dreierausschuss des BVerfG nicht zur Entscheidung 22

BGH, Beschl. v. 19. Februar 1976.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

angenommen. Gegen die Gesamtstrafenbildung des LG vom 24. November 1977 legten die Bf. sofortige Beschwerde zum Oberlandesgericht (OLG) Koblenz ein. Diese blieb ebenso wie die hierauf folgende weitere Verfassungsbeschwerde erfolglos. Das Kölner (Ermittlungs-)Verfahren wurde am 21. März 1967 eröffnet. Zwischen März 1967 und August 1968 wurden Aussagen von etwa 832 Gläubigern, der Mehrheit von etwa 3500 Baumaterialienkäufern und einer großen Anzahl von Zeugen und Angestellten erhoben. Ebenso wurden die Konten der Firma Eckle bei etwa 25 Kreditinstituten überprüft. Eckle selbst wurde am 25. November 1969 in Untersuchungshaft genommen, mehrere Haftbeschwerden hiergegen blieben in allen Instanzen erfolglos. Bis zur Anklageerhebung am 25. September 1973 lehnte er mehrfach die zuständigen Richter wegen Befangenheit ab, setzte sich gegen die Bestellung des Pflichtverteidigers zur Wehr und reichte mehrere Beschwerden und Anträge ein, deren Zweck nicht ersichtlich wurde. Am 25. September 1973 erhob die Staatsanwaltschaft schließlich Anklage wegen betrügerischen Bankrotts, Steuerhinterziehung und Betruges. Das am 16. September 1976 eröffnete Hauptverfahren wurde im September 1977 gem. § 154 StPO mit Zustimmung der Bf. eingestellt. Die Strafverfolgung, die gegen die Bf. in Saarbrücken betrieben wurde, ist zwar nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem EGMR, muss aber wegen ihrer Auswirkungen auf die Trierer und Kölner Verfahren ebenfalls Erwähnung finden. Ende 1963 hatte die Staatsanwaltschaft Saarbrücken ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Betruges gegen die Bf. eröffnet. Am 17. Oktober 1967 wurden sie wegen Betruges in 99 Fällen zu sechs Jahren bzw. drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Mit der Revision befasst hob der BGH das Urteil am 14. März 1969 auf und verwies die Sache an eine andere Kammer des LG zurück. Infolgedessen wurde Frau Eckle am 19. Februar 1970 zu zwei Jahren Haft wegen Betruges in 74 Fällen verurteilt. Ihr Ehemann wurde am 26. März 1971 wegen Betruges in 68 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt. Eine Revision hiergegen blieb erfolglos. Eckle verbrachte im Verlauf der Strafverfolgung fast fünf Jahre in Untersuchungshaft. Mit ihrer Menschenrechtsbeschwerde vom 27. November 1977 machten die Bf. geltend, die Dauer der drei Verfahren sei mit Art. 6 Abs. 1 EMRK unvereinbar. Am 10. Mai 1979 erklärte die KOM die Beschwerde betreffend das Trierer und das Kölner Verfahren für zulässig.

2. Urteil des EGMR vom 15. Juli 1982 Da Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils offensichtlich anwendbar ist, beginnt der EGMR die Prüfung mit der Ermittlung des maßgeblichen Zeitraums. Dabei deutet er vorab den Fristbeginn als den Zeitpunkt,

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in dem eine Person zum „Angeklagten“ wird, wobei es sich hier um einen früheren Zeitpunkt handeln könne23 als um den der Anklageerhebung – etwa die Verhaftung, die Beschuldigung oder die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens.24 Den Begriff der „Anklage“ definiert der EGMR dabei „als die offizielle amtliche Anzeige der zuständigen Behörde an den Betroffenen, dass ihm die Begehung einer Straftat angelastet werde.“ 25 Da es ihm unmöglich erscheint, sicher festzustellen, ab welchem Zeitpunkt die Bf. offiziell Kenntnis von dem Ermittlungsverfahren erlangt haben, nimmt er in Übereinstimmung mit der KOM als Zeitpunkt für den Beginn des Fristlaufs den 1. Januar 1961 an. Was das Ende der Frist betrifft, so betont der EGMR, in Strafsachen werde das gesamte Verfahren in der Sache einschließlich der Rechtsmittelverfahren erfasst.26 Daraus ergebe sich für das Trierer Verfahren als Fristende der 23. Januar 1978 – das Datum, an dem das OLG Koblenz die Gesamtstrafenbildung vornahm – und nicht etwa der Zeitpunkt des Urteils des BGH: Nach diesem Urteil war für die Bf. die Höhe der vom LG noch festzusetzenden Strafen nicht erkennbar, so dass noch keine endgültige Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage vorgelegen habe. Das Kölner Verfahren endete nach den Feststellungen des EGMR am 21. September 1977 mit dem Einstellungsbeschluss des LG. Die Verfahrensdauer, die im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK zur Prüfung ansteht, beträgt somit 17 Jahre und drei Wochen für die Trierer Verfahren und 10 Jahre, 4 Monate und 10 Tage für das Kölner Verfahren. In einem zweiten Schritt wendet sich der EGMR nun der Frage zu, ob die Verfahrensdauer angemessen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK war, was nach seiner ständigen Rechtsprechung bezüglich jeder einzelnen Instanz nach den Umständen des konkreten Falles zu beurteilen ist. Hierbei ist besonderes Augenmerk auf die Komplexität des Falles und das Verhalten der Bf. sowie der Justizbehörden zu richten.27 Vorliegend handelt es sich um Verfahren, die 17 beziehungsweise 10 Jahre dauerten. Da eine solche Länge nach Ansicht des EGMR zweifelsohne übermäßig ist und in der Regel als die „angemessene

23 Deweer ./. Belgien, Beschwerde Nr. 6903/75, Urt. v. 27. Februar 1980, Série A Nr. 35, S. 22, Ziff. 42 = EuGRZ 1980, 671. 24 Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968, Série A Nr. 7, S. 26–27, Ziff. 19; Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Urt. v. 27. Juni 1968, Série A Nr. 8, S. 41, Ziff. 18; Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971, Série A Nr. 13, S. 45, Ziff. 110. 25 Übersetzung des Originalwortlauts. Soweit im Folgenden wörtlich zitiert wird, handelt es sich jeweils um den Originalwortlaut des Urteils in übersetzter Form. 26 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Série A Nr. 27, S. 33, Ziff. 98 = EuGRZ 1978, 417. 27 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Série A Nr. 27, S. 34, Ziff. 99 = EuGRZ 1978, 417.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Frist“ überschreitend angesehen werden muss,28 sei es Sache des betroffenen Staates, hierfür Erklärungen abzugeben. Es finde also gewissermaßen eine Beweislastumkehr statt. Im Trierer Verfahren beurteilt der EGMR die rechtliche Lage zwar als relativ einfach, sieht aber die Tatsachenfeststellung als sehr komplex an, vornehmlich bedingt durch die umfangreichen Tätigkeiten der Bf. Auch hätten die Bf. selbst ein prozessverzögerndes Verhalten – etwa systematische Richterablehnung – an den Tag gelegt, das jedenfalls – wenn es auch das Recht des Beschuldigten sei, alle nach deutschem Recht gegebenen prozessualen Möglichkeiten auszuschöpfen – dem beklagten Staat nicht angelastet werden könne. Die Justizbehörden ihrerseits haben den Fall nach Überzeugung des EGMR nicht mit der notwendigen Sorgfalt und Zügigkeit bearbeitet. So hätte angesichts der großen Zahl von Einzelfällen viel großzügiger von der Einstellungsmöglichkeit des § 154 StPO Gebrauch gemacht werden müssen. Auch sei das Vorgehen der Staatsanwaltschaft kritikwürdig, die sechs Jahre nach Eröffnung des Ermittlungsverfahrens glaubte, weitere Taten entdeckt zu haben und keine andere Möglichkeit sah, als die Anklage fallen zu lassen um sie dann einige Zeit später unverändert neu zu erheben. Zudem kritisierte der Gerichtshof die Dauer des Revisionsverfahrens von nahezu drei Jahren. Was das Vorbringen der Regierung angeht, der Eckle-Fall sei einer der ersten Fälle auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität, so räumt der EGMR zwar ein, dass die Justizbehörden vor gewisse Probleme gestellt wurden, insbesondere was eine sorgfältige („diligente“, „speedy“) und zuverlässige („sûre“, „smooth“) Abwicklung von Strafverfahren angeht. Er anerkennt auch die gesetzgeberischen und administrativen Anstrengungen der Bundesrepublik bezüglich dieses Mankos. Allerdings ist dem nach Auffassung des EGMR kein besonderes Gewicht beizumessen, da diese Situation für die Behörden keineswegs ungewöhnlich gewesen sei. Im Lichte dieser gesamten Umstände kommt der EGMR damit zu dem Schluss, Hauptursache der Länge des Verfahrens sei das Verhalten der Justizbehörden gewesen und erachtet eine Fristüberschreitung für gegeben. Das Kölner Verfahren war nach Ansicht des EGMR besonders schwierig und komplex. Die Bf. ihrerseits hätten das Verfahren bewusst durch Prozessverschleppungstaktik in die Länge gezogen. Allerdings hätten auch die Behörden die Sache nicht sorgfältig und zügig genug behandelt. So seien zwischen der Einreichung der Anklageschrift und der Eröffnung des Hauptverfahrens annähernd drei Jahre vergangen. Anzuerkennen ist nach Auffassung des EGMR wiederum die Arbeitsbelastung der Behörden hinsichtlich Wirtschaftsstrafverfahren; jedoch könne sich die Regierung angesichts der immensen Länge des Verfah28 Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Urt. v. 27. Juni 1968, Série A Nr. 8, S. 41, Ziff. 20; König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Série A Nr. 27, S. 34, Ziff. 102 = EuGRZ 1978, 417 f.

Kap. 2: Von „Buchholz‘‘ bis „Bock‘‘

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rens nicht auf die Arbeitsbelastung in diesem Verfahren berufen. Auch hier kommt der EGMR zu dem Schluss, die Verzögerungen seien hauptsächlich auf das Verhalten der Justizbehörden zurückzuführen. Er gelangt damit einstimmig zu der Feststellung, im vorliegenden Fall sei die angemessene Frist im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK überschritten worden und bejaht dementsprechend eine Verletzung dieser Norm.

III. Deumeland gegen Deutschland – Kehrtwendung in der Rechtsprechung? 1. Sachverhalt Der Bf. Deumeland setzte als Erbe seiner am 8. Dezember 1976 verstorbenen Mutter einen Prozess fort, den diese vor den Sozialgerichten gegen das Land Berlin, vertreten durch die Eigenunfallversicherung, angestrengt hatte. Die Verstorbene hatte eine Hinterbliebenenrente mit der Behauptung beantragt, der Tod ihres Ehegatten am 25. März 1970 sei infolge eines Arbeitsunfalls eingetreten. Dieser war am 12. Januar 1970 auf dem Heimweg von einer Arztpraxis, zu der er sich von seiner Arbeitsstelle kommend zur Behandlung begeben hatte, auf schneebedecktem Gehsteig ausgerutscht und hatte sich den rechten Oberschenkelknochen gebrochen. Den komplizierten Folgen des Bruchs erlag dieser schließlich. Als Angestellter der Berliner Verwaltung war er gesetzlich unfallversichert. Am 16. Juni 1970 erhob die Mutter des Bf., vertreten durch ihren Sohn, Klage beim Sozialgericht (SG) Berlin. Am 25. Oktober 1972 wies das Gericht nach mündlicher Verhandlung die Klage ab, weil es sich weder um einen Arbeits- noch um einen Wegeunfall gehandelt habe. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung waren beim SG Berlin zwei Kammern für Klagen im Bereich der Arbeitsunfallversicherung zuständig. Drei weitere Kammern wurden im Oktober 1970, im Januar 1971 und im April 1972 eingerichtet. Nach der von der Regierung vorgelegten Statistik belief sich die Anzahl solcher Klagen Ende 1969 auf 713, Ende 1970 auf 778, Ende 1971 auf 766 und Ende 1972 auf 668. Bei der für die vorliegende Klage zuständigen Kammer waren am 1. Januar 1972 insgesamt 324 Klagen anhängig. Am 23. November 1972 legte die Mutter des Bf., vertreten durch denselben, Berufung ein, die das Landessozialgericht (LSG) nach mündlicher Verhandlung am 14. August 1973 zurückwies. Am 2. Oktober 1973 legte sie Revision beim Bundessozialgericht (BSG) ein und begründete diese am 13. November 1973. Nach mehrfachem Schriftsatzwechsel bat der Bf. am 1. Juli 1974 um Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung, worauf ihm der berichterstattende Richter mitteilte, angesichts der Belastung des Senats sei nicht abzusehen, wann mit einer Entscheidung zu rechnen sei. Am 22. Januar 1975 lehnte der Bf. erfolglos den berichterstattenden Richter als befangen ab. Gleiches geschah in

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

der mündlichen Verhandlung am 13. März 1975. Am selben Tag hob der Senat das Urteil des LSG auf und verwies die Sache zurück, weil der Mutter des Bf. kein hinreichendes rechtliches Gehör gewährt worden sei. Das zweite Verfahren vor dem LSG dauerte vom 16. Mai 1975 bis zum 15. März 1979. Das Verfahren begann mit einem weiteren Befangenheitsantrag des seine Mutter vertretenden Bf. gegen den berichterstattenden Richter, den er außerdem beschuldigte, das Verschwinden von vorgelegten Unterlagen bewirkt zu haben. Er verlangte deshalb die Einschaltung der Kriminalpolizei und die Überwachung des besagten Richters im Falle der Akteneinsichtnahme durch denselben. Nach einem weiteren Befangenheitsantrag und weiteren Schriftsatzwechseln, in die auch die Staatsanwaltschaft involviert war, teilte das Landesverwaltungsamt dem SG am 7. Januar 1977 mit, dass die Mutter des Bf. gestorben sei. Der Bf. setzte daraufhin das Verfahren an deren Stelle fort. Nach zwei weiteren Befangenheitsanträgen fand am 17. Oktober 1978 die mündliche Verhandlung statt. Der Senat hielt die Anhörung weiterer Zeugen für erforderlich und lud für den 16. Januar 1979 weitere Zeugen. Im Anschluss an diesen Termin wies das LSG die Berufung zurück; die Revision wurde nicht zugelassen. Am 16. März 1979 legte der Bf. Nichtzulassungsbeschwerde beim BSG ein. Nach zahlreichen Schriftsatzwechseln wurde ihm mitgeteilt, dass der Senat im Juni/Juli 1980 zu entscheiden beabsichtige. Am 11. Dezember 1980 wies das BSG die Beschwerde zurück, woraufhin der Bf. am 23. Dezember Verfassungsbeschwerde einlegte. Diese wurde im Februar 1981 mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens durch das LSG wurde am 23. November 1981 durch das BSG endgültig abgelehnt. Mit seiner Menschenrechtsbeschwerde vom 15. April 1981 macht der Bf. die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend, die am 15. November 1983 von der KOM für zulässig erklärt wurde. 2. Urteil des EGMR vom 29. Mai 1986 Der EGMR bezieht sich zunächst hinsichtlich des Vorliegens einer Streitigkeit („contestation“) über ein Recht auf die in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, die in seinem Urteil vom 23. Oktober 1985 im Fall Benthem29 zusammengefasst sind. Ein von der Verstorbenen beanspruchtes Recht sieht der EGMR in der Gewährung einer Hinterbliebenenrente, für welches das Verfahren vor den Berliner Sozialgerichten auch unmittelbar entscheidend gewesen sei. Sodann langt der EGMR bei der Prüfung an, ob dieses besagte Recht als „zivilrechtlich“ einzustufen ist, was sich nicht allein unter Bezug auf 29 Benthem ./. Niederlande, Beschwerde Nr. 8848/80, Urt. v. 23. Oktober 1985, Série A Nr. 97, S. 14–15, Ziff. 32 = EuGRZ 1986, 302.

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das inländische Recht des belangten Staates interpretieren lasse. Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffe – hier verweist der EGMR auf seine Ausführungen im Fall König – nicht nur „privatrechtliche Streitigkeiten im herkömmlichen Sinne, das heißt Rechtsstreitigkeiten zwischen Einzelpersonen oder zwischen Einzelpersonen und dem Staat, soweit dieser wie eine Privatperson dem Privatrecht unterworfen gehandelt hat und nicht als Träger hoheitlicher Gewalt.“30 Geringe Bedeutung komme der Art des in Frage stehenden Gesetzes und dem Charakter der auf dem betreffenden Gebiet zuständigen Behörde zu, allein der Rechtscharakter des in Streit befindlichen Anspruchs sei ausschlaggebend. Es gebe keine abstrakte Definition des Begriffs „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“. Der EGMR hat im vorliegenden Fall erstmals über den Bereich des Sozialversicherungsrechts zu entscheiden und ist der Auffassung, Elemente herausarbeiten zu müssen, welche die vorerwähnten Grundsätze präzisieren oder ergänzen können. Vorab betont er, die Einordnung des fraglichen Anspruchs im deutschen Recht als öffentlich-rechtlich könne nicht entscheidend sein; sie gebe vielmehr lediglich einen Anhaltspunkt.31 In den Rechtsordnungen der übrigen Konventionsstaaten bestünden große Unterschiede in der Rechtsnatur von Ansprüchen auf Leistungen aus der Unfallversicherung innerhalb des Sozialversicherungssystems. Nach einigen Rechtsordnungen – wie auch derjenigen der Bundesrepublik – ist dieser Anspruch als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren, nach anderen hingegen als privatrechtlicher Anspruch; wieder andere Rechtsordnungen scheinen ein gemischtes System zu praktizieren. Demzufolge gebe es hierfür keinen einheitlichen europäischen Begriff. In einem nächsten Schritt untersucht der EGMR nun, welche Faktoren den Rechtsstreit als öffentlich-rechtlich und welche ihn als privatrechtlich qualifizieren können. Faktoren, die zur öffentlich-rechtlichen Einordnung führen können, seien der Charakter der Gesetzgebung, der Zwangscharakter der Versicherung und die Übernahme des sozialen Schutzes in die Verantwortlichkeit des Staates. Privatrechtliche Elemente hingegen stellten der personale und vermögenswerte Charakter des geltend gemachten Rechts, die Verbundenheit der Hinterbliebenenrente mit dem Arbeitsverhältnis und die Gemeinsamkeiten mit der Versicherung nach allgemeinem Recht dar. Nach der Bewertung des jeweiligen Gewichts der verschiedenen Faktoren stellt der EGMR sodann im Ergebnis mit neun gegen acht Stimmen32 fest, die privatrechtlichen Elemente überwögen, weshalb Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar sei. 30 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Série A Nr. 27, S. 29–30, Ziff. 88–89 = EuGRZ 1978, 406 (415). 31 Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, Urt. v. 8. Juni 1976, Série A Nr. 22, S. 35, Ziff. 82 = EuGRZ 1976, 232. 32 Der Richter J. Pinheiro Farinha verneint in seiner abweichenden Meinung die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK mit der Begründung, es liege wegen der Bindung an eine öffentliche Stelle unter unmittelbarer Aufsicht des Landes und der

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Was die Einhaltung von Art. 6 Abs. 1 EMRK angeht, so legt der EGMR zunächst den relevanten Zeitraum fest. Dieser beginnt nach seinen Feststellungen am 16. Juni 1970, dem Tag der Klageerhebung beim SG Berlin. Was das Ende der Frist angeht, so bezieht der Gerichtshof – anders als in früheren Entscheidungen – nun auch das Verfahren vor dem BVerfG mit ein. Begründet wird dies folgendermaßen: „(. . .) zwar hatte es [das BVerfG] nicht in der Sache zu entscheiden, jedoch konnte sich seine Entscheidung auf den Ausgang des Verfahrens auswirken.“ Dementsprechend endet der zu beurteilende Zeitraum am 9. Februar 1981 mit der Nichtannahmeentscheidung des BVerfG und dauerte insgesamt 10 Jahre, sieben Monate und drei Wochen. Die Angemessenheit beurteilt der EGMR wie schon in den vorhergehenden Entscheidungen unter Berücksichtigung der sich aus der Rechtsprechung ergebenden Kriterien nach den besonderen Umständen des Einzelfalls.33 Der Gerichtshof bewertet die Sache als nicht schwierig. Das Verhalten des Bf. erachtet er hingegen als insgesamt verfahrensverzögernd. Der Bf. habe zwar keine Obstruktionstaktik an den Tag gelegt, aber doch zumindest eine Haltung fehlender Kooperationsbereitschaft. Diesbezüglich verweist der EGMR auf die zahlreichen Ablehnungsanträge und sonstigen Handlungen beziehungsweise Unterlassungen, welche die Arbeit der Richter erschwerten. Hinsichtlich des Verhaltens der Gerichte kritisiert der EGMR zunächst die Phase des Stillstandes von über einem Jahr vor dem SG Berlin. Die seitens der Regierung vorgebrachten Rechtfertigungsgründe der Arbeitsüberlastung und des Wechsels im Kammervorsitz wären nach Ansicht des EGMR nur dann geeignet, die internationale Verantwortlichkeit auszuschließen, wenn der betroffene Staat „mit angemessener Beschleunigung wirksame Maßnahmen zur Überwindung des Engpasses einleitet“.34 Ein plötzliches und unvorhersehbares Anwachsen der Zahl der Prozesse, welches zu einem vorübergehenden Stau in der Geschäftsabwicklung geführt hätte, kann der EGMR hingegen nicht erkennen. Vor dem LSG hat das Verfahren nach seinen Feststellungen keine Verzögerung erfahren. Vor dem BSG kam es zu einem Stillstand von 10 Monaten. Dieser ist allerdings auf den Antrag des Bf. selbst zurückzuführen, so dass dieser Zeitraum dem BSG nur zum Teil zugerechnet werden kann. Das zweite Verfahren vor dem LSG war nach Feststellung des EGMR von allen Verfahren das längste und zugleich schwierigste; die Dauer von drei JahFinanzierung dieser Arbeitsunfallversicherung hauptsächlich aus Haushaltsmitteln des Landes keine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne der Norm vor. Die übrigen ablehnenden Stimmen kamen nach ausführlicher Anwendung völkerrechtlicher Auslegungsmethoden ebenfalls zum Ergebnis der Unanwendbarkeit. 33 Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981, Série A Nr. 42, S. 15–16, Ziff. 49 = EuGRZ 1981, 494. 34 Verweis auf die Sache Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984, Série A Nr. 81, S. 17, Ziff. 40 = EuGRZ 1985, 641.

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ren und zehn Monaten fällt indes nach Auffassung des Gerichtshofs gegenüber den Verzögerungen, die der Bf. durch seine zahlreichen Ablehnungsanträge hervorgerufen hat, kaum ins Gewicht. Das zweite Verfahren vor dem BSG mit einer Dauer von einem Jahr, acht Monaten und drei Wochen wird vom EGMR nicht beanstandet, da die Stillstandsperioden hauptsächlich durch Handlungen des Bf. hervorgerufen worden seien. Das BVerfG hat die Sache nach seinen Feststellungen ebenfalls hinreichend zügig behandelt. Nach einer Gesamtwürdigung kommt der EGMR zum Ergebnis, dass eine Gesamtdauer von fast elf Jahren nach den Umständen des Falles ungewöhnlich ist. Zwar seien eine Reihe von Verzögerungen dem Bf. anzulasten, jedoch hätten die den Gerichten zuzurechnenden Verzögerungen in ihrer Summe dazu geführt, dass die Sache des Bf. nicht „in angemessener Zeit gehört wurde“. Der EGMR stellt daher mit neun gegen acht Stimmen35 eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest. IV. Bock gegen Deutschland – Festigung und Fortführung der „neuen“ Rechtsprechung 1. Sachverhalt Der Beschwerde im Fall Bock liegt ein Scheidungsverfahren zugrunde, welches der Bf. am 18. März 1974 vor dem LG Düsseldorf eingeleitet hatte. Nach Einreichung des Scheidungsantrags beantragte dessen Ehefrau Gebrechlichkeitspflegschaft beim Amtsgericht (AG) Ratingen für ihn. Daraufhin wurde die Pflegschaft angeordnet, ein Vormund für den Bf. bestellt und seine Einweisung in eine Heilanstalt bewirkt. Am 3. Mai 1974 wurde er nach Aufhebung des Überweisungsbeschlusses wegen Nichtgewährung rechtlichen Gehörs wieder entlassen. Weitere Versuche der Ehefrau des Bf., ihren Mann entmündigen zu lassen, scheiterten. Nachdem die Ehefrau des Bf. in ihrer Erwiderung auf den Scheidungsantrag ihren Mann als geisteskrank und prozessunfähig bezeichnet hatte, forderte das Gericht im Juni ein Sachverständigengutachten über den psychischen Zustand des Bf. an, welches im November 1974 bei Gericht einging. Darin wurde dem Bf. eine paranoide Psychose attestiert. Der Bf. stellte daraufhin erfolgreich einen Ablehnungsantrag gegen den Sachverständigen, weshalb im Dezember 1974 ein neuer Sachverständiger bestellt wurde. Auch gegen diesen Sachverständigen stellte der Bf. im April 1975 einen Ablehnungsantrag, dem jedoch nicht stattgegeben wurde. Zwischen August und Dezember 1975 wechselte der Bf. zweimal seinen Anwalt. Im Mai 1976 forderte der Bf. das Gericht zur Fortführung des Verfahrens auf, woraufhin am 1. Juli 1976 eine mündliche Anhörung stattfand. 35 Die ablehnenden Stimmen resultieren aus der Verneinung bereits des Anwendungsbereichs von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

In der Folgezeit stellte der Bf. einen Ablehnungsantrag gegen einen der Richter, weshalb die Sache an eine andere Kammer abgegeben wurde. Bis Juni 1977 wechselte der Bf. weitere zwei Mal seinen Anwalt. Im Jahr 1976 trat eine Gesetzesänderung im Bereich des Eheschließungs- und Familienrechts in Kraft. Folge dessen war unter anderem die Abgabe des Verfahrens vom LG an das Familiengericht (FamG) mit Wirkung vom 1. Juli 1977. Das erste familiengerichtliche Verfahren dauerte vom 1. Juli 1977 bis zum 5. Januar 1979. Dem Scheidungsantrag wurde stattgegeben, das Sorgerecht für die Kinder wurde der Frau des Bf. zugesprochen. Dagegen legte die Frau des Bf. Berufung ein, welcher der Bf. mit der Anschlussberufung folgte, um das Sorgerecht für die Kinder zu erhalten. Am 18. April 1979 stellte er einen erfolglosen Ablehnungsantrag wegen Befangenheit gegen die Richter des Berufungsgerichts. Seine Verfassungsbeschwerde wurde am 11. September 1979 für unzulässig erklärt. Am 9. Januar 1980 hob das Berufungsgericht das Scheidungsurteil auf und wies das FamG an, den Fall neu zu verhandeln, da dieses die gem. § 56 ZPO von Amts wegen zu prüfende Prozess- und Geschäftsfähigkeit des Bf. nicht untersucht habe. Das zweite familiengerichtliche Verfahren begann am 18. März 1980 und endete am 3. Juli 1980 abermals mit dem Scheidungsausspruch und der Sorgerechtsentscheidung zugunsten der Mutter. Das Gericht verwehrte sich dabei gegen den Vorwurf, die Prozess- und Geschäftsfähigkeit nicht hinreichend überprüft zu haben und weigerte sich, dem weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Auf die Berufung der Ehefrau des Bf. vom 29. September 1980 hin wurde das zweite Scheidungsurteil ebenfalls aufgehoben und der Fall zur neuerlichen Verhandlung zurückverwiesen. Das Berufungsgericht vertrat wiederholt seine Ansicht, das Untergericht sei an seine Entscheidung gebunden und hätte zur Frage der Prozess- und Geschäftsfähigkeit ein Sachverständigengutachten einholen müssen. Das dritte familiengerichtliche Verfahren begann im Oktober 1980 mit einem Ablehnungsantrag gegen den zuständigen Richter seitens der Frau des Bf., welchem nach Einlegung einer Beschwerde am 22. Januar 1981 stattgegeben wurde. Die Verfassungsbeschwerde des Bf. hiergegen wurde im April 1981 zurückgewiesen. Nachdem im Juli 1981 ein Sachverständiger dem Bf. volle Prozessfähigkeit bescheinigt hatte, stellte die Frau des Bf. zwei weitere erfolglose Ablehnungsanträge gegen den Familienrichter. Am 24. Februar 1982 wurde die Scheidung zum dritten Mal ausgesprochen und das Sorgerecht der Mutter zugewiesen. Im Februar 1982 legte die Frau des Bf. erneut Berufung gegen das Urteil ein, welcher sich der Bf. – mittlerweile wieder durch einen anderen Anwalt vertreten – im April mit der Anschlussberufung anschloss. In der Folge stellten sowohl der Bf., als auch dessen Frau weitere erfolglose Ablehnungsanträge gegen einige Richter und einen Sachverständigen. Am 30. Mai 1983 wies das Berufungsgericht sowohl die Berufung als auch die Anschlussberufung zurück, woraufhin am 7. Juni 1983 die Scheidung mit Zustellung des Berufungsurteils rechtswirksam wurde.

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Am 11. Oktober 1983 nahm ein Dreierausschuss des BVerfG die Verfassungsbeschwerde des Bf. wegen überlanger Verfahrensdauer nicht zur Entscheidung an mit der Begründung, es seien keine Verzögerungen durch ungerechtfertigte Prozesshandlungen verursacht worden. Einzig dem FamG könne man einen Vorwurf machen, weil es erst nach der Berufungsentscheidung einen Sachverständigen bestellt habe. Andererseits sei dem FamG zugute zu halten, dass es die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht für notwendig und für zu zeitaufwendig gehalten habe. Die zweite vom Bf. gegen das Scheidungsurteil eingelegte Verfassungsbeschwerde vom 4. Juli 1983 wurde vom BVerfG am 11. Januar 1984 nicht zur Entscheidung angenommen. Am 2. Juli 1982 hatte der Bf. die KOM angerufen und eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend gemacht. Die KOM erklärte die Beschwerde am 13. November 1986 für zulässig und äußerte in ihrem Bericht vom 13. November 1987 mit 13 Stimmen gegen eine die Meinung, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei verletzt worden. 2. Urteil des EGMR vom 29. März 1989 Der EGMR beginnt die Prüfung mit der Bestimmung des relevanten Zeitraumes und setzt als Anfangsdatum den 18. März 1974 fest.36 Der Scheidungsprozess selbst endete nach seinen Feststellungen am 7. Juni 1983 mit dem abschließenden Urteil. Zu prüfen ist aus seiner Sicht aber weiter, ob die beiden Verfassungsbeschwerdeverfahren, die am 11. Oktober 1983 bzw. am 11. Januar 1984 beendet wurden, mit in die Berechnung der Gesamtverfahrensdauer einzubeziehen sind. Während die Bundesregierung hierzu vorträgt, Art. 6 Abs. 1 EMRK könne auf Verfassungsgerichtsverfahren gar keine Anwendung finden und den EGMR in ihrer Stellungnahme auffordert, zu seiner im Buchholz-Urteil getroffenen Judikatur37 zurückzukehren und nicht seiner neueren im Deumeland-Urteil vertretenen Auffassung zu folgen, nimmt der EGMR diese Fragstellung genauer unter die Lupe. Unter Verweis auf seine zahlreichen zu diesem Problem ergangenen Judikate38 erinnert der EGMR daran, unter gewissen Umständen 36 Es handelt sich dabei um das Datum der Einreichung des Scheidungsantrags durch den Bf. 37 Im Rahmen dieses Urteils verneinte der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das verfassungsgerichtliche Verfahren. 38 Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Série A Nr. 51, S. 17–18, Ziff. 34; sowie S. 34–35, Ziff. 76–79; Erkner u. Hofauer ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9616/81, Urt. v. 24. März 1987, Série A Nr. 117, S. 46, Ziff. 16; S. 50, Ziff. 33; sowie S. 61–62, Ziff. 65; Poiss ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9816/82, Urt. v. 24. März 1987, Série A Nr. 117, S. 103 Ziff. 50–52; Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971, Série A Nr. 13, S. 11–12, Ziff. 23; S. 34, Ziff. 79–80; sowie S. 39–41 Ziff. 94–99; Sramek ./. Österreich, Beschwerde Nr. 8790/79, Urt. v. 22. Oktober 1984, Série A Nr. 84, S. 11–12, Ziff. 16–17; sowie

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

seien Verfassungsgerichtsverfahren bei der Bestimmung des relevanten Zeitraumes mit zu berücksichtigen. Es müsse festgestellt werden, ob die Entscheidung des BVerfG den Ausgang des Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten beeinflussen kann. Genauso sei aber zu beachten, dass der Bf. selbst darum gebeten hatte, die Länge der Verfassungsgerichtsverfahren bei der Berechnung außer Acht zu lassen, da diese nach seiner Auffassung nicht zur Verzögerung beigetragen hätten. Der EGMR beschränkt seine Überprüfung daher auf die Zeitspanne vom 18. März 1974 bis zum 7. Juni 1983. Die Angemessenheit richtet sich nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des EGMR nach den Umständen des Einzelfalls und ist insbesondere anhand der hierzu entwickelten Kriterien zu beurteilen.39 Kritisch betrachtet der EGMR vor allem die lange Zeit, die darauf verwendet wurde, den Geisteszustand des Bf. zu ermitteln. Zwar hätten die Gerichte nach deutschem Recht die Pflicht, diesen von Amts wegen aufzuklären. Nichtsdestotrotz müsse das entsprechende Verfahren aber mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar sein. Außerdem enthalte auch die einschlägige Prozessordnung selbst ein Beschleunigungsgebot, nämlich § 272 ZPO. In Anbetracht dessen untersucht der EGMR nun die einzelnen Verfahrensabschnitte. Was das erste Verfahren vor dem LG Düsseldorf angeht, so bemängelt der EGMR die Vorgehensweise hinsichtlich der Auswahl des Sachverständigen sowie der Feststellung der Prozessfähigkeit des Bf. Darauf habe das Gericht zu viel Zeit verwendet und so zu erheblichen Verfahrensverzögerungen beigetragen. Zwar habe auch der Bf. mit seinen Anwaltswechseln und Ablehnungsanträgen den Rückstand zu verantworten, allerdings wögen die durch das Gericht verursachten Verzögerungen schwerer. Im Rahmen der Überprüfung des ersten familiengerichtlichen Verfahrens40 kritisiert der EGMR vor allem das Vorgehen des Berufungsgerichts, das die Prozess- und Geschäftsfähigkeit des Bf. nicht selbst festgestellt, sondern den Fall wieder an das FamG zurückverwiesen hatte. Das zweite Verfahren vor dem FamG, das nur vier Monate dauerte, biete hinsichtlich seiner Dauer keinen Anlass zur Kritik. Der EGMR bemängelt allerdings, dass das FamG nicht den Vorgaben der höheren Instanz folgte und so eine erneute Berufung „provozierte“. Allerdings war auch dieses Berufungsverfahren nicht von allzu langer Dauer, so dass das Fehlverhalten des FamG nicht ins Gewicht falle. Das dritte Verfahren vor dem FamG wies nach Ansicht des EGMR vor allem wegen der zahlreichen S. 17, Ziff. 35; Ettl u. a. ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9273/81, Urt. v. 24. März 1987, Série A Nr. 117, S. 17, Ziff. 33–35. 39 H ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 9580/81, Urt. v. 8. Juli 1987, Série A Nr. 120-B, S. 59, Ziff. 71. 40 Nach Abgabe der Sache durch das LG aufgrund der Gesetzesänderung aus dem Jahr 1976.

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Ablehnungsanträge seitens der Frau des Bf. eine solch erhebliche Länge auf. Aber auch die Verfassungsbeschwerde des Bf. habe das ihre dazu beigetragen. Insgesamt erachtet der EGMR die verstrichene Zeitspanne als nicht übermäßig lang. Nach Ansicht des EGMR unterscheidet sich dieser Fall insgesamt betrachtet von anderen, bereits entschiedenen Verfahren, da die entscheidende Ursache für die Gesamtverfahrensdauer darin bestand, dass die Frau des Bf. fortwährend Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit ihres Mannes hegte. Zwar habe das Gericht jene zweifelsfrei feststellen müssen, jedoch sei es deshalb nicht befreit von der Pflicht, dies so schnell wie möglich zu tun. Obwohl mehrere Gutachter zum Ergebnis gekommen seien, dass der Bf. gesund ist, sei bis zum Abschluss der Verfahren die Frage nach seinem psychischen Zustand diskutiert worden. Die persönliche Situation des Bf. sei für diesen sehr belastend gewesen, da er neun Jahre lang mit den ständigen Vorwürfen leben musste, geistig nicht zurechnungsfähig zu sein. Dies habe die menschliche Würde des Bf. erheblich verletzt. Insgesamt erachtet der EGMR eine Verfahrensdauer von mehr als neun Jahren für unangemessen. Zwar trügen auch die Parteien einen Teil der Verantwortung hierfür, jedoch seien die Gerichte hauptsächlich verantwortlich. Er kommt demnach einstimmig zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden ist. Kapitel 3

Von „Süßmann“ bis „Gast und Popp“ – Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht I. Süßmann gegen Deutschland – ein Novum: Verfahrensdauer allein vor dem Bundesverfassungsgericht 1. Sachverhalt Der 1916 geborene Bf. befindet sich seit 1980 im Ruhestand. Neben seiner Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht er als ehemaliger Angestellter des öffentlichen Dienstes eine Zusatzrente der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL). Am 30. April und am 31. Mai 1985 nahm die VBL eine Neuberechnung der Rente des Bf. vor, die zu einer Kürzung führte. Grundlage der Neuberechnung waren Änderungen der Satzung für den Bezug der Zusatzrenten im März 1982 und März 1984, die von den Tarifvertragsparteien vereinbart worden waren. Die Satzungsänderungen erfassten auch Personen, die bereits Altersrenten bezogen und sollten verhindern, dass die Gesamtversorgung aus gesetzlicher Rentenversicherung und Zusatzversorgung die Netto-

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

arbeitsentgelte der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst überschritten. Die Rechtmäßigkeit der Satzungsänderung wurde in mehreren Grundsatzurteilen des BGH am 16. März 1988 bestätigt.41 Der Bf. rief gegen die Kürzung seiner Rentenbezüge die Schiedsgerichte der VBL an, wobei er insbesondere geltend machte, dass die vorgenommenen Satzungsänderungen ungesetzlich seien. Am 20. Februar 1987 wies das Schiedsgericht die Klage ab. Die Berufung des Bf. gegen diese Entscheidung wurde am 10. März 1989 vom Oberschiedsgericht der VBL mit der Begründung abgewiesen, die sich aus der Satzungsänderung ergebende Kürzung der Zusatzrente sei rechtmäßig. Am 11. Juli 1988 erhob der Bf. Verfassungsbeschwerde gegen die Satzungsänderungen der VBL von 1982 und 1984. Am 4. April 1989 erstreckte er seine Beschwerde auch auf den Schiedsspruch des Oberschiedsgerichts vom 10. März 1989. Die Verfassungsbeschwerde wurde zwar im Hinblick auf die behauptete Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren und die Verletzung des Eigentumsrechts für zulässig befunden,42 aber mit Kammerbeschluss vom 6. November 1991 mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen. Der Kammerbeschluss wurde dem Bf. am 5. Dezember 1991 zugestellt. Innerhalb von zwei Jahren nach Einlegung der Beschwerde im Juli 1988 hatte die für die Beschwerde zuständige 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG über 24 Fälle zu entscheiden, welche die Vereinbarkeit der neuen Satzungen der VBL mit dem Grundgesetz zum Gegenstand hatten. Der Bf. legte am 21. Mai 1992 Beschwerde bei der KOM ein und rügte insbesondere die Dauer des Verfahrens vor dem BVerfG. Die KOM entschied über die Beschwerde am 8. September 1993 und am 30. August 1994 und erklärte sie in Bezug auf die gerügte Verfahrensdauer vor dem BVerfG für zulässig. In ihrem Bericht vom 12. April 1995 (Art. 31 EMRK a. F.) stellte sie einstimmig eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK fest. 2. Urteil des EGMR vom 16. September 1996 In einem ersten Schritt überprüft der EGMR die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK und setzt sich mit den von der Regierung vorgebrachten Argumenten auseinander. Diese ist der Ansicht, das BVerfG sei kein ordentliches Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK, seine Rolle in Deutschland sei vielmehr der Rolle des EGMR in Europa vergleichbar. Als oberster Hüter der Verfassung sei es seine Aufgabe, die Beachtung des objektiven Verfassungsrechts zu kontrollieren und nicht „über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ 41

Bspw. BGH, Urteil v. 16. März 1988, MDR 1988, 761. Insbesondere befand das BVerfG, die Einlegung weiterer Rechtsmittel sei im Hinblick auf das Gebot der Rechtswegerschöpfung nicht erforderlich gewesen, da der BGH in letzter Instanz über die Rechtmäßigkeit der Satzungsänderungen in seinen Grundsatzurteilen vom 16. März 1988 entschieden habe. 42

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Einzelner zu entscheiden. Daher könne Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ein bundesverfassungsgerichtliches Verfahren keine Anwendung finden. Im Übrigen werde im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens in besonderer Art und Weise vorgegangen: Auch wenn solche Beschwerden – insbesondere im Falle ihrer Unzulässigkeit oder mangelnder Erfolgsaussicht – in der Regel binnen kurzer Zeit beschieden würden, könne es deshalb zu Verzögerungen kommen, weil zum einen häufig ähnliche Beschwerden zusammengefasst, zum anderen teilweise auch wichtigere Fälle vorgezogen würden, was schon angesichts der Arbeitsüberlastung des BVerfG unumgänglich sei. Die KOM ihrerseits war zu dem Schluss gelangt, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegend anwendbar sei, da ein Staat, der eine Verfassungsgerichtsbarkeit errichtet habe, verpflichtet sei, die Einhaltung der in Art. 6 EMRK enthaltenen Garantien auch vor diesen Gerichten zu gewährleisten. Der EGMR geht auf diese verschiedenen Argumentationslinien ausführlich ein und betont, dass er die besondere Rolle und Stellung eines Verfassungsgerichts, dessen Aufgabe es sei, für die Achtung der Verfassung durch Legislative, Exekutive und Judikative Sorge zu tragen, keineswegs verkenne. Er anerkenne auch die Tatsache, dass in denjenigen Staaten, die ein solches Individualbeschwerderecht vor einem Verfassungsgericht eingeführt haben, den Bürgern auf innerstaatlicher Ebene ein zusätzlicher Schutz ihrer von der Verfassung garantierten Grundrechte gewährt wird. Unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung43 hebt er gleichwohl hervor, die Einbeziehung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens bei der Überprüfung der Angemessenheit einer Gesamtverfahrensdauer hänge davon ab, ob das Ergebnis dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens den Ausgang des Rechtsstreits vor den ordentlichen Gerichten beeinflussen kann.44 Der vorliegende Fall unterscheidet sich indes von früheren Fallgestaltungen, da er lediglich die Dauer eines vor einem Verfassungsgericht geführten Verfahrens betrifft. Das Verfahren vor dem BVerfG war hier keine „Fortführung“ des Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten. Vielmehr konnte der Bf. unmittelbar das BVerfG anrufen, ohne zuvor Klage bei den Zivilgerichten erheben zu müssen, weil der BGH bereits zuvor in einer Reihe von Grundsatzurteilen die Rechtsgültigkeit der Satzungsänderungen bestätigt hatte. Der EGMR weist da43 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Série A Nr. 100, S. 26, Ziff. 77 = EuGRZ 1988, 28; Bock ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 11118/84, Urt. v. 29. März 1989, Série A Nr. 150, S. 18, Ziff. 37; sowie RuizMateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 14324/88, Urt. v. 23. Juni 1993, Série A Nr. 262, S. 19, Ziff. 35 = EuGRZ 1993, 454. 44 Achtung: Die deutsche Übersetzung in der EuGRZ 1996, 518 ist hier fehlerhaft, Ziff. 39 wird unzutreffend übersetzt. Fälschlicherweise heißt es dort „. . . ob die Angemessenheit der Gesamtdauer des Verfahrens bei einem Verfahren vor einem Verfassungsgericht zu berücksichtigen ist, . . .“. Richtig ist die obige spiegelbildliche Formulierung.

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rauf hin, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auch für ein Verfahren, welches ausschließlich vor einem Verfassungsgericht geführt wird, maßgebend ist, wenn sein Ausgang für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen ausschlaggebend ist.45 Da der Rechtsstreit über die Höhe der Rente des Bf. vermögensrechtlicher Natur war, „zweifelsohne einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinne von Art. 6“ betroffen habe,46 und dem Bf. infolge der ergangenen Grundsatzurteile des BGH keine andere Möglichkeit verblieb als Verfassungsbeschwerde zu erheben, habe sich das Verfahren vor dem BVerfG auf einen Rechtsstreit über einen zivilrechtlichen Anspruch bezogen. Der EGMR stellt fest, dass sich das BVerfG im Fall einer erfolgreichen Beschwerde nicht darauf beschränkt, auf die verletzte Bestimmung hinzuweisen, sondern die angefochtene Entscheidung aufhebt oder das in Frage stehende Gesetz für nichtig erklärt (§ 95 BVerfGG). Demzufolge hätte die Entscheidung des BVerfG im vorliegenden Fall – sofern es die Satzungsregelungen für verfassungswidrig befunden und die angefochtenen Entscheidungen aufgehoben hätte – zu einer Wiedereinsetzung des Bf. in den vorherigen Stand im Rahmen des zivilgerichtlichen Verfahrens geführt, aufgrund derer er die ursprüngliche Zusatzrente in voller Höhe erhalten hätte. Aus diesem Grund erachtet der EGMR das Verfahren vor dem BVerfG für unmittelbar entscheidend für den zivilrechtlichen Anspruch des Bf. Zwar habe die mit drei Richtern besetzte 2. Kammer des Ersten Senats die Beschwerde des Bf. im Rahmen des Annahmeverfahrens gem. §§ 93a und 93b BVerfGG47 nicht zur Entscheidung angenommen; sie habe sich aber dennoch in der Begründung dieser Entscheidung mit den Argumenten des Bf. auseinandergesetzt. Unter diesen Umständen bejaht der EGMR einstimmig die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das vorliegende Verfahren. Was die Ermittlung des relevanten Zeitraumes angeht, so stellt der EGMR fest, dass sich dieser auf das verfassungsgerichtliche Verfahren beschränkt, demzufolge am 11. Juli 1988 begann und am 5. Dezember 1991 mit der Zustellung der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde endete. Das Verfahren dauerte somit drei Jahre, vier Monate und drei Wochen. In Übereinstimmung mit seiner ständigen Rechtsprechung prüft der EGMR nun die Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand der bekannten Kriterien. Die Entscheidung sei zwar lediglich in einem summarischen Verfahren ergangen; dennoch hält der EGMR das Verfahren in einigen Aspekten für kompliziert, was sich auch daran zeige, dass 24 Verfassungsbeschwerden ähnlicher Art 45 Kraska ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 13942/88, Urt. v. 19. April 1993, Série A Nr. 254-B, S. 48, Ziff. 26. 46 Verweis auf die Urteile Schuler-Zgraggen ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 14518/89, Urt. v. 24. Juni 1993, Série A Nr. 262, S. 17, Ziff. 46; sowie Massa ./. Italien, Beschwerde Nr. 14399/88, Urt. v. 24. August 1993, Série A Nr. 265-B, S. 20, Ziff. 26. 47 In der Fassung von 1985.

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zur selben Zeit anhängig waren.48 Der Bf. hat nach Auffassung aller Verfahrensbeteiligten zu einer Verzögerung keinerlei Anlass gegeben. In Bezug auf das Verhalten des BVerfG weist der EGMR zunächst darauf hin, dass „Art. 6 Abs. 1 die Vertragsstaaten verpflichtet, ihr Gerichtswesen so zu organisieren, dass ihre Gerichte jeder seiner Anforderungen, einschließlich der Einhaltung einer angemessenen Frist, gerecht werden können.49 Selbst wenn diese Verpflichtung auch für ein Verfassungsgerichts gilt, so darf insoweit jedoch nicht der gleiche Maßstab angewandt werden wie für ein Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Aufgrund seiner Rolle als Hüter der Verfassung ist es für ein Verfassungsgericht in besonderem Maße geboten, bisweilen andere Umstände zu berücksichtigen als die chronologische Reihenfolge der Eintragung in das Gerichtsregister, beispielsweise die Natur der Sache und ihre politische und soziale Bedeutung. [. . .] Es erscheint ebenfalls vernünftig, dass das BVerfG die 24 bei ihm anhängigen Fälle zusammengefasst hat, um sich einen Gesamtüberblick über die durch die Kürzung der Versorgungsrenten von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes aufgeworfenen Rechtsfragen zu verschaffen. Zudem wurden diese Beschwerden gleichzeitig mit denen ehemaliger Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes der früheren DDR erhoben, mit denen eine Regelung des Einigungsvertrages, welche die Arbeitsverhältnisse von 300.000 Arbeitnehmern beendete, angefochten wurde. [. . .] Gleichwohl war das BVerfG in dem einzigartigen politischen Zusammenhang der deutschen Vereinigung und angesichts des ernstzunehmenden sozialpolitischen Hintergrunds von Rechtsstreitigkeiten, welche die Beendigung von Arbeitsverhältnissen betrafen, berechtigt zu entscheiden, dass es diese Sachen vorrangig behandeln müsse.“ 50

Die Bedeutung des Rechtsstreits für den Bf. als letztes zu prüfendes Kriterium hält der EGMR für zweifelsohne gegeben. Allerdings geht diese Bedeutung nach seiner Ansicht nicht so weit, dass das angerufene Gericht die Sache als besonders vordringlich hätte behandeln müssen. Er kommt „im Lichte aller 48 Hiergegen wendet sich der Richter Bonnici in seiner abweichenden Ansicht. Seiner Meinung nach schließt die Beurteilung des BVerfG, die Verfassungsbeschwerde mangels verfassungsrechtlicher Relevanz nicht zur Entscheidung anzunehmen, es logisch aus, die Beschwerde gleichzeitig als kompliziert einzustufen. 49 Der EGMR verweist hier auf das Urteil in der Sache Muti ./. Italien, Beschwerde Nr. 14146/88, Urt. v. 23. März 1994, Série A Nr. 281-C, S. 37, Ziff. 15. 50 Gegen diese Begründung wendet sich ebenfalls die abweichende Meinung des Richters Bonnici. Die Argumentation hinsichtlich der Arbeitsüberlastung hält er nicht für tragfähig. Der Einigungsvertrag sei erst zwei Jahre und drei Monate nach der Einlegung der Verfassungsbeschwerde des Bf. unterzeichnet worden. Zu diesem Zeitpunkt seien auch schon alle übrigen 24 Parallelbeschwerden anhängig gewesen. Außerdem hätte die Verfassungsbeschwerde einen Rentenanspruch betroffen, der schon seiner Natur nach eine unverzügliche Prüfung erfordert hätte. Unter Hinweis auf das hohe Lebensalter des Bf. hält auch der Richter Casadevall in seiner abweichenden Meinung die angemessene Verfahrensdauer für überschritten. Dieser Umstand würde ein besonderes Interesse des Bf. an einer schnelleren Entscheidung begründen.

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Umstände des Falles“ mit 14 Stimmen gegen sechs51 zu dem Ergebnis, dass vorliegend die angemessene Frist nicht überschritten und damit Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht verletzt wurde. II. Pammel gegen Deutschland – Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Normenkontrollverfahren? 1. Sachverhalt Der Bf. hatte im Jahr 1971 ein 85.457 m2 großes Grundstück geerbt, welches im Jahr 1949 für Kleingartenzwecke an die Stadt Höxter verpachtet worden war. Der ursprüngliche Pachtvertrag lief bis zum 30. September 1958, wurde aber durch Zusatzvereinbarung bis zum 30. September 1978 verlängert. Seit dem 1. Oktober 1955 betrug der Pachtzins je m2 0,04 DM pro Jahr. Die Stadt Höxter hat das Gelände an den Kleingartenverein Höxter verpachtet; dieser hat seinerseits an Einzelpächter unterverpachtet. Die Landesregierung hat den Pachtzins ab dem 1. Januar 1977 auf 0,08 DM je m2 pro Jahr festgesetzt. Daraufhin erhob der Bf. am 18. September 1978 beim VG Minden Anfechtungsklage und stellte den Antrag, dem BVerfG die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der den Pachtzins regelnden Kleingartenverordnung (KleingartenVO) von 1919 vorzulegen. Am 31. Januar 1980 legte das VG die Sache gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vor. Nachdem am 15. Mai 1985 das BVerfG das VG zur Überprüfung seines Vorlagebeschlusses aufgefordert hatte, nahm dieses seinen Antrag auf Prüfung der Vorlage zurück und wies die Klage ab. Auf die Berufung des Bf. hin erklärte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster das Urteil des VG am 16. Mai 1988 für wirkungslos und die streitige Festsetzung des Pachtzinses für nichtig. Parallel ging der Bf. zivilrechtlich gegen die Stadt Höxter und den Kleingartenverein vor, nachdem mehrere außergerichtliche Kündigungen ab dem 16. März 1976 keine Wirkung gezeigt hatten. Er klagte am 23. Mai 1980 vor dem LG Paderborn auf Räumung. Am 14. August 1980 wurde das Verfahren im Hinblick auf einen Beschluss des BVerfG, in welchem die Verfassungswidrigkeit bestimmter kleingartenrechtlicher Kündigungsvorschriften festgestellt 51 Gleicher Meinung wie der Richter Bonnici waren die Richter Foighel und Lõhmus. Auch sie sind angesichts des Alters des Bf. und der Dauer des Verfahrens über die Nichtannahme der Beschwerde der Auffassung, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt wurde. Die Richter Jambrek und Pettiti halten eine Verletzung ebenfalls für gegeben. Ein Verfahren, das mit einem Nichtannahmebeschluss endet, dürfe – selbst bei detaillierter Prüfung – nicht drei Jahre und fünf Monate dauern. In dieselbe Richtung geht die Begründung der abweichenden Meinung des Richters Casadevall, die ebenfalls bereits erwähnt wurde.

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worden war, ausgesetzt. Die Wiederaufnahme erfolgte am 17. März 1983, nachdem ein novelliertes Bundeskleingartengesetz (BKleingG) in Kraft getreten war. Vom 6. Juni 1983 bis zum 20. August 1985 ließ das LG das Verfahren mit der Begründung ruhen, die Stadt Höxter beabsichtige den Erlass eines Bebauungsplanes, in welchem das in Frage stehende Grundstück als Fläche für Dauerkleingärten vorgesehen sei (vgl. § 16 Abs. 4 BKleingG). Am 7. November 1985 wurde der Klage des Bf. teilweise stattgegeben. Danach sollte das Grundstück nicht umgehend, sondern zum 31. März 1987 herausgegeben werden. Im Übrigen vertrat das Gericht die Auffassung, die Bestimmung sei mit Art. 14 GG vereinbar und lehnte den Antrag auf Vorlage zum BVerfG ab. Gegen dieses Urteil legten alle Verfahrensbeteiligten Berufung ein. Am 26. Juni 1987 legte das OLG die Sache gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vor. Zuvor hatte der BGH dem BVerfG die in der Sache Probstmeier52 aufgeworfene Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des BKleingG vorgelegt, woraufhin beide Sachen verbunden wurden. Am 16. November 1990 teilte das BVerfG dem Bf. mit, aufgrund seiner im Zuge der deutschen Einigung angestiegenen Arbeitsbelastung werde eine Entscheidung nicht vor 1991 ergehen. Am 23. September 1992 entschied der Erste Senat des BVerfG durch Beschluss, dass die fraglichen Normen des BKleingG zwar verfassungsmäßig seien, jedoch einer verfassungskonformen Auslegung bedürften. § 5 Abs. 1 S. 1 BKleingG dagegen, der die Begrenzung des Pachtzinses vorsah, wurde als mit Art. 14 GG unvereinbar erklärt. Der Bf. hatte bereits am 15. August 1990 bei der KOM unter Berufung auf Art. 6 Abs. 1 EMRK Beschwerde eingelegt und die Dauer des Verfahrens gerügt. Am 10. Januar 1995 erklärte die KOM die Beschwerde für zulässig und stellte in ihrem Bericht vom 25. Januar 1996 einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest. 2. Urteil des EGMR vom 1. Juli 1997 Der EGMR setzt sich zunächst ausführlich mit der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auseinander, welche nach Auffassung der Regierung aufgrund der im Zuge eines Vorlageverfahrens ausgeübten objektiven Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu verneinen ist. Der EGMR verweist diesbezüglich auf seine ständige Rechtsprechung zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ein Verfahren vor einem Verfassungsgericht,53 wonach das einschlä-

52 Vgl. Urteil Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997 = EuGRZ 1997, 405 ff; nächstes Urteil in der Entscheidungssammlung. 53 Ruiz-Mateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 14324/88, Urt. v. 23. Juni 1993, Série A Nr. 262, S. 19, Ziff. 35 = EuGRZ 1993, 454; sowie das oben wiedergegebene Urteil im Fall Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996 = EuGRZ 1996, 514.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

gige Kriterium darin besteht, ob das Ergebnis dieses Verfahrens den Ausgang des Rechtsstreits vor den ordentlichen Gerichten beeinflussen kann. Der vorliegende Fall betrifft wie der Fall Süßmann lediglich die Dauer eines Verfahrens vor dem BVerfG. Ein Unterschied besteht indes insofern, als der Fall Süßmann eine Verfassungsbeschwerde betraf, während dem vorliegenden Fall ein Vorlageverfahren zugrunde liegt. Der EGMR vertritt die Auffassung, dass der Kündigungsrechtsstreit vor den Zivilgerichten das Eigentumsrecht des Bf. betroffen habe, welches zivilrechtlichen Charakter im Sinne des Art. 6 EMRK habe.54 Die aus der Vorlage des OLG resultierende anschließende Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit des BKleingG sei demnach unmittelbar ausschlaggebend für den zivilrechtlichen Anspruch des Bf. und eng mit den Verfahren vor den Zivilgerichten verknüpft gewesen. Aus diesem Grunde bejaht der EGMR einstimmig die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das vorliegende Verfahren. Der zu berücksichtigende Zeitraum erstreckt sich demzufolge vom 26. Juni 1987 bis zum 23. September 1992 und umfasst damit fünf Jahre und fast drei Monate. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer überprüft der EGMR wiederum anhand der bekannten Kriterien. Er bejaht die Komplexität der Sache, wohingegen das Verhalten des Bf. zu keinerlei Verzögerung beigetragen habe. Was das Verhalten des BVerfG angeht, so betont der EGMR zunächst entsprechend seiner mittlerweile ständigen Rechtsprechung, „dass Art. 6 Abs. 1 die Vertragsstaaten verpflichtet, ihr Gerichtswesen so zu organisieren, dass ihre Gerichte jeder seiner Anforderungen einschließlich der Verpflichtung, innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, gerecht werden können“. Diese Verpflichtung könne zwar für ein Verfassungsgericht nicht in derselben Weise ausgelegt werden wie für die ordentliche Gerichtsbarkeit. Der EGMR habe freilich „als letzte Instanz“ die Beachtung dieser Konventionsbestimmung anhand der besonderen Umstände jedes Falles zu prüfen. Ein Staat sei zwar für eine zeitweilige Überlastung seiner Gerichtsbarkeit nicht verantwortlich, wenn er zügig geeignete Abhilfemaßnahmen trifft; eine chronische Arbeitsüberlastung, wie sie seit Ende der siebziger Jahre beim BVerfG besteht, könne indes eine überlange Verfahrensdauer nicht rechtfertigen. Im Gegensatz zur Situation im Fall Süßmann lässt sich diese Überlänge nach Ansicht des EGMR auch nicht mit der deutschen Wiedervereinigung entschuldigen. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 war nämlich die Sache Pammel bereits seit mehr als drei Jahren beim BVerfG anhängig, so dass ein Zusammenhang zwischen der deutschen Wiedervereinigung und der Verfahrensdauer nicht ersichtlich sei. Aus diesen Gründen kommt der EGMR trotz der zweifelsohne zu bejahenden Komplexität der Sache 54 Zander ./. Schweden, Beschwerde Nr. 14282/88, Urteil vom 25. Oktober 1993, Série A Nr. 279-B, S. 40, Ziff. 27 = EuGRZ 1995, 536.

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einstimmig zu dem Ergebnis, dass die in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte angemessene Frist überschritten und diese Vorschrift mithin verletzt wurde. III. Probstmeier gegen Deutschland – Parallelentscheidung zum Fall Pammel 1. Sachverhalt Wie im zuvor dargestellten Fall Pammel ist die Bf. Eigentümerin eines Grundstücks, welches vertraglich für Kleingartenzwecke an einen Kleingartenverein verpachtet worden war. Dieser hat seinerseits an Einzelpächter unterverpachtet. Auch hier klagte die Bf. am 20. Februar 1978 auf Räumung des Grundstücks, worauf die Klage abgewiesen wurde. Das mit der Berufung befasste OLG setzte das Verfahren im Hinblick auf die anstehende Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der KleingartenVO aus. Im Anschluss an den Beschluss des BVerfG vom 12. Juni 1979, in welchem die Verfassungswidrigkeit bestimmter kleingartenrechtlicher Kündigungsvorschriften für Pachtverträge festgestellt worden war, setzte das OLG das Verfahren erneut aus, um das Inkrafttreten des neuen BKleingG abzuwarten. Nachdem dieses am 1. April 1983 in Kraft getreten war, wies das OLG die Berufung zurück. Am 24. Mai 1985 beschloss der mit der Revision befasste BGH die Aussetzung des Verfahrens sowie eine Vorlage zum BVerfG mit der Frage, ob § 16 BKleingG mit Art. 14 GG vereinbar ist. Das BVerfG verband diese Vorlage mit dem oben dargestellten Parallelverfahren Pammel. Am 23. September 1992 entschied der Erste Senat des BVerfG durch Beschluss, dass die fraglichen Normen des BKleingG zwar verfassungsmäßig seien, aber einer verfassungskonformen Auslegung bedürften. § 5 Abs. 1 S. 1 BKleingG dagegen wurde als mit Art. 14 GG unvereinbar erklärt. Im Anschluss hieran wies der BGH die Revision zurück. Am 9. Juni 1992 erhob die Bf. Beschwerde bei der KOM, mit der sie die Verfahrensdauer vor dem BVerfG rügte. Die KOM erklärte die Beschwerde für zulässig und bejahte in ihrem Bericht vom 25. Januar 1996 einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. 2. Urteil des EGMR vom 1. Juli 1997 Die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK bejahte der EGMR einstimmig mit der dem Fall Pammel entsprechenden Argumentation. Der zu berücksichtigende Zeitraum, der auch hier lediglich das Verfahren vor dem BVerfG betrifft, erstreckt sich vom 24. Mai 1985 bis zum 23. September 1992 und dauerte damit sieben Jahre und vier Monate. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer überprüft der EGMR wie gewohnt anhand der Kriterien Komplexität sowie Verhalten des Bf. und der zuständigen

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Behörden. Wie im Fall Pammel beurteilt der EGMR die Sache als kompliziert, macht indes die Bf. für keinerlei Verzögerungen verantwortlich. Was das Verhalten des BVerfG angeht, so weist der EGMR wiederum auf die Pflicht der Konventionsstaaten hin, ihr Gerichtswesen so zu organisieren, dass den Anforderungen des Art. 6 EMRK entsprochen werden kann. Im Ergebnis genügt ihm auch in diesem Fall eine chronische Arbeitsüberlastung nicht als Rechtfertigungsgrund für eine überlange Verfahrensdauer. Die vorliegende Sache war mehr als sieben Jahre beim BVerfG anhängig. Wie auch im Fall Pammel misst der EGMR der deutschen Wiedervereinigung im Gegensatz zum Fall Süßmann keine entscheidende Bedeutung zu: Die Sache Probstmeier war nämlich zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Einigungsvertrages bereits seit mehr als fünf Jahren beim BVerfG anhängig. Daher kommt der EGMR einstimmig zu dem Schluss, dass trotz der Komplexität der Sache die Dauer des Verfahrens den in Art. 6 Abs. 1 EMRK normierten Voraussetzungen nicht genügt und deshalb eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bejahen ist.

IV. Osteo Deutschland GmbH gegen Deutschland – Abschluss durch Rücknahme der Beschwerde (Art. 37 Abs. 1 EMRK; Art. 44 Abs. 3 VerfO) 1. Sachverhalt Am 21. Januar 1988 beantragte die beschwerdeführende Gesellschaft beim Bundesgesundheitsamt eine Genehmigung zur Herstellung eines knochenersetzenden Präparats zu medizinischen Zwecken entsprechend dem Arzneimittelgesetz (AMG). Da keine Entscheidung über diesen Antrag erging, erhob die Bf. im Juli 1991 Klage beim VG Berlin wegen Untätigbleibens des Bundesgesundheitsamtes. Am 13. Dezember 1991 forderte das VG die Beklagte auf, über den Antrag zu entscheiden. Die Bf. erhob am 4. Dezember 1992 beim LG Berlin Klage gegen das Bundesgesundheitsamt auf Zahlung von Schadensersatz wegen ihrer aus der Nichtbescheidung resultierenden Verdienstausfälle. Am 16. Dezember 1992 stellte die Bf. beim VG den Antrag, Vollstreckungsmaßnahmen in Bezug auf die Entscheidung vom 13. Dezember 1991 zu ergreifen, worauf das VG der Beklagten eine Frist zur Antragsbescheidung setzte. Am 18. März 1993 setzte das LG das Verfahren aus, um die Entscheidung des Bundesgesundheitsamtes abzuwarten, die seiner Ansicht nach für den Ausgang des Schadensersatzprozesses entscheidend war. Am 26. November 1993 wies das Kammergericht (KG) Berlin die Beschwerde der Bf. gegen den Aussetzungsbeschluss vom 18. März zurück mit der Begründung, die Entscheidung über die Schadensersatzklage hänge davon

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ab, ob die Genehmigung erteilt werde, wenn auch das Bundesgesundheitsamt seine Pflicht zur raschen Antragsbescheidung vernachlässigt habe. Am 29. Dezember 1993 erhob die Bf. Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung. Am 2. März 1995 teilte das BVerfG auf Nachfrage der Bf. mit, dass noch kein Termin bezüglich der Beschwerde vom Dezember 1993 festgesetzt worden sei. Am 12. April 1996 lehnte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, die Nachfolgeinstitution des Bundesgesundheitsamtes, den Genehmigungsantrag der Bf. ab. Das Institut begründete seine Entscheidung damit, dass es die Bf. in seinem Bericht vom 13. Juli 1995 auf Mängel im Genehmigungsantrag hingewiesen habe. Hiergegen legte die Bf. am 8. Mai 1996 Widerspruch ein. Am 31. Oktober 1996 lehnte das BVerfG die Annahme der Verfassungsbeschwerde ab. Bereits am 28. Februar 1996 hatte die Bf. ein Zertifikat nach dem Medizinproduktegesetz von 1994 erhalten und darf seither ihr Produkt in Deutschland vertreiben. Am 25. Juni 1998 wies das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte den Widerspruch der Bf. gegen die Entscheidung vom 12. April 1996 zurück, was damit begründet wurde, dass das in Frage stehende Produkt ein medizinisches Produkt im Sinne des Medizinproduktegesetzes sei, für das eine Genehmigung nach dem AMG ab dem 14. Juni 1998 nicht mehr zulässig sei. Die Bf. hatte am 14. März 1995 die KOM angerufen und eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund der Länge der Schadensersatzprozesse geltend gemacht. Die KOM erklärte die Beschwerde für zulässig und bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.55 2. Urteil des EGMR vom 3. November 1999 Am 12. Mai 1999 setzte der Anwalt der Bf. den EGMR darüber in Kenntnis, dass die Muttergesellschaft der Bf. inzwischen verkauft worden sei und der neue Eigentümer die Anweisung gegeben habe, das Verfahren vor diesem Gerichtshof zu beenden. Aus diesem Grunde wurde die Beschwerde zurückgenommen. Der EGMR verweist in diesem Zusammenhang auf Art. 37 Abs. 1 EMRK56 und 55 Die KOM stellte eine Verfahrensdauer vor dem LG Berlin von mindestens fünf Jahren und neun Monaten fest. Anhand der bekannten Kriterien (Komplexität des Falles, Verhalten der Parteien und der zuständigen Behörden) bejahte die KOM einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Zwar hielt sie den Fall für durchaus schwierig, lastete aber dem LG an, 51/2 Jahre untätig geblieben zu sein, was auch die Regierung nicht überzeugend entkräften konnte. 56 Art. 37 Abs. 1 EMRK lautet in seinem hier relevanten Teil wie folgt: The Court may at any stage of proceedings decide to strike an application out of its list of cases where the circumstances lead to the conclusion that the applicant does not intend to pursue his application; (. . .).

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

kommt zu dem Schluss, dass die Bf. ihre Beschwerde gem. Art. 37 Abs. 1 a) EMRK nicht weiterverfolgen will. Angesichts der Tatsache, dass der Fall eine Beschwerde wegen behaupteter Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund der Dauer eines Zivilverfahrens betrifft, also eine Frage, zu welcher der EGMR schon oft genug seine Stellungnahme abgeben konnte, besteht nach Auffassung des Gerichtshofs kein öffentliches Interesse, das Verfahren dennoch fortzusetzen (Art. 37 Abs. 1 a. E.57). Dementsprechend beschließt der EGMR einstimmig, den Fall aus dem Register zu streichen, was gem. Art. 44 Abs. 3 VerfO durch Urteil geschieht. V. Gast und Popp gegen Deutschland – Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils auf Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht? 1. Sachverhalt Der vorliegenden Beschwerde liegen Strafverfahren wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Tätigkeit zweier Bf. zugrunde. Das Strafverfahren gegen die erste Bf. wurde im Jahr 1990 eingeleitet. Sie wurde am 30. September 1990 verhaftet und am 1. Oktober 1990 in Untersuchungshaft genommen. Das OLG München verurteilte sie am 19. Oktober 1991 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit für die damalige DDR gem. § 99 Abs. 1 S. 1 StGB zu sechs Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe nebst Entziehung des aktiven und passiven Wahlrechts für die Dauer von vier Jahren. Am 24. Juni 1992 wies der BGH die Revision der Bf. zurück. Am 24. Februar 1994 wurde sie nach Verbüßung der Hälfte ihrer Freiheitsstrafe entlassen. Gegen den zweiten Bf. wurde im April 1990 ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Spionage eingeleitet. Am 14. Mai 1990 wurde er in Untersuchungshaft genommen. Das OLG Düsseldorf verurteilte ihn am 23. Dezember 1991 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit für die damalige DDR gem. § 99 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 StGB zu sechs Jahren Freiheitsstrafe nebst Entziehung des aktiven und passiven Wahlrechts für die Dauer von vier Jahren. Am 22. Juli 1992 wies der BGH auch die Revision des Bf. zurück. Am 11. Mai 1994 wurde er nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Freiheitsstrafe entlassen. Die Bf. hatten am 18. Juli beziehungsweise 14. August 1992 Verfassungsbeschwerde eingelegt. Dem BVerfG lagen zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Verfassungsbeschwerden dieser Art vor. Es musste auf Grund einer Vorlage des KG Berlin darüber befinden, ob allgemeine Regeln des Völkerrechts als Be57 Danach setzt der EGMR die Prüfung fort, wenn die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, dies erfordert.

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standteil des Bundesrechts (Art. 25 GG) eine strafrechtliche Verfolgung von geheimdienstlicher Tätigkeit, welche für einen Staat auf dessen Gebiet begangen worden ist, der später Teil des verletzten Staates geworden ist, verbieten. Die Verfahren der Bf. und anderer ähnlich gelagerter Fälle wurden zusammengefasst und zurückgestellt, da der Zweite Senat des BVerfG beabsichtigte, eine Leitentscheidung zu erlassen. 1993 ging eine weitere Verfassungsbeschwerde ein. Am 23. März 1994 forderte der Zweite Senat ein völkerrechtliches Gutachten an, welches am 11. Juli 1994 einging. Nachdem der Senat am 15. Mai 1995 die angekündigte Leitentscheidung58 erlassen hatte, lehnte die Zweite Kammer des Zweiten Senats des BVerfG am 23. Mai 1995 die Annahme der Verfassungsbeschwerden der beiden Bf. gem. §§ 93a und 93b BVerfGG ab. Den Bf. gingen diese ablehnenden Entscheidungen am 9. Juni 1995 beziehungsweise 3. Juni 1995 zu. Am 1. Mai 1995 hatten sich die Bf. an die KOM gewandt und die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen der Verfahrensdauer vor dem BVerfG gerügt. Die KOM äußerte in ihrem Bericht vom 28. Mai 1998 mit 20 gegen 11 Stimmen die Auffassung, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei nicht verletzt worden. 2. Urteil des EGMR vom 25. Februar 2000 Dem EGMR stellt sich hier bereits im Rahmen der Anwendbarkeit die Frage, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils auf Verfahren vor dem BVerfG anwendbar ist. Er erinnert diesbezüglich daran, dass es nach seiner ständigen Rechtsprechung für die Entscheidung, ob Verfahren vor Verfassungsgerichten bei der Beurteilung der Angemessenheit der Frist berücksichtigt werden müssen, darauf ankomme, ob das Ergebnis dieses Verfahrens für den Ausgang des Rechtsstreits vor den ordentlichen Gerichten entscheidend sein kann.59 Vorliegend bezog sich das Verfahren vor dem BVerfG nach Auffassung des EGMR unmittelbar auf die Frage, ob die Anklage wegen geheimdienstlicher Tätigkeit begründet war. Im Falle des Erfolgs einer Verfassungsbeschwerde stelle das BVerfG nämlich nicht nur die Verletzung einer Bestimmung des Grundgesetzes fest, sondern hebe vielmehr die angefochtene Entscheidung auf und verweise die Sache an das zuständige Gericht zurück. Im Falle einer erfolgreichen Gesetzesverfassungsbeschwerde erkläre es das Gesetz für nichtig mit der Folge, dass die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zulässig ist. 58 Beschl. v. 15. Mai 1995, 2 BvL 19/91 = BVerfGE 92, 277 = EuGRZ 1995, 203 ff. 59 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Série A Nr. 100, S. 26, Ziff. 77 = EuGRZ 1988, 28; Bock ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 11118/84, Urt. v. 29. März 1989, Série A Nr. 150, S. 18, Ziff. 37; sowie RuizMateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 14324/88, Urt. v. 23. Juni 1993, Série A Nr. 262, S. 19, Ziff. 35 = EuGRZ 1993, 454.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Die gegen Verurteilungen nach der Wiedervereinigung wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit oder Landesverrats gerichteten Verfahren vor dem BVerfG stellten nach Auffassung des EGMR einen weiteren Abschnitt innerhalb der jeweiligen Strafverfahren dar, und ihr Ergebnis konnte für die verurteilten Personen entscheidend sein. Zwar habe das BVerfG hier die Annahme der Verfassungsbeschwerden im Annahmeverfahren abgelehnt, es habe aber dennoch alle erheblichen Erwägungen geprüft und über ihre Begründetheit in einer Leitentscheidung vom 15. Mai 1995 entschieden. Auf diese Leitentscheidung hat das BVerfG in den vorliegenden Verfahren ausdrücklich Bezug genommen. Aus diesen Gründen bejaht der EGMR die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die beiden streitigen Verfahren. Der entscheidungserhebliche Zeitraum vor dem BVerfG begann nach seinen Feststellungen am 18. Juli beziehungsweise 14. August 1992 mit der Einlegung der Verfassungsbeschwerden und endete am 9. Juni beziehungsweise 3. Juni 1995 mit der Zustellung der Entscheidungen des BVerfG an die Bf. Er umfasste demnach etwa zwei Jahre und zehn Monate beziehungsweise zwei Jahre und neun Monate. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer prüft der Gerichtshof wiederum anhand der bekannten Kriterien. Nach seinen Feststellungen ist die Sache durchaus als schwierig zu klassifizieren, war doch eine Leitentscheidung zu komplexen völkerrechtlichen Fragen erforderlich, welche auch die Situation der Bf. betraf. In Bezug auf das Verhalten der Bf. kann der EGMR freilich kein verfahrenverzögerndes Verhalten erkennen. Was das Verhalten des BVerfG betrifft erinnert der EGMR zum wiederholten Male daran, dass die Konventionsstaaten ihr Gerichtssystem so einzurichten haben, dass sie jeder Anforderung des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen können. Diese Verpflichtung gelte auch für ein Verfassungsgericht, auch wenn sie bei einem solchen nicht auf dieselbe Weise angewandt werden könne. Ein Verfassungsgericht habe teilweise andere Faktoren zu berücksichtigen, wie zum Beispiel die Art der Sache und ihre politische Bedeutung. Vorliegend ist der EGMR der Ansicht, die Zusammenfassung der Verfahren durch das BVerfG sei zweckmäßig gewesen, um einen umfassenden Überblick über die sich aus Verurteilungen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit und Landesverrats nach der Wiedervereinigung ergebenden Rechtsfragen zu erhalten.60 Was die Zurückstellung der Verfahren der Bf. wegen anderer Fälle im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung anbelangt, betont der EGMR zunächst, dass „eine chronische Überlastung, wie die, unter der das BVerfG seit den späten 70er Jahren leidet, eine überlange Verfahrensdauer nicht rechtferti60 An dieser Stelle verweist der EGMR auf das vorerwähnte Urteil im Fall Süßmann, in dem er mit einer ähnlichen Argumentation angesichts zahlreicher Fälle von ehemaligen Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes der DDR, welche Versorgungsrenten beanspruchten, eine solche Zusammenfassung gleichgelagerter Fälle für zweckmäßig befand.

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gen kann“.61 Freilich ist auch der EGMR der Auffassung, dass das BVerfG Fälle mit gewichtigen politischen und sozialen Folgen vorrangig behandeln durfte. Zwar habe die Verbüßung der Freiheitsstrafe der beiden Bf. bereits begonnen, als ihr Verfahren beim BVerfG anhängig war, die Verurteilung habe ihnen aber dennoch keinen derartigen Schaden zugefügt, dass das BVerfG ihre Fälle als sehr dringlich hätte behandeln müssen. Im Übrigen hätten die Bf. auch einen einstweiligen Aufschub des Vollzugs ihrer Gefängnisstrafen beim BVerfG beantragen können. Der EGMR kommt „im Lichte all dieser Umstände des Falles“ einstimmig zum Ergebnis, dass die eingetretenen Verzögerungen nicht so erheblich sind, dass die angemessene Frist als überschritten anzusehen wäre und verneint dementsprechend eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Kapitel 4

Von „Klein“ bis „Janssen“ – 5 Entscheidungen zur Verfahrensdauer aus dem Jahr 2001 I. Der Fall Klein – „Stein des Anstoßes“ aus deutscher Sicht? 1. Sachverhalt Im Dezember 1985 erhob die Rheinisch Westfälische Elektrizitätswerke AG (RWE) Klage gegen den Bf. vor dem AG Moers wegen ausstehender Stromrechnungen. Der Bf. hatte seine Stromrechnung wegen der Berechnungsweise und der Ausgleichsabgabe (Kohlepfennig), die er für verfassungswidrig hielt, eigenmächtig gekürzt. Das AG verurteilte ihn im April 1986 zur Zahlung von 141 DM an die Klägerin. Der Bf. legte am 22. Juni 1986 Verfassungsbeschwerde ein. Am 11. Oktober 1994 hob das BVerfG das Urteil des AG, soweit es sich auf die Ausgleichsabgabe bezog, auf und verwies die Sache an dieses zurück. Dieses verurteilte den Bf. am 15. Februar 1995 zur Zahlung von rund 80 DM an die Klägerin. Am 22. August 1995 wies das BVerfG eine erneute Verfassungsbeschwerde des Bf. zurück. Am 9. Januar 1996 wandte sich der BF. an die KOM und rügte die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Beschwerde ging mit Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 zur EMRK auf den Gerichtshof über (Art. 5 Abs. 2 des Protokolls).62 61 Vgl. Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 69; sowie Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 64. 62 Durch das am 1. November 1998 in Kraft getretene Protokoll Nr. 11, welches eingefügt wurde, um den Verfahrensablauf beim EGMR zu straffen und zu vereinfa-

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

2. Urteil des EGMR vom 27. Juli 2000 Was den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK angeht, erinnert der EGMR zum wiederholten Male daran, ein vor einem Verfassungsgericht geführtes Verfahren könne in diesen Anwendungsbereich fallen, sofern das Ergebnis dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen entscheidend ist.63 Sodann stellt der EGMR fest, dass die vorliegende Sache nicht nur die Verfahrensdauer vor dem BVerfG, sondern auch vor den Zivilgerichten betrifft. Hierzu führt der EGMR aus, der Rechtsstreit vor den Zivilgerichten über den vom Bf. geschuldeten Betrag für die Stromlieferung einschließlich des Kohlepfennigs sei vermögensrechtlicher Art gewesen und habe daher „unbestreitbar einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK“ betroffen. Da das BVerfG vorliegend die einschlägigen Vorschriften des fraglichen Gesetzes64 für verfassungswidrig erklärt, die Entscheidung des AG vom April 1986 aufgehoben und die Sache an das AG zurückverwiesen hatte, sei das Verfahren vor dem BVerfG unmittelbar entscheidend für den Rechtsstreit über den zivilrechtlichen Anspruch des Bf. gewesen, was zur Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 6 Abs. 1 EMRK führe. Sodann bestimmt der EGMR den zu berücksichtigenden Zeitraum, der nach seinen Feststellungen am 6. Dezember 1985 mit der Klage der RWE vor dem AG Moers begann, am 22. August 1995 mit der Entscheidung des BVerfG endete und sich damit über etwa neun Jahre und acht Monate erstreckte. In Bezug auf die Angemessenheit der Verfahrensdauer stellt der EGMR zunächst fest, die größte Verzögerung habe sich vor dem BVerfG im ersten bei ihm anhängigen Verfahren ergeben.65 Nach Auffassung des Gerichtshofs wiesen die aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen gewisse Schwierigkeiten auf, wie Länge und Begründung des Urteils des BVerfG vom 11. Oktober 1994 zeigten. Das Urteil gehe zudem in seiner Reichweite über den vorliegenden Fall hinaus. Außerdem habe das BVerfG die Stellungnahmen mehrerer Behörden

chen, wurde die Europäische Kommission für Menschenrechte, welche bislang die Zulässigkeit der eingehenden Beschwerden zu prüfen hatte und gewissermaßen als „Filter“ fungierte, abgeschafft. Die Zulässigkeitsentscheidungen werden seit Inkrafttreten dieses Protokolls ebenfalls vom EGMR selbst geprüft. Beschwerden, die – wie die vorliegenden – während dieses Umwandlungsprozesses in Straßburg eingingen, ohne bereits für zulässig erklärt worden zu sein, wurden auf den Gerichtshof übergeleitet (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Protokolls Nr. 11). 63 Vgl. Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 41 = EuGRZ 1996, 518; Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/ 91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 53; sowie Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 48. 64 Gesetz über die weitere Sicherung des Einsatzes von Gemeinschaftskohle in der Elektrizitätswirtschaft. 65 Vom 22. Juni 1986 bis zum 11. Oktober 1994.

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eingeholt, bevor es in der Sache entschied. Das Verhalten des Bf. hat nach den Feststellungen des EGMR zu keinerlei Verzögerung beigetragen. Was das Verhalten des BVerfG angeht, weist der Gerichtshof zum wiederholten Male darauf hin, dass „Art. 6 Abs. 1 EMRK den Konventionsstaaten die Pflicht auferlegt, ihr Gerichtswesen so einzurichten, dass die Gerichte jeder seiner Anforderungen entsprechen können, einschließlich der Verpflichtung, die Rechtssachen innerhalb angemessener Fristen zu entscheiden. Zwar kann diese Verpflichtung für ein Verfassungsgericht nicht in derselben Weise wie für ein ordentliches Gericht angewendet werden, jedoch obliegt es dem Gerichtshof, in letzter Instanz zu prüfen, ob diese Verpflichtung erfüllt ist, wobei er die besonderen Umstände eines jeden Falls und die in seiner Rechtsprechung niedergelegten Kriterien zu berücksichtigen hat.66 Außerdem führt ein zeitweiliger Rückstand bei der Geschäftserledigung der Gerichte nicht zur völkerrechtlichen Haftung eines Konventionsstaats, wenn dieser mit der gebotenen Eile geeignete Abhilfemaßnahmen ergreift. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kann jedoch eine chronische Überlastung wie die, unter der das BVerfG seit den späten 70er Jahren leidet, nicht eine überlange Verfahrensdauer rechtfertigen.“ 67

Dem EGMR zufolge kann aber in diesem Fall – anders als in den Fällen Süßmann sowie Gast und Popp – die deutsche Wiedervereinigung nicht die entscheidende Rolle für die Arbeitsüberlastung des BVerfG gespielt haben: Während diese Ausnahmesituation noch in den oben erwähnten Fällen als Rechtfertigungsgrund dienen konnte, könne dies hier nicht der Fall sein, denn die Sache Klein sei bei Unterzeichung des Einigungsvertrages bereits über vier Jahre beim BVerfG anhängig gewesen. Überdies zieht der EGMR zur Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer noch ein weiteres Kriterium heran: Das, um was es für den Bf. vorliegend ging, sei „von erheblicher Bedeutung“ für den Bf. Zwar sei der im Streit befindliche Betrag von 142 DM gering, aber die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Bestimmung sei als „Grundsatzfrage für viele deutsche Bürger“ anzusehen. Aus diesen Gründen wird eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hier einstimmig bejaht.

66 Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 68; sowie Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 63. 67 Verweis auf die Urteile Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 69; Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 64; sowie Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/95, Urt. v. 25. Februar 2000, Ziff. 75.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

II. Metzger gegen Deutschland – die erste Verurteilung wegen überlanger Verfahrensdauer in einem Strafverfahren seit dem legendären Fall Eckle aus dem Jahr 1982 1. Sachverhalt Der Bf., von Beruf Rechtsanwalt, war von 1981 bis 1993 Oberbürgermeister von Darmstadt. Am 23. Dezember 1987 wurde gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet wegen des Verdachts der umweltgefährdenden Abfallbeseitigung. Der Bf. wurde in seiner Eigenschaft als Oberbürgermeister dafür verantwortlich gemacht, dass der städtische Schlachthof Abfälle in für die Umwelt belastender Weise in die Kanalisation geleitet hatte. Der Schlachthof wurde von der Stadt verwaltet und unterstand dem Gemeinderat, dem der Bf. als Oberbürgermeister vorsaß. Am 23. Dezember 1987 wurde der Schlachthof von der Kriminalpolizei durchsucht, die am selben Tag Anzeige gegen den Bf. erstattete. Am 19. Januar 1988 setzte die Staatsanwaltschaft Darmstadt den Bf. von ihren Ermittlungen in Kenntnis. Nach Anklageerhebung am 4. Juli 1989 wurde die Eröffnung des Hauptverfahrens vom LG zunächst abgelehnt.68 Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin ordnete das OLG Frankfurt die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem LG Hanau an. Dort wurde das Verfahren am 25. März 1991 eröffnet. Nach mündlicher Verhandlung im März und April 1991 bestimmte das LG am 9. Dezember 1991 einen Sachverständigen, der am 24. November 1992 sein Gutachten vorlegte. Durch Urteil vom 2. August 1992 wurde der Bf. daraufhin freigesprochen. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin hob der BGH das Urteil am 18. November 1994 auf und verwies die Sache zurück an das LG Darmstadt. Vor der Prozesseröffnung beantragte der Bf. die Einstellung des Verfahrens mit der Begründung, die in Art. 6 Abs. 1 EMRK vorgesehene angemessene Frist sei überschritten. Am 8. November 1995 verurteilte das LG Darmstadt den Bf. nach 23tägiger mündlicher Verhandlung, in der 38 Zeugen und zwei Sachverständige gehört worden waren und der Bf. 14 Beweisanträge und zwei Befangenheitsanträge gestellt hatte, wegen versuchter umweltgefährdender Abfallbeseitigung zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 250 DM (Verwarnung mit Strafvorbehalt, § 59 StGB). Das LG führte aus, es sei nicht auszuschließen, dass die Dauer des gegen den Bf. gerichteten Strafverfahrens – für die er nicht verantwortlich sei – eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bedinge und dass dies, wenn nicht einen Freispruch, so doch zumindest eine erhebliche Strafmilderung rechtfertige. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin änderte der BGH das Urteil am 20. November 1996 dahingehend ab, dass der Bf. sich einer vollendeten um68

Am 21. Februar 1990.

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weltgefährdenden Abfallbeseitigung strafbar gemacht habe. Die Revision des Bf. wies der BGH mit der Begründung zurück, selbst wenn es Verfahrensverzögerungen gegeben habe, die ihm nicht zuzurechnen seien, so bleibe die Verfahrensdauer zwischen Tat und angegriffenem Urteil deutlich unter der Dauer ähnlicher Verfahren. Aus diesem Grund trage die verhängte Strafe den Verfahrensverzögerungen hinreichend Rechnung. Am 13. Februar 1997 entschied eine aus drei Richtern bestehende Kammer des BVerfG, die Verfassungsbeschwerde des Bf. gegen das Urteil des LG sowie gegen die Entscheidung des BGH nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 31. Juli 1997 legte der Bf. Individualbeschwerde bei der KOM ein und machte die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend. Die Beschwerde ging mit Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 zur EMRK auf den Gerichtshof über, welcher die Beschwerde am 27. April 2000 für zulässig befand. 2. Urteil des EGMR vom 31. Mai 2001 Die Anwendbarkeit als gegeben voraussetzend wendet sich der EGMR zunächst der Bestimmung des für Art. 6 Abs. 1 EMKR relevanten Zeitraumes zu. Dabei erinnert er daran, „dass der im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK maßgebliche Zeitraum beginnt, wenn eine Person förmlich angeklagt wird oder wenn der gegen sie gerichtete Verdacht wegen der von den Strafverfolgungsbehörden ergriffenen Maßnahmen erhebliche Auswirkungen auf ihre Lage hat.69 So kann es sich um ein Datum vor Befassung der urteilenden Instanz handeln (. . .), insbesondere jenes der Verhaftung, der Beschuldigung oder der Eröffnung des Untersuchungsverfahrens (. . .). Wenn die Anklage im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK im allgemeinen als amtliche Mitteilung durch die zuständige Behörde über den Vorwurf, eine Straftat begangen zu haben, definiert werden kann, so kann sie in gewissen Fällen die Form anderer Maßnahmen annehmen, die einen solchen Vorwurf beinhalten und ebenfalls wichtige Rückwirkungen auf die Lage des Verdächtigen nach sich ziehen.“ 70

Der Beginn des maßgeblichen Zeitraumes fällt nach dem EGMR spätestens auf den 19. Januar 1988, als die Staatsanwaltschaft den Bf. über die Aufnahme des Ermittlungsverfahrens informierte. Unter Verweis auf seine gefestigte Rechtsprechung bezieht der EGMR auch das verfassungsgerichtliche Verfahren mit ein, da die Entscheidung des BVerfG den Ausgang des Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten hätte beeinflussen können.71 Demzufolge fällt das Frist69 Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Série A Nr. 51, S. 33, Ziff. 73. 70 Corigliano ./. Italien, Beschwerde Nr. 8304/78, Urt. v. 10. Dezember 1982, Série A Nr. 57, S. 13, Ziff. 34 = EuGRZ 1985, 587. 71 Vgl. Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/95, Urt. v. 25. Februar 2000, Ziff. 64.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

ende auf den 13. Februar 1997 – das Datum der Entscheidung des BVerfG – und führt zu einer Gesamtdauer von etwas mehr als neun Jahren. Was die Angemessenheit der Verfahrensdauer betrifft bejaht der EGMR zunächst angesichts der Rechtsmaterie des Umweltrechts die Komplexität des Falles. Das Verhalten des Bf. hingegen hat seiner Auffassung nach zwar zu gewissen Verzögerungen geführt, konnte sich indes nicht signifikant auswirken, da die mündliche Verhandlung sich lediglich über einen Zeitraum von acht Monaten erstreckt hatte. In Bezug auf das Verhalten der Justizbehörden stellt der EGMR fest, dass bis zur Anklageerhebung immerhin 15 Monate verstrichen sind. Auch zwischen Anklageerhebung und der Entscheidung des LG Darmstadt, die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen, sowie zwischen der Entscheidung, das Verfahren auszusetzen und der Bestellung des Sachverständigen durch das LG Hanau kam es zu ungerechtfertigten Verzögerungen. Vor allem aber fällt nach Ansicht des EGMR die Verzögerung von zwei Jahren und drei Monaten ins Gewicht, die nach der Entscheidung des BGH, das Urteil des LG Hanau wegen eines Formfehlers aufzuheben, entstand. In diesem Zusammenhang erinnert der EGMR einmal mehr daran, „dass Art. 6 Abs. 1 die Vertragsstaaten verpflichtet, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass ihre Gerichte den Anforderungen dieser Vorschriften gerecht werden können, wozu auch die Verpflichtung gehört, die Fälle in angemessener Frist zu entscheiden.“ 72 Das vorliegende Verfahren weist nach Auffassung des EGMR übermäßige Verzögerungen auf, welche den nationalen Behörden zuzurechnen sind. Aus diesen Gründen kommt der EGMR einstimmig zum Ergebnis, dass die angemessene Frist überschritten und damit Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt wurde. III. H. T. gegen Deutschland – ein Sozialgerichtsverfahren von annähernd 12 Jahren Dauer 1. Sachverhalt Die 1938 geborene Bf. beantragte am 4. März 1986 bei der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz die Auszahlung einer Lebensversicherung, nachdem ihr Mann verstorben war. Am 10. Juni 1986 entschied die Landesversicherungsanstalt, dass der Bf. eine Rente aus der Lebensversicherung ab dem 1. März 1986 zustehe. Sie bezog sich dabei auf das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz und teilte mit, dass im Falle anderweitigen Einkommens des überlebenden Gatten der Zahlbetrag der Lebensversicherung im zweiten Jahr nach dem Tod des Ehegatten um einen bestimmten Prozentsatz gekürzt würde. Der Widerspruch der Bf. hiergegen wurde am 24. März 1987 zurückgewiesen. 72 Pélissier und Sassi ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 25444/94, Urt. v. 25. März 1999, Ziff. 74, CEDH 1999-II.

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Am 27. April 1987 erhob die Bf. Klage zum SG Düsseldorf. Dabei regte sie an, das Verfahren auszusetzen, um den Ausgang von Verfassungsbeschwerdeverfahren in ähnlich gelagerten Fällen abzuwarten. Daraufhin setzte das SG das Verfahren am 24. Juni 1987 gem. § 251 ZPO aus. Am 14. August 1987 nahm die Landesversicherungsanstalt eine Neuberechnung der Rente der Bf. vor und stellte, nachdem sie deren anderweitiges Einkommen miteinberechnet hatte, die monatlichen Zahlungen in Höhe von 967,10 DM ein. Dies griff die Bf. am 10. September 1987 mit einer Klage vor dem SG an. Wegen der schwebenden Verfassungsbeschwerdeverfahren regte sie erneut die Aussetzung des Verfahrens an, woraufhin auch dieses Verfahren ausgesetzt wurde. Am 26. Februar 1993 forderte die Bf. das SG auf, das Verfahren wieder aufzunehmen, weil das BVerfG in der Zwischenzeit keine ihrem Fall vergleichbare Entscheidung betreffend die gesetzliche Höhe der Rente getroffen hatte. Am 17. März 1993 nahm das Gericht daraufhin das Verfahren wieder auf. Nachdem das BVerfG auf Anfrage im August 1993 mitteilte, dass es beabsichtige, eine Entscheidung in drei ähnlich gelagerten Fällen im Jahr 1994 zu treffen, kamen die Parteien am 17. September 1993 überein, das Verfahren nochmals auszusetzen. Am 5. Juni 1996 forderte die Bf. das SG zur Wiederaufnahme des Verfahrens auf, da sie angesichts der Länge der Verfahren vor dem BVerfG und in Anbetracht ihres Alters nicht länger warten könne. Am 18. Juni 1996 nahm das Gericht das Verfahren wieder auf. Am 31. Juli 1997 legte die Bf. Menschenrechtsbeschwerde bei der KOM ein und beklagte die Dauer des Verfahrens. Am 18. Februar 1998 wies das BVerfG zwei der für den Fall der Bf. relevanten Beschwerden ab. Nachdem das SG den Anwalt der Bf. ab dem 7. Mai 1998 mehrfach zur Stellungnahme zu den Verfassungsgerichtsentscheidungen aufgefordert hatte, teilte dieser im Oktober 1998 mit, dass er die Bf. nicht länger vertrete. Am 17. Mai 1999 wies das SG die Klage ab, was es damit begründete, dass in einer der Entscheidungen des BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelung bestätigt worden sei; die anderen beiden Entscheidungen seien für den vorliegenden Fall nicht relevant gewesen. Die Menschenrechtsbeschwerde wurde am 1. November 1998 auf den EGMR übergeleitet73 und am 11. Juli 2000 von der zuständigen Kammer für zulässig erklärt. 2. Urteil des EGMR vom 11. Oktober 2001 Auf die Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK geht der EGMR in diesem Fall nicht ein, da er bereits mehrfach entschieden habe, dass Art. 6 73 Infolge des Inkrafttretens des Protokolls Nr. 11 wurde die Beschwerde gem. Art. 5 Abs. 2 des Protokolls auf den EGMR übergeleitet.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

EMRK auf sozialgerichtliche Verfahren anwendbar ist, sofern vermögenswerte Ansprüche im Streit stehen. Der zu überprüfende Zeitraum begann nach seinen Feststellungen am 27. April 1987 mit der Klageerhebung beim SG, endete am 17. März 1999 mit der Klageabweisung und dauerte damit fast 12 Jahre. Die Angemessenheit bestimmt sich – so der EGMR – nach den Umständen des Einzelfalls und ist anhand der bekannten Kriterien zu ermitteln. Angesichts der Tatsache, dass es sich um ein umstrittenes Reformgesetz im Bereich der Lebensversicherung handelte, welches zudem Gegenstand mehrerer Verfassungsbeschwerden war, bejaht der EGMR die Komplexität des Falles. Hauptursache sei indes die wiederholte Aussetzung des Verfahrens gewesen. Was das Verhalten der Bf. angeht, merkt er an, dass diese selbst mit ihrer Klageerhebung zugleich die Aussetzung des Verfahrens beantragt hatte um das bundesverfassungsgerichtliche Urteil abzuwarten. Erst am 26. Februar 1993 forderte sie das Gericht auf, das ausgesetzte Verfahren wieder aufzunehmen. In gewisser Weise habe die Bf. daher selbst zu den Verfahrensverzögerungen beigetragen. In Bezug auf das Verhalten der Justizbehörden erinnert der EGMR zunächst daran, auch in Prozessen, in denen die Parteimaxime gilt, seien die Gerichte nicht von der in Art. 6 Abs. 1 EMRK niedergelegten Verpflichtung befreit, zügig zu entscheiden.74 Insbesondere habe das SG die Relevanz der Verfassungsgerichtsverfahren für den Fall der Bf. nicht hinreichend begründet. Im Rahmen der Klageabweisung am 17. März 1999 habe das Gericht festgestellt, dass zwei der Verfassungsbeschwerdeverfahren für den Ausgang des vorliegenden Falles nicht entscheidend waren. Weiter stellt der EGMR fest, dass sich das SG – nachdem bereits neun Jahre vergangen waren und die Bf. ausdrücklich um Wiederaufnahme des Verfahrens gebeten hatte – darauf beschränkte, beim BVerfG nach dem Verfahrensstand zu fragen. Daraufhin habe das Gericht weitere 10 Monate benötigt, um sein Urteil zu fällen. Der EGMR kommt unter diesen Umständen und angesichts der Tatsache, dass besondere Eile geboten ist in Streitigkeiten um Rentenansprüche75 zu dem Schluss, dass die Gesamtlänge der Sozialgerichtsverfahren nicht mehr als angemessen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen werden kann und bejaht einstimmig eine Verletzung dieser Norm.

74 Scopelliti ./. Italien, Beschwerde Nr. 15511/89, Urt. v. 23. November 1993, Série A Nr. 258, S. 10, Ziff. 25; Duclos ./. Frankreich, Beschwerden Nr. 20940/92, 20941/ 92, 20942/92, Urt. v. 17. Dezember 1998, Ziff. 55. 75 Nibbio, Biondi, Monaco und Lestini ./. Italien, Beschwerden Nr. 12854/87, 12871/87, 12923/87, 12859/87, Urt. v. 26. Februar 1992, Série A Nr. 228-A – 228-E, S. 10, 21, 33, 43 und 54, Ziff. 18, respektive 18, 18, 17 und 18.

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IV. Mianowicz gegen Deutschland – fast 13 Jahre Dauer eines Arbeitsgerichtsverfahrens 1. Sachverhalt Der Bf. ist polnischer Staatsangehöriger und wohnhaft in München. Nachdem er Polen 1981 verlassen musste, wurde ihm in Frankreich politisches Asyl gewährt, wo er dann als Redakteur bei dem amerikanischen Rundfunksender Radio Free Europe/Radio Liberty arbeitete. Seit 1983 war er für denselben Sender in München tätig. Am 17. Februar 1988 wurde ihm zum 30. Juni 1988 krankheitsbedingt gekündigt. Diese Kündigung griff der Bf. vor dem ArbG München am 24. Februar 1988 an. Einen widerruflichen Vergleich, den die Parteien am 7. April geschlossen hatten, widerrief der Prozessbevollmächtigte des Bf. unter Berufung auf dessen Schwerbehinderung, die eine Kündigung ohne Zustimmung der Fürsorgestelle verhindert. Am 20. April erfolgte die Gleichstellung des Bf. als Schwerbehinderter durch das Arbeitsamt München. Am 27. Juli wies das ArbG die Klage mit der Begründung ab, die Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes fänden keine Anwendung, da die Gleichstellung des Bf. mit einem Schwerbehinderten nach Zugang der Kündigung erfolgte. Hiergegen legte der Bf. Berufung ein. Mit Bescheid vom 29. September 1989 erkannte das Versorgungsamt München auf einen Behinderungsgrad von 50 für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 6. Juni 1988. Das LAG München kam in seinem Urteil vom 18. Dezember 1989 zu dem Schluss, das Arbeitsverhältnis sei durch die Kündigung nicht aufgelöst worden, weil die Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes nicht beachtet worden seien. Auf die Revision des Arbeitsgebers hin hob das BAG am 16. August 1991 das Berufungsurteil auf und verwies die Sache an das LAG zurück. Hiergegen legte der Bf. Verfassungsbeschwerde ein, die mit Beschluss vom 12. Februar 1992 durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer nicht zur Entscheidung angenommen wurde, weil der Rechtsweg aufgrund der Zurückverweisung nicht erschöpft sei. Aufgrund der Zurückverweisung an das LAG fand Ende 1992 ein Termin zur mündlichen Verhandlung statt. Ein bereits anberaumter Verkündungstermin wurde aufgehoben. Im März 1993 stellte der Bf. einen erfolglosen Befangenheitsantrag gegen den befassten Richter. Nachdem ein neuer Verhandlungstermin ebenfalls zweimal verschoben worden war, fand die mündliche Verhandlung am 9. Juli 1993 statt. Im Februar 1994 und 1995 bat der Prozessbevollmächtigte des Bf. das LAG um Verfahrensbeschleunigung. Mit Urteil vom 7. Juni 1996 änderte das LAG das Urteil des ArbG München dahingehend ab, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgehoben worden sei und stattdessen mit dem 30. Juni 1988 gegen Zahlung einer Abfindung aufgelöst werde. Die Revision wurde nicht

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

zugelassen, die Nichtzulassungsbeschwerde des Bf. hiergegen blieb erfolglos. Am 3. Juli 1997 erhob der Bf. Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des LAG; am 30. Oktober 1997 folgte eine Nichtigkeitsklage, um die Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken. Am 18. November 1997 erklärte sich der Vorsitzende Richter für befangen, was mit Beschluss vom 15. Dezember 1997 für begründet erklärt wurde. Der Bf. legte am 30. März 1998 Menschenrechtsbeschwerde bei der KOM ein und beklagte die Dauer der Arbeitsgerichtsverfahren. Einen am 12. Juni 1998 vor dem LAG geschlossenen widerruflichen Vergleich widerrief der Bf. am 12. Juli 1998. Mit Zwischenurteil vom 25. September 1998 hob das LAG (11. Kammer), welches über die Nichtigkeitsklage vom 30. Oktober 1997 entschied, das Urteil des LAG (3. Kammer) vom 7. Juni 1996 auf. Auf die Revision des Bf. hiergegen hob das BAG am 2. Dezember 1999 die Urteile des LAG vom 25. September 1998 und 7. Juni 1996 auf und verwies die Sache erneut an das LAG zurück. Am 26. Februar 1999 entschied das BVerfG durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Nach der zweiten Zurückverweisung durch das BAG entschied das LAG am 13. Dezember 2000, das Arbeitsverhältnis sei nicht durch die Kündigung, sondern erst durch gerichtliche Entscheidung mit Wirkung vom 30. Juni 1988 aufgelöst worden und billigte dem Bf. eine Abfindung in Höhe von 100.000 DM zu. Am 28. September 2000 erklärte die zuständige Kammer des EGMR, auf welche die Beschwerde in Folge des Protokolls Nr. 11 übergeleitet worden war, die Beschwerde in Bezug auf die geltend gemachte Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK für zulässig. 2. Urteil des EGMR vom 18. Oktober 2001 Der EGMR weist vorab darauf hin, entgegen der von der Regierung geäußerten Auffassung falle seiner Spruchpraxis zufolge auch ein Verfahren vor einem Verfassungsgericht unter Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn sein Ausgang für die zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen von entscheidender Bedeutung ist.76 Bei dem Rechtsstreit um die Auflösung des Arbeitsverhältnisses handle es sich um eine vermögensrechtliche Angelegenheit, weshalb ohne Zweifel zivilrechtliche Ansprüche im Sinne des Art. 6 EMRK betroffen seien. Demzufolge könne auch das Verfassungsgerichtsverfahren bei der Berechnung der Verfahrensdauer eine Rolle spielen. Was die Bemessung der Frist angeht, kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass das Verfahren am 24. Februar 1988 mit der Klageerhebung 76 Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 41 = EuGRZ 1996, 518; Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 53; sowie Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 48; Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000, Ziff. 29 = NJW 2001, 213.

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begonnen hat, durch Urteil des LAG vom 13. Dezember 2000 abgeschlossen wurde und damit etwa 12 Jahre und 10 Monate dauerte. Im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer weist der EGMR zunächst darauf hin, diese sei nach den Umständen des Falles unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien zu bemessen.77 Entgegen der Auffassung des Bf. und der polnischen Regierung78 wies die Rechtssache nach Ansicht des EGMR eine gewisse Kompliziertheit auf, da Gegenstand des Verfahrens die Auslegung des Kündigungsschutzgesetzes sowie des Schwerbehindertengesetzes war. In Bezug auf das Verhalten des Bf., welches nach Auffassung der deutschen Regierung angesichts des Vergleichswiderrufs und der zahlreichen Befangenheitsanträge zur Verfahrensdauer beigetragen hat, merkt der EGMR an, dass dieses angesichts der Gesamtverfahrensdauer nicht entscheidend war. Was das Verhalten der Gerichte angeht, so konstatiert der EGMR, die wesentlichen Verzögerungen seien durch das Verfahren vor dem LAG bedingt gewesen, welches in zwei Verfahrensabschnitten gänzlich stagnierte. In diesem Zusammenhang macht er darauf aufmerksam, „dass Art. 6 Abs. 1 der Konvention die Vertragsstaaten verpflichtet, ihr Gerichtssystem so zu organisieren, dass die Gerichte jedes seiner Erfordernisse erfüllen können, einschließlich der Verpflichtung, die Streitigkeiten innerhalb angemessener Frist zu verhandeln.“ 79

Im vorliegenden Fall lässt das Verfahren nach Ansicht des EGMR übermäßig lange Verzögerungen erkennen, die den nationalen Behörden anzulasten seien. Außerdem sei besondere Eile bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten geboten, die, da diese entscheidende Bedeutung für die berufliche Situation einer Person hätten, mit ganz besonderer Schnelligkeit zu erledigen seien.80 Angesichts dieser Umstände kommt der EGMR einstimmig zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden ist. V. Bayrak gegen Deutschland 1. Sachverhalt Am 24. April 1982 verkaufte die türkische Gesellschaft SCS, die vom Bf. gegründet worden war, an das irakische staatliche Unternehmen SEC 3.000 77 Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, Ziff. 36 = EuGRZ 2001, 301. 78 Die polnische Regierung war aufgrund der polnischen Staatsangehörigkeit des Bf. gem. Art. 36 Abs. 1 EMRK berechtigt, eine Stellungnahme zu der Rechtsangelegenheit abzugeben. 79 Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, Ziff. 42 = EuGRZ 2001, 301. 80 Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981, Série A Nr. 42, S. 16, Ziff. 50 und S. 17, Ziff. 52 = EuGRZ 1981, 490; sowie Leclercq ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 38398/97, Urt. v. 28. November 2000.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Tonnen Tomatenmark zum Preis von 800 US-$ pro Tonne. Am selben Tag gewährte die SEC der SCS einen Dokumenten-Kredit über einen Betrag von 2.400.000 $ bei der irakischen Bank R. Eine türkische Bank mit Sitz in Istanbul wurde beauftragt, die Zahlungen an die SCS auszuführen. Anlässlich der ersten Lieferung bezahlte die irakische Bank nur 95% des Warenwerts. Hinsichtlich einer zweiten Lieferung im Wert von 112.000 $ wurde keine Regelung getroffen. Die SCS stellte daraufhin ihre Lieferungen ein und trat ihre Rechte aus dem Vertrag mit der SEC an den Bf. ab. Im Februar 1987 erhob dieser Klage gegen die irakische Bank beim LG Düsseldorf und machte geltend, durch die teilweise Nichterfüllung des Kredits sei ihm ein Schaden entstanden. Am 2. Februar 1988 verurteilte das LG die irakische Bank zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 200.000 $, 30. Mio. Türkischen Lira und 40.000 DM an den Bf. Es bestimmte dabei, dass der Geldbetrag auf einem Konto bei einer Bank mit Sitz in Düsseldorf hinterlegt werden sollte. Auf den Einspruch der Bank hin hob das LG am 20. Dezember 1988 sein Urteil auf und erklärte die Schadensersatzklage für unzulässig. Am 5. Oktober 1989 hob das OLG Düsseldorf dieses Urteil auf und verwies die Sache an das LG zurück, weil der Rechtsstreit nicht nach türkischem, sondern nach deutschem Recht zu beurteilen sei. Am 23. Oktober 1989 verlangte der Bf. die Berichtigung des Urteils vom 5. Oktober 1989, was das LG zurückwies und Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 20. Februar 1990 bestimmte. Im Jahr 1990 wurde die Vernehmung mehrerer in der Türkei ansässiger Zeugen sowie die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeordnet. Die Zeugenvernehmung fand am 22. und 23. November statt. Anfang 1991 wandte sich das LG an die deutsche Botschaft und an das deutsche Konsulat in der Türkei mit der Bitte um Vermittlung eines Sachverständigen im türkischen Recht. Am 2. Dezember 1991 wurde ein Sachverständiger beauftragt, dessen Gutachten am 8. Mai 1992 übersetzt und den Parteien übermittelt wurde. Am 22. Juli 1993 fällte das Gericht sein Urteil und gab dem Bf. teilweise recht, indem es die Bank zusätzlich zur Zahlung eines Betrages von 655.641,18 $ sowie einer Summe von 37.709.971 Türkischer Lira verurteilte. Am 11. August 1994 änderte das OLG Düsseldorf auf die Berufung der Bank hin das Urteil dahingehend ab, dass es die Schadensersatzklage des Bf. abwies. Hiergegen legte der Bf. Revision ein, die der BGH am 17. Januar 1995 mangels grundsätzlicher Bedeutung zurückwies. Am 20. März 1995 beschloss das BVerfG in der Besetzung einer Kammer von drei Richtern, die Verfassungsbeschwerde des Bf. nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 17. Juli 1995 wandte sich der Bf. an die KOM und machte die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund der Länge der Zivilprozesse geltend. Am 1. November 1998, dem Datum des Inkrafttretens des Protokolls Nr. 11, wurde die Beschwerde an den EGMR übergeleitet und am 6. Juli 2000 für zulässig erklärt.

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2. Urteil des EGMR vom 20. Dezember 2001 Anfangs stellt der EGMR fest, der zu beurteilende Zeitraum erstrecke sich vom 4. Februar 198781 bis zum 20. März 1995, dem Datum der Entscheidung des BVerfG, und umfasse damit mehr als acht Jahre. Sodann erinnert er daran, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer sich nach den Umständen des Falles unter Anwendung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien richtet.82 Außerdem sei zu beachten, dass ein Richter in einem Prozess, in dem die Parteimaxime gilt, nicht von der Verpflichtung des Art. 6 Abs. 1 EMRK befreit ist.83 Er erklärt weiter, der Argumentation der Regierung, das Verfahren habe sich deshalb so in die Länge gezogen, weil es durch mehrere Instanzen ging, nicht folgen zu können. Art. 6 Abs. 1 EMRK verpflichte vielmehr die Vertragsstaaten, ihr Gerichtssystem so einzurichten, dass ihre Gerichte jede seiner Verpflichtungen erfüllen können. Wenn die Existenz mehrerer Instanzen und Rechtsmittel im Gerichtssystem eines Staates zu einem Durcheinander führe, so obliege es dem Staat allein, daraus die Konsequenzen zu ziehen und gegebenenfalls das System zu vereinfachen.84 Der EGMR gesteht zu, dass die vorliegende Sache eine gewisse Schwierigkeit aufwies, vor allem wegen ihrer Bezüge zum ausländischen Recht.85 Die Anträge des Bf., insbesondere auf Vernehmung weiterer Zeugen, haben nach Auffassung des EGMR dagegen nicht zu beachtlichen Verzögerungen des Verfahrens geführt. Was das Verhalten der Gerichte angeht, so stellt der EGMR fest, dass sechs Instanzen in dieser Sache entschieden haben. Die dadurch bedingten Verzögerungen seien für sich allein genommen nicht übermäßig, mit Ausnahme der Zeitspanne von insgesamt drei Jahren und neun Monaten zwischen dem 5. Oktober 198986 und dem 22. Juli 1993, dem Datum des Grundurteils des LG. Außerdem konstatiert der EGMR, dass das LG fast zehn Monate brauchte, um einen Sachverständigen auszuwählen, der wiederum erst fünf Monate später sein Gutachten ablieferte. Der EGMR leitet hieraus ab, dass selbst in Anbetracht dessen, dass die Sache türkischem Recht unterfiel, eine Verpflichtung zu 81

Es handelt sich dabei um den Zeitpunkt der Klageerhebung beim LG Düsseldorf. Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, CEDH 2000-VII, Ziff. 43. 83 Pafitis ./. Griechenland, Beschwerde Nr. 20323/92, Urt. v. 26. Februar 1998, Ziff. 93; sowie Duclos ./. Frankreich, Beschwerden Nr. 20940/92, 20941/92, 20942/92, Urt. v. 17. Dezember 1998, Ziff. 55. 84 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Série A Nr. 27, S. 34, Ziff. 100 = EuGRZ 1978, 417. 85 Lorenzi, Bernardini und Gritti ./. Italien, Beschwerde Nr. 13301/87, Urt. v. 27. Februar 1992, Série A Nr. 231-G, S. 75, Ziff. 16; sowie Allenet de Ribemont ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 15175/89, Urt. v. 10. Februar 1995, Série A Nr. 308, S. 20–21, Ziff. 56–57. 86 Hierbei handelt es sich um das Datum der Entscheidung des OLG Düsseldorf, die Sache an das LG zurückzuverweisen. 82

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

größerer Eile bestanden habe. Was die Gesamtdauer des Verfahrens angeht, stellt er fest, dass die deutschen Gerichte fast acht Jahre brauchten um die Zuständigkeitsfragen zu klären. Daher kommt er mit vier gegen drei Stimmen zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bejahen sei. VI. Janssen gegen Deutschland – kein „Bedarf“ der Einbeziehung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens aufgrund immenser Verfahrenslänge 1. Sachverhalt Der Beschwerde liegt ein sozialrechtliches Verfahren zugrunde, welches die ursprüngliche Klägerin Janssen eingeleitet hatte. Nach ihrem Tod am 27. Juli 1986 führten ihre beiden Kinder, die auch Führer der vorliegenden Beschwerde sind, den Prozess fort. Der Ehemann der ursprünglichen Klägerin arbeitete zwischen 1950 und 1959 als Schneider in einer Fabrik, in welcher Asbestmatratzen hergestellt wurden. Diejenigen Arbeiter, die während der Arbeit Asbestdämpfen ausgesetzt waren, mussten ihre Kleidung selbst reinigen. Dies tat die Bf. für ihren Mann. Aufgrund der Asbestdämpfe zog sich der Ehemann der Klägerin eine Lungenerkrankung zu (Asbestose). Die Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft erkannte dies als Berufskrankheit an. Sie gewährte dem Ehemann der Klägerin eine Rente bis zu seinem Tod am 21. Februar 1973 und im Anschluss hieran den übrigen Familienmitgliedern eine Witwen- und Waisenrente. Nachdem sich die Klägerin ein Mesotheliom zugezogen hatte, ebenfalls eine Krankheit, die durch Asbest hervorgerufen wird, forderte sie am 23. Dezember 1985 von der Maschinen- und Metall-Berufsgenossenschaft Schadensersatz, was sie damit begründete, dass ihre Krankheit Folge des täglichen Reinigens der Arbeitskleidung ihres Mannes gewesen sei. Am 28. Februar 1986 wies die Berufsgenossenschaft diese Forderung zurück und berief sich darauf, diese Tätigkeit sei nicht von der Versicherung gedeckt, da sie auf rein privater Basis und nicht als Arbeitnehmer gehandelt habe. Der Widerspruch der Klägerin hiergegen wurde im April 1986 zurückgewiesen, weshalb sie am 26. Mai 1986 Klage zum SG Duisburg erhob. Im Juli 1986 forderte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin das Gericht auf, möglichst schnell einen Termin zur mündlichen Verhandlung zu bestimmen, da er befürchtete, dass die Klägerin einen Termin erst im August 1986 nicht mehr erleben würde. Am 27. Juli 1986 starb die Klägerin. Am 24. November 1987 setzte der Klägeranwalt das Gericht vom Tod der Klägerin in Kenntnis. Im März 1988 forderte das Gericht den Anwalt auf, die Rechtsnachfolger für die Klägerin zu benennen. Die gewünschte Information erhielt das Gericht am 25. Juli 1988. Ende 1988 sollte die mündliche Verhandlung stattfinden; dieser Termin wurde indes vom Gericht aufgehoben. Ein neuer

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Termin wurde bestimmt auf den 2. März 1989. Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wies das Gericht die Klage ab mit der Begründung, die Klägerin sei nicht gegen Arbeitsunfälle versichert gewesen, da sie nie Arbeitnehmerin gewesen sei. Die Reinigung sei allein aufgrund des Zusammenlebens mit ihrem Mann erfolgt, und nicht aufgrund eines Arbeitsverhältnisses. Am 10. Mai 1989 legten die Rechtsnachfolger Berufung ein beim LSG Nordrhein-Westfalen. Bis Juli 1992 holte das Gericht Stellungnahmen der behandelnden Ärzte der Klägerin ein und gab ein Sachverständigengutachten in Auftrag. Dieses Gutachten ging nach mehreren Abänderungen und Erweiterungen, die seitens des Gerichts gefordert wurden, im Juli 1992 ein. Durch Urteil vom 14. Oktober 1992 änderte das LSG das Urteil dahingehend ab, dass es den Tod der Klägerin als Folge einer Berufskrankheit einordnete. Daraufhin legte die Berufsgenossenschaft Revision ein. Mit Urteil vom 13. Oktober 1993 hob das BSG das Berufungsurteil auf und wies die Berufung zurück, da es den Tod der Klägerin nicht als Folge einer Berufskrankheit ansah. Am 2. Dezember 1993 legten die Bf. Verfassungsbeschwerde ein und machten unter anderem geltend, die Verfahrensdauer entspreche nicht den in Art. 6 Abs. 1 EMRK niedergelegten Voraussetzungen. Am 12. Januar 1994 beschloss eine Kammer des BVerfG bestehend aus drei Richtern, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, da diese mangels Substantiierung unzulässig sei. Im Übrigen könne eine Verfassungsbeschwerde nicht auf die EMRK gestützt werden. Daraufhin wandten sich die Bf. an die KOM und machten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend. Die KOM erklärte die Beschwerde am 9. September 1999 für zulässig und vertrat in ihrem Bericht vom 31. Mai 1999 die Ansicht, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei verletzt worden. Am 21. Juli 1999 wurde der Fall in Folge des Inkrafttretens des Protokolls Nr. 11 auf den Gerichtshof übergeleitet. 2. Urteil des EGMR vom 20. Dezember 2001 Die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK bejaht der EGMR kurzerhand mit dem Hinweis auf das Vorliegen von „civil rights and obligations“. In Übereinstimmung mit der deutschen Regierung stellt er sodann fest, der zu beurteilende Zeitraum habe mit der Einlegung des Widerspruchs durch die ursprüngliche Klägerin am 20. März 1986 begonnen. Ob das verfassungsgerichtliche Nichtannahmeverfahren mit in die Berechnung einzubeziehen ist, braucht nach dem EGMR angesichts der Umstände des Falles und der erheblichen Gesamtverfahrensdauer nicht entschieden zu werden, weshalb er seine Prüfung auf die Zeitspanne vom 20. März 1986 bis zum 13. Oktober 199387 beschränkt. Die zu überprüfende Zeitspanne beläuft sich damit auf sieben Jahre und 23 Tage. 87

Hierbei handelt es sich um das Datum der Entscheidung des BSG.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer muss nach dem EGMR im Lichte der besonderen Umstände des Falles beurteilt werden, was insbesondere unter Heranziehung der bekannten Kriterien zu geschehen habe.88 Überdies betont der EGMR die Relevanz des Kriteriums der Bedeutung des Rechtsstreits für den Bf. Angesichts der Tatsache, dass die Sozialgerichte mit neuartigen Problemen im Zusammenhang mit Asbestdämpfen konfrontiert wurden, welche auch zum Erfordernis zahlreicher Ermittlungen und Sachverständigengutachten führten, bejaht der EGMR die Komplexität des vorliegenden Falles. Was das Verhalten der Bf. angeht, stellt er fest, dass dieses in gewisser Weise zu den Verzögerungen beigetragen hat. So seien beispielsweise ein Jahr, vier Monate und 13 Tage verstrichen,89 bevor die Rechtsnachfolger der ursprünglichen Klägerin das Gericht vom Tod derselben in Kenntnis setzten. Auch hätten sie durch verspätete Stellungnahmen und Verlegungsanträge für Verzögerungen gesorgt. Insgesamt legt ihnen der EGMR Verzögerungen von sieben Monaten zur Last, welche nicht dem beklagten Staat zugerechnet werden könnten und daher als objektives Faktum bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer mit einzubeziehen seien.90 Bezüglich des Verhaltens der zuständigen Behörden stellt der EGMR zunächst fest, dass das SG Duisburg fast drei Jahre benötigte, um ein Urteil zu fällen. Hierbei fällt nach Ansicht des EGMR besonders ins Gewicht, dass der Ausgang des Rechtsstreits für die ursprüngliche Klägerin von immenser Bedeutung war – dies insbesondere angesichts der unheilbaren Krankheit, an der sie litt und ihrer dementsprechend begrenzten Lebenserwartung. Aufgrund dessen seien die Behörden in besonderem Maße verpflichtet gewesen, den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht zu werden, was vor allem bei Streitigkeiten dieser Art nach ständiger EGMR-Rechtsprechung erforderlich ist.91 Obwohl der EGMR der Regierung darin zustimmt, dass das Urteil kaum vor dem Tod der Klägerin, welcher sechs Monate nach Klageerhebung eintrat, hätte ergehen können, kritisiert er dennoch die mangelnden Anstrengungen, die das SG unternahm um das Verfahren voranzutreiben. Unter diesen Umständen hält der EGMR eine Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer durch das SG für gegeben. Die Verfahrensdauer vor dem LSG von drei Jahren und fünf Monaten führt der EGMR vor allem auf die durch den Sachverständigen verursachten Verzögerungen zurück. Gleichwohl macht er hierfür das LSG verantwort88 Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 48; Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 60; Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 55. 89 Rechnerisch ist dies freilich nicht ganz korrekt – tatsächlich waren ein Jahr, drei Monate und 28 Tage verstrichen. 90 Erkner u. Hofauer ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9616/81, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 68. 91 A. u. a. ./. Dänemark, Beschwerde Nr. 20826/92, Urt. v. 8. Februar 1996, Ziff. 78.

Kap. 5: Von „Volkwein‘‘ bis „Thieme‘‘

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lich, welches für die Beaufsichtigung und Erstellung des Gutachtens letztverantwortlich sei. Auch wenn der Tod der Klägerin die „Bedeutung der Sache für den Bf.“ verringert habe, ist der EGMR der Ansicht, eine Zeitspanne von drei Jahren und fünf Monaten sei nicht mehr angemessen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Das BSG hat dagegen seinen Feststellungen zufolge keine Verzögerungen bewirkt. Angesichts der Umstände des Falles gelangt der EGMR damit einstimmig zu dem Ergebnis, dass die Verfahrensdauer vorliegend nicht als angemessen angesehen werden könne, weshalb eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bejahen sei. Kapitel 5

Von „Volkwein“ bis „Thieme“ – die Entscheidungen des Jahres 2002 I. Volkwein gegen Deutschland 1. Sachverhalt Dem Verfahren liegt im Ausgang ein gegen den Bf. gerichteter Mahnbescheid über einen Betrag von 1.304,72 DM wegen geltend gemachter Schadensersatzansprüche infolge eines Verkehrsunfalls zugrunde. Der Antragsteller dieses Mahnbescheids beantragte am 8. Oktober 1992 beim AG Groß-Gerau die Überleitung in das streitige Verfahren, da der Bf. die Zahlung verweigert hatte. Das AG gab daraufhin am 14. Dezember 1992 ein Sachverständigengutachten zum Unfallhergang in Auftrag. Am 16. Juni 1993 erstattete der Sachverständige in der Verhandlung mündlich sein Gutachten. Termin für die Urteilsverkündung wurde bestimmt auf den 10. August 1993. Am 23. Juni 1993 beantragte der Bf. die schriftliche Abfassung des Gutachtens, woraufhin das Gericht am 10. August beschloss, dem Sachverständigen die schriftliche Abfassung aufzugeben. Am 14. April 1994 fragte das Gericht erfolglos bei dem Sachverständigen an, ob das Gutachten erstellt sei. Am 7. Juli 1994 setzte es ihm eine Frist zur Erstellung des Gutachtens bis zum 15. August 1994 unter Androhung eines Zwangsgeldes. Das Zwangsgeld wurde am 22. August 1994 verhängt unter erneuter Fristsetzung bis zum 30. September 1994 und erneuter Androhung eines Zwangsgeldes. Am 21. Oktober 1994 verhängte das Gericht auch dieses Zwangsgeld und setzte erneut eine Frist bis zum 1. Dezember 1994 unter Androhung eines weiteren, deutlich erhöhten Zwangsgeldes. Am 28. Oktober 1994 forderte das Gericht den Sachverständigen zur Zahlung der verhängten Zwangsgelder auf und ordnete am 5. Januar 1995 deren Vollstreckung an. Daraufhin versuchte ein Gerichtsvollzieher am 19. April 1995, die

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Gelder beizutreiben. Im Juni 1995 verlangten die Parteien, dem Sachverständigen den Auftrag zu entziehen, worauf das Gericht den Sachverständigen mehrfach erfolglos zur Rückgabe der Akten aufforderte. Am 21. April 1996 setzte das Gericht dem Sachverständigen eine Frist zur Rückgabe der Akten bis zum 15. Mai 1996 und widerrief gleichzeitig den Auftrag. Am 13. August 1996 antwortete der Sachverständige, die Akten befänden sich bei Gericht. Am 25. April 1997 gab der Sachverständige die Akten zurück und erklärte, er habe aufgrund Fehlverhaltens seines Angestellten von den wiederholten Aufforderungen des Gerichts keine Kenntnis gehabt. Am 18. Juli 1997 lehnte der Bf. den mit der Sache befassten Richter als befangen ab. Am 27. August 1997 lehnte er auch den neu bestellten Sachverständigen als befangen ab, welcher das Gericht zur Entziehung seines Auftrages aufforderte, weil der Bf. ihn beleidigt habe. Am 23. September 1997 wies das LG Darmstadt den Ablehnungsantrag gegen den Richter zurück, worauf der Bf. am 11. November 1997 Beschwerde gegen diese Entscheidung erhob. Auch diese Beschwerde wurde vom OLG Frankfurt am 18. Dezember 1997 zurückgewiesen. Im Dezember 1997 bestimmte das AG Termin für die mündliche Verhandlung auf den 11. März 1998. Am 6. Mai 1998 erging das Urteil in dieser Sache, wonach der Bf. zur Zahlung von 650 DM nebst Zinsen verurteilt wurde. Der Bf. wandte sich am 4. Juli 1998 an die KOM und beklagte die lange Verfahrensdauer vor dem AG. Am 1. November 1998 wurde die Sache mit Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 an den Gerichtshof übergeleitet, der die Beschwerde am 22. Mai 2001 für zulässig erklärte. Am 14. September und am 1. Oktober 1998 nahm das BVerfG in Besetzung einer Kammer von drei Richtern die Verfassungsbeschwerden des Bf. nicht zur Entscheidung an. 2. Urteil des EGMR vom 4. April 2002 Beginn der Prüfung durch den EGMR ist die Bestimmung des relevanten Zeitraumes, der nach seinen Feststellungen mit der Klageerhebung des Antragsgegners am 8. Oktober 1992 begann und am 1. Oktober 1998 mit der Nichtannahmeentscheidung des BVerfG endete. Was die Angemessenheit der Verfahrensdauer betrifft verweist der Gerichtshof auf die aus seiner Rechtsprechung bereits bekannten Kriterien.92 Überdies erinnert er daran, selbst in Verfahrenszweigen, in denen die Parteimaxime gilt, sei der Richter nicht von der Pflicht befreit, den in Art. 6 Abs. 1 EMRK normierten Garantien zur Durchsetzung zu verhelfen.93 Der EGMR ist der Auffas92 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 43; sowie H. T. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38073/97, Urt. v. 11. Oktober 2001, Ziff. 31.

Kap. 5: Von „Volkwein‘‘ bis „Thieme‘‘

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sung, die Sache habe keine Schwierigkeiten aufgewiesen. In Bezug auf das Verhalten des Bf. stellt er fest, dass dieser zwei Ablehnungsanträge gegen den mit der Sache befassten Richter und gegen den Sachverständigen gestellt hat. Die hierdurch bedingten Verzögerungen könnten zwar – da derartige Rechtsmittel im deutschen Recht vorgesehen sind – nicht dem Bf. angelastet werden; genauso wenig trüge aber der beklagte Staat hierfür die Verantwortung.94 Was das Verhalten der Justizbehörden angeht, hebt der EGMR hervor, das Sachverständigengutachten sei erst drei Jahre und acht Monate nach der Beauftragung durch das Gericht erstellt worden. Er unterstreicht, die Argumentation der Regierung, das Gericht trage keine Verantwortung für die durch den Sachverständigen verursachten Verzögerungen, nicht nachvollziehen zu können. Es obliege vielmehr dem Richter, bei der Beauftragung eines Sachverständigen dafür zu sorgen, dass das Gutachten zeitnah erstellt wird.95 Der EGMR anerkennt zwar die Bemühungen des Gerichts, das Gutachten zu erhalten, stellt aber auch fest, dass das Gericht in seiner Situation andere, effektivere Mittel gehabt hätte – insbesondere angesichts der bereits verronnenen Zeit und der Tatsache, dass die bislang unternommenen Anstrengungen wirkungslos blieben. Außerdem hätte das Gericht schon lange einen neuen Sachverständigen beauftragen müssen, anstatt nicht enden wollende Versuche zu unternehmen, den bereits ernannten Sachverständigen zu Handlungen irgendeiner Art zu bewegen. Hieraus zieht der EGMR den Schluss, dass die Dauer des Verfahrens nicht mehr als angemessen betrachtet werden könne und bejaht einstimmig eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK. II. Becker gegen Deutschland – über 13 Jahre Dauer, allein 10 davon vor dem Bundesverfassungsgericht 1. Sachverhalt Im Jahr 1957 reichte der damals bei der Deutschen Bundespost beschäftigte Bf. bei seinem Dienstherrn einen Verbesserungsvorschlag zum Induktionsschutz von Fernmeldekabeln ein, den er anschließend als „dienstgebundene Erfindung“ bezeichnete. Im Jahr 1958 nahm die Deutsche Bundespost die Erfindung als 93 Bayrak ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 27937/95, Urt. v. 20. Dezember 2001, Ziff. 28; sowie Scopelliti ./. Italien, Beschwerde Nr. 15511/89, Urt. v. 23. November 1993, Ziff. 25. 94 Erkner u. Hofauer ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9616/81, Urt. v. 24. März 1987, Série A Nr. 117, S. 63, Ziff. 68; sowie Poiss ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9816/82, Urt. v. 24. März 1987, Série A Nr. 117, S. 104, Ziff. 57. 95 Scopelliti ./. Italien, Beschwerde Nr. 15511/89, Urt. v. 23. November 1993, Ziff. 23; Martins Moreira ./. Portugal Beschwerde Nr. 11371/85, Urt. v. 26. Oktober 1988, Série A Nr. 143, S. 21, Ziff. 60; sowie Nuutinen ./. Finnland, Beschwerde Nr. 32842/96, Urt. v. 27. Juni 2000, CEDH-2000 VIII, Ziff. 117.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

eigene in Anspruch und meldete sie beim Deutschen Patentamt an. Da die Deutsche Bundespost und der Bf. keine Einigung über die Vergütung der Erfindung erzielen konnten, zahlte die Deutsche Bundespost dem Bf. im Jahr 1961 den Betrag von 51.038,95 DM aus. Dieser Entscheidung widersprach der Bf. und rief im Jahr 1974 die Schiedsstelle beim Deutschen Patentamt an. Er machte geltend, die Berechnung der Vergütung sei von den Kosten abhängig, welche die Bundespost aufgrund seiner Erfindung eingespart habe und forderte einen Betrag von weit über 10 Mio. DM. Die Schiedsstelle gab der Deutschen Bundespost Recht und stellte das Scheitern des Einigungsversuchs zwischen dem Bf. und der Bundespost fest. Im Jahr 1985 erhob der Bf. Klage beim LG Frankfurt am Main, welches die Klage durch Urteil vom 10. Juli 1985 abwies. Mit Urteil vom 27. November 1986 bestätigte das OLG Frankfurt die Entscheidung des LG. Die am selben Tag eingelegte und am 27. September 1987 begründete Revision nahm der BGH mit Beschluss vom 14. März 1988 nicht zur Entscheidung an. Am 24. April 1998 beschloss das BVerfG durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer, die im Jahr 1988 erhobene Verfassungsbeschwerde des Bf. nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 17. September 1998 erhob der Bf. Individualbeschwerde bei der KOM und rügte die Dauer des von ihm angestrengten zivilgerichtlichen Verfahrens. Die Beschwerde wurde dem Gerichtshof am 1. November 1998, dem Tag des Inkrafttretens des Protokolls Nr. 11, vorgelegt, welcher sie mit Entscheidung vom 14. März 2002 für zulässig erklärte. 2. Urteil des EGMR vom 26. September 2002 Der EGMR beginnt die Überprüfung mit der Feststellung, dass das Verfahren mit der Klageerhebung am 10. Januar 1985 begann und am 24. April 1998 mit der Nichtannahmeentscheidung des BVerfG endete, was einer Gesamtdauer von mehr als 13 Jahren entspricht. Gleichwohl hat sich der Bf. darauf beschränkt, die Verfahrensdauer vor dem BVerfG (10 Jahre) und vor dem BGH (etwas mehr als 15 Monate) zu beanstanden. Der EGMR gelangt so zu einem zu berücksichtigenden Zeitraum von 11 Jahren und drei Monaten. Einmal mehr ruft er in Erinnerung, die Angemessenheit der Verfahrensdauer sei im Lichte der näheren Umstände des Falles und unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien zu würdigen.96 Der EGMR ist der Auffassung, dass die Sache ungeachtet der Tatsache, dass ein Nichtannahmebeschluss seitens des BVerfG ergangen war, eine gewisse Komplexität aufwies, was auch aus dem Umfang der achtseitigen Begründung des Beschlusses hervorgehe. Bezüglich des Verhaltens des Bf. hebt er hervor, 96 Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000, Ziff. 36; sowie Tricˇkovic´ ./. Slowenien, Beschwerde Nr. 39914/98, Urt. v. 12. Juni 2001, Ziff. 44.

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dass dieser seine Revision am 27. November 1986 eingelegt hatte, die Begründung aber erst am 27. September 1987 zugestellt werden konnte. Was die Verfahrensdauer vor dem BVerfG anbelangt, hat der Bf. nach Auffassung des EGMR zu dessen Dauer nichts beigetragen. Die Verfahrensdauer vor dem BGH bietet dem Gerichtshof zufolge keinerlei Anlass zur Kritik. Hinsichtlich der Dauer des Verfahrens vor dem BVerfG stellt der EGMR fest, dass die Regierung sich nicht in der Lage sieht, hinlängliche Erklärungen hierfür abzugeben. Aus diesem Grunde bejaht der EGMR einstimmig die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK. III. Thieme gegen Deutschland 1. Sachverhalt Der 1949 geborene Bf. nahm am 1. August 1990 die Tätigkeit als Arzt zur Weiterbildung in einer Klinik für Augenheilkunde in Brunswick auf. Nach einigen Monaten kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und seinem Arbeitgeber. Am 27. Februar 1991 erhob der Bf. gegen seinen Arbeitgeber Klage beim ArbG Brunswick auf Zahlung des Tariflohns. Am 8. März 1991 kündigte der Arbeitgeber dem Bf., woraufhin dieser am 11. März 1991 beim ArbG Kündigungsschutzklage erhob. Zur anschließenden Güteverhandlung vor dem ArbG am 27. März 1991 erschienen die Parteien nicht. Daraufhin wurde Termin bestimmt auf den 26. Juni 1991. Am 28. April 1991 beantragte der Bf., einstweilige Maßnahmen zu ergreifen und erhob am 2. Mai 1991 Klage auf Zahlung von Schadensersatz sowie auf Erstellung seines Arbeitszeugnisses. Am 24. Mai 1991 kündigte der Arbeitgeber dem Bf. erneut, nachdem dieser eine weitere Klage erhoben hatte. Am 26. Juni 1991 hob das Gericht auf Antrag beider Parteien den vorgesehenen Verhandlungstermin auf. Am 10. Juli 1991 focht der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag an, woraufhin der Bf. Klage auf Feststellung der Wirksamkeit des Arbeitsvertrages erhob. Im August wurde Termin für die mündliche Verhandlung bestimmt auf den 27. November 1991. Auch dieser Termin wurde auf Antrag des Bf. aufgehoben. Mit Urteil vom 27. Januar 1993 bestätigte das ArbG die Wirksamkeit des Vertrages. Die mündliche Verhandlung betreffend die noch im Raum stehende Kündigungsschutzklage fand am 19. Mai statt. In deren Folge beschloss das Gericht, ein Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben. Am 28. September 1993 beauftragte das Gericht den Sachverständigen, dessen Gutachten am 28. April 1994 einging. Bis Ende September 1994 gaben die Parteien Stellungnahmen zu diesem Gutachten ab. Am 23. Dezember 1994 setzte der Anwalt des Bf. das Gericht darüber in Kenntnis, dass der Bf. im Februar 1995 in einem Strafverfahren gegen seinen früheren Arbeitgeber aussagen würde und bat da-

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

rum, vor diesem Termin keine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Später gab er zu, selbst Urheber der anonymen Anzeige, welche zu dem Strafverfahren geführt hatte, zu sein. Im Februar legitimierten sich neue Vertreter für den Bf. und forderten die Prozessakten an, welche im Juni 1995 zurückgegeben wurden. Im August 1995 wurde Termin für die mündliche Verhandlung auf den 14. Februar 1996 bestimmt. Im Oktober 1995 und im Januar 1996 lehnte der Bf. den mit der Sache befassten Richter jeweils erfolglos als befangen ab. Durch Urteil vom 14. Februar 1996 erklärte das ArbG die Kündigung für unwirksam und wies die Klage des Arbeitgebers ab. Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien wurde rückwirkend ab dem 1. Juli 1991 aufgelöst, und der Bf. erhielt eine Abfindung in Höhe von 6.000 DM. Die im März 1996 eingelegte und im Mai 1996 begründete Berufung des Bf. wies das LAG am 14. August 1996 zurück und beschloss, die Revision nicht zuzulassen. Am 2. Dezember 1996 wandte sich der Bf. an die KOM und beklagte die Dauer des Verfahrens. Am 1. November 1998 wurde die Beschwerde mit Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 auf den Gerichtshof übergeleitet, welcher sie am 15. November 2001 für teilweise zulässig erklärte. Am 16. Juni 1997 legte der Bf. Verfassungsbeschwerde ein, die am 11. Juli 1997 von einer Kammer des BVerfG, bestehend aus drei Richtern, nicht zur Entscheidung angenommen wurde. 2. Urteil des EGMR vom 17. Oktober 2002 Nach den Feststellungen des EGMR begann der zu beurteilende Zeitraum am 11. März 1991 mit der Klageerhebung beim ArbG Brunswick und endete am 11. Juli 1997 mit der Nichtannahmeentscheidung des BVerfG. Er erstreckte sich damit über sechs Jahre und vier Monate. Einmal mehr ruft der EGMR in Erinnerung, die Verfahrensdauer sei nach den Umständen des Falles unter Heranziehung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien zu beurteilen.97 Überdies sei ein Richter auch in denjenigen Gerichtssystemen, in denen die Parteimaxime Geltung beansprucht, wie es im deutschen Zivilprozess der Fall ist, nicht von der Verpflichtung befreit, die Einhaltung der in Art. 6 Abs. 1 EMRK normierten Voraussetzungen zu gewährleisten.98 Der EGMR ist der Auffassung, dass der Fall gewisse Schwierigkeiten aufwies, namentlich die parallel laufenden Verfahren, die sich auf das Arbeitsverhältnis zwischen dem Bf. und seinem Arbeitgeber bezogen. Was das Verhalten des Bf. angeht, stellt er fest, dass dieser mehrfach Terminverlegungen beantragt 97 Mianowicz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42505/98, Urt. v. 18. Oktober 2001, Ziff. 50. 98 Duclos ./. Frankreich, Beschwerden Nr. 20940/92, 20941/92, 20942/92, Urt. v. 17. Dezember 1998, Ziff. 55; Volkwein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45181/99, Urt. v. 4. April 2002, Ziff. 36.

Kap. 6: Die Urteile „Hesse-Anger‘‘ bis „Herbolzheimer‘‘

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sowie seinen Anwalt gewechselt hat. Auch seine zahlreichen schriftlichen Einlassungen hätten zu Verzögerungen geführt, wohingegen die beiden Befangenheitsanträge diesbezüglich keine Rolle spielten. In Bezug auf das Verhalten der Justizbehörden kritisiert der EGMR die Dauer des Verfahrens beim ArbG von fast fünf Jahren. Zwar sei dies auch durch das Vorliegen der Parallelverfahren bedingt gewesen, jedoch sei dem Gericht vorzuwerfen, dass es mehrere Monate brauchte, um einen Sachverständigen auszuwählen und die mündliche Verhandlung durchzuführen. Im Übrigen ist der EGMR der Ansicht, das Argument, man habe den Ausgang des Verfahrens betreffend die Wirksamkeit des Vertrages abwarten müssen, sei nicht schlagkräftig. Man frage sich dann nämlich zu Recht, warum das ArbG nicht so lange gewartet habe, bis die Sache durch das LAG endgültig entschieden war. Im Übrigen stellt der EGMR fest, dass zwischen der Abgabe des Gutachtens bei Gericht am 28. April 1994 und der Urteilsfällung am 14. Februar 1996 keine einzige Aktivität seitens des Gerichts erkennbar ist. In Anbetracht der Umstände des Falles und der Tatsache, dass es sich um einen Arbeitsgerichtsprozess handelte, welcher besondere Eile erfordert,99 gelangt der EGMR zum Ergebnis, die Dauer des Verfahrens sei übermäßig lang gewesen und mit dem Erfordernis einer Entscheidung in angemessener Frist unvereinbar. Aus diesem Grunde bejaht der EGMR vorliegend einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

Kapitel 6

Die Urteile „Hesse-Anger“ bis „Herbolzheimer“ – 2003 I. Hesse-Anger gegen Deutschland – 111/2 Jahre Dauer sind nicht zu rechtfertigen, Bezugnahme auf den Fall Süßmann 1. Sachverhalt Die Bf. ist Angestellte im öffentlichen Dienst und bezahlt seit 40 Jahren Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung. Ihr Ehemann bezieht seit dem 1. Januar 1992 eine Altersrente. Er hat seit 24 Jahren freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung geleistet. Am 1. Januar 1986 trat das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz in Kraft, das insbesondere vorsah, dass Erwerbseinkommen oder gegebenenfalls Erwerbsersatzeinkommen bei der Berechnung der Rente anzurechnen seien. Ein Freibetrag war vorgesehen, der sich auf etwa 900 DM pro Jahr belief und die Berechnung der Höhe der Hinterbliebenenrente unberührt ließ. 99 Mianowicz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42505/98, Urt. v. 18. Oktober 2001, Ziff. 55.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Im selben Jahr gingen beim BVerfG mehrere Verfassungsbeschwerden gegen dieses Gesetz ein. Die Bf. selbst legte am 23. Dezember 1986 Verfassungsbeschwerde ein und beklagte die Neuberechnung der Renten, die zu einer Ungleichbehandlung führe. Im März 1987 legte das BVerfG die Beschwerde verschiedenen Verfassungsorganen und -institutionen vor, die nach mehrfachen Mahnungen seitens des BVerfG am 19. Juli 1988 ihre Stellungnahme abgaben. Die Bf. gab ihrerseits am 27. Januar 1989 eine 129seitige Stellungnahme ab. Im Dezember 1989 legte das BVerfG die Verfassungsbeschwerden den (zukünftigen) Neuen Ländern vor, deren Stellungnahmen im Januar/März 1991 eingingen. Am 27. April 1995 teilte die Bf. dem BVerfG mit, ihre Beschwerde vervollständigen und aktualisieren zu wollen. Am 18. Februar 1998 wies der Erste Senat des BVerfG zwei der Verfassungsbeschwerden, die im Jahr 1986 erhoben worden waren, zurück. In seiner 40seitigen Entscheidung legte das BVerfG dar, dass es keinen Anhaltspunkt für eine Grundrechtsverletzung erkennen könne. Im März 1998 forderte das BVerfG deshalb die Bf. auf, ihre Verfassungsbeschwerde zurückzunehmen. Diese Aufforderung beantwortete die Bf. am 16. Mai 1998 abschlägig und begründete dies damit, dass die Entscheidung vom 18. Februar 1998 einen anderen Fall regle. Am 10. Juni 1998 beschloss das BVerfG als Dreierkammer, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Es bezog sich dabei im Wesentlichen auf seine Entscheidung vom 18. Februar 1998. Am 21. Dezember 1998 legte die Bf. Individualbeschwerde beim EGMR ein und machte die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund der langen Verfahrensdauer vor dem BVerfG geltend. Mit Entscheidung vom 16. Mai 2002 erklärte der EGMR die Beschwerde für teilweise zulässig. 2. Urteil des EGMR vom 6. Februar 2003 Zu Beginn seiner Prüfung stellt der EGMR – ohne auf die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK einzugehen – fest, dass das Verfahren am 23. Dezember 1986 begann und am 10. Juni 1998 endete. In Bezug auf die Angemessenheit der Verfahrensdauer stellt der EGMR erneut voran, dass diese sich nach den Umständen des Falles unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des EGMR verankerten Kriterien richte.100 Er bemerkt, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde sofort den verschiedenen mit der Sache befassten Institutionen vorgelegt und um eine Stellungnahme gebeten habe. Überdies hebt er hervor, die meisten dieser Stellungnahmen hätten im Jahr 1989 bereits vorgele100 Tric ˇ kovic´ ./. Slowenien, Beschwerde Nr. 39914/98, Urt. v. 12. Juni 2001, Ziff. 44; Diaz Aparicio ./. Spanien, Beschwerde Nr. 49468/99, Urt. v. 11. Oktober 2001, Ziff. 20; H. T. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38073/97, Urt. v. 11. Oktober 2001, Ziff. 31; sowie Becker ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45448/99, Urt. v. 26. September 2002, Ziff. 20.

Kap. 6: Die Urteile „Hesse-Anger‘‘ bis „Herbolzheimer‘‘

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gen. Was die Neuen Länder angeht, welche das BVerfG nach der Wiedervereinigung mit der Sache befasste, bemerkt der EGMR, nur zwei Länder hätten geantwortet, und dies erst im Januar beziehungsweise März 1991. Seitdem sei in der Sache nichts mehr unternommen worden. Der EGMR ist außerdem der Ansicht, dass die Wiedervereinigung allein eine solche Dauer nicht rechtfertigen könne – dies umso mehr, als die Verfahrensdauer im vorerwähnten Fall Süßmann weniger als 31/2 Jahre betrug. Angesichts dessen ist der EGMR der Auffassung, die Verfahrensdauer sei vorliegend nicht mehr als angemessen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK anzusehen und bejaht demzufolge eine Verletzung dieser Norm.

II. Kind gegen Deutschland – ein Verfahren von exorbitanter Länge (15 Jahre und 9 Monate) 1. Sachverhalt Der Bf. ist Minderheitsaktionär der Kommanditgesellschaft auf Aktien Wicküler-Küpper Brauerei KGaA (im Folgenden WBK), welche gem. §§ 9 ff. UmwG durch Beschluss vom 25. März 1982 in eine Kommanditgesellschaft namens Wilhelm-Breuer KG umgewandelt wurde. Die Rechtsfolge dieser Umwandlung bestand darin, dass die Minderheitsaktionäre der Gesellschaft WBK ihre Aktien gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung veräußern mussten. Die WBK bot den ausscheidenden Aktionären zunächst nach § 12 Abs. 1 UmwG eine Barabfindung in Höhe von 825 DM je Aktie im Nennwert von 100 DM an. Diesen Betrag erachteten die Aktionäre, darunter der Bf., für unzureichend und erhoben deshalb am 23. Juni 1982 Klage beim LG Düsseldorf, mit der sie beantragten, nach §§ 13 bis 30 UmwG eine angemessene Abfindung einschließlich der Schadensersatzansprüche, welche die WBK gegen ihre Mehrheitsaktionäre geltend machen konnte, gerichtlich festzusetzen. Nachdem am 18. November 1982 ein gemeinsamer Vertreter der ausscheidenden Aktionäre bestellt worden war, welcher am 5. Januar 1983 seine Stellungnahme abgab, richteten die Parteien im weiteren Verlauf des Verfahrens drei Sachstandsanfragen an die Geschäftsstelle des LG, welche auf die gegenwärtige Arbeitsüberlastung der zuständigen Kammer verwies. Am 26. August 1986 bestellte das LG einen Sachverständigen, der am 11. Februar 1987 auf Aufforderung des LG hin einen Zwischenbericht erstattete, welchen er am 27. April 1987 vervollständigte. Mit Beschluss vom 16. Dezember 1987 setzte das LG nach mündlicher Verhandlung die Barabfindung auf 934,08 DM je 100 DM Aktiennennbetrag fest. Nach Würdigung der Vermögenslage der Antragsgegnerin vertrat das LG die Auffassung, die Schadensersatzansprüche könnten nicht Gegenstand eines Spruchverfahrens sein. Auf die sofortige Beschwerde beider Parteien gegen die-

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

sen Beschluss setzte das OLG eine Frist zur Beschwerdebegründung bis zum 30. Juni 1988, die auf Antrag des Bf. bis zum 14. Juli 1988 verlängert wurde. Am 9. November 1989 erfolgte nach mehrfacher Terminsverlegung auf Antrag der Parteien die Beweisaufnahme. Am 7. Februar 1990 wurden weitere Zeugen vernommen. Mit Beschluss vom 16. Oktober 1990 setzte das OLG die Barabfindung auf 835,90 DM fest. In Bezug auf die geltend gemachten Schadensersatzansprüche vertrat es die Auffassung, diese seien zwar grundsätzlich zu berücksichtigen, bestünden aber vorliegend nach materiellem Recht nicht. Daraufhin legte der Bf. Beschwerde beim BGH ein, welche jedoch mit Beschluss vom 4. Februar 1991 als unzulässig zurückgewiesen wurde. Am 17. November 1990 legte der Bf. Verfassungsbeschwerde ein, die er am 19. Februar 1991 um den zurückweisenden Beschluss des BGH erweiterte. Am 9. März 1995 stellte das BVerfG die Verfassungsbeschwerde dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, den Vertretern der ausgeschiedenen Aktionäre sowie der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zu. Mit Schreiben vom 14. Juli 1997 teilte der Bf. dem BVerfG mit, er „habe zu keinem Zeitpunkt eine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde angemahnt“ und bekunde „volles Verständnis“ für die durch die gegenwärtige Arbeitsüberlastung des Gerichts ausgelösten Probleme. Am 4. April 1998 entschied das BVerfG durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer, die Verfassungsbeschwerde auf der Basis eines umfassenden internen Vermerks zu den Rechtsfragen der Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 28. September 1998 wandte sich der Bf. mit der Individualbeschwerde an die KOM und beklagte die Dauer der Zivilgerichtsverfahren. Mit Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 am 1. November 1998 wurde die Beschwerde auf den Gerichtshof übergeleitet und von diesem mit Entscheidung vom 23. Mai 2002 in Bezug auf die beklagte Verfahrensdauer für zulässig erklärt. 2. Urteil des EGMR vom 20. Februar 2003 Der EGMR befasst sich in diesem Fall ausnahmsweise wieder mit der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK und erinnert in diesem Zusammenhang daran, „dass seiner ständigen Rechtsprechung zufolge ein Verfahren unter Artikel 6 Absatz 1 der Konvention fällt, selbst wenn es vor einem Verfassungsgericht stattfindet, wenn sein Ausgang für die zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen von entscheidender Bedeutung ist.“ 101 Da die Streitigkeit in Bezug auf die Berechnung der Schadensersatzansprüche zugunsten der Minderheitsaktionäre einer Gesellschaft finanzieller Natur ist, habe sie zweifellos einen Anspruch zivilrechtlicher Art im Sinne des Art. 6 EMRK betroffen. 101 Mianowicz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42505/98, Urt. v. 18. Oktober 2001, Ziff. 45.

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Der zu berücksichtigende Zeitraum begann nach den Feststellungen des EGMR am 20. Juni 1982 mit der Anrufung des LG Düsseldorf und endete am 4. April 1989 mit der Entscheidung des BVerfG. Das Verfahren dauerte demnach 15 Jahre und neun Monate. Im Rahmen der Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ruft der EGMR in Erinnerung, diese sei nach den Umständen des Falles unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien zu würdigen.102 Der vorliegende Fall habe eine gewisse Komplexität aufgewiesen, weil er die Festsetzung eines Abfindungsbetrages zu Gunsten von Minderheitsaktionären im Zuge der Umwandlung einer Gesellschaft zum Gegenstand hatte. Hinzukomme, dass einerseits die Bestellung von Sachverständigen erforderlich gewesen sei und andererseits zahlreiche Parteien an dem Verfahren beteiligt gewesen seien. Was das Verhalten des Bf. angeht, so hat dieser nach Auffassung des EGMR zu der Verfahrensdauer in keiner Weise beigetragen. Zwar habe er mit seinem Schreiben an das BVerfG vom 14. Juli 1997 bestätigt, dass er Verständnis für die durch die gegenwärtige Arbeitsbelastung des Verfassungsgerichts ausgelösten Probleme habe und daher eine zügige Entscheidung nicht erwarte. Diese Mitteilung, die eher als ein „Akt der Höflichkeit“ zu verstehen sei, dürfe jedoch nicht so ausgelegt werden, dass sie einen Verzicht auf das Recht der Rüge überlanger Verfahrensdauer vor dem BVerfG darstelle. Was das Verhalten der innerstaatlichen Gerichte anbelangt, stellt der EGMR fest, die größten Verzögerungen seien durch die Verfahren vor dem LG Düsseldorf und vor dem BVerfG entstanden. So habe das LG seine Entscheidung erst am 16. Dezember 1987 verkündet, also fünf Jahre und fünf Monate nach seiner Anrufung am 23. Juni 1982. Beim BVerfG sei das Verfahren sogar mehr als sieben Jahre anhängig gewesen. Selbst wenn das BVerfG das Justizministerium Nordrhein-Westfalen in dieser Sache konsultiert habe und gleichzeitig mit zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit befasst gewesen sei, erscheine eine solche Dauer als überlang. Der EGMR erinnert daran, dass „die Vertragsstaaten nach Artikel 6 Absatz 1 EMRK dazu verpflichtet sind, ihre Justizsysteme so zu organisieren, dass erst- und höherinstanzliche Gerichte in der Lage sind, alle Anforderungen zu erfüllen, einschließlich der Verpflichtung, die Fälle innerhalb angemessener Fristen abzuschließen.“ Im vorliegenden Fall lasse das Verfahren übermäßige Verzögerungen erkennen, die den nationalen Gerichten anzulasten seien. Der EGMR bejaht daher einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

102 Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, Ziff. 36 = EuGRZ 2001, 301; sowie Mianowicz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42505/98, Urt. v. 18. Oktober 2001, Ziff. 50.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

III. Niederbörster gegen Deutschland 1. Sachverhalt Der 1915 geborene Bf. hat eine uneheliche Tochter, die im Jahr 1985 geboren wurde. Sowohl vor als auch nach der Geburt kam es zu Spannungen zwischen den Eltern. Bis zum Sommer 1989 sah der Bf. seine Tochter regelmäßig, obwohl er etwa 300 km entfernt von ihr lebte. Nachdem er ein Jahr lang keinen Kontakt zu ihr hatte, sah er sie wieder Ende 1990. Danach verweigerte die Mutter jeglichen weiteren Kontakt. 1991 beantragte der Bf. beim AG Bonn ein Umgangsrecht, welches das AG am 12. März 1992 unter Berufung auf das Kindeswohl im Sinne des § 1711 BGB zurückwies. Die Beschwerden zum LG und zum OLG Köln blieben erfolglos. Am 9. Februar 1993 beschloss eine Kammer des BVerfG, bestehend aus drei Richtern, die Verfassungsbeschwerde des Bf. nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 24. März 1993 lehnte das AG Bonn einen weiteren Antrag des Bf. ab. Am 23. Juni 1993 beantragte dieser erneut die Gewährung eines Umgangsrechts und lehnte mit Schreiben vom 6. Juli 1993 den mit der Sache befassten Richter als befangen ab. Am 2. November 1993 wies das Gericht den Antrag ab und vertagte seine Entscheidung auf den 12. März 1994. Am 28. Januar 1994 wies das Gericht den Ablehnungsantrag zurück. Die Beschwerde hiergegen wies das OLG Köln am 18. März 1994 zurück. Die Beschwerde des Bf. gegen die erneute Versagung eines Umgangsrechts wies das LG am 22. September 1994 zurück. Am 7. November 1994 legte der Bf. Verfassungsbeschwerde ein mit der Begründung, § 1711 BGB sei verfassungswidrig. Am 22. März 1995 forderte der Bf. das BVerfG auf, seinen Fall angesichts seines hohen Alters (er war mittlerweile 80 Jahre alt) und eines Herzleidens zügig zu bearbeiten. Zwischen 1995 und 1998 erfolgten Schriftwechsel mit dem BVerfG, deren Gegenstand die beabsichtigte Zurückstellung der Beschwerde des Bf. war mit dem Ziel, den Ausgang anderer Beschwerden, die mit der Verfassungsmäßigkeit des § 1711 BGB zu tun hatten, abzuwarten. Am 15. Februar 1996 teilte das BVerfG schließlich mit, es strebe eine Entscheidung Ende des Jahres an. Am 20. November 1997 beantragte der Bf. erneut ein Umgangsrecht beim AG Bonn. Am 20. Januar 1998 legte das BVerfG dem Bf. nahe, seine Beschwerde für erledigt zu erklären, da das neue Kindschaftsrecht, welches insbesondere die Beziehung zwischen Vätern und ihren unehelichen Kindern neu regle, demnächst in Kraft trete. Am 30. April 1998 wies das AG den Antrag auf Gewährung eines Umgangsrechts zurück, da sich die Umstände nicht geändert hätten. Bei einer Anhörung im Rahmen des hiergegen gerichteten Beschwerdeverfahrens kamen die Parteien überein, der Bf. solle den Kontakt zu seiner Tochter wieder aufnehmen. Mit Unterstützung des LG vereinbarten sie mehrere Treffen, die jedoch jeweils aus Gründen, die beiden Parteien zuzurechnen sind, aufgehoben wurden.

Kap. 6: Die Urteile „Hesse-Anger‘‘ bis „Herbolzheimer‘‘

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Mit Schreiben vom 10. August 1998 lehnte der Bf. den Vorschlag des BVerfG, seine Beschwerde für erledigt zu erklären, ab. Am 19. August 1998 teilte der berichterstattende Richter des BVerfG dem Bf. mit, seine Beschwerde werfe mit Inkrafttreten des neuen Kindschaftsrechts keine Fragen grundsätzlicher Bedeutung mehr auf, weshalb sie keine Aussicht auf Erfolg habe. Mit Schreiben vom 19. Oktober 1998 erklärte der Bf. daraufhin seine Beschwerde für erledigt und betonte, dies nur getan zu haben, um der Kostenlast zu entgehen. Am 1. Dezember 1998 entschied eine Dreierkammer des BVerfG, das Land NordrheinWestfalen habe die Kosten dieses Verfahrens zu tragen. Am 16. Januar 1998 legte der Bf. Individualbeschwerde beim EGMR ein und beklagte die überlange Verfahrensdauer, insbesondere vor dem BVerfG. Anfang Oktober 1999 durfte der Bf. seine Tochter wiedersehen. Er nahm daraufhin die Beschwerde gegen die amtsgerichtliche Entscheidung auf Drängen des LG zurück. Ein weiteres, letztes Treffen zwischen dem Bf. und seiner Tochter fand im April 2000 am 85. Geburtstag des Bf. statt. Am 28. Februar 2002 erklärte der EGMR die Beschwerde für teilweise zulässig. 2. Urteil des EGMR vom 27. Februar 2003 Zu Beginn seiner Prüfung stellt der EGMR fest, der zu beurteilende Zeitraum habe am 23. Juni 1993 begonnen, am 1. Dezember 1998 mit der Entscheidung des BVerfG geendet, und betrage demzufolge fünf Jahre, fünf Monate und acht Tage. Was die Angemessenheit der Verfahrensdauer angeht, so betont der EGMR erneut, diese sei anhand der in der Rechtsprechung des EGMR verankerten Kriterien zu beurteilen. Außerdem sei zu beachten, dass Vormundschaftssachen besonders eilig zu behandeln sind.103 Sodann befasst sich der EGMR mit dem Verhalten der zuständigen Behörden. Er weist zunächst auf die besondere Rolle von Verfassungsgerichten in den nationalen Rechtssystemen hin.104 Zum wiederholten Male erinnert er daran, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK den Konventionsstaaten die Pflicht auferlege, ihr Gerichtswesen so einzurichten, dass die Gerichte jeder seiner Anforderungen entsprechen können, einschließlich der Verpflichtung, die Rechtssachen innerhalb angemessener Fristen zu entscheiden. Zwar könne diese Verpflichtung für ein Verfassungsgericht nicht in derselben Weise wie für ein ordentliches Gericht angewendet werden, jedoch obliege es dem Gerichtshof, in letzter Instanz zu prüfen, ob diese Verpflichtung erfüllt ist, wobei er die besonderen Umstände eines jeden Falls und die in seiner Recht103 Nuutinen ./. Finnland, Beschwerde Nr. 32842/96, Urt. v. 27. Juni 2000, CEDH2000 VIII, Ziff. 110; sowie Mark ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45989/99, Entsch. v. 31. Mai 2001. 104 Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 37 = EuGRZ 1996, 518; sowie Tricˇkovic´ ./. Slowenien, Beschwerde Nr. 39914/ 98, Urt. v. 12. Juni 2001, Ziff. 36 und 54.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

sprechung niedergelegten Kriterien zu berücksichtigen habe.105 Vorliegend stellt der EGMR fest, die Möglichkeit des BVerfG, den Gesetzgeber zum Handeln zu zwingen, sei begrenzt, wenn eine Gesetzesreform auf den Weg gebracht worden ist, die den Kern der eingelegten Verfassungsbeschwerde berührt. Allerdings sei es auch wichtig, die Konvention so auszulegen und anzuwenden, dass ihre Garantien verwirklicht werden. Was Beschwerden angehe, welche die Verfahrensdauer betreffen, so fordere Art. 6 Abs. 1 EMRK die Erledigung von Verfahren in angemessener Zeit. Er stellt sodann fest, die Regierung habe nicht dargelegt, dass es dem BVerfG unmöglich gewesen sei, § 1711 BGB für verfassungswidrig zu erklären und den Fall an die Zivilgerichte zurückzuverweisen, damit diese das Bestehen eines Umgangsrechts erneut überprüfen. Insbesondere erinnert er diesbezüglich an die Möglichkeit des BVerfG, gem. § 32 BVerfGG einstweilige Maßnahmen zu treffen, auch wenn kein diesbezüglicher Antrag gestellt worden ist. Die Dauer der drei Zivilverfahren von nicht mehr als 15 Monaten könne nicht als unangemessen angesehen werden. In Anbetracht der Tatsache, dass die Verfahren das Umgangsrecht des Bf. betrafen, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Länge der Verfahren insgesamt nicht mehr als angemessen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen werden könne. Aus diesem Grunde bejaht er einstimmig eine Verletzung dieser Norm. IV. Axen u. a. gegen Deutschland – Abschluss durch gütliche Einigung (Art. 39 EMRK) 1. Sachverhalt Dem Fall liegt die Beschwerde von drei Bf. zugrunde. Die Bf. Axen ist die Witwe und die Bf. Teubner und Jossifov sind die Töchter des am 15. Februar 1992 verstorbenen Hermann Axen, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) der DDR. Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und während der Umbruchsituation der bevorstehenden deutschen Wiedervereinigung hatte Hermann Axen die Umstellung seines Guthabens auf seinem Bankkonto von ca. 250.000 DDR-Mark in DM der Bundesrepublik Deutschland beantragt. Diese Beträge stammten nach seiner Einlassung aus regulärem Einkommen. Am 6. Juli 1990 wurde er aufgefordert, die Rechtmäßigkeit des Erwerbs dieses Guthabens nachzuweisen. Mit Entscheidung vom 27. September 1990 wurde daraufhin die Einziehung des Guthabens angeordnet mit der Begründung, dieses sei unrechtmäßig im Sinne von § 5 Abs. 2 Umstellungsguthabengesetz von Hermann Axen erworben worden.

105 Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 68; sowie Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 63.

Kap. 6: Die Urteile „Hesse-Anger‘‘ bis „Herbolzheimer‘‘

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Am 19. Oktober 1990 erhoben deshalb die erste Bf. und ihr Ehemann Klage beim VG Berlin. Auf wiederholte Anfrage des VG an die Staatsanwaltschaft Berlin betreffend laufende Strafverfahren gegen die Eheleute Axen teilte diese am 30. September 1991 mit, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Genannten sei abgelehnt worden, wogegen die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde eingelegt habe. Nach dem Tod von Hermann Axen teilte dessen Anwalt dem VG mit, dass die Erbengemeinschaft, bestehend aus der Ehefrau und den beiden Töchtern des Hermann Axen, die Fortführung des Verfahrens wünschten. Im Anschluss an die mündliche Verhandlung am 24. Mai 1993 wies das VG die Klage der Bf. ab mit der Begründung, die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Umstellungsguthabengesetz seien erfüllt. Die Zustellung des Urteils erfolgte am 6. Juli 1993. Am 26. Juli 1993 legten die Bf. hiergegen Berufung ein. In den Jahren 1994 und 1995 betrieb das OVG zwecks Beweiserhebung zahlreiche Ermittlungen. Mit Schreiben vom 4. November 1994, 25. Oktober 1995 und vom 21. November 1995 bat der Anwalt der Bf. das OVG um baldige Entscheidung in der Sache. Im Anschluss an die mündliche Verhandlung vom 1. Juli 1997 hob das OVG die Entscheidung auf und ordnete die Freigabe der streitigen Konten an. Die Zustellung des Urteils erfolgte am 3. September 1997. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Bundes hin hob das BVerwG das Urteil des OVG auf. Daraufhin legten die Bf. Verfassungsbeschwerde mit der Begründung ein, die vorangegangenen Entscheidungen verletzten sie in ihrem Eigentumsrecht. Außerdem machten sie unter Hinweis auf die lange Verfahrensdauer die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend. Am 28. Juli 1999 beschloss das BVerfG durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer, die Beschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 15. Dezember 1999 erhoben die Bf. Individualbeschwerde zum EGMR und rügten unter anderem die Dauer der Verfahren. Am 21. November 2002 erklärte der EGMR die Beschwerde in Bezug auf die Rüge überlanger Verfahrensdauer für zulässig. 2. Urteil des EGMR vom 27. Februar 2003 Am 20. Januar 2003 übermittelte die Regierung dem EGMR eine vom Verfahrensbevollmächtigten der Regierung und vom Prozessbevollmächtigten der Bf. unterschriebene Erklärung, deren Inhalt ein zur Erledigung der Individualbeschwerde geschlossener Vergleich war. Darin erklärten die Bf. ihre Beschwerde gegen Zahlung eines Gesamtbetrages von 3.000 A durch die Bundesregierung für erledigt. Diese gütliche Einigung nahm der EGMR zur Kenntnis (Art. 39 EMRK). Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Einigung auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte getroffen worden war, wie sie in der Konvention und ihren Protokollen anerkannt sind (Art. 37 Abs. 1 a. E. EMRK

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

und Art. 62 Abs. 3 VerfO), entschied er einstimmig, den Fall im Register zu streichen. Diese Entscheidung ergeht gem. Art. 44 Abs. 3 VerfO durch Urteil.

V. Herbolzheimer gegen Deutschland 1. Sachverhalt Der 1935 geborene Bf. ist Komponist und Musiker. Im Jahr 1975 nahm er unter anderem das Lied „Brown Girl“ der Gruppe „Malcolm’s Locks“ auf Schallplatte auf. 1978 produzierte der Schallplattenproduzent Farian das Lied „Brown Girl in the Ring“ mit der Gruppe „Boney M.“. 1979 erhob der Bf. Klage zum LG Hamburg, mit der Farian verpflichtet werden sollte, Rechenschaft hierüber abzulegen und ihm den aus dem Lied „Brown Girl“ gezogenen Gewinn herauszugeben, da es sich dabei um ein Plagiat handle. Am 28. August 1987 erließ das LG ein Teilurteil, mit dem es der Klage im ersten Punkt stattgab. Am 23. Februar 1989 bestätigte das OLG Hamburg das Urteil, präzisierte es aber dahingehend, dass der Bf. nur den vor November 1979 gezogenen Gewinn beanspruchen könne. Am 24. Januar 1991 wies der BGH die Revision der Gegenseite zurück und übersandte am 28. März 1991 die Akten an das LG. Am 8. Mai 1991 beantragte der Bf. die Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem LG in Bezug auf die geforderte Zahlung des gezogenen Gewinns. Seine Einlassungen ergänzte er am 19. November 1991. Die Gegenseite erwiderte daraufhin, nicht der Bf., sondern ein gewisser Malcolm Magaron habe das streitgegenständliche Lied bearbeitet. Am 6. Dezember 1991 fand eine mündliche Verhandlung statt. Am 27. Mai 1992 trat Malcolm Magaron der Gegenseite als Streithelfer bei. Im Juni und September 1992 sowie im April 1993 fanden weitere mündliche Verhandlungen statt. Im Juni 1993 beschloss das LG, ein Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben und wählte im November 1993 einen Sachverständigen aus. Im April 1994 setzte das LG dem Sachverständigen eine Frist zur Erstellung des Gutachtens, woraufhin dieser im Juni 1994 mitteilte, er werde das Gutachten im August 1994 abliefern. Auf eine Mahnung des Gerichts vom 30. September 1994 hin übermittelte er schließlich am 27. Oktober 1994 das Gutachten. Am 9. Dezember 1994 lehnte die Gegenseite den Sachverständigen als befangen ab. Im Februar 1995 regte der mit der Sache befasste Richter an, den Rechtsstreit gütlich zu regeln. Im August 1995 teilte der Bf. dem Gericht mit, er könne den von der Gegenseite unterbreiteten Vergleichsvorschlag nicht akzeptieren. Nach einer Anhörung der Parteien wurde im Januar 1996 ein neuer Sachverständiger ausgewählt. Am 3. Juni 1997 übermittelte der Sachverständige nach mehrfachen Mahnungen und Festsetzung einer Geldstrafe sein 38seitiges Gutachten. Im Juli 1997 wechselte der Bf. seinen Anwalt und lehnte den Sachverständigen am 29. August 1997 als befangen ab. Bis Ende 1997 erfolgten Verhandlungen über die Festsetzung des Streitwertes, wel-

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che die früheren Anwälte des Bf. beantragt hatten, um ihre Gebührenforderung zu stellen. Am 19. Februar 1998 beschwerte sich der Bf. beim Landgerichtspräsidenten über die lange Verfahrensdauer seit der Zurückverweisung durch den BGH. Im Mai 1998 wandte sich der Bf. mit demselben Anliegen an die Anwaltskammer und an die Justizsenatorin von Hamburg, die ihm antwortete, sie könne in dieser Sache nichts bewirken. Am 2. November 1998 legte der Bf. Verfassungsbeschwerde ein und beklagte die Dauer des Verfahrens. Im November 1998 wurde der Kammervorsitzende schwer krank und verstarb am 14. September 1999. Am 13. Dezember 1999 wies das LG den Ablehnungsantrag des Bf. vom 29. August 1997 zurück. Am 18. Januar 2000 beschloss das BVerfG in der Zusammensetzung einer Kammer von drei Richtern, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen und begründete dies damit, die überlange Verfahrensdauer sei nicht dem LG zuzurechnen, sondern beruhe auf anderen Gründen, wie der Ablehnung des Sachverständigen und den zahlreichen Rechtsmitteln der Parteien bezüglich der Nebenentscheidungen. Auch wenn die Verfahrensdauer vorliegend noch akzeptabel sei, müsse das LG nichtsdestotrotz das Verfahren vorantreiben und eine Endentscheidung treffen. Am 23. Februar 2000 legte der Bf. Individualbeschwerde beim EGMR ein und beklagte die Verfahrensdauer vor dem LG Hamburg. Der Gerichtshof beschloss am 14. November 2002, über Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde gemeinsam zu befinden. Am 7. Juli 2000 fand eine mündliche Verhandlung vor dem LG statt, während der unter anderem der Sachverständige gehört wurde. Am 1. Dezember 2000 wies das LG die Klage des Bf. auf Zahlung des aus dem streitgegenständlichen Lied erzielten Gewinns ab. 2. Urteil des EGMR vom 31. Juli 2003 Der zu überprüfende Zeitraum erstreckt sich nach den Ermittlungen des EGMR vom 28. März 1991, dem Datum der Wiedererlangung der Akten vom BGH, bis zum 1. Dezember 2000 und umfasst demzufolge neun Jahre, acht Monate und drei Tage. Im Rahmen der Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer erinnert der EGMR wie in den Urteilen zuvor daran, dass die Angemessenheit nach den Umständen des Falles anhand der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien zu beurteilen sei.106 Außerdem ruft er zum wiederholten Mal in Erinnerung, selbst in Gerichtssystemen, in denen wie im deutschen Zivilprozess das Prinzip der Parteimaxime gilt, sei der Richter nicht

106 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 43.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

davon befreit, die Einhaltung der in Art. 6 Abs. 1 EMRK niedergelegten Voraussetzungen zu sichern.107 Der EGMR gesteht zu, dass das Verfahren eine gewisse Komplexität aufwies, die aber für sich allein die Dauer des Verfahrens nicht rechtfertigen könne. Was das Verhalten des Bf. angeht, so hebt er hervor, dass sich das Verfahren infolge des Ablehnungsantrags sowie der Auseinandersetzungen um den Streitwert in gewissem Maße verzögert habe. Obwohl dem Bf. nicht vorgeworfen werden könne, dass er die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft hat, könne dies aber im Rahmen der Frage, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt wurde, auch dem beklagten Staat nicht angelastet werden.108 In Bezug auf das Verhalten der zuständigen Behörden stellt der EGMR fest, dass beide beauftragten Sachverständigen die ihnen vom LG gesetzten Fristen nicht beachtet haben. Diesbezüglich erinnert er daran, dass es dem Richter obliege, dafür zu sorgen, dass das Verfahren zügig vonstatten geht.109 Was die von der Regierung vorgebrachten Argumente, die Verzögerungen zu erklären anbelangt – nämlich die zahlreichen Verhandlungstermine sowie die Krankheit mit nachfolgendem Tod des Kammervorsitzenden –, so ist der EGMR der Ansicht, diese könnten eine Verfahrensdauer von mehr als neun Jahren vor einem einzigen Gericht nicht rechtfertigen. Diesbezüglich erinnert der EGMR daran, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK die Vertragsstaaten verpflichte, ihre Gerichtssysteme so einzurichten, dass ihre Gerichte jede seiner Voraussetzungen erfüllen können.110 Der EGMR ist aufgrund dessen der Ansicht, dass das Verfahren des Bf. nicht in angemessener Frist durchgeführt wurde. Er betont außerdem, dass – auch wenn der Bf. nur die Verfahrensdauer ab der Zurückverweisung durch den BGH im März 1991 bis zum Urteil im Dezember 2000 angegriffen habe – er sich der Tatsache nicht verschließen könne, dass die Sache insgesamt mehr als 12 Jahre vor den Zivilgerichten anhängig war,111 und bejaht daher einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

107 Scopelliti ./. Italien, Beschwerde Nr. 15511/89, Urt. v. 23. November 1993, Série A Nr. 278, S. 10, Ziff. 25; sowie Bayrak ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 27937/95, Urt. v. 20. Dezember 2001, Ziff. 28. 108 Erkner u. Hofauer ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9616/81, Urt. v. 24. März 1987, Série A Nr. 117, S. 63, Ziff. 68. 109 Volkwein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45181/99, Urt. v. 4. April 2002, Ziff. 39. 110 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 45; sowie Martins Moreira ./. Portugal, Beschwerde Nr. 11371/85, Urt. v. 26. Oktober 1988, Série A Nr. 143, S. 21, Ziff. 60. 111 Mouesca ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 52189/99, Urt. v. 3. Juni 2003, Ziff. 25 in fine; sowie Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003, Ziff. 40.

Kap. 7: Von „Trippel‘‘ bis „Koroniotis‘‘

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Kapitel 7

Von „Trippel“ bis „Koroniotis“ – Festigung der Rechtsprechung I. Trippel gegen Deutschland 1. Sachverhalt Der Bf. war Inhaber von vier Aktien einer Gesellschaft namens MotoMeter AG. 99% der Aktien dieser Gesellschaft wurden von der Robert Bosch GmbH gehalten. Am 6. Juli 1992 verkaufte die MotoMeter AG aufgrund einer Mehrheitsentscheidung der Aktionäre all ihre Anteile an eine neu gegründete Gesellschaft, die MotoMeter GmbH, und wurde daraufhin aufgelöst. Die Mehrheitsaktionäre boten den Minderheitsaktionären an, deren Anteile zu einem Preis von 615 DM (314,44 A) pro Aktie zu kaufen. Am 22. Juli 1992 fochten der Bf. und weitere private Anteilseigner die Entscheidung vom 6. Juli 1992 vor dem LG Stuttgart an. Sie beklagten, dass die Hauptaktionäre Vorschriften des Aktiengesetzes umgangen hätten, welche die Rechte von Minderheitsaktionären schützen sollten. Außerdem sei der von den Mehrheitsaktionären pro Aktie angebotene Preis zu niedrig gewesen, und die Minderheitsaktionäre hätten keine Anteilsteile kaufen können. Am 22. Januar 1993 wies das LG die Klage ab, da die in Frage stehende Entscheidung rechtmäßig gewesen sei und Rechte der Aktionäre nicht verletzt habe. Am 21. Dezember 1993 wies das OLG die Berufung des Bf. und der übrigen Minderheitsaktionäre zurück. Am 5. Dezember 1994 nahm der BGH die Revision der Aktionäre nicht zur Entscheidung an. Der Bf. legte am 12. Januar 1995 Verfassungsbeschwerde ein. Am 23. August 2000 beschloss das BVerfG, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, da der Beschwerde keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukomme. Bezugnehmend auf eine frühere Entscheidung desselben Tages, die dieselben Fragen behandelte, stellte das BVerfG fest, dass die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung nicht notwendig sei, um die Rechte des Bf. zu wahren. Letztlich bedeute der finanzielle Verlust keine existenzielle Last für den Bf., da er nur vier Aktien der MotoMeter AG besessen habe. Der Bf. legte am 12. März 2001 Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein und beklagte unter anderem die Dauer des Verfahrens vor dem BVerfG. Die Beschwerde wurde am 20. März 2003 in Bezug auf die Länge des Verfahrens für zulässig erklärt. 2. Urteil des EGMR vom 4. Dezember 2003 Der EGMR stellt vorab kurz fest, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar sei, weil die vom Bf. geltend gemachten Gesellschaftsanteile Teil seines Eigentums darstellten und deshalb – im Übrigen auch von den Parteien nicht bestritten –

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

„zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK betroffen seien. Der zu berücksichtigende Zeitraum begann nach den Feststellungen des EGMR am 12. Januar 1995 mit der Einlegung der Verfassungsbeschwerde und endete am 13. September 2000 mit der Zustellung der Entscheidung des BVerfG an den Bf. Das Verfahren vor dem BVerfG dauerte mithin fünf Jahre und acht Monate. Der EGMR erinnert sodann daran, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände des Falles anhand der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien zu beurteilen sei.112 Was das Kriterium der Schwierigkeit des Falles angeht, stellt er fest, die Verfassungsbeschwerde habe den Schutz der Rechte von Minderheitsaktionären insbesondere im Falle des Verkaufs und der Liquidation einer Gesellschaft betroffen. Das BVerfG habe sich mit einigen Fragen tatsächlicher und rechtlicher Art auseinandersetzen müssen, die verhältnismäßig schwierig waren. Allerdings betont der EGMR auch, dies allein könne die Länge des Verfahrens nicht rechtfertigen. Das Verhalten des Bf. hat dagegen nach seinen Feststellungen zu keinerlei Verzögerung beigetragen. Was das Verhalten des BVerfG angeht, so ruft der EGMR zunächst in Erinnerung, es sei die Pflicht der Vertragsstaaten, ihre Gerichtssysteme so einzurichten, dass ihrer Gerichte die Garantien der EMRK einschließlich der Verpflichtung, Verfahren in angemessener Zeit zu behandeln, erfüllen können. Zwar könne diese Verpflichtung für ein Verfassungsgericht nicht in derselben Weise gelten wie für ein gewöhnliches Gericht. Aufgrund der Rolle eines Verfassungsgerichts als Hüter der Verfassung sei es manchmal notwendig, andere Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen als die chronologische Reihenfolge, in der die Fälle eingehen, nämlich beispielsweise die Eigenart des Falles und seine politische und soziale Bedeutung.113 Der Gerichtshof habe „als letzte Instanz“ zu überprüfen, ob die oben beschriebene, in Art. 6 Abs. 1 EMRK normierte Verpflichtung eingehalten wurde, und zwar unter Beachtung der besonderen Umstände jedes Falles und der in der Rechtsprechung verankerten Kriterien.114 Der EGMR bekräftigt, in einigen Fällen könne es angebracht sein, ähnlich gelagerte Fälle zusammenzufassen und Verfahren zurückzustellen, um den Ausgang eines richtungsweisenden Verfahrens abzuwarten. Im vorliegenden Fall jedoch sei die durch diese Praxis hervorgerufenen Verzögerung von zwei Jahren übermäßig lang gewesen. Der EGMR ist auch nicht davon überzeugt, dass es absolut notwendig war, die Entscheidung eines Instanzgerichts abzuwarten, um über die Vereinbarkeit bestimmter Gesetzesregelungen mit dem Grundgesetz zu entschei112 Comingersoll S.A. ./. Portugal, Beschwerde Nr. 35382/97, Urt. v. 6. April 2000, Ziff. 19. 113 Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 56. 114 Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Reports 1997-IV, S. 1112, § 68.

Kap. 7: Von „Trippel‘‘ bis „Koroniotis‘‘

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den. Selbst wenn die Entscheidung des niederen Gerichts wichtige Aussagen für die Untersuchung der vorliegenden Beschwerde enthalten habe, so hätte das BVerfG nach Ansicht des EGMR das Verfahren im Fall des Bf. bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts offiziell aussetzen können, anstatt gänzlich untätig zu bleiben.115 Was die Verzögerung von weiteren zwei Jahren angeht, die durch den Entschluss des BVerfG, erst über den Pilotfall im April 1999 zu entscheiden, hervorgerufen wurde, so gesteht der EGMR zwar zu, es könne einige Zeit in Anspruch nehmen, über eine solch komplexe Sache zu entscheiden. Jedoch war die vorliegende Beschwerde zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre anhängig, so dass zwei weitere Jahre, um den nächsten Fall zu entscheiden, zu lange erschienen. Im Hinblick auf das oben Gesagte ist der EGMR von den Rechtfertigungserklärungen der Regierung für die Verzögerung nicht überzeugt. Insbesondere ist er nicht überzeugt davon, dass das BVerfG seinen ihm von der Konvention auferlegten Verpflichtungen, die Fälle so zu bearbeiten, dass die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllt werden, nachgekommen ist. Bezüglich des letzten Kriteriums, der Bedeutung der Sache für den Bf., stimmt der EGMR mit der Regierung dahingehend überein, dass der Bf. nur eine relativ geringe Summe durch den Verkauf und die nachfolgende Liquidation der MotoMeter AG verloren habe. Jedoch habe der Bf. eine beträchtliche Summe für das Betreiben des Verfahrens aufbringen müssen. Somit habe der Bf. ein erhebliches finanzielles Interesse am Ausgang des Verfahrens vor dem BVerfG gehabt. Hieraus zieht der EGMR die Schlussfolgerung, die Verzögerungen im Verfahren vor dem BVerfG seien übermäßig gewesen und hätten Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt. II. Voggenreiter gegen Deutschland – Verfahrensdauer eines Gesetzesverfassungsbeschwerdeverfahrens 1. Sachverhalt Die Bf. betrieb eine Frachtenprüfstelle und übte den Beruf als Tarifeurin dreißig Jahre lang bis zum 1. Januar 1994 aus. Gesetzliche Grundlage für den Betrieb von Frachtprüfstellen war das Güterkraftverkehrsgesetz, das bis zum 31. Dezember 1993 in Kraft war. Am 1. Januar 1994 trat das Gesetz zur Aufhebung der Tarife im Güterverkehr in Kraft, weshalb der Beruf des Tarifeurs gegenstandslos wurde. Folglich musste die Bf. ihren Betrieb stilllegen und ihre elf Mitarbeiter entlassen. Am 15. Dezember 1993 legte die Bf. Verfassungsbeschwerde wegen Verfassungswidrigkeit des Tarifaufhebungsgesetzes ein. Sie 115 Welchen Erfolg ein solches Vorgehen hätte haben sollen, erläutert der EGMR freilich nicht.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

machte dabei insbesondere die Verletzung der Berufsfreiheit sowie des Rechts auf Eigentum geltend und beantragte hilfsweise, den Gesetzgeber zu verpflichten, das Gesetz durch eine Übergangsregelung zu ergänzen und so die aus der Tarifaufhebung resultierenden Auswirkungen zu mildern. Mit Beschluss vom 14. Juni 1994 wies das BVerfG durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer den Antrag der Bf. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend das Tarifaufhebungsgesetz mit der Begründung zurück, die erforderlichen Voraussetzungen seien nicht erfüllt. In seinem neunseitigen Beschluss fügte das BVerfG jedoch hinzu, die Verfassungsbeschwerde sei von vornherein weder offensichtlich unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Am 24. Februar 1997 unterrichtete das BVerfG die Bf. darüber, dass ein Termin zur Entscheidung wegen Überlastung des BVerfG noch nicht anberaumt worden sei. Am 29. November 2000 entschied das BVerfG durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. In seinem zwölfseitigen Beschluss vertrat es insbesondere die Ansicht, das angefochtene Gesetz berühre das Grundrecht der Berufsfreiheit nicht, weil eine den Beruf der Bf. regelnde Tendenz fehle. Auch eine Verletzung von Art. 14 GG sah es nicht als gegeben, da künftige Erwerbschancen aus dem Schutzbereich dieser Norm ausgeschlossen seien. Die Bf. hatte am 1. Februar 1999 Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben und machte die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund der Dauer des Verfahrens vor dem BVerfG geltend. Am 28. November 2002 erklärte der Gerichtshof die Beschwerde für zulässig. 2. Urteil des EGMR vom 8. Januar 2004 Zunächst wendet sich der Gerichtshof der Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das in Frage stehende Verfahren zu und erinnert daran, dass sich die Norm auf Streitigkeiten in Bezug auf Ansprüche beziehe, die zumindest in vertretbarer Form im innerstaatlichen Recht anerkannt sind. Es müsse sich hierbei um eine tatsächliche und stichhaltige Streitigkeit handeln; diese könne sowohl das eigentliche Bestehen des Recht wie auch dessen Tragweite und die Modalitäten seiner Ausübung betreffen. Der Ausgang des Verfahrens müsse für den diesbezüglichen Anspruch direkt entscheidend sein, wobei Art. 6 Abs. 1 EMRK, um überhaupt Wirksamkeit zu erlangen, sich nicht mit einem losen Zusammenhang oder entfernten Auswirkungen begnüge. Schließlich müsse der Rechtsanspruch zivilrechtlicher Natur sein.116 Überdies könne seiner 116 Le Compte, Van Leuven und De Meyere ./. Belgien, Beschwerden Nr. 6878/75 und 7238/75, Urt. v. 23. Juni 1981, Série A Nr. 43, S. 21, Ziff. 47 = EuGRZ 1981, 551; Z. u. a. ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 29392/95, Urt. v. 10. Mai 2001, CEDH 2001-V, Ziff. 87 = HRLJ 2001, 417; sowie Gutfreund ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 45681/99, Urt. v. 12. Juni 2003, Ziff. 38.

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ständigen Rechtsprechung zufolge ein Verfahren unter Art. 6 EMRK fallen, selbst wenn es vor einem Verfassungsgericht stattfindet.117 In diesem Zusammenhang sei unerheblich, ob es sich bei dem Verfahren vor dem Verfassungsgericht um eine Vorlage zur Vorabentscheidung handelt,118 oder um eine gegen eine Gerichtsentscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde.119 Gleiches gelte grundsätzlich, wenn das Verfassungsgericht mit einer Beschwerde befasst wird, die unmittelbar gegen ein Gesetz gerichtet ist, wenn die innerstaatlichen Rechtsvorschriften eine solche Beschwerde vorsehen.120 In einem ersten Schritt befasst sich der EGMR daher mit der Frage, ob es sich um eine Streitigkeit in Bezug auf Ansprüche handelt, die im innerstaatlichen Recht anerkannt sind. Die Bf. hatte sich auf Art. 12 und 14 GG berufen, so dass die Streitigkeit nach Auffassung des EGMR den Bestand von Rechten betraf, von denen behauptet werden könne, dass sie in vertretbarer Weise nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften anerkannt sind. Er unterstreicht dabei, dass das BVerfG in seinem Beschluss vom 14. Juni 1994121 befunden habe, dass die Beschwerde in der Hauptsache weder von vornherein offensichtlich unzulässig noch offensichtlich unbegründet sei. Infolgedessen könne man schwerlich behaupten, das Verfahren betreffe kein nach der innerstaatlichen Ordnung anerkanntes Recht. In einem zweiten Schritt überprüft der EGMR, ob es sich um eine tatsächliche und ernsthafte Streitigkeit handelt, welche für den geltend gemachten Anspruch direkt entscheidend ist. Hierzu stellt er fest, das BVerfG sei beauftragt, über die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz zu entscheiden, und zwar entweder auf Antrag eines innerstaatlichen Gerichts im Wege der „Vorab-

117 Kraska ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 13942/88, Urt. v. 19. April 1993, Série A Nr. 254-B, S. 48, Ziff. 26 = HRLJ 1993, 270; Pauger ./. Österreich, Beschwerde Nr. 16717/90, Urt. v. 28. Mai 1997, Ziff. 46; Pierre-Bloch ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 24194/94, Urt. v. 21. Oktober 1997, Ziff. 48 = RUDH 1997, 73; Krcˇmár u. a. ./. Tschechische Republik, Beschwerde Nr. 35376/97, Urt. v. 3. März 2000, Ziff. 36; Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000, Ziff. 26; Jankovic´ ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 43440/98, Entsch. v. 12. Oktober 2000; sowie Tricˇkovic´ ./. Slowenien, Beschwerde Nr. 39914/98, Urt. v. 12. Juni 2001, Ziff. 36–41. 118 Ruiz-Mateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 12952/87, Urt. v. 23. Juni 1993, Série A Nr. 262, S. 19–20, Ziff. 35–38 = EuGRZ 1993, 453; Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 53–58; sowie Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 48–53. 119 Becker ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45448/99, Urt. v. 26. September 2002 = EuGRZ 2003, 26. 120 Hesse-Anger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45835/99, Entsch. v. 17. Mai 2001; Wendenburg ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 71630/01, Entsch. v. 6. Februar 2003 = EuGRZ 2003, 709; sowie Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 40 = EuGRZ 1996, 514. 121 Es handelte sich dabei um den Beschluss, mit dem der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend das Tarifaufhebungsgesetz zurückgewiesen wurde.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

entscheidung“ 122 oder auf die Verfassungsbeschwerde einer Privatperson hin, die unmittelbar gegen das Gesetz gerichtet und binnen eines Jahres seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes zu erheben ist. Es stelle sich hier die Frage, welche Auswirkungen es womöglich gehabt hätte, wenn das BVerfG das angefochtene Gesetz aufgehoben hätte. Der EGMR unterstreicht, dass das BVerfG, sollte es ein Gesetz für verfassungswidrig erklären, sich gewöhnlich darauf beschränke, den Gesetzgeber zu verpflichten, die beanstandete(n) Bestimmung(en) gegebenenfalls binnen einer festgesetzten Frist zu ändern. Nach § 32 BVerfGG sei es ebenfalls befugt, einstweilige Anordnungen zu erlassen, mit denen nicht nur die Anwendung einer Bestimmung ausgesetzt werden kann, sondern die auch bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung die Wirkung eines vorläufigen Gesetzes haben können. Er ist zwar der Ansicht, es sei spekulativ, die Folgen einer befürwortenden Entscheidung zu würdigen. Allerdings habe die Regierung auch nicht nachgewiesen, dass eine Entscheidung, mit der das angefochtene Gesetz für verfassungswidrig erklärt worden wäre, keinerlei Auswirkung auf die berufliche Situation der Bf. gehabt hätte. Man könne wohl kaum behaupten, dem BVerfG hätte im Falle der Stattgabe der Verfassungsbeschwerde der Bf. kein Mittel zur Verfügung gestanden, um die Situation der Bf. zu verbessern. Der EGMR hält das Verfahren vor dem BVerfG damit für direkt entscheidend. In einem dritten und letzten Schritt innerhalb der Prüfung der Anwendbarkeit gelangt der Gerichtshof schließlich zur Frage, ob sich die Streitigkeit auf einen zivilrechtlichen Anspruch bezogen hat. Dabei erinnert er zunächst daran, dass bei Beantwortung dieser Frage einzig die Art des betreffenden Anspruchs von Bedeutung sei.123 Vorliegend habe sich die Bf. einerseits auf das Recht auf Eigentum und andererseits auf die Berufsfreiheit berufen. Selbst wenn das Eigentumsrecht im Prinzip zivilrechtlicher Natur sei, so stelle sich die Situation im vorliegenden Fall abweichend dar: In Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG handle es sich vorliegend um künftige Erwerbschancen, welche nicht als Eigentum im Sinne des Art. 1 des 1. ZP-EMRK betrachtet werden könnten.124 Das Recht auf freie Berufsausübung und insbesondere auf Fortführung dieser Tätigkeit begründe jedoch einen zivilrechtlichen Anspruch.125 Somit 122

Gemeint ist vorliegend natürlich die konkrete Normenkontrolle gem. Art. 100

GG. 123 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Série A Nr. 27, S. 30, Ziff. 90. 124 So auch die Zulässigkeitsentscheidung in dieser Sache v. 28. November 2002, Beschwerde Nr. 7538/02. 125 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Série A Nr. 27, S. 31–32, Ziff. 91–95; Le Compte, Van Leuven und De Meyere ./. Belgien, Beschwerden Nr. 6878/75 und 7238/75, Urt. v. 23. Juni 1981, Série A Nr. 43, S. 21– 22, Ziff. 46–48 = EuGRZ 1981, 551; H. ./. Belgien, Beschwerde Nr. 8950/80, Urt. v. 30. November 1987, Série A Nr. 127, S. 32–34, Ziff. 44–48; sowie Kraska ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 13942/88, Urt. v. 19. April 1993, Série A Nr. 254-B, S. 48, Ziff. 23–25.

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habe das strittige Verfahren einen Anspruch zivilrechtlicher Natur betroffen, weshalb Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar sei. Der zu berücksichtigende Zeitraum begann nach den Feststellungen des Gerichtshofs am 18. Dezember 1993, als die Verfassungsbeschwerde beim BVerfG einging. Der Zeitraum endete am 29. November 2000 mit dem Nichtannahmebeschluss des BVerfG. Der Gerichtshof gelangt so zu einer Gesamtdauer von über sechs Jahren, elf Monaten und elf Tagen. In Bezug auf die Angemessenheit der Verfahrensdauer weist der EGMR wiederum darauf hin, diese sei entsprechend den Umständen des Falles unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien zu beurteilen.126 Sodann stellt er fest, das BVerfG hätte in seinem Nichtannahmebeschluss insbesondere die Ansicht vertreten, es läge kein rechtswidriger Eingriff in das Recht der Berufsfreiheit und das Eigentumsrecht vor. Außerdem habe das BVerfG die Bf. am 24. Februar 1997 unterrichtet, dass ein Entscheidungstermin wegen Arbeitsüberlastung noch nicht festgesetzt worden sei. Der EGMR bekräftigt, er verkenne zwar nicht die besondere Rolle des BVerfG in der deutschen Rechts- und Verfassungsordnung, halte aber dennoch die Dauer von nahezu sieben Jahren bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde für übermäßig. Aus diesem Grunde bejaht er einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. ˇ evicovic´ gegen Deutschland III. C 1. Sachverhalt Der 1966 geborene Bf. ist kroatischer Staatsangehöriger und befand sich zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerde in Haft in Oldenburg. Derzeit ist er in Rogaka Slatina, Slowenien, wohnhaft. Er wurde am 17. Juni 1996 in Wilhelmshaven unter dem Verdacht festgenommen, gemeinschaftlich mit anderen einen Raub in Verbindung mit versuchtem Mord begangen zu haben. Am 4. November 1996 erhob die Staatsanwaltschaft Oldenburg Anklage wegen versuchten Mordes, schweren Raubes, schwerer Körperverletzung und unerlaubten Führens von Waffen. Die Hauptverhandlung wurde am 14. März 1997 eröffnet; es wurde an 56 Termintagen durchschnittlich jeweils 90 Minuten verhandelt. Am 22. Mai 1998 erkrankte eine Schöffin. Da der Ergänzungsschöffe, der die erkrankte Schöffin vertreten sollte, bereits zuvor erkrankt war, musste die Hauptverhandlung neu eröffnet werden. Am 28. Mai 1998 ordnete das LG Oldenburg die Aufrechterhaltung des Haftbefehls an, da ungeachtet der Verzögerungen aufgrund der Erkrankung der Schöffin die Voraussetzungen für 126 Pélissier und Sassi ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 25444/94, Urt. v. 25. März 1999, Ziff. 67 = EuGRZ 1999, 323; sowie Hesse-Anger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45835/99, Urt. v. 6. Februar 2003, Ziff. 31.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

einen Haftbefehl weiter vorlägen. Am 2. Juni 1998 wurde die Hauptverhandlung mit zwei Ergänzungsschöffen neu eröffnet. Rechtsbehelfe des Bf. gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls wurden jeweils in zweiter Instanz verworfen. Am 9. Juli 1999 beschloss das BVerfG, die Verfassungsbeschwerde des Bf. gegen die Entscheidung, den Haftbefehl aufrechtzuerhalten, nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 14. Juni 2000 lehnte das LG Oldenburg einen weiteren Antrag des Bf. auf Aufhebung des Haftbefehls vom 18. Juni 1996 mit der Begründung ab, die vorgeblich neuen, entlastenden Beweismittel des Bf. rechtfertigten diese Maßnahme nicht. Auch die Dauer der Untersuchungshaft stehe in keinem Verhältnis zu der vorherrschenden Fluchtgefahr, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich der Bf. illegal in Deutschland aufhalte. Aus der detaillierten Darstellung des Gerichts über den bisherigen Verfahrensablauf gehe hervor, dass Zeugen wiederholt nicht vernommen werden konnten, da sie entweder zur Verhandlung nicht erschienen oder von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machten. Darüber hinaus hätten der Bf. und seine Mitangeklagten – oftmals später als notwendig – eine Vielzahl von Beweisanträgen gestellt. Eine Abtrennung des Verfahrens von dem der Mitangeklagten sei nicht möglich gewesen, weil sie wegen gemeinschaftlichen Handelns angeklagt seien. Am 21. Juni 2000 entschied das LG Oldenburg auf die Beschwerde des Bf., seinen ursprünglichen Beschluss aufrechtzuerhalten. Es wies darauf hin, dass die im Wege von Rechtshilfeersuchen veranlassten langwierigen Ermittlungen in Mazedonien und die Ladung von Zeugen aus dem Ausland, die wegen des von einem der Mitangeklagten verspätet vorgebrachten Alibis erforderlich wurden, die Freilassung des Bf. nicht rechtfertigten. Diese Entscheidung wurde am 27. Juni 2000 vom OLG Oldenburg bestätigt. Am 10. August 2000 beschloss das BVerfG, eine weitere Verfassungsbeschwerde des Bf. nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 20. März 2001 verkündete das LG sein Urteil, nachdem im Durchschnitt weniger als vier Verhandlungstermine pro Monat mit einer durchschnittlichen Sitzungsdauer von weniger als zweieinhalb Stunden stattgefunden hatten. Es verurteilte den Bf. wegen versuchten Mordes, schweren Raubes und schwerer Körperverletzung sowie unerlaubten Führens von Waffen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht die überlange Dauer der Untersuchungshaft und des Strafverfahrens, insbesondere aber die durch die Erkrankung der Schöffin und die anschließende Verfahrensaussetzung bedingte Verzögerung. Am 21. März 2001 legte der Bf. gegen das Urteil des LG Revision ein. In den folgenden Verhandlungen zwischen dem Verteidiger des Bf. und der Staatsanwaltschaft stimmte diese schließlich zu, den Bf. in sein Herkunftsland auszuweisen und dafür von der Vollstreckung der Freiheitsstrafe in Deutschland abzusehen. Angesichts der zunehmenden Dauer seiner Untersuchungshaft, die er während des Revisionsverfahrens weiterhin zu erleiden hatte, erklärte sich der Bf. im Gegenzug bereit,

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die Revision zurückzunehmen, was auch am 4. April 2001 so geschah. Nachdem die Staatsanwaltschaft der Abschiebung des Bf. zugestimmt hatte, erging ein neuer Haftbefehl, demzufolge der Bf. im Falle einer Rückkehr nach Deutschland vor dem Jahre 2006 festgenommen und zur vollständigen Verbüßung seiner Haftstrafe unverzüglich inhaftiert werden würde. Am 25. Juli 2001 wurde er sodann nach Kroatien abgeschoben. Der Bf. hatte am 8. März 1999 Individualbeschwerde eingelegt, mit welcher er die Dauer seiner Untersuchungshaft und des gegen ihn geführten Strafverfahrens geltend machte. Er berief sich dabei auf Art. 5 Abs. 1 und 3 sowie auf Art. 6 Abs. 1 EMRK. Mit Entscheidung vom 3. April 2003 erklärte der Gerichtshof die Beschwerde für zulässig. 2. Urteil des EGMR vom 29. Juli 2004 Zunächst wendet sich der EGMR der Prüfung des Art. 5 Abs. 1 und 3 EMRK zu und kommt zu dem Ergebnis, dass die Haftdauer nicht als angemessen erachtet werden könne; folglich sei Art. 5 Abs. 3 EMRK verletzt worden. Zwar habe es zutreffende und hinreichende Gründe für die Fortdauer der Haft gegeben. Jedoch seien die Behörden bei der Durchführung des Verfahrens nicht „besonders zügig“ vorgegangen: Das Gericht habe zum einen weniger als vier Verhandlungstermine pro Monat angesetzt, ohne sich darum zu bemühen, Zeugen und Sachverständige auf effizientere Art zu laden. Zum anderen hätte das Gericht zu Beginn der Hauptverhandlung einen zweiten Ergänzungsschöffen ernennen können, was die Verzögerungen, bedingt durch das Erfordernis, einen Teil der komplexen Verhandlung zu wiederholen, vermieden hätte. Eine Prüfung von Art. 5 Abs. 1 EMRK hält der EGMR angesichts der Tatsache, dass es für die Fortdauer der Haft zutreffende und hinreichende Gründe gab, nicht für erforderlich. Sodann prüft der EGMR die hier relevantere behauptete Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der maßgebliche Zeitraum begann nach seinen Feststellungen am 17. Juni 1996127 und endete am Tag der endgültigen Entscheidung über die Anklage,128 das heißt am 4. April 2001.129 Dieser betrug folglich insgesamt vier Jahre, neun Monate und neunzehn Tage, was in etwa mit dem Zeitraum der Untersuchungshaft übereinstimmt. Der EGMR verweist auf seinen Ausspruch bezüglich Art. 5 Abs. 3 EMRK, demzufolge das zuständige nationale Gericht das Verfahren gegen den Bf. nicht mit der gebotenen besonderen Zügigkeit 127

Datum der Festnahme des Bf. Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968, Série A Nr. 7, S. 26, Ziff. 18. 129 An diesem Tag nahm der Bf. die bereits eingelegte Revision zurück, wodurch seine Verurteilung rechtskräftig wurde. 128

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durchgeführt habe, was zu der überlangen Dauer der Untersuchungshaft führte. Diese Feststellung gilt nach Auffassung des Gerichtshofs auch für die Dauer des Strafverfahrens selbst. Dementsprechend stellt der EGMR einstimmig fest, das Verfahren gegen den Bf. sei nicht innerhalb „angemessener Frist“ durchgeführt worden; Art. 6 Abs. 1 EMRK sei demzufolge verletzt worden. IV. Uhl gegen Deutschland – EGMR contra BVerfG 1. Sachverhalt Gegen den Bf. wurde am 23. Oktober 1990 Anzeige wegen Betrugs und Steuerhinterziehung erstattet. Am 8. Januar 1991 wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, worüber der Bf. am 10. Januar 1991 unterrichtet wurde. Der Bf., von Beruf Beamter, wurde daraufhin unter Kürzung seiner Bezüge vom Dienst suspendiert. Ihm wurde vorgeworfen, als Leiter der städtischen Baubehörde von Königstein mehrere Grundeigentümer über den Wert ihrer Parzellen getäuscht, diese über einen Strohmann zu einem niedrigen Preis erworben und zum Teil an die Stadt, die das Gelände für die Erweiterung des Friedhofs benötigte, zu einem höheren Preis verkauft zu haben. Das Ermittlungsverfahren dauerte bis zur Anklageerhebung am 3. Januar 1994 und wurde vom 26. März 1992 bis zum 23. November 1992 ausgesetzt, um ein Disziplinarverfahren gegen den Bf. abzuwarten. Am 10. Oktober 1995 verurteilte ihn das AG Frankfurt zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe. Am 20. Mai 1996 hob das LG Frankfurt auf die Berufung des Bf. das amtsgerichtliche Urteil auf und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft vom 21. Mai 1996 hin hob das OLG Frankfurt am 28. November 1997 das landgerichtliche Urteil auf und verwies die Sache an eine andere Kammer des LG Frankfurt zurück. Am 5. Mai 1999 beantragte der Bf. die Einstellung des Verfahrens wegen überlanger Verfahrensdauer. Am 15. Juni 1999 wurde er vom LG Frankfurt zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Seinen Antrag auf Einstellung des Verfahrens wegen überlanger Dauer lehnte das LG unter anderem mit dem Hinweis darauf ab, dass der Bf. während der gesamten Dauer des Verfahrens auf freiem Fuß gewesen sei. Das OLG Frankfurt bestätigte nach insgesamt 9 Jahren und 2 Monaten Verfahrensdauer das landgerichtliche Urteil am 24. März 2000. In seiner Verfassungsbeschwerde, die durch Beschluss vom 5. Juni nicht zur Entscheidung angenommen wurde, hatte der Bf. die Beeinträchtigung seines guten Rufes, seine Amtsenthebung sowie die Kürzung seiner Pension der übermäßigen Länge des Strafverfahrens zugeschrieben. Das BVerfG begründete die Nichtannahme damit, dass der Bf. es versäumt habe, seine Verfassungsbeschwerde hinreichend zu substantiieren. Er habe ferner versäumt, die Stellung-

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nahme der Staatsanwaltschaft an das OLG beizufügen, anhand derer das BVerfG seinerseits Schlüsse über die hinreichende Substantiierung des Rechtsmittels beim OLG hätte ziehen können. Außerdem befand das BVerfG, der Bf. habe sich nicht mit der Schwere der Tatvorwürfe, der Komplexität des Verfahrensgegenstands und dem Ausmaß seiner Belastungen auseinandergesetzt. Der Bf. legte am 15. Dezember 2000 Individualbeschwerde beim EGMR ein und beklagte die Länge des gegen ihn geführten Strafverfahrens im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Beschwerde wurde am 6. Mai 2004 für zulässig erklärt. 2. Urteil des EGMR vom 10. Februar 2005 Der EGMR stellt zunächst fest, dass der in Betracht zu ziehende Zeitraum am 10. Januar 1991 begonnen habe, als der Bf. offiziell von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens in Kenntnis gesetzt wurde. Er endete dem Gerichtshof zufolge am 15. Juni 2000 mit der Zustellung der Entscheidung des BVerfG an den Bf. und erstreckte sich damit über neun Jahre und fünf Monate. Zur Angemessenheit der Verfahrensdauer merkt der EGMR erneut an, diese sei im Lichte der besonderen Umstände des Falles anhand der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerten Kriterien zu beurteilen.130 Was das erste Kriterium, die Komplexität des Falles, angeht, so hält der EGMR die vorliegende Rechtssache für nicht besonders schwierig. Der Fall habe von den nationalen Gerichten nach Vernehmung von nur zehn Zeugen und einem Sachverständigen entschieden werden können. Die durch das Verhalten des Bf. verursachten Verzögerungen seien geringfügig gewesen im Vergleich zu den Verzögerungen, welche die Gerichte verursacht hatten. Insbesondere während des Ermittlungsverfahrens, welches etwa drei Jahre und elf Monate in Anspruch nahm, sei etwa 15 Monate lang nichts geschehen. Was die Bedeutung des Falles für den Bf. betrifft, so habe das Verfahren beträchtliche Folgen für ihn gehabt, da sein Beruf als Beamter auf dem Spiel stand. Angesichts dieser verschiedenen Faktoren ist der EGMR der Ansicht, dass – selbst wenn die Verfahrensdauer innerhalb der einzelnen Instanzen für sich alleine noch als angemessen angesehen werden könne – die Gesamtdauer nach seiner gefestigten Rechtsprechung zur „angemessenen Frist“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK131 übermäßig lang gewesen sei und dem Erfordernis der „angemessenen Frist“ wi130 Pélissier und Sassi ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 25444/94, Urt. v. 25. März 1999, Ziff. 67 = EuGRZ 1999, 323; sowie Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/95, Urt. v. 25. Februar 2000, Ziff. 70. 131 Pélissier und Sassi ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 25444/94, Urt. v. 25. März 1999, Ziff. 67, 71–75; Kudla ./. Polen, Beschwerde Nr. 30210/96, Urt. v. 26. Oktober 2000, Ziff. 124–131; sowie Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, Ziff. 36–44.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

derspreche. Aus diesem Grunde bejaht der EGMR einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

V. Wimmer gegen Deutschland 1. Sachverhalt Am 25. November 1992 ließen sich der Bf. und seine Frau vor dem AG Groß-Gerau scheiden. Das AG sprach in diesem Zusammenhang das gemeinsame Sorgerecht für die beiden Töchter, damals vier und acht Jahre alt, aus. Am 6. Juli 1993 sprach das OLG Frankfurt am Main auf die Berufung der Frau des Bf. hin dieser das alleinige Sorgerecht für die Kinder zu. Dem Bf. wurde eine Umgangsrecht gewährt. Eine weitere Beschwerde gegen diese Entscheidung ließ das Gericht nicht zu. Am 9. August 1993 legte der Bf. Verfassungsbeschwerde ein. Er beklagte insbesondere, das OLG Frankfurt habe die Vorschriften betreffend das Sorgerecht, vor allem § 1671 BGB, fehlinterpretiert. Dadurch sei er in seinen Rechten aus Art. 6 Abs. 2 GG verletzt worden. Am 23. März 1994 setzte der Präsident des BVerfG den Bf. darüber in Kenntnis, dass weitere Institutionen, darunter der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, die Landesregierungen, der Präsident des BGH, sowie zahlreiche Organisationen, die mit dem Schutz von Kindern befasst sind, über die Beschwerde informiert worden seien und ein Recht zur Stellungnahme bis zum 30. September 1994 erhalten hätten. Im November 1995 übersandte das BVerfG dem Bf. auf dessen Nachfrage hin die schriftlichen Stellungnahmen besagter Institutionen, darunter auch diejenige des Bundesjustizministeriums, welche die Information enthielt, dass die Regierung eine Familienrechtsreform vorsähe, die insbesondere das gemeinsame Sorgerecht nach der Scheidung vorantreiben solle. Ende des Jahres 1997 wurde der Bf. seitens des BVerfG telefonisch darüber informiert, dass die in seiner Beschwerde aufgeworfenen Fragen hinfällig würden mit dem Inkrafttreten des geänderten Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998. Man legte ihm nahe, seine Verfassungsbeschwerde unter diesen Umständen für erledigt zu erklären. Am 24. Juni 1998 forderte der Bf. das BVerfG auf, trotz der Gesetzesänderung eine Entscheidung zu fällen. Am 22. Dezember 1999 beschloss das BVerfG in der Zusammensetzung einer Kammer von drei Richtern, die Beschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, da diese nach der Gesetzesänderung keine Fragen verfassungsrechtlicher Bedeutung mehr aufwerfe. Dem Bf. stünde die Möglichkeit des Abänderungsverfahrens vor den zuständigen Zivilgerichten offen, mittels dessen den neuen Vorschriften Geltung verschafft werden könne. Der Bf. legte daraufhin am 20. Juli 2000 Individualbeschwerde beim EGMR ein und machte die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend, da seiner Auffassung nach die Dauer des Verfahrens vor dem BVerfG die angemessene Frist

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überschritten habe. Mit Entscheidung vom 16. September 2004 erklärte der EGMR die Beschwerde für zulässig. 2. Urteil des EGMR vom 24. Februar 2005 Der in Betracht zu ziehende Zeitraum begann nach den Feststellungen des EGMR am 9. August 1993 mit der Einlegung der Verfassungsbeschwerde und endete am 20. Januar 2000 mit der Zustellung der Entscheidung des BVerfG an den Bf. Das Verfahren dauerte mithin etwa sechs Jahre und fünf Monate. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist – wie der EGMR zum wiederholten Male betont – im Lichte der Umstände des Falles anhand der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien zu beurteilen.132 In Bezug auf das erste Kriterium, die Komplexität des Falles, hebt der EGMR hervor, die Verfassungsbeschwerde habe zwar grundsätzliche Fragen der Gleichbehandlung beider Eltern sowie des Kindeswohls nach der Trennung der Eltern betroffen. Gleichwohl ist der EGMR der Ansicht, angesichts der Tatsache, dass es nur um eine einzige Norm des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ging und die dem Fall zu Grunde liegenden Tatsachen nicht besonders verwickelt waren, könne der Fall des Bf. nicht als besonders komplex angesehen werden. Was das Verhalten des Bf. angeht, so ist der EGMR der Auffassung, dieses habe insofern zu Verzögerungen beigetragen, als der Bf. sechs Monate lang offen ließ, ob er eine Entscheidung des BVerfG anstrebe oder nicht. Indes seien die hierdurch bedingten Verzögerungen im Vergleich zur Gesamtdauer des Verfahrens nur als gering einzustufen. In Bezug auf das Verhalten des BVerfG erinnert der EGMR zunächst daran, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK den Konventionsstaaten die Pflicht auferlege, ihr Gerichtswesen so einzurichten, dass die Gerichte jeder seiner Anforderungen entsprechen können, einschließlich der Verpflichtung, die Rechtssachen innerhalb angemessener Fristen zu entscheiden. Zwar gelte diese Verpflichtung auch für ein Verfassungsgericht; sie könne freilich für dieses nicht in derselben Weise wie für ein ordentliches Gericht angewendet werden. Aufgrund seiner Rolle als Hüter der Verfassung sei es für ein Verfassungsgericht manchmal notwendig, das Augenmerk auf andere Gesichtspunkte zu lenken als nur einfach auf die chronologische Reihenfolge der Fälle, nämlich beispielsweise auf die Natur des Falles und seine politische und soziale Bedeutung. Außerdem verlange Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht nur, dass Prozesse zügig geführt werden; ebenso werde dem allgemeineren Grundsatz der geordneten Rechtspflege Bedeutung beige-

132 Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/95, Urt. v. 25. Februar 2000, ECHR 2000-II, Ziff. 70; sowie Nuutinen ./. Finnland, Beschwerde Nr. 32842/96, Urt. v. 27. Juni 2000, CEDH-2000 VIII, Ziff. 110.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

messen.133 Der EGMR stellt weiter fest, dass – wie schon im Fall Niederbörster dargelegt134 – die Fähigkeit des BVerfG, den Gesetzgeber zum Tätigwerden zu zwingen, begrenzt sei, wenn die Legislative eine Gesetzesreform auf den Weg bringe, welche den Kern der Verfassungsbeschwerde berührt. Er fügt hinzu, es müsse Gerechtigkeit ohne Verzögerungen, welche deren Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit aufs Spiel setzen könnten, gewährt werden, um die in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerte Garantie der Entscheidung in angemessener Frist wirksam und durchsetzungsfähig zu machen.135 In diesem Zusammenhang ruft der EGMR überdies in Erinnerung, insbesondere in Sorgerechtsfällen sei schnell zu entscheiden.136 Nach seinen Feststellungen hat das BVerfG nach der Aufforderung der erwähnten Institutionen zur Stellungnahme nichts mehr in der Sache unternommen bis zum Telefonanruf des Bf. Ende 1997, sondern lediglich die Gesetzesänderung in Familiensachen abgewartet. Angesichts der Tatsache, dass die Verfassungsbeschwerde im Dezember 1997 bereits vier Jahre und drei Monate beim BVerfG anhängig war, bezweifelt der EGMR, dass die besagte Zeitspanne, während derer seitens des BVerfG nichts mehr unternommen wurde, noch als angemessen angesehen werden könne. Überdies habe für den Bf. auch einiges auf dem Spiel gestanden. Zwar habe er kein neues Verfahren vor den Zivilgerichten mehr angestrengt und so selbst dazu beigetragen, dass die Frage des Sorgerechts nicht sofort gelöst werden konnte. Gleichwohl betont der EGMR, dass es für den Bf. um das Sorgerecht für seine Kinder ging, was für einen Elternteil als ungemein wichtig anzusehen sei und deshalb eine rasche Entscheidung erfordere. Aus diesem Grund hätte dieser Fall nach Ansicht des EGMR mit besonderer Eile behandelt werden müssen. Angesichts dessen gelangt der EGMR zu dem Ergebnis, das Verfahren vor dem BVerfG habe die „angemessene Frist“ überschritten, und bejaht deshalb einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

133 Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 55–57; Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003, ECHR 2003-IV, Ziff. 43; sowie Trippel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 68103/01, Urt. v. 4. Dezember 2003, Ziff. 27 ff. 134 Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003, Ziff. 44. 135 Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003, Ziff. 44. 136 Nuutinen ./. Finnland, Beschwerde Nr. 32842/96, Urt. v. 27. Juni 2000, CEDH2000 VIII, Ziff. 110; sowie Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003, Ziff. 39.

Kap. 7: Von „Trippel‘‘ bis „Koroniotis‘‘

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VI. Koroniotis gegen Deutschland 1. Sachverhalt Der Bf. hatte während des Geburtvorgangs im Krankenhaus einen Sauerstoffmangel aufgrund verspäteter Kaiserschnittoperation erlitten, weshalb seine Beine und Arme seither gelähmt sind. Am 30. Juni 1989 erhob er daher, vertreten durch seine Eltern, Klage gegen drei bei seiner Geburt assistierende Ärzte wegen ärztlicher Fehlbehandlung. Am 27. September 1993 wies das LG München die Klage gegen einen der drei Ärzte durch Teilurteil ab. Am 3. November 1993 legte der Bf. hiergegen Berufung ein. Am 26. Januar 1995 wies das OLG München die Berufung zurück. Am 26. März 1996 lehnte der BGH die Annahme der Revision ab. Am 4. Dezember 1996 wies das LG auch die verbleibenden Klagen des Bf. ab. Dieses Urteil wurde am 8. Januar 1998 durch das OLG bestätigt. Am 8. Dezember 1998 wies der BGH auch die Revision des Bf. zurück. Am 18. April 2000 lehnte auch das BVerfG die Annahme der Verfassungsbeschwerde des Bf. ab. Der Bf. wandte sich am 2. November 2000 im Wege der Individualbeschwerde an den EGMR und machte die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf die überlange Verfahrensdauer geltend. Die Beschwerde wurde am 16. September 2004 für teilweise zulässig erklärt. 2. Urteil des EGMR vom 21. April 2005 Am 24. September 2004 informierte der EGMR die Eltern des Bf. schriftlich über die Zulässigkeitsentscheidung vom 16. September 2004. Dieses Schreiben kam am 15. Oktober 2004 an den EGMR zurück mit dem Vermerk „Empfänger nicht zu ermitteln“. Am 19. Oktober und am 29. Dezember 2004 unternahm der EGMR zwei weitere Zustellungsversuche, die ebenfalls erfolglos blieben. Unter diesen Umständen geht der EGMR davon aus, dass der Bf., der seine neue Adresse nicht hinterlassen hatte, kein weiteres Interesse an der Aufrechterhaltung seiner Beschwerde habe. Dementsprechend ist eine weitere Untersuchung der Beschwerde rechtlich nicht angezeigt, Art. 37 Abs. 1 Ziff. a) und c) EMRK. Für den EGMR ist auch kein Grund ersichtlich, welcher es rechtfertigen würde, dass die Prüfung der Beschwerde aufgrund des Erfordernisses der Achtung der Menschenrechte im Sinne des Art. 37 Abs. 1 a. E. EMRK von Amts wegen fortgesetzt wird. Aus diesem Grunde streicht der EGMR den Fall in Übereinstimmung mit Art. 37 Abs. 1 EMRK im Register. Diese Entscheidung hatte gem. Art. 44 Abs. 3 VerfO (a. F.) durch Urteil zu ergehen.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Kapitel 8

Von „Müller“ bis „Dzelili“ – das Jahr 2005 I. Müller gegen Deutschland 1. Sachverhalt Die Bf., ihre Schwester M und ihre Mutter S waren seit dem Jahr 1973 Miteigentümer eines in Bremerhaven gelegenen Grundstücks. Die Verpachtung des Grundstücks wurde von einer Gesellschaft bestehend aus der Bf., der M, der S, sowie der S-GmbH betrieben. Gesellschafter der S-GmbH waren sowohl die Bf., als auch M und S. Nach einigen Jahren kam es zu Streitigkeiten über Fragen der Verwaltung der Gesellschaft, insbesondere im Hinblick auf steuerrechtliche Angelegenheiten, zwischen der Bf. auf der einen sowie M und S auf der anderen Seite. Am 28. März 1986 erhob die Bf. Klage beim LG Bremen gegen S, M und die S-Gesellschaft (im Folgenden „die Beklagten“). Die Klage ging beim LG am 11. Juni 1986 ein. Die Bf. beantragte beim LG, den Beklagten zu untersagen, sie weiter von den Geschäftstätigkeiten auszuschließen. Weiterhin beantragte sie, die Beklagten zur Offenlegung aller Jahresabrechnungen zwischen 1973 und 1985 und zur anteilsmäßigen Verteilung des Reingewinns zu verurteilen. Am 21. Juli 1986 teilte der Prozessbevollmächtigte der Bf. mit, diese sei bereit, sich gütlich zu einigen. Am 30. September 1986 erklärten die Parteien im Anschluss an die erste mündliche Verhandlung, sie wollten vor Anberaumung einer weiteren mündlichen Verhandlung ein Einvernehmen erzielen. Am 4. November 1986 informierte der Prozessbevollmächtigte der Bf. das Gericht darüber, dass Vergleichsverhandlungen noch nicht stattgefunden hätten. Im März 1987 schlugen während einer weiteren mündlichen Verhandlung die fortgesetzten Bemühungen des Gerichts um eine gütliche Einigung fehl. S erklärte sich jedoch einverstanden, der Bf. sämtliche Belege über die Jahresabrechnungen seit 1973 zur Einsicht zu überlassen. Am 27. Juli 1987 setzte der Prozessbevollmächtigte der Bf. das Gericht darüber in Kenntnis, dass S dem noch nicht Folge geleistet habe. Im November 1987 erklärte sich S schließlich doch bereit, der Bf. Einsicht in die Geschäftsunterlagen zu gewähren. Am 30. Dezember 1987 wies das Gericht die Beklagten an, die Gesellschaftsverträge und die Jahresabrechnungen vorzulegen und die Gewinne offenzulegen. Zu Beginn des Jahres 1988 forderte das Gericht die Gerichtsakten eines anderen Verfahrens an, welches die Bf. gegen den früheren Steuerberater der Gesellschaft führte. Im Juni 1988 stellte der Vorsitzende Richter fest, dass „die zaghaften Fortschrittsbemühungen in diesem Fall insbesondere aus emotionalen Gründen“ nicht zum Erfolg führen könnten, bevor eine abschließende Entscheidung in dem Verfahren gegen den Steuerberater ergangen sei. Im September 1989, sowie im Januar, März, April und Mai 1990 be-

Kap. 8: Von „Müller‘‘ bis „Dzelili‘‘

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mühte sich das Gericht vergebens um weitere Informationen das Verfahren gegen den Steuerberater betreffend. Am 24. Juli 1989 erklärten sich die Beklagten mit den in der Anordnung vom 30. Dezember 1987 enthaltenen Bedingungen einverstanden. Nach weiteren Verhandlungsterminen im September und im Oktober 1989 beschloss das Gericht, den nächsten Termin erst im Anschluss an die Entscheidung der Steuerbehörde über die steuerlichen Verpflichtungen der Gesellschaft festzusetzen. Im November 1988 setzte der Prozessbevollmächtigte der Bf. das Gericht darüber in Kenntnis, dass die Steuerbescheide wirksam geworden seien. Bis zum 6. August 1990 forderte er daraufhin das Gericht mehrfach auf, einen Termin zur mündlichen Verhandlung festzusetzen. Das Gericht teilte mit, die Kammer sei während der letzten sechs Monate sehr überlastet gewesen, und bestimmte Termin auf den 3. September 1990. Am 12. Oktober erging im Anschluss an die mündliche Verhandlung ein Teilurteil, demzufolge die Beklagten umgerechnet etwa 15.200 A Reingewinn an die Bf. zahlen und dieser Zugang zu den Bankkonten der Gesellschaft gewähren sollten. Hiergegen legten die Beklagten im November 1990 Berufung ein, woraufhin das OLG Bremen im April 1991 Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 22. August 1991 bestimmte. Die Bf. teilte dem Gericht im Mai 1991 mit, dass sie ihren Anwalt gewechselt habe. Im Laufe des Jahres 1991 verschob das Gericht den angesetzten Verhandlungstermin dreimal. Am 26. März 1992 hob das OLG schließlich das Teilurteil des LG auf und verwies die Sache zurück an das LG. Nach erneuten Terminsverlegungen und gescheiterten Einigungsversuchen seitens des Gerichts ordnete das LG am 15. Januar 1993 die Erstellung eines Sachverständigengutachten an zur Frage der ordnungsgemäßen Erstellung der Jahresabrechnungen der Jahre 1975 bis 1991. Im April 1993 teilte der Prozessbevollmächtigte der Bf. mit, dass er das Mandat niedergelegt habe. Daraufhin informierte der Vorsitzende Richter die Bf. darüber, dass er das Sachverständigengutachten erst in Auftrag geben werde, wenn sie einen neuen Anwalt mandatiert habe. Im August 1993 teilte diese mit, sie habe einen neuen Anwalt. Im Oktober 1993 gab das Gericht das Gutachten bei einem Sachverständigen in Auftrag. Ende 1993 erhielt dieser die hierfür notwendigen Unterlagen und erstattete sein Gutachten am 19. September 1994. Am 3. März 1995 fand ein Termin zur mündlichen Verhandlung statt. In deren Anschluss forderte das Gericht den Sachverständigen zur Berichtigung seines Gutachtens auf, da die Beklagten weitere Unterlagen eingereicht hatten. Am 15. Mai 1995 erstattete die Bf. Anzeige gegen die Beklagten wegen Zurückbehaltung mehrerer Unterlagen. Daraufhin forderte die zuständige Staatsanwaltschaft das LG auf, die Akten zu übersenden. Im August 1995 teilte der Vorsitzende mit, er könne das Verfahren nicht fortsetzen, bevor die Staatsanwaltschaft die Akten zurückgegeben habe. Im Januar 1996 wandte sich die Bf. schriftlich an den Landgerichtspräsidenten und forderte, ihrem Fall angesichts der übermäßig langen Verfahrensdauer Priorität zu gewähren. Am 7. März 1996

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

informierte der Vorsitzende die Parteien darüber, dass er mit dem Verfahren nicht fortfahren könne, da die Akten noch nicht vom Büro des Gerichtspräsidenten zurückgegeben worden seien. Am 14. März 1996 teilte der Präsident mit, seiner Ansicht nach lägen keinerlei Verzögerungen vor, die dem Gericht anzulasten seien. Am 22. März 1996 setzte der Sachverständige das Gericht darüber in Kenntnis, dass die Beklagten nicht alle notwendigen Unterlagen übergeben hätten. Die Beklagten versicherten daraufhin am 24. Mai 1996 in der mündlichen Verhandlung, sie würden die erforderlichen Unterlagen Anfang Juni 1996 übergeben. Am 26. August 1996 beantragte die Bf. die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und kündigte neue Anträge an. Der infolgedessen auf den 13. September 1996 bestimmte Termin wurde auf Antrag der Bf. auf den 15. November 1996 verlegt. Am 19. Dezember 1996 ging das ergänzte Sachverständigengutachten bei Gericht ein. Am 31. Januar 1997 forderte das Gericht die Parteien auf, Stellung zu demselben zu nehmen und setzte einen Verkündungstermin für den 1. April 1997 fest. Am 1. April 1997 verkündete das Gericht sein Urteil, demzufolge die Beklagten zur Offenlegung aller Abrechnungen seit dem Jahr 1975 verpflichtet sein sollten. Die übrigen Anträge der Bf. wurden abgewiesen. Im Mai 1997 legten beide Parteien Berufung gegen das Urteil ein. Im August 1997 wurde Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 10. Oktober 1997 bestimmt. Dieser Termin wurde auf Antrag der Beklagten verlegt auf den 18. Dezember 1997. Am 18. Dezember 1997 schlug das Gericht den Parteien die Auflösung und Auseinandersetzung der Gesellschaft vor. Am Ende der Verhandlung beschloss es nach dem Willen beider Parteien, das Verfahren nur auf Antrag fortzusetzen. Am 5. Januar 1998 ordnete das AG Bremerhaven auf Antrag der Beklagten in einem gesonderten Verfahren an, dass das Grundstück, das von der Gesellschaft verwaltet wurde, durch Teilungsversteigerung veräußert werden solle. Am 29. Januar 1998 bestimmte das Gericht auf Antrag der Bf. Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 23. April 1998, der jedoch später auf Antrag der Beklagten auf den 28. Mai 1998 verlegt wurde. Am 28. Mai kündigte das Gericht an, das Verfahren bis zur Terminierung der Versteigerung einstellen zu wollen, womit die Bf. nicht einverstanden war. Am 9. Juli 1998 ordnete das Gericht die Verfahrenseinstellung bis zur abschließenden Entscheidung im Versteigerungsverfahren an. Zwischen August 1999 und September 2000 wies das OLG mehrfach Wiederaufnahmeanträge seitens der Bf. mit der Begründung zurück, das Versteigerungsverfahren sei noch nicht abgeschlossen. Am 18. August 2000 legte die Bf. Verfassungsbeschwerde ein und machte geltend, das OLG habe trotz der übermäßigen Länge des Verfahrens eine Wiederaufnahme verweigert. Am 22. November 2000 lehnte das BVerfG die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ab. Am 9. Juli 2001 ordnete das AG Bremerhaven die Versteigerung des Grundstücks an, welches dann von M ersteigert wurde. Am 28. Sep-

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tember 2001 wies das LG Bremen die Beschwerde der Bf. hiergegen zurück. Auch die weitere Beschwerde der Bf. wurde zurückgewiesen. Am 26. März 2001 legte die Bf. Individualbeschwerde beim EGMR wegen überlanger Verfahrensdauer ein, die am 30. September 2004 für zulässig erklärt wurde. 2. Urteil des EGMR vom 6. Oktober 2005 Der EGMR bestimmt zunächst den für die Beurteilung relevanten Zeitraum, welcher nach seinen Feststellungen spätestens am 11. Juni 1986 mit Eingang der Klage der Bf. beim LG Bremen begann, bis zum Zeitpunkt der Urteilsfindung durch den EGMR nicht beendet war und sich mithin über mehr als 19 Jahre innerhalb vier Instanzen erstreckte. Der EGMR betont sodann, die Angemessenheit der Verfahrensdauer beurteile sich im Lichte der Umstände des Falles anhand der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien.137 In Bezug auf die Komplexität des Falles gesteht der EGMR zu, dass der zu beurteilende Fall sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht schwierige Fragen der Verwaltung einer Gesellschaft aufgeworfen habe. Was das Verhalten der Bf. angeht, merkt der EGMR an, diese selbst habe mehrfach um Terminsverlegungen gebeten. Auch ihre kompromisslose Haltung im gesamten Verfahren habe zur Verfahrenslänge beigetragen. Die mit dem Fall befassten Gerichte dagegen hätten zu viel Zeit darauf verwendet, eine – offensichtlich aussichtslose – Einigung zwischen den Parteien herbeizuführen. Bis zur Anberaumung einer Beweisaufnahme seien beispielsweise sechseinhalb Jahre verstrichen. Auch sei ein Verfahrensstillstand von zehn Monaten eingetreten, weil das LG das Verfahren gegen den ehemaligen Steuerberater abgewartet hatte. Weitere zehn Monate, die ergebnislos vergingen, seien hingegen mit der übermäßigen Arbeitsbelastung der Kammer zu entschuldigen. Die Verzögerung von sechs Monaten, die durch die Übersendung der Akten durch das LG an die Staatsanwaltschaft bedingt waren, ist indes nach Auffassung des EGMR nicht zu entschuldigen. Der EGMR erwähnt in diesem Zusammenhang zum wiederholten Male, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK den Vertragsstaaten die Pflicht auferlege, ihre Gerichtssysteme so zu organisieren, dass ihre Gerichte die Forderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK in jeder Hinsicht erfüllen können.138 Vorzuwerfen sei den Gerichten im vorliegenden Fall insbesondere, dass sie keine Kopien von den Gerichtsakten erstellt hätten, was die Verfahrensverzöge137 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, ECHR 2000-VII, Ziff. 43. 138 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, ECHR 2000-VII, Ziff. 45; sowie Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/ 95, Urt. v. 25. Februar 2000, Ziff. 74.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

rungen in erheblichem Maße verringert hätte.139 Zuletzt kritisiert der EGMR die Vorgehensweise des OLG, welches das Verfahren am 9. Juli 1998 ausgesetzt hatte, um den Ausgang des Versteigerungsverfahrens abzuwarten. Zwar habe die Bf. das Gericht nicht über den Ausgang dieses Versteigerungsverfahrens informiert und keinen Wiederaufnahmeantrag gestellt; andererseits habe das Gericht aber von Amts wegen Kenntnis hiervon gehabt und hätte trotz Geltung der Parteimaxime der in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerten Garantie der angemessenen Verfahrensdauer zur Wirksamkeit verhelfen müssen.140 Angesichts der Tatsache, dass das Verfahren zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwölf Jahre dauerte, wäre das OLG besonders dazu verpflichtet gewesen, das Verfahren ohne weitere Verzögerung zum Abschluss zu bringen. Letztendlich betont der EGMR noch die Bedeutung des Rechtsstreits für die Bf. und kommt unter Berücksichtigung all dieser Umstände einstimmig zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK im vorliegenden Fall verletzt worden sei. II. Dzelili gegen Deutschland 1. Sachverhalt Der 1971 geborene Bf. wurde am 6. Juli 1996 in Wilhelmshaven wegen des dringenden Verdachtes des fünffachen Raubes sowie des versuchten Mordes verhaftet.141 Am 4. November 1996 klagte ihn die Staatsanwaltschaft Oldenburg an wegen versuchten Mordes, Raubes und Verstoßes gegen das Waffengesetz. Am 6. Dezember 1996 lehnte das LG Oldenburg den Antrag des Bf., ihm Herrn B. als Verteidiger zuzuweisen, ab. Am 8. Januar 1997 ordnete das OLG Oldenburg die Aufrechterhaltung des Haftbefehls an wegen des weiterhin bestehenden dringenden Verdachts, die oben genannten Straftaten begangen zu haben, sowie aufgrund der bestehenden Fluchtgefahr. Am 18. Februar 1997 wurde die Anklage unverändert zugelassen und die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den Bf. sowie gegen zwei weitere Beschuldigte beschlossen. Am 25. Juni und am 26. September 1997 bestätigte das LG Oldenburg den Haftbefehl vom 7. Juli 1996. Beschwerden des Bf. hiergegen waren erfolglos. Am 22. Mai 1998 erkrankte ein Schöffe, woraufhin das Verfahren, welches bereits 55 Verhandlungstage gedauert hatte, von neuem beginnen musste. Am 28. Mai 1998 begründete das LG die Aufrechterhaltung des Haftbefehls ungeachtet der durch die Erkrankung des Schöffen bedingten Verzögerungen mit der Schwere der 139 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Série A Nr. 27, Ziff. 104, 110. 140 Volkwein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45181/99, Urt. v. 4. April 2002, Ziff. 36. 141 Bei dem Bf. handelt es sich um einen Mitangeklagten des Bf. Cevizovic, dessen Individualbeschwerde bereits zuvor behandelt wurde.

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dem Bf. zur Last gelegten Taten. Die Beschwerde des Bf. hiergegen blieb wiederum erfolglos. Am 2. Juni 1998 wurde das Verfahren mit zwei Ergänzungsschöffen wiedereröffnet. Am 1. Februar 1999 brachte der Bf. zum ersten Mal seit Beginn des Verfahrens vor, er sei zum Zeitpunkt des Verbrechens in Tetovo, Mazedonien, gewesen. Daraufhin beschloss das Gericht, Ermittlungen in Mazedonien aufzunehmen. Zwischenzeitlich wurden drei weitere Beschwerden des Bf. gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls zurückgewiesen. Ebenfalls erfolglos blieb der Antrag des Bf., ihm anstelle des Pflichtverteidigers einen anderen Verteidiger zuzuweisen. Am 17. September 1999 informierte die Staatsanwaltschaft das Gericht darüber, dass die Ermittlungen in Mazedonien noch nicht abgeschlossen seien. Gleichzeitig kündigte der Bf. die Beantragung der Vernehmung von 100 Zeugen zu seiner Verteidigung an. Einen Ablehnungsantrag des Bf. gegen das Gericht wegen Befangenheit lehnte das LG am 27. September 1999 ab. Am 31. Januar 2000 sagte einer der Alibi-Zeugen aus Mazedonien vor Gericht aus und bestätigte das Alibi des Bf. vom 1. Februar 1999. Am 14. Juni 2000 wies das LG eine weitere Haftbeschwerde des Bf. zurück. Es begründete dies mit der weiterhin bestehenden Fluchtgefahr. Unter diesen Umständen sei auch die Dauer der Untersuchungshaft nicht übermäßig lang, insbesondere angesichts der Tatsache, dass einige der vom Bf. benannten Entlastungszeugen nicht vernommen werden konnten, weil sie nicht vor Gericht erschienen waren. Außerdem habe der Bf. selbst zahlreiche Beweisanträge später als unbedingt notwendig gestellt. Überdies sei die Abtrennung des Verfahrens des Bf. von dem der anderen Angeklagten gegenwärtig nicht möglich, weil sie der gemeinsamen Begehung angeklagt seien. Auch die weitere Beschwerde des Bf. hiergegen blieb erfolglos, da das Berufungsgericht der Ansicht war, auch die lange Untersuchungshaft könne eine Entlassung nicht rechtfertigen. Weitere Anträge und Beschwerden dieser Art zwischen September und Oktober 2000 blieben ebenfalls erfolglos. Am 13. Dezember 2000 legte der Bf. Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidungen über die Fortdauer seiner Untersuchungshaft beim BVerfG ein. Ende Dezember 2000 wurde das LG darüber informiert, dass weitere 23 Zeugen aus Mazedonien sich weigerten, vor Gericht zu erscheinen. Stattdessen wurden Protokolle ihrer Vernehmung in Mazedonien in der Verhandlung verlesen. Am 11. Januar 2001 lehnte das BVerfG die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ab. Am 20. März 2001 verkündete das LG Oldenburg sein Urteil, nachdem monatlich im Durchschnitt weniger als vier Verhandlungstermine mit einer Dauer von weniger als zweieinhalb Stunden stattgefunden hatten. Der Bf. wurde wegen versuchten Mordes und besonders schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht die lange Dauer der Untersuchungshaft zugunsten des Bf. Am 22. März 2001 legte der Bf. Revision gegen das Urteil des LG ein. Weitere Rechtsmittel

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

gegen den Haftbefehl sowie eine weitere Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Untersuchungshaft blieben erfolglos. Am 12. September 2001 wurde das mit Gründen versehene, 201 Seiten umfassende Urteil des LG bei der Geschäftsstelle hinterlegt. Am 6. November 2001 beschloss das LG, den Haftbefehl gegen den Bf. einstweilen aufzuheben, woraufhin dieser entlassen wurde. Am 8. November 2001 begründete der Bf. seine Revision mit der nicht hinreichenden Berücksichtigung der Dauer der Untersuchungshaft durch das LG. Am 11. September 2003 hob der BGH das Landgerichtsurteil teilweise auf und verwies die Sache an eine andere Kammer des LG zurück. Der BGH befand, dass die in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerte Garantie der angemessenen Verfahrensdauer nicht hinreichend berücksichtigt worden sei. Am 13. April 2004 wurde der Haftbefehl gegen den Bf. endgültig aufgehoben. Am 16. August 2004 wurde das Verfahren wiedereröffnet. Am 2. September wurde der Bf. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Gericht begründete die Strafzumessung damit, dass der Bf. bei Durchführung des Verfahrens in angemessener Zeit eine Freiheitsstrafe von neun Jahren zu erwarten gehabt hätte. Da die in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerte Garantie der angemessenen Verfahrensdauer aber verletzt worden sei, müsse die Freiheitsstrafe auf sechs Jahre und sechs Monate reduziert werden. In der Urteilsbegründung legte das Gericht genau dar, zu welchen Verzögerungen es im Verfahren gegen den Bf. gekommen war und wem diese jeweils anzulasten waren. Gegen diese Entscheidung legte der Bf. am 2. September 2004 ebenfalls Revision ein. Am 17. März 2005 wies der BGH die Revision zurück, da sie unsubstantiiert sei. Am 17. Mai 2005 wies der BGH auch die Beschwerde des Bf., ihm sei kein hinreichendes rechtliches Gehör gewährt worden, zurück. Am 22. Juli 2005 legte der Bf. Verfassungsbeschwerde ein und beklagte die überlange Dauer der Untersuchungshaft und des Verfahrens. Diese Verfassungsbeschwerde war zum Zeitpunkt der Urteilsfindung durch den EGMR immer noch beim BVerfG anhängig. Der Bf. hatte bereits am 7. Dezember 1999 Individualbeschwerde beim EGMR eingelegt und die Verletzung von Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend gemacht. Der EGMR erklärte die Beschwerde am 8. Juli 2004 für zulässig. 2. Urteil des EGMR vom 10. November 2005 Der EGMR befasst sich zunächst mit der geltend gemachten Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK wegen überlanger Dauer der Untersuchungshaft sowie des Strafverfahrens und bejaht eine Verletzung dieser Norm, weil die Gerichte das gegen den Bf. geführte Strafverfahren nicht mit der gebotenen Eile behandelt hätten. Insbesondere weist der EGMR darauf hin, dass ab dem Verstreichen einer gewissen Zeit der dringende Tatverdacht allein die Fortdauer der Haft nicht rechtfertigen könne.142 Indes hätten noch andere Gründe vorgelegen, welche die

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Fortdauer der Haft zu rechtfertigen vermochten – etwa die Tatsache, dass sich der Bf. illegal in der Bundesrepublik aufhielt. Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist deshalb aus Sicht des EGMR gerechtfertigt. Bezüglich der Verpflichtung der Gerichte, ein Urteil in angemessener Frist zu erlangen, Art. 5 Abs. 3 Hs. 2 EMRK, stellt der EGMR fest, dass das Verfahren recht kompliziert gewesen sei. Andererseits hätten die Gerichte beträchtliche Verzögerungen zu verantworten, sei es dass im ersten Verfahren vor dem LG die Verhandlungstermine in großem Abstand stattfanden und jeweils nur von kurzer Dauer waren, sei es dass das Verfahren wegen Krankheit des Schöffen wiederholt werden musste, was nicht dem Bf. zur Last fallen könne. Der EGMR betont außerdem, der Bf. habe nicht etwa deshalb seinen Verletztenstatus im Sinne des Art. 34 EMRK143 verloren, weil das LG im Rahmen der Strafzumessung die lange Verfahrensdauer zu Gunsten des Bf. berücksichtigt habe. Dies habe zwar die Schwere des Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK abgemildert, führe aber gleichwohl nicht dazu, dass ein Verstoß als solcher zu verneinen sei. In Anbetracht aller Umstände des Falles gelangt der EGMR zu dem Ergebnis, das Strafverfahren des Bf. sei nicht mit der nötigen Eile geführt worden und bejaht dementsprechend mit 6:1 Stimmen144 eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK. Sodann wendet sich der EGMR der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu und bestimmt in einem ersten Schritt den zu beurteilenden Zeitraum. Dieser begann nach seinen Feststellungen am 6. Juli 1996 mit der Verhaftung des Bf.; derzeit145 ist das Verfahren noch beim BVerfG anhängig. Das Verfahren dauert demzufolge bereits mehr als neun Jahre. Was die Angemessenheit der Verfahrensdauer angeht, so verweist der EGMR auf seine Ausführungen zu Art. 5 Abs. 3 EMRK. Demzufolge haben die Gerichte den Fall des Bf. nicht mit der gebotenen Eile behandelt. Insofern stimmt der EGMR mit dem LG Oldenburg überein, welches die Überlänge des Verfahrens ebenfalls im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt hatte. Dem Bf. anzulastende Verzögerungen fielen demgegenüber nicht sehr ins Gewicht. In Anbetracht der Umstände des 142 Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968, Série A Nr. 7, S. 25, Ziff. 14. 143 Art. 34 EMRK: „Der Gerichtshof kann von jeder natürlichen Person, (. . .) die behauptet, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden. (. . .).“ 144 Der Richter am EGMR Myjer begründet seine ablehnende Haltung zur Bejahung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK in seiner abweichenden Meinung damit, dass der Bf. seinen Status als Verletzter in Bezug auf Art. 5 Abs. 3 EMRK ebenfalls verloren hätte. Da die Freiheitsstrafe des Bf. aufgrund der überlangen Verfahrensdauer um zweieinhalb Jahre verkürzt worden sei, könne von einem Verletztenstatus vorliegend nicht mehr die Rede sein. 145 Zum Zeitpunkt der Urteilsfindung durch den EGMR.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Falles hält der EGMR eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK für gegeben. Allerdings wendet er sich nun im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK ebenfalls der Frage der Verletzteneigenschaft des Bf. im Sinne des Art. 34 EMRK zu und kommt – im Gegensatz zu seiner rechtlichen Beurteilung dieser Frage im Rahmen von Art. 5 Abs. 3 EMRK – zu dem Ergebnis, der Bf. sei im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht mehr als Verletzter anzusehen.146 Aus diesen Gründen verneint der EGMR einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Kapitel 9

Von „Siebert“ bis „Kirsten“ – die aktuelle Rechtsprechung des EGMR I. Siebert gegen Deutschland 1. Sachverhalt Der 1954 geborene Bf. und in Gütersloh wohnhafte Bf. ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern zusammen. Seine uneheliche Tochter Anna, deren Mutter kurz nach ihrer Geburt starb, wurde am 29. Dezember 1993 geboren. Aufgrund ihrer Frühgeburt hatte sich ein sogenannter Hydrozephalus147 entwickelt, weswegen Anna der ständigen medizinischen Überwachung bedurfte. Sie blieb bis zum 11. März 1994 im Krankenhaus und lebt seither bei der Halbschwester ihrer Mutter. Am 3. Januar 1994 beantragte der Bf. beim AG Gütersloh, ihm die Vormundschaft für Anna zu übertragen. Am 9. März 1994 wurde dieser Antrag abgelehnt; stattdessen wurden die Eheleute P. als Vormünder eingesetzt. Am 28. Dezember 1994 wies das LG Bielefeld die Beschwerde des Bf. hiergegen zurück. Auch die weitere Beschwerde des Bf. zum OLG Hamm wurde am 26. Februar 1996 zurückgewiesen. Allerdings wurde die Sache an das LG zurückverwiesen, da das OLG die Einsetzung zweier Vormünder bemängelte. Am 3. April 1996 ordnete das AG Gütersloh die Einsetzung von Frau P. als Vormund an. Die Beschwerde sowie die weitere Beschwerde des Bf. hiergegen wurden am 3. Juni 1996 beziehungsweise am 20. Mai 1997 zurückgewiesen. Am 13. Dezember 2000 lehnte das BVerfG die Annahme der Verfassungsbeschwerde des Bf. gegen die oben genannten Entscheidungen ab. 146 Dies ist damit zu begründen, dass Art. 5 Abs. 3 EMRK speziell für das Strafverfahren weitaus strengere Anforderungen an die Durchführung des Verfahrens durch die Gerichte stellt als Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dementsprechend kann die Berücksichtigung der Verfahrensdauer im Rahmen der Strafzumessung durch das nationale Gericht die Bejahung der Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK meist nicht verhindern, wohingegen dies im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK häufiger der Fall ist. 147 „Wasserkopf“.

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Auch das Umgangsrecht betreffend seine Tochter machte der Bf. im Gerichtswege geltend. So beantragte er am 27. März 1995 beim AG Rheda-Wiedenbrück eine einstweilige Verfügung. Dieser Verfügungsantrag wurde am 23. Februar 1996 abgelehnt. Der zugrundeliegende Antrag in der Hauptsache wurde am 28. Mai 1997 unter Berufung auf das Kindeswohl abschlägig beschieden. Am 22. Januar 1998 wies das LG Bielefeld die Beschwerde des Bf. hiergegen zurück. Am 13. Dezember 2000 nahm das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des Bf. nicht zur Entscheidung an, ohne Gründe hierfür zu nennen. Der Bf. hatte am 20. Juni 2000 Individualbeschwerde wegen Verletzung des Anspruchs auf Entscheidung in angemessener Frist gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK eingelegt. Am 9. Juni 2005 erklärte der EGMR die Beschwerde für zulässig. 2. Urteil des EGMR vom 23. März 2006 Am 8. Dezember 2005 erhielt der EGMR eine vom Bf. sowie der deutschen Regierung unterzeichnete Erklärung. Darin verpflichtete sich die Regierung zur Zahlung von 9.000 A an den Bf., welcher sich im Gegenzug bereiterklärte, die weitere Verfolgung seiner Individualbeschwerde aufzugeben. Der EGMR entschied, dass die gütliche Einigung zwischen den Parteien im Einklang mit Art. 37 Abs. 1 a. E. EMRK sowie Art. 62 Abs. 3 VerfO stehe. Dementsprechend veranlasste er die Streichung des Falles aus dem Register, Art. 39 EMRK – eine Entscheidung, die durch Urteil ergeht.148 II. Sürmeli gegen Deutschland 1. Sachverhalt Der 1962 geborene Bf. wurde am 3. Mai 1982 auf dem Weg zur Schule in einen Verkehrsunfall verwickelt, an dem ein Fahrradfahrer beteiligt war. Er erlitt dabei mehrere Verletzungen, unter anderem einen gebrochenen Arm. Am 148 Art. 44 Abs. 2 VerfO (seit Juli 2006: Art. 43 Abs. 3 VerfO). Inhaltlich entsprechend endete das Verfahren Ernst und Babette Schmidt ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 27627/03, Entsch. v. 4. Dezember 2006 – allerdings nicht in der Form eines Urteils, sondern einer Entscheidung. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Art. 44 Abs. 2 VerfO die Streichung der Beschwerde im Wege eines Urteils nur für den Fall einer bereits für zulässig erklärten Beschwerde vorsieht. Im vorgenannten Fall hatte der Gerichtshof jedoch beschlossen, über Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde gemeinsam zu befinden. Im Zeitpunkt der gütlichen Einigung der Parteien war aber diese gemeinsame Entscheidung noch nicht gefallen, weshalb die Beschwerde formal noch nicht als zulässig zu behandeln war und Art. 44 Abs. 2 VerfO nicht zur Anwendung gelangen konnte. Aus diesem Grunde wurde die Streichung der Beschwerde – obschon im Übrigen formal dem Urteil Siebert entsprechend – im Wege der Entscheidung und nicht des Urteils getroffen und war aus diesem Grunde in die Urteilssammlung dieser Arbeit nicht aufzunehmen.

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22. Mai 1982 wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und setzte sich sofort mit der Versicherung des Unfallverursachers in Verbindung, die ihm ein Schmerzensgeld in Höhe von 12.500 A bezahlte. Daneben gewährte ihm die Unfallversicherung der Stadtverwaltung Hannover eine Verletztenrente bis Ende des Jahres 1983. In der Folge führte der Bf. mehrere Prozesse gegen die Unfallversicherung der Stadtverwaltung, wobei zahlreiche Sachverständigengutachten eingeholt werden mussten. Am 16. November 1989 entschied das LSG Niedersachsen, der Bf. weise infolge des Unfalls einen Grad der Behinderung von 20 auf, der ihn berechtige, eine Rente rückwirkend ab dem 1. Juni 1984 zu beziehen. Bis zum 1. Juni 1994 erhielt der Bf. deshalb eine monatliche Rente in Höhe von etwa 800 A. Im Jahr 1994 erhob der Bf. Klage auf Erhöhung seiner Rente mit der Begründung, der Unfall habe bei ihm psychische Schäden hervorgerufen. Am 19. Februar 2001 wurde die Klage abgewiesen, da die bestellten Sachverständigen solche Schäden nicht feststellen konnten. Parallel zu diesen Sozialgerichtsverfahren hatte der Bf. am 18. September 1989 Klage gegen die Versicherung des Unfallverursachers beim LG Hannover erhoben. Unter anderem begehrte er eine monatliche Rente. Am 10. Juni 1991 entschied das LG, dass der Bf. zu 20% verantwortlich für den Unfall und im Übrigen zu entschädigen sei. Am 26. November 1992 wies das OLG Celle die Berufung des Bf. zurück. Die hiergegen gerichtete Revision des Bf. wies der BGH am 14. Dezember 1993 zurück. Im März 1994 wurden die Zivilverfahren betreffend die Höhe des Schadensersatzes sowie die geltend gemachten Rentenansprüche eingeleitet. Im Mai 1994 lehnte der Bf. die drei mit seinem Fall befassten Richter erfolglos ab. Am 15. September 1994 wählte das Gericht einen medizinischen Sachverständigen aus, der jedoch das Gericht darüber informierte, dass ein Unfallsachverständiger geeigneter für den Fall sei. Den daraufhin am 2. Dezember 1994 bestellten Unfallsachverständigen lehnte der Bf. am 15. Dezember 1994 ab mit der Begründung, dieser sei kein Handchirurg. Am 6. Februar 1995 forderte das Gericht den Sachverständigen zur Erstellung seines Gutachtens auf. In der Zwischenzeit teilte der Bf. mit, daneben bedürfe es eines weiteren Gutachtens durch einen Handchirurgen. Zeitgleich teilte der Sachverständige dem Gericht mit, er könne das Gutachten nicht wie gefordert erstatten, da die Verletzungen des Bf. von einem Orthopäden untersucht werden müssten. Daraufhin wurde im Mai 1995 ein weiterer Sachverständiger bestellt, der dem Gericht mitteilte, dass ein ergänzendes Gutachten eines Handchirurgen erforderlich sei, welches mindestens ein Jahr in Anspruch nähme. Nachdem weitere ausgewählte Sachverständige die Erstattung des Gutachtens abgelehnt hatten, erklärte sich im Januar 1996 ein weiterer Sachverständiger zur Erstattung bereit und teilte mit, er werde etwa neun bis zwölf Monate hierfür benötigen. Am 3. September 1996 erklärte der Bf. dem Gericht, der Unfall habe schwere Depressionen bei ihm hervorgerufen; er beantragte daher die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens.

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Nachdem der bereits bestellte Sachverständige mehrmals zur Erstattung des Gutachtens angehalten wurde, teilte er mit, aufgrund von Arbeitsüberlastung könne er das Gutachten erst im Oktober 1997 erstatten. Im November 1997 erhielt das Gericht das besagte Gutachten, welches vom Bf. bemängelt wurde. Der Bf. forderte ein ergänzendes Schmerzgutachten. Am 3. Dezember 1997 gewährte das Gericht der beklagten Versicherungsgesellschaft eine Fristverlängerung zur Stellungnahme auf das Gutachten. Im April 1998 teilten die Prozessbevollmächtigten des Bf. mit, ihre erwidernde Stellungnahme könne aufgrund einer Erkrankung des Bf. nicht vor Mitte Mai erfolgen. Am 31. August 1998 informierten die Prozessbevollmächtigten des Bf. das Gericht darüber, dass eine außergerichtliche Einigung zwischen den Parteien gescheitert sei. Zwischen 1999 und August 2000 stagnierte das Verfahren aufgrund fehlgeschlagener Einigungsversuche und übermäßiger Arbeitsbelastung des Gerichts. Am 17. Oktober 2000 forderte der Bf. das Gericht in Anbetracht des nun bereits 18 Jahre andauernden Verfahrens zu einer raschen Entscheidungsfindung auf. Gleiches geschah im April 2001. Im Juli 2001 beschloss das LG, die Sozialgerichtsakten herbeizuziehen, was aber nicht sofort vonstatten gehen konnte, da sich die Akten beim BSG befanden. Am 14. August 2001 forderte das Gericht den Sachverständigen auf, sein im Oktober 1997 in Aussicht gestelltes Gutachten zu erstatten. Dieser erklärte, hierfür benötige er noch mindestens 10 weitere Monate. Im September 2001 forderte das Gericht den Bf. auf, sein Einverständnis zur Beiziehung der Sozialgerichtsakten zu erklären, da er den Beweis für die durch den Unfall erlittenen Verletzungen noch nicht erbracht habe. Außerdem befragte es den Bf., ob dieser an seiner Forderung, einen Handchirurgen hierzu zu befragen, weiterhin festhalte. Im Dezember 2001 teilte der Bf. mit, er sei mit der Beiziehung der Akten nicht einverstanden, bestehe jedoch auf der Einholung eines handchirurgischen Sachverständigengutachtens. Nach weiteren Ermittlungen in der Sache teilte der Bf. im Mai 2002 mit, dass er nicht länger an seiner Forderung betreffend ein ergänzendes Gutachten festhalte, sondern vielmehr eine Begutachtung seiner durch die Prozesse hervorgerufenen Leiden beanspruche. Im September 2002 beschloss das Gericht, einen Sachverständigen zu bestellen, der die Ursachen für das Leiden des Bf. ermitteln sollte. Nachdem der Bf. mehrere mit der Sache befasste Richter sowie den Sachverständigen abgelehnt hatte, teilte der neu bestellte Sachverständige mit, er könne sein Gutachten frühestens Ende 2003 erstatten. Im März 2003 regte das Gericht abermals vergeblich eine gütliche Einigung zwischen den Parteien an. Im Juni 2003 wurde ein neuer Sachverständiger bestellt, nachdem der Bf. gegen den bisherigen Sachverständigen mehrere Disziplinarverfahren angestrengt hatte. Der Bf. machte auch gegen diesen Sachverständigen Bedenken geltend, welche das Gericht als unbegründet abtat. Im September 2003 forderte der neue Sachverständige das Gericht auf, ihn von seinen Pflichten zu entbinden, da der Bf. ihn nach

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wie vor ablehne und bereits die Rechtsabteilung seines Krankenhauses eingeschaltet habe. Auf Drängen des Gerichts erstattete der Sachverständige schließlich sein Gutachten und erkundigte sich beim Gericht, ob ein ergänzendes Schmerztherapie-Gutachten gewünscht werde. Am 21. November 2003 forderte das Gericht dieses ergänzende Gutachten an. Bis Mitte des Jahres 2005 stellte der Bf. weitere Anträge auf Bestellung anderer Sachverständiger. Außerdem weigerte er sich, den Vorschuss für die Erstattung der Gutachten zu bezahlen. Seine Beschwerden gegen die Kostenerstattungsforderung blieben gleichwohl erfolglos. Nachdem im Oktober 2005 die Sachverständigen gehört wurden, sprach das Gericht dem Bf. mit Urteil vom 31. Oktober 2005 insgesamt Schadensersatz in Höhe von 20.451,68 A zu. Im Übrigen wies das Gericht die Klage ab und erlegte dem Bf. die Verfahrenskosten zu 97% auf. Bereits im März 2001 hatte der Bf. Verfassungsbeschwerde erhoben mit der Begründung, das erstinstanzliche Verfahren vor dem LG Hannover dauere bereits seit 1989 an und habe seine Existenz zerstört. Im August 2001 beschloss das BVerfG in der Besetzung einer Kammer von drei Richtern, die Beschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 26. Mai 2002 erhob der Bf. eine weitere Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer. Auch diese Beschwerde wurde unter Verweis auf § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen. Am 23. Mai 2002 hatte der Bf. parallel Prozesskostenhilfe beim LG Hannover beantragt, um eine Amtshaftungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer anzustrengen. Am 14. Mai 2003 wies das LG diesen Antrag zurück mit der Begründung, die Verfahrensverzögerungen seien nicht auf das Gerichtssystem zurückzuführen gewesen, sondern auf die übermäßige Arbeitsüberlastung der befassten Gerichte. Diese Entscheidung wurde am 21. Juli 2003 vom OLG Celle bestätigt. Seine Individualbeschwerde zum EGMR, mit der er die überlange Verfahrensdauer vor dem LG Hannover sowie das Nichtvorhandensein eines entsprechenden effektiven Rechtsbehelfs geltend machte, hatte der Bf. bereits am 24. November 1999 eingelegt. Die Beschwerde wurde am 29. April 2004 für zulässig erklärt.

2. Urteil des EGMR vom 8. Juni 2006 Der EGMR befasst sich zunächst mit der vom Bf. behaupteten Verletzung des Art. 13 EMRK. Im Zuge dessen untersucht er die Rechtsbehelfe, die dem Bf. nach dem Vortrag der deutschen Regierung zur Verfügung gestanden haben sollen. In diesem Zusammenhang überprüft der Gerichtshof als erstes den Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde. Da das BVerfG lediglich feststellen könne, dass die Dauer eines Verfahrens mit dem Grundgesetz nicht in Einklang

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steht, nicht aber tatsächlichen Einfluss auf das betreffende Verfahren nehmen könne und außerdem die Zulässigkeitskriterien der Verfassungsbeschwerde sehr hoch gesteckt seien, befindet der Gerichtshof, die Verfassungsbeschwerde sei kein effektiver Rechtsbehelf, wie ihn Art. 13 EMRK fordere. Auch spezielle außerordentliche Rechtsbehelfe gegen gerichtliche Untätigkeit, welche zwar in den Prozessordnungen nicht vorgesehen seien, von Instanzgerichten aber teilweise akzeptiert würden,149 seien nicht geeignet, den Anforderungen des Art. 13 EMRK gerecht zu werden. Gleiches gelte für die Dienstaufsichtsbeschwerde. Zuletzt widmet sich der EGMR der Amtshaftungsklage und gelangt zu dem Ergebnis, angesichts der Tatsache, dass ihm lediglich ein einziges Urteil bekannt sei, welches zu dem Schluss gekommen war, dass erhebliche Verfahrensverzögerungen einen Amtspflichtverstoß der befassten Gerichte begründen könnten, könne auch dieser Rechtsbehelf nicht als wirksam im Sinne des Art. 13 EMRK angesehen werden. Aufgrund dessen bejaht der EGMR im Ergebnis einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK. Was die behauptete Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK angeht, so stellt der EGMR zunächst fest, dass das Verfahren am 18. September 1989 begann und noch nicht abgeschlossen ist. Das Verfahren dauert mithin bereits mehr als 16 Jahre und sieben Monate an. Die Angemessenheit ist nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR im Lichte der Umstände des einzelnen Falles anhand der bekannten vier Kriterien zu beurteilen.150 Der EGMR hebt hervor, dies gelte selbst dann, wenn die innerstaatliche Rechtsordnung die Geltung der Parteimaxime vorsehe.151 Ebenso verhalte es sich, wenn die Hinzuziehung eines Sachverständigen notwendig sei.152 Der EGMR wiederholt schließlich erneut, Art. 6 Abs. 1 EMRK erlege den Vertragsstaaten die Verpflichtung auf, ihre Gerichtssysteme so zu organisieren, dass ihre Gerichte jeder Anforderung dieser Norm

149 Zu beachten ist, dass die im Zuge der Kudla-Entscheidung (Kudla ./. Polen, Beschwerde Nr. 30210/96, Urt. v. 26. Oktober 2000 = NJW 2001, 2694 = EuGRZ 2004, 484 ff.) erforderlich gewordene Untätigkeitsrüge erst mit Wirkung vom 1. Januar 2005 in die deutschen Prozessordnungen eingefügt wurde und daher im vorliegenden Fall noch nicht zum Zuge kommen konnte. Vgl. zur Kudla-Entscheidung sowie zum Komplex der Anhörungsrüge die vertiefenden Ausführungen im Zweiten Teil, Kapitel 5. 150 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 43. 151 Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984, Ziff. 32; Capuano ./. Italien, Beschwerde Nr. 9381/81, Urt. v. 25. Juni 1987, Ziff. 25; H. T. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38073/97, Urt. v. 11. Oktober 2001, Ziff. 35; Berlin ./. Luxemburg, Beschwerde Nr. 44978/98, Urt. v. 15. Juli 2003, Ziff. 58; McMullen ./. Irland, Beschwerde Nr. 42297/98, Urt. v. 29. Juli 2004, Ziff. 38. 152 Scopelliti ./. Italien, Beschwerde Nr. 15511/89, Urt. v. 23. November 1993, Ziff. 23, 25; Martins Moreira ./. Portugal, Beschwerde Nr. 11371/85, Urt. v. 26. Oktober 1988, Ziff. 60; Herbolzheimer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 57249/00, Urt. v. 31. Juli 2003, Ziff. 45, 48.

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einschließlich der Verpflichtung, die anhängigen Verfahren innerhalb angemessener Frist zu erledigen, gerecht werden können.153 Der EGMR urteilt sodann, der Fall sei nicht überaus schwierig oder komplex gewesen. Allenfalls prozessual könne von einer gewissen Komplexität ausgegangen werden. Das Verhalten des Bf. hat nach Auffassung des EGMR zu den Verzögerungen ebenfalls beigetragen. Insbesondere die zahlreichen Ablehnungsanträge des Bf. seien hierfür verantwortlich. Andererseits könne dem Bf. nicht vorgeworfen werden, dass er die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft hat. Das Verhalten der mit dem Fall befassten Gerichte habe in ganz erheblichem Maße zu den Verzögerungen beigetragen. So habe das LG zu viel Zeit darauf verwendet, einen geeigneten Sachverständigen zu finden und zu bestellen. Zuletzt sei die Bedeutung der Sache für den Bf. zwar nicht so erheblich wie beispielsweise im Falle von Umgangsrechtsstreitigkeiten. Dennoch könne sich der EGMR der Tatsache nicht verschließen, dass nach mehr als 161/2 Jahren noch immer kein abschließendes Urteil in der Sache ergangen sei. Insgesamt sei demnach trotz der durch den Bf. selbst verursachten Verzögerungen die angemessene Verfahrensdauer im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK überschritten worden. Der EGMR bejaht aus diesem Grunde einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. III. Nold gegen Deutschland 1. Sachverhalt Die in Rümmelsheim wohnhaften Bf. beauftragten im Jahr 1993 die H-Gesellschaft, vertreten durch Herrn H., mit dem Bau eines Hauses. Am 31. Mai 1995 erhob die H-Gesellschaft Klage beim LG Bad Kreuznach gegen die Bf. wegen ausstehender Zahlungen in Höhe von 242.651,10 DM. Am 27. Juli 1995 traten die Bf. der Klage entgegen und begründeten dies damit, dass die H-Gesellschaft ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllt habe, da das Gebäude schwerwiegende bauliche Mängel aufweise. Am 27. Oktober 1995 reduzierte die H-Gesellschaft ihre Klage auf 202.005,40 DM. Zwischen November 1995 und April 1996 gaben beide Parteien nach beiderseitigen Fristverlängerungsgesuchen ausführliche schriftliche Erklärungen ab. Am 19. Juli 1996 forderte die klagende Gesellschaft das LG zur Anberaumung einer mündlichen Verhandlung auf. Am 20. Juli 1996 wies der Vorsitzende Richter den Fall einem neuen Be153 Scordino ./. Italien, Beschwerde Nr. 36815/97, Urt. v. 15. Juli 2004, Ziff. 183; Cocchiarella ./. Italien, Beschwerde Nr. 64886/01, Urt. v. 10. November 2004, Ziff. 74; Duclos ./. Frankreich, Beschwerden Nr. 20940/92, 20941/92, 20942/92, Urt. v. 17. Dezember 1996, Ziff. 15; Muti ./. Italien, Beschwerde Nr. 14146/88, Urt. v. 23. März 1994, Ziff. 15; Caillot ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 36932/97, Urt. v. 4. Juni 1999, Ziff. 27; Herbolzheimer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 57249/00, Urt. v. 31. Juli 2003, Ziff. 48.

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richterstatter zu, woraufhin am 1. August 1997 eine mündliche Verhandlung stattfand. Zwischen September und Dezember 1997 trugen beide Parteien weiter in der Sache vor. Am 12. Dezember 1997 beauftragte das Gericht einen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens über die behaupteten baulichen Mängel. Weiter beschloss es die Vernehmung mehrerer Zeugen. Am 19. Januar 1998 ließ das Gericht dem Sachverständigen die Akten zukommen. Am 9. Februar 1998 verlangten die Bf. die Abänderung der dem Sachverständigen unterbreiteten Fragen, was von dem Vorsitzenden zur Vermeidung von Verzögerungen am 10. Februar 1998 abgelehnt wurde. Außerdem beschloss er die Beauftragung eines neuen Berichterstatters mit dem Fall. Am 20. August 1998 legten die Bf. dem Gericht das insgesamt 180 Seiten umfassende Bautagebuch vor. Am 10. November 1998 wies der Vorsitzende den Antrag der Bf. zurück, das Bautagebuch dem Sachverständigen vorzulegen. Am 15. Dezember 1998 erstattete der Sachverständige sein Gutachten. Am 8. Januar 1999 übersandte das LG den Parteien das Sachverständigengutachten zur Stellungnahme. Am 13. Januar 1999 legte der Prozessbevollmächtigte der Bf. sein Mandat nieder. Am 15. März 1999 erstatteten die Bf. Strafanzeige gegen den Gesellschafter H. wegen Falschaussage im Prozess. Zwischen dem 24. April und dem 26. April 1999 wurden die Gerichtsakten an die Staatsanwaltschaft übersandt. Am 6. Juli 1999 legten die Bf. eine persönliche, 122 Seiten umfassende Stellungnahme vor. Am 28. Juli 1999 setzte der Vorsitzende die Bf. darüber in Kenntnis, dass diese Einlassungen nicht berücksichtigt werden könnten, da sie nicht von einem Anwalt vorgelegt worden seien. Am 20. August 1999 gab der neue Prozessbevollmächtigte der Bf. eine kritische Stellungnahme zum Sachverständigengutachten ab. Er beantragte weiter die Bestellung eines zweiten Sachverständigen. Am 20. Oktober 1999 legte die Klägerin eine weitere Stellungnahme vor. Am 15. November 1999 übergab der Vorsitzende die Akten dem Berichterstatter. Am 9. Dezember 1999 wurden die Akten erneut an die Staatsanwaltschaft übersandt, welche die Akten am 10. Februar 2000 zurückgab. Am 16. Februar 2000 verkündete die H-Gesellschaft ihrem Subunternehmer den Streit. Am 29. Februar 2000 beauftragten die Bf. wieder den zuvor in der Sache tätigen Rechtsanwalt. Am 9. März 2000 forderte die Klägerin das Gericht zur Beschleunigung des Verfahrens auf. Am 29. März 2000 trat der Streitverkündete dem Prozess bei. Am 9. August 2000 wurde der Fall einem neuen Berichterstatter übertragen. Auf Forderungen der Bf., einen Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen, terminierte das Gericht am 22. Februar 2001 auf den 10. August 2001. Am 2. April 2001 informierte die Klägerin das Gericht darüber, dass die H-Gesellschaft sich in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt habe. Zwischen dem 15. und dem 22. Mai 2001 wurden die Akten an das OLG übersandt. Am 8. August 2001 erweiterte die Klägerin ihre Zahlungsklage. Am 10. August und am 7. Dezember 2001 vernahm das LG drei Zeugen. Am 11. Januar 2002 beschloss das Gericht, das Gebäude im Mai in

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Augenschein zu nehmen. Zwischen Januar und Mai 2002 gaben beide Parteien weitere schriftliche Stellungnahmen ab. Am 3. März 2002 erhoben die Bf. Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Vorsitzenden Richter wegen Verstoßes gegen seine Amtspflichten, insbesondere gegen die Pflicht zu zügiger Verfahrenserledigung. Gleichzeitig setzten die Bf. den Präsidenten des OLG Koblenz, das Justizministerium und die Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach in Kenntnis über ihre Beschwerde. Am 8. April 2002 informierte der Präsident des LG die Bf. darüber, dass keine Disziplinarmaßnahmen gegen den Vorsitzenden Richter beabsichtigt seien. Obwohl das Verfahren schon recht lange dauere, sei dies wohl hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass beide Parteien umfangreiche Stellungnahmen unterbreitet hätten. Außerdem hätten beide Parteien mehrmals Fristverlängerungen beantragt und die Gebühren für den Sachverständigen nicht rechtzeitig beglichen. Auch die Anfragen der Staatsanwaltschaft, die Akten zu übersenden, sowie die Ablösung des Berichterstatters hätten zu Verzögerungen geführt. Der Präsident forderte die Parteien auf, den Streitgegenstand zu begrenzen, um dem Gericht eine zügige Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Am 24. Mai 2002 besichtigte das LG das im Streit befindliche Gebäude. Am 29. Mai 2002 wurden die Akten an den Leiter der Staatsanwaltschaft übersandt. Am 22. Juli 2002 ordnete der Vorsitzende an, Kopien von den Akten zu erstellen. Am 5. August 2002 setzte die Klägerin das Gericht darüber in Kenntnis, dass die H-Gesellschaft am 23. Juli 2002 Insolvenz angemeldet habe. Das Insolvenzverfahren wurde am selben Tag eröffnet. Am 9. und 30. August 2002 beschloss das Gericht, einen weiteren Sachverständigen zur Frage der Baumängel zu hören. Weiter gab es den Bf. auf, den Gebührenvorschuss für den Sachverständigen zu begleichen. Am 4. September 2002 beantragten die Bf. einen Zahlungsaufschub betreffend den Gebührenvorschuss. Am 6. September 2002 stellten die Bf. einen Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen. Wenig später erstatteten sie zusätzlich Strafanzeige gegen diesen Sachverständigen. Zwischen dem 9. September und dem 19. September 2002 wurden die Akten an die Staatsanwaltschaft abgeben. Am 30. September 2002 beschwerten sich die Bf. über das durch die Insolvenz der Klägerin bedingte Ruhen des Verfahrens und erhoben am 3. Oktober 2002 Verfassungsbeschwerde. Am 7. Oktober 2002 stellten die Bf. einen Befangenheitsantrag sowohl gegen die Landgerichtskammer insgesamt, als auch gegen den Vorsitzenden Richter. Am 21. Oktober 2002 wurde dieser Antrag abgelehnt. Bis November 2002 wurden die Akten wiederum an die Staatsanwaltschaft abgegeben. Am 3. Dezember 2002 informierte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin das Gericht darüber, dass das Insolvenzverfahren am 1. Oktober 2002 eröffnet worden sei, und dass der Insolvenzverwalter den Fall aufzunehmen beabsichtige. Am 7. Januar 2003 legten die Bf. Beschwerde gegen die Entscheidung des LG vom 21. Oktober 2002 ein. Am 27. Januar 2003 wies das OLG Koblenz diese Beschwerde wegen Fristablaufs zurück und setzte den Streitwert auf 124.065,53 A fest. Am 12. März

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2003 stellten die Bf. einen weiteren Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter, der am 24. Juni 2003 abgelehnt wurde. Zwischen dem 28. März und dem 14. April 2003 wurden die Akten an das BVerfG abgegeben. Am 25. Juli 2003 wies das OLG die Beschwerde der Bf. gegen die Streitwertfestsetzung zurück. Am 19. August 2003 starb der Sachverständige. Am 28. August 2003 beschloss der Vorsitzende, dass ein anderer Sachverständiger zur Frage der Baumängel Stellung nehmen solle. Am 7. September und am 31. Oktober 2003 erstatteten die Bf. Strafanzeige gegen die Richter des LG. Am 14. Oktober 2003 informierten die Bf. das LG darüber, dass Verhandlungen über eine gütliche Einigung stattfänden. Am 3. November 2003 ordnete das LG im Einverständnis der Parteien das Ruhen des Verfahrens an. Am 1. Dezember 2003 nahm der Insolvenzverwalter der H-Gesellschaft die Klage gegen die Bf. zurück. Im Gegenzug verpflichteten sich die Bf. zur Zahlung von 15.000 A und verzichteten auf alle weiteren Forderungen gegen die H-Gesellschaft. Am 5. Januar 2004 setzte das LG den Streitwert auf 107.768,36 A fest, was am 18. Februar 2004 vom OLG bestätigt wurde. Am 9. April 2003 lehnte das BVerfG die Annahme der im Oktober 2002 erhobenen Verfassungsbeschwerde ab, da eine Rechtsverletzung nicht ersichtlich sei. Eine Verfahrensdauer von acht Jahren sei „gerade noch hinnehmbar“. Am 14. September 2003 erhoben die Bf. eine weitere Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren. Am 3. November 2003 wurde auch die Annahme dieser Verfassungsbeschwerde abgelehnt. Die Individualbeschwerde zum EGMR hatten die Bf. am 14. Juli 2002 erhoben. Am 18. März 2005 beschloss der EGMR in Übereinstimmung mit Art. 29 Abs. 3 EMRK, über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerde gemeinsam zu entscheiden. 2. Urteil des EGMR vom 29. Juni 2006 Nach den Feststellungen des EGMR begann die maßgebliche Frist am 2. Juni 1995 und endete am 1. Dezember 2003; sie dauerte mithin insgesamt acht Jahre und 6 Monate. Der Gerichtshof wendet sich sodann der Zulässigkeit der Beschwerde zu und stellt fest, die Beschwerde müsse so behandelt werden, als ob zuvor alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe einschließlich der Verfassungsbeschwerde ausgeschöpft worden seien. Die Behandlung des Falles durch das BVerfG stelle in Zweifel, dass die vorherige Einlegung der Verfassungsbeschwerde von Erfolg gekrönt gewesen wäre. Mithin sei die Beschwerde zulässig. Im Rahmen der Begründetheit der Beschwerde betont der EGMR vorab, die Angemessenheit der Verfahrensdauer sei im Lichte der Umstände des einzelnen Falles unter Heranziehung der Kriterien Komplexität des Falles, Verhalten des Bf. sowie der mit der Sache befassten Gerichte und Bedeutung der Sache für

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den Bf. zu beurteilen.154 Darüber hinaus seien die Gerichte selbst in Verfahren, welchen die Parteimaxime zugrunde liegt, nicht von der Verpflichtung befreit, den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht zu werden.155 Dasselbe gelte, wenn die Zusammenarbeit mit einem Sachverständigen erforderlich werde.156 Der EGMR beurteilt – genau wie das BVerfG in seiner Entscheidung vom 9. April 2003 – die Sache als nicht besonders schwierig. Allenfalls die langatmigen Einlassungen der Parteien könnten die Sache etwas komplexer gemacht haben. Das Verhalten der Bf. hat nach Ansicht des EGMR in gewissem Maße zu Verzögerungen des Verfahrens beigetragen. Insbesondere die zahlreichen Ablehnungsanträge sowie die Forderungen nach weiteren Sachverständigen, aber auch die Strafanzeigen und Beschwerden hätten hierzu beigesteuert. Was das Verhalten der befassten Gerichte anbelangt, so stellt der EGMR fest, dass die erste mündliche Verhandlung erst stattfand, nachdem die Klage bereits seit zwei Jahren erhoben war. Auch die zahlreichen Wechsel der Berichterstatter hätten das Ihrige beigetragen. Zudem habe es mehrere Zeiträume gegeben, in denen überhaupt nichts geschehen sei. Anstatt die Akten komplett an andere Behörden zu übersenden, hätte das LG genau so gut Kopien anfertigen lassen können. Die Arbeitsüberlastung des Gerichts stellt für den EGMR ebenso kein Argument dar: Vielmehr seien die Vertragsstaaten verpflichtet, ihre Gerichtssysteme so einzurichten, dass ihre Gerichte den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht werden können.157 Die Bedeutung der Sache für die Bf. sei erheblich gewesen, da sie den Ausgang des Verfahrens abwarten wollten, bevor sie ihr Bauvorhaben fertig stellten. Angesichts dieser verschiedenen Umstände ist der EGMR vorliegend einstimmig der Ansicht, dass die Dauer des Verfahrens übermäßig war und infolgedessen Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt wurde. IV. Stork gegen Deutschland 1. Sachverhalt Die Bf. sind deutsche Staatsangehörige, leben in Hamminkeln und sind Eigentümer eines dort gelegenen Grundstücks. Am 22. Oktober 1985 forderte die 154 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 43. 155 Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984, Ziff. 32; Berlin ./. Luxemburg, Beschwerde Nr. 44978/98, Urt. v. 15. Juli 2003, Ziff. 58; McMullen ./. Irland, Beschwerde Nr. 42297/98, Urt. v. 29. Juli 2004, Ziff. 38. 156 Scopelliti ./. Italien, Beschwerde Nr. 15511/89, Urt. v. 23. November 1993, Ziff. 23, 25; Martins Moreira ./. Portugal, Beschwerde Nr. 11371/85, Urt. v. 26. Oktober 1988, Ziff. 60. 157 Martins Moreira ./. Portugal, Beschwerde Nr. 11371/85, Urt. v. 26. Oktober 1988, Ziff. 60; Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 45.

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Gemeindeverwaltung die Bf. auf, eine Gebühr in Höhe von 4.470,52 DM für den Bau einer Straße zu ihrem Grundstück zu bezahlen. Die Gebühr beruhte auf der Erschließungsbeitragssatzung der Gemeindeverwaltung. Am 7. November 1985 legten die Bf. Widerspruch hiergegen ein. Sie bestritten die Rechtmäßigkeit der Gebührenerhebung und trugen vor, die Straße sei nicht ordnungsgemäß angelegt worden. Außerdem beriefen sie sich auf § 133 BauGB, wonach Gebühren für eine öffentliche Straße erst nach ihrer endgültigen Fertigstellung erhoben werden dürften. Daneben warfen sie den Gemeindebediensteten vor, sich auf ihre Kosten bereichert zu haben, da eine Firma beauftragt worden sei, die ihre Dienste zu Spekulationspreisen anbiete. Dies führte zur Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, im Zuge dessen zwei Sachverständigengutachten zur Frage der ordnungsgemäßen Herstellung der Straße angefordert wurden. Die im Jahre 1986 eingeleiteten Ermittlungen wurden im August 1989 eingestellt. Am 13. November 1985 beantragten die Bf. die Aussetzung der Vollziehung des Gebührenbescheids. Dies wurde von der Gemeindeverwaltung am selben Tag abgelehnt. Am 11. Juni 1986 ordnete das VG Düsseldorf auf Antrag der Bf. vom 19. November 1985 die Aussetzung der Vollziehung an. Am 20. September 1988 wies das OVG Münster die Beschwerde der Gemeindeverwaltung hiergegen zurück. Am 27. Oktober 1988 erhoben die Bf. Untätigkeitsklage gem. § 75 VwGO beim VG Düsseldorf, da die Gemeindeverwaltung ihren Widerspruch vom 7. November 1985 noch nicht beschieden hatte. Auf Nachfrage des VG übersandte die Staatsanwaltschaft Duisburg im Februar 1989 die aus dem Ermittlungsverfahren stammenden Sachverständigengutachten. Im Folgenden führte die Gemeindeverwaltung ein Beweissicherungsverfahren vor dem AG Wesel. Auf Drängen des VG sicherte das AG am 12. Februar 1992 zu, dass das Sachverständigengutachten gegen Ende des Jahres erstattet würde, was auch so geschah. Am 11. Mai 1993 hob das VG die Anordnung der Gemeindeverwaltung vom 22. Oktober 1985 auf, da die Straße nicht in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften errichtet worden sei. Auf die Berufung der Gemeindeverwaltung hin hob das OVG dieses Urteil am 29. November 1996 auf und wies die anschließende Nichtzulassungsbeschwerde der Bf. hiergegen zurück. Am 7. September 1997 ließ das BVerwG die Nichtzulassungsbeschwerde der Bf. zu, hob die Entscheidung des OVG auf und verwies die Sache an dieses zurück. Am 30. Dezember 1997 wies das OVG die Berufung der Bf. ohne mündliche Verhandlung erneut zurück. Am 19. April 1999 hob das BVerwG auch diese Entscheidung auf und verwies die Sache abermals an das OVG zurück. Es wies dabei darauf hin, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung aus seiner Sicht nicht entbehrlich sei. Am 11. Januar 2001 fand vor dem OVG Münster eine mündliche Verhandlung statt, während der die Bf. 44 Beweisanträge stellten. Die Gemeindeverwaltung reduzierte daraufhin die Gebührenforderung auf 3.951,54 DM, was dazu führte, dass beide Parteien den

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Rechtsstreit für erledigt erklärten, was den überschießenden Betrag anbelangte. Am 23. Januar 2001 stellte das VG das Verfahren bezüglich dieses überschießenden Betrages ein und wies die Beschwerde der Bf. hiergegen zurück. Am 25. September 2001 erhoben die Bf. Verfassungsbeschwerde und beklagten die lange Verfahrensdauer. Am 10. April 2002 lehnte das BVerfG in der Besetzung einer Kammer von drei Richtern die Annahme der Beschwerde zur Entscheidung ohne Angabe von Gründen ab. Am 18. Oktober 2002 erhoben die Bf. Individualbeschwerde zum EGMR wegen Verletzung ihres Anspruchs auf Entscheidung in angemessener Frist. Der EGMR beschloss am 27. Januar 2005 in Übereinstimmung mit Art. 29 Abs. 3 EMRK über die Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde gemeinsam zu entscheiden. 2. Urteil des EGMR vom 13. Juli 2006 Der EGMR befasst sich zunächst mit der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das vorliegende Verfahren. Die deutsche Regierung hatte vorgebracht, es handle sich um eine rein öffentlich-rechtliche Materie; Gebührenforderungen der öffentlichen Hand unterfielen ähnlich wie Steuern nicht dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der EGMR stellt hierzu fest, die Gebührenforderung beziehe sich auf ein konkretes Projekt und sei mit Steuern, die zur Finanzierung der öffentlichen Hand allgemein erhoben würden, nicht vergleichbar. Art. 6 Abs. 1 EMRK sei demzufolge hinsichtlich seines zivilrechtlichen Teils anwendbar. Was die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges anbelangt, bemerkt der EGMR, das BVerfG habe für die Nichtannahme der Beschwerde keine Gründe genannt. Es könne daher nicht spekuliert werden, dass das BVerfG die Beschwerde für unzulässig gehalten habe.158 Außerdem sei es eher unwahrscheinlich, dass eine Beschwerde zu einem früheren Zeitpunkt größere Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wo doch das BVerfG selbst eine Verfahrensdauer von mehr als sieben Jahren nicht für relevant befunden habe. Abgesehen davon sei die Verfassungsbeschwerde aufgrund ihres Charakters nicht in der Lage, bei überlanger Verfahrensdauer Abhilfe zu schaffen.159 Im Übrigen habe das BVerfG die Annahme der Beschwerde nicht mangels Erschöpfung des Rechtswegs abgelehnt. Daher seien die Bf. so zu behandeln, als hätten sie den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft. Der zu berücksichtigende Zeitraum begann nach den Feststellungen des EGMR am 7. November 1985 und endete am 19. April 2002 mit der Nichtan158 Keles ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 32231/02, Urt. v. 27. Oktober 2005, Ziff. 44. 159 Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006, Ziff. 108.

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nahmeentscheidung des BVerfG. Er beläuft sich damit auf über 16 Jahre und fünf Monate. Die Angemessenheit muss nach der gefestigten Rechtsprechung des EGMR wiederum im Lichte der Umstände des einzelnen Falles anhand der bekannten Kriterien beurteilt werden.160 Was die Komplexität des Falles anbelangt, so beurteilt der EGMR die Sache trotz der im Streit befindlichen äußerst geringen Gebührenforderung als einigermaßen schwierig. Das Verhalten der Bf. hat nach Auffassung des EGMR bezüglich einer Zeitspanne von zwei Jahren und acht Monaten zu den Verfahrensverzögerungen beigetragen, da diese zahlreiche Beweisanträge gestellt und außerdem ihre verwaltungsgerichtliche Klage erst nach zwei Jahren und elf Monaten eingereicht hätten, obwohl sie dies bereits drei Monate nach der Nichtbescheidung des Widerspruchs hätten tun können. Das Verhalten der mit der Sache befassten Gerichte hat nach der Einschätzung des EGMR in erheblichem Maße zu den Verzögerungen beigetragen. Zwar könnten die nationalen Gerichte unter bestimmten Voraussetzungen den Ausgang eines anderen Verfahrens abwarten, bevor sie in der Sache entscheiden. Dabei müssten aber die Umstände des jeweiligen Falles berücksichtigt werden.161 Vorliegend hätten die Gerichte siebeneinhalb Jahre benötigt, um über den Widerspruch der Bf. zu entscheiden. Diese Verzögerung sei nicht mit prozessualen Überlegungen zu rechtfertigen. In Anbetracht der Gesamtdauer von 16 Jahren und fünf Monaten kommt der EGMR vorliegend nicht umhin, eine Verletzung des Gebots der Entscheidung in angemessener Frist festzustellen und bejaht dementsprechend einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. V. Gräßer gegen Deutschland – „Rekord“ im Bereich Verfahrensdauer 1. Sachverhalt Im Jahr 1971 verhandelten der Bf. und ein Unternehmen mit der Stadt Saarbrücken über eine Baugenehmigung. Im Verlauf dieser Verhandlungen verpflichteten sich beide, einen Teil der Erschließungskosten – nämlich 2.535.000 DM – zu bezahlen. Der Bf. verpflichtete sich außerdem, binnen zwei Jahren nach Erteilung der Baugenehmigung ein Einkaufszentrum auf dem besagten Grundstück zu errichten. Am 1. April 1974 beantragte der Bf. die Baugenehmigung bei der städtischen Behörde. Zur Deckung der Erschließungskosten bot er eine Bankbürgschaft über 1.500.000 DM an und schlug vor, hierüber einen Vertrag abzuschließen. Im Anschluss an die Kommunalwahlen im August 1974 for160 Pélissier und Sassi ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 25444/94, Urt. v. 25. März 1999, Ziff. 67; Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/95, Urt. v. 25. Februar 2000, Ziff. 70. 161 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 10. März 1980, Ziff. 110; Boddaert ./. Belgien, Beschwerde Nr. 12919/87, Urt. v. 12. Oktober 1992, Ziff. 39; Pafitis u. a. ./. Griechenland, Beschwerde Nr. 20323/92, Urt. v. 26. Februar 1998, Ziff. 97.

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derte ihn die Stadt auf, eine Sicherheit über 4.500.000 DM für die Erschließungskosten betreffend das gesamte Grundstück beizubringen. Da er dies ablehnte, teilte die Stadt mit, sie werde die beantragte Baugenehmigung nicht erteilen. Außerdem lehnte sie es ab, einen Vertrag über die Verpflichtung zum Bau des Einkaufszentrums sowie die Erschließungskosten abzuschließen. Am 23. August 1974 erhob der Bf. Amtshaftungsklage beim LG Saarbrücken gegen die Stadt Saarbrücken, mit welcher er rügte, die plötzliche Entscheidung der Stadt, eine Banksicherheit über 4.500.000 DM zu fordern, sei auf fragwürdige Verhandlungen zwischen den lokalpolitischen Parteien vor den Gemeinderatswahlen zurückzuführen. Am 24. Februar 1975 wurde die beantragte Baugenehmigung abgelehnt. Diese Entscheidung wurde später von den Verwaltungsgerichten bestätigt. Am 21. März 1975 wies das LG Saarbrücken die Klage des Bf. ab. Am 27. Juni 1975 legte der Bf. Berufung hiergegen ein. Im Herbst 1976 wurde sein Grund und Boden im Wege der Zwangsversteigerung veräußert. Am 3. Februar 1978 wies das OLG Saarbrücken die Berufung des Bf. zurück. Am 7. Februar 1980 hob der BGH diese Entscheidung auf die Revision des Bf. hin auf und verwies die Sache an das OLG zurück. Er wies dieses an, zu untersuchen, warum die Stadt die vertraglichen Beziehungen mit dem Bf. so abrupt beendet habe. Wenn dies willkürlich geschehen sei, sei die Stadt dem Bf. zu Schadensersatz verpflichtet. Am 23. Oktober 1981 wies das OLG die Berufung des Bf. abermals zurück, da es keinen Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten der Stadt und dem vom Bf. behaupteten Schaden erkennen konnte. Am 14. Oktober 1982 entschied der BGH, die Revision des Bf. teilweise zuzulassen. Am 5. Mai 1983 hob der BGH die Entscheidung des OLG teilweise auf und verwies die Sache zurück an einen anderen Senat des OLG. Am 10. Juli 1984 änderte dieser Senat das landgerichtliche Urteil ab. Er sprach dem Bf. im Wege eines Grundurteils Schadensersatz zu, da die Stadt gegen ihre öffentliche Pflicht zu gleichförmigem Verwaltungshandeln verstoßen habe. Die Revision der Stadt hiergegen wurde vom BGH nicht zur Entscheidung angenommen. Am 8. Juli 1986 verurteilte das OLG die Stadt Saarbrücken zur Zahlung von 5.798.142 DM und wies die Klage im Übrigen ab. Am 22. Juni 1989 hob der BGH diese Entscheidung auf und verwies die Sache an das OLG zurück. Am 9. Juni 1995 gab das OLG ein Sachverständigengutachten in Auftrag zur Frage, welcher Schaden dem Bf. entstanden sei. Am 12. Januar 1999 gab das OLG ein zweites Sachverständigengutachten zur Frage der dem Bf. entstandenen Schäden im Hinblick auf steuerrechtliche Aspekte in Auftrag. Am 20. Juli 2000 gab das BVerfG der Verfassungsbeschwerde des Bf. wegen überlanger Verfahrensdauer statt. Es stellte fest, dass das Recht des Bf. auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz dadurch verletzt worden sei, dass das OLG Saarbrücken es unterlassen habe, in angemessener Zeit eine Entscheidung über

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die Höhe des dem Bf. zustehenden Schadensersatzanspruchs zu treffen. Es führte in seiner Begründung aus, ungeachtet der Komplexität des Falls sei die Dauer des seit 1974 anhängigen Verfahrens ganz offensichtlich zu lang gewesen. Es kam zu dem Schluss, dass es sich gemäß § 95 Abs. 1 BVerfGG auf die Feststellung der Grundgesetzverletzung beschränken müsse. Das OLG sei nunmehr gehalten, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem möglichst raschen Abschluss des Verfahrens führen. Am 25. und 26. September 2000 lehnten zwei verschiedene Senate des OLG die Befangenheitsanträge des Bf. gegen die beteiligten Richter ab. Am 20. November 2001 wies das OLG die Schadensersatzklage des Bf. ab und erlegten dem Bf. die Verfahrenskosten auf. Am 25. April 2003 lehnte der BGH die Annahme der Revision des Bf. ab. Am 28. Mai 2003 erhob der Bf. Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung seines Eigentumsrechts, seines Rechts auf rechtliches Gehör, auf ein faires Verfahren und auf den gesetzlichen Richter. Am 28. Juli 2003 entschied das BVerfG, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 24. Februar 2004 eröffnete das AG Saarbrücken das Insolvenzverfahren gegen den Bf. Bereits am 24. April 2001 hatte der Bf. eine weitere Amtshaftungsklage beim LG Karlsruhe gegen das Saarland erhoben. Er begehrte die Feststellung, dass das Saarland verpflichtet sei, ihm denjenigen Schaden zu ersetzen, der ihm aufgrund der überlangen Verfahrensdauer vor dem OLG Saarbrücken entstanden ist und noch entstehen wird. Diesen Schaden veranschlagte er auf mehrere 100 Mio. DM. Am 9. November 2001 gab das LG Karlsruhe dieser Klage statt. Am 20. Dezember 2001 legte das Saarland hiergegen Berufung beim OLG Karlsruhe ein. Im Zeitpunkt der Urteilsfindung durch den EGMR war dieses Verfahren noch anhängig. Der Bf. hatte bereits am 2. Februar 2001 Individualbeschwerde beim EGMR erhoben wegen Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Beschwerde wurde am 16. September 2004 für zulässig befunden. 2. Urteil des EGMR vom 5. Oktober 2006 Der EGMR stellt zunächst fest, dass er über die Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde nur gemeinsam befinden könne, da die Frage des Opferstatus des Bf. im Sinne des Art. 34 EMRK nicht getrennt von der Frage beurteilt werden könne, ob eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliege. Unter Bezugnahme auf seine Entscheidung im Fall Sürmeli162 gelangt der EGMR zu dem Schluss, dass der Bf. seine Opferrolle im Sinne der Konvention nicht dadurch verliere, dass im Wege einer Verfassungsbeschwerde die Verletzung von 162

Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006.

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Grundrechten positiv festgestellt wurde: Da das BVerfG nicht in der Lage sei, Entschädigung zuzusprechen oder die vor den Instanzgerichten geführten Prozesse zu beschleunigen, könne nicht davon gesprochen werden, dass der Bf. nicht mehr „Opfer“ im Sinne der Konvention sei. Sodann wendet sich der EGMR der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu: Nach seinen Feststellungen begann der streitige Zeitraum am 23. August 1974 mit der Klageerhebung gegen die Stadt Saarbrücken und endete mit der Entscheidung des BVerfG vom 4. August 2003, die Verfassungsbeschwerde wegen behaupteter Verletzung der Eigentumsrechte, des Rechts auf ein faires Verfahren sowie des Rechts auf den gesetzlichen Richter163 nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Verfahren dauerten somit insgesamt 28 Jahre und 11 Monate. Der EGMR stellt bereits an dieser Stelle fest, dass die Dauer der Verfahren ungewöhnlich lang sei und deshalb besonderer Rechtfertigungsgründe bedürfe. Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung164 ruft der EGMR in Erinnerung, die Angemessenheit der Verfahrensdauer sei anhand der bekannten Kriterien zu überprüfen. Der EGMR gesteht dabei zu, dass der Fall des Bf. sehr komplex war. Das Verhalten des Bf. hingegen trug nach den Feststellungen des Gerichtshofs zu den Verfahrensverzögerungen nicht bei. Hinsichtlich des Verhaltens der deutschen Gerichte stellt der EGMR fest, die übermäßige Verfahrensdauer von fast 29 Jahren schließe aus sich heraus aus, dass die Sache des Bf. mit der gebotenen Zügigkeit behandelt wurde. Insbesondere angesichts dessen, was für den Bf. finanziell auf dem Spiel stand (etwa 109.000.000 A), und der Tatsache, dass die wirtschaftliche Existenz des Bf. bedroht war, hätten die Gerichte die Angelegenheit besonders zügig behandeln müssen. Dementsprechend gelangt der EGMR in Übereinstimmung mit den Feststellungen des BVerfG im Juli 2000 zu dem Ergebnis, dass keine Rechtfertigungsgründe für die übermäßige Verfahrensdauer ersichtlich seien und demzufolge Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden sei. VI. Klasen gegen Deutschland – Parallele zum Fall Janssen 1. Sachverhalt Der Bf. wurde 1933 geboren und lebte in Mülheim. Zwischen 1964 und 1974 war er bei der T-Gesellschaft in Mülheim beschäftigt und kam dabei mit Asbestisolatoren in Berührung. Die durch Asbestdämpfe verseuchte Kleidung hatten 163 N.B.: Der Bf. hatte zwei verschiedene Verfassungsbeschwerden erhoben – die Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer hatte Erfolg. Nicht durchdringen konnte der Bf. dagegen mit dieser zeitlich später erhobenen Verfassungsbeschwerde. 164 Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/95, Urt. v. 25. Februar 2000, Ziff. 70; Nuutinen ./. Finnland, Beschwerde Nr. 32842/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 110.

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die Arbeitnehmer selbst zu reinigen. Für den Bf. erledigte dies seine erste Frau, Gisela Klasen. Am 1. April 1974 – der Bf. arbeitete zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr für die T-Gesellschaft – trat eine Unfallverhütungsvorschrift in Kraft, nach der die Arbeitskleidung von der Firma selbst gereinigt werden musste. Nachdem sich Gisela Klasen ein Mesotheliom zugezogen hatte, eine Krankheit, die durch Asbest hervorgerufen wird, forderte sie am 6. März 1991 von der Krankenversicherung Düsseldorf Schadensersatz, was sie damit begründete, dass ihre Krankheit Folge des täglichen Reinigens der Arbeitskleidung ihres Mannes sei. Am 6. August 1991 wies die Versicherung diese Forderung zurück, da ihre Tätigkeit nicht vom Versicherungsschutz gedeckt sei – schließlich habe sie auf rein privater Basis und nicht als Arbeitnehmer gehandelt. Am 5. September 1991 legte Gisela Klasen Widerspruch hiergegen ein, der am 13. Dezember 1991 zurückgewiesen wurde. Im Januar 1992 erhob Gisela Klasen Klage vor dem SG Duisburg. Nach ihrem Tod am 13. September 1992 führte ihr Ehemann, der Bf., die Prozesse als ihr Rechtsnachfolger fort. Das SG beschloss, das Verfahren auszusetzen, um eine Entscheidung in einem Präzedenzfall abzuwarten, der von April 1992 bis Februar 1993 vor dem LSG und von März 1993 bis Dezember 1993 vor dem BSG anhängig war. Bis Oktober 1993 wurde das Verfahren deshalb förmlich ausgesetzt. Am 17. Mai 1994 wies das SG Duisburg die Klage ab, weil Gisela Klasen nicht gegen Arbeitsunfälle versichert gewesen sei. Die Reinigung sei allein aufgrund des Zusammenlebens mit ihrem Mann erfolgt, und nicht aufgrund eines Arbeitsverhältnisses. Am 25. Januar 1995 wies das LSG die Berufung des Bf. zurück. Am 19. März 1996 verwarf das BSG auch die Revision des Bf. Der Tod von Gisela Klasen sei nicht Folge eines Arbeitsunfalls gewesen, da das Reinigen der Arbeitskleidung ihres Mannes den Interessen des ehelichen Haushaltes, nicht hingegen denen des Arbeitgebers gedient habe. Am 20. Juni 1996 legte der Bf. Verfassungsbeschwerde ein. Er begründete diese unter anderem damit, dass ein Verstoß gegen das Gebot angemessener Verfahrensdauer im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliege. Im Dezember 1997 rief das BVerfG den Bundestag, den Bundesrat, die Bundesregierung, das BSG, den Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und die Parteien des erstinstanzlichen Verfahrens zur Stellungnahme auf. Die letzten Stellungnahmen gingen beim BVerfG am 17. September 1998 ein. Am 13. März 2001 lehnte eine Kammer des BVerfG, bestehend auch drei Richtern, die Annahme der Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Erfolgsaussichten ab. Insbesondere könne eine Verfassungsbeschwerde nicht auf Art. 6 Abs. 1 EMRK gestützt werden. Dem Bf. wurde diese Entscheidung am 28. März 2001 bekannt gegeben. Der Bf. legte am 28. September 2001 Individualbeschwerde beim EGMR wegen überlanger Verfahrensdauer ein. Am 27. Oktober 2004 beschloss der EGMR, über Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde gleichzeitig zu entscheiden. Am 21. April 2005 starb der Bf. Am 11. Mai 2005 teilte sein An-

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walt dem EGMR mit, dass die zweite Frau des Bf., Pauline Klasen, das Verfahren fortführen werde. 2. Urteil des EGMR vom 5. Oktober 2006 Zunächst befasst sich der EGMR mit dem Einwand der deutschen Regierung, Pauline Klasen sei nicht berechtigt gewesen, das Verfahren anstelle ihres verstorbenen Mannes fortzuführen und stellt unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung165 fest, dass die Frau des verstorbenen Bf. berechtigte Interessen an der Fortsetzung der Untersuchung des Verfahrens habe. Im Rahmen der Zulässigkeit der Beschwerde befasst sich der EGMR zunächst auf den Einwand der deutschen Regierung hin mit der Frage, ob vorliegend die innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft worden sind. Die Regierung hatte vorgetragen, die Verfassungsbeschwerde des Bf. sei deshalb nicht zur Entscheidung angenommen worden, weil der Bf. diese nicht substantiiert habe. Außerdem hätte der Bf. eine weitere Verfassungsbeschwerde während der Dauer der Verfahren vor den Instanzgerichten erheben können, welche dann unter Umständen zur Beschleunigung der Verfahren beigetragen hätte. Im Übrigen hätte der Bf. die Möglichkeit gehabt, eine Dienstaufsichtsbeschwerde zu erheben. Der EGMR betont, die einem Bf. zur Verfügung stehende Rechtsbehelfe müssten nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch wirksam sein.166 Hierzu stellt der EGMR fest, das BVerfG habe lediglich festgestellt, dass eine Verfassungsbeschwerde nicht auf die Verletzung der Konvention gestützt werden könne. Auf die Verfahrensdauer sei das Verfassungsgericht hingegen mit keinem Wort eingegangen. Der EGMR könne deshalb nicht spekulieren, warum das BVerfG die Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen habe.167 Abgesehen davon sei es unwahrscheinlich, dass das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde in einem früheren Stadium der Verfahren zur Entscheidung angenommen hätte, wo es selbst bei einer Verfahrensdauer von bereits über vier Jahren und neun Monaten die Annahme zur Entscheidung abgelehnt hatte. Außerdem habe der EGMR bereits entschieden, dass eine Verfassungsbeschwerde nicht geeignet sei, einen angemessenen Ausgleich für überlange Verfahrensdauer zu schaffen.168 Entsprechend gelangt der EGMR zu dem Ergebnis, dass die Beschwerde nicht offen165 X ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 18020/91, Urt. v. 31. März 1992, Ziff. 26; AnneMarie Andersson ./. Schweden, Beschwerde Nr. 20022/92, Urt. v. 27. August 1997, Ziff. 29; G. ./. Italien, Beschwerde Nr. 12787/87, Urt. v. 27. Februar 1992, Ziff. 2. 166 Dalia ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 26102/95, Urt. v. 19. Februar 1998, Ziff. 38; Horvat ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 51585/99, Urt. v. 26. Juli 2001 Ziff. 38; Scordino ./. Italien, Beschwerde Nr. 36813/97, Urt. v. 29. Juli 2004, Ziff. 142. 167 Keles ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 32231/02, Urt. v. 27. Oktober 2005, Ziff. 44; Stork ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38033/02, Urt. v. 13. Juli 2006, Ziff. 33. 168 Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006, Ziff. 109.

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sichtlich unbegründet im Sinne des Art. 35 Abs. 3 EMRK und damit zulässig sei. Der zu überprüfende Zeitraum begann nach den Feststellungen des EGMR am 5. September 1991 mit der Einlegung des vor Klageerhebung erforderlichen Widerspruchs169 durch die verstorbene – erste – Ehefrau des Bf. Der Zeitraum endete mit dem 28. März 2001, dem Datum der Zustellung der Entscheidung des BVerfG an den Bf. Das Verfahren dauerte somit insgesamt neun Jahre und sechs Monate. Der EGMR erinnert einmal mehr daran, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der einzelnen Umstände des Falles sowie anhand der in der Rechtsprechung des EGMR verankerten Kriterien zu überprüfen sei.170 Der EGMR stellt diesbezüglich fest, der Fall habe gewisse Schwierigkeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht aufgewiesen. Dies werde unter anderem daran deutlich, dass das BVerfG die Stellungnahmen mehrerer Behörden eingeholt hatte. Das Verhalten des Bf. habe dagegen nicht zu den Verzögerungen beigetragen. Im Hinblick auf das Verhalten der innerstaatlichen Behörden stellt der EGMR fest, dass es unter Effektivitätsgesichtspunkten angemessen sein könne, den Ausgang eines Parallelverfahrens abzuwarten. Allerdings müsse dies im Verhältnis zu den besonderen Umständen des Falles stehen.171 Vorliegend sei das Verfahren vor dem SG unter diesem Blickwinkel mit zwei Jahren und vier Monaten hinreichend zügig behandelt worden. Auch die Verfahren vor dem LSG und dem BSG seien in dieser Hinsicht nicht zu beanstanden. Indes sei das Verfahren rund vier Jahre und neun Monate beim BVerfG anhängig gewesen. In diesem Zusammenhang verweist der EGMR darauf, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK den Staaten die Verpflichtung auferlege, ihre Gerichtssysteme so zu organisieren, dass ihre Gerichte den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK, einschließlich der Verpflichtung, die Verfahren in angemessener Zeit zu behandeln, gerecht werden können. Obwohl diese Verpflichtung für ein Verfassungsgericht nicht in derselben Weise Geltung beanspruche wie für ein Instanzgericht, gelte sie für dieses gleichwohl. Seine Rolle als Hüter der Verfassung erfordere es in besonderem Maße, bisweilen andere Erwägungen anzustellen, als sich allein auf die chronologische Reihenfolge der eingehenden Fälle zu konzentrieren, nämlich beispielsweise die Bedeutung des Falles in politischer oder sozialer Hinsicht zu berücksichtigen.172 Der EGMR gesteht dabei zu, dass es einige Zeit in Anspruch genommen habe, die Beschwerde verschiedenen Be169 Janssen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 23959/94, Urt. v. 20. Dezember 2001, Ziff. 40; König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 98. 170 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 43. 171 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 110; Boddaert ./. Belgien, Beschwerde Nr. 12919/87, Urt. v. 12. Oktober 1992, Ziff. 39; Pafitis u. a. ./. Griechenland, Beschwerde Nr. 20323/92, Urt. v. 26. Februar 1998, Ziff. 97; Stork ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38033/02, Urt. v. 13. Juli 2006, Ziff. 44. 172 Wimmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 60534/00, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 30.

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hörden zur Stellungnahme vorzulegen. Indes stellt der EGMR auch fest, dass die Entscheidung des BVerfG dem Bf. erst am 28. März 2001 zugestellt wurde, obwohl die letzten behördlichen Stellungnahmen beim BVerfG bereits am 17. September 1998 eingegangen waren. Da während eines Zeitraumes von mehr als zweieinhalb Jahren keinerlei Aktivitäten unternommen worden seien, könne die Vorlage des Falles an andere Behörden die Verfahrensdauer nicht rechtfertigen. Auch die Wiedervereinigung könne die Untätigkeit des BVerfG während dieses Zeitraumes nicht rechtfertigen.173 Bezugnehmend auf eine von der deutschen Regierung vorgelegten Liste der wichtigsten vom Ersten Senat des BVerfG in diesem Zeitraum erlassenen Entscheidungen stellt der EGMR fest, dass nur fünf der 33 aufgelisteten Entscheidungen mit der Wiedervereinigung zusammenhingen. Die maßgebliche Verzögerung von zweieinhalb Jahren ist nach den Feststellungen des EGMR daher dem BVerfG zuzuschreiben. Im Lichte dessen gelangt der EGMR zu dem Ergebnis, die Dauer der Verfahren vor dem BVerfG habe den Anspruch auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist überschritten und bejaht daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. VII. Herbst gegen Deutschland 1. Sachverhalt Der 1944 geborene Bf. lebt in Neckargemünd und studierte von 1972 bis 1979 Rechtswissenschaften an der Universität Heidelberg. Von April bis Mai 1979 fertigte er eine Hausarbeit im öffentlichen Baurecht, die einen Teil des Ersten Staatsexamens bildete, welches der Bf. in Niedersachsen ablegte. Im November 1979 verfasste der Bf. drei weitere Hausarbeiten. Am 6. Dezember 1979 teilte das Landesjustizprüfungsamt Niedersachsen dem Bf. mit, seine Hausarbeit im öffentlichen Baurecht sei mit der Note „mangelhaft“ (1 Punkt) beurteilt worden. Am 31. Januar 1980 teilte dieselbe Behörde dem Bf. mit, dass seine weitere im öffentlichen Recht gefertigte Arbeit mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) bewertet worden sei. Diese schlechten Bewertungen, die zum Nichtbestehen des Ersten Staatsexamens zu führen drohten, riefen schwere Depressionen beim Bf. hervor, die ihn davon abhielten, an den weiteren Examensprüfungen teilzunehmen. Am 25. April 1980 erhob der Bf. Klage beim VG Hannover mit dem Ziel einer Neubewertung der beiden Hausarbeiten. Am 30. November 1982 strengte der Bf. parallel eine Amtshaftungsklage vor dem LG Hannover gegen das Land Niedersachsen an. Am 5. Januar 1983 beschloss das LG im Einverständnis der Parteien, das Verfahren auszusetzen, um den Aus173 Hesse-Anger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45835/99, Urt. v. 6. Februar 2003, Ziff. 32.

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gang des Verwaltungsgerichtsverfahrens abzuwarten. Am 27. Februar 1986 wies das VG Hannover die verwaltungsgerichtliche Klage als unzulässig ab. Die Berufung des Bf. zum OVG Lüneburg blieb erfolglos. Am 9. Februar 1987 wies das BVerwG Nichtzulassungsbeschwerde des Bf. zurück. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde des Bf. zur Entscheidung lehnte das BVerfG am 2. März 1988 ab. Am 20. Dezember 1988 teilte der Bf. dem LG Hannover mit, dass er gegen die Entscheidung des BVerfG, seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, Individualbeschwerde bei der KOM erhoben habe und beantragte die weitere Aussetzung des Verfahrens vor dem LG. Am 21. Dezember 1988 lehnte das LG die weitere Aussetzung des Verfahrens ab. Am 8. März 1989 wies das OLG Celle die Beschwerde des Bf. hiergegen zurück. Am 17. März 1989 beantragte der Bf. nochmals die Aussetzung des Verfahrens. Mit Schreiben vom 7. Februar 1990 beantragte der Bf. beim LG, das Verfahren wieder aufzunehmen. Bezugnehmend auf Sachverständigengutachten von 15 Rechtslehrern trug er vor, die Bewertung seiner beiden Hausarbeiten sei nicht korrekt gewesen. Da die miserablen Bewertungen bei ihm psychische Erkrankung hervorgerufen und ihn zudem von der Beendigung seines Studiums sowie der Aufnahme einer Universitätslaufbahn abgehalten hätten, forderte er 463.300,00 DM Schadensersatz wegen entgangenen Gewinns, eine monatliche Rente sowie weitere Entschädigung für Schäden immaterieller Art. Am 8. Juni 1990 lehnte das LG den Antrag des Bf. auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ab. Am 19. März 1991 wies das OLG Celle die Beschwerde hiergegen zurück. Am 16. Juli 1991 hob das BVerfG auf die Verfassungsbeschwerde des Bf. hin diese Entscheidung auf und verwies die Sache an das OLG zurück. Am 25. Mai 1992 gewährte das OLG Celle dem Bf. teilweise Prozesskostenhilfe und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Am 10. September 1992 erhob der Bf. gegen die Entscheidung des OLG Celle Verfassungsbeschwerde. Am 2. Mai 1994 forderte der Bf. das LG Hannover auf, das Verfahren wieder aufzunehmen. Außerdem teilte er dem Gericht mit, seine Prozessbevollmächtigte habe ihr Mandat niedergelegt. Am 17. Januar 1995 wählte das LG im Wege der Prozesskostenhilfe einen neuen Prozessbevollmächtigten für den Bf. aus. Am 27. Januar 1995 beraumte das LG einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 18. Mai 1995 an, der dann zweimal verschoben wurde – einmal, um dem Bf. weiteren schriftlichen Sachvortrag einzuräumen, und einmal, weil der Bf. den Vorsitzenden Richter als befangen abgelehnt hatte. Am 8. Februar 1995 lehnte das BVerfG die Annahme einer weiteren Verfassungsbeschwerde des Bf. zur Entscheidung ab. Durch Urteil vom 11. April 1996 wies das LG Hannover die Klage des Bf. ab. Am 10. Juli 1996 legte der Bf. gegen dieses Urteil Berufung ein. Am 22. Juli 1997 gab das OLG Celle ein Sachverständigengutachten zu der Frage in Auftrag, ob die Bewertung der beiden Hausarbeiten die Erkrankung des Bf. verursacht und ihn von der Ableistung der

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mündlichen Examensprüfung abgehalten haben konnte. Am 15. Juni 1998 erstattete der Sachverständige sein schriftliches Gutachten. Hierzu gab der Bf. am 6. Oktober 1998 umfangreiche schriftliche Erklärungen ab und beantragte die mündliche Anhörung des Sachverständigen durch das Gericht. Am 10. Dezember 1999 beraumte das OLG einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 28. Juni 2000 an. Am 23. Februar 2000 appellierte das Gericht an den Sachverständigen, auf die Stellungnahmen der Parteien zu seinem Gutachten schriftlich einzugehen. Dem kam der Sachverständige am 23. Mai 2000 nach. Am 20. Juni 2000 stellte der Bf. einen Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen, der am 28. Juni 2000 abgelehnt wurde. Durch Teilurteil vom 29. August 2000 wies das OLG die Klage des Bf. insoweit zurück, als diese Schadensersatzansprüche für die Zeit ab dem 31. Mai 1980 betraf. Am 29. September 2000 erhob der Bf. Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH, der am 20. September 2001 entschied, die Revision nicht zuzulassen. Am 19. November 2001 lehnte das BVerfG die Annahme einer weiteren Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ab. Das OLG Celle hatte bereits am 18. September 2001 sein Schlussurteil in dieser Sache gefällt und entschieden, dass die beiden Hausarbeiten in der Tat zu schlecht bewertet worden seien. Wären die Bewertungen richtig erfolgt, hätte der Bf. sein Examen bestanden und später eine Arbeitsstelle als Anwalt gefunden. Deshalb sprach das Gericht dem Bf. Schadensersatz wegen entgangenen Verdienstes für den Monat Mai 1980 in Höhe von 1.500,00 DM und weitere 10.000,00 DM für erlittenen immateriellen Schaden zu. 2. Urteil des EGMR von 11. Januar 2007 Der EGMR befasst sich im vorliegenden Fall ausnahmsweise noch einmal mit der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das vorstehende Verfahren und stellt im Hinblick auf die verwaltungsgerichtlichen Verfahren fest, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei auf Verfahren, die im Wesentlichen die Bewertung im Rahmen von Ausbildungs- und Prüfungssituationen an Schulen oder Universitäten betreffen, nicht anwendbar.174 Dasselbe gelte für juristische Staatsexamen, die größtenteils behördlicher Einschätzungsprärogative unterlägen.175 Der Gerichtshof bemerkt hierzu, dass die verwaltungsgerichtlichen Verfahren hauptsächlich die Bewertung der Hausarbeiten des Bf. zum Gegenstand hatten. Aus diesem Grund gelangt der EGMR zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf diese Verfah174 Van Marle u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 8543/79, 8674/79, 8675/79, 8685/79, Urt. v. 26. Juni 1986, Ziff. 36; San Juan ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 43956/98, Entsch. v. 28. Februar 2002; Nowicky./. Österreich, Beschwerde Nr. 34983/ 02, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 34. 175 Ferrazzini ./. Italien, Beschwerde Nr. 44759/98, Urt. v. 12. Juli 2001, Ziff. 29.

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ren nicht anwendbar und demzufolge die Beschwerde in dieser Hinsicht unzulässig sei. In Bezug auf die zivilgerichtlichen Verfahren stellt der EGMR fest, diese besäßen auch dann „civil character“, wenn der ihnen zugrundeliegende Sachverhalt öffentliches Recht beträfe.176 Dementsprechend bejaht der EGMR die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die zivilgerichtlichen Verfahren. Der zu überprüfende Zeitraum begann nach den Feststellungen des Gerichtshofs am 30. November 1982 mit der Klageerhebung beim LG Hannover und endete am 18. September 2001 mit dem Schlussurteil des OLG Celle. Insgesamt dauerte das Verfahren mithin über 18 Jahre und 9 Monate und erstreckte sich dabei über vier Instanzen. Im nächsten Schritt befasst sich der Gerichtshof mit dem Einwand der Regierung, der Bf. habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht ausgeschöpft, wie es Art. 35 Abs. 1 EMRK erfordert. Die Regierung hatte eingewandt, der Bf. hätte insbesondere Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer erheben müssen. Die Verfassungsbeschwerde stelle einen effektiven Rechtsbehelf dar, weil das BVerfG auf die Dauer laufender Verfahren Einfluss nehmen könne. Außerdem würden die Entscheidungen des BVerfG von allen Gerichten akzeptiert. Darüber hinaus würden die Entscheidungen des BVerfG oft veröffentlicht und in den juristischen Fachzeitschriften diskutiert, was insbesondere präventive Wirkung entfalte. Im Übrigen habe der EGMR selbst schon öfters befunden, die Feststellung der Konventionsverletzung reiche aus, um die Nicht-Vermögensschäden eines Bf. zu begleichen.177 Dasselbe Prinzip müsse auch für die innerstaatlichen Verfahren gelten. Die Feststellung einer Verletzung des Grundgesetzes stelle daher ausreichende Wiedergutmachung dar. Im Übrigen könne Ersatz im Wege der Amtshaftungsklage erlangt werden.178 Der Gerichtshof stellt vorab fest, ein innerstaatlicher Rechtsbehelf genüge den Anforderungen der Konvention nur, wenn er nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch effektiv ist.179 Was die Effektivität einer Verfassungsbeschwerde anbelangt, verweist der EGMR im Folgenden auf sein jüngst ergangenes Urteil im Fall Sürmeli.180 Er stellt hierzu fest, dass die Regierung keine Argumente 176 Georgiadis ./. Griechenland, Beschwerde Nr. 21522/93, Urt. v. 29. Mai 1997, Ziff. 35; Werner ./. Österreich, Beschwerde Nr. 21835/93, Urt. v. 24. November 1997, Ziff. 38. 177 Etwa in den Fällen Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000, Ziff. 51; Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003; Uhl ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 64387/01, Urt. v. 10. Februar 2005, Ziff. 39; Wimmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 60534/00, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 40. 178 Diesbezüglich verwies die Regierung auf ein Urteil des LG München vom 12. Januar 2005, Az. 9 O 17286/03. 179 Dalia ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 26102/95, Urt. v. 19. Februar 1998, Ziff. 38; Horvat ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 51585/99, Urt. v. 26. Juli 2001, Ziff. 38; Scordino ./. Italien, Beschwerde Nr. 36813/97, Urt. v. 29. Juli 2004, Ziff. 142.

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vorbringen konnte, die ihn von seiner dort gefestigten Rechtsauffassung wieder abbringen könne. Es bleibe allein die Frage offen, ob innerstaatlich ein wirksamer Rechtsbehelf im Rahmen der Instanzverfahren zur Verfügung stand, der entweder einer Verletzung des Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer vorzubeugen im Stande war oder angemessene Entschädigung für eine erlittene Verletzung gewähren konnte.181 Die Verfassungsbeschwerde sei aber weder geeignet, vorbeugende Abhilfe zu schaffen, noch nachträglich Wiedergutmachung zu leisten. In Einzelfällen könne zwar allein die Feststellung einer Verletzung durch das Verfassungsgericht genügen, um immateriellen Schaden wiedergutzumachen, wenn das Gericht eine Begründung dafür liefere, weshalb die alleinige Feststellung ausreichend sei. Das BVerfG hingegen könne generell nicht zum Schadensersatz verurteilen, weshalb die Verfassungsbeschwerde nicht als wirksamer Rechtsbehelf gegen übermäßige Verfahrensverzögerungen angesehen werden könne. Die Regierung habe darüber hinaus auch keine neuen, schlagkräftigen Argumente vorgebracht, welche den Gerichtshof vom Gegenteil überzeugen könnten. Aus diesem Grund ist der Bf. nach Auffassung des EGMR so zu behandeln, als habe er die innerstaatlichen Rechtsbehelfe vollständig erschöpft. Die Beschwerde des Bf. sei aus diesem Grunde für zulässig zu erklären. Der EGMR wendet sich schließlich der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu, welche nach den Umständen des einzelnen Falles unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerten Kriterien zu beurteilen sei.182 Der Gerichtshof stuft den Fall als einigermaßen komplex ein, was unter anderem an dem Erfordernis zahlreicher Sachverständigengutachten augenfällig werde. Das Verhalten des Bf. habe nicht zu den Verzögerungen beigetragen: Zwar habe er in der Tat das Ruhen des Verfahrens beantragt; dies sei ihm aber nicht zur Last zu legen, da das Ruhen im Einvernehmen aller Prozessbeteiligten angeordnet worden sei. Bezüglich des Verhaltens der befassten Gerichte stellt der EGMR zunächst fest, dass es unter Umständen angebracht sei, dass ein innerstaatliches Gericht den Ausgang eines anderen Verfahrens abwartet. Diese Entscheidung müsse indes den Umständen des Falles entsprechen.183 Vorliegend seien aufgrund der Aussetzung des Verfahrens mehrere Jahre verstrichen, bis es zu einer Entscheidung gekommen sei. Auch wenn der Bf. selbst die Aussetzung beantragt habe, 180 Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006, Ziff. 105–108. 181 Kudla ./. Polen, Beschwerde Nr. 30210/96, Urt. v. 26. Oktober 2000, Ziff. 158; Lukenda ./. Slowenien, Beschwerde Nr. 23032/02, Urt. v. 6. Oktober 2005, Ziff. 67. 182 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 43. 183 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 110; Boddaert ./. Belgien, Beschwerde Nr. 12919/87, Urt. v. 12. Oktober 1992, Ziff. 39; Pafitis u. a. ./. Griechenland, Beschwerde Nr. 20323/92, Urt. v. 26. Februar 1998, Ziff. 97; Stork ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38033/02, Urt. v. 13. Juli 2006, Ziff. 44.

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welcher das Gericht entsprechend der Parteimaxime nachgekommen sei, entbinde dieses Prinzip der Parteimaxime die Gerichte nicht von ihrer Verpflichtung, den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht zu werden.184 Insbesondere habe das LG das Verfahren zwischen dem 21. Dezember 1988 und Juni 1990 nicht vorangetrieben, obschon es am 21. Dezember 1988 die weitere Aussetzung des Verfahrens abgelehnt habe. Darüber hinaus hätten die Gerichte die Anhörung des Sachverständigen bis Juli 1997 nicht angeordnet, obwohl seit der Aussetzung des Verfahrens bereits sieben Jahre verstrichen seien. Was das vierte Kriterium – die Bedeutung der Sache für den Bf. – anbelangt, so stellt der Gerichtshof fest, dass es um Schadensersatzforderungen wegen entgangenen Arbeitseinkommens gegangen sei. Zudem sei die Karriere des Bf. durch die schlechte Beurteilung der beiden Hausarbeiten verhindert worden. Obwohl das Verfahren betreffend die Beurteilung der Examensleistung nicht Gegenstand dieses Verfahrens sei, verdeutliche es doch, welche Bedeutung dem Ausgang des Rechtsstreits für den Bf. zukam. Zwar sei die Angelegenheit nicht den Fallgruppen zuzuordnen, bei denen besondere Eile geboten ist, wie bei familienrechtlichen Angelegenheiten185 oder Arbeitsgerichtsverfahren186. Der Bf. habe gleichwohl ein dringendes Interesse an der raschen Beendigung der Zivilgerichtsverfahren gehabt. In Anbetracht dieser Umstände gelangt der EGMR daher einstimmig zu dem Ergebnis, das Verfahren habe die angemessene Frist im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK überschritten; folglich sei Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden. VIII. Kirsten gegen Deutschland 1. Sachverhalt Die 1944 geborene Bf. arbeitete von 1960 bis 1979 als Balletttänzerin für das Erich-Weinert-Ensemble (EWE), eine staatliche Gesellschaft der DDR. 1979 beendete sie ihre Kariere auf der Bühne und arbeitete fortan für dieselbe Gesellschaft als Bühnen- und Kostümdesignerin. Das EWE bezahlte der Bf. ihr Gehalt als Bühnen- und Kostümdesignerin und zusätzlich eine monatliche Zuwendung in Höhe von 588 DDR-Mark. Die Zuwendung wurde auf der Grundlage der Anordnung über die Gewährung einer berufsbezogenen Zuwendung an Ballettmitglieder in staatlichen Einrichtungen der DDR vom 1. September 1976 gewährt. Entsprechend dieser Regelung erhielten ehemalige Ballettmitglieder am Ende ihrer Bühnenkarriere eine Zuwendung. Der Anspruch auf die Zuwendung 184 Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006, Ziff. 105–108. 185 Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003, Ziff. 33. 186 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 45.

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entstand mit dem Erreichen des 35. Lebensjahrs und einer Tätigkeit als Tänzer über einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren. Sobald der Tänzer das Rentenalter erreichte oder Berufsunfähigkeitsrente bezog, wurde die Zahlungsverpflichtung von der Staatlichen Versicherung der DDR übernommen. Nach der Wiedervereinigung wurde die vormals der Nationalen Volksarmee zugehörige EWE organisatorisch dem Verteidigungsministerium zugeordnet, welches sämtliche Verträge übernahm und sowohl das Gehalt als auch die Zuwendung der Bf. weiterbezahlte. Am 1. Januar 1992 stellte das Ministerium auf der Grundlage des Einigungsvertrages sämtliche Zuwendungszahlungen an ehemalige Balletttänzer ein. Daraufhin erhob die Bf. im Dezember 1992 Klage zum SG Berlin. Am 24. August 1994 erging eine Leitentscheidung des BSG, derzufolge die Sozialgerichte für Streitigkeiten in Bezug auf diese Zuwendung nicht zuständig seien. Zuständig seien vielmehr die Arbeitsgerichte, da die Bezahlung der Zuwendung eng mit dem Anstellungsvertrag verknüpft sei. Daher verwies das SG Berlin den Rechtsstreit am 13. Januar 1995 an das ArbG Frankfurt/Oder. Am 15. Mai 1996 verurteilte das ArbG Frankfurt/Oder das Verteidigungsministerium zur Zahlung von 28.224 DM sowie zur Bezahlung der monatlichen Zuwendung seit dem 1. Januar 1996. Das Gericht berief sich dabei vor allem auf Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes. Am 13. Mai 1998 hob das LAG Brandenburg diese Entscheidung auf und wies die Klage der Bf. ab. Bezugnehmend auf eine Leitentscheidung des BAG zu derartigen Zuwendungen urteilte es, die Bf. habe nicht substantiiert dargelegt, dass die Zahlungsverpflichtung aus der Zuwendung auf die Bundesrepublik übergegangen sei. Hiergegen legte die Bf. Revision ein. Am 8. November 1998 erhob sie eine etwa 50 Seiten umfassende Verfassungsbeschwerde. Sie machte unter anderem geltend, die Länge des Verfahrens, welches zu diesem Zeitpunkt noch beim BAG anhängig war, verletze Art. 6 EMRK. Am 26. Januar 1999 wies das BAG die Revision der Bf. zurück. Im März 1999 legte die Bf. dem BVerfG weitere 50 Seiten schriftlicher Ausführungen vor. Am 2. Juli 2002 erging eine Leitentscheidung des BVerfG betreffend die fraglichen Zuwendungsansprüche von Balletttänzern. Das BVerfG urteilte, in der DDR erworbene Pensionsansprüche unterfielen dem Schutzbereich des Art. 14 GG, vorausgesetzt, der Einigungsvertrag anerkenne ihre Geltung innerhalb des vereinigten deutschen Rechtssystems. Da dies bei der fraglichen Zuwendung nicht der Fall sei – unter Vertrauensschutzgesichtspunkten gelte nicht anderes – sei eine Verletzung von Art. 14 GG zu verneinen. Am 4. Juli 2002 entschied das BVerfG, die Verfassungsbeschwerde der Bf. im Hinblick auf diese Leitentscheidung nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Bf. hatte bereits am 1. Mai 2002 Individualbeschwerde erhoben und die Verletzung des Anspruchs auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist geltend gemacht.

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2. Urteil des EGMR vom 15. Februar 2007 Der EGMR befasst sich zunächst mit der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf das vorliegende Verfahren und erinnert daran, dass der Begriff der „civil rights and obligations“ zwar autonom auszulegen sei; gleichwohl sei das Recht des betroffenen Staates nicht völlig unbedeutend.187 Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die streitgegenständlichen Ansprüche dem BSG zufolge dem Arbeitsrecht unterfielen. Außerdem sei die Bf. nicht mit Hoheitsakten der Verwaltungsbehörden in Berührung gekommen; vielmehr habe sie einen individuellen, pekuniären Anspruch geltend gemacht. Trotz einiger Bezüge zum öffentlichen Recht kann der EGMR daher kein überzeugendes Argument erkennen, welches die Klassifizierung des zugrundeliegenden Anspruchs als „civil right“ in Frage stellen könnte.188 Art. 6 Abs. 1 EMRK sei mithin anwendbar. Im nächsten Schritt befasst sich der Gerichtshof mit dem Einwand der Regierung, die Bf. habe die innerstaatlich zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe nicht ordnungsgemäß ausgeschöpft, da sie ihre Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des behaupteten Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot nicht hinreichend substantiiert habe. Im Hinblick auf die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs der Verfassungsbeschwerde wiederholte die Regierung ihre bereits im Fall Sürmeli189 vorgebrachten Argumente. Im Übrigen hätten der Bf. sowohl die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgericht des Landes Brandenburg als auch die Beschwerde zum LAG Brandenburg zur Verfügung gestanden. Der EGMR wiederholt zunächst, dass ein im Sinne des Art. 35 EMRK wirksamer Rechtsbehelf nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch wirksam sein müsse.190 Wenn die Regierung die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe geltend mache, müsse sie den Gerichtshof auch davon überzeugen, dass der fragliche Rechtsbehelf wirksam sei, der Beschwer des Bf. abhelfen könne und zudem hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. In Bezug auf die Verfassungsbeschwerde ist der Gerichtshof der Überzeugung, dass dieser Rechtsbehelf nicht in der Lage sei, Wiedergutmachung im Falle überlanger Dauer eines Zivilverfahrens zu leisten.191 Die Landesverfassungsbeschwerde genügt diesen Anforderungen nach Auffassung des EGMR ebenfalls nicht, da die Regierung nicht überzeugend dargelegt hätte, inwiefern das Landesverfassungsgericht entweder beschleunigend auf das Verfahren einwirken oder aber Wiedergutma187 Perez ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 47287/99, Urt. v. 12. Februar 2004, Ziff. 57; Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 62. 188 Mennitto ./. Italien, Beschwerde Nr. 33804/96, Urt. v. 5. Oktober 2000, Ziff. 28. 189 Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006, Ziff. 80– 91. 190 Dalia ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 26102/95, Urt. v. 19. Februar 1998, Ziff. 38; Horvat ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 51585/99, Urt. v. 26. Juli 2001, Ziff. 38; Scordino ./. Italien, Beschwerde Nr. 36813/97, Urt. v. 29. Juli 2004, Ziff. 142. 191 Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006, Ziff. 108.

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chung zusprechen könne. Aus diesem Grund gelangt der EGMR zu der Überzeugung, dass der Bf. kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe und deshalb der Einwand der Regierung im Hinblick auf Art. 35 Abs. 1 EMRK zurückzuweisen sei. Sodann stellt der EGMR fest, dass die maßgebende Frist im Dezember 1992 mit der Klageerhebung der Bf. beim SG Berlin begonnen und am 3. August 2002 mit der Zustellung der Entscheidung des BVerfG an die Bf. geendet habe. Insgesamt habe sich das Verfahren damit über neun Jahre und acht Monate in vier verschiedenen Instanzen erstreckt.192 Im Folgenden erklärt der EGMR zum wiederholten Mal, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der einzelnen Umstände und anhand der bekannten Kriterien zu beurteilen sei.193 Entsprechend dieser Vorgaben stuft er den vorliegenden Fall als rechtlich schwierig ein. In Bezug auf das Verhalten der Bf. stellt der Gerichtshof fest, deren Prozessbevollmächtigter habe teilweise wirren Sachvortrag geleistet, der die Gerichte unnötigerweise davon abgehalten habe, sich auf die wesentlichen Rechtsfragen zu konzentrieren.194 In Anbetracht der Gesamtlänge des Verfahrens sie hier die Verantwortlichkeit der Bf. für die Verzögerungen als gering einzustufen. Was das Verhalten der zuständigen Gerichte anbelangt, hebt der Gerichtshof hervor, es könne unter Umständen angebracht sein, den Ausgang eines Parallelverfahrens abzuwarten. Dies müsse jeweils im Einzelfall abgewogen werden.195 Vorliegend ist der EGMR der Auffassung, die Verfahrensdauer von etwa zwei Jahren vor dem SG Berlin könne im Hinblick auf prozessökonomische Erwägungen des Gerichts als gerechtfertigt angesehen werden. Was die Dauer von etwa zwei Jahren und zwei Monaten vor dem ArbG Frankfurt/Oder anbelangt, sieht der Gerichtshof diese nicht als gerechtfertigt an, da die Entscheidung des Arbeitsgerichts erst sieben Monate nach Erlass der Leitentscheidung des BAG zugestellt worden sei. In Bezug auf das Verfahren vor dem BVerfG wiederholt der EGMR, Art. 6 Abs. 1 EMRK verpflichte die Vertragsstaaten dazu, ihre Gerichtssysteme so zu organisieren, dass ihre Gerichte den Anforderungen der Konvention gerecht werden können. Die Garantie des Anspruchs auf Entschei192 Der EGMR macht regelmäßig keinen Unterschied zwischen dem BVerfG und den Instanzgerichten und zählt dieses ebenfalls zu den „Instanzen“. 193 Frydlender ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 30979/96, Urt. v. 27. Juni 2000, Ziff. 43. 194 Stork ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38033/02, Urt. v. 13. Juli 2006, Ziff. 43; Smirnova ./. Russland, Beschwerden Nr. 46133/99 und 48183/99, Urt. v. 24. Juli 2003, Ziff. 86. 195 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 110; Boddaert ./. Belgien, Beschwerde Nr. 12919/87, Urt. v. 12. Oktober 1992, Ziff. 39; Pafitis u. a. ./. Griechenland, Beschwerde Nr. 20323/92, Urt. v. 26. Februar 1998, Ziff. 97; Stork ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38033/02, Urt. v. 13. Juli 2006, Ziff. 44.

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dung in angemessener Frist gelte grundsätzlich auch für ein Verfassungsgericht, wenn auch die Rolle eines Verfassungsgerichts als Hüter der Verfassung berücksichtigt werden müsse. Diese Rolle erfordere es manchmal, bei der Fallbearbeitung andere Maßstäbe anzusetzen als diese chronologisch abzuarbeiten; so könne etwa die Natur der Sache oder die politische und soziale Bedeutung der Angelegenheit zu berücksichtigen sein.196 Gleichwohl kann der EGMR keinen Grund dafür erkennen, warum es notwendig gewesen sein soll, abzuwarten, bis die letzte Verfassungsbeschwerde betreffend die streitgegenständlichen Zuwendungen erhoben worden war. Darüber hinaus habe der EGMR bereits zuvor geurteilt, eine Verfahrensdauer von drei Jahren und neun Monaten197 sowie eine Verfahrensdauer von vier Jahren und acht Monaten198 vor dem BVerfG könne angemessen sein, insbesondere wenn sie im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung stehe. Das vorliegende Verfahren sei aber bereits fast sechs Jahre anhängig gewesen, bevor der Fall dem BVerfG unterbreitet wurde, wohingegen die zuvor erwähnten Fälle nicht mehr als ein Jahr anhängig waren, als die Untergerichte beschlossen, gleichgelagerte Fälle im Hinblick auf einen bereits beim BVerfG anhängigen Präzedenzfall zusammenzufassen. In Anbetracht dessen hätte das BVerfG nach Auffassung des Gerichtshofs mit besonderer Eile vorgehen müssen. Diese Verzögerung ist dem Gerichtshof zufolge unangemessen und nicht mit prozessökonomischen Erwägungen zu rechtfertigen. Im Übrigen könne diese Verzögerung auch nicht allein mit außergewöhnlichen Umständen, bedingt durch die deutsche Wiedervereinigung, gerechtfertigt werden.199 Der von der Regierung vorgelegten Liste zufolge betrafen nämlich nicht mehr als zehn der 50 Hauptentscheidungen der 1. Kammer des BVerfG zwischen März 1999 und Juli 2002 Fragen der Wiedervereinigung. Aus diesem Grund ist die ungewöhnliche Überlänge des Verfahrens nach Auffassung des Gerichtshofs dem BVerfG anzulasten. Schließlich stellt der EGMR fest, die gegenständliche Zuwendung hätte einen Teil der Rente der Bf. abdecken sollen, weshalb diese von entscheidender Bedeutung für die Bf. gewesen sei. In Anbetracht all dieser Umstände gelangt der EGMR einstimmig zu dem Schluss, dass die Gesamtverfahrensdauer – insbesondere die Dauer des Verfahrens vor dem LAG und dem BVerfG – übermäßig gewesen sei, weshalb eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bejahen sei. Zuletzt bejaht der EGMR zudem eine Verletzung von Art. 13 EMRK, da der Bf. kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe, mit welchem sie die überlange Dauer der Verfahren hätte rügen können. Insbesondere im 196 Wimmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 60534/00, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 30. 197 Schwengel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 52442/99, Entsch. v. 2. März 2000. 198 Goretzki ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 52447/99, Entsch. v. 24. Januar 2002. 199 Hesse-Anger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45835/99, Urt. v. 6. Februar 2003, Ziff. 32.

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1. Teil: Rechtsprechungsübersicht

Hinblick darauf, dass der Gerichtshof in Straßburg unter anderem deshalb hoffnungslos überlastet sei, weil die Bürger aus Mangel an innerstaatlich vorhandenen Rechtsbehelfen gezwungen seien, Individualbeschwerde in Straßburg zu erheben, könne dies nicht akzeptiert werden. Die Regierung habe zudem keine schlüssige Erklärung dazu abgegeben, dass der Bf. Schadensersatz für die Verzögerungen vor dem BVerfG hätte gewährt werden können. Eine Verletzung von Art. 13 EMRK sei daher ebenfalls zu bejahen.

Zweiter Teil

Betrachtungen zur Verfahrensdauer Kapitel 1

Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht – „Bis dat, qui cito dat!“ I. Verfahrensdauer im historischen Kontext Das Zeitmoment im Recht spielt nicht erst heutzutage eine herausragende Rolle – Klagen über Verzögerungen im Recht sind jahrhundertealt.1 Bereits unter germanischer Herrschaft bildete die Rechtsverweigerung einen Fall der Friedlosigkeit2; der Abschluss eines sogenannten „Streitgedinges“ 3 war erzwingbar durch den Betroffenen.4 Auch im Zeitalter der Franken existierte ein vergleichsweise geordneter Rechtsgang, der im Falle der Rechtsverweigerung oder -verzögerung durch die Volksgerichte die Anrufung des Königsgerichts vorsah.5 Das gemeine Recht war geprägt von der Wendung der „justitia denegata vel protracta“, einer Formulierung, derer sich sowohl der König als auch das einfache Volk bedienten, um Klagen über den Justizbetrieb Ausdruck zu verleihen.6 Seit jeher entspricht es allgemeinem Rechtsverständnis, dass nur rechtzeitig gewährtes Recht wirksames Recht ist.7 Man denke etwa an die Mahnung des französischen Schriftstellers und Philosophen Charles de Montesquieu, der gerade in der Verzögerung des Rechtsschutzes eine erhebliche Gefahr für die Gerechtigkeit sah: „L’injustice n’est pas dans les formes mais dans les délais.“ 8 Auch Johann Wolfgang von Goethe sah sich angesichts der Situation am 1

Vollkommer, Dauer der Zivilprozesse, S. 102 (121). „Friedlosigkeit“ bedeutet Reaktion der Gesamtheit gegen ein Verbrechen, vgl. Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 40. 3 Vertragsartige Vereinbarung zwischen den Parteien, ihre Streitigkeit einem Gericht zu unterbreiten. Das Gericht wiederum konnte nur tätig werden, wenn eine solche Unterwerfung unter ein Streitgedinge vorlag – insofern besteht Ähnlichkeit zur heute im Zivilprozess vorherrschenden Parteimaxime. 4 Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 40. 5 Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 90, 78. 6 Zeidler, Rechtsstaat ’83, S. 34. 7 Zeidler, Rechtsstaat ’83, S. 34. 8 Zitiert bei Otto, Der Anspruch auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit, S. 38, Fn. 18. 2

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Reichskammergericht in Wetzlar, wo er 1772 praktizierte, zu folgender Bemerkung veranlasst, welche die dortige Verfahrenssituation bildlich beschreibt: „. . . ein ungeheurer Wust von Akten lag aufgeschwollen und wuchs jährlich, da die siebzehn Assessoren nicht einmal imstande waren, das Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtausend Prozesse hatten sich aufgehäuft, jährlich konnten sechzig abgetan werden, und das Doppelte kam hinzu. Auch auf die Visitatoren wartete keine geringe Anzahl von Revisionen, man wollte ihrer funfzigtausend zählen. Überdies hinderte so mancher Missbrauch den Gerichtsgang; . . .“ 9

Auch aus anderen Epochen sind Fälle bekannt wie etwa der eines Bauern, der sich beim Oberlandesgerichtspräsidenten über die lange Prozessdauer beschwerte und meinte, sein Fall „sei ja eine schwierige Sache, aber, dass die Herren zur Entscheidung der Sache drei Jahre lang nachdenken müssen“, das könne er doch nicht glauben.10 Zwar gab es mitunter auch Warnungen vor übereilten Judikaten11 und Mahnungen, die Gerechtigkeit dürfe – das Schlagwort der langsam aber nichtsdestotrotz mahlenden Mühlen der Justiz – der Schnelle nicht zum Opfer gebracht werden.12 In aller Regel besteht das Problem freilich nicht darin, den „ungestümen Tätigkeitsdrang der Richter zu zügeln“.13 Im Gegensatz zum französischen Code de procédure14 hatte der „träge und nachlässige Richter nach Erschöpfung der überall leicht aufzufindenden Entschuldigungsgründe höchstens eine Ermahnung oder einen Verweis zu besorgen“.15 Beschleunigung ist daher seit Jahrhunderten „die Lebensfrage der Justiz“ 16, denn: „Bis dat, qui cito dat! Ohne schnelle Justiz kein Credit, ohne Credit kein Verkehr, ohne Verkehr kein Wohlstand.“17

9 Goethe, Dichtung und Wahrheit (hrsg. v. Klaus-Detlef Müller), 1. Auflage, Frankfurt a. M. und Leipzig 1998, 3. Teil 12. Buch, S. 477. 10 So der Berichterstatter Oberlandesgerichtspräsident Hamm (Köln) auf dem 26. Deutschen Juristentag im Jahr 1903 über einen tatsächlich so gelagerten Fall, in: Schriftführeramt, Verhandlungen des 26. DJT, III, S. 502. 11 „Die Gerichtshöfe sollen keine Rennbahnen sein, wo der Richter einziges Bestreben dahin geht, diese mit den Parteien so schnell als möglich zu durchlaufen. Die Gerechtigkeit soll nicht auf Kurierpferden durchreiten und nur den an ihr teilhaben lassen, der die flüchtige Gottheit zufällig bei den Flügeln fasst.“ (Griesinger, Über die Justizorganisation der neuern Zeit, S. 39). 12 Gensler, Anleitung zur gerichtlichen Praxis, S. VIII, N. 7. 13 Schlette, Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, S. 13. 14 Im gemeinen deutschen Prozess wurde die Pflichtmäßigkeit der Richter stillschweigend vorausgesetzt. Pflichtwidrigkeiten konnten allenfalls im nachhinein, wenn „das Übel schon geschehen ist“ (v. Holzschuher, Der Rechtsweg, S. 193), gerügt werden. Nachträglich kam dann nur eine Ermahnung oder ein Verweis in Betracht. Strafen hatten lediglich Anwälte sowie Prozessparteien zu befürchten. Der Code de procédure hingegen sorgte bereits im voraus dafür, dass auf Seiten der Richter „kein willkührliches Thun und Unterlassen möglich werde“ (v. Holzschuher, Der Rechtsweg, S. 194). 15 v. Holzschuher, Der Rechtsweg, S. 194. 16 Bull, Rechtsstaat, S. 1101.

Kap. 1: Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht

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Die Gerichtsorganisationen der Gegenwart sind ebenfalls mit dem Problem der Überlastung und damit einhergehender überlanger Verfahrensdauer bestens vertraut. Ein Blick in die Statistik des BVerfG beweist, dass diese Entwicklung selbst – oder gerade auch – vor den Toren Karlsruhes nicht halt macht: So erfolgten 1951 lediglich 500 Verfahrenseingänge beim BVerfG, während es im Jahr 2004 etwa 6.000 waren. Im Jahr 2003 blieben aus den Vorjahren 2.244 Verfahren anhängig, im Jahr 2004 waren es 2.709, im Jahr 2005 2.731 und Ende des Jahres 2006 2.672 Verfahren.18 Entlastungsversuche wurden mehrfach unternommen, insbesondere durch Umgestaltungen des Annahmeverfahrens gem. §§ 93a ff. BVerfGG.19 Einen wichtigen Beitrag zur Entlastungsdiskussion leistete auch die vom damaligen Bundesminister der Justiz Edzard Schmidt-Jortzig eingesetzte Kommission zur Entlastung des BVerfG („Benda-Kommission“ 20), die im Jahr 1997 ihren Abschlussbericht verfasste und die verschiedensten Entlastungsmöglichkeiten erörterte.21 Selbst der EGMR, der bereits mehrfach das BVerfG wegen der Dauer der dort anhängigen Verfahren kritisierte,22 bleibt von dieser Entwicklung nicht verschont. Im Jahr 2000 etwa hat der Gerichtshof 695 Urteile erlassen, von denen 521, also drei Viertel der Urteile, allein oder zumindest auch die Verfahrensdauer betrafen.23 Allein aus Italien waren beispielsweise im Oktober 2001 noch 13.000 Beschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer beim EGMR anhängig.24 Der Statistik des Jahres 2004 ist zu entnehmen, dass die meisten der eingehenden Beschwerden die Verfahrensdauer betreffen.25 Für 2005 und 2006 gilt nichts anderes.26 Es steht zu befürchten, dass in zwei bis drei Jahren mit über 50.000 neuen Beschwerden zu rechnen ist.27 Der ehemalige Präsident des Men17 Karl Eduard Morstadt (1792–1850), Lehrer der Rechte und der Staatswirtschaft in Heidelberg, Materialkritik, S. 42 Fn. 63. 18 Entnommen aus der Grafik über die Verfahrenseingänge seit dem Jahr 1951, abrufbar unter http://www.bundesverfassungsgericht.de; vgl. hierzu auch Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 376. 19 Hierzu ausführlich in Kapitel 5. 20 Benannt nach dem Vorsitzenden der Kommission, Ernst Benda, Präsident des BVerfG und Vorsitzender des Ersten Senats von 1971–1983. 21 Vgl. hierzu Bundesministerium der Justiz, Entlastung, S. 1 ff. 22 Bergmann, Das Bundesverfassungsgericht, S. 623. 23 Vgl. hierzu Meyer-Ladewig, Rechtsbehelfe gegen Verzögerungen, S. 2679. 24 Flauss, Le droit à un recours effectif, S. 179. 25 Hausmann, Menschenrechte, in: Das Parlament v. 14.2.2005. 26 ECHR, Annual Report 2005, Statistical Tables by State; Statistik über die Eingänge nach Verfahrensarten, abrufbar unter http://www.bundesverfassungsgericht.de. 27 Hausmann, Klageflut, in: Das Parlament v. 10.5.2004. Die ehemalige Richterin des Bundesverfassungsgerichts Renate Jäger, die im Herbst 2004 zum EGMR gewechselt ist, äußerte jüngst die Befürchtung, dass es manchen Ländern als „Nebeneffekt“ der Überlastung des EGMR gar nicht unlieb sei, wenn Menschenrechtsverstöße „nicht oder nicht zeitnah untersucht und gerügt werden“ (Sattler, Die Macht der Richter, in: Das Parlament v. 11./18.7.2005).

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

schenrechtsgerichtshofs, der Schweizer Luzius Wildhaber, teilte in seiner Rede anlässlich der Eröffnung des juristischen Jahres vom 20. Januar 2006 mit, dass die Flut der Beschwerden von Bürgern aus ganz Europa, die sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen und in ihren Ländern abgewiesen wurden, jährlich ansteigt.28 Sein Nachfolger, der derzeitige Präsident Jean-Paul Costa, teilte anlässlich der Eröffnung des juristischen Jahres 2007 am 19. Januar 2007 mit, aktuell seien 90.000 Beschwerden in Straßburg anhängig.29 Der EGMR hat am 29. März 1999 eine eigene Arbeitsgruppe (Working Party on Working Methods) eingesetzt, welche die Arbeitsweise des Gerichtshofs analysieren und rationalisieren sollte. Deren Abschlussbericht führte zu einer Änderung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs mit Wirkung vom 1. Oktober 2002.30 Diese wenigen Beispiele – sei es aus der Vergangenheit, sei es aus jüngster Gegenwart – verdeutlichen, dass eine wirklich befriedigende Lösung für das Problem der Knappheit der Rechtsfindungsressourcen bis heute nicht gefunden wurde. Die folgenden Ausführungen sollen dies anhand einiger Rechtsquellen exemplarisch beleuchten, erheben dabei aber keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit. II. Rechtsquellen 1. Die Magna Charta Libertatum vom 15. Juni 1215 – die ältesten Wurzeln der Verfahrensrechte Die Magna Charta Libertatum, Produkt lange währender Auseinandersetzungen zwischen dem englischen König Johann ohne Land (1199–1216) und den englischen Baronen,31 stellt eine schriftliche Abmachung zwischen dem König einerseits und den Baronen, dem Klerus und englischen Bürgern andererseits dar und wurde unter militärischem Druck seitens der Barone am 15. Juni 1215 bei Windsor an der Themse mit dem Siegel des Königs ratifiziert. Vorangegangen waren Versuche des Adels, die Macht des Königs zu beschränken,32 da der Staat sich in einer kritischen Situation befand: Der Staatskasse drohte Verarmung, Beschwerden und Forderungen wurden von allen Seiten laut. Diese Missstimmung und die daraus resultierende Isolation des Königs – nicht zuletzt auch aufgrund eines Plans zu seiner Ermordung – zwangen ihn zu Zugeständnissen an die Barone, die in der Unterzeichnung der Charta mündeten. Bereits in der 28 Rede anlässlich der Eröffnung des juristischen Jahres v. 20. Januar 2006, abrufbar auf der Seite des EGMR, http://www.echr.coe.int. 29 Rede anlässlich der Eröffnung des juristischen Jahres v. 19. Januar 2007, abrufbar auf der Seite des EGMR, http://www.echr.coe.int. 30 Hierzu vertiefend Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 57 f. 31 Kyriazis-Gouvelis, Magna Carta, S. 17. 32 Holt, Magna Carta, S. 123.

Kap. 1: Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht

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Magna Charta sind Regelungen enthalten, welche die Verzögerung von Gerechtigkeit gegenüber dem Einzelnen verhindern beziehungsweise sanktionieren sollten. In Art. 40 der Magna Charta33 heißt es hierzu: „Niemandem werden Wir das Recht oder die Gerechtigkeit verkaufen, verweigern oder verzögern.“ Diese Normierung offenbart ein überraschend klares und eindeutiges Bekenntnis zur rechtzeitigen Rechtsgewährung. Bedenkt man, dass es sich um eine Regelung aus dem 13. Jahrhundert handelt, so erstaunt, dass Bedarf für eine derart revolutionäre Regelung gesehen wurde – sollte man doch vermuten, in dieser Epoche hätten andere Sorgen vorgeherrscht als die Bekämpfung verzögerter Rechtsgewährung. Diese vermeintliche Fortschrittlichkeit darf gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass die in der Magna Charta verbürgten Rechte dem König seitens der englischen Barone ausschließlich für jene selbst sowie für den Klerus abgetrotzt wurden;34 für die Bauern oder gar die Leibeigenen galten sie nicht.35 Dennoch stellt die Charta eine frühe, beeindruckend vordenkerische Verbriefung von Menschenrechten – ja sogar „Justizgrundrechten“ – dar, die Vorbild für die nachfolgenden Unabhängigkeitserklärungen war. Ihre Regelungen fanden Eingang in englische Gesetze, die bis heute in Kraft sind. So wurden etwa einige Artikel der Charta mit geringfügigen Änderungen in die noch heute förmlich gültige Charta Heinrichs III. (1207 bis 1272) aus dem Jahre 1225 integriert.36 Überdies fußt die Amerikanische Deklaration von Rechten auf der Magna Charta, wenn auch deren Zielsetzung eine etwas andere ist: Im Unterschied zur Magna Charta ist die Intention der Amerikanischen Deklaration tatsächlich die Anerkennung allgemeiner Menschenrechte, die über dem Parlament stehen – Vorbild war „nicht die reale, sondern die mythische Magna Carta“ (Jutta Limbach).37 Die Magna Charta war hiervon freilich noch weit entfernt.38 2. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation – Verfahrensdauer in der Kammergerichtsordnung (1495/1555) unter Maximilian I. Im Zuge der Reichsreform wurde im Jahre 1495 auf dem Reichstag zu Worms unter Maximilian I. das Reichskammergericht als oberstes Gericht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegründet, das an die Stelle des königlichen Kammergerichts treten sollte. Seine Aufgabe bestand darin, anstelle von Fehde, Gewalt und Lösegelderpressung – den aufgrund der bestehenden 33 34 35 36 37 38

Abgedruckt in deutscher Übersetzung bei Kyriazis-Gouvelis, Magna Carta, S. 50. Limbach, Herkunft, Aufgabe und Zukunft der Menschen- und Bürgerrechte, S. 20. Glauben, Die Idee der Menschenrechte, S. 365. Vgl. hierzu Kyriazis-Gouvelis, Magna Carta, S. 32 Anm. 47. Limbach, Herkunft, Aufgabe und Zukunft der Menschen- und Bürgerrechte, S. 19. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 32.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Schwächen des königlichen Kammergerichts39 damals üblichen Methoden zur Erlangung von „Recht“ beziehungsweise Genugtuung – ein geregeltes Streitverfahren vor Gericht zu entwickeln und auf diese Weise Rechtskonflikte friedlich zu lösen.40 Nach Stationen in verschiedenen süd- und südwestdeutschen Städten war das Reichskammergericht ab 1527 in Speyer und von 1689 bis zum Ende des Alten Reiches 1806 in Wetzlar ansässig.41 Das Reichskammergericht, übrigens selbst heillos überlastet,42 war unter anderem für Fälle der Rechtsverweigerung beziehungsweise Rechtsverzögerung zuständig.43 Gesetzliches Mittel gegen die Rechtsversagung war die Justizverweigerungsbeschwerde, die querela protractae vel denegatae iustitiae. Dabei handelte es sich um einen besonderen Rechtsbehelf für regelwidrige prozessuale Zustände. Geregelt war dieser Rechtsbehelf in der Reichskammergerichtsordnung von 1495, die mehrfache Änderungen erfuhr. Bedeutsame Neuerungen erfolgten im Reichsabschied von 1521 sowie in der Kammergerichtsordnung von 1555, welche die Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss brachte.44 § 16 der Reichskammergerichtsordnung vom 7. August 1495 lautet: „Item das Camergericht sol in der ersten Instantz oder Rechtvertigung auf niemands Clag oder Ansuchen Ladung erkennen oder geben gegen den jhenen, die Unser Koniglichen oder Kaiserlichen Majestät und dem Reich nit on Mittel underworffen sein und doch sonst iren ordentlichen Richter haben; es wär dann Sach, daß er vor denselben ordentlichen undern Gerichten Recht ersucht, und kondtlich versagt oder mit Geverd verzigen wäre . . .“

Im Reichsabschied von 1512 heißt es in Titel 4 § 13: „. . . daß ein jeder in dem Gericht, darinn er ohn Mittel gehörig ist, fürgenommen werden soll. Es wäre dann, daß einem Recht versagt, oder ihm das nicht vollnzogen werden möcht, und das kündlich wäre oder gemacht würd, wie Recht ist, vor dem Richter, da er die Ladung begehrt, so soll der Kläger deß Antworters Herrschaft oder nechste Obrigkeit derselben darinn ansuchen, ihm Recht zu verhelfen. Und wo

39 Die mangelnde Akzeptanz des Kammergerichts rührte vor allem daher, dass es schlecht organisiert war und seine Besetzung ständig wechselte. Feste Verfahrensregeln existierten kaum. 40 In diesem Sinne auch Hummer, Justizgewährung und Justizverweigerung, S. 11; Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 344; sowie Borm, Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer, S. 20 f. Kritisch zur Institution des Kammergerichts hingegen Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Teil 12. Buch, S. 472 f. 41 Robbers, Die historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 257. 42 Vgl. hierzu das anfangs erwähnte Zitat Johann Wolfgang von Goethes, sowie Robbers, Die historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 257. 43 Die Rechtsverzögerung fällt nach damaliger Anschauung ebenfalls unter den Begriff der Rechtsverweigerung, Hummer, Justizgewährung und Justizverweigerung, S. 14 f. – „Justitiae dilatio est quaedam negatio“ = Hinauszögern der Rechtsgewährung ist eine Art sie zu verweigern, zit. nach Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, J 193. 44 Perels, Justizverweigerung, S. 24.

Kap. 1: Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht

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die ihm auch nicht helffen wolt, so mag er solches an Unser Kayserlich CammerGericht bringen, dasselbst ihm fürderlich verholffen werden soll.“

In der RKGO vom 25. September 1555, Teil 2 Titel 1 § 2 ist geregelt: „Es soll auch demnach das keyserlich cammergericht in erster instantz oder rechtfertigung uff niemandts clag oder ansuchen ladung erkennen oder geben gegen denjhenen, die der keyserlichen maiestat und dem reich nit one mittel underworfen sein und doch sunst iren ordenlichen richter haben, und so uber das jemandt sollich ladung oder citation erlangt, so soll die mit allem, was darauf gevolgt, nichtig, unbündig, und unkreftig sein; es were dann sach, daß eyner die ordenliche undergericht umb recht ersucht und ime darauf in zeit eins monats nach beschehenem ersuchen zu recht verholfen oder ime das kündtlich versagt oder mit geverden verzogen were: in welchem fall dann der, dem das recht also geweigert oder verzogen, desselben undergerichts nechste oberkeyt und herrschaft ime rechtens zu verhelfen ansuchen und, do ime daselbst auch nit zum rechten wie sich gebürt verholfen, solchs dem keyserlichen cammergericht anbringen mag, daselbst ime alßdann verholfen werden soll, inmassen hieunden in eynem sondern articul vom geweigerten rechten davon meldung geschicht . . .“

Schließlich ist in der RKGO von 1555 Teil 2 Titel 26 § 1 (auf den der Schlusssatz des vorstehenden Paragraphen Bezug nimmt) formuliert: „. . . und eyn jeder vor dem richter, vor den er in erster instantz gehörig, fürgenommen werden soll, und sich aber vielmals zutregt, daß den klagenten partheyen, die sich solcher außtrege und ordenlichen rechtsens gebrauchen wöllen, in bestimpter zeyt oder sonst, wie sich gebürt, nit verholfen und ihnen das recht versagt oder gefehrlich verzogen würd: Setzen und ordnen wir, daß ein jeder, dem also auf sein ansuchen nicht, wie sich gebürt, verholfen, sonder das recht kündtlich versagt oder verzogen, macht und gewalt haben soll, das nechst obergericht, oberkeyt oder herrschaft umb rechtlich hilf zu ersuchen und, wo ime durch dieselbig auch nicht verholfen oder aber sonst die sach on mittel an das cammergericht gehörig, an demselben cammergericht anzubringen, daselbst ihme auch fürderlichen rechtens gestattet und verholfen werden soll.“

All diesen gesetzlichen Bestimmungen ist eigen, dass die Reichsinstanz immer erst dann zuständig ist, wenn der Beschwerdeführer alle anderen Mittel erschöpft, das heißt insbesondere die Organe der Landesregierung erfolglos angerufen hat: Bereits die Kammergerichtsordnung beinhaltete also das Konstrukt der Rechtswegerschöpfung. Angesichts der oben beschriebenen Überlastung des Kammergerichts war dies auch dringend erforderlich. Beachtlich ist, wie ausdifferenziert und akribisch formuliert der Rechtsbehelf gegen Justizverzögerung/ -verweigerung schon damals ausgestaltet war. Die Regelungen enthalten detaillierte Bestimmungen zur Frage, in welchen Fällen und vor welcher Instanz eine solche Beschwerde eingelegt werden kann. Insofern kann die Reichskammergerichtsordnung – in ihrer jeweils aktualisierten Fassung – als außerordentlich fortschrittlich und gelungen bezeichnet werden. Gegen Ende des alten Reiches nahm jedoch die Effektivität des Reichskammergerichts immer mehr ab, was vor allem auf seine Überlastung und Unterbesetzung zurückzuführen war (1806

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

blieben 50.000 unerledigte Fälle zurück45).46 Gleichwohl ist es das Verdienst des Reichskammergerichtes, dass das Fehdewesen letztendlich im 16. Jahrhundert endgültig ausgestorben ist,47 und so der Übergang von Fehde und Selbstjustiz zu einem geregelten Gerichtsverfahren gelingen konnte. 3. Zweite Landesordnung48 von Michael Gaismair (Januar–März 1526) Der 1490 geborene und 1532 im Auftrag der Habsburger erstochene Bauernführer Michael Gaismair kämpfte während der Bauernkriege im 16. Jahrhundert an der Seite der Bauern gegen Unterdrückung und Ausbeutung durch Adel und Kirche und für ein demokratisches und soziales Tirol.49 Dass sein Name in der Geschichte nur selten auftaucht,50 ist nicht weiter verwunderlich, da weder Habsburger noch Kirche, die er beide vehement bekämpft hatte, interessiert daran waren, seinen Namen und sein Andenken zu bewahren.51 Der Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit war geprägt von Unruhen und Umbrüchen in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht. 1525 kam es schließlich zum Bauernaufstand gegen die von Ferdinand I. unter dem Deckmantel einer Herrschaft von Gottes Gnaden auferlegten religiösen Repressionen. Leitfigur dieses Aufstandes wurde Michael Gaismair, der bereits zuvor Kritik an den bestehenden Verhältnissen geübt hatte.52 Sein Entwurf einer Tiroler „Landesordnung“ vom 9. Mai 152653 kurze Zeit nach der Niederwerfung des 45 Vgl. hierzu Otto, Der Anspruch auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit, S. 10 f. Versuche, die Anzahl der Assessoren auf 50 zu erhöhen, scheiterten an dazu erforderlichem Aufwand und Kosten, Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Teil 12. Buch, S. 474. 46 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Teil 12. Buch, S. 473: „Die Zahl der Assessoren war zu klein; wie sollte von ihnen die schwere und weitläufige Aufgabe gelöst werden! (. . .) Die Sachen von schwererem Gehalt hingegen, die eigentlichen Rechtshändel, blieben im Rückstand, und es war kein unglück. Dem Staate liegt nur daran, dass der Besitz gewiss und sicher sei; ob man mit Recht besitze, kann ihn weniger kümmern. Deswegen erwuchs aus der nach und nach aufschwellenden ungeheurerlichen Anzahl von verspäteten Prozessen dem Reich kein Schade.“ 47 Vgl. hierzu Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 343 f. 48 Abgedruckt bei Bücking, Michael Gaismair, S. 153 ff. 49 Gschwentner, Das andere Tirol, abrufbar unter: http://222.hannes-gschwentner.at/ edition/edit_anderes_tirol.php. 50 Ausführlich zum Leben und Wirken Gaismairs: Bücking, Michael Gaismair. 51 Mitterer, Gaismair, Ein Theaterstück und sein historischer Hintergrund, Innsbruck 2001, abrufbar unter http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/mitterergaismair. 52 Vgl. hierzu Bücking, Michael Gaismair, S. 60. 53 Bereits am 14.5.1525 war eine 1. Landesordnung Gaismairs erschienen, die jedoch kaum bekannt und nach Erscheinen der 2. Landesordnung in den Hintergrund getreten ist.

Kap. 1: Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht

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Aufstandes54 bekannte sich zu einem christlichen und demokratischen Staatswesen, welches die Gemeinschaft vor das Individuum stellte. In dieser „Landesordnung“ ist im zehnten Absatz folgendes geregelt: „Zum zehennden soll all montag recht gehalten werden und alle sachen nicht über daz annder recht55 aufgezogen, sonnder zu endt lauffen und nit auf den anndern tag56 gen. Die richter, gesworn, schreiber, redner und gerichtsdiener57 sollen in den gerichtshänndlen von niemand nicht(s) nemen, sonder vom Lanndt besoldt werden und demnach in irem cosstn58 alle montag bey der gerichtstatt erscheinen und dem gericht gewerttig sein.“

Offenkundig maß der Bauernführer Gaismair der Normierung eines zügigen Verfahrensablaufs höchste Bedeutung zu. So erschien ihm die Behandlung einer Rechtssache binnen eines Tages als erstrebenswert. Im Vordergrund stand für Gaismair freilich vor allem die Reduzierung der Gerichtskosten.59 Auch wenn diese „Landesordnung“ zu keiner Zeit Rechtsgültigkeit erlangt hat, ist gleichwohl bemerkenswert, dass der „einfache Rebell“ solche präzisen und strukturierten Vorstellungen über gerichtliche Verfahrensabläufe hatte beziehungsweise diese überhaupt in seine eher von kämpferisch-revolutionären Ideen geprägten Überlegungen mit einbezog. Wirft man einen Blick auf die restlichen Regelungen der Landesordnung, mutet dies umso erstaunlicher an: Diese sehen einschneidende Änderungen vor, etwa die Enteignung von Klerus und Aristokratie und die Verstaatlichung des Handels. Das Bedürfnis, eine Regelung über angemessene Verfahrensdauer zu verbriefen, erscheint im Vergleich zu diesen revolutionären Zielsetzungen eher zweitrangig. Gleichwohl – trotz der eigentlich rein monetären Motive Michael Gaismairs – wurde sie in diesen Kanon von Rechten aufgenommen und dokumentiert als weiteres Fragment die Entwicklung der Verfahrensdauer im Recht . 4. Verfahrensrechte in der Petition of Rights (1627/28), Bill of Rights (1689) und der Habeas-Corpus-Akte (von 1640 und 1679) In der „Petition of Rights“ 60 von 1627/28, einem englischen Gesetz, dem Karl I. am 7. Juni 1628 zugestimmt hatte, ist eine ausdrückliche Regelung speziell zur Verfahrensdauer nicht enthalten. Unter Ziff. 4 hat – freilich nur allge54 Kübel, Reformforderungen des gemeinen Mannes im Bauernkriege, S. 54; Franz, Bauernkrieg, S. 157. 55 Das heißt in 1. Instanz entschieden werden. 56 Nach anderer Abschrift (Brixener Abschrift): „zu Endt lauffen auf andern tag, dann die richter . . .“ 57 Nach der Brixener Abschrift: „gerichtspoten, diener“. 58 Nach der Brixener Abschrift: „dienst“. 59 Bücking, Michael Gaismair, S. 87. 60 Abgedruckt in deutscher Übersetzung in: Franz, Staatsverfassungen, S. 503 ff.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

mein gehalten – das Anrecht auf ein rechtmäßiges Gerichtsverfahren seinen normativen Niederschlag gefunden („. . . to answer by due process of law“). Dem wird man wohl auch das Recht auf ein Gerichtsverfahren in angemessener Zeit subsumieren können, obschon eine ausdrückliche Verbriefung in der „Petition of Rights“ nicht vorgesehen ist. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass das eigentliche Anliegen der „Petition of Rights“ in der Verbriefung feudaler Sonderrechte und nicht der Rechte Einzelner bestand.61 Die „Petition of Rights“ ist zu unterscheiden von der Verfassungsurkunde „Bill of Rights“ vom 16. Dezember 1689,62 in der freilich nur die Rechte des Parlaments und seiner Abgeordneten niedergelegt sind.63 Rechte des Einzelnen sind darin nicht enthalten, weshalb die „Bill of Rights“ für die vorliegende Untersuchung von geringerer Bedeutung ist. Allein der „Habeas-Corpus-Akte“ von 1640 beziehungsweise 1679 zum Schutz der persönlichen Freiheit kam allgemeinere Bedeutung zu. Die Relevanz des Zeitmoments kommt an einigen Stellen des Dokuments zum Ausdruck: So muss eine Person im Falle ihrer Verhaftung binnen einer bestimmten Zeit den Verantwortlichen vorgeführt werden;64 überdies müssen die Haftgründe innerhalb eines gewissen Zeitraums bescheinigt werden.65 Andererseits galt auch die „Habeas-Corpus-Akte“ nicht für alle Bürger und enthielt auch anderweitige, an dieser Stelle nicht zu vertiefende Lücken: Trotz der gewiss vorhandenen Fortschrittlichkeit in puncto Menschenrechte handelte es sich „nur“ um einen typisch mittelalterlichen Vertrag zwischen adligem Lehnsherren und seinen adligen Vasallen, der auch nur zwischen diesen beiden wirksam und ohne größere Bedeutung für die breite Masse der Bürger war.66 Mit anderen Worten: Die Ha61 Wesel, Zur Geschichte der Menschenrechte, S. 10, abrufbar unter http://www. dhm.de/ausstellungen/grundrechte/katalog/9-14.pdf. 62 Abgedruckt in deutscher Übersetzung in: Franz, Staatsverfassungen, S. 513 ff. 63 Vgl. hierzu Wesel, Zur Geschichte der Menschenrechte, S. 10, abrufbar unter http://www.dhm.de/ausstellungen/grundrechte/katalog/9-14.pdf. 64 Vgl. Wortlaut der Habeas-Corpus Akte unter Ziff. 1: „Wann immer eine oder mehrere Personen einen an einen Sheriff, . . ., oder sonstige Person, in deren Gewahrsam sie sich befinden, . . ., so müssen der besagte Beamte oder die besagten Beamten (. . .) innerhalb von drei Tagen (. . .) den Verhafteten oder Eingesperrten leibhaftig zu dem oder vor den derzeitigen Lordkanzler oder Lordsiegelbewahrer von England oder die Richter oder Barone des besagten Gerichtshofes (. . .) bringen oder bringen lassen . . .“ 65 Ziff. 1: „. . . und sie müssen dann auch die wahren Gründe seiner Haft oder Einkerkerung bescheinigen, es sei denn, die Verhaftung der besagten Person sei an einem Orte erfolgt, der mehr als 20 Meilen von dem Ort oder den Orten entfernt ist, an dem ein solches Gericht oder eine solche Person wohnt oder wohnen wird; und wenn die Entfernung größer als 20 Meilen ist, jedoch 100 Meilen nicht überschreitet, muss dies innerhalb von spätestens 10 Tagen, wenn sie größer ist als 100 Meilen, innerhalb von spätestens 20 Tagen (. . .) geschehen.“ 66 Vgl. hierzu Wesel, Zur Geschichte der Menschenrechte, S. 10, abrufbar unter abrufbar unter http://www.dhm.de/ausstellungen/grundrechte/katalog/9-14.pdf.

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beas-Corpus-Akte lässt den Geltungsanspruch der Menschenrechte für alle Bürger vermissen. 5. Bemühungen um Verfahrensbeschleunigung im 18. Jahrhundert in Deutschland Die Regenten des 18. Jahrhunderts zeigten erhebliches Interesse an dem Versuch, die Verfahren zu beschleunigen und ließen kaum nach, immer wieder neue Edikte zu erlassen. Insbesondere Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg war hier äußerst rege. Am 21. Juni 1713 erließ er die „Allgemeine Ordnung, die Verbesserung des Justizwesens betreffend“. Im Abschnitt XXVIII gab der König kund, es würde „ihm sehr lieb sein, wenn in allerlei Gattungen von Processen (. . .) besondere Beschleunigungs-Mittel ausgesonnen werden könnten“. Auch die Gerichte und Landstände wurden zu entsprechender Mitarbeit angehalten. Bedeutsam erscheint folgende Passage: „Wir schreiten nun – zu der von Uns bereits beliebten engeren Einschränkung der Processe, und ist Unser eigentliche Willens-Nennung, daß in jeder Instantz die Haupt-Sachen, die zur schriftlichen Deduction und Ausführung verwiesen worden, innerhalb Jahr und Tag, die aber durch mündliches Verfahren und Recessiren erörtert und abgethan werden können, allemahl wo möglich innerhalb wenigen Monathen entschieden werden sollen.“ 67

Bereits im Jahr 1717 erschienen in kurzen Abständen zwei neue Edikte: Im „Edict von Abkürzung derer Processe, in Sonderheit durch Versuch der Güte“ vom 13. März wurde vor allem auf den Abschluss eines Vergleichs Wert gelegt; hierin erblickte man eine praktikable Lösung, die Verfahren rasch ihrem Ende zuzuführen. Außerdem wurden Sanktionen für „eigensinnige, rechthaberisch die Einigung ablehnende Parteien“ festgesetzt, um diese einer einvernehmlichen, prozesskürzenden Lösung zugänglich zu machen.68 Wenige Tage später wandte sich das „Edict wegen Verkürzung derer Processe und unterschiedener dahin gehörigen Puncten“ vom 19. März 1717 in energischer Weise den Advokaten zu, die vordergründig für das Verschleppen der Prozesse verantwortlich gemacht wurden:69 Die weitläufigen „Allegationes und Disputationes der Advocaten“ würden zu nichts anderem dienen, „als die Sachen nur immer mehr und mehr zu verwirren, den Richter confus zu machen, und durch Verlängerung der Processe von denen armen Partheien desto mehr Geld zu erpressen“. Ähnliche Edikte mit vergleichbarer Zielsetzung erschienen auch in den folgenden Jahren, erzielten aber keinen durchschlagenden Erfolg. Eine auf den Chur-Märkischen 67 Zur Allgemeinen Ordnung von 1713 vgl. Schwartz, Zivilprozeß-Gesetzgebung, S. 468 f. 68 Schwartz, Zivilprozeß-Gesetzgebung, S. 469. 69 Troller, Von den Grundlagen des zivilprozessualen Formalismus, S. 44.

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Kammergerichtspräsidenten Samuel Freiherr von Cocceji70 zurückgehende Verordnung Friedrich Wilhelms I. vom 16. April 1725 bestimmte in ihrem Vorspruch, dass „. . . die Processe selbst aber in einer jeden Instantz höchstens binnen Jahres Frist zum Ende gebracht werden mögen“71. Diesem Anliegen wird zusätzlich Ausdruck verliehen in einer Weisung an die Advokaten: „Dahero ordnen und wollen Wir, daß weil Wir alle und jede Processe in der Instantz, worinnen sie schweben, höchstens in einem Jahr abgethan wissen wollen, die Advocati diejenige Processe, welche im Januario dieses Jahres geschwebt, auch alle in diesem Jahr zu Ende bringen müssen. Im Fall aber einige übrig bleiben solten, muß das Collegium die Nahmen der Advocaten, welche in sothanen Sachen bedienet sein, immediate bei Uns einsenden, und zugleich, wer an der Verzögerung Schuld sei, berichten.“ 72

Auch diese Vorkehrungen waren aber kaum von Erfolg gekrönt, weshalb 1736 – nach verhältnismäßig langer Pause – in dem „Allgemeinen Edict wegen Abkürzung und Beschleunigung der Processe“ die bisherige Erfolglosigkeit der Prozessgesetzgebung beklagt wurde.73 Diesmal wurde die Schuld den Gerichten zugewiesen: „. . . an vielen, wohl den meisten Orten“ sei den erlassenen Vorschriften „nicht nachgelebet worden, . . . theils durch Nachläßigkeit, öfters durch strafbare Neben Absichten, zu mehrmahlen aber durch grobe Unwissenheit derer, so zu dergleichen Aemtern sich eindringen“. Vorrangig wurde daher allen „zu dem Justitz-Wesen bestellten Räthen, Richtern und Bedienten“ Pflichteifer, Sorgfalt und Beobachtung der erlassenen Befehle eingeschärft.74 Ein Jahr später folgte ein weiteres energisches Mandatum wegen Beschleunigung der Kammergerichtsprocesse, wonach „ihr, der Präsident, mit eurem Leben haften sollet für wahre und untadelhafte Justiz“. In der Folge ergingen Edikte zur Reform des Justizwesens;75 hervorzuheben ist dabei die unter Friedrich II. erlassene neue Prozessordnung – das „Project des Codicis Fridericiani Marchici“ von 1748 – „nach welcher alle Processe in einem Jahr durch drey Instantzen zum Ende gebracht werden sollen und müssen.“76 Der Codex Fridericianus Marchicus ent70 v. Cocceji (*20. Oktober 1679 in Heidelberg; y4. Oktober 1755 in Berlin) wurde bekannt durch die Reform des preußischen Justizwesens. 1723 wurde der zuvor an der Universität Viadrina als Professor tätige v. Cocceji zum Kammergerichtspräsidenten ernannt und verwandte seine gesamte Energie auf die Durchführung der Justizreform. 71 Hierzu Schwartz, Zivilprozeß-Gesetzgebung, S. 471. 72 Schwartz, Zivilprozeß-Gesetzgebung, S. 472. 73 Vollkommer, Die lange Dauer der Zivilprozesse und ihre Ursachen, S. 110 sowie Schwartz, Zivilprozeß-Gesetzgebung, S. 473. 74 Schwartz, Zivilprozeß-Gesetzgebung, S. 473. 75 Darunter das Edict vom 11. Januar 1738, das den Procuratoren (Stellvertreter und Finanzverwalter des Königs) verbot, sich bei der Prozessführung mit Rechtsfragen irgendwelcher Art zu befassen, und das Edict vom 24. Februar 1739 über das Verfahren in Bagatellsachen, wonach Sachen, welche sich auf unter 50 Taler belaufen, „niemahls zum ordentlichen Process verwiesen, sondern bei mündlichem Verhör, ohne Advocaten und Kosten auf einmahl abgethan“ werden sollen.

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hält weniger neue Gedanken, als vielmehr eine Sammlung und Verknüpfung der während des 18. Jahrhunderts massenhaft erlassenen Edikte und Verordnungen. Bezeichnend ist aber folgende Bestimmung:77 „Wann bei den ordentlichen Gerichten der Process über ein Jahr gewähret, und durch die Chicanen der Advocaten, oder Nachlässigkeit der Gerichte, in solche Weitläuftigkeit und Confusion gesetz worden, daß die Sache eine nähere und höhere Einsicht erfordert, so können Acta avociret78 und einer Commission übergeben werden.“

Das Werk ist ganz dem Bestreben Friedrichs II. nach einer „kurtzen und soliden Justiz“ gewidmet. Bereits im März 1775 musste er freilich feststellen, dass auch diese Prozessordnung seinen Absichten nicht zum Erfolg verhalf, weshalb er gegenüber einem Vertrauten äußerte: „Ich kann Euch nicht verhalten, wie es mir vorkömmt, als wenn die Justiz wieder anfängt einzuschlafen.“ Dies führte dazu, dass der König im Jahr 1780 eine weitere Justizreform in Auftrag geben musste, die schließlich in den „Corpus Juris Fridericianum. Erstes Buch von der Proceßordnung“ mündete. 6. Virginia Bill of Rights von 1776 und der VI. Zusatzartikel der US-Verfassung von 1791 Auf die Verankerung zeitlicher Komponenten in amerikanischen Dokumenten soll an dieser Stelle nur am Rande eingegangen werden. In der Virginia Bill of Rights von 177679 wurden die Menschenrechte erstmals kodifiziert; die Justizgrundrechte spielen dabei eine „prominente Rolle“.80 Zu erwähnen ist zum einen Abschnitt 8 der Virginia Bill of Rights, der lautet: „That in all capital or criminal prosecutions a man hath a right to demand the cause and nature of his accusation to be confronted with the accusers and witnesses, to call for evidence in his favor, and to a speedy trial by an impartial jury of his vicinage, without whose unanimous consent he cannot be found guilty.“ 81

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Schwartz, Zivilprozeß-Gesetzgebung, S. 479. Abgedruckt bei Schwartz, Zivilprozeß-Gesetzgebung, S. 494. 78 Avoci(e)ren = beiziehen. 79 Abgedruckt in deutscher Übersetzung bei Franz, Staatsverfassungen, S. 7 ff. Ihr Verfasser war Georg Mason; Nachweise bei Jellinek, Die Erklärung der Menschenund Bürgerrechte, S. 17 f.; vertiefend Hashagen, Zur Entstehungsgeschichte der nordamerikanischen Erklärungen der Menschenrechte, S. 133 ff. 80 Limbach, Herkunft, Aufgabe und Zukunft der Menschen- und Bürgerrechte, S. 20. 81 Die deutsche Übersetzung lautet: „Bei allen schweren oder kriminellen Anklagen hat jedermann ein Recht, Grund und Art seiner Anklage zu erfahren, den Anklägern und Zeugen gegenübergestellt zu werden, Entlastungszeugen herbeizurufen und eine rasche Untersuchung durch einen unparteiischen Gerichtshof von zwölf Männern seiner Nachbarschaft zu verlangen, ohne deren einmütige Zustimmung er nicht als schuldig befunden werden kann.“ 77

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Zum anderen bestimmt der VI. Zusatzartikel (1791) zur Verfassung der Vereinigten Staaten vom 17. September 178782 für das Strafverfahren: „In all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right to a speedy and public trial, by an impartial jury of the State and district wherein the crime shall have been committed, which district shall have been previously ascertained by law, and to be informed of the nature and cause of the accusation; to be confronted with the witnesses against him; to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor, and to have the Assistance of Counsel for his defence.“ 83

Hier werden die Einflüsse der Magna Charta Libertatum und der englischen Petition of Rights deutlich sichtbar.84 Gleichwohl gehen die amerikanischen Deklarationen weit über die englischen Gesetze hinaus, da sie die Rechtssubjektivität des einzelnen Individuums anerkennen.85 Bemerkenswert an der Formulierung des VI. Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 ist die Ähnlichkeit mit heute geläufigen Formulierungen, etwa denen der EMRK. 7. Die Wiener Schlussakte im Deutschen Bund vom 15. Mai 1820 86 Nach der Auflösung des alten Reichs und dem Zerfall des Rheinbundes versuchte der Deutsche Bund, sich Einfluss auf die Gestaltung der Rechtspflege vorzubehalten und legte die Grundzüge der Bundesverfassung in der Deutschen Bundesakte nieder, deren wichtigste Bestimmungen zugleich in die Wiener Kongressakte87, ein Produkt des Wiener Kongresses zur Neuordnung Europas, aufgenommen wurden. Den fünf führenden europäischen Mächten Österreich, Russland, England, Preußen und Frankreich war vor allem daran gelegen, ihre Gleichberechtigung und Unabhängigkeit zu statuieren und in Europa Frieden und politische Stabilität zu sichern. Mit der Aufnahme der Bestimmungen der Deutschen Bundesakte in die Wiener Kongressakte wurden diese sowohl unter internationalen Schutz als auch Kontrolle gestellt.88 Art. 29 der Wiener Schlussakte vom 8. Juni 1820, die ergänzende Bestimmungen zur Wiener Kongressakte enthält, lautet folgendermaßen89: 82

Abgedruckt bei Franz, Staatsverfassungen, S. 39. Die deutsche Übersetzung lautet in ihrem wesentlichen Teil: „In allen Verfolgungen wegen eines Verbrechens soll der Angeklagte Anspruch haben auf ein schleuniges und öffentliches Verfahren vor einem unparteiischen Geschworenengericht des Staates und Bezirks, in dem das Verbrechen begangen wurde, der Bezirk soll vorher durch Gesetz festgestellt sein; (. . .).“ 84 Vgl. hierzu Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 31 ff. 85 Nachweise bei Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 31 ff. 86 Abgedruckt bei Dürig/Rudolf, Verfassungsgeschichte, S. 65 ff. und bei Huber, Dokumente I, S. 91 ff. 87 Vom 9. Juni 1815. 88 Vgl. hierzu Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 289. 89 Bereits die provisorische Kompetenzbestimmung vom 12. Juni 1817 normierte in § 5 Nr. 3 a unter Bezugnahme auf Art. 12 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 83

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„Wenn in einem Bundesstaate der Fall einer Justiz-Verweigerung eintritt, und auf gesetzlichen Wegen ausreichende Hülfe nicht erlangt werden kann, so liegt der Bundesversammlung ob, erwiesene, nach der Verfassung und den bestehenden Gesetzen jedes Landes zu beurtheilende Beschwerden über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege anzunehmen, und darauf die gerichtliche Hülfe bei der Bundesregierung, die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken.“ 90

In Art. 63 der Wiener Schlussakte heißt es wiederum: „(. . .) Und wenn gleich die über die Anwendung der in Gemäßheit des 14. Artikels der Bundes-Acte erlaßnen Verordnungen oder abgeschloßnen Verträge entstehenden Streitigkeiten in einzelnen Fällen an die competenten Behörden des Bundes-Staats, in welchem die Besitzungen der mittelbar gewordenen Fürsten, Grafen und Herren gelegen sind, zur Entscheidung gebracht werden müssen, so bleibt denselben doch, im Fall der verweigerten gesetzlichen und verfassungsmäßigen Rechtshülfe, oder einer einseitigen zu ihrem Nachtheil erfolgten legislativen Erklärung der durch die Bundes-Acte ihnen zugesicherten Rechte, der Recurs an die Bundes-Versammlung vorbehalten; und diese ist in einem solchen Falle verpflichtet, wenn sie die Beschwerde für gegründet findet, eine genügende Abhülfe zu bewirken.“

Verfahrensdauer findet – wenn auch nicht auf den ersten Blick ersichtlich – in der Wiener Schlussakte ebenfalls ihren gesetzlichen Niederschlag: Da Verfahrensverzögerung nach damals gefestigter Auffassung als Unterfall der Justizverweigerung angesehen wurde,91 war eine gesonderte Normierung entbehrlich. Gerügt werden konnte etwa die Verzögerung oder Hemmung92 des ordnungsmäßigen Gangs der Rechtspflege durch ungebührlich erlassene Ministerial- oder Cabinetbefehle, welche zur Verzögerung oder Unterdrückung der gesetzmäßigen Wirksamkeit richterlicher Erkenntnisse führte.93 Die Besonderheit dieser Regelungen liegt darin, dass die Abhilfe gegen Justizverweigerung nicht mehr einem Rechtsprechungsorgan anvertraut war; stattdessen war die judikative Kontrolle einem Aufsichtsverfahren durch die Bundesversammlung, ein Organ des Deutschen Bundes, und damit exekutiver Beobachtung gewichen. Zwar setzte die Bundesversammlung ihrerseits nach Eingang der Beschwerde ein sogenanntes Austrägalgericht94 ein, welches über die Rechtsverweigerung/-verzögerung zu befinden hatte. Die Bundesversammlung konnte aber dieses Gericht, welches 1815 eine entsprechende Regelung, die in kaum geänderter Form in Art. 29 der oben erwähnten Wiener Schlussakte aufgenommen wurde, vgl. hierzu Perels, Justizverweigerung, S. 46 f. 90 Abgedruckt bei Perels, Justizverweigerung, S. 47. 91 Hummer, Justizgewährung und Justizverweigerung, S. 33 Fn. 1, sowie Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes, S. 203. 92 Unter „Verzögerung“ ist hier die staatlicherseits zu verantwortende Verzögerung der Rechtspflege zu verstehen; „Hemmung“ meint dagegen die Hemmung der Vollziehung eines rechtskräftigen Richterspruchs von Regierungswegen. 93 Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes, S. 202. 94 Der Begriff des Austragens kommt aus dem Mittelalter und bedeutete, Rechtsstreitigkeiten vor einem Schiedsgericht auseinanderzusetzen oder zu erörtern, und von

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seine Entscheidungsgewalt eben von der Bundesversammlung ableitete, jederzeit anweisen, wie zu verfahren sei. 8. Die Paulskirchenverfassung von 1849 Unter den Eindrücken des „Vormärz“, dessen liberales Programm sich unter der Formel „Einheit und Freiheit“ zusammenfassen lässt, entschied die Bundesversammlung im Jahr 1848, den Entwurf eines deutschen Reichsgrundgesetzes zu erarbeiten, woraufhin am 27. März 1849 die Verfassung des Deutschen Reiches von der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt am Main nach langen Diskussionen beschlossen wurde.95 Diese Verfassung knüpfte für den Bereich der Justizverzögerung beziehungsweise -verweigerung nicht an die Vorgaben zur Zeit des Deutschen Bundes an, sondern besann sich auf die Traditionen des alten Reichs. Sie sah deshalb für jene Materie kein Verwaltungsorgan vor wie noch die Wiener Schlussakte, sondern – wie vormals – ein zu schaffendes Reichsgericht, verbunden mit einem Staatsgerichtshof.96 § 126 Ziff. h der Paulskirchenverfassung (PKV)97 lautet folgendermaßen: [Zur Zuständigkeit des Reichsgerichts gehören:] „Beschwerden wegen verweigerter oder gehemmter Rechtspflege, wenn die landesgesetzlichen Mittel der Abhülfe erschöpft sind.“

Anders als die Wiener Schlussakte gewährte die Frankfurter Reichsverfassung folglich Abhilfe gegen Justizverweigerung durch eine höchste richterliche Instanz und nicht durch eine Verwaltungsspitze.98 Damit hätte die Paulskirchenverfassung – so sie denn Wirksamkeit erlangt hätte – an die Traditionen des alten Reichs angeknüpft. Nach der Regelung des § 126 Ziff. h PKV obliegt es dem Reichsgericht, über eine Verfassungsbeschwerde wegen verweigerter oder verzögerter Rechtsfindung zu befinden, die nach Erschöpfen der landesgesetzlichen Abwehrmittel – mithin nach Erschöpfen des Rechtsweges – erhoben werden konnte.99

diesem entscheiden zu lassen. Nachweise bei Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes, S. 203. 95 Amtlich verkündet wurde sie einen Tag später, also am 28. März 1849, durch die Aufnahme ins Reichsgesetzblatt. 96 Otto, Der Anspruch auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit, S. 13 f. 97 Abgedruckt bei Franz, Staatsverfassungen, S. 140 ff. 98 Vgl. die Regelung in § 182: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“ 99 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte II, S. 835 f.

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9. Die Frankfurter Reformakte von 1863 Nach dem Scheitern der Frankfurter Paulskirchenverfassung wetteiferten Österreich und Preußen um die Vormachtstellung in Fragen der Verfassungsreformpolitik. Als Sieger ging letztlich aufgrund größeren diplomatischen Geschicks Österreich hervor und unterbreitete einen Reformplan. Es handelte sich dabei im Ergebnis um einen Kompromiss zwischen der staatenbündischen Schlussakte von 1815 und der bundesstaatlichen Reichsverfassung von 1849.100 Mit Ausnahme Preußens verhandelten schließlich in Frankfurt fast alle deutschen Souveräne101 über die österreichischen Reformpläne. Am 1. September 1863 nahmen die deutschen Fürsten schließlich das Ergebnis dieser Frankfurter Beratungen, die „Reformakte des Deutschen Bundes“, mit 24 gegen 6 Stimmen an.102 Bei der Reformakte handelte es sich um ein neues Bundesgrundgesetz, welches ändernd und ergänzend neben die Deutsche Bundesakte und die Wiener Schlussakte treten sollte. Art. 27 lautet in seinem entscheidenden Abschnitt: „Das Bundesgericht in seiner richterlichen Eigenschaft kann angerufen werden: (. . .) 4) von Privatpersonen behufs der Eröffnung des Rechtsweges gegen eine einzelne Bundesregierung, wenn erstere auf Grund der Verfassung und der bestehenden Gesetze des Landes und nach Erschöpfung der landesgesetzlichen Mittel der Abhülfe, über Verweigerung oder Hemmung der Rechtspflege Beschwerde führen; (. . .).“

Es handelte sich hierbei um ein Beschwerderecht des einzelnen gegen eine der Bundesregierungen in Fällen der Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung. Ganz im Sinne des alten Entwurfs eines Bundesgerichts103 sollte ein oberster Gerichtshof des Bundes mit Sitz in Frankfurt nach den alt hergebrachten Grundsätzen des Römischen Rechts entscheiden. Art. 27 der Reformakte stellt eine reine Kompetenznorm dar. Im Gegensatz zu der in Art. 28 geregelten schiedsrichterlichen Kompetenz104 handelt es sich bei dem Katalog des Art. 27 um Aufgaben richterlicher Kompetenz. Letztendlich waren auch diese – hauptsächlich von österreichischer Motivation geprägten – Reformbemühungen vergebens. Die Reform der Bundesverfassung scheiterte letztlich an den zwischen

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Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, III, S. 420. 30 von 34 Mitgliedern des Deutschen Bundes waren anwesend. 102 Huber, Dokumente II, S. 116. 103 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte III, S. 431, 401. 104 Art. 28 lautet: „Der schiedsrichterlichen Entscheidung des Bundesgerichtes werden vom Directorium nach vergeblich versuchter Vermittelung, auf Verlangen des einen oder des anderen der streitenden Theile überwiesen: 1) alle nicht zu der im Artikel 27 unter 5 erwähnten Kategorie gehörigen Streitigkeiten zwischen Mitgliedern des Bundes (. . .).“ 101

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Preußen und Österreich bestehenden Differenzen,105 die in einen militärischen Konflikt106 mündeten und den Bund letztlich auseinanderbrechen ließen.107 10. Verfahrensdauer in der Reichsverfassung von 1871 Nach dem Scheitern der politischen Bewegungen der Jahre 1848/49 und der Auflösung des Deutschen Bundes entstand am 1. Januar 1871 mit dem Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund das Deutsche Reich. Am 18. Januar folgte die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal zu Versailles. Art. 77 der Reichsverfassung vom 16. April 1871 wiederholt im Wesentlichen den Wortlaut des Art. 29 der Wiener Schlussakte108: „Wenn in einem Bundesstaate der Fall einer Justizverweigerung109 eintritt, und auf gesetzlichem Wege ausreichende Hilfe nicht erlangt werden kann, so liegt dem Bundesrathe ob, erwiesene, nach der Verfassung und den bestehenden Gesetzen des betreffenden Bundesstaates zu beurtheilende Beschwerden über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege anzunehmen und darauf die gerichtliche Hilfe bei der Bundesregierung, die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken.“ 110

Zu einer Neuregelung der gesetzlichen Reaktionsmöglichkeiten auf Fälle der Justizverweigerung ist es damit nicht gekommen. Die Vorschrift enthält – neben einer formellen Verfahrensregelung – auch ein verfassungsmäßig verbürgtes Individualrecht des Einzelnen zur Abwehr eines rechtswidrigen Eingriffs in seine Rechte.111 Auf die Verwaltungsjustiz erstreckt sich die Norm indes nicht; vielmehr erfasst sie nur bürgerliche Rechtsstreitigkeiten.112 Art. 77 hat nur geringe 105 Preußen wollte den unter Federführung Österreichs erzielten Frankfurter Beschluss nur unter drei Bedingungen annehmen: Jeder der beiden Großmächte Preußen und Österreich sollte ein Vetorecht bei Kriegserklärungen des Bundes eingeräumt werden; zudem verlangte Preußen Parität im Bundesvorsitz zwischen den beiden Großmächten und befand im Übrigen, der Bund müsse eine nach dem Maßstab der Bevölkerungszahl berufene Nationalvertretung erhalten. Preußen erhoffte sich aufgrund dessen ein Stimmenübergewicht. Nachweise bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte III, S. 432 f. 106 Den Deutschen Krieg von 1866, den Preußen bei Königgrätz für sich entscheiden konnte. 107 Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 449. 108 Abgedruckt bei v. Seydel, Commentar zur Verfassungs-Urkunde, S. 410. 109 Auch hier ist unter „Justizverweigerung“ sowohl die Verzögerung durch die Justiz, als auch der hemmende Eingriff in dieselbe zu verstehen, vgl. v. Seydel, Commentar zur Verfassungs-Urkunde, S. 410. 110 Von Art. 29 der Wiener Schlussakte unterscheidet sich diese Regelung im Wesentlichen nur dadurch, dass nicht die Bundesversammlung, sondern der Bundesrat angerufen werden konnte. 111 Borm, Der Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer, S. 22 f. 112 v. Jagemann, Die deutsche Reichsverfassung, S. 220.

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Bedeutung erlangt, zumal dem hierfür zuständigen Bundesrat nur politischer Druck beziehungsweise die Reichsexekution zur Abhilfe übrig blieben, wenn ein Fall von Justizverweigerung festzustellen war. Selbst entscheiden konnte er einen Rechtsstreit nicht.113 Auf den ersten Blick vollkommen gegenstandslos wurde Art. 77 mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von 1877, welche die Zivil- und Strafgerichte der Rechtskontrolle des Reichsgerichts unterstellten. Jedoch enthielten die Reichsjustizgesetze kein umfassendes Verbot der Justizverweigerung; Art. 77 stellte vielmehr die einzige Anspruchsnorm gegen richterliche Justizverweigerung und Justizverzögerung für den Bürger dar.114 Gleichwohl nahm seine praktische Bedeutung infolge des Erlasses der Reichsjustizgesetze von 1877 mehr und mehr ab.115 11. Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 Im Zuge der Novemberrevolution im Jahr 1918 und der darauffolgenden Unruhen wurde am 19. Januar 1919 die Nationalversammlung gewählt, die am 6. Februar 1919 in Weimar zusammentrat und am 31. Juli 1919 die Reichsverfassung beschloss. Der Antrag an den Verfassungsausschuss der verfassungsgebenden Nationalversammlung unter Vorsitz von Hugo Preuss116, eine an Art. 77 der Reichsverfassung von 1871 angelehnte Justizverweigerungsbeschwerde in die Weimarer Reichsverfassung aufzunehmen, wurde abgelehnt. Es überwog nämlich die Auffassung, für eine solche Regelung bestehe angesichts der Tatsache, dass der frühere Bundesrat sämtliche Beschwerden als unbegründet zurückgewiesen hatte, kein Bedürfnis. Außerdem passe eine Justizverweigerungsbeschwerde nicht mehr in eine moderne Verfassung.117 Als Ersatz könne im Übrigen das Institut der Dienstaufsichtsbeschwerde fungieren. Die Justizverweigerungsbeschwerde war somit in der Reichsverfassung von 1871 zum letzten Mal inhaltlich erwähnt; in keine nachfolgende deutsche Verfassung hat sie mehr Eingang gefunden.

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Hummer, Justizgewährung und Justizverweigerung, S. 37. Aus diesem Grund behielt er auch nach 1877 seine Gültigkeit; so auch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte III, S. 1074. 115 Vgl. hierzu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte III, S. 1074. 116 Hugo Preuss (1860–1925), links-liberaler Berliner Staatsrechtler und Schüler des Rechtshistorikers Otto von Gierke, wurde nach der Novemberrevolution am 15. November 1918 zum Staatssekretär des Inneren berufen und mit dem Entwurf einer Verfassung beauftragt, weshalb er als Vater der Weimarer Verfassung gilt. 117 So der Verfassungsausschuss selbst, zitiert bei Hummer, Justizgewährung und Justizverweigerung, S. 40 f. 114

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12. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) – Reaktion auf Nationalsozialismus und Totalitarismus118 – machte die Menschenrechte zur Grundlage der neuen Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die AEMR wurde am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und konstituiert ein gemeinsames Ideal aller Völker und Nationen119 – nicht mehr „Privatsache“ 120 der Einzelnationen, sondern „consensus omnium gentium“121. Mit ihrer Verabschiedung gelang ein „entscheidender Durchbruch in der Menschenrechtsfrage“ 122, der „Trend zur Universalisierung“ 123 der Menschenrechte gelangte zu einem ersten Höhepunkt. Mit gutem Grund kann daher vom universellen Geltungsanspruch der AEMR gesprochen werden.124 Juristisch betrachtet stellt die AEMR eine „kopernikanische Wende in der Geschichte des Völkerrechts“ (Walter Kälin)125 dar, wenn auch die rechtliche Durchsetzung der in ihr verbrieften Garantien mangels Rechtsbindung126 – „nicht verpflichtendes Grundsatzprogramm“ (Jürgen Schwarz)127 – kaum möglich scheint.128 Die für vorliegende Untersuchung relevanten Normen lauten wie folgt: 118 Strauß, Die Entstehungsgeschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, S. 17; Simma, Der internationale Schutz der Menschenrechte, S. 40. 119 So auch der Wortlaut der Präambel der AEMR, welche die in der Erklärung verbürgten Rechte und Normen als „common standard of achievement“, als das „von allen Völkern und Nationen zu erreichende Ideal“ bezeichnet. 120 Saberschinsky, Zur Entstehung der Menschenrechtserklärung der UNO im Jahre 1948, S. 55. 121 Norberto Bobbio, zit. bei Limbach, Herkunft, Aufgabe und Zukunft der Menschen- und Bürgerrechte, S. 22. 122 Saberschinsky, Zur Entstehung der Menschenrechtserklärung der UNO im Jahre 1948, S. 53. 123 Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: HGR I, § 1 Rn. 79. 124 Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: HGR I, § 1 Rn. 82; vgl. hierzu McDougal, Die Menschenrechte in den Vereinten Nationen, S. 497: „Das Menschenrechtsprogramm der Vereinten Nationen stellt im weitesten Sinne gesehen eine enorme gemeinschaftliche Anstrengung dar, durch die Formulierung anerkannter Prinzipien und die Einrichtung neuer Verfahrensweisen den Schutz der grundlegenden individuellen Freiheiten, im weitesten Sinne verstanden, auf der Ebene einer wirksamen Autorität auszudehnen, die höher liegt als die des Nationalstaates.“ 125 Kälin, zit. bei Limbach, Herkunft, Aufgabe und Zukunft der Menschen- und Bürgerrechte, S. 22. 126 Saberschinsky, Zur Entstehung der Menschenrechtserklärung der UNO im Jahre 1948, S. 61; Kimminich, Die Vereinten Nationen, S. 27: „Als Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen kann die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte keine Rechtsbindung erzeugen. Vielmehr hat sie nur den Charakter einer Empfehlung. Darauf haben sich Staaten, denen Menschenrechtsverletzungen unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung vorgeworfen wurden, häufig berufen.“ 127 Schwarz, Die Idee der Menschenrechte und die Nachkriegspolitik in Deutschland, S. 69.

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Art. 8: „Everyone has the right to an effective remedy by the competent national tribunals for acts violating the fundamental rights granted him by the constitution or by law.“ 129

Art. 10: „Everyone is entitled in full equality to a fair and public hearing by an independent and impartial tribunal, in the determination of his rights and obligations and of any criminal charge against him.“ 130

In keiner der genannten Vorschriften ist eine Regelung zur Verfahrensdauer explizit enthalten. Art. 8 AEMR, an den sich die Regelung des Art. 13 EMRK eng anlehnt,131 gewährt dem Einzelnen das Recht auf eine innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit132 und wendet sich damit gegen gänzliche Versagung des Rechtsschutzes. Über die nicht rechtzeitige Gewährung von Rechtsschutz sagt die Norm nichts aus. Auch Art. 10 AEMR, der – wie übrigens auch Art. 11 AEMR – den in Art. 6 EMRK verbrieften Verfahrensrechten als Vorlage diente,133 trifft ausdrücklich keine Aussage speziell zum Bereich der Verfahrensdauer. Lediglich die übrigen, neben der Garantie angemessener Verfahrensdauer in Art. 6 Abs. 1 EMRK benannten Verfahrensrechte134 sind auch in Art. 10 AEMR aufgelistet. Unmittelbar aus dem Wortlaut des Art. 10 AEMR lässt sich nicht ableiten, dass die Garantie angemessener Verfahrensdauer bereits Regelungsgegenstand des Art. 10 AEMR sein sollte – wenn auch die Formulierung im Übrigen nahezu identisch mit Art. 6 Abs. 1 EMRK ist.135 Andererseits ist verzögerter Rechtsschutz im Ergebnis vergleichbar mit gänzlich vorenthaltener Rechtsgewährung. Aus diesem Grunde gehen Lauri Lehtimaja und Matti Pellonpää zu Recht davon aus, dass in die Formulierung des Art. 10 AEMR auch 128 Vgl. hierzu Nowak, CCPR Commentary, Introduction, Rn. 2; sowie Floretta, Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, 1. Teil, S. 9 ff. 129 Die deutsche Übersetzung lautet: „Jeder Mensch hat Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz vor den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen alle Handlungen, die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzen.“ 130 Die deutsche Übersetzung lautet: „Jeder Mensch hat in voller Gleichberechtigung Anspruch auf ein der Billigkeit entsprechendes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht, das über seine Rechte und Verpflichtungen oder über irgendeine gegen ihn erhobene strafrechtliche Beschuldigung zu entscheiden hat.“ 131 Vgl. hierzu noch unten, Kapitel 4. 132 Hierzu anschaulich Melander in: Universal Declaration of Human Rights, Art. 8, S. 143 ff. 133 Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 1 f. 134 Anspruch auf ein der Billigkeit entsprechendes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht. 135 So auch Lehtimaja/Pellonpää in: Universal Declaration of Human Rights, Art. 10, S. 165 f.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

die Garantie angemessener Verfahrensdauer „hineingelesen“ werden kann.136 Andere Autoren gelangen zu demselben Ergebnis aus einer Gesamtschau der Art. 8 ff AEMR heraus.137 Auch die Entstehungsgeschichte der EMRK legt dies nahe, stützte man sich doch bei ihrer Schaffung ausdrücklich auf die Formulierungen der AEMR.138 Der maßgebliche Berichterstatter der vom 22. August bis zum 5. September 1949 tagenden Beratenden Versammlung des Europarats, der ehemalige französische Justizminister Pierre-Henri Teitgen,139 bezog sich nachweislich140 auf Art. 8 und 10 AEMR.141 Gleichwohl geht die EMRK in vielem sogar weit über die AEMR hinaus, hatte man sich bei ihrer Entstehung doch auf die „kasuistische Definitionsmethode“ gestützt, wohingegen sich die AEMR auf vorwiegend generalklauselartige Formulierungen beschränkt.142 Darüber hinaus ist die EMRK im Gegensatz zur AEMR auf rechtliche Verbindlichkeit für die Unterzeichnerstaaten ausgerichtet. Diese Unterschiede sind dadurch bedingt, dass die AEMR von vornherein bezweckte, möglichst alle existierenden Rechtssysteme zu erfassen, mithin eine universelle Zielrichtung hat. Die EMRK hingegen stellt ein regionales Menschenrechtsinstrument dar. Gleichwohl kann die AEMR mit Fug und Recht aufgrund des Einflusses, den sie auf die europäische (Menschen)Rechtsentwicklung ausgeübt hat, als „historisches Ereignis von universeller Bedeutung“ 143 bezeichnet werden. 13. Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 Die EMRK wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und trat am 3. September 1953 nach Ratifizierung durch 10 Staaten in Kraft.144 Die Bundesrepublik Deutschland hat die Konvention am 5. Dezember 1952 ratifiziert. Wie bereits erwähnt, sind die Einflüsse der AEMR auf die europäische Konvention erheblich, obwohl es schon vor der Annahme der AEMR im Dezember 1948 Bestrebungen gab, ein „europäisches Pendant“ zu schaffen: Im Mai 1948

136 Lehtimaja/Pellonpää in: Universal Declaration of Human Rights, Art. 10, S. 165 f. 137 In diese Richtung gehen die Ausführungen von Miehsler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 33 ff. 138 Frowein, Der europäische Grundrechtsschutz und die deutsche Rechtsprechung, S. 29. 139 *29. Mai 1908 in Rennes, y6. April 1997 in Paris. 140 Teitgen erklärte im Namen des Ausschusses, die UNO-Menschenrechtserklärung sei so weit wie möglich zugrunde zu legen, Travaux préparatoires, Bd. 1, S. 194. 141 Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 147. 142 Vgl. hierzu Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 127. 143 So Jellinek, Antwort an Emile Boutmy, S. 114. 144 Vgl. Art. 59 Abs. 2 EMRK.

Kap. 1: Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht

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forderten die Vertreter der europäischen Einigungsbewegung, ein Zusammenschluss privater Organisationen unter Beteiligung führender Politiker,145 auf dem Europakongress im Haag den Abschluss einer europäischen Menschenrechtskonvention.146 Bereits in diesem Stadium wurde die Einrichtung eines europäischen Gerichtshofs gefordert, der über die Verletzung von Grundrechten befinden sollte, die von jedem Individuum an ihn herangetragen werden können. Ein Konventionsentwurf wurde vom internationalen Rechtsausschuss unter Vorsitz von Pierre-Henri Teitgen erarbeitet, welcher am 7. September 1949 der Beratenden Versammlung des Europarats147 vorgelegt wurde. Pierre-Henri Teitgen gab dort die ebenso dringende wie einprägende Empfehlung zur Verabschiedung dieser Konvention ab: „Wir haben einmütig die Wichtigkeit erkannt, innerhalb Europas durch ein System der kollektiven Garantie die Staaten zu zwingen, das Recht und die fundamentalen Freiheiten als auch die allgemeinen Prinzipien der Demokratie zu respektieren.“ 148 Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der die Grundlage dieser Arbeit bildet, lautet in der englischen und der französischen Originalfassung149 jeweils wie folgt: „In the determination of his civil rights and obligations or of any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law.“ „Toute personne a droit à ce que sa cause soit entendue équitablement, publiquement et dans un délai raisonnable, par un tribunal indépendant et impartial, établi par la loi, qui décidera, soit des contestations sur ses droits et obligations de caractère civil, soit du – bien fondé de toute accusation en matière pénale dirigée contre elle.“

Auf die Norm soll an dieser Stelle freilich inhaltlich nicht näher eingegangen werden, um den folgenden Ausführungen nicht vorzugreifen. In Bezug auf den Ursprung der Norm in Art. 8 und 10 AEMR kann auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen werden.

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Nachweise bei Grabenwarter, EMRK § 1 Rn. 2. Nachweise bei Partsch, Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention, S. 633 f. 147 Heute: die Parlamentarische Versammlung. 148 Official Report 1949, S. 1149. 149 Die deutsche amtliche Übersetzung lautet: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. 146

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

14. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 Am 16. Dezember 1966 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR)150 beschlossen und am 19. Dezember 1966 zur Zeichnung aufgelegt. Beruhend auf der berühmten Rede Präsident Franklin Delano Roosevelts vor dem Kongress der Vereinigten Staaten vom 6. Januar 1941 zur Lage der Nation über die vier wesentlichen menschlichen Freiheiten151 sollte er den in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verbürgten Garantien präzisere Formen verleihen und dem internationalen Menschenrechtsschutz insbesondere durch vertragliche Bindungswirkung zu größerer Wirkung und Durchsetzbarkeit verhelfen.152 Verfolgt wurde das Ziel, die Achtung der Menschenrechte erstmals153 in einem verbindlichen Vertrag zu dokumentieren. Die im IPBPR verbrieften klassischen Menschenrechte der ersten Generation154 haben ihre Entstehung in vielerlei Hinsicht der EMRK und den Erfahrungen, die mit ihr bis dato gemacht wurden, zu verdanken,155 gehen aber in vielem sogar über diese hinaus.156

150 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, BGBl. 1973 II S. 1534. Abgedruckt bei Opitz, Menschenrechte und Internationaler Menschenrechtsschutz, S. 272 ff. in englischer Sprache sowie in deutscher Übersetzung Bundeszentrale für politische Bildung, Menschenrechte – Dokumente und Deklarationen, 4. Auflage, Bonn 2004, S. 69 ff. 151 Die Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung; die Freiheit, Gott auf seine Weise zu dienen; die Freiheit von Not und die Freiheit von Furcht. In der AtlantikCharta, welche die Gründungsurkunde der Vereinten Nationen vorwegnahm, einigte sich Roosevelt mit Winston Churchill auf Grundsätze, die auf diesen „Vier Freiheiten“ begründet sind. 152 Vgl. hierzu Nowak, CCPR Commentary, Introduction, Rn. 2. 153 Die AEMR stellt keine solche formale völkerrechtliche vertragliche Verpflichtung dar. Gleichwohl hat sie erhebliche indirekte Wirksamkeit durch Prägung nachfolgender verbindlicher Vereinbarungen erlangt; vgl. Floretta, Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, 1. Teil, S. 11. 154 Die bürgerlichen Rechte (Menschenrechte der ersten Generation) gewährleisten die liberale Freiheit des Individuums „vom Staat“ (dem klassischen status negativus, also den Grundrechten gegen den Staat, vergleichbar), wohingegen die politischen Rechte die demokratische Freiheit „zum Staat“ garantieren. 155 Brownlie, Principles of Public International Law, S. 577. 156 So bspw. das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und freie Entscheidung über ihren politischen Status (Art. 1 Abs. 1); das Recht der Völker, frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel zu verfügen (Art. 1 Abs. 2); das Recht festgehaltener Personen auf menschliche Behandlung (Art. 10); Verbot einer Inhaftierung wegen Nichterfüllung einer vertraglichen Verpflichtung (Art. 11); das Recht ethnischer, religiöser oder sprachlicher Minderheiten auf eigenes kulturelles Leben, Religion und Sprache (Art. 27).

Kap. 1: Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht

185

Art. 9 Abs. 3 S. 1 IPBPR lautet: „Anyone arrested or detained on a criminal charge shall be brought promptly before a judge or other officer authorized by law to exercise judicial power and shall be entitled to a trial within a reasonable time or to release.“ 157

Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPBPR lautet: „In the determination of any criminal charge against him, or of his rights and obligations in a suit of law, everyone shall be entitled to a fair and public hearing by a competent, independent and impartial tribunal established by law.“ 158

Art. 14 Abs. 3 c) IPBPR lautet: „In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality: To be tried without undue delay; (. . .).“ 159

Art. 9 Abs. 3 IPBPR garantiert den Anspruch auf ein Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist und ist insofern Art. 6 Abs. 1 EMRK vergleichbar. Allerdings bezieht er sich im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 EMRK lediglich auf im Zuge eines strafrechtlichen Tatverdachts festgenommene Personen und ist deshalb der in Art. 5 Abs. 3 EMRK160 enthaltenen Regelung ähnlicher. Art. 14 Abs. 3 c) IPBPR entspricht sinngemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK161 und trifft genauere Aussagen zum Recht auf angemessene Verfahrensdauer. Auch diese Norm nimmt freilich ebenfalls nur Bezug auf wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte162 und regelt somit auch nur einen Teilbereich der in Art. 6 Abs. 1 EMRK verbrieften Garantien.163 Was strafrechtliche Verfahren anbelangt, ist Art. 14 Abs. 3 c) IPBPR allerdings identisch mit Art. 6 Abs. 1 EMRK. Art. 14 157 Die deutsche Übersetzung lautet: „Jeder, der unter dem Vorwurf einer strafbaren Handlung festgenommen worden ist oder in Haft gehalten wird, muss unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Amtsperson vorgeführt werden und hat Anspruch auf ein Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung aus der Haft.“ 158 Die deutsche Übersetzung lautet: „Jedermann hat Anspruch darauf, dass über eine gegen ihn erhobene Anklage oder seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht und in billiger Weise öffentlich verhandelt wird.“ 159 Die deutsche Übersetzung lautet: „Jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte hat in gleicher Weise im Verfahren Anspruch auf folgende Mindestgarantien: Es muss ohne unangemessene Verzögerung ein Urteil gegen ihn ergehen; (. . .).“ 160 Art. 5 Abs. 3 EMRK lautet: „Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, muss unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden; sie hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden.“ 161 Nowak, CCPR Commentary, Art. 14 Rn. 52. 162 Thienel, Angemessene Verfahrensdauer, S. 474. 163 Vgl. hierzu Nowak, CCPR Commentary, Art. 14 Rn. 52.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Abs. 1 IPBPR hingegen, der generalklauselartig164 allgemeine Garantien für sämtliche Gerichtsverfahren normiert, enthält keine Regelung zum Bereich der Verfahrensdauer und beschränkt sich auf die Formulierung „(. . .) durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht und in billiger Weise öffentlich verhandelt wird.“ Für den Zivilprozess wird dem aber richtigerweise überwiegend auch das Recht auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist subsumiert.165 Im Vergleich mit der EMRK bleiben die Regelungen des IPBPR hinter denjenigen der EMRK zurück; Berührungen zwischen beiden finden nur in Bezug auf die Strafverfahrenskomponente statt. In der Praxis wird die Angemessenheit der Dauer eines Strafverfahrens im Sinne des Art. 14 Abs. 3 c) IPBPR in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgelegt. 15. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention166 Die Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK) wurde am 22. November 1969 auf der Menschenrechtskonferenz in Costa Rica unterzeichnet, sog. Pakt von San José. 18 der 26 in der AMRK enthaltenen Garantien sind auch in der EMRK beziehungsweise ihren Protokollen enthalten. Art. 8 Abs. 1 der AMRK lautet folgendermaßen: „Jeder hat das Recht, bei der Begründung einer strafrechtlichen Anklage gegen ihn oder bei der Überprüfung seiner zivil-, arbeits- oder steuerrechtlichen oder sonstigen Rechte und Pflichten unter angemessener Rechtsschutzgarantie und innerhalb eines angemessenen Zeitraums von einem zuständigen, unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz eingerichteten Gericht angehört zu werden.“

Art. 8 Abs. 1 AMRK enthält die – ganz allgemein gehaltene – Garantie angemessener Verfahrensdauer, ohne sich dabei auf den Bereich von Strafverfahren zu beschränken. Der Zusatz „innerhalb eines angemessenen Zeitraums“ wurde aus Art. 6 Abs. 1 EMRK übernommen.167 Die dort geltenden Grundsätze können demzufolge auf Art. 8 Abs. 1 AMRK übertragen werden.

164 So Lehtimaja/Pellonpää in: Universal Declaration of Human Rights, Art. 10, S. 162. 165 Rubén Toribo Muñoz Hermoza ./. Peru, Entscheidung des UN-Ausschusses für Menschenrechte, B 203/1986, §§ 11.3, 12. 166 Abgedruckt in deutscher Übersetzung in Bundeszentrale für politische Bildung, Menschenrechte – Dokumente und Deklarationen, 4. Auflage, Bonn 2004, S. 500 ff. sowie in englischer Sprache in: Robertson, Human Rights, S. 249 ff. 167 Robertson, Human Rights, S. 125.

Kap. 1: Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht

187

16. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18. Dezember 2000 Der Europäische Rat von Köln168 und Tampere169 hatte im Jahr 2000 beschlossen, die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte, die bisher nur in Form eines allgemeinen Verweises auf die EMRK und auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Vertrag über die Europäische Union (EUV)170 genannt werden (Artikel 6 Abs. 2 EUV),171 in eine Charta zusammenzufassen.172 Ziel dessen war es, die gemeinsamen Grundsätze der Mitgliedstaaten fortzuentwickeln und zu präzisieren. Durch die Schaffung einer Grundrechte-Charta sollte den Gewährleistungen ein ungleich höheres verfassungspolitisches Gewicht – „Legitimationsschub“ (Günter Hirsch)173 – zukommen, als es im Rahmen der allgemeinen Verweisung des Art. 6 Abs. 2 EUV der Fall war.174 Den Entwurf der Charta sollte ein in der Folge als Europäischer Grundrechtskonvent175 bezeichnetes Gremium unter Vorsitz des Altbundespräsidenten Roman Herzog ausarbeiten. Verbindlicher Rechtscharakter sollte der Charta nach der Absicht des Europäischen Rates dagegen nicht zukommen;176 vielmehr sollte nach dem Jahr 2000 geprüft werden, ob – und gegebenenfalls wie – die Charta in die Verträge aufzunehmen ist.177 Am 7. Dezember 2000 erfolgte in Nizza die feierliche Proklamation der Charta durch die drei Gemeinschaftsorgane Rat, Kommission und Europäisches Parlament, nachdem der Konvent binnen kürzester Zeit – „nur dem Zeitraum einer Schwangerschaft entsprechend“ (Peter J. Tettinger)178 – das in seiner Länge eindrucksvolle Konvolut erstellt hatte. Ziel der Charta war es weniger, Neues zu schaffen,179 als vielmehr die Bedeutung der Grundrechte für die Unionsbürger 168

Am 3. und 4. Juni 1999; Beschluss abgedruckt in EuGRZ 1999, S. 364 f. Am 15. und 16. Oktober 1999; Beschluss abgedruckt in EuGRZ 1999, S. 615. 170 Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 („Maastricht-Vertrag“), der am 1. November 1993 in Kraft trat. 171 Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 11. 172 Vgl. hierzu die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Dezember 2000, abgedruckt in EuGRZ 2000, 671 f. 173 Günter Hirsch, ehemaliger EuGH-Richter, FAZ, Nr. 237 v. 12.10.2000, S. 11. 174 So auch Scholz, Zur Europäischen Grundrechtscharta, S. 994. 175 Dieser Konvent setzte sich folgendermaßen zusammen: insgesamt 62 Mitglieder, davon 15 Beauftragte der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, ein Beauftragter der Kommission, 16 Mitglieder des Europäischen Parlaments und 30 Mitglieder der nationalen Parlamente, vgl. die Namensliste in EuGRZ 2000, S. 570. 176 Alber/Widmaier, EU-Charta der Grundrechte, S. 498. 177 Vgl. Fischer, Vertrag von Nizza, S. 263. 178 Tettinger, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 1010. 179 Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 10. Vgl. im Übrigen den Wortlaut der Präambel der Charta, Nr. 5: „Diese Charta bekräftigt die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, aus dem Vertrag über die Europäische Union und aus den Gemeinschaftsver169

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

durch eine Bündelung und Aufbereitung von bereits Vorhandenem transparent und verständlich zu machen. Zugleich sollten Identität und Legitimität der Europäischen Union gestärkt werden,180 die Charta sollte „Signalwirkung“ 181 erzielen. Überdies bezweckte man, die im EUV enthaltenen allgemeinen Grundsätze des „Europäischen Verfassungsrechts“ 182 fortzuentwickeln und zu präzisieren und den Konsens über Wertvorstellungen183 zwischen den Mitgliedstaaten zu verbreiten. Zwar beruft sich der EuGH schon seit langem auf die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, sowie auf die EMRK samt ihren Zusatzprotokollen,184 insbesondere aber auf Art. 6 und 13 EMRK.185 Gleichwohl gingen die Bestrebungen dahin, die Grundrechte in einer „EU-eigenen“ Charta zu verbriefen. Insofern kann durchaus von einer „neuen Dimension“ 186 der Grundrechte auf Unionsebene gesprochen werden. Art. 47 Abs. 2 S. 1 der EU-Charta – Art. 6 Abs. 1 EMRK inhaltlich weitgehend entsprechend – lautet: trägen, aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Gemeinschaft und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.“ (Entwurf vom 21. September 2000; CONVENT 47, CHARTE 4470 mit den Änderungen 1/00 Rev. 1). 180 EuG, Slg. 2000, II-2487 (2517) Rn. 78 – Salamander. 181 Tettinger, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 1010. 182 Ob es diesen Begriff überhaupt gibt, ist umstritten, wird doch traditionell der Begriff der Verfassung notwendig mit dem des Staates und seiner Souveränität verknüpft; bejahend Arnold, Begriff und Entwicklung des Europäischen Verfassungsrechtes, S. 855 ff.; zum Streitstand: Jacqué, Konstitutionalisierung oder Vertragsrevision?, S. 551 ff.; Wichard, Konstitutionalisierung oder Vertragsrevision?, S. 556 ff.; ausführlich Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 148 ff., der den Verfassungsbegriff völlig von der Voraussetzung der Staatlichkeit lösen will. Kritisch zum Verfassungsbegriff Kirchhof: Der „Begriff Verfassung würde vorspiegeln, dass ein Staat entsteht, wo kein Staat entstehen soll“ (so gegenüber dem Rheinischen Merkur, zit. bei Hirsch, EG: Kein Staat, aber eine Verfassung?, S. 46), sowie Di Fabio: Verfassung für die EG als Etikettenschwindel, als „Trojanisches Pferd“ mit der Staatlichkeit der Gemeinschaft im Bauch (zit. bei Hirsch, EG: Kein Staat, aber eine Verfassung?, S. 46). Zusammenfassend Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1165 Fn. 1, sowie Nettesheim, Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, S. 1 ff. 183 Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, S. 516. Ähnlich Nettesheim, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 42 f. 184 Schmidt-Preuß, Regierungskonferenz 2000, S. 730. 185 Calliess, Kohärenz und Konvergenz beim europäischen Individualrechtsschutz, S. 3577. Im Fall Carpenter, EuGH, Slg. 2002, I-6279, wurde die recht großzügige Auslegung der Grundfreiheiten durch den EuGH, die letztlich zu einer mittelbaren Anwendung der EMRK beim Handeln nationaler Behörden führte, teilweise sehr kritisch beurteilt; vgl. Britz, Bedeutung der EMRK für nationale Verwaltungsgerichte und Behörden, S. 173 ff. 186 So Everling, Europäische Union, Europäische Menschenrechtskonvention und Verfassungsstaat, S. 71.

Kap. 1: Geschichte der Verfahrensdauer als Faktor im Recht

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„Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. (. . .).“

Art. 47 Abs. 2 S. 1 der EU-Charta unterscheidet sich von Art. 6 Abs. 1 EMRK insoweit, als er sich nicht auf zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen beziehungsweise eine strafrechtliche Anklage beschränkt, sondern weitergehend alle Streitsachen erfasst – „ihre Sache“/„sa cause“ – einschließlich eines Anspruchs auf Prozesskostenhilfe.187 Der Schutzbereich des Art. 47 Abs. 2 EUCharta geht damit in seiner Reichweite über die in Art. 6 Abs. 1 EMRK postulierten Voraussetzungen, aber auch über die Verfassungstraditionen mancher Mitgliedstaaten hinaus.188 Dies wird aus dem Charakter der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft189 gefolgert.190 Gut vergleichen lässt sich die Norm mit der allgemeinen Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.191 In der Praxis werden bei der Anwendung des Art. 47 Abs. 2 S. 1 der EU-Charta die entsprechenden Präzisierungen durch den EGMR zu den einzelnen enthaltenen Verfahrensgarantien analog herangezogen.192 Die enge Anlehnung an die EMRK erfolgte vor dem Hintergrund, dass die Mehrheit im Grundrechtskonvent die Auffassung vertrat, der einheitliche Grundrechtsschutz in Europa dürfe keinesfalls gefährdet werden.193 Diese Befürchtung fand letztlich ihren Niederschlag in Art. 52 Abs. 3 der EU-Charta,194 der die Inkorporation der EMRK in die Charta bewirkt.195 Die Transferklausel hat außerdem zur Folge, dass auch die Rechtsprechung des EGMR – und zwar unabhängig von einem möglichen Beitritt der Union zur EMRK – für die Auslegung der inkorporierten Rechte maßgeblich ist.196 187

Pache, Faires Verfahren auf europäischer Ebene, S. 603. Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 263 f. 189 So der EuGH in der Sache „Les Verts“ ./. Europäisches Parlament, Rs. 294/83, Urt. v. 23. April 1986, Slg. 1986, S. 1339 (1365). 190 Eser in Meyer, Kommentar zur EU-Charta, Art. 47 Rn. 26. Ebenso die Erläuterung des Konventspräsidiums im Anschluss an das Urteil „Les Verts“ in Charte 4473/ 00 zu Art. 47 Abs. 2, Bernsdorff/Borowsky, Protokolle, S. 39. 191 Eser in Meyer, Kommentar zur EU-Charta, Art. 47 Rn. 26; Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 263 f. 192 So auch nach den Erläuterungen des Konventspräsidiums Charte 4473/00 zu Art. 47 Abs. 2, Bernsdorff/Borowsky, Protokolle, S. 39. 193 So auch Beutler, in von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 6 Rn. 98. 194 Art. 52 Abs. 3 lautet: Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt. 195 Borowsky in Meyer, Kommentar zur EU-Charta, Art. 52 Rn. 8. 196 Borowsky in Meyer, Kommentar zur EU-Charta, Art. 52 Rn. 37. Vertiefend Tettinger, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 1012. 188

190

2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Art. 47 Abs. 2 S. 1 der EU-Charta zeigt, dass die Bestrebungen, des Problems überlanger Verfahrensdauer Herr zu werden, auch im Konglomerat europäischer Rechtsentwicklung und Rechtsfortbildung einen festen Platz eingenommen haben. Im auf Eis liegenden Europäischen Verfassungsvertrag ist die Charta in Teil II des Vertrages (Art. II-107 Abs. 2 S. 1)197 wortgleich inkorporiert.198 Die EU-Charta wurde bis heute nicht für verbindlich erklärt;199 dies war offenbar auch bei der Proklamation durch den Europäischen Rat in Nizza nicht beabsichtigt:200 Vielmehr war die Entstehung der Charta von dem Gedanken getragen, „ohne Klärung ihres rechtlichen Status die Charta so zu formulieren, ,als ob‘ sie ein verbindlicher Rechtstext werden sollte“ (Ingolf Pernice).201 Sie kann damit lediglich als „Rechtserkenntnisquelle“ 202 dienen.203 Gleichwohl kommt ihr wesentliche Bedeutung für die gemeinschaftliche Fortentwicklung der europäischen „Grundrechte“ zu.204 Insbesondere gewährleistet sie, dass jedenfalls der Standard der EMRK gewahrt wird.205 Die EMRK ist damit neben den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten als maßgebliche Grundlage für die Auslegung der Gemeinschaftsgrundrechte anzusehen.206 Ähnlich verhält es sich mit der in den Vertrag über eine Verfassung für Europa übernommenen Grundrechte-Charta: Sie befindet sich als Teil des Verfassungsvertrags nach wie vor im Ratifizierungsverfahren. Als Rechtserkenntnisquelle für die europäischen

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Abrufbar unter: http://europa.eu.int/constitution. Oppermann, Europarecht, § 1 Rn. 45. Der Verfassungskonvent konnte sich dabei auf die Vorarbeiten des Herzog-Konvents stützen, vgl. hierzu Papier, Die Neuordnung der Europäischen Union, S. 756. 199 Hierzu Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, S. 1. 200 Scholz, Zur Europäischen Grundrechtscharta, S. 995. 201 Pernice, Die Europäische Verfassung, S. 1333. 202 Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 4. 203 Auch die Generalanwälte am EuGH nehmen auf die Charta häufig Bezug und wählen angesichts deren mangelnder Verbindlichkeit die Formulierung „. . . und wie sie auch in der Charta der Grundrechte sichtbar werden.“ Nachweise bei Alber/Widmaier, Mögliche Konfliktbereiche und Divergenzen im europäischen Grundrechtsschutz, S. 113. 204 So auch Nettesheim, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 41. 205 Vgl. den Wortlaut des Art. 53 der Charta: „Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung . . . auszulegen“, was auch die im Zweifelsfall konkurrierende Norm des Art. 52 Abs. 3 der Charta („So weit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“) erfasst. Vgl. zur Homogenitätsklausel des Art. 52 Abs. 3 S. 2 EU-Charta auch Herdegen, Europäische Grundrechtsordnung, S. 7. 206 Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, S. 11. 198

Kap. 2: Methoden zur Auslegung der EMRK

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Gerichte leistet sie – sollte auch die Ratifizierung des Verfassungsvertrages ein Wunschziel bleiben – gleichwohl einen wichtigen Beitrag.

Kapitel 2

Methoden zur Auslegung der EMRK „The interpretation of documents is to some extent an art, not an exact science.“ 207

I. Vorbemerkungen Bevor im Rahmen der folgenden Kapitel auf die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie deren Auslegung durch den EGMR eingegangen werden kann, muss vorab – zum Verständnis der Vorgehensweise des Gerichtshofes – ermittelt werden, nach welchem Maßstab die Normen der EMRK auszulegen sind. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag.208 Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge bestimmt sich zunächst einmal nach den allgemeinen Auslegungsregeln der Art. 31 ff. der am 23. Mai 1969 angenommenen und am 27. Januar 1980 in Kraft getretenen209 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK).210 Der Charakter der EMRK lässt sich darüber hinaus nochmals präzisieren: Die EMRK stellt einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag im Sinne der Art. 1, 2 Abs. 1 lit. a WVK dar.211 Als multilateraler Vertrag trägt sie die Bezeichnung „Konvention“.212 Bei der Auslegung eines solchen völkerrecht207

Aust, Modern treaty law and practice, S. 184. Allgemein zur Entstehungsgeschichte der EMRK Partsch, Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention, S. 631 ff. 209 Gem. Art. 84 Abs. 1 WVK tritt dieselbe am dreißigsten Tag nach Hinterlegung der fünfunddreißigsten Ratifikationsurkunde in Kraft. Dies geschah am 27. Januar 1980 mit der Hinterlegung durch den westafrikanischen Staat Togo. Die Bundesrepublik hat die WVK am 20. August 1987 ratifiziert, BGBl. 1985 II S. 926 vom 3. August 1985 und BGBl. 1987 II, S. 757. 210 Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, 1. Abschn., Rn. 123; Matscher, Methoden der Auslegung der EMRK, S. 105; Villiger, Articles 31 and 32 of the Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 317; Bezgovsek, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und das steuerrechtliche Verfahren, S. 31. Vor Inkrafttreten der WVK wurden deren Auslegungsgrundsätze gleichwohl bei der Auslegung der EMRK berücksichtigt, da es sich bei den Art. 31 ff. WVK um völkergewohnheitsrechtliche Bestimmungen handelt, vgl. Golder ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 4451/70, Urt. v. 21. Februar 1975, Ziff. 30; sowie Sunday Times ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 6538/ 74, Urt. v. 26. April 1979, Ziff. 48. 211 „Görgülü“-Beschluss des BVerfG v. 14. Oktober 2004 = EuGRZ 2004, S. 741 (744); Fink, Verfahren zum Schutz der EMRK, S. 91; Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 128. 212 Vgl. hierzu Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, 1. Abschn., Rn. 115. 208

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

lichen Vertrages ist nicht allein von den aus dem nationalen Recht bekannten vier Auslegungsmethoden Wortsinn, Entstehungsgeschichte, Telos und Systematik auszugehen. Vielmehr stellen die Grundnormen der Art. 31 ff. WVK den Ausgangspunkt dar,213 wobei Art. 31 Abs. 1 WVK als kodifizierte214 „Schlüsselbestimmung“ 215 eine Kombination wiederum der herkömmlichen Auslegungsmethoden, umspannt durch das Prinzip von Treu und Glauben216 (bona fide) verkörpert217 und sich im Ergebnis mit der „herkömmlichen“ Vorgehensweise weitgehend deckt.218 Die von den Straßburger Organen praktizierte „autonome“ Auslegung sowie der am Ende dieses Kapitels erörterte margin of appreciation sind im Katalog dieser Auslegungsmethoden nicht enthalten. Die autonome Auslegung stellt teilweise eine Symbiose dieser vier Methoden dar, teilweise enthält sie auch neue Interpretationsansätze, weshalb diese Auslegungsvariante – vor allem im Hinblick auf ihre Relevanz für die folgenden Kapitel – an dieser Stelle nicht fehlen darf. Ebenso ist die Darstellung des margin of appreciation für den Verlauf der vorliegenden Arbeit unentbehrlich, da er eng mit den herkömmlichen Auslegungsmethoden verbunden ist. Gegebenenfalls lassen sich aus ihm Erkenntnisse für die folgenden Kapitel ableiten. Die Darstellung der kodifizierten Auslegungsmethoden nach Art. 31 ff. WVK ist an dieser Stelle nicht weniger bedeutsam, da erst aus diesen heraus die „autonome“ Auslegung entwickelt und die Konzeption des margin of appreciation verständlich gemacht werden kann. II. Die Auslegungsmethoden nach Art. 31 ff. WVK 1. Art. 31 Abs. 1 WVK – Wortlautinterpretation Art. 31 Abs. 1 WVK enthält neben der systematischen und der teleologischen Interpretationsmethode219 in Übereinstimmung mit der objektiven Theorie220 213 Vgl. Matscher, Les Contraintes de l’Interprétation juridictionnelle, S. 18; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 149. 214 Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, 1. Abschn., Rn. 123; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 22 I 1. 215 Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, 1. Abschn., Rn. 123. 216 Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 138. 217 v. Münch, Völkerrecht, 4.3.4. 218 Bleckmann, Staatsrecht II, § 3 I 2 k; zumindest missverständlich erscheint daher die Vorgehensweise von Herbert Miehsler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 1 ff., der entgegen der Auslegungsmethodik bei völkerrechtlichen Verträgen nicht von den Grundnormen der Art. 31 ff. WVK ausgeht, um daraus die herkömmlichen Auslegungsmethoden zu entwickeln, sondern lediglich die vier Methoden darstellt, ohne Art. 31 ff. WVK auch nur zu erwähnen. 219 Zum Sonderfall der historischen Auslegung gem. Art. 32 WVK im Folgenden.

Kap. 2: Methoden zur Auslegung der EMRK

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die Grundregel, dass unabhängig vom Parteiwillen der beteiligten Vertragsparteien nur auf den Wortlaut des Vertragstextes221 der auszulegenden Bestimmung abzustellen ist.222 Maßgeblich ist nach überwiegender Auffassung die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch gewöhnliche Bedeutung der verwendeten Begriffe – ordinary meaning-rule – zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses.223 Hierbei stellt sich im Hinblick nicht nur auf die EMRK folgendes Problem: Kann etwa auf die Fassung der deutschen amtlichen Übersetzung abgestellt werden, die teilweise zu anderen (Auslegungs-)Ergebnissen führt als der englische und der französische Vertragstext? Bei Art. 6 Abs. 1 EMRK drängt sich diese Frage geradezu auf: So ist bereits bei der Prüfung des Anwendungsbereichs dieser Bestimmung fraglich, wie der in der deutschen Übersetzung verwendete Begriff der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ zu verstehen ist – spielt hier die Bedeutung dieser Termini im nationalen Recht eine Rolle bei der Interpretation? Bejahendenfalls hätte dies verschiedene Auslegungsvarianten zur Folge: „Zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen“ im Sinne der deutschen Fassung des Art. 6 Abs. 1 EMRK wären auf einen engen Anwendungsbereich beschränkt, eine Anwendung des Art. 6 Abs. 1 EMRK etwa auf verwaltungsrechtliche 224 oder sozialversicherungsrechtliche225 Verfahren – die Kernbereiche des öffentlichen Rechts nach hiesiger Rechtstradition – käme nach rein deutscher Sichtweise nicht in Betracht. Bei genauerer Betrachtung wird ersichtlich, dass die Übersetzung nicht ausschlaggebend sein kann. Anderenfalls hätte es der nationale Gesetzgeber in der Hand, einseitig den Anwendungsbereich einer völkerrechtlichen Norm einzu220 Die objektive Theorie ihrerseits besagt, dass ausschließlich auf den Vertragstext und allenfalls zur Aufklärung textlicher Widersprüche auf die Travaux Préparatoires zurückzugreifen ist, vgl. hierzu Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 776; Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 640; sowie Mössner, Einführung in das Völkerrecht, S. 123. Im Gegensatz hierzu steht die von Hugo Grotius (De Jure Belli ac Pacis, Kapitel 16 I 2, S. 289) begründete Auffassung, die entscheidend auf den Parteiwillen abstellt: „Rectae interpretationis mensura est collectio mentis ex signis maxime probabilibus. Ea signa sunt duum generum, verba et conjecturae aliae: quae aut seorsim considerantur, aut conjunctim“ – „Der Maßstab der richtigen Auslegung ist die Ableitung des Sinnes aus den wahrscheinlichsten äußeren Zeichen. Diese Zeichen sind zweifache, Wörter und andere Zeichen; sie können für sich oder in Verbindung in Betracht kommen.“ 221 Bernhardt, Auslegung, S. 58. 222 Matscher, Methoden der Auslegung der EMRK, S. 105; Mosler, Problems of Interpretation, S. 154; zum Charakter dieser „general rule“ vertiefend Brownlie, Principles of Public International Law, S. 633 ff. 223 Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 641. 224 Vgl. den Fall König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978. 225 Vgl. den Fall Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

engen oder auszudehnen.226 Zu berücksichtigen ist vielmehr der Umstand, dass für die EMRK nur zwei authentische Vertragstexte existieren, nämlich der französische und der englische, wohingegen es sich bei der deutschen Fassung lediglich um eine amtliche Übersetzung handelt.227 Die deutsche Übersetzung kann daher keine taugliche Grundlage für die Wortinterpretation sein,228 sie fungiert vielmehr als bloße Hilfestellung für die deutschen Rechtsanwendungsorgane. Eigene rechtliche Bedeutung kann ihr – dies zeigt auch die Schlussklausel229 – nicht zukommen.230 Art. 33 Abs. 2 WVK, eine Sonderregelung für die Wortsinnauslegung bei Verträgen mit zwei oder mehr authentischen Sprachen, bestätigt diesen Befund: Hiernach stellte die deutsche Übersetzung nur dann einen für die Auslegung heranzuziehenden relevanten Text dar, wenn die EMRK dies vorsähe oder die Vertragsparteien dies gesondert vereinbart hätten, was freilich nicht der Fall ist. Für die Straßburger Organe231 ist daher die deutsche Übersetzung unbeachtlich, sie haben sich nur an den authentischen englischen und französischen Texten zu orientieren232 – an diesen beiden freilich gleichermaßen.233 Die Verbindlichkeit beider Sprachfassungen folgt aus Art. 33

226 In diese Richtung auch Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 149 f. Ähnlich argumentiert auch der EuGH bei der Auslegung von Gemeinschaftsrechtstexten: EuGH, Rs. 207/81, Felicitas/Finanzamt für Verkehrssteuern, Slg. 1982, 2771, 2784; EuGH, Rs. C-50/91, Commerz-Credit-Bank, Slg. 1992, I-5225, 524. 227 BGBl. II 1952, 686. – Deshalb wurde im Bundesgesetzblatt nicht nur der deutsche Text verkündet, sondern auch die beiden Originaltexte zusammen mit der deutschen Übersetzung. 228 Vgl. Brötel, Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 349. Dagegen ging das OVG Münster (Beschl. v. 25. November 1955, NJW 1956, 1374 f.) fälschlicherweise von der Maßgeblichkeit des deutschen Textes aus: „Nach feststehendem deutschem Sprachgebrauch“ seien Gerichte, die über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage zu entscheiden haben, lediglich die sog. ordentlichen Gerichte, nicht aber die Verwaltungsgerichte, die über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zu entscheiden haben. Auch das BVerwG folgte diesem Trugschluss (Beschl. v. 16. September 1957, MDR 1957, 697; sowie Beschl. v. 27. Februar 1958, MDR 1958, 446). 229 Die Schlussklausel der EMRK (nach Art. 59 EMRK) lautet: „Done at Rome, this 4th day of November 1950, in English and French, both texts being equally authentic, in a single copy which shall remain deposited in the archives of the Council of Europe. The Secretary General shall transmit certified copies to each of the signatories.“ 230 Miehsler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 3. 231 Für die deutschen Rechtsanwendungsorgane gilt, dass sie zwar die deutsche Übersetzung heranziehen können, diese jedoch immer im Lichte der authentischen Texte anwenden und im Zweifelsfall auf die authentischen Texte zurückgreifen müssen, vertiefend Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 188 ff. 232 Partsch, Rechte und Freiheiten der EMRK, S. 84. 233 Fehl geht deshalb die von Mayer, Zivilrechtsbegriff und Gerichtszuständigkeit, S. 479 f., vertretene Auffassung, der französischen Fassung wäre deshalb der Vorrang einzuräumen, weil die englische Fassung eine Abgrenzung zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht nicht kenne und deshalb weiter sei als die französische Fassung.

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Abs. 1 WVK: Die Vertragsparteien der EMRK haben sich nicht auf eine „führende Sprache“ 234 geeinigt, sondern den englischen und den französischen Wortlaut als gleichermaßen verbindlich festgelegt, was darüber hinaus die Vermutung des Art. 33 Abs. 3 WVK zur Folge hat, dass die Ausdrücke des Vertrages in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben.235 Wie aber ist vorzugehen, wenn sich bei unterschiedlichem Wortlaut der beiden authentischen Textfassungen trotz der Vermutung des Art. 33 Abs. 3 WVK eine einheitliche Bedeutung nicht ermitteln lässt? Deutlich wird dies am Beispiel des Art. 6 Abs. 1 EMRK – „in the determination of his civil rights and obligations“ beziehungsweise „des contestations sur ses droits et obligations de caractère civil“ 236: Die englische Fassung ist relativ weit gefasst237 und hat mit der aus der kontinentaleuropäischen Rechtstradition bekannten Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht nichts zu tun. Von einer Begrenzung des Begriffs auf eine bestimmte Rechtskategorie kann daher nicht ausgegangen werden. Die französische Fassung ist nach vielfach vertretener Auffassung238 enger gefasst als der korrespondierende englische Ausdruck; gleichwohl ist fraglich, ob ihr entnommen werden kann, dass die Formulierung nur zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Blick hat, wie es aus der deutschen Fassung abgeleitet werden kann.239 Vielmehr lautet die französische Formulierung: „droits . . . de caractère civil“, und nicht „droits civils“. Möglicherweise bezweckt die Formulierung der französischen Fassung auch, den Anwendungsbereich auf alle Menschenrechte, also die Freiheitsrechte, zu erstrecken und diese von den politischen, den Bürgerrechten, abzugrenzen.240 Eine – wenn auch nur begrenzt hilfreiche – Regelung zur Frage des Bedeutungsgehalts beim Vorliegen zweier unterschiedlicher Textfassungen findet sich

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Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 783. Davon zu unterscheiden ist allerdings die Möglichkeit, dass derselbe Begriff in verschiedenen Vertragswerken eine unterschiedliche Bedeutung haben kann; vgl. hierzu Matscher, Vertragsauslegung, S. 561. 236 Der Ausdruck „civil rights“ ist nicht ohne weiteres der Formulierung „droits de caractère civil“ gleichzusetzen, vgl. hierzu ausführlich Buergenthal/Kewenig, Zum Begriff der Civil Rights in Artikel 6 Absatz 1 der EMRK, S. 405 f. 237 „Civil rights“ im Gegensatz zu „droits de caractère civil“. „Civil rights“ werden nach englischem Rechtsverständnis als „liberties“ aufgefasst; dieser Ausdruck stellt einen Sammelbegriff für verschiedene Einzelrechte dar. Häufig werden sie daher auch gemeinhin als Bürgerrechte bezeichnet, vertiefend Miehsler in Karl, IntKomm-EMRK, Art. 6 Rn. 7 ff. 238 Zum Streitstand vgl. Buergenthal/Kewenig, Zum Begriff der Civil Rights in Artikel 6 Absatz 1 der EMRK, S. 405. 239 Bejahend Mayer, Zivilrechtsbegriff und Gerichtszuständigkeit, S. 477 ff., unter Verweis auf die gemeinsamen Rechtstraditionen. 240 So Buergenthal/Kewenig, Zum Begriff der Civil Rights in Artikel 6 Absatz 1 der EMRK, S. 405. Weitere Nachweise bei Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 57. 235

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in Art. 33 Abs. 4 WVK.241 Der EGMR hat dieses Problem – allerdings vor Inkrafttreten der WVK242 – folgendermaßen gelöst: Im Fall Wemhoff 243 berief er sich auf den normativen Charakter der EMRK, der dazu führe, dass der Textstelle „entsprechend einer ständigen völkerrechtlichen Rechtsprechung“ im Falle zweier authentischer, aber nicht übereinstimmender Textfassungen der Sinn beizulegen sei, der von beiden Fassungen soweit als möglich gedeckt ist.244 Diese Vorgehensweise kann als Ermittlung des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ bezeichnet werden.245 Angewandt wurde diese Methode bereits 1924 vom Ständigen Internationalen Gerichtshof (StIGH) im Fall Mavrommatis Palestine Concessions,246 wo zwei Fassungen gleicher Geltungskraft im Streit standen, von denen eine weiter gefasst war als die andere. Hier, so der StIGH, müsse die engere der beiden Fassungen angewandt werden. Dies führe zu einer Harmonisierung beider Versionen und stünde im Einklang mit dem Willen beider Parteien. Auch im Flegenheimer-Fall247 fand das Prinzip des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ Erwähnung. Der italienisch-amerikanische Schlichtungsausschuss stützte sich auf den engsten der drei verbindlichen Texte des Friedensvertrages mit Italien aus dem Jahre 1947 – „when the texts . . . cannot be exactly recon-

241 Zur Anwendung des Art. 33 Abs. 4 WVK in der neueren Rechtsprechung vgl. den Fall La Grand (Germany./. United States of America), IGH v. 27. Juni 2001, abrufbar unter http://www.icj-cij.org. 242 Die in der WVK niedergelegten Auslegungsgrundsätze fanden auch schon vor deren Inkrafttreten Anwendung, da es sich bei der WVK um die Kodifizierung bestehenden Völkergewohnheitsrechts handelt. Ob davon auch in Bezug auf Art. 33 Abs. 4 WVK ausgegangen werden kann, wird im Folgenden erörtert. 243 Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968. 244 Ziff. 8 des Urteils. Die EMRK stellt im Gegensatz zum rechtsgeschäftlichen – contractual treaty – einen normativen – law-making treaty – Vertrag dar, Mosler, Problems of Interpretation, S. 161. Normativ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die vertragschließenden Staaten weniger gegenseitige subjektive Rechte und Pflichten begründen, als vielmehr objektive Rechte statuieren wollen. Die WVK differenziert nicht zwischen diesen beiden Vertragsarten. Gleichwohl hob der EGMR die Relevanz des law-making treaty im Fall Wemhoff zu Recht hervor, hätte sich die Auslegung im Falle des Vorliegens eines contractual treaty doch ohne weiteres an dem orientieren können, was die beiden vertragsschließenden Parteien (mutmaßlich) gewollt haben. Eine Auslegung an Sinn und Zweck der Konvention wäre nicht erforderlich gewesen. Anschaulich zur Unterscheidung zwischen law-making treaties und andersartigen Verträgen Brownlie, Principles of Public International Law, S. 11 ff. 245 Ähnlich Partsch, Rechte und Freiheiten der EMRK, S. 83. 246 Urt. v. 30. August 1924, Séries A, No. 2, S. 19; abrufbar unter http://www. worldcourts.com. Im Mavrommatis-Konzessionen-Fall hatte sich der Gerichtshof mit der Auslegung eines Mandatsvertrages, in dem der Völkerbund Großbritannien die Verwaltung über Palästina übertragen hatte, zu befassen. Dabei entschied er sich angesichts einer Divergenz zwischen dem französischen (propriété ou . . . contrôle public) und dem englischen (public ownership or control) Text für den engeren englischen Text. 247 Entsch. der Italian-United States Conciliation Commission v. 20. September 1958, ILR 25 (1958 I), S. 91 (155 f.).

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ciled . . ., adjustment should be made on the basis of a common denominator . . .“ 248 Freilich entstammen die erwähnten Judikate der Zeit vor Inkrafttreten der WVK, weshalb aus ihnen keine verallgemeinerungsfähigen Schlüsse gezogen werden können. Zudem haben andere internationale Gerichte dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners unter Verweis auf Art. 33 Abs. 4 WVK später ausdrücklich eine Absage erteilt.249 In der völkerrechtlichen Literatur war die Frage vor allem vor Inkrafttreten der WVK umstritten.250 Vereinzelt wird aber auch im neueren Schrifttum noch auf das Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners zurückgegriffen.251 Ein Blick auf Art. 33 Abs. 4 WVK ist nur begrenzt hilfreich: Nach dieser Norm ist diejenige Bedeutung zugrunde zu legen, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrags „die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt“. Dieser Regel kann zwar nicht ausdrücklich entnommen werden, dass der Rückgriff auf das Prinzip des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ ausgeschlossen sein soll. Bei Ermittlung dieses Nenners wird ja gerade ein Einklang der beiden divergierenden Wortlaute erzielt, indem das sprachlich gemeinsame und identische Minimum ermittelt wird. Genauso wenig ist der Bestimmung aber eine Entscheidung für dieses Prinzip zu entnehmen.252 Stattdessen stellt Art. 33 Abs. 4 WVK den Effektivitätsgedanken in den Vordergrund:253 Neben dem Ziel größtmöglicher Annäherung im Verständnis der verschiedenen Texte soll die Verwirklichung von Ziel und Zweck des Vertrages in die Auslegung einbezogen werden. Angestrebt wird demzufolge eine am effet utile ausgerichtete Auslegung. Im Vordergrund soll die Harmonie zwischen den divergierenden Fassungen stehen, nicht die Reduktion auf das kleinste Gemeinsame. Das Prinzip der Reduzierung zweier Fassungen auf ihr 248 Entsch. der Italian-United States Conciliation Commission v. 20. September 1958, ILR 25 (1958 I), S. 155 f. 249 Am deutlichsten kommt dies zum Ausdruck in der Entscheidung des Schiedsgerichtshofs für das Abkommen über deutsche Auslandsschulden im Young-Anleihe-Fall, GYIL 23 (1980), S. 414 [435 ff.]. Der EGMR hat sich dieser Ansicht angeschlossen im Fall Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971, Ziff. 89–92. 250 Befürwortet hat das Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners unter Berufung auf den Mavrommatis Palestine Concessions-Fall Berber, Lehrbuch des Völkerrechts (1960), S. 444, allerdings lediglich in der 1. Auflage vor Inkrafttreten der WVK. Die 2. Auflage (Berber, Lehrbuch des Völkerrechts [1975]) verfolgt dieses Prinzip dagegen unter Berufung auf Art. 33 Abs. 4 WVK nicht mehr (dort S. 478 f.). Auch nach Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 653, stellt sich dieses Problem unter der WVK nicht. 251 Für die Anwendung dieses Prinzips u. a. O’Connell, International Law Bd. 1, S. 258, dagegen etwa Parry, The Law of Treaties, S. 214: „There is certainly no rule that a species of lowest common denominator of the texts is to be sought – a hybrid version imposing the least obligation“. 252 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 96, Fn. 413. 253 So auch Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 653.

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gemeinsames Minimum erscheint zu formal254 und ist überdies nicht dazu geeignet, eine Willensäußerung zu deuten – die reduzierte der beiden Fassungen hatte ja möglicherweise vor ihrer Kürzung auf das kleinste Gemeinsame einen ganz anderen Bedeutungsgehalt.255 Auch kann im Einzelfall fraglich sein, welche von zwei beziehungsweise mehreren Fassungen einen engeren Bedeutungsgehalt aufweist.256 Ferner betont Art. 33 Abs. 3 WVK das Prinzip der Gleichrangigkeit aller authentischen Texte,257 was aber mit einer Reduzierung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, die zwingend die schwächere Gewichtung zumindest einer der Textfassungen zur Folge hat, nur schwer vereinbar ist. Die Vermutung des Art. 33 Abs. 3 WVK würde so bei jeder Anwendung des Art. 33 Abs. 4 WVK widerlegt, was Sinn und Zweck des Art. 33 WVK insgesamt widerspricht. Im Übrigen stellt diese Methode allenfalls im Rahmen eines bilateralen Vertrages ein probates Mittel dar; bei einem Kollektivvertrag wie der EMRK jedoch, die ein rechtsetzendes Übereinkommen darstellt, vermag eine derart restriktive Auslegung nicht zu überzeugen.258 Kollektivverträge haben zumeist das Ziel der Integration, dienen der Gründung internationaler Organisationen oder haben ganz einfach rechtsetzenden Charakter und müssen demzufolge nach dem Zweck des Vertrages zur wirksamen Erreichung der Vertragsziele ausgelegt werden. Eine restriktive Auslegung wäre hier kontraproduktiv. Im Ergebnis kann eine restriktive Auslegung, gründend auf dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners, bei einem multilateralen Vertrag allenfalls dort eine Rolle spielen, wo sie sowohl mit dem Willen der Vertragspartner, dem Vertragszweck als auch mit dem Gesamtkontext in Einklang gebracht werden kann. Als isolierter, vom Willen der Vertragspartner gelöster Grundsatz kann sie jedoch keinen Geltungsanspruch erheben.259 Ebenso verhält es sich mit Lösungsansätzen, die sich dem Vorrang des „inländischen Texts“, dem für die verpflichtete Partei „günstigsten Text“ oder der „klarsten Bedeutung“ verschreiben wol-

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Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 97. Beispiel: Ein Wort hat in der einen Sprache die Bedeutung a und b, das entsprechende Wort in der anderssprachigen Fassung die Bedeutung b und c oder nur b. Nach dieser Regel wäre allein die Bedeutung b maßgeblich. 256 Vor dieses Problem sahen sich wohl auch in Bezug auf den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK („civil rights“ bzw. „droit . . . de caractère civil“) Buergenthal/Kewenig, Zum Begriff der Civil Rights in Artikel 6 Absatz 1 der EMRK, S. 406, gestellt, die kurzerhand feststellen mussten, dass „unklar bleibt, inwieweit sich die beiden Begriffe materiell decken.“ Auch Mössner, Auslegung mehrsprachiger Staatsverträge, S. 284 f., beschreibt die hieraus resultierenden Schwächen. 257 Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 653. 258 So im Ergebnis auch Brötel, Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 349. 259 So auch Lagoni, in: Menzel/Ipsen, Völkerrecht, S. 322, der die Anwendung dieses Prinzips unter Verweis auf das Effektivitätsprinzip des Art. 33 Abs. 4 WVK für sämtliche Vertragsarten ablehnt. Ebenso die aktuelle Auflage, Ipsen, Völkerrecht, Rn. 22. 255

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len.260 Die Konvention folgt ihrer Formulierung nach keinem dieser Ansätze, sondern gewährt derjenigen Auslegung den Vorzug, die nach Maßgabe von Gegenstand und Zweck des Vertrags die divergierenden Texte am besten miteinander versöhnt („which best reconciles“).261 Diese Lösung vermag zu überzeugen, da es sich ja nicht um die Auslegung „mehrerer Verträge“, sondern eines einzigen Vertrages handelt, der eben nur in mehreren authentischen Sprachen verfasst ist. Verbleiben bei dieser harmonisierenden Auslegung gleichwohl Restzweifel hinsichtlich der Bedeutung einer Begrifflichkeit, so ist gemäß Art. 33 Abs. 4 WVK ein Blick auf die in Art. 31 und 32 WVK geregelten Auslegungsmethoden Systematik, Telos und Entstehungsgeschichte zu werfen. 2. Systematik – Art. 31 Abs. 1 und 2 WVK Gem. Art. 31 Abs. 1 und 2 WVK ist ein Vertrag „in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung“ auszulegen. Unter „Zusammenhang“ in diesem Sinn ist nach den allgemeinen, bereits vor Inkrafttreten der WVK gebräuchlichen Auslegungsregeln262 die Stellung des auszulegenden Begriffs im gesamten Text oder in einem Textteil des Vertrages zu verstehen. Art. 31 WVK geht freilich weit über diese rein textbezogene Bedeutung hinaus: Unter „context“ ist vielmehr neben dem Vertragstext, seiner Präambel sowie etwaiger Protokolle oder Annexe auch jede weitere zwischen den Vertragsparteien im Zusammenhang mit dem Vertragsschluss sonst geschlossene Übereinkunft zu verstehen. Art. 31 Abs. 2 WVK erläutert, was diesem Zusammenhang unterfällt. Daneben sind gem. Art. 31 Abs. 3 WVK die dort aufgeführten Punkte – spätere Übereinkünfte zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrages, jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages, jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz – zu berücksichtigen.263 In Bezug auf die EMRK264 müssen hier vor allem die jeweils an260 Vgl. zu den verschiedenen Lösungsansätzen die Nachweise bei Schmitt, Zur Wiener Konvention über das Recht der internationalen Verträge, S. 367 f. 261 Schmitt, Zur Wiener Konvention über das Recht der internationalen Verträge, S. 368. 262 Vgl. hierzu Köck, Vertragsinterpretation, S. 31 f. 263 Der Grund dafür, dass diese Punkte außerhalb des „Zusammenhangs“ im Sinne des Art. 31 Abs. 2 WVK genannt werden, liegt wohl darin, dass man nicht als „Zusammenhang“ eines Vertrages bezeichnen wollte, was zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht notwendigerweise gegeben ist. Hierzu Köck, Vertragsinterpretation, S. 91. In Bezug auf die EMRK ist dies insoweit von Bedeutung, als die WVK rund 15 Jahre nach der EMRK in Kraft trat und die EMRK bis dahin nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen interpretiert wurde. Die Kodifizierung des weiten Kanons des Art. 31 Abs. 2 und 3 WVK ist damit der mit der Zeit zunehmenden Tendenz nachgekommen, den Kreis um ein Vertragswerk weiter zu ziehen und nicht bei diesem selbst einschließlich seiner Annexe stehen zu bleiben.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

deren in der Konvention und ihren Zusatzprotokollen enthaltenen Rechte sowie inhaltlich verwandte völkerrechtliche Instrumente265 Erwähnung finden. Auch die Satzung des Europarats spielt dabei eine Rolle.266 Gerade bei Art. 6 Abs. 1 EMRK stellt sich freilich die Frage, welche Bedeutung das nationale Recht beziehungsweise die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten haben. Ist bei der systematischen Auslegung auch der Zusammenhang mit dem Recht des betroffenen Staates von Bedeutung? Diese Frage beantwortet Art. 31 WVK nicht. Die KOM hat bereits sehr früh eine Herangehensweise entwickelt, welche das nationale Recht des betroffenen Staates bei der Bestimmung des Bedeutungsgehalts der Rechtsbegriffe des Art. 6 Abs. 1 EMRK „außen vor“ lässt. Diese Herangehensweise wird als autonome Auslegung bezeichnet. „Notion autonome“ – eine Wortschöpfung der KOM267 – bedeutet die selbständige Würdigung des Anspruchs unter weitgehender Emanzipation der Auslegung vom Verfahrensrecht und vom materiellen Recht des von einer Beschwerde betroffenen Staates.268 Diese Auslegungsvariante269 wird seither – jedenfalls dem Grunde nach – von den Straßburger Organen praktiziert.270 Diese Vorgehensweise verdient grundsätzlich Zustimmung, muss doch der Ausgangspunkt bei der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages, an dem verschiedene Staaten mit unterschiedlichen Rechtssystemen beteiligt sind, immer das Völkerrecht sein, wohingegen die Auslegung nach dem Recht desjenigen Landes, in dessen Rechtssystem der auszulegende Begriff seinen Ursprung hat, nur schwerlich in Betracht kommen kann.271 Stattdessen muss eine „europäische Rechtssprache“ gefunden werden, eine Rechtsfindung, die mittels eines 264 Der EGMR hat von dieser Auslegungsmethode bspw. in den Fällen Leander ./. Schweden, Beschwerde Nr. 9248/81, Urt. v. 26. März 1987, Ziff. 78 und Loizidou ./. Türkei, Beschwerde Nr. 15318/89, Urt. v. 23. März 1995, Ziff. 73 Gebrauch gemacht. 265 Bsp. die AEMR v. 10. Dezember 1948. 266 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 17. 267 Miehsler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 58. 268 Vgl. hierzu Miehsler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 58. 269 Erwähnenswert erscheint, dass auch der EuGH die sog. „autonome Auslegung“ praktiziert. Auch er sieht sich vielfach dem Problem der Auslegung eines Gemeinschaftsrechtstextes gegenüber, die möglichst im Sinne aller Mitgliedstaaten erfolgen soll. EuGH, Rs. 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837, 852; EuGH, Rs. 149/79, Kommission ./. Belgien, Slg. 1980, 3881, 3903; EuGH Rs. 135/81, Groupement des Agences de Voyages ./. Kommission, Slg. 1982, 3799, 3808. Vgl. hierzu im Einzelnen SchübelPfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 230 ff. (249 ff.). 270 Erstmals explizit erwähnt wurde die „Autonomie“ einer Konventionsbestimmung im Fall Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, Urt. v. 8. Juni 1976, Ziff. 81 f. Allerdings stand dort der Gerichtshof diesem Begriff noch kritisch gegenüber und folgte der Ansicht der Kommission nur teilweise. 271 v. Weber, Die strafrechtliche Bedeutung der EMRK, S. 345. Zwar stammen seine Überlegungen aus der Zeit vor Inkrafttreten der WVK, jedoch sind die Auslegungsgrundsätze dieselben wie nach deren Inkrafttreten; mit der WVK wurde lediglich eine Kodifikation dieser Grundsätze vorgenommen.

Kap. 2: Methoden zur Auslegung der EMRK

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„Zurückgehens auf die gemeinsamen sittlichen Werte, die in den Grundrechten verkörpert sind“, erfolgt,272 gefunden werden. Hierzu ist die autonome Auslegung prinzipiell in der Lage. Das allen Staaten gemeinsame Recht ergibt sich dabei „mit großer Homogenität aus der Summe der Rechtsordnungen der Vertragsstaaten“ 273. Dies wird bestätigt durch den Wortlaut der Präambel der EMRK, wonach die „Grundfreiheiten, welche die Grundlage der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden“, „am besten durch (. . .) ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden“. Die Einordnung eines Begriffs durch das innerstaatliche Recht kann demnach nicht mehr als ein Anhaltspunkt sein, da ohne eine solche „Abnabelung“ vom Begriffsverständnis der einzelnen nationalen Rechtsordnungen274 eine Angleichung des Grundrechtsstandards in Europa nicht erreicht werden kann.275 Der EGMR hat, diesem Ansatz folgend276, zu Beginn seiner Rechtsprechung häufig auf das Recht der Mitgliedstaaten Bezug genommen,277 nicht jedoch auf das Recht eines, des betroffenen, Mitgliedstaats.278 Im Fall Ringeisen279 hat er dem sog. institutionellen Lösungsansatz280 ausdrücklich eine Absage erteilt, in272

v. Weber, Die strafrechtliche Bedeutung der EMRK, S. 345. So van der Meersch, Bezugnahme auf das innerstaatliche Recht der Vertragsstaaten, S. 482. 274 Brötel, Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens, S. 42. 275 Matscher, Methoden der Auslegung der EMRK, S. 112. Dieselbe Argumentationslinie ist auch bei der Auslegung von Gemeinschaftsrechtstexten durch den EuGH zu beobachten: Auch der EuGH warnt davor, die Auslegung streitiger Begriffe in das Ermessen der einzelnen Staaten zu stellen, da sonst jeder Staat die Gemeinschaftsnormen nach seinem Ermessen ausgestalten könnte. Vgl. hierzu EuGH, Rs. 207/81, Felicitas ./. Finanzamt für Verkehrssteuern, Slg. 1982, 2771, 2784; EuGH, Rs. C-50/91, Commerz-Credit-Bank, Slg. 1992, I-5225, 524. 276 Für die Berücksichtigung sogar des Rechts des betroffenen Vertragsstaates könnte allerdings die stereotype Anführung der einschlägigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften sprechen, die in allen Urteilen des EGMR im Anschluss an den zugrundeliegenden Sachverhalt erfolgt. 277 Zumindest betont der EGMR eingangs diese Bezugnahme, wenngleich er diese Linie im Verlauf seiner Urteile nicht stringent weiterverfolgt, vgl. hierzu noch im Einzelnen die Ausführungen in Kapitel 5. 278 Vgl. statt vieler Belgischer Sprachenfall, Beschwerden Nr. 1474/62, 1691/62, 1769/63, 1994/63, 2126/64, 1677/62, Urt. v. 23. Juli 1968, Ziff. 3; De Wilde, Ooms und Versyp ./. Belgien, Beschwerden Nr. 2832/66, 2835/66, 2899/66, Urt. v. 18. Juni 1971, Ziff. 90; Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/ 71, Urt. v. 8. Juni 1976, Ziff. 57, 59, 72 und 82. Vergleiche hierzu noch ausführlich den Abschnitt zur „autonomen“ Auslegung durch die Straßburger Organe. 279 Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971. 280 Dieser Auffassung zufolge ist bei der Auslegung der Konventionsbegriffe auf das Recht des jeweils betroffenen Staates zurückzugreifen. Insbesondere die deutschen Gerichte vertraten den institutionellen Ansatz früher, vgl. OVG Münster, Beschl. v. 25. November 1955, NJW 1956, 1374 f.; BVerwG, Beschl. v. 16. September 1957, MDR 1957, 697; sowie Beschl. v. 27. Februar 1958, MDR 1958, 446. 273

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

dem er dem Charakter des betreffenden nationalen Rechts sowie dem zur Entscheidung berufenen Gericht nur geringe Bedeutung zumaß.281 Vor allem Begriffe der EMRK, die dem Vokabular des allgemeinen Sprachgebrauchs entspringen – etwa „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“, „Privat- und Familienleben“ –, legen die Konventionsorgane seither sehr frei, autonom, in Übereinstimmung mit ihrer „gewöhnlichen Bedeutung“ 282 aus.283 Zu Schwierigkeiten kommt es freilich dann, wenn es sich bei den auszulegenden Begriffen um Rechtsbegriffe handelt. Als Beispiel kann wiederum Art. 6 Abs. 1 EMRK dienen: Der Ausdruck „civil right“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK ist – abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich durch die beiden unterschiedlichen authentischen Textfassungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ergeben – auch nicht identisch mit dem Begriff „civil right“ im System der einzelnen Konventionsstaaten oder im Rahmen eines anderen internationalen Vertrages.284 Wie ist vorzugehen, wenn sich eine einheitliche Begriffsbedeutung in den Mitgliedstaaten auf Anhieb nicht finden lässt – berechtigt dies die Konventionsorgane gar zur Schaffung eines vollkommen neuen Begriffsverständnisses? Zweifeln muss insofern die Straßburger Neigung begegnen, welche – jenseits der Nichtberücksichtigung einzelner nationaler Besonderheiten – das Gemeinsame aller mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bei der Bestimmung des Bedeutungsgehalts der Rechtsbegriffe des Art. 6 Abs. 1 EMRK mittlerweile unberücksichtigt lässt. Der EGMR hat die autonome Auslegungsmethode nämlich im Lauf der Zeit dazu verwandt, in vollkommener Loslösung von den gemeinsamen Rechtsgrundsätzen der Staaten ganz neue – eigenständige – Begrifflichkeiten zu schaffen. Anschaulichstes Beispiel hierfür ist der Fall König,285 in dem der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ein verwaltungsrechtliches Approbationsverfahren bejaht hat, obwohl – wie er selbst feststellte – nach innerstaatlichem Recht Verwaltungsrecht zur Anwendung kam.286 Folgerichtig hätte man in der folgenden Urteilsbegründung eigentlich die Auseinandersetzung mit der Rechtslage in den übrigen Staaten erwartet.287 Der EGMR erwähnt zwar die Pflicht zur Berücksichtigung des Rechts der übrigen Vertragsstaaten;288 anstatt aber im Folgenden hierauf einzugehen, wendet er sich dem für ihn offenbar allein ausschlaggebenden Kriterium des Rechtscharakters des

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Ziff. 94 des Urteils. Vgl. den Wortlaut des Art. 31 Abs. 1 WVK. 283 Matscher, Les Contraintes de l’interprétation juridictionnelle, S. 25, sowie ders., Vertragsauslegung, S. 550. 284 Evrigenis, Notions autonomes et effet direct, S. 194. 285 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978. 286 Ziff. 94 f. des Urteils. 287 Entsprechend der systematischen Auslegungsmethode, vgl. oben ab S. 199. 288 Ziff. 89 des Urteils. 282

Kap. 2: Methoden zur Auslegung der EMRK

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in Streit befindlichen Anspruchs zu,289 ohne freilich die Bestimmung dieses Charakters unter Heranziehung des Rechts der Mitgliedstaaten vorzunehmen.290 Im Ergebnis bejahte der EGMR die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK mit der Begründung, beim Betrieb einer Privatklinik handle es sich um eine kaufmännische, zur Gewinnerzielung ausgeübte Tätigkeit, die sich im privaten Bereich durch den Abschluss von Verträgen entfalte und deshalb privatrechtlicher Natur sei.291 Dies verdeutlicht, wie frei der Gerichtshof die autonome Auslegung praktiziert. Geschaffen werden völlig eigenständige Begrifflichkeiten, die im Recht der Mitgliedstaaten keinen Niederschlag mehr finden. Mit der ursprünglich erdachten autonomen Auslegung hat dies nur wenig gemeinsam. Der an der Entscheidung im Fall König beteiligte Richter Franz Matscher brachte seine Kritik hieran in seiner persönlichen Meinung292 zum Ausdruck und beanstandete die fehlende Auseinandersetzung mit dem Recht der Konventionsstaaten im Sinne der Ermittlung eines gemeinsamen Nenners.293 Ihm zufolge kann das Ergebnis eines Auslegungsvorgangs niemals völlig von den Rechtsordnungen der Mehrheit der Konventionsstaaten abweichen. Nach seiner Ansicht ist der Weg über die autonome Auslegung im Grunde richtig; ein vollkommen eigener Begriff könne aber allenfalls dann geschaffen werden, wenn zuvor alle anderen Wege erschöpfend überprüft wurden, darunter nicht zuletzt die Ermittlung eines „gemeinsamen Nenners“ im Recht der Mitgliedstaaten.294 Matscher besinnt sich insoweit auf den ursprünglichen Aussagegehalt der autonomen Auslegung zurück, die besagt, dass die Interpretation der Konventionsbestimmungen nicht der Bedeutung verhaftet bleiben darf, den die fraglichen Begriffe im nationalen Recht des betroffenen Staates haben, sondern dass einerseits auf die Zielsetzungen und die Systematik der Konvention, andererseits auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der innerstaatlichen Rechtsordnungen ergeben, abzustellen ist.295 Dem kann nur zugestimmt werden. Die Entscheidung im Fall König verdeutlicht, welche Gefahren die autonome Auslegungsmethode in sich birgt. Die 289

Ziff. 90 des Urteils. Im Wege der Rechtsvergleichung wäre man zu dem Ergebnis gelangt, dass der Anspruch nach dem Recht der meisten Konventionsstaaten nach öffentlichem Recht zu beurteilen und demzufolge der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht eröffnet ist. 291 Ziff. 92 des Urteils. 292 EuGRZ 1978, S. 421 ff. 293 Nicht zu verwechseln mit dem Begriff „kleinster gemeinsamer Nenner“ im Rahmen der grammatikalischen Auslegung, der einer Theorie zugrunde liegt, die das kleinste Gemeinsame im Recht mehrerer Staaten ausreichen lässt. Dazu oben, Kap. 2, II. 1. 294 Matscher, Les Contraintes de l’interpretation juridictionnelle, S. 25. 295 Persönliche Meinung zum Urteil König, EuGRZ 1978, S. 422. 290

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Grenzen zu einer von gemeinsamen Rechtsgrundsätzen vollkommen unabhängigen Auslegung sind verschwommen, klare Konturen lassen sich kaum fixieren. Dessen ungeachtet hat der EGMR seine Rechtsprechung in den folgenden Urteilen bestätigt.296 Dabei hebt er zwar – zumeist formelhaft – das Erfordernis der Auseinandersetzung mit dem Recht aller Konventionsstaaten hervor, wendet sich aber sogleich, ohne eine Konsequenz hieraus zu ziehen, der autonomen, am Charakter des Anspruchs orientierten Auslegung zu.297 Auch in den Fällen Feldbrugge298 und Schuler-Zgraggen,299 denen sozialversicherungsrechtliche Ansprüche zugrunde lagen, argumentierte der EGMR ähnlich und bejahte die Anwendbarkeit allein unter Berufung auf den pekuniären Charakter des in Frage stehenden Anspruchs. Mag das Erfordernis der Rechtsvergleichung sich auch bei der im Fall König einschlägigen Konventionsnorm des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht auf den ersten Blick aufdrängen, so ist dies bei anderen Bestimmungen schon deutlicher: Einige Normen der EMRK rufen geradezu auf zur Berücksichtigung der allgemeinen Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten: Typisches Beispiel ist die mehrfach in der EMRK auftretende Verweisung auf die Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft.300 Weitergehend ist diese Verweisung insofern, als sie sich ihrem Wortlaut nach nicht auf den Vergleich der Gesellschaftsform in einem Kreis der Konventionsstaaten beschränkt; vielmehr stellt sie auf die Rechtsvorstellungen einer demokratischen Gesellschaft ab, also einer Gesellschaftsverfassung, die sich auch außerhalb der Konventionsstaaten befinden kann, solange sie nur demokratischen Vorstellungen entspricht. Konkretere Begriffe, die sich in der Konvention finden lassen, sind beispielsweise der Schutz der Moral, der Gesundheit, des guten Rufes oder der öffentlichen Ordnung.301 Hier ist im Sinne der obigen Ausführungen aus den verschiedenen nationalen Lösungen eine für 296 Vgl. nur Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/ 71, Urt. v. 8. Juni 1976, Ziff. 81; Benthem ./. Niederlande, Beschwerde Nr. 8848/80, Urt. v. 30. September 1985, Ziff. 34; Ferrazzini ./. Italien, Beschwerde Nr. 44759/98, Urt. v. 12. Juli 2001, Ziff. 24 („autonomous concept“). 297 Im Fall Engel, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, Urt. v. 8. Juni 1976, Ziff. 82 erwähnt der EGMR sogar ausdrücklich den gemeinsamen Nenner der Gesetzgebungen in den verschiedenen Vertragsstaaten, wendet sich aber sodann ebenfalls der autonomen Auslegung zu. 298 Feldbrugge ./. Niederlande, Beschwerde Nr. 8562/79, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 26. 299 Schuler-Zgraggen ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 14518/89, Urt. v. 28. Mai 1993, Ziff. 46. 300 Vgl. nur Art. 8 Abs. 2: „(. . .), soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist (. . .)“; Art. 9 Abs. 2: „(. . .), die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind (. . .)“; Art. 10 Abs. 2: „(. . .) die gesetzlich vorgesehen sind und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind (. . .)“; sowie Art. 11 Abs. 2: „(. . .) die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind (. . .).“ 301 Art. 9 Abs. 2, 10 Abs. 2 EMRK.

Kap. 2: Methoden zur Auslegung der EMRK

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den Zweck der Konventionsnorm geeignete Inhaltsbestimmung zu finden.302 Umgekehrt enthält die EMRK auch Normen, die ausdrücklich auf das nationale Recht des betroffenen Staates verweisen:303 Als Beispiel kann Art. 5 EMRK dienen, der sich mehrfach einer solchen Verweisung bedient. So erlaubt er die Freiheitsentziehung nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise – unter anderem die der Verurteilung nachfolgende rechtmäßige Inhaftierung – und zwar durch ein zuständiges Gericht. Die gesetzlich vorgeschriebene Weise meint die innerstaatlichen Strafverfolgungsgesetze in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht. Das zuständige Gericht bestimmt sich nach den jeweiligen Gerichtsverfassungsgesetzen. Die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung richtet sich ebenfalls nach nationalem Recht. Genau genommen stellt dies keinen Fall der systematischen oder gar autonomen Auslegung, sondern der gesetzlichen Verweisungstechnik dar. Zur Anwendung des nationalen Rechts gelangt man bei diesen Begriffen durch Verweisung in der jeweiligen EMRK-Norm – über diese Verweisung wird das nationale Recht gleichsam in die EMRK inkorporiert. Der autonomen Auslegung bedarf es folglich in diesen Fällen nicht, die genannten Formulierungen verschließen sich ihr geradezu. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die Rechtsprechung des EGMR eine Entwicklung von einer anfangs mehr am „cautious approach“304 orientierten Linie hin zu einer völlig losgelösten autonomen Interpretationsweise durchläuft. Kritikwürdig an sämtlichen Judikaten ist vor allem die fehlende Auseinandersetzung des EGMR mit den gemeinsamen Rechtsgrundsätzen der Staaten.305 Die autonome Auslegungsmethode stellt insgesamt betrachtet eine angemessene Vorgehensweise dar, um völkerrechtliche Verträge zu interpretieren. Sie ist geeignet, den Standard fundamentaler Rechte in den einzelnen Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen, was ja gerade eines der Ziele der Konvention darstellt. Andererseits muss diese Methode aber auch mit Vorsicht angewandt werden, da sie die Gefahr in sich birgt, vollkommen „autonome Konzepte“ 306 zu entwickeln. Die Rechtsprechung des EGMR macht dies nur allzu deutlich. Die Annahme, das jeweilige nationale Recht des betroffenen Staates sei bei der Auslegung der Konvention heranzuziehen und die Auslegung der Konventionsnorm daran auszurichten, geht fehl, hätte es doch der einzelne Staat in der Hand, durch inner302

So Mosler, Rechtsvergleichung vor völkerrechtlichen Gerichten, S. 397. Hierzu ausführlich Mosler, Rechtsvergleichung vor völkerrechtlichen Gerichten, S. 391 f. 304 Weh, Der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK, S. 435 f. 305 Der EGMR ist nicht das einzige völkerrechtliche Gericht, das sich diesbezügliche Kritik gefallen lassen muss; so auch Mosler, Rechtsvergleichung vor völkerrechtlichen Gerichten, S. 389, sowie Bothe, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Praxis internationaler Gerichte, S. 283 ff. Kritik wird in dieser Hinsicht auch an der Handhabung des Internationalen Gerichtshofs im Haag (IGH) sowie des EuGH geübt; vertiefend Mosler, Rechtsvergleichung vor völkerrechtlichen Gerichten, S. 389 ff. 306 Matscher, Methods of Interpretation, S. 73. 303

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

staatliche Gesetzesänderungen einseitig das EMRK-Recht zu seinen Gunsten zu beeinflussen und etwaige Verletzungen der EMRK und damit einhergehende Verurteilungen zu umgehen. Allenfalls als Indiz ist das nationale Recht des betroffenen Staates bei der Auslegung heranzuziehen.307 Richtig angewandt verhilft die autonome Auslegung zu einer Begriffsklärung, die an den Zielen der EMRK sowie an den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die als gemeinsamer – gleichsam übergeordneter – Nenner allen Vertragsstaaten inhärent sind, orientiert ist. Zum systematischen Kontext gehören auch die Gemeinsamkeiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Dieser gemeinsame Nenner ist allein im Wege der Rechtsvergleichung zu ermitteln. Dieser Forderung hat sich der EGMR freilich bislang weitgehend verschlossen.308 Konsequent – das heißt unter Berücksichtigung des allen Konventionsstaaten Gemeinsamen – angewandt vermag die autonome Auslegung zu Ergebnissen zu verhelfen, die sowohl im Sinne der Konvention als auch im Sinne der Vertragsstaaten sind. Die Urteile des EGMR würden an Akzeptanz in der Gemeinschaft der Konventionsstaaten gewinnen, könnte sich ein betroffener Staat in der Entscheidung des EGMR zumindest ein Stück weit wiederfinden und sich mit dieser identifizieren. Ergehen indes Judikate wie das oben angesprochene Urteil König, welches weder das nationale Recht des betroffenen Staates noch – und dies wiegt ungleich schwerer – das Gemeinsame der meisten anderen Konventionsstaaten berücksichtigt, sondern vielmehr gänzlich autonom konzipiert ist, schwächt dies Akzeptanz und Durchsetzungskraft der Entscheidungen des EGMR nicht unerheblich. Der EGMR wäre gut beraten, würde er sein autonomes durch ein rechtsvergleichend-autonomes Konzept – ganz im Sinne der bereits erwähnten „europäischen Rechtssprache“ Hellmuth von Webers309 – ersetzen. 3. Ziel und Zweck der Konvention – Art. 31 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 4 WVK Gem. Art. 31 Abs. 1 WVK ist ein völkerrechtlicher Vertrag ferner im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.310 Art. 33 Abs. 4 WVK vervollständigt diese Regelung für den Bereich mehrsprachiger Verträge. Ziel und Zweck eines Vertrages sind nach dem objektiven Ansatz311 aus dem eigentlichen Vertrags307

Mosler, Rechtsvergleichung vor völkerrechtlichen Gerichten, S. 399. Grabenwarter, EMRK, § 5 Rn. 11; so im Ergebnis auch Bothe, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Praxis internationaler Gerichte, S. 283 ff. 309 v. Weber, Die strafrechtliche Bedeutung der EMRK, S. 345. 310 Begrifflich werden in der Fachliteratur sowohl die Formulierung Ziel-und-ZweckAuslegung als auch die bei uns gebräuchliche Formulierung Sinn-und-Zweck-Auslegung verwendet. Im Ergebnis unterscheiden sich beide Begrifflichkeiten nicht. Vgl. hierzu Miehsler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 50. 311 Dazu oben, Kapitel 2, II. 1. 308

Kap. 2: Methoden zur Auslegung der EMRK

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text, aus der Präambel sowie aus eventuellen Anhängen zu ermitteln.312 Die Auslegung im Lichte von Ziel und Zweck eines Vertrages muss ihre Grenze nicht im Vertragstext selbst finden, sondern geht gegebenenfalls darüber hinaus.313 Dieser teleologische Aspekt des Art. 31 WVK garantiert die Effektivität der Vertragsbestimmungen (effet utile).314 Der Begriff des effet utile ist vornehmlich aus dem Europarecht bekannt315 und führt zur sogenannten „effektiven“ Interpretation auch im Bereich der EMRK. Der EGMR zieht diese Interpretationsweise vor allem heran, um die herausragende Stellung von Verteidigungsrechten des Einzelnen – insbesondere im Bereich des Art. 6 EMRK316 – zu stärken. Er verwendet diese Methode mehr zur Bestimmung der Reichweite von Garantien, denn zur Auslegung bestimmter Begriffe.317 Die WVK selbst sagt nichts darüber aus, woraus sich Ziel und Zweck eines Vertrages ergeben. In Bezug auf die EMRK herrscht weithin Einvernehmen darüber, dass deren Ziele im Wesentlichen mit denen nationaler Grundrechte vergleichbar sind.318 Dies resultiert vor allem aus den gemeinsamen Wertanschau-

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Ipsen, Völkerrecht, Rn. 15. Allerdings ist erforderlich, dass der ermittelte Vertragsweck im Vertragstext einen Niederschlag gefunden hat, Bernhardt, Auslegung, S. 89. Vergleichbar ist diese Voraussetzung mit der aus dem deutschen Erbrecht bekannten Andeutungstheorie, vgl. hierzu Stürner in Jauernig, Kommentar zum BGB, § 2084 Rn. 4. 314 Villiger, Art. 31 and 32 of the Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 325. 315 Die am effet utile orientierte Auslegung ist zwar nicht direkt auf das Europarecht zurückzuführen, sondern dem Völkerrecht entlehnt, vgl. hierzu Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 219 ff. Gleichwohl dürfte der Begriff deshalb aus dem Europarecht bekannt sein, weil Art. 10 EGV dieses Prinzip ausdrücklich erwähnt und als Auslegungsgrundsatz festlegt, hierzu im Einzelnen Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 69 ff. Falsch ist dagegen die Annahme, Auslegung im Sinne eines effet utile sei eine rein politische Auslegung der Bestimmungen der EWG und der sonstigen Integrationsverträge; zutreffend Frowein, Die evolutive Auslegung der EMRK, S. 5 f. 316 Lesenswert hierzu der Fall Lüdicke, Belkacem und Koç ./. Deutschland, Beschwerden Nr. 6210/73, 6877/75, 7132/75, Urt. v. 28. November 1978, wo sich der EGMR in beispielhafter Weise mit den Auslegungsregeln der WVK auseinandersetzt und sich eingehend mit der Ziel-und-Zweck-Interpretation befasst, nachdem die grammatikalische Auslegung nichts zur Klärung beitrug (Ziff. 39 ff. des Urteils). 317 Nach Auffassung des EGMR garantiert die Konvention nämlich „konkrete und effektive und nicht illusorische und theoretische Rechte“; statt vieler Airey./. Irland, Beschwerde Nr. 6289/73, Urt. v. 9. Oktober 1979, Ziff. 24; Artico ./. Italien, Beschwerde Nr. 6694/74, Urt. v. 13. Mai 1980, Ziff. 33; Riepan ./. Österreich, Beschwerde Nr. 35115/ 97, Urt. v. 14. November 2000, Ziff. 29; Prinz Hans-Adam II von Liechtenstein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42527/98, Urt. v. 12. Juli 2001, Ziff. 45; sowie Posti u. Rahko ./. Finnland, Beschwerde Nr. 27824/95, Urt. v. 24. September 2002, Ziff. 53. 318 Grabenwarter, EMRK, § 5, Rn. 12. Zur Parallelität von Menschenrechten der EMRK und Grundrechten des Grundgesetzes vgl. BVerfGE 74, 358 (370). Zu den Gemeinsamkeiten in Zielsetzung und Gewährleistungsumfang der Menschenrechte zwischen nationalem Recht und EMRK-Recht vertiefend Seidel, Handbuch der Grundund Menschenrechte, S. 22 (bzgl. Recht auf Leben); S. 67 (bzgl. Schutz von Ehe und 313

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

ungen319 und Rechtstraditionen der Konventionsstaaten. Nicht umsonst findet sich etwa in Art. 1 Abs. 2 GG das Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“, welches ebenso in der Präambel der AEMR enthalten ist. Bindeglied zwischen der AEMR und der EMRK wiederum stellt die Präambel der EMRK dar: In ihrem ersten Satz wird bekräftigt, dass die AEMR bei der Abfassung der EMRK berücksichtigt worden ist.320 Ebenso wie die Grundrechte des Grundgesetzes verkörpert die EMRK eine Reaktion auf die systematischen Menschenrechtsverletzungen im „Dritten Reich“. Die Wahrung der Menschenrechte sollte durch ein vertraglich verbindliches Instrumentarium gewährleistet werden. In Anlehnung an Georg Jellinek321 lassen sich die Garantien der EMRK ebenso nach verschiedenen Schutzrichtungen unterteilen,322 wie dies für die Grundrechte des Grundgesetzes anerkannt ist. Die meisten Urteile des EGMR befassen sich mit der Funktion der EMRK-Garantien als Abwehrrechte, welche nach der Einteilung von Jellinek dem status libertatis zugeordnet sind.323 Erwähnung finden die wesentlichen Ziele der EMRK in der Präambel,324 in den nachfolgenden Menschenrechten (Art. 2 ff. EMRK) sowie in der als Schrankenklausel formulierten Auslegungsregel des Art. 17 EMRK.325 Der EGMR ging auf die teleologische Auslegungsmethode unter anderem in den Fällen Golder326 und Loizidou327 ein. Im Fall Golder zog er entsprechend einer langjährigen völkerrechtlichen Praxis328 die Präambel heran. Der GerichtsFamilie); S. 76 (bzgl. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis); S. 85 (bzgl. Unverletzlichkeit der Wohnung). 319 So Huber, EMRK und Grundrechte der Verfassungen, S. 380. 320 Frowein/Peukert, EMRK, Präambel, Rn. 1; sowie Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, S. 42. 321 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. 322 Ehlers, Die EMRK, S. 374. 323 Fahrenhorst, Familienrecht und EMRK, S. 63. 324 Die Garantie eines Mindestbestandes an Freiheitsrechten für jedermann (Absätze 4 und 5), die Förderung und Festigung der europäischen Einheit und Rechtsangleichung (Absätze 3 und 5) sowie den Schutz der freiheitlich-demokratischen Staatsauffassung (Absätze 4 und 5). Hierzu Partsch, Rechte und Freiheiten der EMRK, S. 85. 325 Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK enthält die Garantie eines Mindestbestandes an Freiheitsrechten für jedermann. 326 Golder ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 4451/70, Urt. v. 21. Februar 1975, Ziff. 34. 327 Loizidou ./. Türkei, Beschwerde Nr. 15318/89, Urt. v. 23. März 1995, Ziff. 73. 328 Die Besonderheit im Fall Golder bestand darin, dass die WVK zum Zeitpunkt der Urteilsfindung noch gar nicht in Kraft war; der EGMR bewertete jedoch deren Art. 31–33 als allgemein anerkannte Regeln des Völkerrechts, weshalb sie für die Auslegung der Konvention in Betracht kamen, Golder ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 4451/70, Urt. v. 21. Februar 1975, Ziff. 29. Auf die teleologische in Verbindung mit der grammatikalischen Auslegungsmethode hat der EGMR auch im Fall Lawless, also ebenfalls vor Inkrafttreten der WVK, zurückgegriffen (Lawless ./. Irland, Beschwerde Nr. 332/57, Urt. v. 01. Juli 1961, Ziff. 14). Auch im Fall Wemhoff (Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968) berief er sich für

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hof leitet aus der EMRK – vornehmlich aus deren Präambel – ein Gebot stark ausgeprägter teleologischer Interpretation bis hin zu einer Ermächtigung zur Rechtsfortbildung ab.329 Vorsicht ist dabei insofern geboten, als eine solche Auslegung Gefahr läuft, den Rahmen der bloßen Auslegung hin zur Gesetzgebungstätigkeit – ja gar zur Vertragsänderung – zu überschreiten, was von den Art. 31 und 32 WVK keinesfalls gedeckt wäre.330 In diesem Zusammenhang haben sich im Hinblick auf die Auslegung der EMRK vor allem in der Rechtsprechung des EGMR, aber auch in der Literatur die Begriffe „dynamische“ und „evolutive“ Interpretation eingebürgert, die als Sonderfälle teleologischer Interpretation einzuordnen sind.331 Die Einordnung als Sonderfall der teleologischen Interpretation überzeugt deshalb, weil dynamische wie evolutive Interpretation sich an den stets wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen orientieren.332 Dabei verlassen sie aber das Feld der teleologischen Interpretation nicht, sondern berücksichtigen vielmehr im Rahmen der Ziel-und-Zweck-Auslegung die tatsächlichen Gegebenheiten. Die Begrifflichkeiten dynamische und evolutive Auslegung sollen dem Umstand Rechnung tragen, dass die EMRK eine vertraglich abgesicherte Anerkennung von Menschenrechten als Reaktion der Gesellschaft auf erfahrenes Unrecht darstellt. Die Erkenntnis einer Menschenrechtsverletzung, die Feststellung, dass gegebene gesellschaftliche Verhältnisse einer Veränderung bedürfen, schließt ein Element der Dynamik und Entwicklung ein.333 Antonyme hierzu sind die statische und die historische Interpretation, die gesellschaftliche Änderungen nicht berücksichtigen, sondern an der Auslegung des Vertragswerks im Zeitpunkt seiner Entstehung festhalten.334 Vor einer allzu evolutiven Auslegungspraxis wird andererseits in Teilen des Schrifttums gewarnt, da die Gefahr bestehe, die Grenzen gerichtlicher Befugnisse zu überschreiten. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, den Bedeutungsgehalt einer Norm zu verändern; allenfalls müsse die Veränderung des Bedeuden Fall zweier gleichermaßen authentischer Texte auf „eine ständige völkerrechtliche Rechtsprechung“ (Ziff. 8 des Urteils). 329 Zur EMRK als „living instrument“ Tyrer ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 5856/ 72, Urt. v. 25. April 1978, Ziff. 31; Mubilanzila Mayeka u. Kaniki Mitunga ./. Belgien, Beschwerde Nr. 13178/03, Urt. v. 12. Oktober 2006, Ziff. 48; Popova ./. Russland, Beschwerde Nr. 23697/02, Urt. v. 21. Dezember 2006, Ziff. 33. 330 Villiger, Art. 31 and 32 of the Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 325. 331 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 26. 332 Anders ist dies im Falle der autonomen Auslegung, die teilweise als Unterfall der systematischen Auslegung verstanden wird. Dies überzeugt aber deshalb nicht, weil die autonome Auslegung nicht lediglich Besonderheiten im Verhältnis zur systematischen Auslegung allein aufweist, sondern vielmehr alle Auslegungsmethoden in sich vereinigt und diese um zusätzliche Besonderheiten erweitert. 333 Hierzu Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 650 f. 334 Matscher, Methods of Interpretation, S. 68.

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tungsgehalts durch äußere Geschehnisse vom Interpreten der Norm berücksichtigt werden.335 Aufgabe der Straßburger Organe sei die Rechtsanwendung, nicht die Rechtsfindung.336 Eine solche Praxis widerspräche der Völkerrechtssetzungsbefugnis der Vertragsstaaten der EMRK und verstieße gegen den Grundsatz der „Gewaltenteilung“ 337; der EGMR griffe nämlich durch solche den Bedeutungsgehalt einer Norm verändernde Einwirkung in den Kompetenzbereich des Völkerrechtsgesetzgebers ein.338 Der EGMR verwendet Formeln wie etwa die des „living instrument, which must be interpreted in the light of present day conditions“.339 So soll die Anpassung und Fortentwicklung der EMRK an die sich stets ändernden Verhältnisse gewährleistet werden. Vor allem bezüglich der Gesetzesverträge – auch „law making-treaties“ oder rechtsetzende Verträge genannt340 – wird vielfach vertreten, diese seien im Licht des jeweils im Zeitpunkt der Interpretation in Kraft stehenden Völkerrechts zu interpretieren.341 Zumindest aber im Bereich der Verfahrensrechte – insbesondere im Hinblick auf den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK – erscheint es fraglich, ob diese einer dynamischen Auslegung zugänglich sind. Dass der Anwendungsbereich der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ von sich ändernden äußeren Umständen beeinflusst werden soll, überzeugt nicht. Bei unbestimmten Rechtsbegriffen wie „Moral“ oder „öffentliche Ordnung“ im Sinne des jeweiligen Absatzes 2 der Art. 8 bis 11 EMRK dagegen liegt es nahe, deren Bedeutung nicht losgelöst von den äußeren Umständen und den sich ändernden Anschauungen in einer Gesellschaft zu bestimmen. Was unter „Moral“ zu verstehen ist, wird heute anders beurteilt als noch vor 50 Jahren.342 Vergleichbar ist dem die aus dem deutschen Polizeirecht bekannte Diskussion 335 Matscher, Methods of Interpretation, S. 69 f. Auch der ehemalige Kommissionspräsident Max Sørensen (zit. bei Mosler, Problems of Interpretation, S. 158 f.) äußerte sich kritisch gegenüber einer undifferenzierten Anwendung der evolutiven bzw. dynamischen Interpretationsweise. 336 Matscher, Vertragsauslegung, S. 552. 337 Engel, Die Schranken der Schranken in der EMRK, S. 267, will in diesem Zusammenhang nicht von Gewaltenteilung, sondern von der „Kompetenz der europäischen Organe im Hinblick auf die Überprüfung der Rechtsordnung souveräner Staaten“ sprechen. 338 Ähnlich Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 32 f. 339 Statt vieler Tyrer ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 5856/72, Urt. v. 25. April 1978, Ziff. 31; Marckx ./. Belgien, Beschwerde Nr. 6833/74, Urt. v. 13. Juni 1979, Ziff. 41; Airey./. Irland, Beschwerde Nr. 6289/73, Urt. v. 9. Oktober 1979, Ziff. 26; Ferrazzini ./. Italien, Beschwerde Nr. 44759/98, Urt. v. 12. Juli 2001, Ziff. 26. 340 Rechtsetzende Verträge schaffen generell abstrakte Normen, während rechtsgeschäftliche Verträge – Staatsverträge im engeren Sinne – konkrete Angelegenheiten regeln; näher hierzu Verdross, Völkerrecht, S. 143. 341 Ress, Wechselwirkungen, S. 33. 342 Vgl. hierzu Frowein/Peukert, EMRK, Art. 10, Rn. 31.

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um den Begriff der „öffentlichen Ordnung“. Beispielhaft kann hier etwa das PolG BW343 genannt werden: „Öffentliche Ordnung“ im Sinne von § 1 PolG BW wird definiert als „die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes staatsbürgerliches Zusammenleben betrachtet wird“.344 Der Begriff der „öffentlichen Ordnung“ bezieht sich nicht auf Rechtsnormen, sondern auf Regeln der Sitte und Moral und ist angesichts der veränderten sozialethischen Anschauungen heute anders zu beurteilen als in der Vergangenheit.345 Auch lokale Unterschiede sind denkbar. Deutlich wird diese zeitliche und lokale Variabilität am Beispiel der Ausübung der Prostitution oder des Betreibens eines Bordells:346 So waren diese Tätigkeiten in der Vergangenheit noch strafbewehrt, wurden aber nach und nach durch die Liberalisierung des Straf- und auch des Zivilrechts347 legalisiert, weshalb kein Grund mehr besteht, sie über das Tatbestandsmerkmal „öffentliche Ordnung“ wieder zum Gegenstand polizeilichen Handelns zu machen.348 Der Begriff der „öffentlichen Ordnung“ ist demnach wenig vorherbestimmt und indiziert die Berücksichtigung der gegenwärtigen sozialethischen Anschauungen. Bei der Auslegung des Begriffs der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ liegt allerdings ein solches, notwendigerweise stetigen Veränderungen Rechnung tragendes Verständnis eher fern. Warum sollte ein Verfahrensgegenstand zeitweise dem Anwendungsbereich unterliegen und später plötzlich nicht mehr? Im Bereich der Verfahrensrechte und des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK spricht hier mehr für eine positivistische Betrachtung denn für eine dynamische Interpretation. Eine andere Handhabe bewirkt nur Rechtsunsicherheit unter Berechtigten wie Verpflichteten der EMRK.

343 Polizeigesetz Baden-Württemberg in der Fassung vom 13. Januar 1992, GBl. S. 1, ber. S. 596, 1993 S. 155, letzte Änderung vom 1. Juli 2004, GBl. S. 469. Entsprechendes gilt natürlich für die Polizeigesetze der übrigen Länder. 344 Vgl. VGH Mannheim, NJW 1984, 507; VGH Mannheim, NVwZ 1999, 560; Belz/Mussmann, PolG BW, § 1, Rn. 29. 345 „. . . nach den jeweils herrschenden Anschauungen . . .“ 346 Vgl. hierzu vertiefend Belz/Mussmann, PolG BW, § 1, Rn. 29 ff.; sowie Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht BW, Rn. 277. Kritisch zum Begriff der öffentlichen Ordnung wegen seiner ideologischen Anfälligkeit Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 8, Rn. 46 ff. 347 Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz) vom 20. Dezember 2001, BGBl. I S. 3983. 348 Die lokale Variabilität ist in Bezug auf das vorgenannte Beispiel ebenso denkbar: Die Bewohner einer ländlichen Gegend setzen sich gegen das Vorhaben eines Bordells wohl mit größerer Vehemenz zur Wehr als die Bewohner eines Großstadtviertels, wo diese Etablissements gang und gäbe sind.

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4. Die Entstehungsgeschichte (Art. 32 WVK) Wenn der Vertragstext eines internationalen Vertrages aus sich heraus – also unter Anwendung der wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung – keine klare Deutung erfährt, können subsidiär349 die Vorarbeiten350 zu diesem Vertrag herangezogen werden.351 Diesen Rückgriff ermöglicht Art. 32 WVK bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge ausdrücklich als „ergänzendes Auslegungsmittel“. Er ist nur dann zulässig, wenn die Auslegung nach Art. 31 WVK die Bedeutung mehrdeutig lässt oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen Ergebnis führt.352 In Bezug auf die EMRK sind die wichtigsten Vorbilder der Konvention, nämlich die AEMR, insbesondere deren Art. 8 und 10,353 Art. 13 der UN-CovenantEntwürfe von 1949 und 1950, sowie der IPBPR heranzuziehen. Freilich muss berücksichtigt werden, dass nicht alle Vertragsstaaten an der Ausarbeitung der Konvention beteiligt waren;354 soweit ihnen die Materialien vor ihrem Beitritt zur EMRK nicht zugänglich gemacht worden sind, können diese ihnen gegenüber auch nicht zur Auslegung herangezogen werden.355 Die entscheidenden Weichen für die Gründung des Europarates und die Ausarbeitung der EMRK wurden mit der Verabschiedung einer Resolution im Mai 1948 im Haag durch das internationale Komitee der Europäischen Bewegung unter Federführung von Politikern wie Konrad Adenauer und Winston Churchill gestellt.356 Die Satzung des Europarates als Resultat dieser Resolution ist daher 349

Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 13; Köck, Vertragsinterpretation, S. 93. „Travaux préparatoires“. – Dazu gehören alle amtlichen Erklärungen und Verhandlungen, die dem endgültigen Vertragsabschluss vorausgehen und den späteren Abschluss und Inhalt des konkreten Vertrages erkennbar zum Gegenstand haben. Hierzu zählen nicht nur gemeinsame oder zumindest unwidersprochen gebliebene Erklärungen der späteren Partner während der Vertragsverhandlungen, sondern auch alle sonstigen amtlichen Erklärungen zum Vertragsprojekt, Bernhardt, Auslegung, S. 110 f. 351 Auch der EGMR macht von dieser Möglichkeit immer wieder Gebrauch, vgl. statt vieler Johnston u. a. ./. Irland, Beschwerde Nr. 9697/82, Urt. v. 24. Januar 1986, Ziff. 52; Lithgow u. a. ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 9006/80 u. a., Urt. v. 8. Juli 1986, Ziff. 117; Kudla/Polen, Beschwerde Nr. 30210/96, Urt. v. 26. Oktober 2000, Ziff. 151 f. Dagegen hat er es in der Sache Lawless ./. Irland, Beschwerde Nr. 332/57, Urt. v. 1. Juli 1961, Ziff. 14 abgelehnt, die Entstehungsgeschichte der betreffenden Norm (Art. 5 Abs. 1c und Abs. 3 EMRK) heranzuziehen, da deren Wortlaut aus sich heraus bereits verständlich und hinreichend deutlich sei und aus diesem Grunde die Entstehungsgeschichte wegen ihrer Subsidiarität nicht heranzuziehen sei. 352 Anschaulich Aust, Modern treaty law and practice, S. 197. 353 Insbesondere der Berichterstatter der Beratenden Versammlung des Europarates, Pierre-Henri Teitgen, setzte sich für die weitestgehende Zugrundelegung der UN-Menschenrechtserklärung ein, vgl. Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 147. 354 Die Bundesrepublik Deutschland war etwa nicht an der Ausarbeitung der Hauptkonvention beteiligt. 355 Hierzu Partsch, Rechte und Freiheiten der EMRK, S. 87. 350

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ebenfalls als wichtige Quelle bei der Auslegung der EMRK heranzuziehen: In Art. 1 lit. a) der Satzung ist „der Schutz und die Förderung der gemeinsamen Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden“, als herausragendes Ziel formuliert.357 Diese Zielsetzungen gelten auch für die EMRK – die Präambel der EMRK greift auf sie zurück – und werden im Verlaufe dieser Arbeit noch mehrfach zur Sprache kommen. Im Hinblick auf Art. 6 EMRK ist ferner bedeutsam, dass die französische Fassung unverändert aus Art. 14 IPBPR übernommen wurde; der englische Text des Art. 6 Abs. 1 EMRK wurde hingegen am Vorabend der Unterzeichnung der Konvention von „rights and obligations in a suit of law“ in „civil rights and obligations“ abgeändert. Eine offizielle Begründung hierfür existiert nicht. Überwiegend wird darin aber eine gewollte Anpassung der englischen an die französische Fassung gesehen.358 Diese Unklarheiten resultierend aus dem unterschiedlichen Wortlaut der beiden Fassungen hätte man vor ihrer amtlichen Erklärung als authentisch vermutlich umgehen können, hätte man zuvor eine „toilette finale“, ein sorgfältiges Durchsuchen und Durchsieben der beiden Texte, durchgeführt, um möglichen Widersprüchen und Ungereimtheiten bereits im Vorfeld vorzubeugen.359 Bedauerlicherweise ist dies nicht geschehen. Die Entstehungsgeschichte der EMRK kann damit in nur begrenztem Umfang bei der Auslegung der Konvention behilflich sein. 5. „Margin of appreciation“ Der EGMR hat in zahlreichen Urteilen das Instrument der sogenannten Doktrin vom Beurteilungs- oder auch Ermessensspielraum360 („margin of appreciation“, „marge d’appréciation“) 361 verwendet und geprägt. Des Zusammenhangs und der Begriffsklärung wegen soll an dieser Stelle kurz auf diese Lehre eingegangen werden, um eine Basis für das später folgende Kapitel über die Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu schaffen, obschon sie nicht zum Kanon der Auslegungsmethoden zählt. Vielmehr wirkt sie insofern mit den vorgenannten Auslegungsmethoden zusammen, als sie diese um die Berücksichtigung des Souveränitätsanspruchs in Gestalt eines Beurteilungsspielraums der einzelnen Staaten erweitert. 356 Weiß, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 3. 357 Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949, BGBl. 1950 I S. 263. 358 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 39. 359 Aust, Modern treaty law and practice, S. 203. 360 Beide Begriffe werden im Völkerrecht – anders als etwa im deutschen Recht – synonym verwendet. 361 Der Begriff stammt ursprünglich aus dem französischen; der englische Ausdruck stellt lediglich eine Übersetzung dar.

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Fundament der Doktrin bildet die aus dem Öffentlichen Recht vieler Staaten bekannte362 und letztlich auf die Praxis des französischen Conseil d’Etat zurückzuführende Unterscheidung zwischen der Kontrolle bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe sowie der Kontrolle von Ermessensentscheidungen.363 Die Lehre vom Beurteilungsspielraum verkörpert gewissermaßen beide öffentlich-rechtliche Konstrukte in einer Person: Die Konvention räumt in vielerlei Normen an sich keinen Ermessenspielraum ein, sondern verwendet unbestimmte Rechtsbegriffe364. Zu denken wäre daher an das Vorliegen eines voller gerichtlicher Überprüfbarkeit unterliegenden Beurteilungsspielraums. Der EGMR geht indes anders vor: Er gewährt den Staaten einen Ermessensspielraum,365 und zwar auf Tatbestands- wie auf Rechtsfolgenseite. Rechtsdogmatisch kann diese Methode verglichen werden mit der aus dem deutschen Recht bekannten Behandlung sogenannter „Kopplungsvorschriften“.366 Normen, die allein auf Tatbestandsseite einen Auslegungsspielraum gewähren, führen – nach deutschem Rechtsverständnis – dazu, dass der Verwaltungsbehörde ein Beurteilungsspielraum verbleibt, den allerdings ein die Angelegenheit später beurteilendes Gericht grundsätzlich voll überprüft. Normen, die einen solchen Spielraum der Behörde allein auf der Rechtsfolgenseite in Gestalt des Auswahl- und Ausübungsermessens vorsehen, führen zur lediglich eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeit durch ein Gericht. Dagegen ist die Behandlung der Kopplungsvorschriften, die beide Aspekte – sowohl auf Tatbestands- wie auch auf Rechtsfolgenseite – enthalten, im deutschen (Verwaltungs-)Recht umstritten.367 Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes368 vertritt die Auffassung, das auf Rechtsfolgenseite nachfolgende Ermessen verdiene den Vorrang vor dem tatbestandlichen Beurteilungsspielraum (der unbestimmte Rechtsbegriff wird danach gewissermaßen auf die Rechtsfolgenseite „hinübergezogen“), was dazu führt, dass eine behördliche Entscheidung, welche aufgrund einer solchen Koppelungsvorschrift erging, allein nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen ist. Freilich hatte das BVerwG in einer früheren Entscheidung genau umgekehrt entschieden und eine teleologische Reduktion auf der Rechtsfolgenseite durch Beseitigung des Ermessens angenommen.369 In der verwaltungsrechtlichen Literatur wird vorwiegend die Ansicht vertreten, jede Seite sei getrennt nach den ihr jeweils zu362 van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 84. 363 Matscher, Methoden der Auslegung der EMRK, S. 117. 364 Etwa „Privat- und Familienleben“, „Schutz der Ehre“, „Schutz der Moral“. 365 Matscher, Methoden der Auslegung der EMRK, S. 117 f. 366 Ausführlich hierzu Faber, Verwaltungsrecht, S. 108 ff.; sowie Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, S. 182 ff. 367 Vgl. hierzu Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 153 f. 368 GemS-OGB, BVerwGE 39, 355 (369). 369 BVerwGE 18, 247 (251).

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grunde liegenden Regeln zu überprüfen,370 was unter Umständen dazu führen könne, dass die nach der Gesetzesfassung als „Kann“-Vorschrift formulierte Norm als „Muss“-Vorschrift zu verstehen ist.371 Unabhängig davon, wie diese im deutschen Verwaltungsrecht verwurzelten Probleme befriedigend zu lösen sind, trägt die Rechtsfigur der Koppelungsvorschrift zumindest zum Verständnis der im Völkerrecht entwickelten Lehre vom Ermessens- oder Beurteilungsspielraum bei. Auch die Doktrin vom Beurteilungsspielraum hat zwei Seiten: Den Spielraum der nationalen Behörde bei der Bewertung einer Situation eines Sachverhalts sowie denjenigen bei der Entscheidung über die anzuwendenden Maßnahmen.372 Sofern in Bezug auf einen unbestimmten Rechtsbegriff die Anwendung des „margin of appreciation“ in Betracht kommt, prüft der EGMR, ob die Handhabung dieses Prüfungsspielraums373 durch die nationalen Behörden sich innerhalb dessen weitgesteckter Grenzen hält. Dabei wird dem betreffenden Staat sowohl bei der Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Konventionsnorm als auch im Rahmen des sich daraus ergebenden Handlungsermessens bezüglich der zu ergreifenden Maßnahmen ein Spielraum zugebilligt.374 Diese Prüfung hat jeweils im Einzelfall zu erfolgen, pauschale Maßstäbe existieren nicht. Überprüft wird, ob die Staaten von dem ihnen eingeräumten Spielraum einen vernünftigen Gebrauch gemacht und dessen Rahmen nicht überschritten haben. Diese Prüfung nimmt der EGMR insbesondere anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vor.375 Sofern eine bestimmte Frage in den einzelnen Konventionsstaaten einheitlich beantwortet wird, gewährt der EGMR einen eher engen Ermessensspielraum; divergieren die Lösungen hingegen in den Vertragsstaaten, so wird der Spielraum eher weit gezogen.376 So urteilte der Gerichtshof etwa, was unter den Begriff „Schutz der Moral“ falle, könne in den einzelnen Staaten nicht einheitlich beantwortet werden.377 Der Begriff „Autorität der Gerichtsbarkeit“ hingegen erschien ihm als in den Mitgliedstaaten weitgehend einheitlich ausgelegt zu werden.378 370 BVerwGE 46, 175 (176 f.); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 153. Vertiefend zum Ganzen Battis, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 152 f. 371 Ossenbühl in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 227. 372 Mosler, Der EGMR nach zwanzig Jahren, S. 601. 373 Die Wahl dieser Formulierung wird der Tatsache, dass der Spielraum sowohl auf Tatbestands – wie auch auf Ermessensseite gewährt wird, gerecht. 374 Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der EMRK, S. 41; Mosler, Der EGMR nach zwanzig Jahren, S. 601. 375 Vgl. hierzu Mosler, Problems of Interpretation, S. 164. 376 Matscher, Methoden der Auslegung der EMRK, S. 123. 377 Handyside ./. Großbritannien und Irland, Beschwerde Nr. 5493/72, Urt. v. 7. Dezember 1976, Ziff. 48. 378 Sunday Times ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 6538/74, Urt. v. 26. April 1979, Ziff. 59.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Während nun die von den Straßburger Organen geprägte autonome Auslegung die eigenständige und unabhängige Seite des EGMR verkörpert, stellt die Anerkennung eines staatlichen Beurteilungsspielraums gewissermaßen das Spiegelbild hierzu dar, indem Verknüpfungen mit den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen in den Konventionsstaaten hergestellt werden.379 Dieses „Gegenstück zur autonomen Auslegung“ 380 verhindert, dass die Straßburger Organe zu „Maximalstandards“ anstrebenden „Superrevisionsinstanzen“ werden.381 Als Bindeglied stellt die Lehre vom Beurteilungsspielraum die Kongruenz zwischen der Effektivität der Konvention und der Souveränität der Mitgliedstaaten her.382 Dieser Beurteilungsspielraum steht nach der Rechtsprechung des EGMR dem staatlichen Gesetzgeber, den Behörden und den Gerichten zu.383 Für dessen Einräumung spricht die bessere Kenntnis der nationalen Behörden über die innerstaatlich bestehenden Verhältnisse. Zum ersten Mal findet dieses Konstrukt in einigen frühen Berichten der KOM Erwähnung,384 der auch die Begriffsschöpfung zuzuschreiben ist. Die KOM hatte die Theorie ursprünglich für die Beurteilung von Notstandsmaßnahmen (Art. 15 EMRK) entwickelt. Hergeleitet wurde sie im Wesentlichen aus dem subsidiären Charakter der Konvention, die gem. Art. 53 EMRK (Art. 60 a. F.)385 lediglich einen Mindeststandard gewähren will.386 Der EGMR wandte die Lehre vom Beurteilungsspielraum erstmals ausdrücklich im Belgischen Sprachenfall 387 an. Dort führte der EGMR aus: „. . . Der Gerichtshof [kann] die 379

Fahrenhorst, Familienrecht und EMRK, S. 126. Weidmann, Der EGMR auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 73. 381 Wildhaber in Karl, IntKommEMRK, Art. 8, Rn. 32. 382 Waldock, Wirksamkeit des Systems der EMRK, S. 602. 383 Sunday Times ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 6538/74, Urt. v. 26. April 1979, Ziff. 59. Für den Bereich der städteplanerischen Politik Sporrong und Lönnroth ./. Schweden, Beschwerden Nr. 7151/75 und 7152/75, Urt. v. 29. Juni 1982, Ziff. 69. 384 KOM, Bericht v. 2. Oktober 1958 im Fall Griechenland ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 176/56, Yearbook 2, 174 (175); sowie KOM, Bericht v. 19. Dezember 1959 im Fall Lawless ./. Irland, Beschwerde Nr. 332/57, Série B (1960–61), S. 82, 130. 385 Art. 53 EMRK lautet: Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden. 386 Belgischer Sprachenfall, Beschwerden Nr. 1474/62, 1691/62, 1769/63, 1994/63, 2126/64, 1677/62, Urt. v. 23. Juli 1968, Ziff. 10; Handyside ./. Großbritannien und Irland, Beschwerde Nr. 5493/72, Urt. v. 7. Dezember 1976, Ziff. 48: „. . . that the machinery of protection established by the Convention is subsidiary to the national systems safeguarding human rights.“ 387 Belgischer Sprachenfall, Beschwerden Nr. 1474/62, 1691/62, 1769/63, 1994/63, 2126/64, 1677/62, Urt. v. 23. Juli 1968. 380

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rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten nicht außer Acht lassen, die das Leben der Gesellschaft in einem Staat kennzeichnen, der sich als Vertragspartei für die in Streit befangenen Maßnahmen zu verantworten hat. Dabei kann sich der Gerichtshof nicht an die Stelle der zuständigen innerstaatlichen Behörden setzen, da er andernfalls den subsidiären Charakter der mit der Konvention errichteten internationalen Einrichtung einer Kollektivgarantie übersähe. Die innerstaatlichen Behörden bleiben frei in der Wahl der Maßnahmen, die sie in den von der Konvention beherrschten Bereichen zu ergreifen für geeignet halten. Die Kontrolle des Gerichtshofes erstreckt sich nur auf die Übereinstimmung dieser Maßnahmen mit den Anforderungen der Konvention.“ 388 Erste Ansätze der Gewährung eines Beurteilungsspielraumes durch den EGMR selbst lassen sich freilich bereits dem Urteil im Fall Lawless389 entnehmen, wo der Gerichtshof im Hinblick auf Art. 5 EMRK zu prüfen hatte, ob von den darin niedergelegten Verpflichtungen nach der Notstandsklausel des Art. 15 EMRK abgewichen werden könne.390 In den „Landstreicher-Fällen“ 391 kam die Lehre vom Beurteilungsspielraum in Bezug auf Art. 8 Abs. 2 EMRK zum Tragen; in den Fällen Handyside392 und Sunday Times393 wurde sie im Rahmen der Überprüfung der Voraussetzungen des Schrankenvorbehalts des Art. 10 Abs. 2 EMRK angewandt. Ebenso fand die Doktrin im Nordirland-Fall394 – hier sogar ausdrücklich395 – Beachtung. Außerdem wurde das Recht auf Zugang zu einem Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK zum Gegenstand der Doktrin gemacht.396 Der EGMR berücksichtigt insbesondere bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe wie etwa des Wehrdienstbegriffs im Sinne des Art. 4 Abs. 3 b) EMRK,397 des Strafensystems in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 3 EMRK398 oder des Verhältnisses der Pressefreiheit im Sinne des Art. 10 EMRK zu den Vorschriften betreffend die Missachtung des Ge388

Ziff. 10 des Urteils. Lawless ./. Irland, Beschwerde Nr. 332/57, Urt. v. 1. Juli 1961. 390 Der Ausdruck „margin of appreciation“ ist zwar im gesamten Urteil nicht zu finden. Gleichwohl bewegen sich die Ausführungen des Gerichtshofs in diese Richtung. 391 De Wilde, Ooms und Versyp ./. Belgien, Beschwerden Nr. 2832/66, 2835/66, 2899/66, Urt. v. 18. Juni 1971, Ziff. 93. 392 Handyside ./. Großbritannien und Irland, Beschwerde Nr. 5493/72, Urt. v. 7. Dezember 1976, Ziff. 47–49. 393 Sunday Times ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 6538/74, Urt. v. 26. April 1979, Ziff. 59. 394 Irland ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 5310/71, Urt. v. 18. Januar 1978, Ziff. 206 f. 395 Ziff. 207 des Urteils. 396 Airey./. Irland, Beschwerde Nr. 6289/73, Urt. v. 9. Oktober 1979, Ziff. 26 ff. 397 Im Fall Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, Urt. v. 8. Juni 1976. 398 Im Fall Tyrer ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 5856/72, Urt. v. 25. April 1978. 389

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

richts399 die nationalen Wertvorstellungen der Konventionsstaaten.400 An dieser Stelle kommt nun die oben bereits erwähnte Rechtsvergleichung ins Spiel: Je größer die Übereinstimmung zwischen dem Recht der Mitgliedstaaten – was zugleich bedeutet, dass der „gemeinsame Nenner“ ein breites Spektrum an Übereinstimmung zwischen dem Recht der Konventionsstaaten liefert – desto geringer der Beurteilungsspielraum. Die Aktualität des margin of appreciation beweist das Urteil Prinz HansAdam II von Liechtenstein401: Nach Auffassung des EGMR haben die Konventionsstaaten einen Beurteilungsspielraum bezüglich der Verpflichtung, dem einzelnen Zugang zu einem Gericht zu gewähren. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist, dass die Doktrin vom Beurteilungsspielraum hier ausdrücklich nicht nur auf Schrankenvorbehalte der EMRK angewendet wird, sondern im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK herangezogen wird, obwohl es sich bei der Garantie des Zugangs zu einem Gericht nicht um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Dieser allmählichen Ausweitung des margin of appreciation auf die verschiedensten Bestimmungen der EMRK hat der EGMR selbst bislang noch keine Grenze gesetzt. Aus diesem Grunde steht einer Anwendung dieser Lehre auch in bislang unberührten Bereichen nichts im Wege.402 Dies ist wichtig für die spätere Frage, ob die Lehre vom Beurteilungsspielraum im Rahmen des Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren fruchtbar gemacht werden kann. Kapitel 3

Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK „It may be true that the still existing uncertainty makes the first paragraph of Article 6 ,a mysterious woman whose attractiveness increases with her incomprehensibility‘.“403

I. Vorbemerkungen Neben Art. 5 EMRK stellt Art. 6 EMRK eine der bedeutsamsten Vorschriften der Konvention dar, was schon die große Zahl eingelegter Beschwerden ver399 Im Fall Sunday Times ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 6538/74, Urt. v. 26. April 1979. 400 Ress, Wechselwirkungen, S. 31. 401 Prinz Hans-Adam II von Liechtenstein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42527/ 98, Urt. v. 12. Juli 2001, Ziff. 43 ff. 402 So auch Macdonald, Margin of Appreciation, S. 192. 403 Vriesendorp, in: Handelingen NJV 1983-II (Proceedings of the Netherlands Lawyers Association), S. 48, zitiert von van Dijk, Access to Court, S. 351 mit dem Zusatz: „as Homer found out, mysterious women are not the most reliable beacons“.

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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deutlicht, mit denen die Verletzung dieser Norm geltend gemacht wird.404 Auch in der Wahrnehmung der Bürger der Konventionsstaaten scheint jene Norm – vermutlich aufgrund eigener Erfahrungen mit der Langatmigkeit der Justiz – im Vordergrund zu stehen. Der Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK hat Kommission und Gerichtshof daher seit Beginn ihrer Tätigkeit fortwährend beschäftigt. Dabei hat sich – insbesondere im Bereich der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen – eine äußerst dynamische,405 teilweise sehr einzelfallbezogene406 Rechtsprechung entwickelt. Wie im vorhergehenden Kapitel dargestellt, verfolgt der EGMR einen autonomen Interpretationsansatz.407 Im Rahmen der folgenden Erörterungen soll dieser Ansatz daher ebenfalls den Ausgangspunkt bilden. Die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Verfassungsgerichtsverfahren wird aufgrund der Besonderheiten dieser Verfahren in einem gesonderten Kapitel behandelt werden. Art. 6 Abs. 1 EMRK, für den Art. 10 AEMR sowie Art. 13 Abs. 1 des Entwurfs des IPBPR von 1949 als Vorlage dienten,408 enthält im Gegensatz zu den erwähnten Normen einen Anspruch auf ein zügiges Verfahren auch für „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“.409 In persönlicher Hinsicht stehen die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 EMRK „jedermann“ zu, der der Hoheitsgewalt der EMRK unterliegt,410 worunter natürliche wie juristische Personen,411 Ausländer oder Staatenlose412 fallen.413 In sachlicher Hinsicht gilt Art. 6 Abs. 1 EMRK nur für Verfahren vor Gerichten der Konventionsstaaten. 404 Der Statistik des Jahres 2004 beispielsweise ist zu entnehmen, dass die meisten der eingehenden Beschwerden die Verfahrensdauer betreffen, vgl. Hausmann, Menschenrechte, in: Das Parlament v. 14.2.2005. 405 Miehsler/Vogler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Vorbem. II. 406 Zum Problem der „Einzelfallgerechtigkeit“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, Ress, Einzelfallbezogenheit, S. 719 ff. 407 Statt vieler Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986. Vgl. hierzu im Übrigen die Ausführungen in Kapitel 2. 408 Vgl. zu Art. 10 AEMR Kapitel 1, II. 12. Art. 13 des UN-Entwurfs lautet: „In the determination of any criminal charge against him, or of his rights and obligations in a suit of law, everyone is entitled to a fair and public hearing, by an independent and impartial tribunal established by law. Judgment shall be pronounced publicly, but the Press and public may be excluded from all or part of the trial in the interests of morals, public order or national security, or where the interest of juveniles or incapacitated persons so require.“ (Abgedruckt in: United Nations, Yearbook on Human Rights 1949, S. 333.) 409 Vgl. hierzu Matscher, Zum Problem der überlangen Verfahrensdauer, S. 355, Fn. 18. 410 Anzuknüpfen ist hierbei an das Territorialitätsprinzip, vgl. Bröhmer, Die Bosphorus-Entscheidung des EGMR, S. 72. 411 Jacot-Guillarmod, Rights Related to Good Administration of Justice, S. 384. 412 Frowein/Peukert, Art. 6 Rn. 4. 413 Vgl. statt vieler Ashingdane ./. Großbritannien, Urt. v. 28. Mai 1985, Ziff. 57 = EuGRZ 1986, 12; Philis ./. Griechenland, Urt. v. 27. August 1991, Ziff. 59 = EuGRZ 1991, 356.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

II. „Zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ 1. Bestand und Klagbarkeit eines Anspruchs Nach dem Wortlaut der deutschen Übersetzung des Art. 6 EMRK findet die Bestimmung auf solche Verfahren Anwendung, in denen über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ zu entscheiden ist. Dies führt zu der Frage, was unter einem „Anspruch“ in diesem Sinne zu verstehen ist: Sowohl in der englischen als auch in der französischen Fassung ist nicht von „Ansprüchen“ die Rede, sondern von „determination of his rights“ 414 beziehungsweise von „contestations sur ses droits“415. Die beiden authentischen, aber gleichwohl sprachlich verschiedenen Textfassungen führen dabei zu Irritationen: So ist in der französischen Fassung der Ausdruck contestation sur ses droits enthalten, was in der englischen Version nicht der Fall ist. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der engeren französischen und der weiteren englischen Fassung galt es, im Einklang mit Art. 33 WVK aufzulösen. Der EGMR behilft sich damit, die Formulierung dispute over a right als Übersetzung des in der französischen Fassung vorkommenden Begriffs contestation zu verwenden. Ein Blick auf die jeweils authentischen Fassungen des Art. 55 EMRK zeigt nämlich, dass dort jeweils die Formulierungen contestation und dispute als synchrones Begriffspaar verwendet werden. Unter Zugrundelegung der Systematik des Vertrages gebraucht der EGMR dieses Begriffspaar auch im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Das Vorliegen einer „Streitigkeit“ ist damit einerseits Voraussetzung; andererseits werden dabei keine allzu strengen Maßstäbe angesetzt. Dem Erfordernis des Art. 33 WVK ist damit wohl Genüge getan. Die Voraussetzung des Bestehens eines „Anspruchs“, wie ihn die deutsche Übersetzung fordert, ist demgegenüber in ihrer Formulierung schon zu weitgehend, soll es doch in Übereinstimmung mit den weiter gefassten authentischen Vertragstexten ausreichen, dass „das Recht“ in schlüssiger beziehungsweise argumentativ vertretbarer Weise („arguable claim“) geltend gemacht wird.416 Die Begründetheit des Anspruchs ist hingegen gesondert zu betrachten und im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens zu klären.417 Der Begriff „Anspruch“ beziehungsweise „Recht“ (contestation sur un droit/dispute418 over a right) ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR sowie früher der KOM autonom auszule414

In etwa zu übersetzen mit „Entscheidung über Rechte“. Zu übersetzen mit „Streitigkeiten über Rechte“. 416 Etwa Lipski ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 15688/89, Entscheidung vom 3. Dezember 1990; Zander ./. Schweden, Beschwerde Nr. 14282/88, Urteil vom 25. Oktober 1993, Ziff. 22; sowie Le Calvez ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 25554/94, Urteil vom 29. Juli 1998, Ziff. 56; Posti u. Rahko ./. Finnland, Beschwerde Nr. 27824/95, Urt. v. 24. September 2002, Ziff. 52. Zum Ganzen auch Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 81 ff. 417 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 6. 415

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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gen, so dass auch bloße Interessen unter den Anwendungsbereich dieser Norm fallen können, selbst wenn sie nach innerstaatlichem Recht nicht als „Anspruch“ anzusehen sind.419 Ein Anspruch im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK liegt demzufolge vor, wenn man es mit einem wirklichen und ernsthaften (genuine and serious)420 Rechtsstreit (contestation/dispute)421 zu tun hat, der dem Bestehen, dem Inhalt oder den Bedingungen eines Anspruchs (droit/right) gilt, von dem man in vertretbarer Weise behaupten kann, dass er vom innerstaatlichen Recht des beklagten Staates anerkannt wird.422 Darüber hinaus muss der Ausgang des Verfahrens, welches Art. 6 EMRK unterliegen soll, unmittelbare und entscheidende Auswirkungen auf den Anspruch haben.423 Auch an dieser Stelle zeigt sich die autonome Auslegungsweise des EGMR: So hat der EGMR beispielsweise in dem vorerwähnten Fall Procola424 in recht „beschwerdeführerfreundlicher Manier“ 425 – entgegen der Auffassung der KOM und der Luxemburger Regierung – das Vorliegen eines Anspruchs mit dem Argument bejaht, das Verfahren habe vermögensrechtliche Folgen426 für die Beschwerdeführerin, obwohl ein dem deutschen abstrakten Normenkontrollverfahren vergleichbares Verfahren zugrundelag. Verneint hat der Gerichtshof das Vorliegen eines „dis418 Der Ausdruck dispute findet sich zwar nicht in der englischen Fassung des Art. 6; er wird jedoch vom EGMR als Übersetzung des in der französischen Fassung vorkommenden Begriffs contestation benutzt. Vgl. hierzu auch Matscher, Contestation sur un droit ou une obligation, S. 396. 419 Kaplan ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 7598/76, Ziff. 134; Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 7. 420 Posti u. Rahko ./. Finnland, Beschwerde Nr. 27824/95, Urt. v. 24. September 2002, Ziff. 50; Chevrol ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 49636/99, Urt. v. 13. Februar 2003, Ziff. 44; Valová, Slezák u. Slezák, Beschwerde Nr. 44925/98, Urt. v. 1. Juni 2004, Ziff. 58; vgl. hierzu im Übrigen van Dijk, Access to Court, S. 354. 421 „Can it be said that there was a veritable contestation (dispute) in the sence of two conflicting claims or applications?“, Le Compte, Van Leuven und De Meyere ./. Belgien, Beschwerden Nr. 6878/75 und 7238/75, Urt. v. 23. Juni 1981, Ziff. 45. Feldbrugge ./. Niederlande, Beschwerde Nr. 8562/79, Urteil v. 29. Mai 1986, Ziff. 25; sowie Chevrol ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 49636/99, Urt. v. 13. Februar 2003, Ziff. 49. 422 Baraona ./. Portugal, Beschwerde Nr. 10092/82, Urt. v. 8. Juli 1987, Ziff. 38 ff.; Zander ./. Schweden, Beschwerde Nr. 14282/88, Urt. v. 25. November 1993, Ziff. 24; Matscher, Contestation sur un droit ou une obligation, S. 404. 423 Vgl. hierzu die Urteile in den Fällen Editions Périscope ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 11760/85, Urt. v. 26. März 1992, Série A Nr. 234-B, Ziff. 35–38; Kerojärvi ./. Finnland, Beschwerde Nr. 17506/90, Urt. v. 19. Juli 1995, Série A Nr. 322, Ziff. 32; Procola ./. Luxemburg, Beschwerde Nr. 14570/89, Urt. v. 28. September 1995, Ziff. 34–37; sowie Masson und Van Zon ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 15346/ 89 bzw. 15379/89, Urt. v. 28. September 1995, Série A Nr. 327-A, Ziff. 44. 424 Procola ./. Luxemburg, Beschwerde Nr. 14570/89, Urt. v. 28. September 1995, Ziff. 34–37. 425 Callewaert, EMRK und Verfahrensgarantien, S. 366. 426 Diese Art der Entscheidungsfindung bezeichnet Christoph Grabenwarter als „Vermögenswertjudikatur“, Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 43.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

pute“ jüngst im Fall Al-Moayad,427 dem ein Auslieferungsverfahren zugrundelag. Die zweite eng mit der Voraussetzung des „Bestehens eines Anspruchs“ verknüpfte Frage ist die nach der Klagbarkeit des Anspruchs.428 Klagbarkeit setzt voraus, dass ein ernsthafter Streit über den Anspruch besteht (genuine dispute of a serious nature),429 der einer richterlichen Überprüfung zugänglich ist und dem eine wenigstens vertretbare Rechtsbehauptung zugrunde liegt.430 Probleme ergeben sich hier etwa, wenn ein Beschwerdeführer innerstaatlich einen Verwaltungsakt angefochten hat, dessen Erlass im Ermessen der Behörde stand. Es stellt sich dann die Frage, ob ein subjektives Recht auf fehlerfreie Ermessensbetätigung anzuerkennen ist, da nach der Rechtsprechung des EGMR nur in diesem Fall von einem echten Streit im Sinne des Art. 6 EMRK gesprochen werden kann. Der EGMR löst das Problem so, dass ein Anspruch dann vorliegen soll, wenn zum einen das zu beurteilende Verwaltungsermessen nicht völlig unbegrenzt ist und zum anderen der Beschwerdeführer nicht allein die Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns, sondern zugleich dessen Rechtmäßigkeit angreift.431 Diese Abgrenzung lässt sich damit begründen, dass nach Straßburger Rechtsprechung nur dann eine echte „Streitigkeit über ein Recht“ vorliegt, wenn dieser Streit einer richterlichen Prüfung zugänglich ist. Für Entscheidungen, die allein im Ermessen einer Behörde stehen, hat das nationale Gericht aus Sicht des EGMR keine Prüfungskompetenz, da dieses nicht anstelle der Behörde entscheiden könne.432 Der EGMR argumentiert damit rein erfolgsbezogen; auf die Rechtsgrundlage, auf der die behördliche Entscheidung beruht, kommt es ihm zufolge nicht an. Er gelangte so etwa zu dem fragwürdigen Ergebnis, die Anfechtung eines Prüfungsergebnisses, welches zur fehlerhaften Bewertung der fachlichen Eignung des Beschwerdeführers als Wirtschaftsprüfer führte, stelle keine „Streitigkeit über ein Recht“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK dar, weil 427 Al-Moayad ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 35865/03, Entsch. v. 20. Februar 2007, Ziff. 93. 428 Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 11. 429 Pudas ./. Schweden, Beschwerde Nr. 10426/83, Urt. v. 24. September 1987, Série A Nr. 125-A, Ziff. 31; Zander ./. Schweden, Beschwerde Nr. 14282/88, Urt. v. 25. Oktober 1993, Ziff. 22; Mennitto ./. Italien, Beschwerde Nr. 33804/96, Urt. v. 5. Oktober 2000, Ziff. 23; sowie J. S. u. A. S. ./. Polen, Beschwerde Nr. 40732/98, Urt. v. 24. Mai 2005, Ziff. 49. 430 Matscher, Contestation sur un droit ou une obligation, S. 404. 431 Vgl. hierzu Bodén ./. Schweden, Beschwerde Nr. 10930/84, Urt. v. 24. September 1987, Série A Nr. 125-B, Ziff. 32; sowie Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6, Rn. 13. 432 Diese Sichtweise ist der aus dem deutschen Verwaltungsrecht bekannten Unterscheidung zwischen gebundenen Ansprüchen, über welche das befasste Gericht „voll“ befinden darf, und Ansprüchen, die lediglich auf die fehlerfreie Ausübung des Ermessens gerichtet sind, über welche das Gericht dann auch nur in beschränktem Umfang befinden kann, vergleichbar.

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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diese Bewertung vergleichbar sei mit der Bewertung in einem Schul- oder Universitätsexamen, für welche aber ein Gericht keine Prüfungskompetenz habe.433 Gebundene Ansprüche dagegen, auf die der Bürger einen direkten Anspruch hat, können ohne weiteres dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK unterfallen.434 Um eine „Streitigkeit über ein Recht“ handelt es sich im Falle einer Ermessensentscheidung also dann, wenn sich die Streitigkeit auf die Rechtmäßigkeit, nicht lediglich auf die Zweckmäßigkeit der Behördenentscheidung bezieht, weil der Streit in diesem Fall von den Gerichten entschieden werden kann. Die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist dabei nach dem Gerichthof nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil bei der Entscheidung auch Ermessenselemente einfließen.435 Insbesondere bei Pensionsansprüchen von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes wird seither die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK regelmäßig bejaht, auch wenn der Verwaltung bei ihrer Entscheidung ein Ermessensspielraum zusteht.436 Nicht für ausreichend wird dagegen weiterhin eine Entscheidung erachtet, die vollkommen im Ermessen der zuständigen Behörde liegt. Dann könne nämlich nicht von einem wirklichen „Recht“ oder „Anspruch“ die Rede sein.437 433 van Marle u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 8543/79, 8674/79, 8675/79, 8685/79, Urt. v. 26. Juni 1986, Ziff. 36; sowie aktuell Herbst ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20027/02, Urt. v. 11. Januar 2007, Ziff. 54 – dort wird indes – insoweit widersprüchlich – im Rahmen der Angemessenheit der Dauer des parallel gelagerten Zivilverfahrens zusätzlich auf die Dauer des Verwaltungsverfahrens (mit) abgestellt, obgleich die Anwendbarkeit bezüglich dieses Verfahrens zuvor verneint wurde, Ziff. 80 des Urteils. Nach deutschem Recht handelt es sich unbestritten um öffentliches Recht; dem Prüfungskandidaten steht ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung auch im Rahmen von Prüfungsentscheidungen zu. Diese Prüfungsentscheidung ist vom Verwaltungsgericht auch überprüfbar, mit der Besonderheit, dass der Behörde ein Beurteilungsspielraum zugesprochen wird: Deshalb sind derartige Prüfungsentscheidungen lediglich daraufhin zu überprüfen, ob der Prüfungsmaßstab richtig angewendet wurde, ob die wesentlichen Verfahrensvorschriften eingehalten wurden, ob der richtige Sachverhalt zugrundegelegt wurde, ob keine allgemeingültigen Bewertungsmaßstäbe verletzt wurden und ob die Prüfer sich nicht von sachfremden Kriterien haben leiten lassen; vgl. BVerwGE 8, 272. 434 Statt vieler Sporrong und Lönnroth ./. Schweden, Beschwerden Nr. 7151/75 und 7152/75, Urt. v. 29. Juni 1982, Ziff. 84 ff. 435 McElhinney./. Irland, Beschwerde Nr. 31253/96, Urt. v. 21. November 2001, Ziff. 26. 436 Volkmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39799/98, Entsch. v. 22. November 2001. 437 Fodor ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 25553/02, Entsch. v. 11. Dezember 2006. Dort standen Ansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz im Streit, die vollständig im Ermessen des zuständigen Versorgungsamtes lagen. Diese Entscheidung überzeugt freilich nicht ganz, da in dem zugrundeliegenden Instanzverfahren geprüft worden war, ob das Versorgungsamt sein Ermessen überschritten oder fehlgebraucht hatte. Auch bei Ermessensentscheidungen ist die Behörde schließlich nicht völlig frei in ihrer Entscheidung. Die durch die Voraussetzungen der fehlerfreien Ermessensausübung

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Problematisch war das Bestehen eines klagbaren Anspruchs ferner im Fall Voggenreiter:438 Dem Fall lag eine Gesetzesverfassungsbeschwerde gegen das deutsche Tarifaufhebungsgesetz439 zugrunde. Aus Sicht des EGMR stand fest, dass der Beschwerdeführerin selbst für den Fall, dass das BVerfG das Tarifaufhebungsgesetz für verfassungswidrig erklären sollte, keine Amtshaftungsansprüche zustünden. Ein Amtshaftungsanspruch ist nämlich nach einhelliger Auffassung und obergerichtlicher Rechtsprechung gegen Legislativakte nicht möglich.440 Mit dieser Argumentation hatte auch die Regierung die Entscheidungserheblichkeit der verfassungsgerichtlichen Entscheidung verneint. Der EGMR bejahte hingegen die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK mit der Begründung, es sei nicht sicher, dass eine befürwortende Entscheidung des BVerfG keinerlei Auswirkungen auf die Situation der Beschwerdeführerin gehabt hätte. Es sei nicht auszuschließen, dass das BVerfG, hätte es eine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde getroffen, auf die Situation der Beschwerdeführerin hätte Einfluss nehmen können – sei es dadurch, den Gesetzgeber zu einer Gesetzesänderung aufzufordern, oder dadurch, eine einstweilige Anordnung zugunsten der Beschwerdeführerin zu treffen.441 Diese Entscheidung ist beispielhaft für die Vorgehensweise des EGMR: Er nimmt zunächst hypothetisch den Fall an, dass das BVerfG über die Verfassungsbeschwerde entschieden hätte (1. Hypothese). Sodann unterstellt er, dass diese Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde für den Beschwerdeführer erfolgreich gewesen wäre (2. Hypothese). In einem dritten Schritt prüft er letztendlich, was das BVerfG im Anschluss an die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wohl unternommen hätte (3. Hypothese). Allein über diese Dreifach-Hypothese gelangt er schließlich zur Bejahung der Frage des Bestandes und der Klagbarkeit eines Anspruchs – obwohl die Beschwerdeführerin in besagtem Fall den „Anspruch“ nicht hätte einklagen können. Erklären lässt sich dies allenfalls damit, dass der EGMR dem Beschwerdeführer nicht bereits auf der ersten Stufe der Anwendbarkeitsprüfung die Möglichkeit der Geltendmachung der Konventionsrechte abschneiden will. Dementsprechend praktiziert er eine sehr weite und offene Auslegungsweise.

gesteckten Grenzen des Verwaltungsermessens hat der EGMR freilich in dieser Entscheidung nicht berücksichtigt. Unter dieser Prämisse hätte die Frage der Anwendbarkeit durchaus entgegengesetzt entschieden werden können. 438 Voggenreiter ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 47169/99, Urt. v. 8. Januar 2004. 439 BGBl. I 1993 S. 1489–1498. 440 BGHZ 56, 40 (46) = NJW 1971, 1172, 1174; BGHZ 45, 83 = NJW 1966, 877; BGHZ 24, 302 (306) = NJW 1957, 1235; BGH, VersR 1988, 1046; BGHZ 102, 350 (367) = NJW 1988, 478; BGH, NJW 1989, 101; NVwZ-RR 1993, 450; BGHZ 91, 243, 249 f. = NJW 1984, 2216. Vgl. auch OLG Hamburg, DÖV 1971, 238 f.; BayObLG, NJW 1997, 1514 f. 441 Obwohl im Wege einer einstweiligen Anordnung nicht mehr zugesprochen werden könnte, als im Hauptsacheverfahren erreichbar wäre!

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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2. „Zivilrechtlicher“ Charakter des Anspruchs Die zweite und wohl im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK umstrittenste Voraussetzung ist die des zivilrechtlichen Anspruchs. Wann kann ein Anspruch als zivilrechtlich im Sinne der Konvention bezeichnet werden? Dass die deutsche Übersetzung hierbei nicht maßgeblich sein kann, wurde bereits im vorhergehenden Kapitel erörtert. Allein die englische Fassung, die darauf basiert, dass das angelsächsische Rechtssystem keine Trennung von Zivilrecht und öffentlichem Recht kennt, sowie die französische Fassung, die wiederum eine römisch-rechtliche Abgrenzung, wie sie auch dem deutschen Rechtssystem zueigen ist, nahe legt, sind hierfür ausschlaggebend.442 Die englische Textfassung ist jedenfalls nicht zwingend auf das Zivilrecht nach kontinentaleuropäischem Verständnis beschränkt. Bei unbefangener Betrachtung können den „civil rights“ durchaus sämtliche dem öffentlichen Recht unterfallenden Ansprüche wie beispielsweise Baugenehmigungen oder auch steuerrechtliche Ansprüche subsumiert werden. Bei der französischen Fassung ist dies nicht so eindeutig; teilweise wird vertreten, hier werde eine Trennung zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht im Sinne klassisch kontinentaleuropäischer Differenzierung vorgenommen. Anderer Auffassung zufolge sind allein politische Rechte443 aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgenommen.444 „Civil rights“ stellen dieser Auffassung folgend also einen Auffangtatbestand dar; im Zweifel ist danach vom Vorliegen eines „civil right“ auszugehen. Es liegt auf der Hand, dass dieser Auffassung nicht gefolgt werden kann: Zum einen entbehrt der Begriff der „politischen Rechte“ hinreichend klarer Konturen. Zum anderen findet sich eine tragfähige Begründung im Sinne einer Zweifelsregel zugunsten von „civil rights“ aber auch in den Rechtsordnungen der – mehrheitlich kontinentaleuropäisch geprägten – Mitgliedstaaten nicht.445 Darüber hinaus würde bei dieser Vorgehensweise der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK erheblich ausgeweitet. Abgelehnt hat es der Gerichtshof bis heute, sich hier auf eine abstrakte Definition festzulegen, woraus etwa Wilfried Ludwig Weh die kuriose Schlussfolgerung zieht, alle jene Verfahren fielen unter Art. 6 Abs. 1 EMRK, für welche der Straßburger Gerichtshof dies annehme – „civil rights are what the Court thinks they are.“ 446 Auch der Richter am EGMR De Meyer führte in seinem Sonder442

Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 54. Gemeint sein sollen hier „übliche Bürgerrechte und -pflichten“, nämlich beispielsweise Verpflichtungen aus dem Steuerrecht, Rechte aus dem politischen Bereich, Entscheidungen über das aktive und passive Wahlrecht, Untersagung einer Versammlung, etc. 444 Lemmens, Geschillen over burgerlijke rechten en verpflichtingen, 1989, S. 229 ff.; zitiert bei Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 57. 445 Vgl. zum ganzen Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 57. 446 So Weh, Der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMKR, S. 446. 443

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

votum im Fall H. gegen Belgien aus, er beginne in zunehmendem Maße zu glauben, dass jede Rechtssache, die sich nicht auf die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage beziehe, unter den Tatbestand des zivilrechtlichen Anspruchs falle.447 Fasste man Art. 6 Abs. 1 EMRK als rein verfahrensrechtliche Bestimmung auf, die keinerlei Rückschlüsse auf das materielle Recht zulässt,448 wäre dieser Auffassung449 zuzustimmen. Den beiden authentischen Fassungen ist nämlich nicht zu entnehmen, dass mit „civil rights“ beziehungsweise „droits de caractère civil“ Bezug auf materielles Privatrecht genommen werden sollte.450 Die Annahme einer reinen Verfahrensbestimmung ließe sich folglich damit rechtfertigen, dass eine Abgrenzung zu den „criminal rights“ geschaffen werden sollte.451 Die französische Fassung „droits de caractère civil“ bestätigt dies nach Auffassung einiger Stimmen zusätzlich, wurde doch ausdrücklich nicht etwa die Formulierung „droits civils“ gewählt.452 Gleichwohl vernachlässigte man so die Tatsache, dass die meisten europäischen Staaten der kontinentaleuropäischen Tradition verwurzelt sind, die eben die klassische Trennung zwischen Zivilrecht und Öffentlichem Recht vornimmt. Die Annahme, Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Alternative der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ stelle eine reine Verfahrensbestimmung dar, die immer dann einschlägig sei, wenn eben keine „Anklage“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt, ist deshalb abzulehnen. Dem Wortlaut der Norm sowie der gemeinsamen Tradition der Mitgliedstaaten ist Derartiges nicht zu entnehmen.453 Zudem wären die Wendungen „civil rights“ beziehungsweise „criminal rights“ ansonsten entbehrlich. Auch die historische Auslegung, der Rückgriff auf Art. 10 AEMR, bestätigt diese Auffassung nicht. Ebenso ist dem französischen Recht eine engere Auslegung geläufiger:454 So sollen den „droits et obligations de caractère civil“ nur solche Rechte und Verpflichtungen unterfallen, die vermögenswerten Charakter haben.455 447

H. ./. Belgien, Beschwerde Nr. 8950/80, Urt. v. 30. November 1987, Série A Nr. 127, S. 49. 448 Art. 6 EMRK befasst sich schließlich nicht mit dem dem jeweiligen Verfahren zugrundeliegenden materiellen Recht. Dem folgend ließe sich begründen, dass die Norm auf alle Verfahren Anwendung findet, in denen über Rechte oder Pflichten des Einzelnen – gleich aus welchem Rechtsgrund – zu entscheiden ist. 449 Insbesondere Buergenthal/Kewenig, Zum Begriff der Civil Rights in Artikel 6 Absatz 1 der EMRK, S. 407 ff. haben sich ihr angeschlossen. 450 Sie sind diesbezüglich vielmehr offen formuliert. Allgemein hierzu Vélu/Ergec, La Convention Européenne des Droits de l’Homme, Rn. 420. 451 So Buergenthal/Kewenig, Zum Begriff der Civil Rights in Artikel 6 Absatz 1 der EMRK, S. 409. 452 Ähnlich Morvay, Entscheidungen nationaler Gerichte zur EMRK, S. 335; sowie Stabel, Der Anspruch auf angemessene Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, S. 53. 453 Zutreffend Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 54. 454 Vélu, Le problème de l’application aux juridictions administratives, S. 138.

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Der EGMR hat aus der französischen Fassung abgeleitet, die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK sei nicht auf die Zivilgerichtsbarkeit im kontinentaleuropäischen Sinn beschränkt; vielmehr könnten auch Verfahren, die nach innerstaatlichem Recht als verwaltungsrechtlich zu qualifizieren sind, durchaus Art. 6 Abs. 1 EMRK subsumiert werden. Den Anfang dieser Rechtsprechungsentwicklung machten die Fälle Ringeisen456 und König457, bei denen der Gerichtshof zu dem Schluss gelangte, es komme wegen der autonomen Bedeutung des Begriffs „civil right“ nicht auf die Einordnung eines Anspruchs oder Rechts im innerstaatlichen Recht an. So hat er in der Rechtssache Ringeisen geurteilt, der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 EMRK beschränke sich nicht nur auf Verfahren zwischen zwei Privatpersonen, sondern erstrecke sich auf alle Verfahren, deren Ausgang für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen entscheidend sein könne. Der Charakter der betreffenden innerstaatlichen Norm sowie die Art des Gerichts, das im Einzelfall die Sache zu entscheiden hat, seien dagegen zweitrangig.458 Im Ergebnis bejahte der EGMR in diesem Fall die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Argument, die Entscheidung sei ausschlaggebend für die zivilrechtlichen Beziehungen zwischen den Parteien gewesen, obwohl dem Rechtsstreit ausnahmslos verwaltungsrechtliche Normen zugrunde lagen. Im Fall König bekräftigte der EGMR seine Rechtsprechung zur eigenständigen Auslegung im Sinne der Konvention. Zwar berücksichtigte er in seiner Entscheidung das Recht des betroffenen Staates, zog dabei aber nicht die juristische Bezeichnung des betreffenden Rechtsanspruchs im nationalen Recht heran, sondern legte den materiellen Gehalt und die Rechtsfolgen, die dieser Anspruch im nationalen Recht hat, zugrunde. Sodann genügte dem EGMR die Feststellung, dass der Betrieb einer Privatklinik eine zur Gewinnerzielung ausgeübte Tätigkeit darstellt, die sich durch den Abschluss von Verträgen zwischen Klinik und Patient im privaten Bereich entfaltet. Diese Tätigkeit stelle sich als die Ausübung eines Privatrechts dar, das gewissermaßen dem Eigentumsrecht ähnle.459 Von geringer Bedeutung sei hingegen, dass es sich bei dem fraglichen – mit dem hoheitlichen Entzug der Approbation endenden – Verfahren um ein rein verwaltungsrechtliches handelte.460 Nach dem Gerichtshof kommt es für die Frage, ob ein Rechtsstreit die Entscheidung über einen „zivilrechtlichen“ 455 M. Dabin, zit. bei Vélu, Le problème de l’application aux juridictions administratives, S. 139. 456 Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971. 457 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978. 458 Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971, Ziff. 94. 459 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 92. Immerhin waren aber zwei der zur Entscheidung berufenen Richter der Meinung, Art. 6 Abs. 1 sei vorliegend nicht anwendbar, vgl. hierzu die dissenting opinions der Richter Matscher und Pinheiro Farinha. 460 Ziff. 94 des Urteils.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Anspruch zum Gegenstand hat, allein auf die Auswirkungen des betreffenden Anspruchs an. Rechtsvergleichende Überlegungen, für welche sich der EGMR im Urteil selbst einsetzt,461 werden freilich im Rahmen der Subsumtion nicht angestellt.462 In den nachfolgenden Entscheidungen wurde die begonnene Judikatur bestätigt und der Anwendungsbereich der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen sogar noch weiter ausgedehnt. Im Fall Le Compte, Van Leuven und De Meyere,463 der – ähnlich dem Fall König – ein Verfahren betreffend die Suspendierung der ärztlichen Approbation zum Gegenstand hatte,464 präzisierte der EGMR seine vage und weitreichende Formel aus dem Urteil König: Weder ein loser Zusammenhang noch entfernte Auswirkungen genügten zur Bejahung der Frage, ob ein „civil right“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK betroffen sei. Vielmehr müssten zivilrechtliche Rechte und Verpflichtungen den Gegenstand des Rechtsstreits (contestation) bilden. Der Ausgang des Verfahrens müsse unmittelbar bestimmend für ein solches Recht sein.465 Im Fall Kraska,466 bei dem es inhaltlich ebenfalls um den Entzug der ärztlichen Approbation ging, beschäftigte sich der Gerichtshof nur notdürftig mit der Frage der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf verwaltungsrechtliche Verfahren und bejahte diese unter Verweis auf die vorerwähnten Urteile König und Le Compte, Van Leuven und De Meyere. Erwähnenswert ist hierbei, dass sich der EGMR flüchtig mit der schweizerischen Rechtslage, nach welcher – wie nach deutschem Recht – der öffentlich-rechtliche Charakter zu bejahen wäre, auseinander setzte. Nichtsdestotrotz stellte er auch hier letztlich auf den privatrechtlichen Charakter der Verträge, die ein Arzt mit seinen Patienten abschlösse, ab und bejahte aus diesem Grund das Vorliegen eines „civil right“.467 Wiederum eher unbestimmt wa-

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Ziff. 89 des Urteils. Diesen Mangel kritisiert auch das Sondervotum des Richters Franz Matscher (EuGRZ 1978, S. 421 ff.), der fordert, es müsse auf den völkerrechtlichen Grundsatz des „gemeinsamen Nenners“ abgestellt werden; der im Urteil entworfene Begriff des „Zivilrechts“ finde in den Rechtssystemen der Mehrheit der Vertragsstaaten keine Grundlage (S. 422). 463 Le Compte, Van Leuven und De Meyere ./. Belgien, Beschwerden Nr. 6878/75 und 7238/75, Urt. v. 23. Juni 1981. 464 Der Unterschied zum Fall König bestand darin, dass kein verwaltungsgerichtliches, sondern ein disziplinarrechtliches Verfahren zur Suspendierung der Approbation führte. 465 Ziff. 47 des Urteils. Der Gerichtshof legt auch in aktuellen Entscheidungen großes Gewicht darauf, ob der Verfahrensausgang für die Ausübung des Rechts unmittelbar entscheidend ist, vgl. nur Posti u. Rahko ./. Finnland, Beschwerde Nr. 27824/95, Urt. v. 24. September 2002, Ziff. 50; Chevrol ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 49636/99, Urt. v. 13. Februar 2003, Ziff. 44; sowie Valová, Slezák u. Slezák ./. Slowakei, Beschwerde Nr. 44925/98, Urt. v. 1. Juni 2004, Ziff. 58. 466 Kraska ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 13942/88, Urt. v. 19. April 1993. 467 Ziff. 25 des Urteils. 462

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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ren die Ausführungen des Gerichtshofs im Fall Sporrong und Lönnroth: Gegenstand des verwaltungsrechtlichen Verfahrens war die bloße Bedrohung des Eigentums mit einer Enteignung.468 Lapidar äußerte das Gericht, das Eigentumsrecht der Beschwerdeführer stelle „ohne Zweifel“ ein „civil right“ dar.469 Auch verwaltungsrechtliche Enteignungsverfahren aufgrund einer Agrarreform470 sowie verwaltungsrechtliche Streitigkeiten infolge unerlaubten Bauens des Nachbarn471 sind nach der inzwischen ständigen Rechtsprechung des EGMR Verfahren über „civil rights“ im Sinne der Konvention. Ähnlich urteilte der Gerichtshof in den parallel gelagerten und am selben Tag entschiedenen Fällen Ettl u. a.,472 Erkner und Hofauer473 sowie Poiss.474 Allen drei Fällen lag ein nach dem österreichischen Flurverfassungsgesetz vorgesehenes Entschädigungsverfahren zugrunde; der Gerichtshof bejahte jeweils die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil der Ausgang der fraglichen Verfahren für das Eigentum der Beschwerdeführer von entscheidender Bedeutung sei.475 Bahnbrechende Entscheidungen ergingen wenig später in den Fällen Deumeland 476, Feldbrugge477, Salesi 478 und Schuler-Zgraggen479, die allesamt sozialversicherungsrechtliche Verfahren zum Gegenstand hatten. Die KOM hatte in den Fällen Deumeland und Feldbrugge die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK mit der Begründung abgelehnt, sozialversicherungsrechtliche Ansprüche fielen nicht unter dessen Anwendungsbereich. Insofern seien diese Fälle auch nicht mit den bereits vom Gerichtshof entschiedenen Fällen vergleichbar, in denen die Anwendbarkeit auf verwaltungsgerichtliche Verfahren bejaht worden war. Es sei darüber hinaus nicht ersichtlich, dass die Entscheidung über den 468 Sporrong und Lönnroth ./. Schweden, Beschwerden Nr. 7151/75 und 7152/75, Urt. v. 29. Juni 1982. 469 Ziff. 79 des Urteils. Ähnlich urteilte der EGMR in den Fällen Bodén ./. Schweden, Beschwerde Nr. 10930/84, Urt. v. 24. September 1987, Ziff. 28 f. sowie Oerlemans ./. Niederlande, Beschwerde Nr. 12565/86, Urt. v. 27. November 1991, Ziff. 48. 470 J.S. u. A.S. ./. Polen, Beschwerde Nr. 40732/98, Urt. v. 24. Mai 2005, Ziff. 49; Hauptargument für die Anwendbarkeit war hier die Auswirkung auf das Eigentumsrecht der Beschwerdeführer. 471 Kiurkchian ./. Bulgarien, Beschwerde Nr. 44626/98, Urt. v. 24. März 2005, Ziff. 50: In diesem Fall verlor der EGMR kein einziges Wort zur Anwendbarkeit. 472 Ettl u. a. ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9273/81, Urt. v. 24. März 1987. 473 Erkner und Hofauer ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9616/81, Urt. v. 24. März 1987. 474 Poiss ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9816/82, Urt. v. 24. März 1987. 475 Ettl u. a. ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9273/81, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 32; Erkner und Hofauer ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9616/81, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 62; Poiss ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9816/82, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 48. 476 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986. 477 Feldbrugge ./. Niederlande, Beschwerde Nr. 8562/79, Urt. v. 29. Mai 1986. 478 Salesi ./. Italien, Beschwerde Nr. 13023/87, Urt. v. 26. Februar 1993. 479 Schuler-Zgraggen ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 14518/89, Urt. v. 24. Juni 1993.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

sozialversicherungsrechtlichen Anspruch unmittelbar ausschlaggebend für die zivilrechtlichen Ansprüche des Beschwerdeführers sei.480 Der Gerichtshof hingegen führte im Fall Deumeland zunächst unter Verweis auf das Urteil König aus, der Begriff der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ könne nicht allein unter Bezug auf das inländische Recht des belangten Staates interpretiert werden. Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffe nicht nur privatrechtliche Streitigkeiten im herkömmlichen Sinne; wenig bedeutend sei zudem die Art des innerstaatlichen Gesetzes, nach dem der Rechtsstreit zu entscheiden ist. Auch rechtsvergleichende Ansätze werden zwar in den Ausführungen angesprochen,481 im Ergebnis aber als nicht entscheidend abgetan.482 Ausschlaggebend sei vielmehr der Charakter des in Rede stehenden Rechtes: Umfasse dieses sowohl öffentlich-rechtliche, als auch privatrechtliche Elemente, gebe das überwiegende Element den Ausschlag. Der vorliegend geltend gemachte Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente weise zwar auch öffentlichrechtliche Komponenten auf, diese reichten aber für sich nicht aus. Vielmehr dominierten die privatrechtlichen Bestandteile in Gestalt des vermögenswerten Charakters des geltend gemachten Rechts.483 Obwohl der EGMR hier den vermögenswerten Charakter des Rechtes und nicht etwa – richtigerweise – das Ergebnis rechtsvergleichender Prüfung als ausschlaggebend ansah, lag er freilich im Ergebnis nicht falsch: Tatsächlich ergab der europäische Rechtsvergleich keinen gemeinsamer Nenner dergestalt, dass sozialrechtliche Ansprüche dem Privatrecht zugehörig seien. Der Vergleich der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ergab vielmehr ein Patt. Ein Teil der Staaten ordnet den zugrundeliegenden Anspruch nach öffentlichem Recht ein, ein Teil qualifiziert diesen dagegen als zivilrechtlichen Anspruch.484 Der EGMR hat angesichts dieses Zwiespalts eine Lösung zugunsten des Anwendungsbereichs von Art. 6 Abs. 1 EMRK getroffen. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK waren beide Wege gangbar. Der EGMR bemüht demzufolge im Ergebnis jeweils drei Faktoren, die für die Qualifizierung als öffentlich-rechtlich beziehungsweise als privatrechtlich sprechen. Offensichtlich erscheint ihm aber der vermögenswerte Charakter des in Frage stehenden Rechts als so gewichtig, dass dieser in der Lage ist, die anderen Faktoren gänzlich zu verdrängen.485 Nach Ansicht des Gerichtshofs 480 KOM-Bericht im Fall Deumeland v. 9. Mai 1984, Séries A Nr. 100, S. 47 ff., sowie KOM-Bericht im Fall Feldbrugge v. 9. Mai 1984, Séries A Nr. 99, S. 33 ff. 481 Ziff. 63 des Urteils. 482 Vgl. hierzu bereits die kritischen Ausführungen im vorhergehenden Kapitel zum Fall Deumeland. 483 Ziff. 60 des Urteils. Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 42, bezeichnet diese Art der Urteilsfindung als „Abwägungsjudikatur“. 484 Vgl. die Nachweise unter Ziff. 63 des Urteils. 485 Diesen Ansatz hat auch die KOM übernommen, die in der Zulässigkeitsentscheidung in der Sache Reisz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 32013/96 v. 20. Oktober

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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stellt ein Recht, welches von einer Privatperson geltend gemacht wird und für diese Vermögenswert hat, grundsätzlich ein subjektives Recht dar, das „in die Nähe des Zivilrechts rückt“ 486. Seine Rechtsprechung manifestierte der Gerichtshof in den folgenden Urteilen, denen ähnlich gelagerte Sachverhalte zugrunde lagen. Der Unterschied zu den beiden sozialrechtlich gelagerten Fällen Deumeland und Feldbrugge ergibt sich im Fall Salesi487 daraus, dass es sich hier in der Sache um Fragen des Sozialhilferechts handelte. Dennoch sah der Gerichtshof keinen Grund, zwischen diesem und den beiden vorhergehenden Fällen zu unterscheiden und bejahte die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK.488 Im Fall Schuler-Zgraggen gelangte der Gerichtshof sogar zu der erstaunlichen Erkenntnis, dass infolge der Urteile Deumeland und Feldbrugge eine Rechtsentwicklung stattgefunden habe, die zu dem allgemeinen Grundsatz („general rule“) geführt habe, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK generell auf dem Gebiet des Sozialversicherungswesens anwendbar ist.489 Die Tatsache, dass es sich um eine hoheitliche Maßnahme gegenüber dem Bürger gehandelt habe, genüge nicht, um die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auszuschließen. Etwas befremdend ist das abschließende Argument des EGMR für die Bejahung der Anwendbarkeit: Da keine überzeugenden Argumente für eine unterschiedliche Behandlung der Beschwerdeführerinnen Deumeland und Feldbrugge auf der einen und Schuler-Zgraggen auf der anderen Seite ersichtlich seien, müsse die Anwendbarkeit bejaht werden.490 Diese Formulierung erweckt den Eindruck, als sei vollständige Überzeugung auf Seiten des EGMR von seiner eigenen Rechtsprechung nicht gegeben; anscheinend meinte der EGMR aber, aus Gründen der Rechtssicherheit und -einheitlichkeit nicht mehr von der vorgezeichneten Linie abweichen zu können. In neueren Entscheidungen, die gegen die Bundesrepublik ergingen, stellte der EGMR lediglich in einem Satz die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf sozialgerichtliche Verfahren fest.491 1997 andeutete, bei verwaltungsgerichtlichen Verfahren könne allein der vermögenswerte Charakter des Anspruchs für die Bejahung der Anwendbarkeit genügen. 486 Ziff. 71 des Urteils. Ob der EGMR an dieser Stelle unter „Zivilrecht“ dasjenige Zivilrecht nach kontinentaleuropäischem Verständnis meint, bleibt ungeklärt, steht aber zu vermuten. 487 Salesi ./. Italien, Beschwerde Nr. 13023/87, Urt. v. 26. Februar 1993. 488 Ziff. 19 des Urteils. 489 Ziff. 46 des Urteils. Offensichtlich wollte der Gerichtshof damit einen Schlussstrich unter diese Rechtsprechung ziehen, die ja von Beginn an äußerst umstritten war. Auch die KOM ist dem gefolgt und hat in den nachfolgenden Zulässigkeitsentscheidungen die Frage der Anwendbarkeit bei Sozialgerichtsverfahren nicht mehr problematisiert, vgl. Sahinler ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 16958/90, Entsch. v. 2. September 1992; Ellies ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20335/92, Entsch. v. 6. September 1995. 490 Ziff. 46 a. E. 491 H. T. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38073/97, Urt. v. 11. Oktober 2001, Ziff. 27; Janssen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 23959/94, Urt. v. 20. Dezember 2001,

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Es ist evident, dass der EGMR mit dieser autonomen – den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK weit ausdehnenden492 – Rechtsprechung in Kernbereiche des öffentlichen Rechts vordringt. Überraschenderweise fasst er aber – ebenso wie die KOM in ständiger Praxis493 – bis heute steuerrechtliche Verfahren, die an sich nach der Argumentation des Gerichtshofs, insbesondere der vermögenswerte Charakter des in Frage stehenden Rechts sei entscheidend, ebenfalls in den Anwendungsbereich fallen müssten, nicht unter Art. 6 Abs. 1 EMRK.494 Der Gerichtshof beruft sich hier erstaunlicherweise auf den Kernbereich des öffentlichen Rechts. Warum dies im Falle des verwaltungsrechtlichen Approbationsverfahrens oder in sozialrechtlichen Fällen anders sein soll, bleibt offen. Der vermögensrechtliche Charakter der Streitigkeit spielt jedenfalls hier plötzlich keine Rolle mehr.495 Der Gerichtshof hat diese Judikatur jüngst in einer Zulässigkeitsentscheidung bestätigt.496 Die ausufernde Rechtsprechung zum Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK machte selbst vor typisch öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Bereich des Beamtenrechts nicht halt. So fasste der Gerichtshof auch Klagen auf Gewährung von beamtenrechtlichen Pensionen unter Art. 6 Abs. 1 EMRK.497 In den Fällen Francesco Lombardo und Giancarlo Lombardo498 vertrat er die zweifelhafte Ansicht, der Staat als Verpflichteter gegenüber beamtenrechtlichen Pensionsansprüchen müsse sich in dieser Rolle behandeln lassen wie ein privater Arbeitgeber, dessen Verpflichtung zur Gehaltszahlung sich ja auch aus Privatrecht ergebe. Der Staat übe diesbezüglich kein staatliches Ermessen aus,499 weshalb das geltend gemachte Recht als „civil right“ zu betrachten sei.500 Diese Ziff. 32; Klasen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75204/01, Urt. v. 5. Oktober 2006, Ziff. 29. 492 So auch Uerpmann, Die EMRK und die deutsche Rechtsprechung, S. 159. 493 So bereits in der Zulässigkeitsentscheidung X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2552/65, Entsch. v. 15. Dezember 1967. 494 Ferrazzini ./. Italien, Beschwerde Nr. 44759/98, Urt. v. 12. Juli 2001, Ziff. 20– 31; auch die KOM hat stets die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf steuerrechtliche Verfahren abgelehnt und deshalb die Zulässigkeit darauf gestützter Beschwerden verneint, vgl. die Beschwerden Nr. 2552/65; 2717/66; 8531/79; 8903/80; 9908/82; 11581/85; 14066/88. Der Österreichische Verfassungsgerichtshof dagegen hat die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK für den Bereich der Kirchensteuer bejaht, VfSlg. 1981/9199. 495 So erneut in Remy u. a. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 70826/01, Entsch. v. 16. September 2004. 496 H.M. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 62512/00, Entsch. v. 9. Juni 2005. 497 Salerno ./. Italien, Beschwerde Nr. 11955/92, Urt. v. 12. Oktober 1992, Ziff. 16. 498 Francesco Lombardo und Giancarlo Lombardo ./. Italien, Beschwerden Nr. 11519/ 85 und 12490/86, Urt. v. 26. November 1992. 499 Vgl. hierzu die Ausführungen unter II. 1. Der EGMR differenziert im Bereich des Verwaltungsrechts danach, ob es sich um einen gebundenen Anspruch des Bürgers handelt, oder um einen solchen, der im Ermessen der Behörde steht. 500 Ziff. 17 beziehungsweise Ziff. 16 der Urteile.

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Rechtsprechung wiederholte der EGMR schematisch in den nachfolgenden Fällen Massa501 und Muti,502 wobei er es im Fall Muti nicht einmal mehr für notwendig hielt, einen Satz zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu verlieren.503 Im Fall Pellegrin504 dagegen, in dem es ebenfalls um Ansprüche aus einem Beschäftigungsverhältnis des öffentlichen Dienstes ging, verneinte der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Argument, der Beschwerdeführer übe typische Verwaltungsaufgaben aus, was zur Unanwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK führe.505 Im Ergebnis argumentiert der EGMR damit erfolgsbezogen und nicht handlungsbezogen, wie die der kontinentalen Tradition verbundenen Staaten.506 Nach kontinentaler Rechtstradition kommt es allein darauf an, ob der Staat den Bürger auf der Grundlage öffentlichen Rechts in Anspruch nimmt beziehungsweise ihm Rechte vorenthält: Hierbei ist der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK nach den Tatbestandsvoraussetzungen zu bestimmen. Demgegenüber steht die Praxis des EGMR, diese Prüfung anhand der Rechtsfolgen vorzunehmen. Wenn das betroffene Recht auch nur entfernt dem Bereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen ist, handelt es sich nach dem Gerichtshof um einen zivilrechtlichen Anspruch, auch wenn der Anspruch auf der Tatbestandsseite öffentlich-rechtlich ausgeformt ist.507 Im Jahr 1998 hatten sich die Straßburger Richter ausnahmsweise nochmals mit dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beschäftigen. Dem Fall Estima Jorge508 lag ein Vollstreckungsverfahren zugrunde, welches im beklagten Staat Portugal rein öffentlich-rechtlich 509 ausgestaltet ist. Die Anwend501

Massa ./. Italien, Beschwerde Nr. 14399/88, Urt. v. 24. August 1993, Ziff. 26. Muti ./. Italien, Beschwerde Nr. 14146/88, Urt. v. 23. März 1994. 503 Ziff. 11 des Urteils. 504 Pellegrin ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 28541/95. Urt. v. 8. Dezember 1999. 505 Ziff. 68 ff. des Urteils. Diese Vorgaben konkretisierte der Gerichtshof im Fall Kanayev./. Russland, Beschwerde Nr. 43726/02, Urt. v. 27. Juli 2006, Ziff. 16–20, und urteilte, vermögensrechtliche Streitigkeiten betreffend die Erstattung von Reisekosten eines noch im Dienst befindlichen Offiziers fielen nicht unter Art. 6 Abs. 1 EMRK, da der Bf. in den Diensten des Staates stünde und auf verantwortungsvollem Posten dessen hoheitliche Interessen vertrete. Zu seiner eigenen Rechtsprechung, die allein auf den vermögenswerten Aspekt der Streitigkeit abstellt, passt diese Argumentation nicht. 506 Schmidt-Aßmann, Verfahrensgarantien, S. 91. 507 Schmidt-Aßmann, Neue Entwicklungen zu Art. 6 EMRK, S. 328. 508 Estima Jorge ./. Portugal, Beschwerde Nr. 24550/94, Urt. v. 21. April 1998. 509 Das deutsche Zwangsvollstreckungsrecht etwa hat dagegen eine Doppelnatur: Zwar stellt die Zwangsvollstreckung eine rein staatliche Tätigkeit dar, bei den Maßnahmen der Vollstreckungsorgane handelt es sich um Staatsakte. Andererseits ist das Zwangsvollstreckungsverfahren Teil der streitigen Gerichtsbarkeit. Die Doppelnatur ergibt sich mithin aus der einerseits öffentlich-rechtlichen Natur der Zwangsvollstreckung, die andererseits der Durchsetzung eines materiellen Anspruchs dient. 502

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

barkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Vollstreckungsverfahren hatte der EGMR bereits zuvor schon mehrfach bejaht.510 Ihm zufolge stellt sich nämlich für den Fall, dass der Vollstreckungsgläubiger Beschwerdeführer ist, die Vollstreckung noch als Realisierung seines Anspruchs dar, wohingegen die zivilrechtlichen Verpflichtungen des Vollstreckungsschuldners bereits im vorangegangenen Klageverfahren ermittelt worden seien. Dem kann mit gutem Grund entgegengehalten werden, dass das gesamte Vollstreckungsverfahren – und zwar sowohl aus Sicht des Gläubigers wie auch des Schuldners – keine „Streitigkeit über ein Recht“ darstellt und demzufolge auch die Unterscheidung zwischen Gläubiger und Schuldner obsolet wird. Die „Streitigkeit über ein Recht“ wurde vielmehr im vorangegangenen Erkenntnisverfahren ausgetragen. Naheliegend ist deshalb die Qualifizierung des Vollstreckungsverfahrens als öffentlich-rechtlich, weil sich der Gläubiger, der vollstrecken möchte, mit seinem Begehren, die Vollstreckung durchzuführen, nicht mehr – wie noch im Erkenntnisverfahren – an den Schuldner, sondern an den Staat wendet.511 Der Gerichtshof dagegen geht in ständiger Rechtsprechung von der Anwendbarkeit für den Fall, dass der Vollstreckungsgläubiger Beschwerdeführer ist, aus. Die Besonderheit im Fall Estima Jorge lag darin, dass es sich nicht um ein zu vollstreckendes Urteil handelte, sondern um eine notarielle Urkunde. Mithin hatte eigentlich nicht einmal im vorangegangenen Erkenntnisverfahren eine „Streitigkeit über ein Recht“ stattgefunden. Der Gerichtshof bejahte die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Argument, die Beschwerdeführerin habe keine andere Möglichkeit gehabt, als über die Durchführung des Vollstreckungsverfahrens zu ihrem Recht zu kommen, weshalb dieses Vollstreckungsverfahren für die effektive Ausübung ihrer Rechte unmittelbar entscheidend gewesen sei. Ein Unterschied zwischen einem zu vollstreckenden Urteil und einer notariellen Urkunde sei nicht ersichtlich.512 Jüngst thematisierte der EGMR den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK nochmals: Im Fall Zlínsat, spol. s r.o.513 befand er, Maßnahmen der bulgarischen Staatsanwaltschaft, die nicht darauf abzielten, die Schuld der Beschwerdeführerin zu beweisen, mithin Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils nicht tangierten,514 sondern vielmehr mittelbar das Eigentum der Beschwerdeführerin insoweit beeinträchtigten, als diese über ihr Eigentum – ein Hotel – nicht mehr frei verfügen konnte, unterfielen Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich seines „zivilrechtlichen“ Teils. Obwohl die Staatsanwalt510 Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984; Martins Moreira ./. Portugal, Beschwerde Nr. 11371/85, Urt. v. 26. Oktober 1988, Ziff. 44; sowie Silva Pontes ./. Portugal, Beschwerde Nr. 14940/89, Urt. v. 23. März 1994, Ziff. 38. 511 Barreto, L’article 6 de la Convention et la procédure d’exécution, S. 139. 512 Ziff. 38 des Urteils. 513 Zlínsat, spol. s r.o. ./. Bulgarien, Beschwerde Nr. 57785/00, Urt. v. 15. Juni 2006. 514 Ziff. 71 des Urteils.

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schaft – gleich welche Befugnisse sie in Bulgarien hat – hoheitlich tätig wurde, bejahte der Gerichtshof das Vorhandensein einer Streitigkeit über civil rights and obligations.515 3. Kritische Würdigung Vorstehendes verdeutlicht den schleichenden Übergang in der Rechtsprechung des Gerichtshofs von einer anfangs sehr klaren und stringenten Linie der Entscheidungsfindung hin zu einer ungemein autonomen Argumentation. Griffige Konturen lassen sich der Rechtsprechung kaum mehr entnehmen, vielmehr zeichnet sie sich durch stark einzelfallbezogene Judikate aus, die ein Umreißen des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK erschweren. Was die Auslegung der beiden authentischen Textfassungen anbelangt, gilt folgendes: Die teilweise vertretene Ansicht, die englische Textfassung des Art. 6 Abs. 1 EMRK gehe weiter, da sie die römisch-rechtlich geprägte kontinentaleuropäische Abgrenzung nicht kenne, und sei damit nachrangig gegenüber der französischen Textfassung,516 ist abzulehnen. Beide Textfassungen sind gleichermaßen verbindlich. Die französische Fassung gewissermaßen als „kleinsten gemeinsamen Nenner“ als richtungweisend zu bezeichnen, geht aber ebenso fehl. Vielmehr ist die Lösung in der Rechtsvergleichung zu finden. Dies kann im Ergebnis freilich bedeuten, dass die Lösung der kontinentaleuropäischen Auslegung – mithin dem hiesigen Verständnis „zivilrechtlicher Ansprüche und Verpflichtungen“ – nahe kommt: Da die meisten europäischen Staaten die klassische Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Recht kennen, wird man über die Methode der Rechtsvergleichung in vielen Fällen zu einer Auslegung entsprechend dem deutschen Rechtsverständnis gelangen. Gerade im Hinblick hierauf ist zu kritisieren, dass der Gerichtshof selten wirklich auf die völkerrechtlichen Anwendungsmethoden eingeht. Zwar bekräftigt er – zumeist am Beginn der Prüfung der Anwendbarkeit – das Erfordernis der Auslegung des Anwendungsbereichs unter Heranziehung dieser Methoden. Sodann hebt er stereotyp hervor, die Situation in den übrigen Konventionsstaaten sei rechtsvergleichend einzubeziehen. Das würde also etwa im Rahmen der Prüfung, ob die ärztliche – öffentlich-rechtlich zu beurteilende – Approbation unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt oder nicht, erfordern, dass der Gerichtshof sich damit auseinandersetzt, wie dieses Institut in den anderen Mitgliedstaaten gehandhabt wird. Er hätte damit die Möglichkeit, einen „gemeinsamen Nenner“ – nicht zu verwechseln mit einem kleinsten gemeinsamen Nenner – zu ermitteln, anhand dessen die Einordnung unter Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgt. Ein Sachverhalt, der nach 515 Zlínsat, spol. s r.o. ./. Bulgarien, Beschwerde Nr. 57785/00, Urt. v. 15. Juni 2006, Ziff. 72. 516 So Mayer, Zivilrechtsbegriff und Gerichtszuständigkeit, S. 479 f.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

dem Recht sämtlicher oder zumindest der überwiegenden Konventionsstaaten nach öffentlichem Recht zu beurteilen ist, unterfiele dann sicher nicht dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Seltsam mutet es indes an, wenn das Gericht lediglich im „Obersatz“ dieses völkerrechtliche Erfordernis formuliert, sich dann aber einer ausschließlich autonomen, weder dem Recht des betroffenen, noch dem aller Mitgliedstaaten verhafteten Auslegungsvariante verschreibt. Die autonome Auslegungsmethode ist durchaus praktikabel – es muss eine einheitliche Bedeutung der jeweiligen Konventionsbegriffe gefunden werden, die für alle Konventionsstaaten Anwendung findet, auch wenn das im Einzelfall betroffene Land eine konträre Sichtweise beziehungsweise eine abweichende Regelung in seiner Rechtsordnung hat. Verankert sein muss diese autonome Methode allerdings immer im gemeinsamen Recht der Mitgliedstaaten und zwar über das Mittel des gemeinsamen Nenners. Gewiss ist es für den Gerichtshof arbeitsaufwendiger, sich in jedem Beschwerdeverfahren mit dem Recht der übrigen Staaten auseinander zu setzen. Freilich reichte es bereits aus, wenn er zumindest „stichprobenartig“ die Rechtslage in einem bestimmten Quorum von Mitgliedstaaten untersuchte und anhand dessen ein Ergebnis erzielte. Eine Judikatur wie im Fall König wäre dann kaum die Folge.517 Warum der Gerichtshof eine solche Scheu vor rechtsvergleichender Auslegung hat, ist nicht eindeutig zu beantworten. Am naheliegendsten ist die Abneigung, sich komplizierten Rechtsfragen des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Staaten zu stellen, wobei immer die Gefahr besteht, von den nationalen Rechtsanwendungsorganen „als dilettantisch gescholten zu werden“ 518. Freilich hat der EGMR genügend Möglichkeiten, solche Defizite auszugleichen. So wird im Vorfeld der Urteilsfindung, zumeist durch wissenschaftliche Mitarbeiter, Vorarbeit geleistet – sei es früher durch die KOM, oder gegenwärtig durch den EGMR selbst. Im Übrigen ist die verhältnismäßig rasche Ermittlung der Rechtslage in verschiedenen Konventionsstaaten heutzutage wesentlich durch die modernen Kommunikationsmedien erleichtert. Überdies hat jeder Mitgliedstaat der Konvention einen Richter an den EGMR entsandt (Art. 20 EMRK) – vor diesem Hintergrund dürfte das Erfassen der Rechtslage in einem bestimmten Konventionsstaat mit Hilfe des zugehörigen Richterkollegen für die übrigen Richter am EGMR nicht auf allzu große Schwierigkeiten stoßen. Der Gerichtshof muss sich darüber hinaus schon die Frage stellen lassen, weshalb denn eine wirkliche Abgrenzung im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK überhaupt noch erforderlich ist: Soweit ersichtlich verneint der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf klassisch öffentlich-rechtliche Verfah517 Die ärztliche Approbation wird von der Mehrzahl der Mitgliedstaaten als öffentlich-rechtlich eingeordnet. Nichtsdestotrotz kam der Gerichtshof zum Ergebnis, es stünden zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Streit, vgl. dazu oben. 518 Mosler, Rechtsvergleichung vor völkerrechtlichen Gerichten, S. 409.

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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ren nur bei solchen, die steuerrechtliche Ansprüche zum Gegenstand haben – wenn auch mit fragwürdiger Begründung.519 Alle übrigen „öffentlich-rechtlichen“ Streitigkeiten werden Art. 6 Abs. 1 EMRK ganz selbstverständlich subsumiert. Wirklich tragende Gründe, die gegen eine autonome, aber immer am Recht der Mitgliedstaaten orientierte Auslegung sprechen, sind nicht erkennbar. Dass der Gerichtshof freilich „umschwenken“ wird, ist kaum zu erwarten. So kann mit Ireneu Cabral Barreto520 etwas wehmütig formuliert werden, dass gegenläufige Ansichten in der Praxis „nur“ von „historischem Interesse“ 521 sind. III. Entscheidung über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage 1. Der Begriff des Strafrechts Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält hinsichtlich seines Anwendungsbereichs alternativ die Tatbestandsvoraussetzung „. . . or of any criminal charge against him“ beziehungsweise „. . . de toute accusation en matière pénale dirigée contre elle“. Die deutsche Übersetzung spricht von einer „gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage“. Auch hier ergeben sich Schwierigkeiten aufgrund des unklaren Aussagegehalts des Begriffs „criminal charge“ beziehungsweise „accusation en matière pénale“ – ist dieser auch nicht annähernd so umstritten wie die Auslegung des Begriffs der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“. Der Gerichtshof – wie früher die KOM522 – legt den Begriff der „strafrechtlichen Anklage“ ebenfalls autonom523 und grundsätzlich weit aus.524 Der EGMR hat sich erstmals im Fall Engel u. a.525 vertieft mit der Klärung des Begriffs der „strafrechtlichen Anklage“ auseinandergesetzt (sog. „Engel-Kriterien“). Gegenstand der Verfahren in dieser Angelegenheit waren nach holländischem Recht verhängte Disziplinarmaßnahmen wegen Verstoßes gegen die Wehrdisziplin, die zu Arreststrafen der Beschwerdeführer von einigen Tagen führten. Der Gerichtshof hatte im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu prüfen, ob ein Disziplinarverfahren dem Anwendungsbereich der „strafrechtlichen An519 Sowohl die vom EGMR bemühte Auswirkensformel, als auch der vermögenswerte Charakter des Anspruchs sind einschlägig. 520 Portugiesischer Richter am EGMR. 521 Barreto, L’article 6 de la Convention et la procédure d’exécution, S. 146. 522 Vgl. statt vieler KOM, Reisz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 32013/96, Entsch. v. 20. Oktober 1997. 523 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2 dieses Teils. 524 Delcourt ./. Belgien, Beschwerde Nr. 2689/65, Urt. v. 17. Januar 1970, Ziff. 25. 525 Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, Urt. v. 8. Juni 1976.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

klage“ unterfällt. Zunächst stellte er klar, dass alle Vertragsstaaten zwischen disziplinarischer und strafrechtlicher Verfolgung unterscheiden, was ihnen auch zweifelsohne zustünde. Allerdings könne die innerstaatliche Qualifizierung als Disziplinar- oder Strafrecht nicht ausschlaggebend für die Einordnung nach EMRK-Recht sein. Ansonsten hätte es der einzelne Staat in der Hand, bestimmte Maßnahmen zu entkriminalisieren,526 beziehungsweise den Geltungsbereich der Garantien der EMRK zu bestimmen.527 Somit sei der Begriff „strafrechtlich“ nur „einbahnig“ autonom, nämlich nur für die Auslegung durch den Gerichtshof, nicht aber umgekehrt auch durch die Konventionsstaaten. Für den EGMR ist die Einordnung durch das nationale Recht zwar ein Anhaltspunkt für die Auslegung (erstes Engel-Kriterium); dabei lässt er es aber nicht bewenden, sondern hält eine Überprüfung der so gewonnenen Ergebnisse „im Lichte des gemeinsamen Nenners der jeweiligen Gesetzgebungen in den verschiedenen Vertragsstaaten“ für erforderlich.528 Die Erwartungen, die an diese Erklärungen gestellt werden – rechtsvergleichende Ausführungen zu disziplinarrechtlichen und strafrechtlichen Maßnahmen – werden freilich auch hier nicht erfüllt. Trotz vielversprechender Andeutung wendet sich der EGMR unmittelbar der autonomen Begriffsklärung zu und stellt auf die Art der Zuwiderhandlung (la nature même de l’infraction/the very nature of the offence) als zweites Kriterium ab. Drittes Kriterium ist die Art und Schwere der Sanktion. In einer rechtsstaatlichen Gesellschaft zähle zum „Strafrechtlichen“ jede Freiheitsentziehung mit Ausnahme derjenigen, die nach ihrer Art oder Dauer keinen wesentlichen Nachteil verursachen könne. Dementsprechend hielt der Gerichtshof Freiheitsstrafen von zwei Tagen für zu kurz, um in den Bereich des „Strafrechtlichen“ zu fallen. Mehrere Monate Strafkompanie dagegen stellen ihm zufolge strafrechtliche Sanktionen dar.529 Im Ergebnis bedeutet dies, dass zwar grundsätzlich Disziplinarverfahren Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht zu subsumieren sind, aber gleichwohl Fälle denkbar sind, „in denen sich hinter einem vom innerstaatlichen Recht als disziplinarisch bezeichneten Vorwurf in Wirklichkeit eine strafrechtliche Anklage verbirgt“.530 Zusammenfassend kommt der Gerichtshof so auf drei Kriterien, anhand derer der Begriff des Strafrechts zu ermitteln ist: die Einordnung der Vorschrift im nationalen Recht, die Natur des Vergehens sowie Art und Schwere der Sanktion. Die Auswirkung der Maßnahmen für den Betroffenen steht regelmäßig im

526 527 528 529 530

So Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 16. Ziff. 81 des Urteils. Vgl. hierzu auch Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 35. Ziff. 82 des Urteils. Ziff. 85 des Urteils. Ress, Einzelfallbezogenheit, S. 724.

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Vordergrund.531 Es genügt dabei, wenn eines dieser Kriterien erfüllt ist, kumulatives Vorliegen ist nicht erforderlich.532 Die Einordnung der Maßnahme im nationalen Recht spielt – dies ist hinlänglich bekannt – auch hier keine hervorgehobene Rolle. Jedenfalls das Kriminalstrafrecht des betreffenden Staates ist danach von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfasst.533 Hinsichtlich des zweiten Kriteriums ist zu unterscheiden, ob die in der Vorschrift angedrohte Sanktion präventiven oder repressiven Charakter hat: Nicht auf die Zuwiderhandlung des Betroffenen ist dabei abzustellen,534 sondern auf die Vorschrift, der das jeweilige Verhalten subsumiert werden soll.535 Ob es sich um einen Tatbestand strafrechtlicher Natur handelt, ist unter anderem durch Rechtsvergleichung zu ermitteln.536 Auch Formulierungen der innerstaatlichen einschlägigen Rechtsvorschrift wie „Zuwiderhandlung“ oder „Strafe“ können einen Anhaltspunkt liefern.537 Im Rahmen des dritten Kriteriums ist neben der konkreten Art der Strafe (Geld- oder Freiheitsstrafe) erheblich, ob diese unmittelbar vollstreckbar ist und mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Freiheitsstrafe tatsächlich verbüßt werden muss. Steuerstrafzuschläge in Höhe von damals etwa 1 Mio. Französischer Francs begründen jedenfalls eine ausreichende Schwere der Sanktion.538 Steht eine Freiheitsentziehung in Frage, ist in der Regel von der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auszugehen.539

531

Jung, Die EMRK und das deutsche Strafrecht, S. 373. So der EGMR ausdrücklich im Fall Lutz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9912/ 82, Urt. v. 25. August 1987, Ziff. 55: „For Article 6 to apply in virtue of the words ,criminal charge‘, it suffices that the offence in question should by its nature be ,criminal‘ from the point of view of the Convention, as in the instant case, or should have made the person concerned liable to a sanction which, in its nature and degree of severity, belongs in general to the ,criminal‘ sphere (. . .).“; sowie im Fall Ezeh u. Connors ./. Großbritannien, Beschwerden Nr. 39665/98 u. 40086/98, Urt. 15. Juli 2002, Ziff. 58. 533 Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 18; Kopetzki, Zur Anwendbarkeit des Art. 6 MRK im (österreichischen) Verwaltungsstrafverfahren, S. 5. 534 Im Fall Engel hatte der Gerichtshof befunden, die fraglichen Zuwiderhandlungen seien teilweise auch strafrechtlicher Natur; gleichwohl sei die Wahl des Disziplinarrechtswegs gerechtfertigt gewesen, weil die Zuwiderhandlungen aus Sicht der Militärbehörden den militärischen Dienstbereich betroffen hätten (Ziff. 84 des Urteils). 535 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 91. 536 Anhaltspunkt kann dabei sein, wie die übrigen Konventionsstaaten die betreffende Zuwiderhandlung in ihrem nationalen Recht einordnen. 537 Mit dem zweiten Kriterium hat sich der Gerichtshof in der Sache Deweer ./. Belgien, Beschwerde Nr. 6903/75, Urt. v. 27. Februar 1980, Ziff. 45 f. ausführlich befasst. 538 Bendenou ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 12547/86, Urt. v. 24. Februar 1994, Ziff. 47. 539 Lloyd u. a. ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 29798/96 u. a., Urt. v. 1. März 2005, Ziff. 134; Beet u. a. ./. Großbritannien, Beschwerden Nr. 47676/99, 58923/00, 58923/00, 58927/00, 61373/00, 61377/00, Urt. v. 1. März 2005, Ziff. 38. 532

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Die im Fall Engel aufgestellten Grundsätze wandte der Gerichtshof sinngemäß auch im Fall Öztürk540 an und prüfte, ob die dem Beschwerdeführer vorgeworfene „Ordnungswidrigkeit“ 541 eine „Straftat“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellt. Sodann erörterte der Gerichtshof die Einordnung nach deutschem Recht sowie die Natur der Zuwiderhandlung, die er freilich als erheblich wichtiger einstufte. Im Ergebnis beurteilte der EGMR das Ordnungswidrigkeitenverfahren, bei dem es lediglich um eine Geldbuße in geringer Höhe ging, als „strafrechtlich“ mit dem Argument, dass Zuwiderhandlungen, die ihren Urheber Sanktionen mit dem Ziel abschreckender Wirkung aussetzen, und die üblicherweise aus Freiheits- oder Geldstrafen bestehen, nach dem üblichen Sprachgebrauch im Allgemeinen dem Strafrecht unterfallen.542 Im Folgenden stellte der Gerichtshof sogar rechtsvergleichende Überlegungen an und verwies auf die in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten vorherrschende strafrechtliche Qualifizierung eines solchen Fehlverhaltens.543 Ebenfalls auf die „Engel-Kriterien“ bezog sich der Gerichtshof im Fall Campbell und Fell,544 in dem es wie bei Engel um ein Disziplinarverfahren ging. In anschaulicher Weise überprüfte der Gerichtshof den Fall ebenfalls anhand der drei Kriterien. Den Schwerpunkt setzte er dabei auf das dritte Kriterium – die Art und Schwere der angedrohten Strafe – und bejahte angesichts der gegen die Beschwerdeführer verhängten Verwirkung der Strafnachsicht545 die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK.546 Im Fall Putz547 dagegen, in dem es um seitens des Strafgerichts verhängte Ordnungsstrafen548 ging, die je nach Sachlage in eine Haftstrafe umgewandelt 540

Öztürk ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8544/79, Urt. v. 21. Februar 1984. Ein Bußgeldbescheid nach der Straßenverkehrsordnung. 542 Ziff. 53 des Urteils. 543 Ziff. 53 des Urteils. 544 Campbell und Fell ./. Großbritannien, Beschwerden Nr. 7819/77 und 7878/77, Urt. v. 28. Juni 1984. 545 Die im englischen Recht übliche Strafnachsicht stellt eine im Ermessen des Gerichts stehende Maßnahme dar, die etwa dem aus dem deutschen Strafprozessrecht bekannten Institut der Bewährung vergleichbar ist. 546 Ziff. 67–73 des Urteils. Ebenfalls unter Anwendung der „Engel-Kriterien“ prüfte und bejahte der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils auf eine Disziplinargeldstrafe, die unter Umständen in eine Freiheitsstrafe hätte umgewandelt werden können, Weber ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 11034/84, Urt. v. 22. Mai 1990 = EuGRZ 1990, S. 265 ff. Im Fall Demicoli ./. Malta, Beschwerde Nr. 13057/87, Urt. v. 27. August 1991 ging er auf dieselbe Art und Weise vor und bejahte die Anwendbarkeit auf ein Disziplinarverfahren, in welchem dem Beschwerdeführer im schlechtesten Fall eine Freiheitsstrafe von höchstens 60 Tagen drohte (Ziff. 31–34 des Urteils). Ebenfalls bejaht wurde die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 in einem Disziplinarverfahren des ehemaligen französischen Botschafters in den Vereinigten Arabischen Emiraten Guisset, Guisset ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 33933/96, Urt. v. 26. September 2000, Ziff. 59. 547 Putz ./. Österreich, Beschwerde Nr. 18892/91, Urt. v. 22. Februar 1996. 541

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werden können, verneinte der Gerichtshof die Anwendbarkeit mit der Begründung, solche Sanktionen dienten lediglich der Aufrechterhaltung der Ordnung und hätten keinerlei strafrechtlichen Charakter. Im Vergleich mit den vorhergehend dargestellten Entscheidungen befremdet dies. Die Differenzierung zwischen einem Ordnungswidrigkeitenverfahren und der Auferlegung von Ordnungsstrafen vermag nicht zu überzeugen. Eine ausführliche Auseinandersetzung des Gerichtshofs mit den „Engel-Kriterien“ erfolgte im Fall Ezeh und Connors549, dem die Verhängung von Disziplinarstrafen nach den Vorschriften einer Haftanstalt zugrundelag. Dieser Fall wurde auf Antrag der britischen Regierung gem. Art. 43 Abs. 1 EMRK an die Große Kammer des EGMR verwiesen, der die Anwendung der Engel-Kriterien“ auf den Fall bestätigte und auf diese Weise das Vorliegen eines strafrechtlichen Sachverhalts bejahte.550 Jüngst setzte sich der Gerichtshof mit den „Engel-Kriterien“ in der Sache Ziliberberg551 auseinander, die er zum Anlass nahm, ausführlich zu den einzelnen Kriterien Stellung zu nehmen.552 Letztendlich ordnete er die – nach innerstaatlichem Recht als polizeirechtlich, also verwaltungsrechtlich, zu qualifizierende – Verhängung einer Geldbuße wegen unerlaubter Demonstrationsteilnahme als „strafrechtlich“ ein, weil die Geldbuße bestrafenden Charakter habe, was auch durch die Verhaftung und Vernehmung des Beschwerdeführers durch die Polizei untermauert werde.553 Die betroffene Regierung hatte zwar argumentiert, nach moldawischem Recht seien Straf- und Disziplinarrecht streng voneinander getrennt; zudem sei die Geldbuße allein aus präventiven, nicht aber aus punitiven Gründen verhängt worden. Gleichwohl qualifizierte der EGMR die Maßnahme unter Heranziehung der „Engel-Kriterien“ als strafrechtlich im Sinne der Konvention. Dem Gerichtshof zufolge unterfallen damit Verwaltungsstrafverfahren dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK, wohingegen dies bei Ordnungsstrafen nach wie vor nicht der Fall ist.554

548 Entsprechend den in unserem Prozessrecht vorgesehenen Möglichkeiten der Ordnungsstrafe. 549 Ezeh u. Connors ./. Großbritannien, Beschwerden Nr. 39665/98 u. 40086/98, Urt. v. 15. Juli 2002. 550 Ezeh u. Connors ./. Großbritannien, Beschwerden Nr. 39665/98 u. 40086/98, Urt. v. 9. Oktober 2003, Ziff. 82–130. 551 Ziliberberg ./. Moldawien, Beschwerde Nr. 61821/00, Urt. v. 1. Februar 2005. 552 Ziff. 29–36 des Urteils. 553 Ziff. 33–35 des Urteils. 554 Vgl. Thienel, Angemessene Verfahrensdauer, S. 474.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

2. Der Begriff der Anklage Mindesten ebenso so umstritten wie die Formulierung „strafrechtlich“ ist der Aussagegehalt des Begriffs „Anklage“ (charge/accusation). Auch er unterliegt nach Straßburger Rechtsprechung einer autonomen Auslegung555 – insbesondere deshalb, weil der Begriff in den Konventionsstaaten teilweise eine völlig unterschiedliche Bedeutung hat. So wird beispielsweise das französische Wort accusation lediglich für Schwurgerichtsverfahren verwendet.556 Die Formulierung „der gegen ihn erhobenen Anklage“ beziehungsweise die ähnlich lautenden authentischen Fassungen557 könnten darauf schließen lassen, dass der Anwendungsbereich erst mit der tatsächlichen Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft eröffnet ist. Dem ist freilich nicht so. Ein Rückgriff auf die innerstaatlichen strafprozessualen Normen verbietet sich, vielmehr ist die Bedeutung autonom im Kontext und Sinn der Konvention558 zu ermitteln.559 Dies hat zur Folge, dass auch im Falle eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht ausgeschlossen ist, obwohl bei dieser Verfahrensart in der Regel keine formelle Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft vorgesehen ist.560 Das Vorliegen einer „criminal charge“ bejaht der EGMR in ständiger Rechtsprechung ab jenem Zeitpunkt, in dem die offizielle Benachrichtigung eines Individuums durch die zuständigen Behörden über den Vorwurf einer Straftat erfolgt.561 In ähnlicher Weise hatte die KOM bereits zuvor das Vorliegen einer Anklage begründet.562 Eine formelle Anklage im Sinne der deutschen StPO genügt demnach in jedem Fall, ist aber andererseits auch nicht zwingend erforder-

555

Peukert, Überlange Verfahrensdauer, S. 268. Vgl. hierzu Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 13. 557 „. . . or of any criminal charge against him“ bzw. „. . . de tout accusation en matière pénale dirigée contre elle.“ 558 So bereits der EGMR im Fall Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/ 63, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 18. 559 Ulsamer, Art. 6 MRK und Strafverfahrensdauer, S. 374 f. 560 Hierzu Ress, Probleme überlanger Strafverfahren, S. 640. 561 Ständige Rspr. seit dem Urt. in der Sache Deweer ./. Belgien, Beschwerde Nr. 6903/75, Urt. v. 27. Februar 1980, Ziff. 46; Pantea ./. Rumänien, Beschwerde Nr. 33343/96, Urt. v. 3. Juni 2003, Ziff. 275; Merit ./. Ukraine, Beschwerde Nr. 66561/ 01, Urt. v. 30. März 2004, Ziff. 70; Aleker ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 51288/99, Entsch. v. 6. November 2006. 562 „The stage at which the situation of the person concerned has been substantially affected as a result of a suspicion against him.“ (Kommissionsbericht in der Sache Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Série B Nr. 6, S. 81); sowie Kommissionsbericht in der Sache Huber ./. Österreich, Beschwerde Nr. 4517/70, Yearbook of the Convention, Vol. 18, S. 356 § 67 und Kommissionsbericht in der Sache Hätti ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6181/73, Yearbook of the Convention, Vol. 19, S. 1064 § 50. 556

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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lich. Vielmehr ist auch dieser Begriff autonom auszulegen.563 Dabei steht es der Eröffnung des Anwendungsbereichs nicht entgegen, wenn der Betroffene aufgrund sprachlicher Probleme die an ihn gerichtete Mitteilung über die ihm vorgeworfenen Taten nicht versteht.564 Teilweise hat es der Gerichtshof sogar für ausreichend erachtet, wenn eine Bekanntgabe „die Form anderer Maßnahmen annimmt“ und „auf die Lage des Verdächtigen schwerwiegende Rückwirkungen haben kann“ 565 – etwa die Mitteilung an den Verdächtigen, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei, die Verhaftung, oder die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.566 Auch andere offizielle567 – also nach außen gerichtete – Ermittlungsmaßnahmen führen zur Eröffnung des Anwendungsbereichs, sobald sie den Beschuldigten unmittelbar betreffen – so etwa die gerichtliche Bestätigung der Versiegelung der Wohnung568 oder die Zustellung einer Beschlagnahmeverfügung.569 Jüngst setzte sich der Gerichtshof in dem recht kuriosen Fall Salov570 mit dem Begriff der „Anklage“ auseinander: Dem Beschwerdeführer war vorgeworfen worden, in einer in der gesamten Ukraine verbreiteten Zeitung die Meldung herausgegeben zu haben, Präsident Kuchma sei gestorben; die Person dagegen, die Kuchma in der Öffentlichkeit darstelle, sei eine ganz andere. Der EGMR bestätigte seine ständige Rechtsprechung, wonach eine „Anklage“ dann vorliege, wenn ein Individuum durch die zuständigen Behörden offiziell davon in Kenntnis gesetzt wird, dass ihm die Begehung einer Straftat vorgeworfen wird.571 Unerheblich sei dabei, dass die Anschuldigungen lediglich im Ermittlungsverfahren erfolgten und bislang nur prozedurale Entscheidungen getroffen worden seien – auch dann könne von einer „Anklage“ gesprochen werden.572 Die strafrechtliche Anklage, die dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK unterfallen soll, muss darüber hinaus „stichhaltig“ („bien-fondé“) sein. 563 Antonenkov u. a. ./. Ukraine, Beschwerde Nr. 14183/02, Urt. v. 22. November 2005, Ziff. 39. 564 Brozicek ./. Italien, Beschwerde Nr. 10964/84, Urt. v. 19. Dezember 1989, Ziff. 38–42. 565 Corigliano ./. Italien, Beschwerde Nr. 8304/78, Urt. v. 10. Dezember 1982, Ziff. 34; Öztürk ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8544/79, Urt. v. 21. Februar 1984, Ziff. 55; Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, Ziff. 31. 566 Vgl. Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/79, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 73. 567 Rein behördeninterne Ermittlungsmaßnahmen reichen nicht aus. 568 Vendittelli ./. Italien, Beschwerde Nr. 14804/89, Urt. v. 18. Juli 1994, Ziff. 21. 569 Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 74 i.V. m. 72. 570 Salov./. Ukraine, Beschwerde Nr. 65518/01, Urt. v. 6. September 2005. 571 Ziff. 65 des Urteils. 572 Ziff. 65–67 des Urteils.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Sie muss mithin darauf gerichtet sein, die Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten festzustellen. So ist Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht anwendbar auf Maßnahmen im Rahmen der Untersuchungshaft, auf das Haftprüfungsverfahren,573 oder auf die im Anschluss an eine strafrechtliche Verurteilung erfolgende Festsetzung von Verfallgeldern (Gewinn aus dem Drogenhandel)574. Der Betroffene ist damit aber nicht rechtlos gestellt: vielmehr enthält Art. 5 EMRK insoweit eine abschließende Regelung. Auch Entscheidungen im Zusammenhang mit der Strafvollstreckung – etwa die Strafaussetzung zur Bewährung575, die Aussetzung des Strafrests576, aber auch die Anordnung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe577 – unterfallen Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht. Gleiches gilt für Beschwerdeverfahren, die in der Regel nur die Anfechtung prozessleitender Verfügungen zum Gegenstand haben,578 wohingegen die Rechtsmittelverfahren Art. 6 Abs. 1 EMRK unterfallen, da eben die Schuld oder Unschuld des Angeklagten erst mit Rechtskraft des Urteils endgültig feststeht.579 Der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils umfasst damit sämtliche Instanzen des Verfahrens und erstreckt sich bis zur Rechtskraft des Urteils beziehungsweise bis zur Einstellung des Verfahrens.580 3. Kritische Würdigung Nach der vom Gerichtshof vorgenommenen Abgrenzung bleibt der Begriff der „strafrechtlichen Anklage“ fast ebenso verschwommen wie derjenige der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“. Insbesondere die Abgrenzung von Straf- zu Disziplinarverfahren gelingt nur schwerlich und ist stark 573

Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 33. Phillips ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 41087/98, Urt. v. 5. Juli 2001, Ziff. 31–36. 575 X. ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 5852/72, Entsch. v. 8. Juli 1974. 576 X ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1760/63, Entsch. v. 23. Mai 1966. 577 Nachweise bei Bischofberger, Verfahrensgarantien der EMRK, S. 60. 578 Bischofberger, Verfahrensgarantien der EMRK, S. 59. 579 Delcourt ./. Belgien, Beschwerde Nr. 2689/65, Urt. v. 17. Januar 1970, Ziff. 25. Der EGMR verwarf in diesem Urteil den Einwand der belgischen Regierung, im Revisionsverfahren werde über Urteile, nicht über Personen geurteilt („the Court of Cassation judges not persons but judgements“, Ziff. 19 des Urteils). Anders wiederum innerhalb eines Wiederaufnahmeverfahrens, AB ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 11863/85, Entsch. v. 4. Mai 1987; Wehrlé u. Lauer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 11360/03, Entsch. v. 12. Juni 2003. Kommt es dagegen infolge erfolgreichen Wiederaufnahmeantrages tatsächlich zu einer Neuauflage des Strafverfahrens, so finden auf dieses Verfahren selbstverständlich wieder die Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK Anwendung, vgl. hierzu Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 31 ff. 580 Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 76– 78. 574

Kap. 3: Der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK

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vom Einzelfall abhängig. Teilweise wird nach dem Gewicht der angedrohten Sanktion abgegrenzt, teilweise genügt dem Gerichtshof aber auch der pauschale Hinweis, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei in einem Fall, in welchem die Verhängung einer Freiheitsstrafe in Frage stehe, im Zweifel immer anwendbar.581 Dies verwundert freilich angesichts der Straßburger Praxis, auf der anderen Seite Ordnungsstrafen, die während des Strafprozesses durch das Gericht zur Aufrechterhaltung der Ordnung verhängt und gegebenenfalls auch in eine Haftstrafe umgewandelt werden können, nicht unter den Anwendungsbereich zu fassen mit dem Argument, derartige Ordnungsstrafen hätten keinerlei strafrechtlichen Charakter.582 Ebenfalls wenig überzeugen kann die Vorgehensweise des EGMR, nach der Schwere der Sanktion insgesamt abzugrenzen. So sollen nach der EngelJudikatur zwei bis vier Tage strengen Arrests (Sanktion mit Freiheitsentzug) nicht unter den Begriff des „Strafrechts“ fallen, wohingegen zwölf Tage verschärften Arrests (Sanktion ohne Freiheitsentzug) zur Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK führen sollen.583 Derartige Überlegungen zur Qualifizierung einer Maßnahme als strafrechtlich entbehren einer dogmatischen Grundlage und zeugen von recht willkürlicher Grenzziehung. Genauso ließe sich vertreten, die Grenzziehung habe abweichend zu erfolgen, beziehungsweise es müsse auf die Art der Sanktion abgestellt werden: Strenger Arrest als Sanktion mit Freiheitsentzug unterfällt dem Strafrecht, verschärfter Arrest als Sanktion ohne Freiheitsentzug dagegen nicht. Schon eher überzeugen kann die Einordnung einer Maßnahme als strafrechtlich oder nicht, indem man sie als präventiv oder repressiv qualifiziert. Zwangsstrafen oder Beugestrafen fallen wie bereits erörtert nach ständiger Straßburger Rechtsprechung nicht unter Art. 6 Abs. 1 EMRK. Freilich können derartige Maßnahmen ebenfalls repressiven Charakter haben – man denke hier nur an die Verhängung einer Beugehaft. Die Bezeichnung der Maßnahme als Strafe spricht durchaus auch für eine repressive Maßnahme – insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Gerichtshof selbst die Bezeichnung der infragestehenden Maßnahme als wichtiges Indiz wertet.584 Eine „klare Linie“ ist damit in diesem Bereich ebenso wenig ersichtlich wie im Rahmen der Auslegung „zivilrechtlicher Ansprüche und Verpflichtungen“. (Rechts)Sicherheit existiert nur in denjenigen Fällen, deren Konstellation bereits einmal vom Gerichtshof entschieden wurde.

581 Lloyd u. a. ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 29798/96 u. a., Urt. v. 1. März 2005, Ziff. 134; Beet u. a. ./. Großbritannien, Beschwerden Nr. 47676/99, 58923/00, 58923/00, 58927/00, 61373/00, 61377/00, v. 1. März 2005, Ziff. 38. 582 Putz ./. Österreich, Beschwerde Nr. 18892/91, Urt. v. 22. Februar 1996. 583 Vgl. hierzu das Urteil im Fall Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/ 71, 5101/71, 5102/71, v. 8. Juni 1976, Ziff. 85. 584 Vgl. nur Deweer ./. Belgien, Beschwerde Nr. 6903/75, Urt. v. 27. Februar 1980, Ziff. 45 f.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

In gewisser Weise kann also der These von Wilfried Ludwig Weh – überträgt man sie auf den strafrechtlichen Anwendungsbereich – zugestimmt werden.585 Weitaus kritischer ist freilich zu bewerten, dass der Gerichtshof auch hier rechtsvergleichenden Überlegungen bei der Qualifizierung einer Maßnahme allenfalls marginalen Stellenwert beimisst. Im Rahmen der insofern wegweisenden „Engel-Kriterien“ hob er zwar explizit hervor, dass „die so gewonnenen Hinweise [aus dem Wortlaut der nationalen infragestehenden Norm] im Lichte des gemeinsamen Nenners der jeweiligen Gesetzgebungen in den verschiedenen Vertragsstaaten geprüft werden.“ 586 Eine Auseinandersetzung mit der Rechtslage in den übrigen Konventionsstaaten neben der des betroffenen Staates ist jedoch in den Urteilen des EGMR nicht zu finden. Genau dies wäre aber im Rahmen einer autonomen, aber gleichwohl an den übergeordneten Zielen der Konvention ausgerichteten Judikatur wünschenswert.587

Kapitel 4

Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist“ „Wirksamer Rechtsschutz bedeutet zumal auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit.“588

I. Vorbemerkungen Die Garantie des Gebots angemessener Verfahrensdauer beschäftigt den EGMR seit jeher am häufigsten. Sie ist damit zugleich eine der Hauptursachen für die Überlastung des Gerichtshofs. Im Hinblick auf die Garantie rechtzeitigen Rechtsschutzes ist auch die Bundesrepublik Deutschland keine Unbekannte: Die überlange Verfahrensdauer deutscher Gerichtsverfahren wird besonders häufig gerügt. Die Bundesrepublik Deutschland ist in Straßburg für die Langatmigkeit ihrer Verfahren bekannt.589 585 Weh, Der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMKR, S. 446. Die These kann übertragen auf den strafrechtlichen Teil des Art. 6 Abs. 1 EMRK genauso gut lauten: A criminal charge ist what the Court thinks it is. 586 Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, v. 8. Juni 1976, Ziff. 82. 587 Vgl. hierzu die Ausführungen in Teil 2, Kapitel 2 und 3 I 3. 588 So das BVerfG selbst in BVerfGE 55, 349 (369). Diese Entscheidung befasst sich mit der Verfassungsbeschwerde des in Berlin Spandau inhaftierten früheren Stellvertreters des „Führers“, Rudolf Hess, mit der dieser unter anderem gerügt hatte, das BVerwG habe trotz seines hohen Alters und seines Gesundheitszustandes nicht unverzüglich über seine Revision entschieden. Das BVerfG gab der Beschwerde zwar nicht statt, erteilte aber dem BVerwG den eindringlichen Hinweis, es erscheine dringend geboten, alsbald über die Revision zu entscheiden. 589 Miehsler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 326.

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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Bei der Überprüfung der Einhaltung dieses Gebots beurteilt der Gerichtshof nicht die Vereinbarkeit des nationalen Verfahrensrechts mit der EMRK, sondern widmet sich allein der Verletzung der Konvention im Einzelfall, weshalb keine abstrakte, sondern eine an den besonderen Umständen des jeweiligen Falles orientierte Prüfung erfolgt.590 Jene Prüfung führt der Gerichtshof stets nach demselben Schema durch: Zunächst bestimmt er Beginn und Ende des zu prüfenden Zeitraumes und ermittelt so dessen Gesamtdauer. Hierbei ist das Verfahren in seiner Gesamtheit von Belang,591 mit zu berücksichtigen ist demzufolge auch das Rechtsmittelverfahren.592 In einem zweiten Schritt wird sodann die Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand eines Kriterienbündels593 überprüft, welches der Gerichtshof im Laufe der Zeit fortentwickelt hat. Dem schließt sich die Auswertung der aus der Anwendung dieser Kriterien gezogenen Einzelresultate an. II. Festlegung des relevanten Zeitraumes 1. Beginn der Frist Bei der Frage des Fristbeginns ist nach der jeweiligen Verfahrensart – Zivil-, Straf- oder Verwaltungsverfahren – zu unterscheiden. Beginn und Ende der Frist sind autonom zu bestimmen;594 die Frist beginnt nicht zwingend erst mit der förmlichen Anklageerhebung im Strafverfahren; vielmehr kann der Fristbeginn auch zeitlich früher erfolgen.595 Im Zivilverfahren beginnt die Frist in der Regel596 mit der Klageerhebung,597 wohingegen ein Vorverfahren, welches mit dem Ziel der gütlichen Einigung ge-

590

Vgl. hierzu Miehsler/Vogler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 309 f. Kaiser ./. Österreich, Beschwerde Nr. 4459/70, Entsch. v. 3. April 1971, CD 38, 44 [56]; X. ./. Österreich, Beschwerde Nr. 4080/69, Entsch. v. 12. Juli 1971, CD 38, 4 [7]; Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 76; Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984, Ziff. 29. 592 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 77; vgl. auch Lansnicker/Schwirtzek, Rechtsverhinderung durch überlange Verfahrensdauer, S. 1973. 593 Dazu im Folgenden. 594 Pedersen und Baadsgaard ./. Dänemark, Beschwerde Nr. 49017/99, Urt. v. 19. Juni 2003, Ziff. 39. 595 Merit ./. Ukraine, Beschwerde Nr. 66561/01, Urt. v. 30. März 2004, Ziff. 70. 596 Im Einzelfall kann der Fristbeginn auch vor der eigentlichen Klageerhebung liegen, vgl. Golder ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 4451/70, Urt. v. 21. Februar 1975, Ziff. 32 (dort wird freilich nicht erläutert, unter welchen Umständen dies der Fall sein kann); Zabawska ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 49935/99, Entsch. v. 2. März 2006 (unter Bezugnahme auf den Fall Golder – ebenfalls ohne nähere Erläuterung). Vermutlich hatte der Gerichtshof hierbei etwa das Mahnverfahren oder ähnliche Vorfeldkonstrukte im Blick. 591

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

führt wird, ohne dass eine Partei allein eine verbindliche Entscheidung treffen kann, nicht hinzugerechnet wird.598 Besonderheiten bestehen im Fall der (nachträglichen) subjektiven Klagehäufung: Im Fall A. u. a. gegen Dänemark599 war die dänische Blutervereinigung gerichtlich gegen das Innenministerium und das Gesundheitsamt Dänemarks wegen Infizierung mehrerer ihrer Mitglieder mit dem Aids-Virus aufgrund der Verwendung HIV-verseuchter Blutprodukte vorgegangen. Die Vereinigung hatte am 14. Dezember 1987 Klage beim Obergericht für Ostdänemark erhoben und die Feststellung beantragt, dass die betroffenen Behörden denjenigen Mitgliedern der Vereinigung gegenüber haften, die durch Blutprodukte infiziert wurden. Individualisiert wurden die betroffenen Mitglieder hingegen erst später, nämlich im Jahr 1989 beziehungsweise 1990. Der EGMR gelangte richtigerweise zu dem Ergebnis, dass der zu beurteilende Zeitraum in jedem einzelnen Fall gesondert zu bestimmen sei. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem die einzelnen Mitglieder als individuelle Kläger identifiziert worden seien, habe jeder einzelne von ihnen Opfer einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK sein können.600 Im Falle nachträglicher subjektiver Klagehäufung ist demnach der Fristbeginn für die Person jedes einzelnen Bf. gesondert zu bestimmen. Dies kann trotz ansonsten gleichlaufenden Verfahrens unterschiedliche Ergebnisse bei der Frage einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK zur Folge haben. Ähnlich verhält es sich, wenn eine Partei einem laufenden Verfahren beitritt: Für diese ist dann der Zeitpunkt des Beitritts entscheidend, unabhängig davon, wie lange das Verfahren, dem beigetreten wird, bereits andauert.601 Im Strafverfahren genügt die öffentliche Mitteilung, dass gegen den Beschwerdeführer eine Anschuldigung vorliegt oder aus sonstigen Gründen der Verdacht besteht, er habe eine Straftat begangen.602 In vielen Fällen fällt daher der Fristbeginn mit der Verhaftung – der deutlichsten Form der Mitteilung einer

597 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 77; Poiss ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9816/82, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 50; Kaggali ./. Griechenland, Beschwerde Nr. 9733/03, Urt. v. 19. Mai 2005, Ziff. 18; Debelic´ ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 2448/03, Urt. v. 26. Mai 2005, Ziff. 31. 598 Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 137. 599 A. u. a. ./. Dänemark, Beschwerde Nr. 20826/92, Urt. v. 8. Februar 1996. 600 A. u. a. ./. Dänemark, Beschwerde Nr. 20826/92, Urt. v. 8. Februar 1996, Ziff. 64. 601 Farçat ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 17969/91, Urt. v. 11. Januar 1995; Cocchiarella ./. Italien, Beschwerde Nr. 64886/01, Urt. v. 29. März 2006, Ziff. 113. 602 Öztürk ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8544/79, Urt. v. 21. Februar 1984, Ziff. 47; Escoubet ./. Belgien, Beschwerde Nr. 26780/95, Urt. v. 28. Oktober 1999, Ziff. 36; Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, Ziff. 31; Schaal ./. Luxemburg, Beschwerde Nr. 51773/99, Urt. v. 18. Februar 2003, Ziff. 33; Pedersen u. Baadsgaard ./. Dänemark, Beschwerde Nr. 49017/99, Urt. v. 19. Juni 2003, Ziff. 39; Panchenko ./. Russland, Beschwerde Nr. 45100/98, Urt. v. 8. Februar 2005, Ziff. 124.

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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Anschuldigung – zusammen;603 weitere Beispiele sind die Kenntniserlangung vom Erlass eines Haftbefehls oder die – amtliche – Mitteilung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.604 Im Verwaltungsverfahren ist zugunsten eines Bf. zu berücksichtigen, dass er häufig vor Klageerhebung ein Vorverfahren – nach deutschem Recht gem. §§ 68 ff. VwGO605 – durchführen muss. Diese zwingende Voraussetzung des Verwaltungsverfahrens führt dazu, dass der Beginn der Frist im Verwaltungsverfahren auf die Einleitung des Vorverfahrens vorverlagert wird.606 Bereits zu diesem Zeitpunkt ist nämlich ein „ernsthafter Streit über einen Anspruch“ entstanden.607 Sofern kein Widerspruchsverfahren vorgeschaltet ist, beginnt auch hier die Frist mit der Klageerhebung.608 Liegt der nach diesen Maßstäben ermittelte Beginn der Frist zeitlich vor dem Datum der Ratifikation der EMRK durch den betroffenen Staat, so ist ratione temporis statt des eigentlichen Fristbeginns das Ratifikationsdatum als Anfangszeitpunkt entscheidend.609

603 Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 19; Hiyasettin Altin ./. Türkei, Beschwerde Nr. 73038/01, Urt. v. 24. August 2005, Ziff. 31; Nakhmanovich ./. Russland, Beschwerde Nr. 55669/00, Urt. v. 2. März 2006, Ziff. 75. 604 So die KOM im Fall Mellin ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 5765/72, Entsch. v. 16. Juli 1973, Ziff. 20, CD 44, 81 [92]; Corigliano ./. Italien, Beschwerde Nr. 8304/78, Urt. v. 10. Dezember 1982, Ziff. 35; Panchenko ./. Russland, Beschwerde Nr. 45100/ 98, Urt. v. 8. Februar 2005, Ziff. 125; Uhl ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 64387/01, Urt. v. 10. Februar 2005, Ziff. 26; Mamicˇ ./. Slowenien, Beschwerde Nr. 75778/01, Urt. v. 27. Juli 2006, Ziff. 24. 605 Nach französischem Recht etwa ist die vorherige Einlegung des sog. recours administratif zwar möglich, nicht aber zwingend erforderlich. Der Betroffene kann frei wählen, ob er diesen vor Klageerhebung ergreift oder direkt das Gericht anruft, vgl. Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 121 f. Das österreichische Verwaltungsrecht hingegen sieht einen verwaltungsinternen Instanzenzug vor; es kennt etwa das verwaltungsinterne Rechtsmittel der Berufung, vgl. Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 299. 606 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 98; Hellborg ./. Schweden, Beschwerde Nr. 47473/99, Urt. v. 28. Februar 2006, Ziff. 59; Stork ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38033/02, Urt. v. 13. Juli 2006, Ziff. 38; Klasen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75204/01, Urt. v. 5. Oktober 2006, Ziff. 29; Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6, Rn. 137. 607 Hellborg ./. Schweden, Beschwerde Nr. 47473/99, Urt. v. 28. Februar 2006, Ziff. 59; Bozˇic´ ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 22457/02, Urt. v. 29. Juni 2006, Ziff. 26. 608 Svetlana Naumenko ./. Ukraine, Beschwerde Nr. 41984/98, Urt. v. 9. November 2004, Ziff. 75. 609 Svetlana Naumenko ./. Ukraine, Beschwerde Nr. 41984/98, Urt. v. 9. November 2004; Ziff. 73; Panchenko ./. Russland, Beschwerde Nr. 45100/98, Urt. v. 8. Februar 2005, Ziff. 126; Antonenkov u. a. ./. Ukraine, Beschwerde Nr. 14183/02, Urt. v. 22. November 2005, Ziff. 39; Nakhmanovich ./. Russland, Beschwerde Nr. 55669/00, Urt. v. 2. März 2006, Ziff. 75.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

2. Ende der Frist Die im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK relevante Frist endet bei allen Verfahrensarten mit der letzten gerichtlichen Entscheidung.610 Mithin werden alle Rechtsmittelinstanzen umfasst.611 Verweist ein Rechtsmittelgericht die Sache zur erneuten Entscheidung zurück an das Vordergericht und wird gegen dessen Entscheidung erneut ein Rechtsmittel eingelegt, so ist die letzte Rechtsmittelentscheidung maßgebend.612 Entscheidend ist hierbei stets die Zustellung der betreffenden Entscheidung an den Bf. beziehungsweise an dessen Prozessbevollmächtigten.613 Das Verfahren endet mit dem Eintritt der Rechtskraft, also spätestens mit der Entscheidung der letzten Instanz.614 Denkbar sind allerdings auch Fälle, in denen das Verfahren noch nicht einmal zum Zeitpunkt der Entscheidung des EGMR zum Abschluss gebracht wurde: In einer solchen Konstellation ist die Dauer des Verfahrens bis zum Zeitpunkt der Straßburger Entscheidung zu berechnen.615 Inwiefern auch Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einzubeziehen sind, wird in den beiden folgenden Kapiteln erörtert. Im Rahmen von Strafverfahren werden Zeiten, in denen das Strafverfahren wegen fluchtbedingter Abwesenheit des Bf. ausgesetzt wurde, nicht miteingerechnet; die für Art. 6 Abs. 1 EMRK maßgebliche Frist wird dann ausgesetzt.616 Wird die Bildung der Gesamtstrafe nicht im Strafurteil selbst vorgenommen, sondern einem späteren Zeitpunkt vorbehalten – etwa nach § 460 der deutschen StPO –, so endet die Frist erst mit der abschließenden Festsetzung des Strafmaßes.617 Dies gilt entsprechend im Falle der Beschränkung eines Rechtsmittels auf das Strafmaß.618 Ebenfalls von Bedeutung für das Fristende 610

Peukert, Überlange Verfahrensdauer, S. 271. Vgl. Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 76; Klamecki ./. Polen, Beschwerde Nr. 25415/94, Urt. v. 28. März 2002, Ziff. 86; Debelic´ ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 2448/03, Urt. v. 26. Mai 2005, Ziff. 31. 612 X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 4649/70, Entsch. v. 3. Mai 1974, Collection of Decisions 46 (1974), 1 (18). 613 Klasen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75204/01, Urt. v. 5. Oktober 2006, Ziff. 29. 614 Ablauf der Rechtsmittelfrist oder Zurücknahme des Rechtsmittels. Zu Letzterem vgl. Cˇevizovic´ ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 49746/99, Urt. v. 29. Juli 2004, Ziff. 59. Auch ein Einstellungsbeschluss kommt hier in Betracht, vgl. Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 78; Panchenko ./. Russland, Beschwerde Nr. 45100/98, Urt. v. 8. Februar 2005, Ziff. 125. 615 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 101– 102; Müller ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 69584/01, Urt. v. 6. Oktober 2005, Ziff. 76. 616 Ventura ./. Italien, Beschwerde Nr. 7438/76, Bericht der KOM v. 15. Dezember 1980, Decisions and Reports 23 (1981), 5 (43 f.). 617 Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 77. 618 X ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 4623/70, Entsch. v. 9. Februar 1972, Yearbook of the European Convention on Human Rights, 15 (1972), 376 (394 f.). 611

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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ist die im Anschluss an ein freisprechendes oder einstellendes Urteil getrennt von diesem getroffene Entscheidung über die Auferlegung der Kosten und Auslagen des Bf. Der EGMR bezweifelt zwar selbst, ob bei dieser rein verfahrensrechtlichen Frage noch von einer strafrechtlichen Anklage im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK gesprochen werden könne;619 gleichwohl sei die Anwendbarkeit in diesem Fall zu bejahen, da die Kostenentscheidung unter demselben Aktenzeichen von demselben Richter getroffen würde, wie die Entscheidung in der Sache selbst;620 im Übrigen hätte das Gericht die Kostenentscheidung auch zusammen mit dem Urteil fällen können, beide seien daher untrennbar verbunden. Diese Argumentation erscheint freilich sehr formalistisch. Im Zivilverfahren stellt die Beendigung des Verfahrens durch einen Vergleich zugleich das Ende der maßgeblichen Frist dar. Vollstreckungsverfahren sind in der Regel nicht in die Dauer des Erkenntnisverfahrens einzurechnen; es handelt sich bei ihnen vielmehr um eigenständige Verfahren.621 Lediglich dann, wenn dem Bf. wie etwa nach portugiesischem Recht außer dem Antrag auf Einleitung des Vollstreckungsverfahrens keine weiteren Möglichkeiten zur Verfügung stehen, auf die Beschleunigung dieses Verfahrens hinzuwirken, kann das Vollstreckungsverfahren mit zu berücksichtigen sein.622 Ein Vollstreckungsverfahren dagegen, welches nach nationalem Recht im Wesentlichen von der Initiative des Vollstreckungsgläubigers abhängt, ist bei der Bestimmung des Fristendes nicht zu berücksichtigen.623 Erstaunlicherweise scheint der EGMR bei dieser Frage tatsächlich einmal auf das jeweilige Recht des betroffenen Staates Rücksicht zu nehmen – eine Vorgehensweise, der Straßburg ansonsten eher ablehnend gegenübersteht. Der EGMR gelangt auf diese Weise zu unterschiedlichen Ergebnissen und damit einhergehend zu einer uneinheitlichen – freilich dennoch systemgerechten – Rechtsprechung. Bei Verwaltungsverfahren bestehen keine Besonderheiten, abzustellen ist ebenfalls auf die letztinstanzliche Entscheidung.624 619

Mamicˇ ./. Slowenien, Beschwerde Nr. 75778/01, Urt. v. 27. Juli 2006, Ziff. 27. Dieses Argument erscheint freilich stark formalistisch. 621 Thienel, Angemessene Verfahrensdauer, S. 478; anders allerdings in Einzelentscheidungen, die das portugiesische Recht betrafen: Im portugiesischen Recht besteht die Besonderheit, dass das Erkenntnisverfahren in ein Vollstreckungsverfahren übergehen kann, weshalb der EGMR das Vollstreckungsverfahren in diesen Fällen in die Gesamtverfahrensdauer miteingerechnet hat, vgl. Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984, Ziff. 29; Martins Moreira ./. Portugal, Beschwerde Nr. 11371/85, Urt. v. 26. Oktober 1988, Ziff. 40; Estima Jorge ./. Portugal, Beschwerde Nr. 24550/94, Urt. v. 21. April 1998, Ziff. 40. 622 Martins Moreira ./. Portugal, Beschwerde Nr. 11371/85, Urt. v. 26. Oktober 1988, Ziff. 44. 623 Unio ´ n Alimentaria Sanders S.A. ./. Spanien, Beschwerde Nr. 11681/85, Urt. v. 7. Juli 1989, Ziff. 30. 624 Vgl. statt vieler Mennitto ./. Italien, Beschwerde Nr. 33804/96, Urt. v. 5. Oktober 2000, Ziff. 29. 620

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

III. Angemessenheit der Verfahrensdauer 1. Absolute Zeitgrenze oder Verfahrensdauer als Indikator für Unangemessenheit? Der Begriff der Angemessenheit stellt einen ausfüllungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff625 dar, der es erforderlich macht, handhabbare Maßstäbe festzulegen, um dem Gebot der Bestimmtheit und Rechtssicherheit nachzukommen. In Betracht kommen bestimmte – abstrakte – Zeitgrenzen oder eine am Einzelfall orientierte Auslegung. In Erwägung zu ziehen ist zunächst die Festlegung bestimmter Zeitgrenzen. Dies würde die Arbeit des EGMR erheblich vereinfachen. Eine solche Handhabung entspräche etwa den preußischen Jahresfristen, welche Friedrich II. präferierte.626 So könnte der Gerichtshof eine fixe Zeitgrenze nennen, bei deren Überschreitung eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK jedenfalls zu bejahen wäre, ohne dass er im Einzelnen auf die Umstände des Falles einzugehen bräuchte. Vorteil einer solchen Vorgehensweise wäre die dadurch erzielte Rechtssicherheit; Gesetzgeber, Bürger und Gerichte könnten angesichts eines objektiven Maßstabes über die zumutbare Verfahrensdauer die Folgen besser abschätzen. Dementsprechend will Kai-A. Otto anstelle des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Angemessenheit“ mit konkreten Zahlen arbeiten. Im Interesse der Rechtssicherheit will er so die unklaren Dimensionen der „Angemessenheit“ durch abstrakte Zeitgrenzen ersetzen.627 Nun sind freilich Fälle denkbar, bei denen auch eine scheinbar übermäßige Verfahrensdauer durch besondere Umstände gerechtfertigt sein kann.628 Dem Einzelfall gerecht werdende Lösungen können dann mit der Einführung starrer Zeitgrenzen nicht erzielt werden. Der Gerichtshof selbst verzichtet grundsätzlich auf präzise Festlegungen und urteilt äußerst einzelfallbezogen. Eine Festlegung auf eine bestimmte Zeitgrenze stünde im Widerspruch zu seiner dynamischen und evolutiven, an die jeweiligen gesellschaftlichen Veränderungen angeglichenen Rechtsprechungspraxis.629 Darüber hinaus legt der Gerichtshof 625 Für den entsprechenden Begriff der Angemessenheit im Rahmen des Art. 19 Abs. 4 GG vgl. Schlette, Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, S. 28. 626 Die Abneigung Friedrichs II. gegen die Justiz ist gemeinhin bekannt; aus seiner Sicht war die Tätigkeit der Gerichte zu undurchsichtig und langsam. Deshalb erging 1745 die Anordnung, es mögen „alle Processe, nach Beschaffenheit derer Sachen sonder alle Weitläufigkeiten und Verzögerungen nach wahrem Rechte kurz und gut in jeder Jahresfrist abgethan und entschieden werden“; zit. nach Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 83 f. 627 Otto, Der Anspruch auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit, S. 173 ff. 628 So andererseits ebenfalls Otto, Der Anspruch auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit, S. 174.

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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großen Wert auf sein „case-law“ 630. Starre Zeitgrenzen wären dieser einzelfallbezogenen Rechtsprechung aber abträglich. So hat der EGMR selbst Verfahren mit einer Länge von zehn und mehr Jahren noch als angemessen beurteilt631 – wenn auch ein Verfahren von extremer Länge die Vermutung der Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK indiziert.632 In einem solchen Fall ist dann die betreffende Regierung gehalten, die Unangemessenheit der Verfahrensdauer zu widerlegen.633 Eine rein abstrakte Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer hat das Straßburger Gericht hingegen erst jüngst wieder abgelehnt.634 Absolute Zeitgrenzen sind in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zu finden;635 lediglich bei immenser Dauer kann von einer Indizwirkung ausgegangen werden:636 So wird bei einem Verfahren nach acht bis zehn Jahren die „Schmerzgrenze“ 637 im Allgemeinen erreicht sein; bei annähernd dreißig Jahren ist sie überschritten, sofern nicht ganz besondere Rechtfertigungsgründe vorliegen.638 629

Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2. Statt vieler Wimmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 60534/00, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 23. 631 KOM, Soltikow./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2257/64, Kommissionsbericht v. 15. April 1970, Yearbook 14, 868 [872]; X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6946/75, Entsch. v. 6. Juli 1976, Decisions and Reports 6, 114 [116]. 632 Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 20; König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 102; Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 80. 633 Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 80. Vgl. hierzu auch Ulsamer, Art. 6 MRK und Strafverfahrensdauer, S. 376. 634 Dzelili ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 65745/01, Urt. v. 10. November 2005, Ziff. 69. 635 Allerdings ist zu beachten, dass der EGMR in jüngeren Entscheidungen, die Italien betrafen, sich einer solchen Praxis annähert: Zwar bekennt er sich keineswegs ausdrücklich zu starren Zeitgrenzen, hat aber von der Dauer unmittelbar auf eine Verletzung geschlossen, ohne sich weiter mit den Ursachen etc. für eine Verzögerung zu beschäftigen. Einziges Argument war die Feststellung, in Italien herrsche eine mit der Konvention unvereinbare Praxis. Vgl. statt vieler Bottazzi ./. Italien, Beschwerde Nr. 34884/97, Urt. v. 28. Juli 1999, Ziff. 22–23; Viscuso ./. Italien, Beschwerde Nr. 52847/ 99, Urt. v. 28. Februar 2002, Ziff. 15–17; Angelo Giuseppe Guerrera ./. Italien, Beschwerde Nr. 44413/98, Urt. v. 28. Februar 2002, Ziff. 11–13; Musci ./. Italien, Beschwerde Nr. 64699/01, Urt. v. 10. November 2004, Ziff. 23–24; Sciortino ./. Italien, Beschwerde Nr. 69834/01, Urt. v. 28. Juli 2005, Ziff. 28; sowie Stornelli ./. Italien, Beschwerde Nr. 68706/01, Urt. v. 28. Juli 2005, Ziff. 25; Fernestina Zullo ./. Italien, Beschwerde Nr. 64897/01, Urt. v. 29. März 2006, Ziff. 19, 120 (in den Urteilsgründen hebt der EGMR hervor, dass Italien zwischenzeitlich zwar einen Beschleunigungsrechtsbehelf eingeführt habe. Dieser habe hingegen nicht zur vollständigen Lösung des Problems geführt; Ziff. 120 des Urteils). 636 Vgl. hierzu auch Ziekow, Beschleunigungsbeschwerde, S. 945. 637 Matscher, Zum Problem der überlangen Verfahrensdauer, S. 357. 638 Gräßer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 66491/01, Urt. v. 5. Oktober 2006, Ziff. 52. Hier neigt der EGMR offenkundig aufgrund der immensen Verfahrenslänge einer abstrakten Grenzziehung zu: Nach den Formulierungen des Urteils müssen schon 630

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Das BVerfG hat sich die Vorgehensweise des Nachbargerichts zu eigen gemacht.639 Auch Karlsruhe lehnt mittlerweile abstrakte Zeitgrenzen ab und misst einer ungewöhnlichen Verfahrenslänge allenfalls indizielle Bedeutung zu.640 Dem ist auch zuzustimmen. Einer Rechtsprechung, die auf die Besonderheiten des einzelnen Falles eingehen will, würde eine schematische Betrachtung mit starren Grenzen wohl eher schaden und zu einer einseitigen Festlegung der Praxis des Gerichts führen. Absolute Zeitgrenzen sind damit als Maßstab abzulehnen641 und allenfalls als Indiz642 für eine etwaige Unangemessenheit brauchbar. 2. Bemessung der Angemessenheit nach einzelnen Kriterien a) Allgemeine Überlegungen Da nun also der Begriff der Angemessenheit nicht abstrakt definiert werden sollte, müssen Kriterien gefunden werden, wonach die Frage nach der „Angemessenheit“ im jeweiligen Fall beantwortet werden kann.643 Die Straßburger Organe haben schon recht früh den Begriff der Angemessenheit durch richtungweisende Kriterien näher umgrenzt.644 So muss beispielsweise ein Zivilverfahren, dem die Parteimaxime zugrunde liegt, anders behandelt werden als ein Strafverfahren mit seinem Offizialprinzip, da in ersterem der Bf. eher für prozessuale Verzögerungen verantwortlich gemacht werden kann als in letzterem; in Verfahren, die der Dispositionsmaxime unterliegen, beeinflussen eben die Parteien zu einem Großteil den Verlauf des Verfahrens. Dies außergewöhnliche Gründe vorliegen, um eine solch drastische Überlänge eines Verfahrens wie im beschriebenen Fall rechtfertigen zu können. 639 Lansnicker/Schwirtzek, Rechtsverhinderung durch überlange Verfahrensdauer, S. 1970. 640 BVerfG, NJW 1992, 2472 f.; NJW 1993, 3254 f.; NJW 2001, 214 f.; NJW 2003, 2897. 641 So im Ergebnis auch Schmidt-Aßmann, Verfahrensgarantien, S. 110 f. Für den Bereich des Art. 19 Abs. 4 GG im Ergebnis ebenso Schlette, Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, S. 28 f. 642 Vgl. bspw. Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 20. 643 Matscher, Zum Problem der überlangen Verfahrensdauer, S. 356. In allen Urteilen verwendet der EGMR übrigens die stereotype Floskel „Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist im Lichte der besonderen Umstände der Rechtssache sowie . . .“ 644 Dies hat der Gerichtshof keinesfalls schon immer so gehandhabt; im Fall Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 20 erfolgte die Beurteilung der Angemessenheit nicht anhand von Kriterien. Angedeutet wurde die Verwendung bestimmter Kriterien aber bereits im Fall Neumeister ./. Österreich, Beschwerde Nr. 1936/63, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 21, sowie im Fall Ringeisen ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Urt. v. 16. Juli 1971, Ziff. 110, wo zumindest die Komplexität des Falles als Faktor in die Erwägungen miteinbezogen wurde.

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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gilt auch für den Beklagten: Ihm steht es – obgleich unfreiwillig in einen Prozess hineingezogen – letztlich frei, ob er zum Prozess erscheint oder nicht. Entscheidet er sich für letzteres, nimmt er zwar prozessuale Nachteile in Kauf,645 kann aber nicht zum Erscheinen verpflichtet werden. Stellen die Parteien hier ins Gewicht fallende Terminverlegungsanträge oder Fristverlängerungsgesuche, so kann dies folglich auch eher zu ihren Lasten gewichtet werden; dem Gericht beziehungsweise dem beklagten Staat kann die Verantwortung hierfür kaum auferlegt werden. Im Strafprozess hingegen wird der Angeklagte gegen seinen Willen vor Gericht gestellt. Er kann über den Streitgegenstand nicht disponieren und ist der Staatsgewalt zu einem gewissen Grad „ausgeliefert“. Dass die Offizialmaxime hier zu einer abweichenden Handhabung führen muss, versteht sich von selbst. Schließlich muss auch die Art des zugrundeliegenden Rechtsstreits berücksichtigt werden. Hat dieser für den Bf. existenzielle Bedeutung, weil ihm etwa im Kündigungsprozess mit dem Verlust des Arbeitsplatzes die Lebensgrundlage entzogen zu werden droht, oder hat das Verfahren das Kindeswohl zum Gegenstand – sei es in Sorgerechtsstreitigkeiten oder sei es in Auseinandersetzungen zum Aufenthaltsbestimmungsrecht – müssen zweifelsohne strengere Maßstäbe angesetzt werden. Hier ist besondere Zügigkeit des befassten Gerichts geboten. Ebenfalls von Relevanz ist die Anzahl der Instanzen, die das Verfahren durchlaufen hat. Benötigte bereits eine einzige Instanz mehr als sechs Jahre für die abschließende Entscheidung,646 so kann in diesem Fall eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bejahen sein, während unter Umständen bei einem Verfahren mit derselben Dauer, welches aber drei Instanzen durchlaufen hat, keine Verletzung anzunehmen ist. Ferner kann bedeutsam sein, ob das innerstaatliche Verfahren im Zeitpunkt der Entscheidung des EGMR noch anhängig ist647: Da ab dem Eingang der Beschwerde beim EGMR bis zur endgültigen Entscheidung des EGMR in der Sache durchaus rund fünf Jahre vergehen können, wiegt es umso schwerer, wenn das fragliche innerstaatliche Verfahren zum Zeitpunkt der Entscheidung des EGMR immer noch anhängig ist. Fehl geht jedenfalls die Einschätzung, der EGMR täte besser daran, allgemeingültige zeitliche Präzisierungen zu liefern.648 Die Vorgehensweise des EGMR, den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand ver-

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Beispielsweise ein Versäumnisurteil im Sinne der §§ 330 ff. ZPO. So geschehen im Fall Schaal ./. Luxemburg, Beschwerde Nr. 51773/99, Urt. v. 18. Februar 2003, Ziff. 29. 647 Vgl. bspw. Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006, Ziff. 119: Der Bf. hatte die Individualbeschwerde beim EGMR bereits im Jahr 1999 eingelegt. Im Zeitpunkt der Entscheidung durch den EGMR im Juni 2006 dauerte das innerstaatliche Verfahren bereits seit fast 17 Jahren an, war aber vor den innerstaatlichen Gerichten immer noch anhängig. 648 Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 154, 220. 646

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

schiedener Kriterien auf den Einzelfall angewandt zu überprüfen, stellt eine sachgerechte Handhabung dar, um flexibel auf die jeweiligen Besonderheiten des Falles reagieren zu können. Allgemeingültige Präzisierungen wären hier fehl am Platze, da sie niemals in der Lage wären, dem Einzelfall gerecht zu werden. Wünschenswert wäre allenfalls – die Relevanz dessen wird sich gegen Ende des folgenden Kapitels herausstellen –, der Gerichtshof würde im konkret zu entscheidenden Fall Hinweise darauf erteilen, welche Verfahrensdauer denn in diesem konkreten Fall angesichts der Einzelumstände noch hinnehmbar gewesen wäre. Hierzu schweigt sich das Gericht freilich regelmäßig aus. Der EGMR leitet die Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer stets einprägsam mit folgender stereotypen Formel ein: „Die Angemessenheit der Dauer eines dem Art. 6 Abs. 1 unterfallenden Verfahrens muss im Einzelfall nach den jeweiligen Fallgegebenheiten beurteilt werden. Hierbei hat der Gerichtshof insbesondere sein Augenmerk zu richten auf die Komplexität des Falles, das Verhalten der Beschwerdeführer und das der Justizbehörden.“ 649

Die nach der Rechtsprechung des EGMR entscheidenden Kriterien sind – die Schwierigkeit des Falles beziehungsweise die Komplexität des Verfahrens in tatsächlicher und/oder in rechtlicher Hinsicht, – das Verhalten der Parteien beziehungsweise im Strafprozess des Bf., – die Verfahrensführung durch das Gericht, sowie – die Bedeutung oder Tragweite der Sache für den Bf. Alle Kriterien sind in ihrer Zusammenschau zu bewerten.650 Explizit, allerdings mit Ausnahme des vierten Kriteriums,651 hat der Gerichtshof diese Kriterien zum ersten Mal im Fall König angewandt. Die KOM hatte bereits einigen zuvor ergangenen Entscheidungen über die Angemessenheit der Verfahrens649 Im englischen Urteilstext lautet die Formel: „The reasonableness of the length of proceedings must be assessed in the light of the particular circumstances of the case and having regard, inter alia to the complexity of the case, the conduct of the parties and of the authorities concerned.“ Später kam noch das Kriterium „what was at stake in the litigation/ in the dispute“, also die Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer, hinzu, vgl. etwa Herbst ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20027/02, Urt. v. 11. Januar 2007, Ziff. 75. 650 Vgl. nur A. u. a. ./. Dänemark, Beschwerde Nr. 20826/92, Urt. v. 8. Februar 1996, Ziff. 71; Janssen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 23959/94, Urt. v. 20. Dezember 2001, Ziff. 44; sowie Trippel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 68103/01, Urt. v. 4. Dezember 2003, Ziff. 23. 651 Vgl. König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 99. Allerdings erwähnt der Gerichtshof mittelbar an späterer Stelle die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer (Ziff. 111); ausdrücklich als zu prüfendes Kriterium wird die Bedeutung der Sache allerdings zu Beginn der Prüfung nicht genannt. Im Urteil Buchholz dagegen (Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/ 77, Urt. v. 6. Mai 1981) nennt der Gerichtshof ausdrücklich auch das vierte Kriterium als im Rahmen der Angemessenheit zu prüfendes Attribut (Ziff. 49 des Urteils).

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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dauer die ersten drei Kriterien zugrundegelegt.652 Nach und nach hat der Gerichtshof das vierte Kriterium insbesondere in Haftsachen,653 aber auch in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten654 angewendet. Auch in familienrechtlichen Verfahren, insbesondere bei Kindschaftssachen,655 sowie bei sozialversicherungsrechtlichen Streitigkeiten656 berücksichtigt der EGMR mittlerweile, dass für den Bf. einiges auf dem Spiel stehen kann. Jüngst wurde dies auch für Verfahren, die den Personenstand sowie die Geschäftsfähigkeit einer Person zum Gegenstand haben, angenommen.657 Inzwischen nimmt der EGMR die Prüfung des vierten Kriterium regelmäßig vor, ohne nach der Art der zugrundeliegenden Verfahren zu differenzieren. Diese Vorgehensweise überzeugt, da kein Grund ersichtlich ist, etwa den Entzug der Approbation im Fall König als weniger bedeutsam für den Bf. einzustufen als etwa ein arbeitsrechtliches Kündigungsschutzverfahren. Die Berufsausübung des Bf. ist in beiden Fällen gefährdet – im Falle des Approbationsentzugs sogar erheblich stärker, da die Ausübung des Berufs als Arzt vollkommen unmöglich zu werden droht. Inzwischen tauchen diese Kriterien in schematischer Regelmäßigkeit auf; bis heute geht der Gerichtshof im Rahmen seiner Ausführungen regelmäßig auf sie ein. Lediglich in einzelnen Judikaten hat er auf die Prüfung eines oder mehrerer Kriterien verzichtet – dies insbesondere dann, wenn die überlange Dauer des Verfahrens ein Indiz für die Unangemessenheit lieferte und die beklagte Regierung nach Auffassung des Gerichtshofs keine hinreichende Rechtfertigung abgeben konnte.658 Abgewichen ist der EGMR von diesem Schema zudem in einigen gegen Italien gerichteten Judikaten: Wie bereits erwähnt hatte er in dem wegweisenden Urteil Bottazzi 659 befunden, in Italien herrsche eine Praxis vor, die mit der Konvention nicht vereinbar sei. Ohne auf die erwähnten Kriterien einzugehen, warf er dem beklagten italienischen Staat vor, seit dem Urteil im Fall Capuano vom 25. Juni 1987660 seien 65 Urteile betreffend die Verfahrens652 Vgl. nur M.G. Soltikow./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2257/64, Entsch. v. 5. April 1968; sowie M.R. ./. Österreich, Beschwerde Nr. 2614/65, Entsch. v. 18. Juli 1968. Auch manche Kommentierungen zu Art. 6 EMRK gehen auf das vierte Kriterium mit keiner Silbe ein, vgl. Miehsler/Vogler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 317 ff. 653 Uhl ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 64387/01, Urt. v. 10. Februar 2005, Ziff. 32. 654 Vgl. statt vieler Obermeier ./. Österreich, Beschwerde Nr. 11761/85, Urt. v. 28. Juni 1990, Ziff. 72. 655 Wimmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 60534/00, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 34. 656 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 90. 657 Mikulic ´ ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 53176/98, Urt. v. 7. Februar 2002, Ziff. 44. 658 So beispielsweise im Fall Voggenreiter ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 47169/ 99, Urt. v. 8. Januar 2004, Ziff. 48–51. 659 Bottazzi ./. Italien, Beschwerde Nr. 34884/87, Urt. v. 28. Juli 1999, Ziff. 22. 660 Capuano ./. Italien, Beschwerde Nr. 9381/81, Urt. v. 25. Juni 1987.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

dauer vor italienischen Zivilgerichten ergangen, ohne dass insoweit eine Besserung eingetreten sei. Den Vorwurf, in Italien herrsche eine mit Art. 6 Abs. 1 EMRK unvereinbare Praxis, wiederholte der EGMR in nachfolgenden Urteilen.661 Der am Urteil im Fall Bottazzi noch nicht beteiligte italienische Richter am EGMR, Ferrari Bravo, erklärte in seiner abweichenden Ansicht jeweils, den in den 133 parallel gelagerten Fällen gefällten Judikaten nicht zustimmen zu können. Insbesondere kritisierte er die Vorgehensweise des EGMR, die Umstände des einzelnen Falles in diesen italienischen Fällen überhaupt nicht mehr berücksichtigt zu haben. Er befürchtete zuvörderst, derartige Urteile aus Straßburg führten dazu, dass ein „ultra-schneller“ 662 Zivilprozess in Italien Einzug halte, der ein System mehrerer Instanzen nicht mehr kenne.663 Der italienische Staat sah sich angesichts dieser zahlreichen Verurteilungen, die beträchtliche Entschädigungszahlungen an die betroffenen Bf. zur Folge hatten, letztlich gezwungen, legislative Maßnahmen zu ergreifen und erließ – unter anderem auch unter dem Einfluss des Urteils im Fall Kudla664 – die sogenannte legge Pinto665, ein Gesetz, welches vorsieht, dass dem Bürger bereits innerstaatlich ein Mittel an die Hand gegeben wird, um sich gegen Verfahrensverzögerungen wirksam zur Wehr zu setzen. Einige der eben zitierten Urteile datieren freilich zeitlich nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes. Dies verdeutlicht, dass dieses italienische Beschleunigungsmittel anscheinend seine beschleunigende Wirkung bislang nicht hinreichend zu entfalten vermag. Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit der Vorgehensweise der deutschen Gerichte – im Rahmen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG hinsichtlich verwaltungsgerichtlicher Streitigkeiten und Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG hinsichtlich privat- und strafrechtlicher Streitigkeiten – mit der des Straßburger Gerichts.666 Offenkundig hat sich dabei das Bundesverfassungsge661 Mennitto ./. Italien, Beschwerde Nr. 33804/96, Urt. v. 5. Oktober 2000, Ziff. 30; Mario Francesco Palmieri ./. Italien, Beschwerde Nr. 51022/99, Urt. v. 28. Februar 2002, Ziff. 11; Angelo Giuseppe Guerrera ./. Italien, Beschwerde Nr. 44413/98, Urt. v. 28. Februar 2002, Ziff. 12; Viscuso ./. Italien, Beschwerde Nr. 52847/99, Urt. v. 28. Februar 2002, Ziff. 16. 662 Im Originaltext lautete die Formulierung „ultra-rapide“. 663 Vgl. jeweils die abweichende Ansicht des Richters am EGMR Ferrari Bravo im Anhang der Urteile Mario Francesco Palmieri ./. Italien, Beschwerde Nr. 51022/99, Urt. v. 28. Februar 2002; Angelo Giuseppe Guerrera ./. Italien, Beschwerde Nr. 44413/ 98, Urt. v. 28. Februar 2002; Viscuso ./. Italien, Beschwerde Nr. 52847/99, Urt. v. 28. Februar 2002. 664 Andrzej Kudla ./. Polen, Beschwerde Nr. 30210/96, Urt. v. 26. Oktober 2000 = NJW 2001, 2694 = EuGRZ 2004, 484 ff. – Vgl. hierzu ausführlich die Ausführungen im 5. Kapitel. 665 Nach seinem Initiator Senator Michele Pinto benanntes Gesetz Nr. 89 vom 24. März 2001, in Kraft getreten am 18. April 2001. 666 Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer ist zwar ausdrücklich im Grundgesetz nicht enthalten. Das BVerfG leitet jedoch aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. aus Art. 2

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richt vom EGMR leiten lassen und nicht umgekehrt: So hat es noch im Jahr 1977 die Dauer eines Verfahrens als verfassungsrechtlich unbedeutend angesehen667 und wohl das bahnbrechende Urteil König vom 28. Juni 1978 zum Anlass genommen, die eigene Praxis zu überdenken.668 Bis zu diesem Zeitpunkt begnügte sich das BVerfG mit recht pauschalen Feststellungen und fragte etwa nach dem Vorliegen einer „offenkundigen Verschleppung“ 669 des Verfahrens; die Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand konkreter Kriterien war Karlsruhe dagegen fremd. Die endgültige Anerkennung und Übernahme der vom EGMR aufgestellten Grundsätze einschließlich der Anwendung der Kriterien durch das BVerfG erfolgte im Jahr 1985;670 seither verweist das BVerfG in seinen Urteilen auf die entsprechenden Judikate des EGMR und überträgt die auf Ebene der EMRK entwickelten Präzisierungsansätze auf Art. 19 Abs. 4 GG (und den allgemeinen Justizgewährungsanspruch).671 Vom BVerfG wird seither auch die Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht mehr anhand einer starren Zeitgrenze, sondern nach den besonderen Umständen des Einzelfalls672 bestimmt.673 Dabei zieht das BVerfG gleichfalls die Kriterien Schwierigkeit der Materie und Komplexität des Falles,674 die Bedeutung der Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG (allgemeiner Justizgewährleistungsanspruch; vgl. hierzu BVerfGE 54, 277 [291]; 85, 337 [345]; 88, 118 [123]; 94, 166 [226]) ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf angemessene Verfahrensdauer ab (BVerfGE 54, 39 [41]; 55, 349 [369]; 60, 253 [269]); vgl. auch Henckel, Art. 6 Abs. 1 EMRK und das deutsche zivilgerichtliche Verfahren, S. 190 f. Insofern garantiert Art. 19 Abs. 4 GG den Rechtsschutz gegenüber der Exekutive und ist insoweit lex specialis, wohingegen Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG in den übrigen Fällen zur Anwendung kommt; zur Abgrenzung vgl. Jarass/Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 34 sowie Art. 20, Rn. 91. 667 Mit Ausnahme von Fällen offensichtlicher Verschleppung, vgl. BVerfGE 46, 17 (28 f.). 668 So auch Schlette, Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, S. 25, Fn. 36. 669 BVerfGE 46, 17 (28 f.). 670 Bereits in einem Beschluss vom 24. November 1983 (BVerfG NJW 1984, 967) hat das BVerfG auf die Rechtsprechung des EGMR Bezug genommen, ist dabei aber noch recht zurückhaltend vorgegangen und hat die Berücksichtigung der EGMRRechtsprechung lediglich als möglich in Aussicht gestellt. 671 BVerfG NJW 1985, 967; NJW 1992, 2472 f.; NJW 1993, 3254 ff.; NJW 1995, 1277; NJW 1999, 2582 f.; NJW 2001, 216; NJW 2001, 2707; NJW 2003, 2897; NJW 2004, 3320; NJW 2005, 739. Vgl. hierzu auch Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 172 f., sowie Borm, Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer, S. 138. 672 Vgl. nur BVerfGE 55, 349 (369) [Beschluss „Rudolf Hess“]; NJW 1999, 3622 (3623); NJW 2001, 216; für Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 2 GG ebenso NJW 1997, 2811 (2812); NJW 1999, 2582 (2583); NJW 2001, 214 (215); NJW 2001, 961; NJW 2003, 1379; NJW 2004, 835 (836); NJW 2004, 3320; NJW 2005, 739. 673 Vgl. hierzu Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 172 f., 186; Haag, Effektiver Rechtsschutz, S. 40. 674 BVerfG, NJW 1984, 967; NJW 1992, 2472 f.; NJW 1993, 3254 f.; NJW 2001, 214 f.; NJW 2003, 2897; NVwZ 2004, 334 ff.

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Sache für die Parteien675 und das ihnen zuzurechnende Prozessverhalten676 heran. Nicht minder interessant ist die Tatsache, dass selbst der EuGH die Prüfungsmethode des EGMR zur Angemessenheit der Verfahrensdauer übernommen hat. So äußerte er sich erstmals in der Entscheidung Baustahlgewebe677 vom 17. Dezember 1998 zur angemessenen Dauer eines Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (EuG) am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 EMRK.678 Die Angemessenheit der Verfahrensdauer überprüft der EuGH seit dieser Entscheidung exakt dem Schema des EGMR entsprechend. So bestimmt er zunächst den relevanten Zeitraum, um dann in einem nächsten Schritt anhand der vier vom EGMR entwickelten Kriterien die Angemessenheit in concreto zu beurteilen.679 Die Rechtsprechung des EGMR zeitigt damit Ausstrahlungswirkung sowohl auf nationale als auch auf europäische Gerichte. Der EuGH strebt augenscheinlich Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR an.680 Umgekehrt 675

Für ein Strafverfahren: BVerfG, Beschl. v. 24. November 1983 – 2 BvR 121/83. BVerfG NJW 1984, 967; NJW 2003, 2225; BVerfG NVwZ 2003, 1379 (1380); BVerfG NJW 2003, 2897 (2898); NJW 2004, 3320. Hierzu vertiefend Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 29. 677 Baustahlgewebe ./. Kommission, EuGH, Slg. 1998, I-8417 = EuZW 1999, 115 ff. = NJW 1999, 3548 L. Vgl. zu dieser Entscheidung auch Schlette, Der Anspruch auf Rechtsschutz innerhalb angemessener Frist, S. 369 ff.; sowie die Zusammenfassung von Montag, Die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, S. 32 (37 f.). 678 Art. 6 Abs. 1 EMRK wurde deshalb als Prüfungsmaßstab herangezogen, weil es sich bei dieser Norm nach dem EuGH um einen „aus den Grundrechten der EMRK entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsatz“ (EuGH, Slg. 1996, I-1759, Rn. 33 – Gutachten 2/94 = EuZW 1996, 307; sowie EuGH, Slg. 1997, I-2629, Rn. 14 – Kremzow) handelt – auch wenn die Europäische Gemeinschaft (noch) nicht Vertragspartei der Konvention ist. Dies gelte auch für die Klage eines Unternehmers gegen die Kommission (EuGH, Slg. 1998, I-8417 = EuZW 1999, 115 [117]). Rudolf Streinz hingegen äußert sich kritisch dahingehend, dass der EuGH die EMRK lediglich als Rechtserkenntnisquelle nutze, nicht hingegen als Rechtsquelle (Streinz, Überlange Verfahrensdauer vor dem EuG, S. 598). Vermittelnd hierzu Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Einleitung, Rn. 133, der „die Schutzstandards der Konvention als verbindliche Maßstäbe für das Handeln der Gemeinschaftsorgane“ ansieht, die „ein wesentliches Element des gemeinschaftseigenen Grundrechtsschutzes“ bilden (so auch EuGH Slg. 1989, 2853 [2925]). Zum vergleichbaren Problem der Anwendung der EMRK durch das BVerfG vgl. den „Görgülü“-Beschluss v. 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04 = EuGRZ 2004, 741 ff., sowie vertiefend Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, S. 694. 679 Baustahlgewebe ./. Kommission, EuGH, Slg. 1998, I-8417, Rn. 28 f. = EuZW 1999, 115 (117). 680 So bereits EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 (Johnston ./. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary): Der EuGH berücksichtigt „die leitenden Grundsätze dieser Konvention im Rahmen des Gemeinschaftsrechts“. Eindrücklich auch Wachauf ./. Bundesanstalt für Ernährung und Forstwirtschaft, EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, Rn. 17: „In der Gemeinschaft können keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden, die mit der Bedeutung der so anerkannten und gewährleisteten 676

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geht der EGMR seinerseits offenbar davon aus, dass eine – wenn auch widerlegbare – Vermutung der Vereinbarkeit aufgrund von EU/EG-Recht ergangener Maßnahmen mit der EMRK bestehe, weil das Unionsrecht gewährleiste, dass ein der EMRK gleichwertiger Grund- und Menschenrechtsschutz sichergestellt werde.681 Im Interesse eines einheitlichen europäischen Standards ist eine solche Entwicklung insgesamt nur zu begrüßen.682 Probleme könnten sich in diesem Zusammenhang aber andererseits durch den in Art. I-9 Abs. 2 des Vertrages über eine Verfassung für Europa (VVE)683 avisierten Beitritt der (neuen) EU zur EMRK ergeben: Die EMRK ist aus deutschem Blickwinkel lediglich inkorporiertes Völkerrecht mit dem Rang eines einfachen Bundesgesetzes, Art. 59 Abs. 2 GG.684 Mit dem Beitritt würde die EMRK zu einer die Union völkerrechtlich unmittelbar bindenden Rechtsquelle. In Anlehnung an Art. III-323 Abs. 2 VVE (bislang: Art. 300 Abs. 7 EGV) stünde die EMRK normenhierarchisch irgendwo zwischen einfachem Bundesrecht und Verfassungsrecht, wäre mithin „höher“ angesiedelt als bisher. Teilweise wird befürchtet, im Falle eines Beitritts der Union zur EMRK würde der „einfachgesetzliche Rang“ der EMRK ausgehebelt, da der EuGH unmittelbar an die EMRK gebunden wäre und diese Bindung konsequenterweise über seine Judikate auch an die einzelnen Mitgliedstaaten weitergäbe. Ganz überwiegend wird indes darin kein Problem erblickt: Schließlich berücksichtige der EuGH die Standards der EMRK – ja sogar die Rechtsprechung des EGMR – ohnehin bereits seit längerem (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV) und habe so zu einer zumindest mittelbaren Bindung beigetragen.685 Überdies seien die Mitgliedstaaten ihrerseits ja auch an die EMRK – gleich auf welche Weise dies innerstaatlich geMenschenrechte unvereinbar sind.“ So auch Schwarze, Der Schutz der Grundrechte durch den Europäischen Gerichtshof, S. 43. Ähnlich Everling, Europäische Union, Europäische Menschenrechtskonvention und Verfassungsstaat, S. 71 f. Kritisch sahen einige Autoren das Urteil Carpenter (EuGH, Slg. 2002, I-6279) an: Hier kam die EMRK (Art. 8 Abs. 1 EMRK) über eine sehr weite Auslegung der unmittelbar geltenden Dienstleistungsfreiheit durch die Hintertür quasi unmittelbar zur Anwendung, obwohl dies – zumindest vor Inkrafttreten des Verfassungsvertrages – nach bislang geltendem EU-Recht nicht vorgesehen ist, Nachweise bei Britz, Bedeutung der EMRK für nationale Verwaltungsgerichte und Behörden, S. 173 ff. 681 Bröhmer, Die Bosphorus-Entscheidung des EGMR, S. 71. Die Formulierungen des EGMR in dieser Entscheidung (Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi ./. Irland, Beschwerde Nr. 45036/98, Urt. v. 30. Juni 2005) erinnern an die Ausführungen des BVerfG in seinen Entscheidungen Solange I (BVerfGE 37, 271) und Solange II (73, 339). Kritisch äußerte sich der Richter am EGMR Georg Ress in seinem Sondervotum und warnte vor einer Überspannung dieser Vermutungsregel. 682 Vgl. hierzu auch Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 262. 683 Abrufbar unter http://europa.eu/constitution/de/ptoc3_de.htm#a12. 684 Everling, Europäische Union, Europäische Menschenrechtskonvention und Verfassungsstaat, S. 72. 685 Busse, Die Geltung der EMRK für Rechtsakte der EU, S. 1074 f.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

schieht – gebunden, weshalb eine solche mittelbare Bindung der einzelnen Staaten über die Urteile des EuGH jedenfalls nicht schädlich sein könne.686 b) Umfang und Schwierigkeit des Falles Berücksichtigt wird vom Gerichtshof zunächst die Komplexität des zugrundeliegenden Falles687. Die Ursachen für besondere Komplexität oder Schwierigkeit des Falles können sich dabei aus im Sachverhalt sowie im Verfahren angelegten Umständen ergeben; genauso können diese aber auch aus der Entscheidung schwieriger Rechtsfragen erwachsen. Zugunsten der Beklagtenseite – also im Individualbeschwerdeverfahren zugunsten des beklagten Staates – hat der Gerichtshof unter anderem die Schwierigkeit, Zeugen ausfindig zu machen,688 den Umfang großer Wirtschaftsstrafverfahren,689 schwierige Rechtsfragen der Landzusammenlegung,690 komplexe Rechtsfragen des Umweltstrafrechts,691 komplizierte Rechtsfragen des Sozialrechts,692 Auslegungsfragen im Rahmen des Kündigungsschutzgesetzes und des Schwerbehindertengesetzes,693 die Einholung von Sachverständigengutachten,694 das Vorliegen mehrerer Parallelverfahren zwischen den Parteien,695 die Lösung 686 Kingreen in: Calliess/Ruffert, Verfassung der Europäischen Union, Art. I-9 Rn. 24. 687 Nach der französischen und der englischen Fassung „complexité de l’affaire“ bzw. „complexity of the case“. Die deutsche Übersetzung schwankt zwischen „Kompliziertheit“ und „Komplexität“ des Verfahrens. Grundlegend zum Faktor Kompliziertheit des Rechts, Kirchhof, Verfahrensdauer, S. 446 ff. 688 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 102. 689 Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 81 u. 89. Auch die KOM hatte bereits zuvor in umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren die Komplexität des Falles als Kriterium in die Bewertung miteinbezogen, vgl. nur Sepp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 3897/68, Entsch. v. 17. Juli 1970; sowie Nagel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7614/76, Entsch. v. 7. Dezember 1977. 690 Poiss ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9816/82, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 56; sowie Erkner u. Hofauer ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9616/81, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 67. 691 Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, Ziff. 39. Nicht als komplex bewertet wurden hingegen die Tatbestände des Widerstandes gegen die Staatsgewalt und des Landfriedensbruchs, vgl. Foti u. a. ./. Italien, Beschwerden Nr. 7604/76, 7719/76, 7781/77, 7913/77, Urt. v. 10. Dezember 1982, Ziff. 58. 692 H. T. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38073/97, Urt. v. 11. Oktober 2001, Ziff. 32. 693 Mianowicz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42505/98, Urt. v. 18. Oktober 2001, Ziff. 51. 694 Janssen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 23959/94, Urt. v. 20. Dezember 2001, Ziff. 44; Calleja ./. Malta, Beschwerde Nr. 75274/01, Urt. v. 7. April 2005, Ziff. 128. 695 Thieme ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38365/97, Urt. v. 17. Oktober 2002, Ziff. 47.

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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von Detailfragen des Aktienrechts696 sowie schwierige Fragen des Gesellschaftsrechts697 berücksichtigt. Auch umfangreiches Parteivorbringen, die Beteiligung mehrerer Parteien am Verfahren,698 sowie das Vorhandensein einer Vielzahl von Zeugen und Opfern in umfangreichen Strafverfahren699 erhöhen die Komplexität des zugrundeliegenden Falles und fließen zugunsten des beklagten Staates in die Bewertung ein. Kann sich das angerufene Gericht nicht auf eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung stützen, kann es unter Umständen auch gerechtfertigt sein, eine bevorstehende Grundsatzentscheidung zu der betreffenden Rechtsfrage abzuwarten.700 Nicht akzeptiert hat der EGMR dagegen das Vorbringen der beklagten Regierung, das Verfahren habe sich gegen eine Vielzahl von Beklagten gerichtet, wobei auch mehrfache Forderungsübergänge zu prüfen gewesen seien, was sowohl Probleme rechtlicher, wie auch tatsächlicher Art aufgeworfen habe.701 Komplexität ist schließlich auch dann zu bejahen, wenn mehrere Zivil-, Straf- oder Verwaltungsverfahren ineinander greifen.702 Zu beachten ist dabei, dass die Komplexität eines Falles durchaus nur einzelne Verfahrensabschnitte betreffen kann; kommt es zu übermäßigen Verzögerungen in anderen, von der Komplexität nicht betroffenen Verfahrensabschnitten, so nehmen jene an der Rechtfertigung dieses Abschnitts nicht teil.703 Welches Gewicht der EGMR der Komplexität des zugrundeliegenden Falles in der Gesamtschau beimisst, kommt in den Formulierungen des Urteilstextes zum Ausdruck: Ist die Komplexität zugunsten des beklagten Staates in besonderem Maße zu gewichten, so finden sich in den Urteilen des EGMR Wendungen wie „beträchtliche Komplexität“ 704, „extreme Komplexität“ 705 „von einiger Komplexität“ 706; umgekehrt heißt es vielfach, dass die Sache „keine ausnehmend 696 Kind ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 44324/98, Urt. v. 20. Februar 2003, Ziff. 48. 697 Müller ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 69584/01, Urt. v. 6. Oktober 2005, Ziff. 80. 698 Poiss ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9816/82, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 56; Erkner und Hofauer ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9616/81, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 67. 699 v. Hoffen ./. Liechtenstein, Beschwerde Nr. 5010/04, Urt. v. 27. Juli 2006, Ziff. 48. 700 Pretto ./. Italien, Beschwerde Nr. 7984/77, Urt. v. 8. Dezember 1983, Ziff. 32. 701 Union Alimentaria Sanders SA ./. Spanien, Beschwerde Nr. 11681/85, Urt. v. 7. Juli 1989, Ziff. 32 f. 702 Lechner und Hess ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9316/81, Urt. v. 23. April 1987, Ziff. 44. 703 Neubeck ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9132/80, Bericht der KOM v. 12. Dezember 1983, Ziff. 104. 704 Erkner und Hofauer ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9616/81, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 67. 705 X ./. Österreich, Beschwerde Nr. 7842/77, Entsch. v. 10. Dezember 1979. 706 Bakiyevets ./. Russland, Beschwerde Nr. 22892/03, Urt. v. 15. Juni 2006, Ziff. 46.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

schwierigen (Rechts)fragen aufwarf“ 707, „nicht komplex“ 708 oder „nicht schwierig“ 709 war. c) Verhalten des Beschwerdeführers Nächstes bedeutsames Kriterium ist das Verhalten des Bf. Dieser kann ja selbst maßgeblich zur Verzögerung des Rechtsstreits beigetragen haben, indem er überflüssige Beweisanträge gestellt oder durch sonstige Verfahrenshandlungen – etwa durch gehäufte Befangenheitsanträge etc. – verzögernd auf den Rechtsstreit Einfluss genommen hat. Differenziert werden muss im Rahmen dieses Kriteriums wiederum zwischen Verfahren, die vom Grundsatz der Parteimaxime bestimmt werden und solchen, die vom Offizialprinzip beherrscht werden: Bei ersteren obliegt es in weitaus höherem Maße dem Bf. selbst, den Gang des Verfahrens zu bestimmen. Deshalb ist hier auch eher die Verantwortung für Verzögerungen bei ihm zu suchen als in einem Strafverfahren, auf dessen Verfahrensverlauf der Bf. in aller Regel wenig Einfluss hat und in der Regel lediglich ihm zustehende Verteidigungsrechte wahrnimmt. Hier kann nicht erwartet werden, dass der Bf. zu seiner schnellen Verurteilung beiträgt; das Recht des Angeklagten, sich ausreichend verteidigen zu können und entsprechende Verteidigungsrechte wahrzunehmen, stellt schließlich einen in der EMRK selbst verbrieften (Art. 6 Abs. 3 EMRK) Grundsatz dar. Umgekehrt können aber durch die Wahrnehmung berechtigter Verteidigungsinteressen bedingte Verzögerungen genauso wenig dem beklagten Staat zugerechnet werden.710 Der Gerichtshof betont aber auch im Rahmen von Zivilverfahren immer wieder, das erkennende Gericht habe gleichwohl – trotz Parteimaxime – die Letztverantwortung für die Einhaltung der Garantie angemessener Verfahrensdauer im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK.711 Abweichend schien dies noch die KOM in einer Zulässigkeitsentscheidung aus dem Jahr 1966 zu beurteilen, die in ei707 Zimmermann und Steiner ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 8737/79, Urt. v. 13. Juli 1983, Ziff. 25; Pretto ./. Italien, Beschwerde Nr. 7984/77, Urt. v. 8. Dezember 1983, Ziff. 32; Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984, Ziff. 42. 708 Napijalo ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 66485/01, Urt. v. 13. November 2003, Ziff. 62. 709 Capuano ./. Italien, Beschwerde Nr. 9381/81, Urt. v. 25. Juni 1987, Ziff. 26. 710 Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 82. Ähnlich beurteilt dies das BVerfG, vgl. BVerfG, NJW 1984, 967; NJW 1992, 2472 f.; NJW 1993, 3254 f.; NJW 2001, 216; NVwZ 2004, 334 ff. 711 Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984, Ziff. 32; A. u. a. ./. Dänemark, Beschwerde Nr. 20826/92, Urt. v. 8. Februar 1996, Ziff. 77; Bayrak ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 27937/95, Urt. v. 20. Dezember 2001, Ziff. 28; Volkwein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45181/99, Urt. v. 4. April 2002, Ziff. 36; Thieme ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38365/97, Urt. v. 17. Oktober 2002, Ziff. 46; Herbolzheimer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 57249/00, Urt. v. 31. Juli 2003, Ziff. 45.

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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nem zivilrechtlichen Verfahren die herausragende Bedeutung der Parteimaxime hervorhob und deshalb allein den Bf. für die Verfahrensverzögerungen verantwortlich machte.712 In Zivilverfahren hat der Gerichtshof etwa zu Lasten des Bf. wiederholte Anwaltswechsel berücksichtigt,713 unbegründete Ablehnungsanträge gegen die Richter,714 wiederholte Anträge auf Fristverlängerung,715 Anträge auf Aussetzung des Verfahrens,716 Zustellung der Revisionsbegründung nach annähernd zwei Jahren,717 Nichteinlegung von Rechtsbehelfen, die zum raschen Abschluss des Verfahrens geführt hätten,718 sowie unbegründete beziehungsweise durch Verschulden des Prozessbevollmächtigten verursachte Anträge auf Terminverlegung.719 Auch querulatorische Anfechtungen sämtlicher Entscheidungen während des Verfahrens, die zur Verfahrensverzögerung nicht unerheblich beitrugen, sind nach der KOM zugunsten des beklagten Staates zu werten.720 Der EGMR lässt dabei unberücksichtigt, ob die Ursache für eine Verfahrensverzögerung unverschuldet gesetzt wurde (Erkrankung etc.), ob die Verzögerungen prozesstaktisch motiviert waren oder gar auf „Schlamperei oder Nonchalance“ 721 des Bf. zurückzuführen sind. Verfahrensverzögerungen, für die das Verhalten der gegnerischen Partei verantwortlich ist, werden dem Gericht und damit dem beklagten Staat angelastet, sofern das Gericht gegen Verschleppungstaktiken – etwa zahlreiche Befangenheitsanträge, offensichtlich nutzlose Beweisanträge – nicht die nach der jeweiligen Prozessordnung vorgesehenen Maßnahmen ergreift. Im Strafverfahren sind dagegen Verzögerungen, die aus der Wahrnehmung der Verteidigungsrechte des Bf. resultieren, weder ihm selbst noch dem beklagten Staat anzulasten.722 So gereicht es nicht zum Nachteil des Bf., wenn er sich 712

X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 1794/63, Entsch. v. 23. Mai 1966. König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 108; Thieme ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38365/97, Urt. v. 17. Oktober 2002, Ziff. 48. 714 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 80; Volkwein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45181/99, Urt. v. 4. April 2002, Ziff. 38; Calleja ./. Malta, Beschwerde Nr. 75274/01, Urt. v. 7. April 2005, Ziff. 130. 715 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 80. 716 H. T. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38073/97, Urt. v. 11. Oktober 2001, Ziff. 34. 717 Becker ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45448/99, Urt. v. 17. September 1998, Ziff. 22. 718 Müller ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 69584/01, Urt. v. 6. Oktober 2005, Ziff. 81. 719 Calleja ./. Malta, Beschwerde Nr. 75274/01, Urt. v. 7. April 2005, Ziff. 131. 720 M ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9701/82, Entsch. v. 12. Mai 1986. 721 Matscher, Zum Problem der überlangen Verfahrensdauer, S. 359. 722 Zana ./. Türkei, Beschwerde Nr. 18954/91, Urt. v. 25. November 1997, Ziff. 79. 713

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

weigert, einen Verteidiger zu benennen723 oder systematisch die beteiligten Richter ablehnt.724 Wenn allerdings der Bf. durch fluchtbedingte Abwesenheit die Eröffnung seines Verfahrens verhindert und dieses daher erst zwei Jahre später beginnen kann, soll dies wiederum in seinen Verantwortungsbereich fallen.725 d) Behandlung des Falles durch die mit dem Verfahren befassten Behörden und Gerichte Hauptaugenmerk ist im Rahmen der Angemessenheitsprüfung auf das Verhalten der mit dem Verfahren befassten Behörden zu richten. Selbst in Verfahren mit Parteimaxime kann es in den Verantwortungsbereich des beklagten Staates fallen, wenn das Gericht den Prozess nicht zügig betreibt.726 Diese Aussage ist in ihrer Undifferenziertheit problematisch: Soweit einzelne Verfahrensschritte weitgehend in die Hände der Parteien gelegt sind, hat der Richter mitunter kaum Möglichkeiten, beschleunigend auf den Prozess einzuwirken: Stellt eine Partei einen Befangenheitsantrag nach dem anderen, so muss das Gericht über jeden einzelnen Antrag – sei er auch noch so unbegründet – entscheiden. Ebenso verhält es sich mit überflüssigen oder prozesstaktisch motivierten Beweisanträgen oder Anträgen auf Aussetzung des Verfahrens. Die gerichtlichen Möglichkeiten im Parteiprozess sind mithin begrenzt. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Frage, ob die jeweilige Verfahrensverzögerung trotz Vorliegens eines Parteiprozesses gleichwohl dem Gericht und damit dem beklagten Staat anzulasten ist, lässt der EGMR zumeist vermissen. Auch übermäßige Arbeitsüberlastung des Gerichts – etwa der Arbeitsgerichte bei wirtschaftlicher Rezession – akzeptiert der Gerichtshof bis heute nur unter bestimmten Voraussetzungen als tragfähiges Argument. Zwar seien die Vertragsstaaten für einen derartigen Überhang nicht verantwortlich, wenn sie sogleich geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen; wenn aber annähernd fünf Jahre bis zur letztinstanzlichen Entscheidung vergingen, greife der Einwand einer Überlastung nicht.727 Der Gerichtshof setzt stattdessen in ständiger Rechtsprechung voraus, dass jeder Konventionsstaat sein Gerichtssystem so organisieren 723 Corigliano ./. Italien, Beschwerde Nr. 8304/78, Urt. v. 10. Dezember 1982, Ziff. 40, 42. 724 Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 82. 725 KOM, X ./. Italien und Deutschland, Beschwerde Nr. 5078/71, Entsch. v. 30. Mai 1974. 726 Scopelliti ./. Italien, Beschwerde Nr. 15511/89, Urt. v. 23. November 1993, Ziff. 25; Bayrak ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 27937/95, Urt. v. 20. Dezember 2001, Ziff. 28; Volkwein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45181/99, Urt. v. 4. April 2002, Ziff. 36. 727 So im Fall Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981, Ziff. 51.52.

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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müsse, dass er den sich aus der Konvention ergebenden Verpflichtungen nachkommen kann.728 Akzeptiert hat der EGMR lediglich kurzfristige Phasen der Überlastung eines Gerichts und dies auch nur dann, wenn der beklagte Staat geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen hat, um den Verfahrensstau zu beheben.729 Auch die Wiederherstellung der Demokratie in einem Konventionsstaat – hier: Portugal – und die dadurch bedingte Überlastung der Gerichte kann den beklagten Staat, selbst wenn Anstrengungen zur Verbesserung des Zugangs zum Gericht unternommen wurden, nur bedingt vom Vorwurf verzögerter Verfahrensbehandlung befreien.730 Auch das BVerfG akzeptiert entsprechend übermäßige Arbeitsbelastung der zuständigen Gerichte nur unter gewissen Umständen: So müsse der Staat die notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren zügig zu ihrem Ende gebracht werden können.731 Das Rechtsstaatsprinzip fordere eine funktionierende Rechtspflege, zu der auch eine angemessene Personalausstattung der Gerichte gehöre.732 Lediglich in einem Fall hat das BVerfG die Überlastung des betreffenden Gerichts zu dessen Gunsten berücksichtigt.733 Die deutsche Wiedervereinigung und die daraus resultierende Überlastung der deutschen Gerichte hat der EGMR im Fall Süßmann734 noch als Rechtfertigungsgrund für Verfahrensüberlänge ausreichen lassen.735 Im Fall Klein736 da-

728 Vgl. statt vieler Massa ./. Italien, Beschwerde Nr. 14399/88, Urt. v. 24. August 1993, Ziff. 31; Muti ./. Italien, Beschwerde Nr. 14146/88, Urt. v. 23. März 1994, Ziff. 15; Kolb u. a. ./. Österreich, Beschwerden Nr. 35021/97 u. 45774/99, Urt. v. 17. April 2003, Ziff. 54; sowie Koblan´ski ./. Polen, Beschwerde Nr. 59445/00, Urt. v. 28. September 2004, Ziff. 41. 729 Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981, Ziff. 51; Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 69; Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 64. 730 Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984, Ziff. 38. 731 BVerfG, NJW 2000, 797; NVwZ 2004, 334 ff. 732 BVerfG, NJW 2000, 797; BVerfG, Beschl. v. 2. Juli 2003 – 2 BvR 273/03. 733 BVerfGE 55, 349, 369. Kritisch zu dieser Entscheidung Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 60 f. In einem weiteren Fall stellte das BVerfG recht vage auf die „Üblichkeit“ der Verfahrensdauer und auf die Anhängigkeit zahlreicher älterer Verfahren ab: BVerfG, NVwZ 2004, 471 f. 734 Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996. 735 Ziff. 60 des Urteils. Anderer Auffassung war der Richter Bonnici, der in seiner dissenting opinion die Auffassung vertrat, die Wiedervereinigung könne nicht zugunsten des beklagten Staates mildernde Wirkung entfalten, da die Beschwerde bereits mehr als zwei Jahre vor Unterzeichung des Einigungsvertrages vom 3. Oktober 1990 eingelegt worden war. Auch in der Zulässigkeitsentscheidung im Fall Teuschler ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 47636/99, Entsch. v. 4. Oktober 2001 berücksichtigte der EGMR die Situation der deutschen Gerichte im Zuge der Wiedervereinigung und verneinte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, obwohl das Verfahren insgesamt 61/2 Jahre gedauert hatte. 736 Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

gegen maß er der Wiedervereinigung nur noch zweitrangige Bedeutung zu und bejahte dementsprechend eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.737 Der EGMR stellte dabei allein auf das zeitliche Element ab: Da der Fall Klein im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 bereits mehr als vier Jahre beim BVerfG anhängig gewesen sei, könne die deutsche Einigung auf das vorliegende Verfahren auch keine Auswirkungen gehabt haben738 und demzufolge auch nicht kausal für die Verzögerungen geworden sein. Zu den festgestellten Verzögerungen wäre es mithin auch ohne die deutsche Einigung gekommen.739 Ebenfalls in den Verantwortungsbereich des beklagten Staates fallen durch Gehilfen des Gerichts – insbesondere durch Sachverständige – bedingte Verzögerungen. Auch deren Fehlverhalten, etwa die Nichterbringung beziehungsweise verspätete Erstattung eines Gutachtens, ist dem Gericht anzulasten. Die Gerichte haben für die pünktliche Erstattung Sorge zu tragen und müssen die entsprechenden Personen notfalls durch Ordnungs- und Zwangsmaßnahmen zur Erfüllung anhalten. Stellt die jeweilige Verfahrensordnung keine geeigneten Zwangsmaßnahmen zur Verfügung,740 geht dies ebenfalls zu Lasten des Staates. Speziell bei Arbeitsgerichtsverfahren hält der Gerichtshof besonders zügige Handhabung durch die Gerichte für notwendig, da die Existenzgrundlage des Bf. auf dem Spiel stehe.741 Entgegengesetzt scheint dies das BVerfG zu beurteilen: So dürften Umstände die außerhalb des Verantwortungsbereiches des Gerichts liegen, nicht zu Lasten des Staates angerechnet werden; dies gelte etwa für die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, beispielsweise Sachverständiger.742 Dem ist nicht zuzustimmen: Wie bereits erläutert, stellt das deutsche Prozessrecht dem befassten Gericht hinreichende Maßnahmen zur Verfügung, um Sachverständige zu

737 Ziff. 45 des Urteils. Ebenso in den Fällen Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 71; Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 66; sowie Hesse-Anger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45835/99, Urt. v. 6. Februar 2003, Ziff. 32. 738 Der Bf. Klein hatte bereits im Juni 1986 Verfassungsbeschwerde eingelegt, der Beschwerdeführer Süßmann dagegen erst am 11. Juli 1988. 739 Ziff. 45 des Urteils. 740 Das deutsche Prozessrecht stellt derartige Maßnahmen zur Verfügung (vgl. nur §§ 409, 411 Abs. 2 ZPO; § 98 VwGO i.V. m. §§ 409, 411 Abs. 2 ZPO; § 77 StPO). Gleichwohl kam es auch in gegen die Bundesrepublik gerichteten Verfahren unter anderem deshalb zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil die Gerichte gegen untätige Sachverständige keinerlei Maßnahmen ergriffen hatten. 741 Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981, Ziff. 50; Mianowicz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42505/98, Urt. v. 18. Oktober 2001, Ziff. 55; Thieme ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38365/97, Urt. v. 17. Oktober 2002, Ziff. 50. 742 BVerfG, NJW 2001, 214 f.; NVwZ 2004, 334 ff.

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zügiger Arbeit anzuhalten.743 Es kann dem Gericht daher regelmäßig zugemutet werden, von den vorhandenen Mitteln auch Gebrauch zu machen. Besonderes Augenmerk richtet der EGMR seit jeher auf die Anzahl der Instanzen, welche das Verfahren innerstaatlich durchlaufen hat. So hat der EGMR im Fall Buchholz eine Verfahrensdauer von fast fünf Jahren akzeptiert, während der das Verfahren drei Instanzen passiert hatte.744 Dagegen erteilte er der Eidgenossenschaft im Fall Zimmermann und Steiner745 eine Rüge anlässlich eines Verfahrens von nicht einmal dreieinhalb Jahren Dauer. Dem Gerichtshof zufolge dauerte dieses Verfahren unangemessen lang, was hauptsächlich auf das Verhalten der nationalen Behörden zurückzuführen sei: Das Verfahren habe sich lediglich über eine einzige Instanz hin erstreckt, geprägt von absoluter Untätigkeit des Gerichts. Das schweizerische Bundesgericht hatte letztlich – ohne Verfahrensmaßnahmen irgendeiner Art zu ergreifen – allein nach Aktenlage entschieden.746 Ebenso kann ein vierjähriger erstinstanzlicher Schadensersatzprozess, der mit einer Entscheidung lediglich über den Anspruchsgrund endet, zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund vorwerfbaren Verhaltens der innerstaatlichen Gerichte führen,747 auch wenn der beklagte Staat während dieses Zeitraumes mit zahlreichen Problemen748 zu kämpfen hatte: Mit der Rückkehr zahlreicher Staatsbürger aus den alten Kolonien und einem damit einhergehenden Arbeitsanfall bei den Gerichten seit der Annahme der Verfassung im Jahr 1976 habe die portugiesische Republik schlicht rechnen müssen.749 e) Bedeutung des Verfahrensausgangs für den Beschwerdeführer contra Popularinteresse? Als letztes Kriterium berücksichtigt der Gerichtshof die Bedeutung des Verfahrensausgangs für den Bf.750 Anfangs fand dieses Kriterium lediglich in zivil743 Vgl. nur §§ 409, 411 Abs. 2 ZPO; § 98 VwGO i.V. m. §§ 409, 411 Abs. 2 ZPO; § 77 StPO. 744 Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981, Ziff. 63. 745 Zimmermann und Steiner ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 8737/79, Urt. v. 13. Juli 1983, Ziff. 27, 32. 746 Ziff. 32 des Urteils. 747 Guincho ./. Portugal, Beschwerde Nr. 8990/80, Urt. v. 10. Juli 1984, Ziff. 35, 41. 748 Portugal ab 1974. 749 Ziff. 40 des Urteils. 750 Auch das BVerfG misst dem Bedeutung zu (allgemein: BVerfGE 55, 349, 369 f.) und betont die Verpflichtung zu besonders zügiger Handhabung vor allem in Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren (BVerfG, NJW 1992, 2472 f.; NJW 1993, 3254 f.; NJW 1995, 1277; NJW 2003, 2897) sowie in Prozesskosten- und Sozialhilfeverfahren (BVerfG, NVwZ 2004, 334 ff.). Auch Sorgerechtsverfahren müssen besonders rasch behandelt werden (BVerfG, NJW 2001, 961 f.; NJW 2004, 835 f.).

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

rechtliche Streitigkeiten Eingang,751 da insbesondere auf den vermögensrechtlichen Aspekt eines zivilrechtlichen Rechtsstreits abgestellt wurde.752 Später tauchte das Kriterium der Bedeutung der Sache auch in strafrechtlichen Verfahren auf. In Zivilverfahren kommt unter diesem Gesichtspunkt die Eilbedürftigkeit bestimmter Verfahren in Betracht, vor allem im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes, sowie bei Verfahren, in denen der Zeitablauf vollendete Tatsachen schaffen kann.753 Aus diesem Grunde sind arbeitsrechtliche Streitigkeiten,754 Angelegenheiten von erheblichem finanziellem Ausmaß755 sowie Streitigkeiten, die existenzielle Bedeutung für den Bf. haben wie etwa Pensionsstreitigkeiten756 besonders zügig zu behandeln. In Strafverfahren hat der Gerichtshof insbesondere die Bedeutung und Eilbedürftigkeit der Sache wegen zu erwartender hoher Strafen berücksichtigt;757 außerdem bezog er Belastungen für den Bf., die sich etwa wegen fortgeschrittenen Alters oder Krankheit ergeben können, in seine Erwägungen mit ein.758 Besondere Eile gebührt der Einschätzung des Gerichtshofs zufolge Unterhalts- oder Familienrechtssachen, da häufig das Kindeswohl im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht.759 Auch Personenstands751 So der Gerichtshof ausdrücklich im Fall Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981, Ziff. 49. 752 König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 111. 753 Dies ist beispielsweise denkbar in Sorgerechts- oder Adoptionsverfahren, vgl. Hokkanen ./. Finnland, Beschwerde Nr. 19823/92, Urt. v. 23. September 1994, Ziff. 72; Paulsen-Medalen und Svensson ./. Schweden, Beschwerde Nr. 16817/90, Urt. v. 19. Februar 1998, Ziff. 39; Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003, Ziff. 47; Wimmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 60534/00, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 34. 754 Mianowicz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42505/98, Urt. v. 18. Oktober 2001, Ziff. 55; Thieme ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38365/97, Urt. v. 17. Oktober 2002, Ziff. 50. 755 Müller ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 69584/01, Urt. v. 6. Oktober 2005, Ziff. 87; Gräßer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 66491/01, Urt. v. 5. Oktober 2006, Ziff. 57. 756 H. T. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38073/97, Urt. v. 11. Oktober 2001, Ziff. 37. 757 Portington ./. Griechenland, Beschwerde Nr. 28523/95, Urt. v. 23. September 1998, Ziff. 34. In diesem Fall hatte der Beschwerdeführer die Todesstrafe zu erwarten, was den Gerichtshof zu der Feststellung veranlasste, angesichts der zu erwartenden Strafe könne eine Verfahrensdauer von acht Jahren nicht mehr als angemessen angesehen werden. 758 Vallée ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 22121/93, Urt. v. 26. April 1994, Ziff. 47 (Entschädigungsklage eines an Aids Erkrankten); F.E. ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 38212/97, Urt. v. 30. Oktober 1998, Ziff. 57; Styranowski ./. Polen, Beschwerde Nr. 28616/95, Urt. v. 30. Oktober 1998, Ziff. 57. 759 Hokkanen ./. Finnland, Beschwerde Nr. 19823/92, Urt. v. 23. September 1994, Ziff. 69; Nuutinen ./. Finnland, Beschwerde Nr. 32842/96, Urt. v. 27. Juni 2000 Ziff. 110; Glaser ./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 32346/96, Urt. v. 19. September 2000, Ziff. 93; Mark ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45989/99, Entsch. v. 31. Mai 2001; Ellersiek ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 77151/01, Entsch. v. 23. Juni 2005.

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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streitigkeiten sowie Verfahren, welche die Geschäftsfähigkeit des Bf. zum Gegenstand haben, müssen nach der Straßburger Rechtsprechung mit besonderer Zügigkeit erledigt werden.760 Auch gesellschaftlich nachteilige Folgen für den Bf. – etwa der drohende Verlust der Arbeitsstelle761 oder die drohende Unmöglichkeit der Ausübung eines Berufs aufgrund Nichtbestehens der erforderlichen Prüfungen762 – sind zu berücksichtigen. Kaum einleuchtend ist im letztgenannten Urteil Herbst freilich die Begründung: Der Gerichtshof hatte eingangs die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ein verwaltungsgerichtliches Verfahren, mittels welchem sich der Bf. gegen die Bewertung seiner Examensleistung als ungenügend gewandt hatte, unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung mit dem Argument abgelehnt, hierbei handle es sich nicht um ein „civil right“. Gleichwohl maß er im Rahmen der Beurteilung des parallel geführten zivilgerichtlichen Amtshaftungsprozesses dem Faktor entscheidende Bedeutung zu, dass das verwaltungsgerichtliche Verfahren, in welchem es schließlich um die berufliche Existenz des Bf. gegangen sei, erhebliche Bedeutung für den Bf. gehabt habe. Konsequenterweise hätte der Gerichtshof dieses verwaltungsgerichtliche Verfahren unberücksichtigt lassen müssen bei der Beurteilung der Frage, ob das Zivilverfahren in angemessener Frist zu einem Ende gebracht worden ist. Allein auf die Bedeutung dieses Verfahrens für den Bf. konnte es nämlich ankommen. In aller Regel stellt der EGMR freilich im Rahmen der Bedeutung der Angelegenheit für den Bf. zu Recht auf die konkrete Einzelfallsituation ab und berücksichtigt allein die persönliche, aus der Verfahrenslänge resultierende Situation. Eher fragwürdig mutet es daher an, dass der EGMR in einer neueren gegen Deutschland ergangenen Entscheidung763 nicht auf die Individualinteressen des Bf. abstellt, sondern auf die Erheblichkeit der zu entscheidenden Frage „für viele deutsche Bürger“764: In der Sache ging es um einen Betrag von 142 DM für ausstehende Stromkosten,765 deren Bezahlung der Bf. verweigert hatte, weil er sie für verfassungswidrig berechnet hielt. Der Gerichtshof befand überraschenderweise, der Gegenstand des Verfahrens sei für den Bf. von erheblicher Bedeutung. Interessant ist vor allem der Folgesatz: Zwar sei der Betrag von 142 DM gering, aber die Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Gesetzes sei eine Grundsatzfrage für viele deutsche Bürger. Da der Gerichtshof selbst die geringe Bedeutung in finanzieller Hinsicht für den Bf. hervorhebt, kann sich die Bejahung der Bedeutung des Verfahrensausgangs für den Bf. also nur auf den

760 761 762 763 764 765

Mikulic´ ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 53176/98, Urt. v. 7. Februar 2002, Ziff. 44. Uhl ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 64387/01, Urt. v. 10. Februar 2005, Ziff. 32. Herbst ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20027/02, Urt. v. 11. Januar 2007, Ziff. 80. Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000. Ziff. 46 des Urteils. „Kohlepfennig“.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

zweiten Satz beziehen – die Grundsatzfrage für viele deutsche Bürger. Es scheint so, als ob der Gerichtshof das vierte Kriterium zugunsten einer Berücksichtigung des Popularinteresses aufweichte. Dies wäre aber angesichts der langjährigen Rechtsprechungspraxis, die seit jeher die Bedeutung der Sache gerade für das klagende Individuum hervorhebt, und der Tatsache, dass es sich um ein Individualbeschwerdeverfahren766 handelt, kritisch zu bewerten. Der Gerichtshof hat bezeichnenderweise seit diesem Urteil keine Ausführungen mehr in diese Richtung gemacht. f) Erweiterung um zusätzliche Kriterien? Insbesondere in Strafverfahren fordert der Gerichtshof von den nationalen Gerichten eine zügige Handhabung des Verfahrens unter Hinweis auf die Last der Beschuldigung, die auf dem Bf. ruht,767 sowie auf die gravierenden Folgen, gerade wenn eine Freiheitsstrafe zur Rede steht. In Anbetracht dessen könnte man nun in Erwägung ziehen, im Gegenzug auch zu berücksichtigen, wie schwer die persönliche Schuld des Bf. in dem gegen ihn geführten Strafverfahren wiegt. Dieser Gedanke ist deshalb nicht fernliegend, weil die deutsche Rechtsprechung derartige Faktoren in jüngerer Zeit schon berücksichtigt hat. So hatte der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 2000768 im Rahmen der Strafzumessung geurteilt, die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK erfordere eine Gesamtabwägung und könne nicht unabhängig von dem Maß der Schuld des Angeklagten erfolgen. Entsprechend könne das Verfahren zur Einstellung führen, wenn es sich um ein Vergehen handelt und die Schuld des Täters gering ist.769 Auch das BVerfG hat schon vergleichbar formuliert: Unter Berücksichtigung der Schwere des Tatvorwurfs käme ein Verfahrenshindernis durchaus in Betracht.770 Allerdings liege keine Verletzung des aus dem Rechtsstaatsprinzip resultierenden Beschleunigungsgebots vor, wenn die Fachgerichte jenem im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs Rechnung getragen haben und außerdem der Schuldvorwurf, der ohne Vorliegen einer Verzögerung zu einer viel höheren Strafe geführt hätte, erheblich sei.771 In einer weiteren Ent766

Gem. Art. 34 EMRK. Vgl. Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 18. 768 BGH NStZ 2001, 270 (272). 769 BGHSt 24, 239 (242 f.); 35, 137 (142). 770 Dementsprechend hat das BVerfG die Einstellung eines Strafverfahrens verfügt, in dem es um eine Trunkenheitsfahrt über eine Strecke von 500 m ging; gleichwohl erstreckte sich das Verfahren über 22 Monate. Der EGMR, der über die Angelegenheit nachfolgend unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit der Verfahrensdauer vor dem BVerfG zu entscheiden hatte, verneinte die Opfereigenschaft des Bf., da das BVerfG die Verletzung des Rechts auf Entscheidung binnen angemessener Frist anerkannt und durch Verfahrenseinstellung Wiedergutmachung geleistet habe, Sprotte ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 72438/01, Entsch. v. 17. November 2005. 767

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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scheidung stellte das BVerfG sogar ausdrücklich auf die Schuld des Angeklagten ab.772 Übertragen auf Art. 6 Abs. 1 EMRK würde dann ein geringer Schuldvorwurf zugunsten, ein erheblicher Schuldvorwurf zu Lasten des Bf. gewertet werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Frage der Strafzumessung, um die es bei der Beurteilung durch den BGH und das BVerfG jeweils ging, ein aliud ist gegenüber der Frage, ob die Verfahrensrechte des Bf. gewahrt wurden. In einem Rechtsstaat muss auch dem Schwerstverbrecher ein faires Verfahren unter jeglichen Gesichtspunkten gewährt werden. Verfahrensrechte sind mit gutem Grund schuldunabhängige Rechte. Im Rahmen der Strafzumessung dagegen, die sich unter den Gesichtspunkten der angemessenen Strafe und des Strafzwecks vor allem nach der Schuld des Täters zu richten hat, die mit der Strafe untrennbar verbunden ist, muss der Schuldvorwurf als zwingender Faktor in die Abwägung miteinbezogen werden. Wenn nicht nach der Schuld des Täters – wonach soll die Strafe dann bemessen werden? Bei der Beurteilung der Verfahrensdauer durch den EGMR sind hingegen Überlegungen in die entgegengesetzte Richtung anzustellen: Je schwerer die Schuld wiegt, desto höher ist die Strafe – nach der Rechtsprechung des EGMR ist hier sogar ganz besondere Zügigkeit erforderlich! Ein schwerer Schuldvorwurf kann sich unter diesem Gesichtspunkt zum Vorteil des Bf. auswirken. Dementsprechend hat der EGMR bislang die strafrechtliche Schuld des Bf. noch nie als zu seinem Nachteil gereichendes Kriterium gewertet.773 Dem ist zuzustimmen, da es bei einer Beurteilung der Verfahrensdauer durch den EGMR allein um jene ohne Folgen für den Ausgang des Strafverfahrens als solchem geht. Der EGMR hat nur zu entscheiden, ob eine Verletzung vorliegt und ob gegebenenfalls Entschädigung zu gewähren ist. Dementsprechend bejaht der Gerichtshof selbst dann eine Konventionsverletzung, wenn das nationale Gericht im Rahmen der Strafzumessung die überlange Verfahrensdauer sehr großzügig zugunsten des Angeklagten berücksichtigt hatte.774 Nur eine Einstellung des Verfahrens durch die nationalen Gerichte kann daher gegebenenfalls eine Konventionsverletzung verhindern.775 771 BVerfG NJW 1984, 967; NJW 1992, 2472 (2473); StV 1993, 352 (353); BVerfG JZ 2003, 999; NJW 2003, 2225. 772 BVerfG NJW 1995, 1277. 773 Roxin, Anm. zu EGMR, Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, S. 491. 774 Vgl. Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, Ziff. 25, 42–44; dagegen LG Darmstadt, Urt. v. 8. November 1995 – 9 KLs 11 Js 40450/87: Das LG milderte aufgrund der Verfahrensdauer die Strafe in erheblichem Maße. Anders freilich die KOM in einer früheren Zulässigkeitsentscheidung (S ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9182/80, Entsch. v. 12. März 1986): Sie hielt eine Strafmilderung wegen überlanger Dauer durch die nationalen Gerichte für ausreichend, weshalb sie eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ausschloss. 775 Sommer, Die Rezeption der Rechtsprechung des EGMR durch die Strafsenate des BGH, S. 9, abrufbar unter: http://www.dr-sommer.de/pdf/Rezeption_Rechtspre

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Diese Überlegungen zeigen, dass die Schuld des Bf. auf der Ebene des Art. 6 Abs. 1 EMRK bei der Beurteilung einer Individualbeschwerde durch den EGMR nie zu Gunsten des beklagten Staates – etwa bei besonders schwerem Schuldvorwurf – miteinbezogen werden darf. Nationale Rechtsanwendungsebene im Bereich der Strafzumessung und Beurteilung der Verfahrensdauer durch den EGMR sind streng zu unterscheiden und nicht vergleichbar. Aus diesem Grunde ist auch die von Imme Roxin vertretene Auffassung, die Rechtsprechung der deutschen Gerichte müsse sich der Rechtsprechung des EGMR angleichen,776 für diesen Bereich abzulehnen. Sie berücksichtigt nämlich nicht, dass die Strafzumessung im nationalen Recht vom Schuldprinzip und dem Prinzip der gerechten schuldangemessenen Strafe777 beherrscht wird, was hingegen bei der Beurteilung durch den EGMR nicht die geringste Rolle spielt. Eine Erweiterung des Kriterienbündels zur Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist damit nicht geboten. 3. Kritische Würdigung Die Überprüfung der Angemessenheit anhand eines Kriterienbündels erscheint auf den ersten Blick als probates Mittel, um den jeweiligen Besonderheiten des Falles gerecht zu werden. Bewährt hat sich diese Methode auch im nationalen Recht – das BVerfG jedenfalls ist von seiner Praxis, die Angemessenheit ebenfalls anhand verschiedener Kriterien zu bestimmen, bislang nicht abgewichen. Solche Kriterien – so sie nicht zu starr angewandt werden – sind in der Lage, die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens zu bestimmen. Sie ermöglichen eine am Einzelfall orientierte individuelle Auslegung und sind zugleich Richtschnur für eine einheitliche Rechtsprechungspraxis. Darüber hinaus sind sie in der Lage, allen Rechtsanwendungsorganen, Betroffenen und staatlichen Behörden eine eingängige Handhabe zu bieten, ohne den Einzelfall, der den Kriterien in seiner Individualität subsumiert werden kann, aus dem Blick zu verlieren. Der EGMR ist von dieser bewährten Methode bislang ebenfalls nicht abgewichen und überprüft die Kriterien immer nach demselben Schema. Im Rahmen des ersten Kriteriums befasst er sich vertieft mit den Gegebenheiten des Falles. Kritisch zu erwähnen ist seine Handhabung in vereinzelten Judikaten, einen Fall als komplex mit dem Argument einzuordnen, die Seitenzahl der Verhandlungsprotokolle beziehungsweise des Urteils seien überaus lang gewesen, was auf die chung.pdf. Hierfür spricht zudem, dass die Instanzgerichte wie auch das BVerfG keine Entschädigung zusprechen können. Ansprüche aus Amtshaftung scheiden im Falle legislativen Unrechts in der Regel ebenfalls aus. 776 Roxin, Anm. zu EGMR, Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001, S. 492. 777 Vgl. BVerfGE 6, 389 (439); 20, 323 (331); 50, 5 (12); 54, 100 (108).

Kap. 4: Der Anspruch auf Entscheidung in „angemessener Frist‘‘

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Schwierigkeit des Falles schließen lasse. Gewiss erscheint es äußerst zweifelhaft, vom rein zahlenmäßigen Seitenumfang der Unterlagen auf die Schwierigkeit der zugrundeliegenden Sache zu folgern. In vielen Fällen mag die Komplexität an den rein gegenständlichen Umfang gekoppelt sein, zwingend ist dies aber nicht. Auch ein Fall von geringem Umfang gemessen an der Seitenzahl seiner Unterlagen kann komplizierte rechtliche Probleme aufwerfen, wie auch umgekehrt ein voluminöser Fall unter rechtlichen Gesichtspunkten einfach zu lösen sein kann. Jene – allerdings vereinzelt gebliebene – Vorgehensweise des EGMR überzeugt daher nicht. Ein kurzes Eingehen verdient auch das dritte Kriterium, die Behandlung des Falles durch die mit dem Verfahren befassten Behörden und Gerichte. Es birgt nämlich eine Gefahr: Wie bereits erwähnt, haben sowohl EGMR als auch BVerfG mit ständig steigenden Verfahrenszahlen und damit einhergehender Arbeitsüberlastung zu kämpfen. So dauert ein Verfahren vor dem EGMR vom Eingang der Beschwerde bis zum Abschluss der Sache durchschnittlich fünf bis sechs Jahre,778 vereinzelt kam es aber auch zu Verfahrensdauern von über sieben bis knapp 14 Jahren. Die Gründe hierfür sind teilweise identisch mit den Gründen, die bei den nationalen Gerichten zu Arbeitsbelastung und damit zu überlanger Verfahrensdauer führen. Indem der EGMR nun „am eigenen Leib“ verspürt, wie sich eine solche Arbeitsüberlastung niederschlagen kann, gegen die kein Patentrezept vorhanden ist,779 könnte er möglicherweise künftig dazu neigen, diesbezüglich auch bei den nationalen Gerichten Milde und Nachsicht walten zu lassen. Zu einem solchen Schluss könnte man deshalb kommen, weil der Gerichtshof in den Jahren 1992–1994 in einigen Fällen – unter anderem auch in italienischen „Dauerfällen“ – entgegen der Auffassung der KOM eine Verletzung der angemessenen Verfahrensdauer verneint hat, obwohl deren Länge exzessiv war (teilweise mehr als acht Jahre Dauer).780 778 Schlette, Das neue Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 927. 779 Die Reformbemühungen haben die Arbeitsüberlastung des EGMR nicht merklich verringert. 780 Vernillo ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 11889/85, Urt. v. 20. Februar 1991, Ziff. 36–39: Entgegen der Auffassung der KOM verneinte der EGMR eine Verletzung mit dem Argument, die Schwierigkeiten, die manchmal zu Verzögerungen vor den nationalen Gerichten führten und die auf zahlreichen Faktoren beruhten, seien zu berücksichtigen. Salerno ./. Italien, Beschwerde Nr. 11955/86, Urt. v. 12. Oktober 1992, Ziff. 21: In Übereinstimmung mit der KOM kritisierte der EGMR zwar die im Lauf des Verfahrens mehrfach erkennbare Untätigkeit der Gerichte, verneinte aber entgegen der Auffassung der KOM eine Verletzung, da die Verzögerungen angesichts der Tatsache, dass der Fall vor drei verschiedene Gerichte gebracht wurde, nicht übermäßig schwerwiegend erschienen. Cesarini ./. Italien, Beschwerde Nr. 11892/85, Urt. v. 12. Oktober 1992, Ziff. 20: Mit derselben Begründung wie im Fall Salerno, der am selben Tag beschieden wurde, verneinte der EGMR ebenfalls entgegen der Auffassung der KOM eine Verletzung. Boddaert ./. Belgien, Beschwerde Nr. 12919/87, Urt. v. 12. Oktober 1992, Ziff. 39: Mit der Begründung, ebenso wichtig wie die zügige Bearbeitung

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Zu beachten ist hierbei, dass es sich um Urteile handelt, die innerhalb eines Zeitraumes ergingen, während dessen die Arbeitsüberlastung des EGMR besonders groß war. Zudem war das Entlastung versprechende Protokoll Nr. 11 zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Kraft.781 Der Gerichtshof schien hier mit Blick auf seine eigene prekäre Situation Verständnis für die Situation der nationalen Gerichte aufzubringen. Anfangs hatte er noch mit aller Strenge und Kompromisslosigkeit von den Mitgliedstaaten gefordert, im Falle von Arbeitsüberlastung, die für sich allein allenfalls bei kurzzeitigen Phasen der Überlastung und schnellstmöglicher Abhilfe als Rechtfertigung für den betroffenen Staat dienen konnte, die nationale Gerichtsorganisation umzustrukturieren. Kurz und bündig verwies der EGMR hierbei stets auf die Verantwortung der jeweiligen Staaten für ein zügig funktionierendes Gerichtssystem. Wertete er nun aus Verständnis für die Situation der Konventionsstaaten Arbeitsüberlastung doch zugunsten des beklagten Staates, so droht das dritte Kriterium aufgeweicht zu werden. Angesichts einiger neuerer Entscheidungen, die ebenfalls das „Sorgenkind“ Italien betrafen,782 bleibt aber zu hoffen, dass es sich bei den vorerwähnten Entscheidungen um Einzeljudikate handelt, die einer extremen Überlastungsphase des EGMR entsprungen sind. Erwähnenswert erscheint außerdem die Handhabung des vierten Kriteriums, der Bedeutung der Sache für den Bf. Bereits an anderer Stelle wurde die Vorgehensweise des EGMR im Fall Klein,783 Popularinteressen in die Abwägung mit einzubeziehen, kritisiert. In einem Individualbeschwerdeverfahren kann denknotwendig nur die Bedeutung der Sache für den Bf. eine Rolle spielen. Die Urteile des Gerichtshofs wirken nämlich nur inter partes, Art. 46 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof hat nicht die Aufgabe, Urteile zu fällen, die der Allgemeinheit zugute kommen. Auch ein Obiter Dictum wird von ihm keinesfalls gefordert. Im Individualbeschwerdeverfahren hat er sich lediglich mit der individuellen Situation des Bf. zu befassen und diesem zu einer gerechten Entschädigung zu

eines Falles durch die Gerichte sei die Forderung der gründlichen Bearbeitung des Falles, verneinte der EGMR auch hier eine Verletzung. Monnet ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 13675/88, Urt. v. 27. Oktober 1993, Ziff. 34: Auch hier wurde mit ähnlicher Begründung eine Verletzung trotz mehr als 7-jähriger Dauer abgelehnt. Katte Klitsche de la Grange ./. Italien, Ziff. 62: Trotz Bedenken stellte der EGMR darauf ab, dass es sich um wichtige Probleme der Stadtplanung gehandelt habe und verneinte eine Verletzung trotz einer Verfahrensdauer von über acht (!) Jahren. 781 Das 11. Protokoll zur EMRK trat am 1. November 1998 in Kraft. 782 Vgl. nur Viscuso ./. Italien, Beschwerde Nr. 42847/99, Urt. v. 28. Februar 2002; sowie Angelo Giuseppe Guerrera ./. Italien, Beschwerde Nr. 44413/98, Urt. v. 28. Februar 2002. In beiden Entscheidungen hat der EGMR – ohne vertieft auf die Kriterien einzugehen – die in zahlreichen vorhergehenden Urteilen festgestellte Existenz einer mit Art. 6 Abs. 1 EMKR unvereinbaren Praxis angeprangert und kurz und bündig eine Verletzung bejaht. 783 Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 277

verhelfen, wenn im Rahmen des nationalen Verfahrens Unregelmäßigkeiten festzustellen waren. Insgesamt betrachtet hat sich freilich die Überprüfung anhand des Kriterienbündels – auch bei ihrer Anwendung durch das BVerfG784 – als probates Mittel bewährt, das in der Lage ist, im Falle sich ergebender neuer Umstände flexibel zu reagieren. Zudem bleibt die Möglichkeit, dieses Bündel im Bedarfsfall um zusätzliche Kriterien zu erweitern. Vermissen lassen die Ausführungen des EGMR zur Angemessenheit der Verfahrensdauer indes die Beantwortung der Frage, wie viel Zeit das betreffende nationale Gericht denn hätte benötigen dürfen, damit der EGMR im konkreten Fall eine Verletzung verneint hätte. Stattdessen beschränken sich die Aussagen des EGMR darauf, festzustellen, dass „nach den Umständen des Falles“ die angemessene Verfahrensdauer im vorliegenden Fall überschritten worden sei. Konkrete Maßstäbe sind hierbei für das betroffene Gericht nicht erkennbar. Zwar sind absolute Zeitgrenzen abzulehnen; gleichwohl wäre es dem EGMR durchaus möglich und zumutbar, anhand der konkreten Umstände des Falles darzulegen, wie das Gericht den jeweiligen Fall hätte handhaben müssen beziehungsweise welche Vorgehensweise, welcher Zeitverbrauch, nicht zu einer Verletzung des Gebots angemessener Verfahrensdauer geführt hätte. Leider schweigt sich der EGMR hierzu stets aus. Aus Gründen der Rechtsklarheit und zugunsten vorausschauender Planbarkeit für die einzelnen Konventionsstaaten wäre eine Vorgehensweise im oben beschriebenen Sinne aber durchaus wünschenswert. Kapitel 5

Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren“ I. Problemstellung Seit jeher umstritten – besonders aus deutscher Sicht – ist die Frage, ob sich auch das Verfassungsbeschwerdeverfahren an den Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK messen lassen muss. Teilweise wird – noch weitergehend – Kritik daran geübt, dass verfassungsgerichtliche Verfahren überhaupt dem Anwendungsbereich dieser Norm unterfallen sollen.785 Insbesondere aber beim Um784 Erst kürzlich hat das BVerfG entsprechend der Vorgehensweise des EGMR eine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG bejaht, weil das Landgericht keinen zeitgerechten Rechtsschutz gewährt hatte. Zu rechtfertigen waren die Verzögerungen nach Ansicht des BVerfG nicht, da eine allgemein angespannte Personalsituation nicht von der Verpflichtung entbindet, die notwendigen Maßnahmen zu einer Beendigung etwaiger Engpässe zu treffen – BVerfG, Beschl. v. 29. März 2005 – 2 BvR 1610/03. Das BVerfG baute hier seine Prüfung einmal mehr entsprechend dem Muster des EGMR auf. 785 Allgemein hierzu Malinverni, Droit à un procès équitable et cours constitutionnelles, S. 389 ff.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

gang mit dem Verfassungsbeschwerdeverfahren gehen die Auffassungen auseinander, was daher rührt, dass die Verfassungsbeschwerde in Deutschland eine Sonderstellung unter den dem rechtssuchenden Bürger zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen einnimmt. So verkörpert sie gerade kein herkömmliches Rechtsmittel im Sinne der Prozessgesetze wie etwa die Berufung oder die Revision, sondern vielmehr einen außerordentlichen Rechtsbehelf de luxe (Udo Steiner)786, der sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass er nicht zum Rechtsweg gehört787 und seine Einlegung keinen Suspensiveffekt zeitigt.788 Die Verfassungsbeschwerde ist damit ein letzter und subsidiärer – kein „zusätzlicher“ – Rechtsbehelf.789 Wenn der Bürger sämtliche Möglichkeiten, die eine Rechtsverletzung aus der Welt schaffen könnten, erschöpft hat, soll ihm als letzte Zuflucht die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung stehen. Dieses unter Rechtsstaatsgesichtspunkten an sich wünschenswerte Mehr an nationalem Rechtsschutz790 führte wiederholt zu Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.791 Den deutschen Enthusiasmus, eine solche „juristische Perle“ (Peter Häberle)792 sein eigen nennen zu können, dämpft Straßburg, das die früher durchaus übliche Praxis des BVerfG,793 sich für einige Entscheidungen teilweise weit mehr als sieben Jahre Zeit zu lassen, offen angreift, erheblich. Handelt es sich hierbei um „legitime Außenperspektive bei deutscher innerbetrieblicher Grundrechtsblindheit“ (Udo Steiner)794 oder Ignoranz legitimer, nationaler Besonderheiten?

786

Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, S. 1009. BVerfGE 79, 365 (367). – Das BVerfG ist keine „Superrevisionsinstanz“. 788 Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde, S. 33. Der fehlende Suspensiveffekt ergibt sich daraus, dass grundsätzlich die Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) – also die rechtskräftige Beendigung eines Rechtsweges – Voraussetzung für die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde ist. Als Ausgleich hierfür dient die Möglichkeit der einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG. 789 BVerfGE 18, 315 (325); 49, 252 (258); 68, 376 (379 f.). 790 Vgl. hierzu die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer zur „Großen Justizreform“ vom Juni 2005, abrufbar unter http://www.brak.de/seiten/pdf/Stellung nahmen/2005/Stn29.pdf, in der zwar der deutschen Justiz eine im internationalen Vergleich sehr hohe Qualität zugesprochen, andererseits aber auch auf eine Studie der im Jahr 2002 gegründeten European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ) hingewiesen wird, wonach die deutsche Justiz insgesamt im europäischen Mittelfeld liege, da Deutschland für sein Gerichtssystem ca. 53 A pro Einwohner im Jahr ausgibt und damit weitaus weniger als etwa für Subventionen. Nicht berücksichtigt wird dabei allerdings, dass sich die deutschen Gerichtsbarkeiten mit Ausnahme der Straf- und der Sozialgerichtsbarkeit haushaltstechnisch selbst tragen (BRAK-Stellungnahme-Nr. 18/ 2005). 791 Hoffmann-Riem, Kohärenz europäischer und nationaler Grundrechte, S. 476. 792 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 476. 793 Lansnicker/Schwirtzek, Rechtsverhinderung durch überlange Verfahrensdauer, S. 1969. 794 Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, S. 1008. 787

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 279

Empörung wird unter manchen deutschen Staatsrechtslehrern vor allem deshalb laut, weil die Verfassungsbeschwerde, die eigentlich für den deutschen Staatsbürger „rechtsstaatliche(n) Luxus“ (Wolfgang Graf Vitzthum)795 bedeutet, vom EGMR wie ein herkömmliches Instanz-Rechtsmittel behandelt wird. Insbesondere nimmt der EGMR – so die deutsche Kritik – letztlich wenig Rücksicht darauf, dass die in Deutschland zur Verfügung stehende Verfassungsbeschwerde ein einzigartiges Phänomen darstellt, welches in vergleichbarer Weise in keinem anderen Konventionsstaat zur Verfügung steht.796 So mehren sich die Stimmen, die es als Ärgernis empfinden, dass der Bundesrepublik ausgerechnet wegen der verfassungsgerichtlich bewirkten überobligatorischen Erfüllung ihres Rechtsschutzsolls eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK attestiert wird.797 Teilweise werden Konsequenzen hieraus gefordert, die bis hin zur vollständigen Abschaffung der Verfassungsbeschwerde reichen.798 Unterwirft man nun die Verfassungsbeschwerde den Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK, so läuft man Gefahr, diese wie jedes andere „gewöhnliche“ Rechtsmittel zu behandeln und sie zumindest ein Stück weit ihrer verfassungsrechtlichen Sonderstellung zu berauben. Der EGMR seinerseits nimmt die Prüfung der Frage, ob ein Verfassungsbeschwerdeverfahren Art. 6 Abs. 1 EMRK unterfallen soll, zunehmend schematischer, fast formelhaft, vor: Anfangs noch zögerlich – besonders in Fällen, in denen das BVerfG zuvor die Annahme der Verfassungsbeschwerde im Wege eines unbegründeten Nichtannahmebeschlusses abgelehnt hatte –, verfährt er seit etwa zwei Jahrzehnten wesentlich unbefangener und bejaht mehr oder minder pauschal die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dabei wird zwar im Urteil selbst stets betont, die Besonderheiten dieses Verfahrens seien zu berücksichtigen; im Ergebnis bejaht der EGMR aber regelmäßig die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK mit der Feststellung, jeder Staat, der ein solches 795

Graf Vitzthum, Das Vorprüfungsverfahren für Verfassungsbeschwerden, S. 293. Frowein, Die EMRK in der neueren Praxis der Europäischen Kommission und des EGMR, S. 231. Selbst Staaten wie Italien oder Österreich, die beide Verfassungsgerichte kennen, haben die Verfassungsbeschwerde – wie Italien – entweder überhaupt nicht eingeführt, oder – wie Österreich – erheblich stärkeren Beschränkungen unterworfen, als wir das in der Bundesrepublik gewohnt sind. Eine ganze Reihe von Konventionsstaaten haben überhaupt kein Verfassungsgericht wie etwa die Schweiz. Kein Zweifel besteht jedenfalls daran, dass die Bundesrepublik von vielen Seiten um diese Errungenschaft beneidet wird. Auf die Verfassungsbeschwerde im internationalen Vergleich wird später noch einzugehen sein. 797 Breuer, Verfassungsbeschwerde und Verfahrensdauer, S. 7; kritisch auch Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, S. 1008 f. 798 So provokativ Roellecke, Zum Problem einer Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 118; Zuck, Was lässt das 5. Änderungsgesetz zum Gesetz über das BVerfG von der Verfassungsbeschwerde noch übrig?, S. 2641; Mahrenholz, Zur Funktionsfähigkeit des BVerfG, S. 130; Breuer, Verfassungsbeschwerde und Verfahrensdauer, S. 7; Kloepfer, Ist die Verfassungsbeschwerde unentbehrlich?, S. 680; sowie Vosskuhle in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 93, Rn. 166. 796

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Rechtsschutzinstrument schaffe, müsse sich dann auch an den Verpflichtungen, die eben Art. 6 EMRK begründet, festhalten lassen. Ähnlich argumentiert der EGMR bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer. Im Ergebnis unterscheidet sich die Angemessenheitsprüfung der Verfahrensdauer vor dem BVerfG nur unwesentlich von einer solchen bei einem gewöhnlichen Instanzgerichtsverfahren. Unbeachtet bleibt dabei, dass das BVerfG aufgrund seines besonderen Richterwahlsystems (Art. 94 Abs. 1 GG, § 5 BVerfGG) etwa auf Geschäftsüberhänge und Überlastung im Gegensatz zu einem Instanzgericht nicht flexibel reagieren kann.799 Eine an die jeweiligen Umstände angepasste Vermehrung der Richterstellen ist schon nach dem Gesetzeswortlaut (Art. 94 Abs. 2 GG, § 2 BVerfGG) nicht möglich. Im Folgenden wird zu untersuchen sein, ob sich die Rechtsprechung des EGMR mit nationalem (Verfassungs-)Recht „vereinbaren“ lässt, ob ein solches Vereinbarkeitserfordernis überhaupt besteht und ob im Falle der Verneinung beider vorerwähnter Punkte möglicherweise völkerrechtliche Grundsätze der Straßburger Praxis entgegenstehen. Zu diesem Zwecke werden der Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens durch den EGMR die Genese, Eigenart und „Außerordentlichkeit“ der Verfassungsbeschwerde gegenübergestellt. Im Anschluss hieran wird untersucht werden, ob sich aus diesen Ergebnissen tatsächlich berechtigte Forderungen nach einer Sonderbehandlung der Verfassungsbeschwerde begründen lassen. Sodann wird das Problem aus dem Blickwinkel des Völkerrechts betrachtet. Beleuchtet werden soll, ob das Völkerrecht zu einer von den vorerwähnten, nach nationalem Recht erzielten Ergebnissen abweichenden Betrachtung zwingt, die dann konsequenterweise zur Außerachtlassung der zuvor genannten nationalen Besonderheiten führen würde. II. Die Rechtsprechung des EGMR zum Institut der Verfassungsbeschwerde 1. Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Verfassungsgerichtsverfahren – insbesondere Verfassungsbeschwerdeverfahren Im Folgenden wird dargestellt werden, wie der EGMR im Rahmen der Prüfung, ob eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt, Verfassungsgerichtsverfahren im Allgemeinen sowie Verfassungsbeschwerden im Besonderen behandelt. Ausgangspunkt soll dabei die Behandlung von Verfassungsgerichtsverfahren allgemein sein, da bereits hier eine Weichenstellung erfolgt, die auch auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren „durchschlägt“. Es ließe sich ja durchaus die Auffassung vertreten, jegliches Verfahren vor einem Verfassungsgericht 799

Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, S. 1009.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 281

– und schon deshalb auch jedes Verfassungsbeschwerdeverfahren ungeachtet seiner eigenen Besonderheiten – sei aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK herauszuhalten: Dies zum einen deswegen, weil ein Blick über die Grenzen zeigt, dass nicht jeder Staat ein Verfassungsgericht unterhält – in manchen Staaten, etwa in der Schweiz,800 werden verfassungsrechtliche Fragen ausschließlich vor dem höchsten Instanzgericht behandelt, nicht jedoch vor einem gesonderten, nur verfassungsrechtliche Fragen beurteilenden Verfassungsgericht. Zum anderen aber auch deshalb, weil man sich unabhängig von der Frage, ob die übrigen Konventionsstaaten ihren Bürgern ein Verfassungsgericht zur Verfügung stellen oder nicht, durchaus auf den Standpunkt stellen könnte, ein solches Gericht sei wegen seiner überragenden Stellung in einem Rechtssystem schon aus sich heraus – in seiner Eigenschaft als „aristokratische(s) Element im demokratischen Herrschaftssystem des Gemeinwohls“ (Martin Nettesheim)801 – nicht nach den Maßgaben des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beurteilen. Auch könnte man vertreten, Art. 6 Abs. 1 EMRK, der sich seinem – übersetzten – Wortlaut nach auf zivilrechtliche und strafrechtliche Verfahren bezieht, sei per se ungeeignet, Maßstäbe für ein verfassungsgerichtliches Verfahren zu setzen. Bestehen zwar bereits Bedenken bei der Frage der Anwendbarkeit auf verfassungsgerichtliche Verfahren im Allgemeinen – hier insbesondere aus institutionellen Erwägungen – so verstärken sich diese im konkreten Fall der Verfassungsbeschwerde. Die Gründe hierfür sind zahlreich: Abgesehen von der speziellen Situation und Stellung eines Verfassungsgerichtes kommen die verfahrensspezifischen Aspekte des Verfassungsbeschwerdeverfahrens hinzu. So kann ein Verfassungsbeschwerdeverfahren seinen Abschluss bereits in einem Nichtannahmebeschluss mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg finden. Hier stellt sich die Frage, ob ein solcher Beschluss ebenfalls – zumindest sofern man der oben dargestellten Auffassung folgt, ein Verfassungsgericht könne überhaupt über zivilrechtliche Ansprüche beziehungsweise eine strafrechtliche Anklage entscheiden – eine Entscheidung hierüber darstellt. Der EGMR hatte sich bereits früh mit der Frage auseinander zu setzen, ob verfassungsgerichtliche Verfahren im Allgemeinen und Verfassungsbeschwerdeverfahren im Besonderen dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK

800 In der Schweiz wird die Vereinbarkeit staatlichen Handelns nicht durch ein gesondertes Verfassungsgericht überprüft, sondern zum einen teilweise auch durch andere Staatsorgane wie die Bundesversammlung oder den Bundesrat, und zum anderen durch sämtliche Instanzgerichte, die alle zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung berufen sind. Höchste Instanz ist das Schweizerische Bundesgericht, welches neben der Funktion als Zivil-, Verwaltungs- und Strafgericht zugleich die Rolle des Hüters der Verfassung wahrnimmt. Hierzu ausführlich Zierlein, Die Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung für die Bewahrung und Durchsetzung der Staatsverfassung, S. 314 f. 801 Nettesheim, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 40.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

unterfallen. Die anfängliche Rechtsprechung zu dieser Frage war nicht immer einheitlich. Auf den ersten Blick mutet die Einbeziehung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens sonderbar an, da sich eine verfassungsgerichtliche Entscheidung nicht ohne weiteres als eine solche über „zivilrechtliche Ansprüche“ beziehungsweise über eine „strafrechtliche Anklage“ darstellt. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird über mögliche Grundrechtsverstöße, in anderen Verfassungsgerichtsverfahren, wie etwa der Normenkontrolle, wird objektiv über das Vorliegen verfassungsrechtlicher Verstöße geurteilt. Eher fern liegend scheint daher die Aussage, ein Verfassungsgericht entscheide über einen „zivilrechtlichen Anspruch“. Vielmehr urteilt nach hiesigem Verständnis ein Verfassungsgericht über – zivilrechtlichen Ansprüchen oder strafrechtlichen Anklagen allenfalls zugrundeliegende – Grundrechte. Andererseits steht – zumindest über den Umweg mittelbarer Drittwirkung der Grundrechte802 – hinter jedem zivilrechtlichen Anspruch, gleich aus welcher zivilrechtlichen Anspruchsgrundlage er sich ergibt, ein Grundrecht.803 In zahlreichen Fällen wird es sich dabei aufgrund der Art des Rechtsschutzbegehrens um das Eigentumsrecht handeln; es sind aber auch zivilrechtliche Ansprüche denkbar, bei denen auf Art. 2 GG (ggf. i.V. m. Art. 1 GG) zurückgegriffen werden kann – beispielsweise im Bereich des zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechtsschutzes (§§ 12, 823, 1004 BGB). Im Rahmen arbeitsrechtlicher Auseinandersetzungen wird dagegen Art. 12 GG die wichtigste Rolle einnehmen. Liegt ein Strafverfahren zugrunde, ist an Art. 103, 104, 2 Abs. 2 S. 2 GG zu denken. Stellte man allein auf diese stets vorhandene grundrechtliche Rückendeckung ab, müsste der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK auch in Bezug auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren immer eröffnet sein. Allerdings lässt sich diese Aussage – jedenfalls in Bezug auf das Zivilverfahren – nicht umkehren: Zwar steht hinter jedem zivilrechtlichen Anspruch ein Grundrecht; dies bedeutet aber nicht, dass auch umgekehrt jede Entscheidung über Grundrechte zugleich eine Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche – zumindest nicht nach deutschem Rechtsverständnis – darstellt.804 802 Teilweise wird als Begründung die erwähnte mittelbare Drittwirkung der Grundrechte herangezogen, der zufolge die hinter den Grundrechten stehenden Wertentscheidungen bei der Auslegung von Willenserklärungen und zivilrechtlichen Normen, insbesondere von Generalklauseln wie etwa den §§ 138, 242, 826 BGB, zu berücksichtigen sind („Einfallstore“ oder „Einbruchstellen“ des Verfassungsrechts; vgl. BVerfGE 7, 198 [206]; BVerfG, NJW 1994, 36, 38 f.; BAG, BB 1994, 433; Dürig in Maunz-Dürig, GG-Kommentar, Art. 2 Abs. 1, Rn. 57). Anderer Auffassung zufolge kollidieren auch bei rein privatrechtlichen Auseinandersetzungen jeweils die Grundrechte des einen Bürgers mit denen des anderen Bürgers, weil allen subjektiven Privatrechten Grundrechte zugrunde liegen, vgl. etwa Olzen in Staudinger, BGB, Einl. zu §§ 241 ff., Rn. 265. Konsequenzen ergeben sich aus dieser unterschiedlichen Herleitung nicht. Gemeinsam ist allen Ansichten, dass die Gerichte als Teil der Staatsgewalt über Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden und verpflichtet sind, einen entsprechenden Schutzauftrag auszuführen, BVerfG, NJW 1990, 1469. 803 Vgl. etwa Olzen in Staudinger, BGB, Einl. zu §§ 241 ff., Rn. 265.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 283

Die KOM vertrat nach anfänglichem Zögern805 bis Ende der 80er Jahre den Standpunkt, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei auf Verfahren vor Verfassungsgerichten generell unanwendbar.806 Sie begründete dies mit der These, ein Verfassungsgericht habe weder die Aufgabe, über zivilrechtliche Ansprüche noch über eine strafrechtliche Anklage zu entscheiden,807 sondern nehme vielmehr eine objektive Überprüfung der Vereinbarkeit von gesetzlichen Bestimmungen oder hoheitlichen Maßnahmen mit dem Verfassungsrecht vor.808 Insbesondere falle das verfassungsgerichtliche Annahmeverfahren gem. § 91a BVerfGG a. F. (§ 93a BVerfGG n. F.) nicht unter Art. 6 EMRK, da das Bundesverfassungsgericht hierbei keine eigene Sachentscheidung treffe.809 Auch der EGMR folgte anfangs 804 Wendet sich ein im Enteignungsverfahren Betroffener an das BVerfG mit der Rüge einer Verletzung des Eigentumsrechts, so liegt der Entscheidung im Verfassungsbeschwerdeverfahren über das Grundrecht – Art. 14 GG – sicherlich kein zivilrechtlicher Anspruch zugrunde. Vielmehr erfolgte die Enteignung im klassisch öffentlichrechtlichen Kernbereich. 805 Österreich. Gemeinden ./. Österreich, Beschwerden Nr. 5767/72, 5922/72, 5929/ 72-5931/72, 5953/72-5957/72, 5984/73-5988/73, 6011/73, Entsch. v. 31. Mai 1974, Rec. Déc. Nr. 46, 118: „The proceedings before that Court [gemeint ist der Österreichische Verfassungsgerichtshof] concerned the determination of constitutional, and not civil, rights and thus fall outside the scope of Art. 6. It follows that this complaint is equally incompatible ratione materiae with the provisions of the Convention.“; A. u. a. ./. Deutschland, Beschwerden Nr. 5573/72 und 5670/72, Entsch. v. 16. Juli 1976, DR 7, 8; X u. a. ./. Deutschland, Beschwerden Nr. 7655/76, 7656/76, sowie 7657/76, Entsch. v. 4. Oktober 1977, DR 12, 111: „The Commission has repeatedly expressed the opinion that Article 6 (1) does not apply to procedures whereby a panel of three judges of the Federal Constitutional Court declares a constitutional appeal inadmissible, as in this case.(. . .) It follows that the appeal which the applicants wished to submit to the Federal Constitutional Court could not possibly lead the latter to decide on a dispute brought by the applicants’ civil rights and obligations.“ 806 Vgl. statt vieler X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 436/58, Entsch. v. 7. Juli 1959; A und B ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 673/59, Entsch. v. 28. Juli 1961; X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 742/60, Entsch. v. 28. Juli 1961; X, Y und Z ./. Deutschland, Beschwerden Nr. 7655/76, 7656/76, 7657/76, Entsch. v. 4. Oktober 1977; X ./. Österreich, Beschwerde Nr. 8142/78, Entsch. v. 10. Oktober 1979, Ziff. 2 a) = EuGRZ 1980, 34 f.; Ruiz-Mateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 14324/88, Entsch. v. 19. April 1991 sowie Giesinger und Kopf GmbH & Co. KG ./. Österreich, Beschwerde Nr. 13062/87, Entsch. v. 29. Mai 1991 (Normenkontrollverfahren). Vgl. i. ü. Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 6, Rn. 25 m.w. N.; Kley-Struller, Art. 6 EMRK als Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, S. 73; Cohen-Jonathan, La Convention Européenne des Droits de l’Homme, S. 406. 807 So die KOM ausdrücklich für beide Tatbestandsalternativen des Art. 6 Abs. 1 EMRK in X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 742/60, Entsch. v. 28. Juli 1961, sowie in Irlen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 12246/87, Entsch. v. 13. Juli 1987. 808 X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8410/78, Entsch. v. 13. Dezember 1979, DR 18, 216; M ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9701/82, Entsch. v. 12. Mai 1986. 809 X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 448/59, Entsch. v. 2. Juni 1960; X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 742/60, Entsch. v. 28. Juli 1961: „Such a decision does not relate to „the determination of civil rights and obligations“ of or to „any criminal charge“ against the Applicant, within the meaning of Article 6 of the Convention; whereas, therefore the bench of three judges appointed to decide whether the Appli-

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

dieser von der KOM vertretenen Sichtweise und legte vor allem im Bereich der Nichtannahmeentscheidungen Zurückhaltung an den Tag. Im Fall Buchholz810 erklärte er kurz und bündig, es genüge der Hinweis, „dass das Bundesverfassungsgericht nicht dazu berufen war, über die Klage zu entscheiden, die der Beschwerdeführer gegen seinen Arbeitgeber vor den Arbeitsgerichten erhoben hatte; die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts [habe] nicht den Anspruch, den der Beschwerdeführer gegenüber seinem Arbeitgeber geltend gemacht hatte, [betroffen]. Das dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts nachfolgende Verfahren [unterfalle] daher nicht dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1. Es [bestehe] keine Veranlassung zu entscheiden, ob dies in anderem Zusammenhang abweichend zu beurteilen sein könnte.“ 811 Auffällig ist, dass die KOM in ihrer diesem Urteil vorangegangenen Zulässigkeitsentscheidung unter Verweis auf ihre Spruchpraxis die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das verfassungsgerichtliche Verfahren noch mit dem Argument abgelehnt hatte, Art. 6 Abs. 1 EMRK gelte für das Bundesverfassungsgericht nicht, wenn dieses in der Besetzung eines Ausschusses von drei Richtern eine Verfassungsbeschwerde für unzulässig erklärt. Der EGMR dagegen ging hierauf mit keinem Wort ein. Vielmehr beschränkte er sich auf den Hinweis, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts habe nicht den Anspruch betroffen, den der Beschwerdeführer gegenüber seinem Arbeitgeber geltend gemacht hatte – unabhängig von der Tatsache, dass es sich um eine Nichtannahmeentscheidung gehandelt hatte. Zurückzuführen ist diese Begründung vermutlich darauf, dass der Beschwerdeführer vor dem BVerfG allein die Verletzung des Anspruchs auf Entscheidung in angemessener Frist geltend gemacht hatte; ein Erfolg vor dem BVerfG hätte also auf die Entscheidung in der Hauptsache – die arbeitsrechtliche Streitigkeit – keinerlei Einfluss gehabt.812 Auch im Fall Sramek813 urteilte er, dem österreichischen Verfassungsgerichtshof habe nicht oblegen, „in der Sache selbst zu entscheiden, sondern nur, den Bescheid der Landesgrundverkehrsbehörde auf seine Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht zu überprüfen.“ 814 Im Fall Deumeland 815 dagegen bezog der EGMR soweit ersichtlich erstmals das cant was entitled to appeal to the Federal Constitutional Court did not constitute a tribunal to which the terms of Article 6 of the Convention apply.“ 810 Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981 = EuGRZ 1981, 490 ff. 811 Ziff. 48 des Urteils. 812 Selbst wenn der Beschwerdeführer mit der geltend gemachten Verletzung des Anspruchs auf Entscheidung in angemessener Frist erfolgreich gewesen wäre, hätte dies nicht zur Aufhebung der instanzgerichtlichen Entscheidung geführt, da diese nicht auf dem verfahrensrechtlichen Verstoß beruhte – die Entscheidung wäre bei zügigem Verfahren nicht abweichend ausgefallen. Vgl. hierzu noch unten. 813 Sramek ./. Österreich, Beschwerde Nr. 8790/79, Urt. v. 22. Oktober 1984, Ziff. 35 = EuGRZ 1985, 336 ff. 814 Unter Verweis auf das Urteil in der Sache Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981, Ziff. 48 = EuGRZ 1981, 490 ff.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 285

verfassungsgerichtliche Verfahren in die Prüfung mit ein. Dem Fall lag eine Verfassungsbeschwerde zugrunde, welche vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen wurde, da sie – ihre Zulässigkeit unterstellt – keine hinreichende Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.816 Kurz und bündig argumentierte er, das BVerfG habe zwar nicht in der Sache zu entscheiden gehabt, seine Entscheidung habe sich aber auf den Ausgang des Verfahrens auswirken können.817 Zu beachten ist freilich, dass in diesem vielfach als Wendepunkt in der Rechtsprechung des EGMR bezeichneten Fall die Grundkonstellation nicht identisch war mit derjenigen im Fall Buchholz: So hatte der Beschwerdeführer im Fall Buchholz mit der Verfassungsbeschwerde allein gerügt, das arbeitsgerichtliche Verfahren sei nicht innerhalb angemessener Frist behandelt worden; die Verfassungsbeschwerde wurde sodann durch einen Nichtannahmebeschluss eines Ausschusses von drei Richtern nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Erfolg vor dem BVerfG wäre auch im Fall der Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung auf die Entscheidung der Hauptsache (arbeitsrechtliche Streitigkeit) ohne Einfluss geblieben, da die Aufhebung einer Entscheidung818 durch das BVerfG nur dann in Betracht kommt, wenn diese auf dem Grundrechtsverstoß beruht819 und die Verletzung der Norm des Grundgesetzes den sachlichen Inhalt der Entscheidung berührt.820 Ist dies nicht der Fall, bleibt es bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit nach § 95 Abs. 1 BVerfGG.821 Im Fall Deumeland dagegen war die Situation eine andere: Dort konnte die Entscheidung des Hauptsacheverfahrens durch eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde, die neben behaupteter Verletzung von Verfahrensrechten auch auf materielle Grundrechte gestützt wurde, durchaus beeinflusst und gegebenenfalls sogar aufgehoben werden. Im Falle des Erfolges der Verfassungsbeschwerde hätte die Instanzgerichtsentscheidung auf dem Grundrechtsverstoß beruht, die festgestellte Grundrechtsverletzung hätte damit den sachlichen Inhalt der Entscheidung berührt822 Beide Fallkonstellationen sind insofern nicht miteinander vergleichbar. Es handelt sich damit nicht, wie der EGMR selbst zu glauben 815 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986 = EuGRZ 1988, 20 ff. 816 Ziff. 45 des Urteils. 817 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 77 = EuGRZ 1988, 28. 818 Anders bei Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze, vgl. § 95 Abs. 3 BVerfGG. 819 BVerfGE 65, 293 (296); 65, 297 (304). 820 BVerfGE 16, 119 (124). 821 BVerfGE 16, 119 (124); 38, 32 (34 f.); 89, 381 (394); BVerfG, NJW 2005, 739; vertiefend Schmidt-Bleibtreu in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 95 Rn. 25; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 95 Rn. 14; Stark in Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 95 Rn. 42. 822 Vgl. Schmidt-Bleibtreu in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 95 Rn. 25.

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scheint,823 um eine bahnbrechende und richtungsweisende Rechtsprechungskehrtwende, sondern vielmehr um eine eher zufällige, durch die jeweiligen Besonderheiten der Fallkonstellationen bedingte „andere Rechtsprechung“, mithin um ein aliud.824 Im Übrigen hatte der EGMR bereits in seinem Buchholz-Urteil angedeutet, dass in anderem Zusammenhang – womit er wohl an eine Konstellation wie diejenige im Fall Deumeland dachte – Abweichendes gelten könnte.825 Bei Deumeland wird andererseits zum ersten Mal sichtbar, dass sich der EGMR davon leiten lässt, ob sich die Verfassungsgerichtsentscheidung auf den Bestand der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen auswirken kann. In den nachfolgenden Urteilen wurde diese Rechtsprechung bestätigt: In dem gegen Österreich gerichteten Verfahren Ettl u. a.826 bezog der Gerichtshof das verfassungsgerichtliche Verfahren ausdrücklich in seine Erwägungen zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ein, ließ die Frage der Anwendbarkeit aber letztlich offen, da er eine Verletzung dieser Norm ohnehin nicht für gegeben erachtete. Im Fall Poiss827 stellte der EGMR ebenfalls fest, dass die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs sich auf den Verfahrensausgang auswirken konnte;828 dementsprechend wurde die Anwendbarkeit unter Verweis auf Deumeland bejaht. Auch im Fall Bock829 bestätigte er die Rechtsprechung, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei anwendbar, sofern die verfassungsgerichtliche Entscheidung Auswirkungen auf den Verfahrensausgang zeitigen könne. Der Gerichtshof nahm hierzu nicht im Einzelnen Stellung, da er der Auffassung war, angesichts des Ausmaßes der gesamten Verfahrensdauer – auch ohne die Einbeziehung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens betrug die Verfahrensdauer bereits über neun Jahre – sei dies nicht notwendig.830

823 Ruiz-Mateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 12952/87, Urt. v. 23. Juni 1993, Ziff. 35: „Der Gerichtshof sieht keinen Grund, von dieser Rechtsprechungslinie abzuweichen und zu der im Urteil Buchholz gegen Deutschland vom 6.5.1981 geäußerten Ansicht zurückzukehren (. . .).“ 824 So wohl auch Matscher, Art. 6 EMRK und verfassungsgerichtliche Verfahren, S. 450, Fn. 17. Der EGMR selbst geht von einer Kehrtwende aus, erklärt er doch in den nachfolgenden Urteilen ausdrücklich, nicht „von dieser Rechtsprechungslinie abzuweichen und zu der im Urteil Buchholz gegen Deutschland vom 6.5.1981 geäußerten Ansicht zurückzukehren“, sondern diese „gefestigte Rechtsprechung“ beibehalten zu wollen, vgl. Ruiz-Mateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 12952/87, Urt. v. 23. Juni 1993, Ziff. 35. 825 Vgl. Ziff. 48 des Urteils. 826 Ettl u. a. ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9273/81, Urt. v. 24. März 1987, Ziff. 32– 43. 827 Poiss ./. Österreich, Beschwerde Nr. 9816/82, Urt. v. 23. April 1987. 828 Ziff. 52 des erwähnten Urteils. 829 Bock ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 11118/84, Urt. v. 29. März 1989. 830 Ziff. 37 des Urteils.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 287

Soweit ersichtlich bejahte der EGMR erstmals im Fall Ruiz-Mateos831 die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ein Normenkontrollverfahren.832 Weder der Verweis der spanischen Regierung auf den „politischen Charakter“ des spanischen Gerichtshofs,833 der keinen Teil der Gerichtsbarkeit darstelle, noch die Tatsache, dass das Verfassungsgericht nicht nach Abschluss der Instanzverfahren befasst wurde, sondern dazwischen zur Klärung einer Vorfrage, konnten den Gerichtshof hiervon abbringen. Die Tatsache, dass es sich um ein verfassungsgerichtliches Verfahren handelte, welches eine Vorfrage betraf und für die Hauptsacheentscheidung unmittelbar ausschlaggebend war, stellte für den Gerichtshof das schlagende Argument für die Einbeziehung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens dar. Bestätigt wurde dieser Ansatz in den ebenfalls Normenkontrollverfahren834 betreffenden „deutschen“ Fällen Pammel835 und Probstmeier836. Die Bundesregierung hatte gegen die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf diese Fälle vorgebracht, die im Zuge eines Vorlageverfahrens ausgeübte objektive Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen könne einer Entscheidung über den Bestand von zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen nicht gleichgesetzt werden.837 Anderenfalls werde die besondere Funktion des BVerfG sowie die Eigenart dieses Verfahrenstyps verkannt. Der Gerichtshof folgte gleichwohl konsequent seiner Auswirkungstheorie und urteilte, einziges Kriterium für die Anwendbarkeit könne sein, ob das Ergebnis des Verfassungsgerichtsverfahrens den Ausgang des Rechtsstreits vor den ordentlichen Gerichten beeinflussen kann.838 831

Ruiz-Mateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 12952/87, Urt. v. 23. Juni 1993. Die KOM hatte die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Normenkontrollverfahren bislang in ständiger Praxis abgelehnt mit dem Argument, es handle sich dabei um ein rein objektives Verfahren, welches die zivilrechtlichen Ansprüche des Bf. nicht berühre, vgl. etwa Freie Rundfunk AG iG ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9675/82, Entsch. v. 4. März 1987. Auch im Fall Giesinger ./. Österreich, Beschwerde Nr. 13062/87, Entsch. v. 29. Mai 1991 hatte sie im Gegensatz zur zeitgleich erlassenen Zulässigkeitsentscheidung im Fall Ruiz-Mateos (Ruiz-Mateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 14324/88, Entsch. v. 19. April 1991) noch entschieden, ein Normenkontrollverfahren unterfalle nicht dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK. 833 Ziff. 36 des Urteils. 834 Das BVerfG war in beiden Fällen aufgrund von Vorlagen gem. Art. 100 Abs. 1 GG befasst worden. 835 Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997. 836 Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997. 837 Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 46; Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 41. 838 Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 51; Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 46. Orientiert man sich hier allein am Auswirkenskriterium, ist die Entscheidung, das konkrete Normenkontrollverfahren einzubeziehen, zumindest nachvollziehbar: Da das Instanzgericht vorlegt, um eine für das Instanzverfahren relevante Vorfrage klären zu lassen, wirkt sich die verfassungsgerichtliche Entscheidung fraglos auf das ausgesetzte Instanzverfahren aus. 832

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Der Fall Süßmann,839 dem eine Verfassungsbeschwerde gegen eine sozialrechtliche Entscheidung zugrundelag, wies die Besonderheit auf, dass allein die Dauer des verfassungsgerichtlichen Verfahrens im Streit stand.840 Das BVerfG hatte die Verfassungsbeschwerde in der Besetzung von drei Richtern nicht zur Entscheidung angenommen, da aus seiner Sicht keine hinreichende Erfolgsaussicht bestand. Zu diesem Ergebnis gelangte das Gericht in einem ausführlich begründeten Beschluss, der sich vertieft mit den behaupteten Grundrechtsverstößen (insbesondere dem Recht auf rechtliches Gehör sowie dem Eigentumsrecht) auseinander setzte. Die Regierung hatte zur Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK geäußert, das BVerfG sei kein ordentliches Gericht, seine Rolle in Deutschland sei vielmehr mit der Rolle des EGMR in Europa vergleichbar. Als oberster Hüter der Verfassung entscheide es insbesondere nicht über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“. Zum von der Straßburger Rechtsprechung kreierten Kriterium der Auswirkung einer Verfassungsgerichtsentscheidung auf den Ausgang des Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten erklärte sie, jede Entscheidung des Verfassungsgerichts hätte in der Praxis Auswirkungen auf einen Rechtsstreit vor den ordentlichen Gerichten, das Gegenteil sei undenkbar.841 Diese Argumentation stützt sich erkennbar darauf, dass das BVerfG – zumindest generell – eine Kassationsbefugnis besitzt (§ 95 i.V. m. § 79 BVerfGG). Im Übrigen sei die Entscheidung des BVerfG im Rahmen eines Zulässigkeitsverfahrens ergangen und werde deshalb vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht erfasst. Die KOM hatte unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK bejaht. Der EGMR nahm vorab Stellung zur besonderen Rolle und Position eines Verfassungsgerichts, ging dann aber unmittelbar zu seiner Auswirkens-Formel über und betonte, alleiniges Kriterium sei die Frage, ob das Ergebnis des verfassungsgerichtlichen Verfahrens den Ausgang des Rechtsstreits vor den ordentlichen Gerichten beeinflussen könne.842 Die Besonderheit in diesem Fall sah der EGMR allein darin, dass die Individualbeschwerde ausschließlich die Dauer eines ver839

Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996. Der Bf. hatte zwar zusätzlich eine Verletzung des Art. 1 des 1. ZP zur EMRK geltend gemacht; die KOM hatte indes die Beschwerde lediglich im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK für zulässig erklärt. 841 Die Regierung hatte bei ihrer Argumentation offenbar übersehen, dass durchaus Fälle denkbar sind, bei denen die Verfassungsgerichtsentscheidung keine Auswirkungen auf den Rechtsstreit vor den Instanzgerichten hat: Wenn beispielsweise mit der Verfassungsbeschwerde lediglich die Dauer eines instanzgerichtlichen Zivilverfahrens geltend gemacht wird, so hat die Feststellung der Verfassungswidrigkeit keine Auswirkungen auf die Entscheidung der Instanzgerichte, da die Entscheidung nicht auf dem Grundrechtsverstoß beruht. Die Entscheidung der Instanzgerichte wäre nicht anders ausgefallen, wenn die Verfahrensdauer angemessen gewesen wäre. Möglicherweise wollte die Regierung hier aber auch auf die edukatorische Wirkung von Verfassungsgerichtsentscheidungen hindeuten. 842 Ziff. 39 des Urteils. 840

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 289

fassungsgerichtlichen Verfahrens betreffe. Von einer „Fortführung“ des Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten könne also keine Rede sein. Sogleich wies er dann aber darauf hin, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auch für ein verfassungsgerichtliches Verfahren maßgebend sei – zu der Frage, ob dies auch dann gelten kann, wenn allein ein verfassungsgerichtliches Verfahren im Streit steht, äußerte er sich im Folgenden jedoch nicht. Stattdessen wandte er sich der vermögensrechtlichen Natur des Rechtsstreits zu – im Streit stand die Höhe der Rente des Bf. – und gelangte aufgrund dessen zu dem Zwischenergebnis, das Verfahren vor dem BVerfG habe sich auf einen Rechtsstreit über einen zivilrechtlichen Anspruch bezogen. Zuletzt setzte sich der EGMR kurz mit den Eigenarten der Verfassungsbeschwerde auseinander, insbesondere mit deren Folgen im Falle ihres Erfolges. Da der Bf. vorliegend im Falle des Erfolges der Verfassungsbeschwerde die ursprüngliche Rente in voller Höhe erhalten hätte – die Beruhensfrage war tatsächlich positiv zu beantworten843 – bejahte der EGMR die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Zwar sei die Entscheidung im Wege eines Nichtannahmebeschlusses ergangen; nichtsdestotrotz habe sich das BVerfG in der Begründung seiner Entscheidung mit den Argumenten des Bf. auseinandergesetzt.844 Eine weitere Entscheidung dieser Art traf der EGMR im Fall Gast und Popp845, bei dem er in ähnlicher Weise auf die Stellung des BVerfG einging, um dann über die Auswirkens-Formel zu den Besonderheiten des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu gelangen. Die Besonderheit des Falles bestand darin, dass der Gerichtshof erstmals über die Frage zu befinden hatte, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK auch hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils auf ein Verfassungsbeschwerdeverfahren anwendbar ist. Zwar würdigte er die Tatsache, dass die Beschwerde abermals einen Nichtannahmebeschluss des BVerfG zum Gegenstand hatte. Im Unterschied zum vorerwähnten Fall Süßmann erging hier allerdings kein ausführlich begründeter Beschluss. Stattdessen hatte sich das BVerfG bei seiner Nichtannahmeentscheidung auf eine kurz zuvor ergangene Leitentscheidung des BVerfG846 berufen.847 Der EGMR bejahte letztendlich auch in diesem Fall die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK, da sich das Verfahren vor dem BVerfG unmittelbar auf die Frage, ob die Anklage wegen geheimdienstlicher Tätigkeit begründet war, bezogen habe. Die Aufhebung der Instanzgerichtsentscheidungen wäre im Falle des Erfolges der Verfassungsbeschwerde 843 Der Bf. hatte zusätzlich die Verletzung seines Eigentumsrechts geltend gemacht, weshalb die Bejahung eines Verstoßes zur Aufhebung der Entscheidung der Untergerichte geführt hätte. 844 Ziff. 45 des Urteils. 845 Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/95, Urt. v. 25. Februar 2000. 846 Entsch. des Zweiten Senats des BVerfG vom 15. Mai 1995. 847 Ziff. 67 des Urteils.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

theoretisch denkbar gewesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Gerichtshof gelangte somit ebenfalls über die Auswirkens-Formel zur Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das fragliche Verfahren. Im Fall Klein848 stellte die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK für den EGMR augenscheinlich kein Problem dar, was daran gelegen haben mag, dass – im Gegensatz zu den vorerwähnten Verfahren – in der Sache entschieden worden war. Das BVerfG hatte die streitgegenständlichen Vorschriften aufgehoben und die Sache an das Ausgangsgericht zurückverwiesen, was für den EGMR Grund genug war, das Verfahren vor dem BVerfG als unmittelbar entscheidend für die zivilrechtlichen Ansprüche des Beschwerdeführers einzuordnen.849 Im Fall Metzger850 dagegen, dem abermals ein strafrechtliches Verfahren zugrunde lag, verwies der EGMR wiederum pauschal auf seine „gefestigte Rechtsprechung“, wonach ein verfassungsgerichtliches Verfahren einbezogen werden müsse, wenn die Entscheidung des BVerfG den Ausgang des Rechtsstreits vor den ordentlichen Gerichten beeinflussen kann.851 Entscheidendes Kriterium war für den EGMR die Frage, ob die bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung „den Ausgang des Rechtsstreits852 vor den ordentlichen Gerichten beeinflussen kann“.853 Mit der Auswirkens-Formel operierte der EGMR auch im Fall Mianowicz,854 dem ein arbeitsgerichtliches Verfahren zugrunde lag. Auch hier war die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen worden. Ausführlich hatte sich der EGMR mit der Frage der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren im Fall Voggenreiter855 zu befassen: Die Besonderheit dieses Falls lag darin, dass diesem eine Gesetzesverfassungsbeschwerde zugrundelag.856 Der EGMR bemühte wiederum die Auswirkensformel, hatte aber beträchtliche Mühe, diese auf den Fall anzuwenden: Ein Amtshaftungsanspruch wäre selbst für den Fall, dass das BVerfG das 848

Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000. Ziff. 32 f. des Urteils. 850 Metzger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37591/97, Urt. v. 31. Mai 2001. 851 Ziff. 34 des Urteils. 852 Die Formulierung „Rechtsstreit“ passt hier freilich nicht, da es sich um ein Strafverfahren handelt. 853 Ziff. 34 des Urteils. 854 Mianowicz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42505/98, Urt. v. 18. Oktober 2001. 855 Voggenreiter ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 47169/99, Urt. v. 8. Januar 2004. 856 Eine Gesetzesverfassungsbeschwerde lag auch dem Fall Hesse-Anger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45835/99, Urt. v. 6. Februar 2003, zugrunde. Gleichwohl war der EGMR hier allerdings nur in der Zulässigkeitsentscheidung vom 16. Mai 2002 auf die Frage der Anwendbarkeit eingegangen. Mit dem knappen Hinweis, die Feststellung der Verfassungswidrigkeit hätte zu einer Änderung der Pensionsansprüche der Bf. geführt, welche zweifelsohne vermögensrechtlichen Charakter hätten, wurde die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK bejaht. Im Rahmen des Urteils vom 6. Februar 2003 erfolgten hierzu keinerlei Ausführungen mehr. 849

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 291

angefochtene Gesetz für verfassungswidrig erklärt hätte, ausgeschlossen gewesen.857 Der EGMR beschränkte sich daher auf den Hinweis, es sei „spekulativ“, „die Folgen einer befürwortenden Entscheidung zu würdigen“.858 Gleichwohl konstatierte der EGMR, es sei nicht nachgewiesen, dass die Entscheidung keinerlei Auswirkungen auf die Situation der Bf. gehabt hätte. Möglicherweise hätte das BVerfG ja eine einstweilige Anordnung zugunsten der Bf. treffen können.859 Im Übrigen berief sich der EGMR auf den zivilrechtlichen Charakter des Rechts auf freie Berufsausübung und gelangte schließlich zu dem Ergebnis, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei vorliegend anwendbar. Die letzterwähnten Urteile veranschaulichen, dass der EGMR fast ausschließlich mit der Auswirkens-Formel arbeitet – gleich, ob es sich um ein im Ausgang zivilrechtliches oder strafrechtliches Verfahren860 handelt und gleich, ob ein Normenkontrollverfahren, ein Nichtannahmeverfahren oder eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung zugrunde liegt. Auf die Art des in Frage stehenden Rechts oder gar auf den Gegenstand des zugrundeliegenden Instanzverfahrens verwendet das Straßburger Gericht kaum mehr ein Wort. Ebenso wenig findet eine Differenzierung zwischen Gesetzes- und Urteilsverfassungsbeschwerde statt. Auf diese Weise eröffnet der Gerichtshof Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf Verfassungsbeschwerdeverfahren ein weites Feld: Indem er hypothetisch darauf abstellt, ob sich eine Verfassungsbeschwerde im Falle ihres Erfolges auf das vorgerichtliche Verfahren auswirken kann – sei sie auch noch so offensichtlich unzulässig oder unbegründet – gelangt er im Ergebnis stets zur Anwendbarkeit der Norm. Selbst die offensichtlich erfolglose Verfassungsbeschwerde, die im Wege eines Nichtannahmebeschlusses beschieden oder sogar als unzulässig verworfen wird, muss nach dieser Praxis in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK einbezogen werden, da die oben erwähnte hypothetische Frage stets dazu führt, dass die Auswirkens-Frage positiv zu beantworten ist. Der EGMR verfolgte auch in den folgenden Judikaten den einmal eingeschlagenen Weg und begründete die Einbeziehung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens kaum mehr.861 Teilweise wurde nicht einmal die Auswirkens-Formel bemüht, obwohl es sich jeweils um Nichtannahmebe-

857 Keine Ansprüche aus Amtshaftung gegen Legislativakte, vgl. BGHZ 56, 40 ff.; 134, 30 ff.; 100, 136 ff.; BVerfG, Beschl. v. 13. November 1987, Az. 1 BvR 739/87. 858 Diese Aussage erscheint merkwürdig vor dem Hintergrund, dass der EGMR im Zusammenhang mit seiner Auswirkensformel stets rein hypothetisch die Folgen einer befürwortenden Entscheidung hinterfragt. Es handelt sich dabei immer um Spekulation. 859 Ziff. 42 des Urteils. 860 So aktuell im Fall Uhl ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 64387/01, Urt. v. 10. Februar 2005, Ziff. 26 (die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich seines strafrechtlichen Teils wurde ohne Begründung vorausgesetzt). 861 Bayrak ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 27937/95, Urt. v. 20. Dezember 2001.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

schlüsse handelte.862 Auf die Eigenart speziell des Verfassungsbeschwerdeverfahrens einschließlich des Annahmeverfahrens geht der EGMR in seiner jüngeren Rechtsprechung überhaupt nicht mehr ein.863 Häufig beschränkt er sich unter Nennung einiger Entscheidungen auf den pauschalen Hinweis, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei anwendbar.864 Rechtsvergleichende Erwägungen spielen dabei im Ergebnis keine Rolle. Die Frage nach der Einbeziehung des Verfassungsgerichtsverfahrens, insbesondere aber des Verfassungsbeschwerdeverfahrens in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK scheint damit für den Gerichtshof positiv beantwortet zu sein. 2. Berücksichtigung der Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens im Rahmen der Angemessenheitsprüfung Geht man mit dem EGMR davon aus, das Verfassungsbeschwerdeverfahren sei dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu subsumieren, so ist damit noch nicht geklärt, ob ein verfassungsgerichtliches Verfahren im Rahmen 862 Volkwein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45181/99, Urt. v. 4. April 2002, Ziff. 32; Becker ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45448/99, Urt. v. 26. September 2002, Ziff. 17; Thieme ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38365/97, Urt. v. 17. Oktober 2002, Ziff. 40; Hesse-Anger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45835/99, Urt. v. 6. Februar 2003, Ziff. 27; Kind ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 44324/98, Urt. v. 20. Februar 2003, Ziff. 44; Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003, Ziff. 32 (hier hatte der Bf. seine Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt); Nekvedavicius ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 46165/99, Entsch. v. 19. Juni 2003; Kohls ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 72719/01, Entsch. v. 13. November 2003; Trippel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 68103/01, Urt. v. 4. Dezember 2003, Ziff. 19; Voggenreiter ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 47169/99, Urt. v. 8. Januar 2004, Ziff. 46 (hier allerdings mit der Ausnahme, dass der Nichtannahmebeschluss sich über zwölf Seiten mit der materiellen Rechtslage auseinandersetzte); Uhl ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 64387/02, Urt. v. 10. Februar 2005, Ziff. 26; Wimmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 60534/00, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 22. 863 Vgl. nur Dzelili ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 65745/01, Urt. v. 10. November 2005, Ziff. 95; Nold ./. Deutschland, Beschwere Nr. 27250/02, Urt. v. 29. Juni 2006, Ziff. 84; Stork ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38033/02, Urt. v. 13. Juli 2006, Ziff. 38; Gräßer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 66491/01, Urt. v. 5. Oktober 2006, Ziff. 52. 864 Vgl. Pauger ./. Österreich, Beschwerde Nr. 16717/90, Urt. v. 28. Mai 1997, Ziff. 46–48; Sattler ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 32830/96, Entsch. v. 19. Januar 1999; Schwengel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 52442/99, Entsch. v. 2. März 2000; Goretzki ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 52447/99, Entsch. v. 24. Januar 2002, EuGRZ 2002, 325 ff.; Nekvedavicius ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 46165/99, Entsch. v. 19. Juni 2003; Wolf-Ulrich von Maltzan u. a. ./. Deutschland, Beschwerden Nr. 71916/01, 71917/01, und 10260/02, Entsch. v. 2. März 2005. Längerer Begründung bedurfte die Frage der Anwendbarkeit hingegen im Fall Tricˇkovic´ ./. Slowenien, Beschwerde Nr. 39914/98, Urt. v. 12. Juni 2001, in dem der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ein verfassungsgerichtliches Verfahren betreffend die Pensionsansprüche eines ehemaligen Soldaten ausführlich prüfte und im Ergebnis mit dem Hinweis auf die vermögensrechtliche Natur des Rechtsstreits bejahte (Ziff. 36–41 des Urteils).

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 293

der nachfolgenden inhaltlichen Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK eine abweichende Behandlung erfahren muss. Zu denken ist daran, die Eigenarten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens im Rahmen der Angemessenheit beim Kriterium „Verhalten der zuständigen Gerichte“ zu berücksichtigen. Im bereits mehrfach erwähnten Fall Deumeland ging der EGMR mit keinem Wort auf die Frage ein, wie im Rahmen der Angemessenheit zu verfahren ist, wenn ein Verfassungsbeschwerdeverfahren zur Überprüfung ansteht. Dies ist vornehmlich darauf zurückzuführen, dass das BVerfG diese Beschwerde sehr zügig behandelt hatte, so dass der EGMR auf ein Fehlverhalten des BVerfG in diesem Zusammenhang nicht einzugehen brauchte.865 Die erste Entscheidung, die Erkenntnisse hierzu liefert, ist das ebenfalls schon angeführte Urteil Süßmann866. Dort befasste sich der EGMR zunächst im Rahmen des Kriteriums „Komplexität der Sache“ mit der Entscheidung des BVerfG: Obwohl diese Nichtannahmeentscheidung in einem summarischen Verfahren ergangen sei, dürfe nicht außer acht gelassen werden, dass die Sache komplizierte Aspekte aufwies. Der EGMR hielt dem BVerfG dabei zugute, dass es sich in seinem Nichtannahmebeschluss ausführlich mit der materiellen Rechtslage auseinandergesetzt hatte. Zu seinen Gunsten wertete er ferner, dass die Verfassungsbeschwerde eine von 24 Parallelbeschwerden darstellte, was eine umfängliche gemeinsame Sachprüfung aller Beschwerden unumgänglich machte.867 Ungleich ausführlicher befasste sich der EGMR indes mit den Eigenarten der Verfassungsbeschwerde im Rahmen der Prüfung des Verhaltens des BVerfG: Die Pflicht der nationalen Gerichte, den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu genügen, gelte zwar auch für ein Verfassungsgericht; allerdings könnten hier nicht dieselben Maßstäbe angesetzt werden wie bei einem ordentlichen Gericht. Vielmehr dürfe ein Verfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“ bisweilen andere Umstände berücksichtigen als die chronologische Reihenfolge der eingehenden Beschwerden, so etwa die Natur der Sache oder ihre politische wie soziale Bedeutung. Zuletzt hält der EGMR dem BVerfG zugute, dass es sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung in dem einzigartigen politischen Kontext der deutschen Wiedervereinigung befunden habe, welche zahlreiche vor dem BVerfG auszutragende Rechtsstreitigkeiten hervorgerufen habe.868 Diejenigen Richter, die eine Verletzung entgegen der Kammermehrheit bejahten, kritisierten besonders, dass das BVerfG für seinen Nichtannahmebeschluss annähernd dreieinhalb

865 Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 89. 866 Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996. 867 Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 50. 868 Ziff. 52–60 des Urteils.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Jahre benötigt hatte.869 Eine Entscheidung im Annahmeverfahren entspräche nicht der Ausübung voller Gerichtsbarkeit des Verfassungsgerichts.870 Von einigen Richtern wurde auch die Ansicht vertreten, eine Sache könne schon nicht komplex sein, wenn das BVerfG dieser andererseits ihre verfassungsrechtliche Bedeutung in einem Nichtannahmebeschluss abspräche.871 Auch die Rolle des Verfassungsgerichts als Hüter der Verfassung entbände dieses nicht von der Pflicht, den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nachzukommen.872 In den Fällen Pammel und Probstmeier berief sich der EGMR auf seine Position als „letzte Instanz“ 873, welche die Einhaltung des Art. 6 Abs. 1 EMRK trotz der Sonderstellung eines Verfassungsgerichts zu überprüfen habe. Nicht gelten ließ der EGMR die Rechtfertigung der deutschen Regierung, das BVerfG leide seit Ende der siebziger Jahre an Arbeitsüberlastung: Lediglich eine zeitweilige Überlastung sei zu entschuldigen, falls der betroffene Staat zügig Abhilfemaßnahmen träfe. Auch die deutsche Wiedervereinigung könne vorliegend nichts zur Entschuldigung des BVerfG beitragen, da im Gegensatz zum Fall Süßmann die vorliegenden Verfahren zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Einigungsvertrages bereits seit mehr als drei Jahren anhängig gewesen seien.874 Ähnliche Erwägungen leiteten den EGMR auch im Fall Gast und Popp, in welchem er insbesondere die vorrangige Behandlung anderer im Zusammenhang mit der deutschen Einigung stehender politischer Verfahren durch das BVerfG für zweckmäßig erachtete.875 Unter Heranziehung derselben Kriterien, im Ergebnis freilich konträr, urteilte der Gerichtshof im Fall Klein: Die deutsche Einigung habe hier nicht entscheidend sein können, da das Verfahren bereits seit dem Jahr 1986 beim BVerfG anhängig gewesen sei. Auch hätte das BVerfG berücksichtigen müssen, dass der Gegenstand des Verfahrens – die Ver-

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Teilweise abweichende Meinung des Richters Casadevall. Hier wird offenkundig Bezug genommen auf den summarischen Charakter des Annahmeverfahrens, in welchem keine Prüfung in der Sache selbst erfolgt. 871 Teilweise abweichende Meinung des Richters Bonnici. 872 Teilweise abweichende Meinung des Richters Jambrek, der sich Richter Pettiti anschließt. 873 Ziff. 68 bzw. Ziff. 63 des Urteils. Was der EGMR mit dieser Formulierung deutlich machen will, lässt sich aus dem Kontext nicht eindeutig erschließen. Zugunsten des EGMR ist davon auszugehen, dass diese Formulierung nicht die letzte Instanz innerhalb eines Instanzenzuges meint, sondern vielmehr deutlich machen will, dass es eben über den höchsten nationalen Gerichten noch einen internationalen Entscheidungsträger gibt. 874 Pammel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17820/91, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 65– 71; Probstmeier ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20950/92, Urt. v. 1. Juli 1997, Ziff. 63–67. 875 Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/95, Urt. v. 25. Februar 2000, Ziff. 75–81. 870

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 295

fassungsmäßigkeit des sog. „Kohlepfennigs“ – eine Grundsatzfrage für viele deutsche Bürger gewesen sei.876 Im Fall Becker hielt der EGMR dem BVerfG zugute, dass die Sache komplex war, was unter anderem aus der achtseitigen Begründung des Nichtannahmebeschlusses hervorgehe. Gleichwohl bejahte er eine Verletzung, weil die deutsche Regierung nicht in der Lage war, die Verzögerungen vor dem BVerfG zu rechtfertigen.877 Dieses Unvermögen indizierte aus Sicht des EGMR das Vorliegen einer Verletzung.878 In den folgenden Judikaten argumentierte der EGMR jeweils auf ähnliche Weise; die Sonderstellung des Verfassungsgerichts wurde zwar jeweils plakativ der Prüfung vorangestellt, konnte sich jedoch im Ergebnis nicht auswirken, da der EGMR die Einhaltung der Erfordernisse des Art. 6 Abs. 1 EMRK im Ergebnis von jedem Gericht fordert – sei es Verfassungsgericht oder Instanzgericht.879 Rechtsvergleichende Erwägungen lässt der EGMR vermissen und behandelt den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz durch die Verfassungsbeschwerde zumeist als Teil eines einheitlichen Rechtszuges. III. „Vereinbarkeit“ mit deutschem Verfassungsrecht 1. Problemstellung Nun kann man dieser Judikatur zur Verfahrensdauer von Verfassungsbeschwerdeverfahren durchaus skeptisch gegenüberstehen: Aus deutscher Sicht ist es wenig befriedigend, dass der EGMR die Verfassungsbeschwerde, die in Deutschland eine besondere Stellung genießt, gleichbehandelt wie ein herkömmliches Instanzverfahren. Sowohl im Rahmen der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK als auch der Angemessenheit der Verfahrensdauer werden die Be876 Klein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 33379/96, Urt. v. 27. Juli 2000, Ziff. 42– 46. Dass das letztgenannte Argument äußerst kritisch zu hinterfragen ist, wurde bereits an anderer Stelle erwähnt. 877 Becker ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45448/99, Urt. v. 26. September 2002, Ziff. 21–23. 878 „Haftung wegen vermuteten Verschuldens“ (vgl. etwa im deutschen Zivilrecht § 280 Abs. 1 S. 2 BGB): Danach wird das Verschulden des Schuldners vermutet; er entgeht der Haftung nur dann, wenn er sich durch Gegenbeweis entlasten kann. 879 Vgl. Hesse-Anger ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45835/99, Urt. v. 6. Februar 2003, Ziff. 32 f.; Kind ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 44324/98, Urt. 20. Februar 2003, Ziff. 50–53; Niederbörster ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 39547/98, Urt. v. 27. Februar 2003, Ziff. 42–45; Trippel ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 68103/01, Urt. v. 4. Dezember 2003, Ziff. 25–32; Voggenreiter ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 47169/ 99, Urt. v. 8. Januar 2004, Ziff. 49–52; Wimmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 60534/00, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 30–34; Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006, Ziff. 129; Nold ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 27250/02, Urt. v. 29. Juni 2006, Ziff. 105.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

sonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens beziehungsweise des Verfassungsbeschwerdeverfahrens in den Ausführungen des Gerichtshofs gewissermaßen als „Zuckerbrot“ vorangestellt und als entscheidungsrelevant hervorgehoben. Die Erwartung, dass diese Besonderheiten dann auch tatsächlich gewürdigt und berücksichtigt werden, wird freilich alsbald enttäuscht. Der EGMR belässt es dabei, diese Sonderstellung gewissermaßen vor die Klammer zu ziehen und darzustellen. Den Schritt hin zu einem Blick durch die „Brille des gerichtsverfassungsrechtlichen Selbstverständnisses der handelnden nationalen Gerichte“ (Wolfgang Hoffmann-Riem)880 wagt er nicht. Aus deutscher Sicht ist diese Vorgehensweise befremdlich, stellt doch die Bundesrepublik dem Bürger einen europaweit einzigartigen Rechtsbehelf zur Verfügung und wurde gleichwohl, gerade wegen dieses „Mehr“ an Rechtsschutz im Vergleich zu den anderen Europaratsstaaten,881 bereits mehrfach wegen überlanger Verfahrensdauer verurteilt. Auch zukünftige Verurteilungen sind – dies belegen die neueren Statistiken nur allzu deutlich – mehr als wahrscheinlich. Man könnte in diesem Zusammenhang aus deutscher Sicht sogar noch weitergehend die Überlegung anstellen, auch die sonstigen verfassungsgerichtlichen Verfahren, besonders die konkrete Normenkontrolle,882 von vornherein aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK auszuschließen. Begründen ließe sich diese Forderung damit, dass jegliche Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der Besonderheiten des Charakters dieses Gerichts überhaupt („oberster Hüter der Verfassung“, „oberstes Verfassungsorgan“) eine Sonderbehandlung durch den EGMR verdienen. Dieser Ansatz greift indes zu kurz: Zum einen bewirkt eine Vorlage nach Art. 100 GG, dass das Instanzverfahren, welches ja auch nach „rein deutschem“ Verständnis einen „zivilrechtlichen Anspruch“ betreffen kann, bis zur Entscheidung über die Vorlage ruht. Instanzgerichtlicher Rechtsschutz wird demzufolge solange nicht gewährt, bis es zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung kommt.883 Sofern im Instanzverfahren zivilrechtliche Ansprüche geltend gemacht wurden, sind diese tatsächlich unmittelbar betroffen. Zum anderen macht der Vergleich mit anderen Europaratsstaaten deutlich, dass die Bundesrepublik nicht der einzige Konventionsstaat ist, welcher ein Verfassungsgericht zur Verfügung stellt – im Gegenteil: Die Mehrzahl der mittel- und osteuropäischen Staaten hat sich für das sogenannte öster-

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Hoffmann-Riem, Kohärenz europäischer und nationaler Grundrechte, S. 476. Hierzu ausführlich unten. 882 Hier ist neben der Verfassungsbeschwerde wohl nur die konkrete Normenkontrolle in Betracht zu ziehen. Die Art. 93 ff. GG enthalten keine weiteren Verfahrensarten, welche der einzelne Bürger anstrengen oder – wie im Falle der konkreten Normenkontrolle – zumindest mittelbar in Gang setzen könnte. Im Falle der übrigen verfassungsgerichtlichen Verfahren ist damit die Anrufung des EGMR im Wege des Individualbeschwerdeverfahrens gar nicht denkbar. 883 Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, S. 1009. 881

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 297

reichisch-deutsche Modell884 entschieden, wonach für die Auslegung und Anwendung des Verfassungsrechts besondere Gerichte eingesetzt werden. Die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle ist auch in einer Vielzahl der übrigen Europaratsstaaten Bestandteil des Rechtssystems. Den Gegenpol bilden Staaten wie etwa die Schweiz, wo die allgemein zuständigen Gerichte inzident auch über die Verfassungsmäßigkeit der von ihnen anzuwendenden Gesetze mitentscheiden (sogenannte „diffuse“ 885 Kontrolle nach amerikanischem Modell).886 Kann so in Bezug auf die Verfassungsbeschwerde mit guter Begründung und unter Verweis auf deren Einzigartigkeit in Europa Gegenteiliges vertreten werden, verbietet sich dies nach hier vertretener Auffassung in Bezug auf die konkrete Normenkontrolle. Der EGMR behandelt diese folglich zu Recht gleich bei der Frage, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar oder gar verletzt ist. Hier ergeben sich auch aus nationaler Sicht keine Anhaltspunkte für eine abweichende Betrachtung. Eine konkrete Normenkontrolle gibt es in vergleichbarer Ausgestaltung wie im deutschen Recht auch in den Rechtsordnungen anderer Konventionsstaaten.887 Kritik verbietet sich hier, da ansonsten der Kontrollmechanismus der EMRK unterlaufen würde: Diese würde im Ergebnis von einem regionalen Menschenrechtsschutzmechanismus in einen lokalen Mechanismus umgewandelt. Die Bundesrepublik würde ohne triftigen Grund hinsichtlich der vor ihrem Verfassungsgericht geführten Verfahren generell anders behandelt als die übrigen Konventionsstaaten. Dies entspricht aber weder dem Willen der Vertragsparteien, noch ist es mit den Zielsetzungen der EMRK, wie sie insbesondere in der Präambel, aber auch im Menschenrechtsteil zum Ausdruck kommen, vereinbar. Die EMRK ist bestrebt, einen in Europa einheitlichen, von einem gemeinsamen Willen getragenen Schutzmechanismus zur Verfügung zu stellen. Eine Sonderbehandlung der verfassungsgerichtlichen Verfahren eines Staates würde diese Zielsetzungen konterkarieren. Aus diesem Grunde wird im Folgenden der Blick ausschließlich auf das Institut der Verfassungsbeschwerde gelenkt.

884 Vgl. hierzu Wahl, Das BVerfG im europäischen und internationalen Umfeld, S. 46 f. 885 Brunner, Zugang des Einzelnen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Raum, S. 191 (193 f.) will allein nach „diffuser“ und nach „konzentrierter“ Verfassungsgerichtsbarkeit unterscheiden. Das Ergebnis dieser Differenzierung unterscheidet sich indes kaum von der Praxis, nach Modellen zu unterteilen. 886 Vertiefend Tomuschat, Das Bundesverfassungsgericht im Kreise anderer nationaler Verfassungsgerichte, S. 251 f. Anschaulich zu beiden Modellen auch Fromont, La justice constitutionnelle dans le monde, S. 41 f. 887 Bsp. in Österreich, Spanien, Portugal, Frankreich – dort freilich nur die vorbeugende Normenkontrolle –, Belgien, Griechenland, Irland, Polen, Ungarn, Bulgarien, in der Türkei und in der Schweiz. Vgl. hierzu die Übersicht bei Zierlein, Die Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung für die Bewahrung und Durchsetzung der Staatsverfassung, S. 301.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

2. Wesen und Genese der Verfassungsbeschwerde a) Entstehungsgeschichte Im Herrenchiemseer Entwurf des Grundgesetzes war die Einführung der Verfassungsbeschwerde zunächst vorgesehen;888 gleichwohl wurde ihre Einfügung in das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat abgelehnt.889 Über die bis heute nicht abschließend geklärten890 Gründe hierfür darf spekuliert werden: Am naheliegendsten ist die These, im Rahmen der eher hektischen Atmosphäre in den Geburtsstunden des Grundgesetzes habe man von diesem Vorhaben deshalb Abstand genommen, weil das Verhältnis einer solchen verfassungsgerichtlichen Kompetenz zur allgemeinen Rechtsweggarantie als problematisch angesehen wurde. Man erachtete den fachgerichtlichen Rechtsschutz als ausreichend und warnte vor Überjudifizierung und Überlastung des BVerfG.891 Hingegen hatte eine Minderheit bereits damals aus rechtsstaatlichen Erwägungen für die Einführung der Verfassungsbeschwerde plädiert.892 Nach den Erfahrungen des „Dritten Reichs“ sollte ein „Hüter der Verfassung“ über die Einhaltung insbesondere der Grundrechte wachen.893 Außerdem war mit der Verfassungsbeschwerde die Hoffnung auf Stärkung der jungen Demokratie verbunden.894 Eine völlig neue Errungenschaft stellte sie gleichwohl nicht dar, war doch bereits im Entwurf der Paulskirchenverfassung von 1849 in § 126g vorgesehen, dass Klagen deutscher Staatsbürger vor dem Reichsgericht „wegen Verletzung der durch die Reichsverfassung ihnen gewährten Rechte“ möglich sein sollten.895 Auch einige Landesverfassungen enthielten bereits eine Verfassungsbeschwerde oder zumindest einen ähnlich ausgestalteten Rechtsbehelf.896

888 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, S. 89. 889 Vgl. Art. 98 Nr. 8 des Verfassungsentwurfs von Herrenchiemsee. Vertiefend Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 641. 890 Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 40. 891 So der Bundesrat in seiner ablehnenden Stellungnahme, BT-Drs. 1/788, S. 46 f. 892 Ausführlich hierzu Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 641. 893 Ruppert in Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 90 Rn. 6. Hans Kelsen bezeichnete bereits im Jahr 1931 als „Hüter der Verfassung“ ein Organ, dessen Funktion es ist, die Verfassung gegen Verletzungen zu schützen (Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 5). Kelsen wendet sich mit dieser Schrift vor allem gegen die von Carl Schmitt vertretene Lehre, der Reichspräsident sei alleiniger Hüter der Verfassung und habe seinerseits wiederum das höchste Gericht zu kontrollieren (Kelsen, aaO, S. 10, 52). Der Ansicht Kelsens zufolge bedarf es dagegen unbedingt einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit, welche die Aufgabe des Hüters der Verfassung wahrnimmt. 894 Hain, Die Individualverfassungsbeschwerde nach Bundesrecht, S. 76 f. 895 Ruppert in Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 90 Rn. 6. 896 Vgl. hierzu Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 363.

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Nichtsdestotrotz blieben Versuche, die Verfassungsbeschwerde in das Grundgesetz aufzunehmen, zunächst erfolglos; lediglich ihre einfachgesetzliche Einführung blieb dem Gesetzgeber durch die Regelung in Art. 93 Abs. 2 GG möglich.897 Durch die „Vertagung des Problems“ 898 setzte sich die Debatte um die Einführung der Verfassungsbeschwerde fort und mündete schließlich in der einfachgesetzlichen Regelung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens im neu eingeführten BVerfGG im Jahr 1951.899 Im Jahr 1956 folgte die Einfügung eines Vorprüfungsverfahrens durch das 1. Änderungsgesetz zum BVerfGG900 – gewissermaßen der Ursprung des später in § 93a BVerfGG statuierten Annahmeverfahrens. Nach § 91a BVerfGG 1956 war die Verwerfung einer Verfassungsbeschwerde durch einen Dreierausschuss aus Richtern des zuständigen Senates möglich,901 wenn entweder „die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage“ nicht zu erwarten war, oder wenn dem Beschwerdeführer „durch die Versagung der Entscheidung zur Sache kein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht“. Ziel dieser Änderung war die Entlastung des BVerfG, welches sich bereits nach fünf Jahren einer Flut von Verfassungsbeschwerden gegenübersah.902 Von Beginn an wurden vor allem Gerichtsentscheidungen mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen. Weniger gefragt war dagegen die „Grundrechtsklage“ unmittelbar gegen Gesetze,903 was insbesondere darauf zurückzuführen ist, dass gegen Maßnahmen der Legislative die Verfassungsbeschwerde regelmäßig schon nicht zulässig ist und in der Regel dabei der gerichtliche Rechtsanwendungsakt oder die auf der Norm basierende Maßnahme der Exekutive angegriffen werden muss. 1963 wurde in der Folge des 3. Änderungsgesetzes zum BVerfGG904 aus dem Vorprüfungsverfahren ein Annahmeverfahren mit Nichtannahmekompetenz der 897 Art. 93 Abs. 2 GG lautet: „Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen tätig.“ 898 Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 641. 899 Dem waren erbitterte Kämpfe um die Ausgestaltung des künftigen Verfassungsbeschwerdeverfahrens vorausgegangen: Der Bundesrat hatte den Regierungsvorschlag, die Verfassungsbeschwerde einzuführen, abgelehnt und war seinerseits mit einer Grundrechtsklage auf den Plan getreten. Die Bundesregierung ließ die Kritik des Bundesrats nicht gelten (Ergänzende Stellungnahme der Bundesregierung zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates, BT-Drs. 1/788, S. 3 f.) und erreichte, dass die Verfassungsbeschwerde, die „am ehesten das Zusammenwachsen von Volk und Verfassung herbeiführen“ und „das demokratische Bewusstsein des Staatsbürgers“ (so der Abgeordnete Wahl [CDU], Sten. Bericht der 112. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 18.01. 1951, S. 4227) stärken könne, fortan Bestandteil des BVerfGG war. 900 Das Vorprüfungsverfahren war geregelt in § 91a BVerfGG (1956), 1. BVerfGGÄndG vom 21. Juli 1956 (BGBl. I S. 662). Bis zu dessen Inkrafttreten waren Verfassungsbeschwerden stets vom Senat zu entscheiden. 901 Hömig, Die Verfassungsbeschwerde im Kammerverfahren, S. 464. 902 Zacher, Die Selektion der Verfassungsbeschwerden, S. 410. 903 Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 642. 904 3. BVerfGG-ÄndG vom 3. August 1963, BGBl. I S. 589.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Richterausschüsse, da die 1956 eingeführten Dreierausschüsse im Rahmen des Vorprüfungsverfahrens immer noch nicht die gewünschte Entlastung des BVerfG brachten. Vornehmlich aus redaktionellen Gründen905 wurde aus der negativen Möglichkeit der Verwerfung (§ 91a Abs. 2 BVerfGG 1956) der positive Vorbehalt der Annahme (§ 93a BVerfGG 1963). Eingang in das Grundgesetz fand die Verfassungsbeschwerde erst durch das 19. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. Januar 1969,906 welches Art. 93 GG um Nr. 4a und Nr. 4b ergänzte. Bezweckt wurde damit, ein Gegengewicht zur Notstandsverfassung zu schaffen.907 Die gleichzeitige Einfügung des Art. 94 Abs. 2 GG ermöglichte die verfassungsrechtliche Zulassung eines besonderen Annahmeverfahrens für Verfassungsbeschwerden.908 Bereits kurze Zeit später, nämlich im Jahr 1970, wurde durch das 4. Änderungsgesetz zum BVerfGG909 § 93a Abs. 3 BVerfGG geändert: Für die Ausübung der Nichtannahmekompetenz bedurfte es nun nicht mehr der offensichtlichen Unbegründetheit der Verfassungsbeschwerde, es genügte vielmehr, wenn ihr hinreichende Aussicht auf Erfolg fehlte. Durch das 5. Änderungsgesetz zum BVerfGG910 wurde schließlich das Annahmeverfahren völlig umstrukturiert: Im Kern war eine Aufwertung der Ausschüsse bezweckt,911 welche ab diesem Zeitpunkt Kammern genannt wurden. Ihre Kompetenzen wurden durch die Regelung in § 93b Abs. 2 BVerfGG 1985 erweitert, wonach die Kammer erstmals einer Verfassungsbeschwerde im Falle ihrer offensichtlichen Begründetheit einstimmig stattgeben konnte.912 Zuletzt wurde das BVerfGG grundlegend913 durch das 6. BVerfGG-ÄndG914 vom 2. August 1993 geändert.915 Seither kann die positive Annahmeentschei905

Clemens/Umbach, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 93 a Rn. 5. BGBl. I S. 97. 907 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 365. Aus selbigem Grund erfolgte bspw. auch die Positivierung des (überkonstitutionell bereits existenten) Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 GG; vgl. etwa Molsberger/Wax, Tatbestand und Korrektur, S. 140 ff. 908 Graf Vitzthum, Annahme nach Ermessen bei Verfassungsbeschwerden?, S. 325. 909 4. BVerfGG-ÄndG vom 21. Dezember 1970, BGBl. I S. 1765. 910 5. BVerfGG-ÄndG vom 12. Dezember 1985, BGBl. I S. 2229. Dieses 5. Änderungsgesetz wird teilweise nur als Änderungsgesetz bezeichnet, da gleichzeitig das DRiG geändert wurde. Folgerichtig benennen einige Autoren das ÄndG 1993 als 5. ÄndG; so etwa Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 371 Fn. 27. 911 Zuck, Die Fünfte Novelle zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, S. 970; Uerpmann, Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung, S. 675. 912 Hierzu kritisch im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG: Benda, Kammermusik, S. 430 f. Ebenso Sendler, Kammermusik II, S. 3291, der darauf hinweist, dass Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt ist, wenn die Kammer entscheidet, obwohl dies Sache des Senats gewesen wäre, weil die Voraussetzungen des § 93b Abs. 2 BVerfGG (1985) nicht vorliegen. 913 Hömig, Die Verfassungsbeschwerde im Kammerverfahren, S. 464. 906

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 301

dung, die zuvor dem Senat vorbehalten blieb, durch die Kammern getroffen werden. Nach der geänderten Fassung löst sich die Entscheidung darüber, ob eine Verfassungsbeschwerde angenommen wird oder nicht, von dem bisher ausschlaggebenden Kriterium der Erfolgsaussicht.916 Die Annahmeentscheidung hängt nunmehr davon ab, ob der Verfassungsbeschwerde „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt“ oder ob sie „zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist“. Die zweite Alternative sollte dem BVerfG einen Spielraum eröffnen, seine Arbeit zumindest ein Stück weit selbst zu gewichten.917 Nicht zuletzt ist dem BVerfG damit auch ein Mittel zu seiner eigenen Entlastung an die Hand gegeben.918 Die Möglichkeit der Stattgabe einer offensichtlich begründeten Verfassungsbeschwerde durch die Kammer wurde in die Neufassung übernommen und ist seither in § 93c Abs. 1 BVerfGG geregelt. b) Gründe für die Einführung der Verfassungsbeschwerde Warum man überhaupt ein Bedürfnis dafür sah, ein Instrument wie die Verfassungsbeschwerde einzuführen, mag erstaunen angesichts eines in Deutschland traditionell919 gut ausgestatteten Rechtsschutzsystems, sowie in Anbetracht dessen, dass die meisten anderen europäischen Rechtsordnungen einen solchen Rechtsbehelf überhaupt nicht vorsehen. Andererseits kann auch ein gut ausgestattetes Rechtssystem verbesserungsfähig sein: Im Rahmen der Beratungen des § 90 BVerfGG wurde vorgebracht, der gerichtliche Rechtsschutz sei immer noch lückenhaft; insbesondere erachtete man den Grundrechtsschutz vor den 914 Zur uneinheitlichen Benennung der beiden letzten Änderungsgesetze vgl. die Ausführungen im vorherigen Absatz. 915 BGBl. I, 1442. Die Neufassung des BVerfGG vom 11. August 1993 ist in BGBl. I S. 1473 bekannt gemacht worden. 916 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 381. 917 Klein, Konzentration durch Entlastung?, S. 2074. Kritisch zu dieser Neuregelung Zuck, Was lässt das 5. Änderungsgesetz zum Gesetz über das BVerfG von der Verfassungsbeschwerde noch übrig?, S. 2643 f. 918 Faller, Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, S. 63. 919 Nicht erst die Bundesrepublik Deutschland kennt ein gut entwickeltes Rechtssystem. Vielmehr ist unser Rechtsschutzsystem als Ausprägung der spezifisch deutschen rechtsstaatlichen Tradition jahrhundertealt. Bereits Friedrich der Große legte ganz im Sinne eines aufgeklärten Monarchen großen Wert auf ein funktionierendes Justizsystem („In den Gerichtshöfen sollen die Gesetze sprechen und der Herrscher soll schweigen.“). So ließ er sogar Richter verhaften, weil er im legendären Müller Arnold-Prozess die Rechte des einfachen Bürgers verletzt glaubte. Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit des Richters und die Beschleunigung des Verfahrens waren das Anliegen der Justizreformer in dieser Zeit (vgl. zum Ganzen Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 250 ff.). Die Verwirklichung der Herrschaft der Gesetze wurde zum ausdrücklichen Ziel erklärt. Diese rechtsstaatliche Tradition setzte sich – abgesehen von der Zeit 1933 bis 1945 – bis in die Gegenwart fort.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Fachgerichten als unzureichend, da die Grundrechtsfrage dort nur eine unter mehreren Rechtsfragen sei. Dagegen maß man einem verselbständigten Verfahren vor einer gesonderten Instanz erhöhte Durchsetzungsfähigkeit zu.920 Die Grundrechte sollten konkretisiert und ihre Entfaltung und Effektivität als „letzte Zuflucht des Bürgers“ 921 gewährleistet werden.922 Nicht zuletzt sollte der Bürger dazu animiert werden, aktiv am Verfassungsleben teilzunehmen. Im Gegenzug sollte dieser aber auch die legitimierende Wirkung abweisender Entscheidungen im Verfassungsbeschwerdeverfahren erfahren.923 Grundsätzlich besteht für den Bürger das uneingeschränkte Recht, im Falle behaupteter Grundrechtsverletzungen das BVerfG im Wege der Verfassungsbeschwerde anzurufen. Dies deutet zunächst auf einen individualschutzrechtlichen Charakter der Verfassungsbeschwerde hin.924 Die Verfassungsgerichtsbarkeit dient demnach dem Schutz des Einzelnen gegen Maßnahmen der Staatsgewalt.925 Umstritten ist indes, inwieweit auch objektivrechtliche Zielsetzungen eine Rolle gespielt haben. Das BVerfG selbst geht offensichtlich von derartigen Zielsetzungen aus926 und betonte früh die Doppelfunktion der Verfassungsbeschwerde.927 Schon Rudolf Jhering hat – freilich in anderem Zusammenhang – geäußert: „Wer sein Recht behauptet, verteidigt innerhalb des engen Raumes desselben das Recht“.928 Eckart Klein geht mit der These, die Verfassungsbe920 Nachweise bei Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 642. Zu den Beratungen des § 90 BVerfGG vgl. die Entwürfe (BT-Drs. 1/788 [Bundesregierung], 1/328 [SPD], BR-Drs. 189/50 [Bundesrat]). 921 BT-Drs. 1/788 [Bundesregierung], S. 35 zu § 84. 922 Rozek, Abschied von der Verfassungsbeschwerde auf Raten?, S. 517. 923 Dabei handelt es sich um ein demokratisches Argument, welches bereits früh für die Verfassungsbeschwerde ins Feld geführt wurde, vgl. Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 642. 924 Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde, S. 100. 925 v. Mangoldt in: Schriftlicher Bericht zum Entwurf des GG, S. 5 f. Vgl. auch Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, S. 89: „. . . um so den Grundrechten ihren vollen Charakter als subjektive Rechte zu geben.“ 926 Teilweise wird diese Folgerung schon aus dem Elfes-Urteil (BVerfGE 6, 32) gezogen, vgl. Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde, S. 186 ff.; dieser Schluss geht indes fehl, da das Elfes-Urteil den umfassenden subjektiven Grundrechtsschutz über den Weg des Art. 2 Abs. 1 GG begründete. Anhaltspunkte für objektivrechtliche Zielsetzungen sind dem Urteil dagegen nicht zu entnehmen. 927 BVerfGE 33, 247 (258 f.); 45, 63 (74); 81, 278 (290); 85, 109 (113). 928 Zitiert bei Merz, „Der Kampf um’s Recht“, Hundert Jahre nach Jhering, S. 84. – Siehe in diesem Zusammenhang auch die verschiedenen Theorien zur Legitimationsgrundlage der strafrechtlichen Notwehr (individualrechtliche oder überindividuelle Legitimation, vgl. hierzu SK-Günther, § 32 Rn. 7 ff.); nach Schmidhäuser ist die Befugnis, Notwehr zu üben, ausschließlich überindividualistisch zu begründen: Wer einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff abwehre, verteidige die „empirische Geltung der Rechtsordnung“ im Sinne einer „Selbstbehauptung des Rechts“, Schmidhäuser, Die Begründung der Notwehr, S. 121.

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schwerde löse sich vom individuellen Rechtsschutz,929 sogar noch weiter. Festzuhalten ist jedenfalls, dass die Formulierungen der Annahmeverfahrensregelungen – gleich welchen Gesetzesstandes – zumindest auch auf den objektivrechtlichen Charakter der Verfassungsbeschwerde abstell(t)en: So konnte bereits gem. § 91a Abs. 2 BVerfGG (1956) die Verfassungsbeschwerde verworfen werden, wenn „von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage [nicht] zu erwarten ist“. Diese objektiven Gesichtspunkte rückten im Lauf der Zeit noch mehr in den Vordergrund.930 Einen vorläufigen Höhepunkt hat die Ausgestaltung des Annahmeverfahrens im Hinblick auf die objektivrechtliche Funktion mit der Neuregelung des § 93a BVerfGG in der heute gültigen Fassung erhalten: Gem. § 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen, soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. Bezeichnenderweise wird im neu gefassten § 93a Abs. 2 BVerfGG dieses objektive Kriterium vor dem subjektiven Kriterium (lit. b) angeführt. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung ist anzunehmen, wenn die Entscheidung des BVerfG der Fortbildung des objektiven Verfassungsrechts dient oder präjudiziell für die Auslegung der Grundrechte ist.931 Die Doppelfunktion der Verfassungsbeschwerde ist damit gerade auch in der aktuellen Fassung des BVerfGG festgeschrieben.932 Vertiefte Ausführungen hierzu würden an dieser Stelle zu weit führen. Festzuhalten ist aber, dass die Verfassungsbeschwerde ganz überwiegend nicht als lediglich mit subjektiver Zielrichtung ausgestatteter Rechtsbehelf angesehen wird; objektiv-rechtliche Aspekte werden ihr genauso zugeschrieben.933 Diese objektiv-rechtliche Funktion wurde freilich auch dazu „missbraucht“, das BVerfG vor der eigenen Überlastung zu schützen. So wurden Verfassungsbeschwerden, die zwar an sich begründet gewesen wären, deren Beschwerdeführer aber nicht mehr mit dem Gegenstand der Hauptsache, sondern nur noch mit Nebenentscheidungen über die Kosten belastet waren, nicht angenommen mit der Begründung, angesichts des Wegfalls der Hauptsache sei die Beschwerde für die Fortbildung des Verfassungsrechts nicht mehr entscheidend.934 Entgegengesetzt 929

Klein, Verfassungsprozessrecht, S. 589 f. Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 652. 931 So schon unter Berufung auf die Gesetzgebungsgeschichte Rinck, Die Vorprüfung der Verfassungsbeschwerde, S. 172. Ebenso Graßhof in Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 83; sowie Uerpmann, Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung, S. 678. 932 Vgl. hierzu auch Graf Vitzthum, Annahme nach Ermessen bei Verfassungsbeschwerden?, S. 324 ff. (326 f.). 933 BVerfGE 94, 49 (84); 94, 166 (214); zutreffend auch Giegerich, Die Verfassungsbeschwerde, S. 104. Den objektiv-rechtlichen Charakter – insbesondere auch im Hinblick auf die deutsche Verfassungsbeschwerde – betont Favoreu, Cours constitutionnelles nationales et CEDH, S. 797. 934 BVerfGE 33, 247 (258); 47, 102 (104 f.). 930

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

verfuhr das BVerfG freilich in seiner Entscheidung zur „Rechtschreibreform“ 935: Es sei geboten, über eine Verfassungsbeschwerde, die im Hinblick auf ihre objektiv-rechtliche Funktion zur Fortbildung des Verfassungsrechts bedeutsam ist und deren Annahme gem. § 93a Abs. 2 BVerfGG bejaht worden war, trotz Rücknahme durch den Beschwerdeführer zu entscheiden.936 Erwähnenswert scheint weiter der generelle Edukationseffekt937, welcher der Verfassungsbeschwerde beigemessen wird938 und mittels welchem die Bürger „mobilisiert“ werden sollen für die Durchsetzung des Verfassungsrechts.939 Damit soll der erzieherische und fallübergreifende Effekt einer Entscheidung zum Ausdruck kommen. Die Verfassungsbeschwerde hat daher auch die Funktion, dem Schutz der Rechtsordnung insgesamt, zumal der Fortbildung des deutschen Verfassungsrechts940 zu dienen. Zuletzt ist auch dem politischen Einschlag, den zahlreiche Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen gerade im Verfassungsbeschwerdeverfahren unzweifelhaft aufweisen, Beachtung zu schenken.941 Selbst wenn das BVerfG immer wieder sein Bestreben zu „political self-restraint“ betont,942 ist das Politische in den Entscheidungen des BVerfG häufig logische Konsequenz des zu behandelnden Gegenstandes. Mitunter scheint es, als ob sich das BVerfG – häufig bedingt durch den Druck von Presse und Öffentlichkeit – geradezu in jene Sphären hineindrängen lässt. Verfassungsrecht ist eben in einer Großzahl der Fälle politikbezogenes Recht, da es in Macht- und Entscheidungspositionen eingreift und so den politischen Prozess reguliert und zugleich stabilisiert.943 Häufig liegt der Fall auch so, dass das BVerfG politisch zweckmäßige und rein juristische Lösungen abzuwägen hat. Beide lassen sich aber oftmals nicht sauber voneinander trennen, weshalb das BVerfG sich mit935

BVerfGE 98, 218 (242 f.). Kritisch hierzu Wagner, Einzelfallentscheidung oder Paradigmenwechsel?, S. 2638 ff.: Das BVerfG habe unter dem Vorwand, die objektiv-rechtliche Funktion der Verfassungsbeschwerde gebiete eine Entscheidung in der Sache, trotz Rücknahme der Verfassungsbeschwerde entschieden (S. 2639). Tatsächlich seien aber politische Gründe vorrangig gewesen (S. 2640). Angesichts der Öffentlichkeitswirksamkeit des Themas „Rechtschreibreform“ habe man nicht auf eine Entscheidung in der Sache verzichten wollen. Ähnlich Wißmann, Wo kein Kläger, da kein Richter, S. 152 ff.: Mit dem Verweis auf die objektiv-rechtliche Funktion lässt sich seiner Auffassung zufolge die Entscheidung in der Sache juristisch nicht begründen. 937 BVerfGE 33, 247 (259); 45, 63 (74); 51, 130 (139). Klein, Zur objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde, S. 798. 938 Ruppert in Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 90 Rn. 11. 939 Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 654 ff.; grundlegend hierzu Masing, Die Mobilisierung der Bürger für die Durchsetzung des Rechts. 940 Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 650; Rühl, Die Funktion der Verfassungsbeschwerde, S. 161 ff. 941 Vertiefend Scholz, Staatsleitung im parlamentarischen Regierungssystem, S. 665. 942 BVerfGE 36, 1 (14); 62, 1 (39); 67, 100 (129 f.). 943 Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 11; Borm, Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer, S. 149 f. 936

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unter dem Vorwurf ausgesetzt sieht, diese oder jene Entscheidung sei wieder einmal rein politisch bedingt und wohl aufgrund der „Farbe“ der jeweiligen Senatsmehrheit zustande gekommen. Eine politische Funktion nehmen die Entscheidungen des BVerfG insbesondere dann wahr, wenn das Gericht den Gesetzgeber zu einer Gesetzesänderung auffordert und deren Umsetzung überwacht.944 Die politische Dimension verfassungsgerichtlicher Entscheidungen wird in manchem Fall nicht zuletzt durch Stellungnahmen von – zumal an der Entscheidung beteiligten – Richtern in der Presse gefördert.945 c) Das Annahmeverfahren Das Annahmeverfahren weist zusätzliche Besonderheiten auf, die möglicherweise im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK bedeutsam werden können. Dessen Verfahrensregelungen ist gemeinsam, dass sie ein Vorprüfungsverfahren vorsehen, welches der von Anbeginn erheblichen Belastung des BVerfG mit Verfassungsbeschwerden Rechnung tragen soll. Man wollte dem BVerfG ein Instrument an die Hand geben, um der Mengen von hereinströmenden Verfassungsbeschwerden Herr zu werden. Die Struktur dieses „Abfangjäger“-Schemas (Udo Steiner)946 stellt sich wie folgt dar: Seit dem 3. Änderungsgesetz des BVerfGG von 1963 bedarf die Verfassungsbeschwerde positiv der Annahme zur Entscheidung.947 Die Entscheidung hierüber blieb bis 1993 dem Senat vorbehalten; erst mit dem 6. Änderungsgesetz von 1993 wurde diese Kompetenz auch den Kammern zugesprochen. Die Annahmevoraussetzungen stellten von 1963 bis 1993 im Kern auf die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde ab, während noch nach der Regelung von 1956 grundsätzlich die Annahme der Verfassungsbeschwerde vorausgesetzt wurde; lediglich unter den Voraussetzungen, dass weder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zur erwarten war, noch dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer Nachteil entstand, konnte die Verfassungsbeschwerde verworfen werden. Schon die Einfügung des § 91a BVerfGG in jener Fassung geschah vor dem Hintergrund starker Belastung des BVerfG. Verfassungsbeschwerden gegen diese Regelung mit der Begründung, angesichts der Entscheidung durch den 944 Äußerst kritisch hierzu Scholz, Das Bundesverfassungsgericht: Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber?, S. 3 ff. (7 ff.). 945 Besonders „aktiv“ ist dabei der Richter und spätere Präsident des BVerfG HansJürgen Papier (FAZ v. 14. September 2003: „Entmachtung des Bundestages“; FAZ v. 9. Dezember 2004: „Straßburg ist kein oberstes Rechtsmittelgericht“; FAZ v. 15. Juni 2006: „Rückbau beim Sozialstaat“; „Die Welt“ v. 17. Juli 2006: „Verlustgeschäft bei der Rente“). 946 Zitiert bei Graf Vitzthum, Annahme nach Ermessen bei Verfassungsbeschwerden?, S. 324. 947 Ziel dessen war und ist die Entlastung des BVerfG, vgl. Uerpmann, Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung, S. 673.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Ausschuss anstelle des Senats sei Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt, wurden bereits früh zurückgewiesen mit dem Argument, der Ausschuss sei „das BVerfG“. Gegen seine Entscheidung gebe es keinen Rechtsbehelf zum Senat.948 Die Nichtannahmeentscheidung nach der Fassung von 1956 sowie die positive Annahmeentscheidung in den Fassungen ab 1963 konnten jeweils durch einstimmigen Beschluss erfolgen. Eine mündliche Verhandlung ist nach keiner Gesetzesfassung erforderlich. Die Ablehnung der Annahme zur Entscheidung bedarf nach keinem Gesetzesstand der Begründung.949 Da nach dem 6. Änderungsgesetz auch den Kammern die Befugnis zugesprochen wurde, über die Annahme der Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, ergaben sich neue Kompetenzen sowie ein weiter Entscheidungsspielraum für das BVerfG. Dies nahm das Gericht zum Anlass, in voller Senatsbesetzung ausführlich zu klären, wie die Voraussetzungen der §§ 93a ff. BVerfGG auszulegen sind.950 Die Einführung des Annahmeverfahrens hat dazu geführt, dass derzeit durchschnittlich etwa 97% aller eingehenden Verfassungsbeschwerden gleich zu Beginn ausgeschieden werden. Im Jahr 2005 wurden von 4.967 eingegangenen Beschwerden 4.666 durch Nichtannahmeentscheidung der Kammer erledigt. Erfolg hatten letztlich nur 0,027% der Beschwerden. Durchschnittlich 73% der Kammerentscheidungen ergehen ohne Begründung.951 Die beschriebene Praxis des EGMR, auch das Annahmeverfahren, überdies mittlerweile kommentarlos, in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK einzubeziehen, gleich ob eine ausführlich begründete Nichtannahmeentscheidung erfolgte, oder ob die Verfassungsbeschwerde ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen wurde, erscheint – zumal aus nationaler Sicht – auf den ersten Blick zumindest fragwürdig. Nichtannahmeentscheidungen ergehen meist ohne Begründung, § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG. Auch wird nicht unmittelbar über die Verfassungsbeschwerde selbst entschieden, sondern nur über das Nichtvorliegen eines der Annahmegründe des § 93a Abs. 2 BVerfGG. Das Annahmeverfahren stellt aus diesem Grunde kein Sachentscheidungs-, sondern vielmehr ein reines Vorschaltverfahren dar.952 948 BVerfGE 7, 241 (243); entsprechend zu § 93a BVerfGG (1963): BVerfGE 18, 34 (36); 18, 440 (441); 19, 88, (90, 92). 949 § 93a Abs. 5 S. 1 BVerfGG (1963); § 93b Abs. 3 BVerfGG (1985) – hier genügte anstelle einer Begründung der Hinweis auf den für die Ablehnung maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt; § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG (1993). Zur Entbehrlichkeit der Begründung kritisch Zeidler, Die Verfassungsbeschwerde nach deutschem Recht als Mittel des Individualrechtsschutzes, S. 347 – „Häufig enthalten sie nur eine kurze Begründung, nicht selten im Telegrammstil, und in vielen Fällen wird von einer Begründung überhaupt abgesehen.“ 950 BVerfGE 90, 22 (24 f.); 96, 245 (249) = EuGRZ 1998, 242 (243). 951 Statistiken zum Ganzen abrufbar unter http://www.bundesverfassungsgericht.de/ cgi-bin/link.pl?aktuell. 952 Lechner/Zuck, BVerfGG, vor § 93a, Rn. 5.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 307

Wird eine Verfassungsbeschwerde angenommen und entscheidet der Senat nachfolgend auch über deren Begründetheit, lässt sich der Einbeziehung in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK auch aus nationalem Blickwinkel eher zustimmen. Immerhin hat das BVerfG in diesem Fall eine Entscheidung über die Begründetheit der Beschwerde getroffen und sich mit den Grundrechten des Betroffenen auseinandergesetzt. Man könnte also sagen, das Gericht habe – zumindest indirekt – auch eine Entscheidung über die dahinterstehenden „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“, die Gegenstand des vorhergehenden Instanzverfahrens waren,953 getroffen.954 Wurde nämlich im Instanzgerichtsverfahren über einen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK zivilrechtlichen Anspruch zu Ungunsten des Betroffenen entschieden, der sodann Verfassungsbeschwerde erhoben hat, so würde im Falle des Erfolges der Verfassungsbeschwerde – der angesichts der erfolgten Annahme nicht mehr völlig unwahrscheinlich ist – die instanzgerichtliche Entscheidung aufgehoben (§ 95 i.V. m. § 79 BVerfGG), sofern diese auf dem Grundrechtsverstoß beruht. Dies wird, jedenfalls in Zivilgerichtsverfahren, erfordern, dass im Wege der Verfassungsbeschwerde zumindest auch materielle, den vor den Instanzgerichten geltend gemachten Anspruch betreffende Grundrechtsverletzungen behauptet wurden. Andernfalls käme es aufgrund des Erfordernisses des Ursachenzusammenhangs nicht zu einer Aufhebung der zugrundeliegenden Entscheidung.955 Ist die Beruhensfrage zu verneinen – dies kommt dann in Betracht, wenn der Bf. mit der Verfassungsbeschwerde lediglich die Dauer vor den zivilgerichtlichen Instanzgerichten rügt, da sich auch die Feststellung eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot nicht auf die zugrundeliegende materielle Entscheidung des Instanzgerichts auswirkte956 – ist die Einbeziehung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK umso kritischer zu hinterfragen: Hier könnte sich die bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung doch unter keinen Umständen auf die zugrundeliegende instanzgerichtliche Entscheidung auswirken. Hiergegen lässt sich einwenden, dass auf diese Weise Ma953 Im Fall der Gesetzesverfassungsbeschwerde greift freilich auch dieser Begründungsansatz zu kurz. 954 Mit „zivilrechtlichen Ansprüchen“ sind hier wiederum nur diejenigen Verfahren gemeint, die sich unter Berücksichtigung des gemeinsamen Nenners als „zivilrechtlich“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK einordnen lassen. Verfahren, die nach keiner Rechtsordnung eines Konventionsstaates als „zivilrechtlich“ zu klassifizieren sind – etwa steuerrechtliche Verfahren oder öffentlichrechtliche Erlaubnisverfahren wie im Fall König – können auch nicht über den oben beschriebenen Weg in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK einbezogen werden. 955 Vgl. hierzu Schmidt-Bleibtreu in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 95 Rn. 25. 956 Selbst die Feststellung des BVerfG, ein Verstoß der Instanzgerichte gegen das Beschleunigungsgebot sei zu bejahen, ändert ja nichts an der instanzgerichtlichen inhaltlichen Entscheidung. Die Entscheidung wäre inhaltlich auch bei zügigem Verfahrensgang nicht anders ausgefallen.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

nipulationen seitens der Beschwerdeführer Tür und Tor geöffnet wäre: Ein Beschwerdeführer würde nämlich in Kenntnis jener Differenzierung neben der eigentlich angestrebten Entscheidung des BVerfG über die geltend gemachte Verletzung des Gebots angemessener Verfahrensdauer zusätzlich stets die Verletzung eines materiellen Grundrechts behaupten, sei dies auch offensichtlich nicht gegeben. Rein theoretisch betrachtet wäre die Beruhensfrage dann zu bejahen, da im unterstellten Fall des Erfolges der Verfassungsbeschwerde hinsichtlich beider geltend gemachter Grundrechtsverletzungen die Aufhebung der Instanzgerichtsentscheidung tatsächlich realistische Folge wäre. Ein solches Ergebnis befremdet. Eine Differenzierung nach den Rechtsfolgen der Verfassungsbeschwerde – lediglich Feststellung der Verfassungswidrigkeit (§ 95 Abs. 1 BVerfGG) oder zusätzlich Aufhebung der zugrundeliegenden Entscheidung (§ 95 Abs. 2 BVerfGG) – ist unter diesem Aspekt nicht angebracht. Im Strafverfahren kann sich die Situation dagegen abweichend darstellen: Rügt der Bf. mit der Verfassungsbeschwerde lediglich die Dauer des instanzgerichtlichen Strafverfahrens, so kann sich die verfassungsgerichtliche Entscheidung durchaus auf die instanzgerichtliche Entscheidung auswirken: Da nach ständiger Strafrechtsprechung die überlange Dauer eines Strafverfahrens im Rahmen der Strafzumessung zumindest strafmildernd957 zu berücksichtigen ist, im Falle besonders langer Verfahrensdauer sogar zur Einstellung des Strafverfahrens führen kann,958 kann sich die verfassungsgerichtliche Entscheidung hier im Gegensatz zu zivilgerichtlichen Verfahren sogar dann auswirken, wenn lediglich die Dauer des Verfahrens vor den Instanzgerichten gerügt wird. Problematisch erscheint gleichwohl die Konstellation, in der die Verfassungsbeschwerde schon gar nicht zur Entscheidung angenommen wurde, zumal noch ohne Begründung. In diesem Fall könnte man folgenden Schluss ziehen: Wenn sich das BVerfG aufgrund der Nichtannahme der Beschwerde schon nicht mit den Grundrechten des Betroffenen im Rahmen der Begründetheitsprüfung auseinandergesetzt hat, so kann dies auch keine – auch nicht mittelbare – Entscheidung über die zivilrechtlichen Ansprüche des Betroffenen darstellen, entscheidet doch das Gericht hier an sich selbständig und unabhängig von Zulässigkeit und Begründetheit der Sache lediglich über die Annahme des Verfahrens.959 Noch drastischer stellt sich die Situation dar, in der eine Verfassungsbeschwerde, etwa aufgrund eines formellen Mangels, als unzulässig verworfen wird. Früher – das heißt unter Geltung der vor dem Änderungsgesetz von 1993 erlassenen Annahmeverfahrensregelungen, welche unter anderem vorsahen, dass die Kammer 957

Vgl. Tröndle/Fischer, StGB, § 46 Rn. 62. Vgl. OLG Frankfurt, NStZ-RR 1998, 52; Tröndle/Fischer, StGB, § 46 Rn. 63. Wenn der Verfahrensverstoß besonders schwer wiegt, kann dies unter Umständen sogar zur Verfahrenseinstellung durch das BVerfG selbst führen, vgl. BVerfG, NJW 2003, 2225 (2228). 959 Lechner/Zuck, BVerfGG, vor § 93a Rn. 5. 958

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 309

auch im Falle der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde berechtigt ist, deren Annahme aus diesem Grunde zu verweigern960 – hatte der EGMR soweit ersichtlich eine ausdrücklich als unzulässig verworfene Verfassungsbeschwerde mangels Entscheidung des BVerfG über die Ansprüche des Betroffenen nicht in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK einbezogen.961 Nach § 93a BVerfGG der aktuellen Fassung von 1993 kann indes die Annahme einer Verfassungsbeschwerde nurmehr aus zwei Gründen abgelehnt werden: mangelnde grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung oder Nichtangezeigtsein zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte. Die Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ist im Gegensatz zu den Vorgängerfassungen ausdrücklich nicht mehr erwähnt. Dies bedeutet, dass die Kammer die Annahme einer Verfassungsbeschwerde eben nur aus jenen zwei Gründen ablehnen kann und die Zulässigkeitsentscheidung allein vom Senat getroffen wird. Durch die Kammer kann eine Verfassungsbeschwerde nicht als unzulässig verworfen oder zurückgewiesen werden.962 Die Praxis des BVerfG sieht freilich anders aus:963 Letztlich contra legem behandeln die Kammern auch die Zulässigkeitsfrage mit, obwohl diese nach der gesetzlichen Regelung dem Senat vorbehalten ist. Einheitlich geht das BVerfG hierbei nicht vor: So wird die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde teilweise im Rahmen der Annahmevoraussetzungen erörtert;964 teilweise wird sie aber auch vor die Klammer der unterschiedlichen Annahmegründe gezogen.965 Begründen lässt sich diese Vorgehensweise allenfalls mit dem Argument der Prozessökonomie.966 Angesichts einer solch uneinheitlichen Handhabung kann nur schwerlich unterschieden werden, ob die Verfassungsbeschwerde nun lediglich aufgrund eines formellen Mangels und damit ohne Begründetheitsentscheidung nicht zur Entscheidung angenommen wurde, oder ob sich die Kammer mit materiellrecht-

960 § 93a Abs. 3 BVerfGG (1963), § 93a Abs. 3 BVerfGG (1970), § 93b Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG (1985). 961 Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 27; so im Übrigen auch die KOM in ständiger Praxis, vgl. Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 25. 962 Graßhof in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 38. So im Ergebnis auch Hömig, Die Verfassungsbeschwerde im Kammerverfahren, S. 469. 963 Graßhof in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 42 f.; Hömig, Die Verfassungsbeschwerde im Kammerverfahren, S. 470. 964 So bspw. in BVerfG, Beschl. v. 18. November 1994 – 2 BvR 1952/93 = DVBl 1995, 147 f.; BVerfG, Beschl. v. 15. März 1999 – 2 BvR 375/99; und BVerfG, Beschl. v. 25. April 2005 – 1 BvR 644/05. 965 Nachweise bei Uerpmann, Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung, S. 684. 966 Häufig ist die Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde sicherer und schneller festzustellen als die Einschätzung, der Grundrechtsverstoß habe kein besonderes Gewicht.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

lichen Fragen auseinandergesetzt hat. Mutmaßungen hierüber kämen reiner Spekulation gleich. Der objektive Betrachter sieht sich einem begründungslosen Nichtannahmebeschluss gegenüber, über dessen Einbeziehung in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu entscheiden ist. Als gesetzliche Grundlage steht lediglich § 93a BVerfGG zur Verfügung, der nicht von Zulässigkeitsfragen spricht, sondern die Ablehnung der Annahme allein aufgrund materiellrechtlicher Gründe zulässt. Konsequenterweise kann daher zwischen Zulässigkeits- und Begründetheitsaspekten, die jeweils zur Nichtannahme geführt haben, nicht unterschieden werden.967 Entsprechend geht der EGMR vor: Er bezieht Nichtannahmebeschlüsse – gleich aus welchem Grund – diskussionslos in den Anwendungsbereich mit ein,968 so jüngst einen Nichtannahmebeschluss, der auf mangelnde Substantiierung der möglichen Rechtsverletzung, also auf eine Zulässigkeitsfrage, gestützt war.969 Vorgeworfen werden kann dem Gerichtshof diese mangelnde Differenzierung angesichts der oben beschriebenen Praxis des BVerfG kaum. Die Möglichkeit, hierüber differenziert zu entscheiden, wird durch die gängige Praxis des BVerfG selbst, Nichtannahmeentscheidungen völlig ohne Begründung zu erlassen, genommen. Das Problem lässt sich vielmehr darauf reduzieren, ob ein Verfassungsbeschwerdeverfahren, welches mit einem Nichtannahmebeschluss endete – gleich aus welchem Grund –, sich noch weitaus weniger als „Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen“ darstellt als ein Verfassungsbeschwerdeverfahren, welches zur Entscheidung angenommen wurde und in den Senat gelangte. Man kann nämlich im Falle einer nichtangenommenen Verfassungsbeschwerde durchaus von einer „Nichtentscheidung“ über den Rechtsbehelf selbst970 sprechen. Eine Nichtannahmeentscheidung entfaltet mangels Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde keine materielle Rechtskraft. Ebenfalls fehlt ihr die Bindungswirkung im Sinne von § 31 Abs. 1 BVerfGG.971 Mit gutem Grunde lässt sich daher aus rein verfassungsrechtlicher Sicht vertreten, dass eine solche „Nichtentscheidung“ mangels tatsächlicher und materiell rechtskräftiger Entscheidung in der Sache Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht subsumiert werden kann. Die verwischende Handhabung des BVerfG zeigt bereits aus nationaler Sicht, dass sich eine Unterscheidung nach Annahme- oder Nichtannahmebeschluss letztlich als nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung darstellen würde. Zu einer Sonderbehandlung des Annahmeverfahrens durch den EGMR besteht daher kein Anlass. Zum Zweiten 967

Petersen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 68891/01, Entsch. v. 12. Januar 2006. Matscher, Art. 6 EMRK und verfassungsgerichtliche Verfahren, S. 450. 969 Uhl ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 64387/02, Urt. v. 10. Februar 2005, Ziff. 26. 970 So Hömig, Die Verfassungsbeschwerde im Kammerverfahren, S. 467; Graßhof in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 47; sowie Schlaich/ Korioth, Das BVerfG, Rn. 268. 971 BVerfGE 23, 191 (207). 968

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 311

ist fraglich, ob der EGMR diese rein deutschen verfahrensrechtlichen Fragen überhaupt zu beachten hat.972 Es mag vielleicht aus nationalem Blickwinkel so scheinen, als habe der EGMR die Besonderheiten und Voraussetzungen des deutschen Annahmeverfahrens „wohl noch nicht wirklich zur Kenntnis genommen“ (Renate Jaeger).973 Möglicherweise wird sich dies nach Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14 ändern;974 danach soll es dem EGMR möglich sein, eine Individualbeschwerde nicht anzunehmen, wenn der Bf. keinen besonderen Nachteil erlitten hat, es sei denn, die Beachtung der garantierten Menschenrechte erfordert eine Überprüfung dem Grunde nach, oder die Sache ist von einem nationalen Gericht nicht angemessen geprüft worden. Hier werden gewisse Ähnlichkeiten mit dem deutschen Annahmeverfahren sichtbar. Möglicherweise wird dies den Gerichtshof auch zu einer abweichenden Betrachtungsweise hinsichtlich des deutschen Annahmeverfahrensrechts bewegen. Nach derzeitigem Gesetzesstand kann ihm in Bezug auf seine bisherige Praxis freilich kein Vorwurf gemacht werden. Insbesondere im Falle einer mangels Zulässigkeit derselben nichtangenommenen Beschwerde, die ohne Begründung beschieden wurde, drängt sich dies auf: Hier kann man sich mit Fug und Recht auf den Wortlaut des § 93a BVerfGG stützen, wonach allein die fehlende grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung oder das mangelnde Angezeigtsein der besagten Rechte ausschlaggebendes Kriterium sein kann. Man kann daher durchaus sagen, dass eine „Entscheidung über die besagten Ansprüche“ tatsächlich stattfand. Ob die Voraussetzungen des § 93a BVerfG auch praktiziert werden, ist eigentlich nicht „das Problem des EGMR“. Auch aus nationaler Sicht kann angesichts einer innerstaatlich nicht den gesetzlichen Voraussetzungen verhafteten Praxis nicht gefordert werden, dass zwischen Annahme und Nichtannahme zu differenzieren sei. Das BVerfG selbst hat hierzu mit seiner Handhabung nicht nur unerheblich beigetragen. Wenn schon das BVerfG sich hier nicht an das nationale Verfahrensrecht hält, kann die deutsche Rechtsordnung umgekehrt nur schwerlich verlangen, dass das (Nicht)Annahmeverfahren von den Konventionsorganen abweichend behandelt wird. Ob diese – rein die nationale Sicht verkörpernden – Aspekte überhaupt für die Beurteilung des vorliegenden Problems ausschlaggebend sein können, ist 972

Auf diese Frage wird im Folgenden noch vertieft eingegangen werden. Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, S. 202. 974 Das Protokoll Nr. 14 wurde am 13. Mai 2004 zur Zeichnung aufgelegt. Die Bundesrepublik Deutschland hat am 10. November 2005 ratifiziert (BT-Drs. 16/19, 20. November 2005). Das Protokoll sollte eigentlich noch vor Mai 2006 in Kraft treten. Vertiefte Nachweise bei Keller/Bertschi, Erfolgspotenzial des 14. Protokolls zur EMRK, S. 204 ff.; Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, S. 202 f.; sowie Luzius Wildhaber, Präsident des EGMR, in einer Rede vom 20. Januar 2006 anlässlich der Eröffnung des Juristischen Jahrs, S. 7 ff., abrufbar unter http://www.echr.coe.int/ NR/rdonlyres/. 973

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

überdies eine andere Frage und wird im folgenden Kapitel noch zur Sprache kommen. d) Charakter der Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf Häufig ist zu lesen, die Verfassungsbeschwerde sei ein außerordentlicher Rechtsbehelf.975 Es ist die Rede von der „,Königin‘ der Wege zum Verfassungsgericht“ 976, „vom Schlussstein des in der Rechtsstaatlichkeit verankerten Gerichtsschutzes“,977 oder aber von der „juristischen und politischen Perle im Kompetenzgeflecht des BVerfG“,978 welche bewirke, dass das BVerfG „zum Bürgergericht par excellence“ 979 avanciere. Außerordentliche Rechtsbehelfe lassen sich ganz allgemein dadurch charakterisieren, dass sie nicht generell, sondern nur bei Vorliegen zusätzlicher Faktoren gewährt werden.980 Entsprechend wird die Verfassungsbeschwerde dem Bürger „zum Schutz seiner Grundrechte zusätzlich zu dem ausgebauten Rechtsschutzsystem“ 981 gewährt. Einen außerordentlichen Rechtsbehelf stellt die Verfassungsbeschwerde – rein formell betrachtet – bereits deshalb dar, weil sie „nicht zum Instanzenzug gehört“ 982 und ihre Einlegung keine aufschiebende Wirkung zeitigt.983 Letzteres wird dadurch untermauert, dass vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde grundsätzlich der Rechtsweg zu erschöpfen ist, mithin eine rechtskräftige Entscheidung erforderlich ist. Das Rechtswegerschöpfungsgebot stellt eine gesetzliche Ausprägung des Subsidiaritätsgrundsatzes dar (§ 90 Abs. 2 BVerfGG).984 Der Subsidiaritätsgrundsatz wird gemeinhin als im Verfassungsrecht verankertes985 „Wesensmerkmal“ 986 des außerordentlichen Rechtsbehelfs 975

Vgl. nur BVerfGE 18, 315 (325); 49, 252 (258). Häberle, Die Verfassungsbeschwerde im System der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 112. 977 Stern in Stern/Sachs, Staatsrecht III/2, S. 1291; Rozek, Abschied von der Verfassungsbeschwerde auf Raten?, S. 517. 978 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 476 979 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 476. 980 BVerfGE 51, 130 (139): „Verfahrensrechtlich ist sie [die Verfassungsbeschwerde] als außerordentlicher Rechtsbehelf ausgestaltet, der nur unter wesentlich engeren Voraussetzungen zulässig ist als die allgemeinen Rechtsmittel des einfachen Rechts.“ Nachweise zum Begriff der Außerordentlichkeit von Rechtsbehelfen bei Seidel, Außerordentliche Rechtsbehelfe, S. 38. 981 BVerfGE 68, 376 (379); Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 645. 982 BVerfGE 1, 3 (4); 1, 5 (6); 1, 332 (344); 79, 365 (367); anschaulich Rozek, Abschied von der Verfassungsbeschwerde auf Raten?, S. 521. 983 Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde, S. 33; Borm, Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer, S. 91. 984 BVerfGE 51, 130 (139). 985 BVerfGE 42, 243 (249); 55, 244 (247). 976

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 313

der Verfassungsbeschwerde erachtet. Die Besonderheit der Verfassungsbeschwerde liegt ferner darin, dass allein mit ihrer Hilfe die Kontrolle aller drei staatlichen Gewalten auf ihr verfassungsmäßiges Verhalten in die Hand eines einzigen zentralen Gerichts gelegt wird.987 Nicht zu ihren Aufgaben gehört hingegen, Rechtsmittel, die nach anderen Prozessordnungen gegeben sind, zu ersetzen.988 Aus diesem Grund handelt es sich beim BVerfG auch nicht um ein „Prozessgericht“.989 Als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erachtet es das BVerfG daher, wenn ein Gericht die Prüfung der Rüge, die Vorinstanz habe das rechtliche Gehör verletzt, mit der Begründung ablehnt, hierfür stehe dem Betroffenen die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung.990 Aufgabe der Verfassungsbeschwerde ist es somit nicht, für die Instanzgerichte „als Pannenhelfer“ 991 in die Bresche zu springen und deren Entscheidungen auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen, sondern vielmehr als letzter und zugleich subsidiärer Rechtsbehelf992 zur Verfügung zu stehen, wenn die Verletzung von Grundrechten in Frage steht. Entsprechend betont das BVerfG stets, dass rechtskräftige Entscheidungen der Gerichte nur ausnahmsweise in Frage gestellt werden sollen.993 Es ist sich dabei des Spannungsverhältnisses zwischen seiner eigenen Judikation und jener der Fachgerichtsbarkeit bewusst und versteht deshalb seine eigene Tätigkeit als subsidiär.994 Hintergrund dessen mag wohl vor allem die Befürchtung des Gerichts sein, der eigenen Überlastung nicht mehr Herr werden zu können.995 Auf der anderen Seite betont das BVerfG seine herausragende Stellung und Sonderrolle996 im Staatsgefüge.997 Die exponierte Stellung des BVerfG – „Herzkammer des Grundgesetzes“ (Peter Häberle)998 – ist bei der Charakterisierung des außerordentlichen Rechtsbehelfs der Verfassungsbeschwerde eben986

BVerfGE 71, 305 (335 ff.); 79, 275 (278 f.); BVerfG, NVwZ 89, 854 (855). Schlaich/Korioth, Das BVerfG, Rn. 204; so auch Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts II, S. 1637. 988 BVerfGE 49, 252 (258). 989 BVerfGE 49, 252 (258). 990 BVerfGE 49, 252 (258). 991 Voßkuhle, Bruch mit einem Dogma, S. 2194. 992 BVerfGE 22, 287 (290); 49, 252 (258). 993 Vgl. nur BVerfGE 68, 376 (380). 994 Dies sei auch erforderlich, um zu gewährleisten, dass die besondere Funktion und die Funktionsfähigkeit des BVerfG erhalten bleibt, BVerfGE 51, 130 (139); 69, 122 (126). 995 Ähnlich Tietje, Die Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 283. 996 Borm, Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer, S. 148. 997 Papier, Das Grundgesetz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 17 f. 998 Häberle, Funktion und Bedeutung der Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive, S. 685. 987

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

falls zu berücksichtigen. Das BVerfG ist oberstes Verfassungsorgan;999 als solchem kommt ihm im Staatsgefüge eine herausragende Stellung zu.1000 Gleichzeitig ist es Organ der rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 GG) und übt somit gewissermaßen eine Doppelrolle aus, aus welcher sich korrespondierend auch Eigentümlichkeiten ergeben: Erwähnt seien hier nur die Geschäftsordnungsautonomie des BVerfG, die fehlende Zugehörigkeit zu einem Ministerium,1001 das Nichtvorhandensein einer Dienstaufsicht, sowie einzelne protokollarische Eigenarten. Wie sich das BVerfG selbst versteht, hat es bereits früh in seiner berühmten Statusdenkschrift vom 27. Juni 19521002 beschrieben: Es begreift sich als „Hüter der Verfassung“ 1003, „Herr des Verfahrens“, ein „mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan“ und als „richterliche Körperschaft sui generis“ 1004, woraus sich zugleich ergebe, dass es weder einem anderen obersten Bundesorgan noch einer Bundesbehörde unterstellt sein könne.1005 Zugleich sei damit ausgeschlossen, dass das BVerfG mit demselben Maß wie ein ordentliches Zivil- oder Strafgericht zu messen ist.1006 Im Gegensatz zu den ordentlichen Gerichten stehe es „weniger im Dienste subjektiver Rechtsverfolgung als objektiver Bewahrung des Verfassungsrechts“,1007 welches gewissermaßen als „Suprarecht“ 1008 alle Rechtsgebiete durchdringe. Diese Sonderstellung wird durch das Institut der Verfassungsbeschwerde zusätzlich bestätigt: Diese gehört nicht zum Rechtsweg; im Rahmen der Überprüfung einer Verfassungsbeschwerde beschränkt sich das BVerfG auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.1009 Zwar ist die Überprüfung eines Sachverhalts am Maßstab des Verfassungsrechts bereits Aufgabe der Fachgerichte; 999 Dies ergibt sich implizit aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 BVerfGG; vgl. hierzu Umbach in Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 1 Rn. 8; Engelmann, Prozessgrundsätze im Verfassungsprozessrecht, S. 98 f.; sowie Schumann, BVerfG, Grundgesetz und Zivilprozess, S. 184. 1000 Papier, Gericht und Verfassungsorgan – der Status des Bundesverfassungsgerichts, in: Limbach, Das BVerfG, S. 27. 1001 Cum grano salis also Parallelen bspw. zur Deutschen Bundesbank, vgl. Art. 88 GG. – Hierzu bspw. Klein, Die verfassungsrechtliche Problematik des ministerialfreien Raumes, S. 215. 1002 Denkschrift abgedruckt nebst Materialien in: JöR 1957, S. 109 ff. (144 ff.). 1003 BVerfGE 1, 396 (408); 13, 54 (94); 36, 342 (357); 60, 175 (213). 1004 Denkschrift des BVerfG, JöR 1957, S. 120. 1005 Denkschrift des BVerfG, JöR 1957, S. 144. 1006 BVerfGE 2, 79 (86). 1007 BVerfGE 2, 79 (86). 1008 Kloepfer, Vom Zustand des Verfassungsrechts, S. 481. 1009 BVerfGE 70, 288 (294); 72, 119 (121); 75, 302 (312 ff.); Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess, S. 13; Albers, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter seines selbstbestimmten Entscheidungsprogramms, S. 203; sowie Badura, Die Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, S. 8.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 315

ungeachtet dieser fachgerichtlichen Überprüfung erfolgt freilich eine vertiefte spezifische Prüfung und Auslegung des Verfassungsrechts durch das BVerfG.1010 Das BVerfG muss eine Sonderrolle unter den deutschen Gerichten einnehmen;1011 nur so kann es seiner Aufgabe, den Vorrang der Verfassung umfassend zu sichern,1012 nachkommen. Deshalb verlangt gerade die Verfassungsbeschwerde – zumindest unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten – als „Krönung der Rechtsstaatlichkeit“ 1013 eine Sonderbehandlung. e) Vom außerordentlichen Rechtsbehelf zum effektiven Rechtsmittel und zurück? Angesichts jüngerer Entwicklungen konnte man freilich daran zweifeln, ob der Verfassungsbeschwerde nach wie vor die viel gerühmte Einzigartigkeit und Außerordentlichkeit zukommt. Ausgangspunkt dieser Zweifel ist ein Urteil des EGMR gegen den Konventionsstaat Polen aus dem Jahr 2000.1014 Im Kern ging es in dieser Entscheidung um die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK, dem Recht auf wirksame Beschwerde. Entgegen seiner früheren Rechtsprechung urteilte der EGMR mit sechzehn Stimmen gegen eine1015, dass Art. 13 EMRK verletzt worden sei, da das polnische Recht keinen Rechtsbehelf zur Verfügung stelle, mit welchem der Beschwerdeführer sein in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiertes Recht auf „Entscheidung in angemessener Frist“ hätte durchsetzen können. Der Gerichtshof hat in dieser Entscheidung wohl mehr aus pragmatischen denn aus juristisch-dogmatischen Gründen mittels eines „Befreiungsschlags“ 1016 die Anwendbarkeit von Art. 13 EMRK neben Art. 6 Abs. 1 EMRK für den Fall, dass der Bf. vor einer innerstaatlichen Instanz eine Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK rügen wollte, aber nicht konnte, bejaht. Hinter1010 In diesem Sinne auch BVerfGE 69, 112 (118). Kritisch hinterfragen mag man indes BVerfGE 54, 277 (293), in der das Gericht urteilte, das Revisionsgericht dürfe nicht „aus Gründen der Selbststeuerung seiner Arbeitslast“ die Annahme einer Revision ablehnen. Das BVerfG legt hier Maßstäbe an, die es für sich selbst nicht für maßgeblich zu halten scheint. 1011 Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess, S. 4; Leibholz, Das BVerfG im Schnittpunkt von Politik und Recht, S. 396. 1012 Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Vorb. Rn. 3. 1013 Tomuschat, Das Bundesverfassungsgericht im Kreise anderer nationaler Verfassungsgerichte, S. 266. 1014 Andrzej Kudla ./. Polen, Beschwerde Nr. 30210/96, Urt. v. 26. Oktober 2000 = NJW 2001, 2694 = EuGRZ 2004, 484 ff. 1015 Der Richter Casadevall teilte die Auffassung des Gerichtshofs, Art. 13 EMRK sei neben Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar und verletzt, nicht. In seiner abweichenden Meinung (Art. 45 Abs. 2 EMRK) begründete er dies ausführlich. 1016 Vorwerk, Kudla gegen Polen, S. 553.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

grund dieses Rechtsprechungswandels ist – im Urteil selbst ausdrücklich betont1017 – die ständig steigende Zahl eingelegter Beschwerden, mit denen allein oder im Wesentlichen eine Verletzung der Verpflichtung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Verhandlung innerhalb angemessener Frist gerügt wird.1018 Die Überlastung des EGMR – „Der [Europäische] Gerichtshof [für Menschenrechte] ist derzeit in der Lage des Reichsgerichts des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dessen „lange Bank“ sich von Reykjavik bis Wladiwostók erstreckt“ (Georg Ress)1019 – ist zumindest teilweise strukturelle Folge der Reform des Rechtsschutzsystems durch das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK.1020 Während vor dieser Reform im Jahre 1998 die KOM gewissermaßen als „Filter“ vorgeschaltet war und in unproblematischen Fällen auf eine Anrufung des Gerichtshofs verzichten konnte, muss dieser seit der Reform selbst und unmittelbar die Prüfung aller eingehenden Beschwerden vornehmen, seien diese auch noch so unzulässig oder offensichtlich unbegründet.1021 Der „Kunstgriff“ 1022, den der Gerichtshof nunmehr mit der obigen Entscheidung vorgenommen hat, liegt darin, dass jetzt als Ersatz für diesen weggefallenen „Filter“ die nationalen Rechtsschutz-Ressourcen mobilisiert und vorgeschaltet werden sollen. Letztlich führt Straßburg die eigenen Reformbemühungen1023 ad absurdum: Aufgrund der Überlastung des eigenen Hauses werden Aufgaben, die an 1017

Vgl. Ziff. 148 des Urteils. Dies beweist ein Blick in die Statistik des Gerichtshofs: Im Jahr 2000 etwa hat der EGMR 695 Urteile erlassen, von denen 521, also drei Viertel der Urteile, allein oder zumindest auch die Verfahrensdauer betrafen, vgl. hierzu Meyer-Ladewig, Rechtsbehelfe gegen Verzögerungen, S. 2679. Allein aus Italien waren im Oktober 2001 noch 13.000 Beschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer bei ihm anhängig, hierzu Flauss, Le droit à un recours effectif, S. 195. Auch der Statistik des Jahres 2004 ist zu entnehmen, dass die meisten der eingehenden Beschwerden die Verfahrensdauer betreffen, vgl. Hausmann, Menschenrechte, in: Das Parlament v. 14.2.2005. Es ist sogar zu befürchten, dass in zwei bis drei Jahren mit 50.000 neuen Beschwerden zu rechnen ist, Hausmann, Klageflut, in: Das Parlament v. 10.5.2004. Luzius Wildhaber, der Schweizer Präsident des Menschenrechtsgerichtshofs, teilte auf der jährlichen Pressekonferenz des EGMR mit, dass die Flut der Beschwerden von Bürgern aus ganz Europa, die sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen und in ihren Ländern abgewiesen wurden, jährlich ansteigt, Pressemitteilung v. 25.01.2005, abrufbar unter http://www. echr.coe.int/eng/press/2005/jan/annualpressconferencejanuary%202005.htm. 1019 Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 57. 1020 Zum neuen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach dem 11. EMRK-Protokoll vgl. auch Oppermann, Europarecht, § 2 Rn. 28 f.; Fink, Das Verfahren zum Schutz der EMRK, S. 96 ff.; sowie Schlette, Das neue Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 905 ff. 1021 Gundel, Anforderungen des EGMR, S. 20. 1022 So Gundel, Anforderungen des EGMR, S. 21. 1023 Der EGMR hat kurz nach Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 am 29. März 1999 eine eigene Arbeitsgruppe – Working Party on Working Methods – eingesetzt, welche die Arbeitsweise des GH rationalisieren sollte. Deren Abschlussbericht führte zu einer Änderung der Verfahrensordnung vom 1. Oktober 2002, vertiefend Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 57 f. 1018

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 317

sich seit der Reform dem EGMR selbst obliegen, den Mitgliedstaaten aufgebürdet. Im Anschluss an dieses Urteil wandte sich das Bundesministerium für Justiz (BMJ) im Mai 2002 an die maßgebenden juristischen Interessenverbände1024 mit der Bitte, Stellung zu der Frage zu nehmen, ob das nationale deutsche Prozessrecht wirksame Rechtsbehelfe zur Rüge überlanger Verfahrensdauer zur Verfügung stellt, beziehungsweise im Falle deren Fehlens stellen sollte.1025 Konkrete Maßnahmen von Seiten des Gesetzgebers erfolgten indes im Anschluss an den Eingang der erbetenen Stellungnahmen beim BMJ nicht. In der Fachliteratur wurde das Thema zwar weiter diskutiert,1026 die Umsetzung der eingebrachten Anregungen blieb aber aus. Nach kurzzeitiger innerstaatlicher Aufregung1027 1024 Unter anderem die Gesetzgebungs- und Fachausschüsse des Deutschen Anwaltvereins, abrufbar unter http://www.anwaltverein.de. 1025 Schreiben des BMJ v. 27.5.2002, Az.: RA 1-3100/28-R 1 73/2002. 1026 Vgl. statt vieler Redeker, Untätigkeitsbeschwerde, S. 488 f.; Schmidt-Aßmann in Maunz-Dürig, GG-Kommentar, Art. 103, Rn. 162 m.w. N. 1027 Das Aufsehen, welches diese Entscheidung erregte, liegt darin begründet, dass Deutschland im Zuge dieser Judikatur ebenfalls Verurteilungen durch den EGMR befürchten musste, weil die deutsche Rechtsordnung bislang ebenfalls keine Rechtsmittel zur Verfügung stellte, mittels welcher Verzögerungen im Gerichtsverfahren gerügt werden könnten. Das Kudla-Urteil zeitigte damit gewissermaßen normative Bindungswirkung (so Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, S. 694; ähnlich auch Papier, Umsetzung und Wirkung der Entscheidungen des EGMR, S. 2): Die erwähnte Rechtsprechungswende drohte zu vergleichbaren Verurteilungen der Mitgliedstaaten zu führen, wenn diese den im Kudla-Urteil aufgestellten Anforderungen nicht Folge leisten (vgl. hierzu auch den Görgülü-Beschluss des BVerfG v. 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04 = EuGRZ 2004, 745, wonach sich die nicht beteiligten Staaten jedoch lediglich an einer Rechtsprechungsänderung zu orientieren hätten, was aber die Bedeutung der EMRK in bedenklicher Weise herunterspielt, Cremer, aaO, S. 693. Vertiefend zu diesem Problemkreis Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft, S. 61 ff.; Pernice, BVerfG, EGMR und die Rechtsgemeinschaft, S. 705 f.; sowie Kadelbach, Der Status der EMRK im deutschen Recht, S. 480 ff.). Art. 1 EMRK enthält nämlich die Verpflichtung für alle Vertragsstaaten, die Konventionsrechte zu gewährleisten. Maßgebend sind die in der EMRK und den Protokollen – soweit sie vom jeweiligen Konventionsstaat ratifiziert sind – garantierten Rechte und Freiheiten, die so zu lesen sind, wie sie durch die Rechtsprechung des EGMR entwickelt wurden. (Hierzu weitergehend: Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, S. 694. Anderer Auffassung scheint der Österreichische VfGH zu sein, Urt. v. 14. Oktober 1987, B267/86: „An die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Staatsorganisation ist der Gerichtshof auch im Falle eines Widerspruchs zur Konvention gebunden. Stehen sie einer möglichen Auslegung der MRK entgegen, kann er diese Auslegung seiner Entscheidung nicht zugrundelegen.“) Der EGMR hat insoweit Richterrecht geschaffen, das an der völkerrechtlichen Verbindlichkeit der EMRK teilhat. Aus diesem Grunde hat die Verurteilung eines Vertragsstaates auch mittelbar rechtliche Auswirkungen auf die übrigen Konventionsstaaten – zumindest dann, wenn mit der Verurteilung ein Grundstein für eine ständige Rechtsprechung gesetzt ist (die EMRK als „living instrument“). Bei Vorliegen einer vergleichbaren Sach- und Rechtslage ist es sehr wahrscheinlich, dass der EGMR seine Rechtsprechung auch auf andere Vertragsstaaten ausdehnt, vgl. Mückl, Kooperation oder Konfrontation?, S. 418 f. Dementsprechend stand bei allen Mitgliedstaaten nach Kudla die Überprüfung ihrer Prozessordnungen auf ausreichende Rügemöglichkeiten

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

über die Kudla-Entscheidung verschwanden im Folgenden seitens der verschiedenen Institutionen eingebrachte Reformvorschläge wieder in der Versenkung. Das Thema „Anhörungsrüge“ war vorerst von der Tagesordnung verschwunden.1028 Jäh aus seinem Dornröschenschlaf gerissen wurde es freilich durch eine wenig später ergangene Entscheidung des BVerfG1029, in der dieses zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung fachgerichtlichen Rechtsschutzes bei Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) Stellung nahm und so dem EGMR unerwartete „Schützenhilfe“ 1030 leistete: Das Plenum bestätigt in diesem Beschluss ausdrücklich die Aufgabe der bisher vertretenen Auffassung, wonach ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Überprüfung einer richterlichen Entscheidung pauschal abzulehnen sei.1031

an. Italien hat den im Kudla-Urteil aufgestellten Anforderungen durch die legge Pinto (Gesetz Nr. 89 v. 24. März 2001) Folge geleistet. Zu dieser normativen Bindungswirkung auch EGMR, Survey – Forty Years of activity, S. 87 ff., wo beispielhaft EGMRUrteile aufgezählt werden, die innerstaatliche Reaktionen – zumeist Gesetzesänderungen – hervorriefen. 1028 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass bereits mehr als 20 Jahre zuvor Überlegungen angestellt wurden, die in der Forderung nach Einführung einer Anhörungsrüge mündeten, vgl. hierzu Schumann, Die Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs, S. 1139 f., sowie Zuck, Die Beseitigung groben prozessualen Unrechts, S. 926 f., der sich auf eine entsprechende Anregung des BVerfG aus dem Jahr 1980 [!] bezieht. 1029 Plenarbeschluss des BVerfG vom 30. April 2003, 1 PbvU 1/02, BVerfGE 107, 395. 1030 Britz/Pfeifer, Unangemessene Verfahrensdauer, S. 245. 1031 Weder in Art. 19 Abs. 4 GG noch in Art. 103 Abs. 1 GG oder an anderer Stelle des Grundgesetzes sei das Recht auf einen Instanzenzug verbrieft. Grund hierfür war offenkundig die Sorge vor einem Rechtsschutz ad infinitum (BVerfGE 1, 433 [437]: „. . . vielmehr muss jeder Rechtsstreit einmal ein Ende finden.“). Aus dieser Rechtsprechung ergab sich für das BVerfG eine missliche Situation – vor allem in Amtsgerichtsprozessen mit einem Streitwert unterhalb der Berufungsgrenze: Entweder ignorierte das BVerfG entsprechende Verfahrensfehler – selbst auf die Gefahr hin, den nicht kontrollierten Richter vor dem Hintergrund steigender Arbeitsbelastung zu kalkulierbaren Verfahrensverstößen zu ermuntern – oder es sprang selbst als „Pannenhelfer“ (Schumann, Die Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs, S. 1134) für die Fachgerichte in die Bresche und kontrollierte erstinstanzliche richterliche Entscheidungen im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Die erste der beiden Alternativen käme jedoch einer kompletten Rechtsschutzverweigerung gleich, wohingegen die zweite, lange Zeit so praktizierte Alternative, zur Folge hatte, dass das BVerfG nunmehr die Funktion einer „Superberufungsinstanz“ (Vosskuhle, Bruch mit einem Dogma, S. 2194) inne hatte. Als Ausweg aus diesem Dilemma wurden die Fachgerichte dazu angehalten, durch Analogien oder prozessuales Gewohnheitsrecht – Beschwerdemöglichkeit bei „greifbarer Gesetzeswidrigkeit“ (vgl. BGHZ 130, 97 [99]) oder die in Analogie zu § 321 a ZPO a. F. kreierte Gegenvorstellung (BVerfGE 73, 322 [326 ff., 329]) – Gehörsverletzungen zu beheben. Problematische Folge dieser Handhabung war freilich die aus solch „freischwebender Rechtsschöpfung“ resultierende Rechtsunsicherheit.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 319

Nach der Entscheidungsformel liegt ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG vor, wenn eine Verfahrensordnung keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall vorsieht, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG folge, dass im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs der Rechtsweg auch zur Überprüfung einer behaupteten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch ein Gericht offen steht. Die bisherige Auslegung von Art. 19 Abs. 4 GG, wonach der dort benutzte Begriff der öffentlichen Gewalt nur auf die vollziehende Gewalt anzuwenden sei, werde davon nicht berührt. Art. 19 Abs. 4 GG stehe der Annahme nicht entgegen, dass der allgemeine Justizgewährungsanspruch Rechtsschutz unter zum Teil anderen tatbestandlichen Voraussetzungen garantiert. Bei der Ausgestaltung des Rechtsbehelfssystems räumt das Plenum dem Gesetzgeber einen Spielraum ein. In erster Linie sei Schutz innerhalb der Fachgerichtsbarkeit zu gewährleisten und zwar auch dann, wenn die Bürger ihre Rechte zusätzlich mit einer Verfassungsbeschwerde verfolgen könnten. Das BVerfG schlug diesbezüglich einen Rechtsbehelf zum iudex a quo vor. Die Eröffnung einer weiteren Instanz sei dagegen nicht geboten.1032 Die Abhilfemöglichkeit sei deshalb bei den Fachgerichten1033 einzurichten, weil eine Verfassungsbeschwerde das Annahmeverfahren1034 durchlaufen müsse und nur unter engen Voraussetzungen zur Überprüfung einer Rechtsverletzung führe. Im Übrigen stelle sie keinen zusätzlichen Rechtsbehelf zum fachgerichtlichen Verfahren dar, der sich diesem anschließe. Vielmehr handle es sich bei der Verfassungsbeschwerde um einen außerordentlichen Rechtsbehelf. Das BVerfG gab dem Gesetzgeber in seinem Beschluss auf, bis zum 31. Dezember 2004 eine Lösung zu finden.1035 Genau genommen geht es also um dasselbe Problem, das auch dem KudlaUrteil zugrunde lag. Man kann gewissermaßen von einer Fortführung der vom EGMR angestoßenen Diskussion auf nationaler Ebene sprechen. Ein Vergleich des Plenarbeschlusses mit der Kudla-Entscheidung zeigt eine auffällige inhaltliche Koinzidenz der Rechtsprechung der beiden Gerichte zum Rechtsschutz gegen die Verletzung von Verfahrensrechten. In der Plenarentscheidung des 1032 Dies stimmt wiederum mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 13 EMRK überein, wonach die Eröffnung eines Instanzenzuges nicht vom Gesetzgeber gefordert werden kann. 1033 Das BVerfG meint mit Fachgerichten nicht die Gerichtsbarkeiten außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit, sondern alle Instanzgerichtsbarkeiten einschließlich der ordentlichen Gerichtsbarkeit. 1034 Vertiefend Uerpmann, Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung, S. 673 ff. 1035 Der Gesetzgeber war bis dato trotz mehrfacher Ermahnung durch das BVerfG – vgl. BVerfGE 42, 243 [248 f.]; 42, 252 [254 f. ]; 46, 185 [187]; 47, 182 [191] – weitgehend untätig geblieben; Ausnahmen: §§ 33a, 311a StPO.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

BVerfG wird, genau wie bei Kudla, erstmals auch auf nationaler Ebene „Rechtsschutz gegen den Richter“ gefordert, zumindest jedenfalls für den Fall seiner Untätigkeit. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil das BVerfG anscheinend gar nicht bewusst auf das Kudla-Urteil Bezug nehmen wollte.1036 Vielmehr haben beide Gerichte unabhängig voneinander – die Verfahrensrechte fördernd – sich dieses Themas angenommen. Der Gesetzgeber reagierte auf die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung rasch, wenn auch „eher missmutig denn überzeugt“ 1037 und verabschiedete am 9. Dezember 2004 das Anhörungsrügengesetz1038, welches sämtliche Prozessrechtsgebiete1039, mit Ausnahme des Verfassungsprozessrechts und zahlreiche Kostengesetze1040 um die Einfügung einer Anhörungsrüge1041 erweiterte. Das Anhörungsrügengesetz trat am 1. Januar 2005 in Kraft.1042 Erwähnung finden soll dieser Vorgang, der seinen Anfang in dem Urteil des EGMR nahm und letztlich in das neue Anhörungsrügengesetz mündete, zunächst deshalb, weil im Anschluss an Kudla erhebliche Befürchtungen erhoben wurden,1043 welche die Verfassungsbeschwerde direkt betrafen: Zum Zeitpunkt des Kudla-Urteils gab es nach deutschem Recht keine Rechtsbehelfe, die den Anforderungen, welche der EGMR in besagtem Urteil aufgestellt hatte, nur annähernd gerecht wurden. Gegen Verzögerungen im Verfahren stand dem Bürger letztlich nur die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung. Daher vermuteten im Anschluss an das Straßburger Urteil viele Stimmen angesichts des mutmaßlichen Unwillens des Gesetzgebers zu legislativem Handeln, dass im Falle einer Nicht-Umsetzung der Vorgaben von Kudla die Verfassungsbeschwerde – weni-

1036 Zum einen hat das BVerfG mehr als zwei Jahre nach dem EGMR entschieden, zum anderen finden weder Kudla, noch zumindest Art. 13 EMRK Erwähnung im Beschluss des BVerfG. 1037 Gehb, Vom langsamen Ende eines verfassungsrechtlichen Dogmas?, S. 683. 1038 BGBl. 2004 I, 3220. 1039 Vgl. insbesondere § 321 a ZPO, §§ 33 a, 356 a StPO, § 55 Abs. 4 JGG, § 29 a FGG, § 81 Abs. 3 GBO, § 89 Abs. 3 SchiffsRegO, § 78 a ArbGG, § 152 a VwGO, § 178 a SGG, § 133 a FGO und § 71 a GWB. 1040 Vgl. insbesondere § 69 a GKG, § 157 a KostO, § 5 Abs. 2 S. 2 GvKostG, § 13 JVKostO, § 4 a JVEG und § 12 a RVG. 1041 Zur Konzeption dieser Anhörungsrüge vertiefend Desens, Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde und ihr Verhältnis zu fachgerichtlichen Anhörungsrügen, S. 1243 ff. 1042 Dies war auch höchste Zeit, hatte doch der EGMR in einer Zulässigkeitsentsch. v. 29. April 2004 (Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01) bemängelt, dass das deutsche Prozessrecht gegen eine überlange Verfahrensdauer keinen effektiven Rechtsschutz zur Verfügung stellt, da das BVerfG über keine Abhilfemöglichkeiten verfügt, sondern in der Regel nur die Verletzung feststellen und den Gesetzgeber zum Tätigwerden auffordern kann. 1043 Insbesondere zahlreiche Literaturstimmen betrachteten dies, nicht zuletzt mit Blick auf den besonderen Charakter der Verfassungsbeschwerde, kritisch, statt vieler Britz/Pfeifer, Unangemessene Verfahrensdauer, S. 248 f.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 321

ger als außerordentlicher Rechtsbehelf denn als „echtes“ Rechtsmittel – die Lücken des bestehenden Rechtsschutzsystems schließen müsse. Zustimmung fand eine solche Konstruktion freilich kaum, da man vor allem fürchtete, der Charakter der Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf werde aufgeweicht. Mit Inkrafttreten des Anhörungsrügengesetzes beruhigten sich indes die Gemüter wieder. Die Ruhe, welche im Anschluss an das Inkrafttreten des Anhörungsrügengesetzes eingekehrt war, trog jedoch: Die oben erwähnten Befürchtungen, die in der Folge der Kudla-Judikatur ausgesprochen worden waren, bewahrheiteten sich mit dem Urteil im Fall Sürmeli1044. Mit dieser Entscheidung wurde der Annahme, mit Inkrafttreten des Anhörungsrügengesetzes sei das Notwendige im Hinblick auf die effektive Durchsetzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer im staatlichen Recht getan, eine Absage erteilt. Der EGMR stellte fest, dass im deutschen Recht kein im Sinne des Art. 13 EMRK wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stehe, mit dem eine Verfahrensverzögerung im Zivilprozess geltend gemacht werden kann. Ob die Anhörungsrüge den aufgestellten Anforderungen genügen würde, ist mehr als fraglich: Das Anhörungsrügengesetz war zwar noch nicht in Kraft getreten, als der Beschwerdeführer Sürmeli sich innerstaatlich gegen die Verzögerungen seines Verfahrens wandte. Die Entscheidung des EGMR erging aber lange nach Inkrafttreten des Anhörungsrügengesetzes, gleichwohl wurde dieses mit keinem Wort erwähnt. Ob der EGMR Kenntnis von der Möglichkeit der Anhörungsrüge hatte, mag dahinstehen; dass das Anhörungsrügengesetz den in Sürmeli aufgestellten Anforderungen genügt, ist freilich zu bezweifeln, führt doch die Anhörungsrüge im Ergebnis nur dazu, dass ein erfolgter Verstoß festgestellt wird. Das Verfahren wird auf begründete Anhörungsrüge lediglich in das Stadium vor Erlass der die Gehörsverletzung enthaltenden Entscheidung zurückversetzt und dann fortgeführt. Einen Verstoß durch Kassation der betreffenden Entscheidung zu beseitigen oder tatsächlich zu sanktionieren, ist die Anhörungsrüge freilich nicht in der Lage. Im Urteil Sürmeli überprüfte der EGMR sehr gründlich alle nach deutschem Recht in Frage kommenden Rechtsbehelfe1045 gegen überlange Verfahrensdauer auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 13 EMRK hin. Zunächst setzte er sich intensiv mit dem außerordentlichen Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde, welchen die Konventionsorgane früher stets als wirksam in diesem Sinne beurteilt hatten,1046 auseinander. Der EGMR gelangte dabei zu der Feststellung, dass 1044 Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006. Der Fall Sürmeli ist in der Urteilssammlung in Teil 1, Kap. 9 dargestellt. 1045 Nach dem damaligen Gesetzesstand. 1046 X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8499/79, Entsch. v. 7. Oktober 1980; W./. Deutschland, Beschwerde Nr. 10785/84, Entsch. v. 18. Juli 1986; Reisz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 32013/96, Entsch. v. 20. Oktober 1997; Teuschler ./. Deutschland, Be-

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

die Verfassungsbeschwerde keinen wirksamen Rechtsbehelf darstelle. Werde das BVerfG im Wege der Verfassungsbeschwerde angerufen wegen Verletzung allein des Rechts auf Entscheidung in angemessener Frist im Zivilverfahren, könne das BVerfG nämlich im Fall des Erfolgs der Verfassungsbeschwerde die Entscheidung des Instanzverfahrens nicht kassieren, sondern lediglich eine Verletzung feststellen und das Gericht zur Beschleunigung anhalten – es sei denn, der Bf. hätte zusätzlich auch die Verletzung materieller Grundrechte geltend gemacht. Eine Kassation scheidet in diesen Fällen nämlich stets aus, da die instanzgerichtliche Entscheidung nie auf dem Verfassungsverstoß beruht: Diese kann ja abgesehen von der Verletzung des Beschleunigungsgebots mit geltendem Recht völlig in Einklang stehen. Zur Aufhebung kann eine Verletzung lediglich des Anspruchs auf Entscheidung in angemessener Frist – jedenfalls im Zivilverfahren1047 – folglich nie führen.1048 Die von der Regierung ins Feld geführte allgemeine Verbindlichkeit und Publizität bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen ließ der EGMR dagegen nicht gelten. Er führte stattdessen mehrere gegen Deutschland gerichtete Individualbeschwerdeverfahren an, bei denen das BVerfG jeweils angeordnet hatte, das Verfahren zu beschleunigen.1049 Diese Anordnungen führten aber nach den Feststellungen des EGMR nie zum Erfolg.1050 Unerwähnt bleibt in der Argumentationslinie des EGMR zudem die berechtigte Kritik, dass insbesondere we-

schwerde Nr. 7636/99, Entsch. v. 4. Oktober 2001; Thieme ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38365/97, Entsch. v. 15. November 2001. 1047 Im Strafverfahren kann sich auch die bloße Rüge überlanger Verfahrensdauer auf das zugrundeliegende Strafverfahren auswirken: Die Beruhensfrage ist hier zu bejahen, da überlange Verfahrensdauer im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen ist. Besonders schwere Verstöße können sogar die Verfahrenseinstellung – ggf. durch das BVerfG selbst, BVerfG, NJW 2003, 2225 (2228) – nach sich ziehen. Das BVerfG wird daher regelmäßig die Instanzgerichtsentscheidung aufheben und die Sache zurückverweisen. 1048 Hierzu stehen freilich die Ausführungen des EGMR im Urteil Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 43 im Widerspruch: „Hat eine Beschwerde vor dem BVerfG Erfolg, beschränkt sich das Gericht nicht darauf, auf die verletzte Bestimmung des Grundgesetzes hinzuweisen und die verantwortliche Behörde anzugeben; es hebt die angefochtene Entscheidung auf oder erklärt das in Frage stehende Gesetz für nichtig.“ Ähnlich auch im Fall Voggenreiter ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 47169/99, Urt. v. 8. Januar 2004, Ziff. 42: „Es ist in der Tat nicht ausgeschlossen, dass das BVerfG den Gesetzgeber hätte auffordern können, in das angefochtene Gesetz eine Vorschrift einzufügen, die in bestimmten Fällen eine Entschädigung oder eine Übergangsregelung vorsieht. Außerdem hatte das Gericht die Möglichkeit, einstweilige Anordnungen zu treffen.“ 1049 Gemeint sind die Fälle Gräßer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 66491/00, Entsch. v. 16. September 2004; Herbolzheimer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 57249/ 00, Urt. v. 31. Juli 2003. 1050 Im Fall Herbolzheimer habe das BVerfG die Verfassungsbeschwerde für unzulässig erklärt, obwohl das Verfahren zu diesem Zeitpunkt bereits seit neun Jahren anhängig war.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 323

gen § 93a BVerfGG die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde in der Regel gering sind. Außerdem kann das BVerfG – auch dies bleibt bei Sürmeli unerwähnt – im Verfassungsbeschwerdeverfahren nur bereits erfolgte Verstöße und nicht unmittelbar bevorstehende, „virtuelle“ 1051 Verstöße ahnden.1052 Die Verfassungsbeschwerde stellt damit im Hinblick auf die Rüge unangemessener Verfahrensdauer keinen wirksamen Rechtsbehelf dar. Sie muss aus diesem Grunde – auch dies ist seit dem Urteil Sürmeli neu – im Falle der Geltendmachung einer Verletzung des Anspruchs auf Entscheidung in angemessener Frist im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK innerstaatlich nicht eingelegt worden sein und gehört zumindest in Bezug auf dieses Recht nicht zum Rechtsweg im Sinne des Art. 35 Abs. 1 EMRK. Sürmeli steht freilich in gewisser Hinsicht im Widerspruch zu der bisher verfolgten Linie Straßburgs: Bekanntermaßen hat der EGMR im Rahmen der Frage, ob auch das Verfassungsbeschwerdeverfahren in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK einzubeziehen ist, stets betont, das Verfahren vor dem Verfassungsgericht sei einzubeziehen, sofern sich die verfassungsgerichtliche Entscheidung theoretisch auswirken könne. Auswirken könne sie sich im Fall einer eingelegten Verfassungsbeschwerde deshalb, weil denkbar sei, dass die instanzgerichtliche Entscheidung aufgehoben würde (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Im Rahmen dieser Ausführungen hat der EGMR bezeichnenderweise kein Wort dazu verloren, dass die Aufhebung der Entscheidung ja lediglich dann in Betracht kommt, wenn die Beruhens-Frage positiv zu beantworten ist. Dass die Aufhebung dagegen von vornherein ausscheidet, wenn allein die Dauer des Zivilverfahrens im Streit steht, berücksichtigte der EGMR bislang in seinen Ausführungen zur Einbeziehung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nicht. Es überrascht daher, dass der EGMR im Zuge der Entscheidung Sürmeli auf einmal auf die Unterscheidung zwischen der Möglichkeit, die Instanzgerichtsentscheidung aufzuheben und der schlichten Feststellung der Verfassungswidrigkeit Wert legt. Zu weitgehend ist wohl die Unterstellung, der EGMR sei sich der Unterscheidung seit jeher bewusst, habe sie aber im Rahmen der Anwendbarkeit nie zur Sprache gebracht, da sich dann in Bezug auf ein Verfassungsbe-

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BVerfGE 1, 97 (102); 60, 360 (371). Vgl. Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG und des § 90 Abs. 1 BVerfGG. Ausnahmen hiervon bestehen allenfalls dann, wenn ein Gesetz aufgrund seiner künftig eintretenden Wirkungen den Normadressaten bereits jetzt zu unumkehrbaren Entscheidungen zwingt (BVerfGE 43, 291 [387]; 97, 157 [164]), oder wenn sich für den Adressaten klar abzeichnet, dass er zukünftig von der betreffenden Regelung betroffen sein wird (BVerfGE 74, 297 [320]; 97, 157 [164]; 110, 141 [151 f.]). Ferner würde auf diesem Weg die Verfassungsbeschwerde in nicht sonderlich systemgerechter Weise dazu missbraucht, auf laufende fachgerichtliche Verfahren Einfluss zu nehmen, Schlette, Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, S. 56. 1052

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

schwerdeverfahren, dem lediglich die gerügte Verfahrensdauer zugrunde liegt, erhebliche Schwierigkeiten ergeben hätten, auch dieses Verfahren Art. 6 Abs. 1 EMRK zu unterwerfen.1053 Gleichwohl erstaunt die Entscheidung, weil der EGMR – nunmehr ganz selbstverständlich – die Unterscheidung zwischen kassatorischer und lediglich feststellender Entscheidung hervorhebt und seine Entscheidung im Rahmen des Art. 13 EMRK letztlich gerade auf diese Differenzierung stützt. Die Entscheidung im Fall Sürmeli im Hinblick auf Art. 13 EMRK ist damit zwar in Bezug auf das deutsche Zivilverfahren letztlich konsequent, birgt aber zugleich gewisse Widersprüche zu der von Straßburg seit jeher bemühten Auswirkens-Formel. Der EGMR wandte sich im nächsten Schritt der Frage zu, ob eine Dienstaufsichtsbeschwerde nach § 26 Abs. 2 DRiG wirksam im Sinne des Art. 13 EMRK ist. Da dieser Rechtsbehelf dem Einzelnen kein Mittel an die Hand gebe, den Staat zur Ausübung seiner Aufsichtsbefugnisse zu zwingen, verneinte der EGMR auch dessen Wirksamkeit. Auch die außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde, die keine gesetzliche Grundlage erfahren hat, genüge diesen Anforderungen nicht.1054 Zum einen seien ihre Voraussetzungen unklar und würden von den Gerichten unterschiedlich gehandhabt. Zum anderen bliebe offen, welche Auswirkungen eine solche Beschwerde auf das zugrundeliegende Verfahren haben kann. Von einem wirksamen Rechtsbehelf könne deshalb kaum die Rede sein. Zuletzt befasste sich der EGMR mit der Möglichkeit der Amtshaftungsklage (Art. 34 GG, § 839 BGB). Da aber bislang kaum Entscheidungen in diesem Bereich ergangen sind, die die Verletzung einer Amtspflicht bejahten, und zudem Ersatz für Nichtvermögensschäden ausgeschlossen ist, den der EGMR seinerseits in solchen Fällen gem. Art. 41 EMRK in der Regel gewährt, verneinte der Gerichtshof auch die Wirksamkeit dieses Rechtsbehelfs.1055 Die vorhandenen Rechtsbehelfe genügen damit der Konvention nicht. Unter Berufung auf

1053 Selbst nach der „Auswirkens“-Formel des EGMR wäre dann die Einbeziehung eines solchen Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu verneinen gewesen, da sich die Entscheidung des BVerfG mangels Aufhebungsmöglichkeit nicht auf die Instanzgerichtsentscheidung hätte auswirken können. 1054 Der EGMR hat gegen diese außerordentliche Beschwerde vorgebracht, diese sei bislang nur von vier Oberlandesgerichten, nicht aber vom BGH für zulässig befunden worden. Diese Feststellungen sind nicht ganz korrekt. Vielmehr wurde die außerordentliche Beschwerde von wenigstens 10 Oberlandesgerichten im Falle überlanger Verfahrensdauer zugelassen. Auch der BGH hatte sich mit ihr befasst und sie ursprünglich akzeptiert, dann aber im Zuge der Neuregelungen, die das ZPO-Reformgesetz gebracht hatte, diese Rechtsprechung geändert und stattdessen ein Recht zur Gegenvorstellung kreiert, die beim iudex a quo erhoben werden muss, BGHZ 150, 133 ff. 1055 Probleme ergeben sich hier vor allem im Bereich des Spruchrichterprivilegs (§ 839 Abs. 2 BGB), der Rechtswidrigkeit und des Verschuldens. Vertiefend dazu Gundel, Anforderungen des EGMR, S. 24 ff.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 325

Art. 46 EMRK1056 forderte der EGMR die deutsche Regierung auf, die bereits in Gang gesetzte Initiative,1057 eine Untätigkeitsbeschwerde in das deutsche Recht einzuführen, fortzusetzen. Der hier vorgesehene vorbeugende Rechtsbehelf genügt nach dem Dafürhalten des EGMR den Anforderungen des Art. 13 EMRK.1058 Angesichts dieser Entwicklungen ist nicht – wie zunächst teilweise angenommen – zu befürchten, dass der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde aufgeweicht wird und als Lückenfüller bestehender Rechtsschutzlücken herhalten muss. Die Korrektur von Verfahrensfehlern bleibt auch weiterhin primär Aufgabe der Fachgerichte. Entlastungsbemühungen des BVerfG werden entbehrlich, da Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot von der Anhörungsrüge beziehungsweise von der Untätigkeitsbeschwerde – so sie denn in Kraft treten sollte – aufgefangen werden. Es steht zu vermuten, dass Verfassungsbeschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer zukünftig kaum mehr erhoben werden, da dies im Hinblick auf eine etwaige Individualbeschwerde zum EGMR nicht mehr zwingend erforderlich ist. Diese Entwicklung ist begrüßenswert. Sie bestätigt den außerordentlichen Charakter der Verfassungsbeschwerde, die gerade für derartige Mängel im Instanzrechtsschutzsystem fortan nicht mehr in die Bresche springen muss. Letztendlich muss die durch Kudla angestoßene und bei Sürmeli vorläufig zu einem Höhepunkt gelangte Entwicklung gutgeheißen werden. Der Verfassungsbeschwerde jedenfalls hat sie genutzt, nicht geschadet; ihr Sonderstatus wurde mehr bestätigt denn gefährdet. 3. Die Verfassungsbeschwerde im europäischen Kontext Diese – rein „deutsche“ – Befundnahme könnte zusätzlich durch einen Blick über Grenzen untermauert werden. Um ihre Einzigartigkeit zu bestätigen, müsste die Verfassungsbeschwerde1059 auch bei einer Gegenüberstellung mit der verfas1056 Art. 46 Abs. 1 EMRK lautet: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.“ 1057 Gesetzentwurf, August 2005, abrufbar unter http://www.bdfr.de/untaetigkeitsbe schwerde_BMJ.pdf. 1058 Derzeit ist freilich unklar, was mit dieser vor der Bundestagswahl 2005 angestoßenen Initiative geschieht: Das Vorhaben der Justizministerin gegen Ende der letzten Legislaturperiode scheiterte zunächst am Widerstand der deutschen Richter und liegt seither in einer Schublade des Bundesjustizministeriums. Es wird wohl erst wieder hervorgeholt werden, wenn die nächsten – nach derzeitiger Gesetzeslage zu erwartenden – Verurteilungen der Bundesrepublik erfolgt sind, zum ganzen Dombek, Der EGMR – wichtiger als viele meinen, S. 45. 1059 Hier geht es also nur um dieses konkrete Verfahren, nicht mehr – wie zuvor – um die Stellung des Gerichts als Verfassungsgericht. Verfassungsgerichte haben die meisten Konventionsstaaten eingerichtet, zumindest diejenigen, die wie die Bundesrepublik dem sog. österreichischen Modell folgen.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

sungsprozessualen Situation in den übrigen Konventionsstaaten ein Unikum darstellen.1060 Gäbe es ein gleich geartetes Instrument auch in (mehreren) anderen Vertragsstaaten der EMRK, wäre nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet das deutsche Institut im Rahmen der Prüfung des Art. 6 Abs. 1 EMRK eine Sonderbehandlung verdienen sollte. Aber auch auf europäischer Ebene hält die Verfassungsbeschwerde dem Vergleich mit den übrigen Konventionsstaaten stand. In einigen Vertragsstaaten, in denen man sich zwar zur Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit entschlossen hat (Frankreich1061 und Italien), konnte man sich nicht darauf verständigen, dem Einzelnen solch weitreichende Möglichkeiten an die Hand zu geben, wie sie hierzulande mit der Verfassungsbeschwerde gewährt werden. Die Entwicklung eines dem der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Schutzniveaus kam nur schleppend in Gang.1062 Dort, wo ein vergleichbares Institut zur Verfügung steht – etwa in Österreich – gehen dessen Befugnisse nicht so weit wie die der Verfassungsbeschwerde: Es wird dort lediglich eine Beschwerde gegen Gesetze1063 sowie gegen Verwaltungsakte1064 gewährt; gegen Urteile dagegen bleibt dem Bürger der Weg zum Verfassungsgericht versperrt.1065 Auch die österreichische „Grundrechtsbeschwerde“, geregelt im GrundrechtsbeschwerdeGesetz aus dem Jahr 19921066, kann einem Vergleich mit der deutschen Verfassungsbeschwerde nicht standhalten, da sich jene lediglich auf das Recht der per1060 Faisst, Verfahrensflut setzt Richter unter Druck, in: Schwäb. Tagblatt v. 5. Oktober 2006. 1061 Im Falle Frankreichs ist die Bezeichnung „Verfassungsgerichtsbarkeit“ freilich ungenau, da der französische „Conseil Constitutionnel“ (Verfassungsrat) kein Verfassungsgericht im eigentlichen Sinne und daher auch kein Obergericht darstellt. Weder ein konkretes Normenkontrollverfahren, noch ein Verfassungsbeschwerdeverfahren oder Organstreitverfahren sind in der französischen Verfassung vorgesehen. Vielmehr hat der Verfassungsrat die Aufgabe präventiver Verfassungskontrolle. Diese Entwicklung ist historisch bedingt: Die aus der französischen Revolution hervorgegangene „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ geht von der Konzeption aus, eine grundrechtliche Kontrolle des Parlaments sowie der Verwaltung sei entbehrlich, da die Grundrechte im Wege der Selbstverantwortlichkeit des Parlaments durchgesetzt würden. Konträr hierzu stellt sich die historische Entwicklung der Grundrechtskontrolle in Amerika dar: Spätestens seit der berühmten Entscheidung Marbury vs. Madison aus dem Jahr 1803 hatte sich dort die Ansicht durchgesetzt, dass die Gerichte auch die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nachzuprüfen hätten, da die Mehrheit im Parlament die Rechte der Minderheit unverhältnismäßig schmälern könnte. Dieser Erkenntnis entspringt auch das berühmte amerikanische Konzept der „checks and balances“. 1062 Frowein, Die EMRK in der neueren Praxis der Europäischen Kommission und des EGMR, S. 231. 1063 Art. 140 Bundesverfassungsgesetz (B-VG). 1064 Art. 144 B-VG; hierzu Öhlinger, Verfassungsrecht, Rn. 1061. Vertiefend Mayer, Das österreichische Bundes-Verfassungsrecht, Art. 144 Anm. I.1. ff. 1065 Zierlein, Die Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung für die Bewahrung und Durchsetzung der Staatsverfassung, S. 312. 1066 Österreichisches BGBl. 1992/864.

5. Kap.: Zum Umgang mit dem Unikum „Verfassungsbeschwerdeverfahren‘‘ 327

sönlichen Freiheit bezieht. Sie kann nur geltend gemacht werden, wenn sich jemand durch eine unverhältnismäßige Untersuchungshaft oder eine andere strafrechtliche Verfügung oder Entscheidung in diesem Recht verletzt fühlt. In der Schweiz existiert zwar ein Grundrechtsschutz dergestalt, dass dem Einzelnen die Möglichkeit einer staatsrechtlichen Beschwerde eingeräumt wird. Allerdings ist die Überprüfung staatlichen Handelns in der Eidgenossenschaft nicht allein der Gerichtsbarkeit übertragen, sondern erfolgt teilweise auch durch andere Staatsorgane (Bundesversammlung und Bundesrat). Insbesondere gibt es kein höchstes Verfassungsgericht; vielmehr werden staatsrechtliche Beschwerden vom Schweizerischen Bundesgericht beschieden, welches aber zugleich die Funktion eines obersten Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichts wahrnimmt (sog. „amerikanisches Modell“ der diffusen Kontrolle). Der staatsrechtlichen Beschwerde kommt daher gerade nicht der außerordentliche Status zu, den die deutsche Verfassungsbeschwerde inne hat. Ähnlich sieht die Rechtslage aus in den skandinavischen Staaten, in Großbritannien1067 sowie in den Niederlanden, die allesamt keine besondere Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet haben.1068 Auch in den osteuropäischen Staaten, in denen die Verfassungsbeschwerde „als Rechtsmittel des kleinen Mannes“ (Christian Tomuschat)1069 einen wahren Siegeszug – zumindest vermitteln dies die jeweiligen Verfassungen und Gesetze1070 – angetreten hat, bleibt sie hinter dem Vorbild der deutschen Verfassungsbeschwerde weit zurück. So existiert etwa in Russland, in Polen, in den baltischen Staaten und in Ungarn, vergleichbar der Rechtslage in Österreich, nur die Möglichkeit der Gesetzesverfassungsbeschwerde.1071 In Slowenien und Kroatien dagegen kann die Verfassungsbeschwerde gerade nicht gegen Gesetze erhoben werden. Am ehesten vergleichbar mit der deutschen Verfassungsbeschwerde ist

1067 Vgl. hierzu Brunner, Zugang des Einzelnen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Raum, S. 197. 1068 Grote, Das Rechtsstaatsprinzip in Mittel- und Osteuropa, S. 7. 1069 Tomuschat, Das Bundesverfassungsgericht im Kreise anderer nationaler Verfassungsgerichte, S. 267. 1070 Anders hingegen sieht in den meisten – vor allem osteuropäischen – Staaten die Praxis aus: Als Beispiel kann Weißrussland dienen, wo sich bspw. bis zum Ende des Jahres 1996 der Präsident über mehr als neunzehn Entscheidungen des Verfassungsgerichts hinweggesetzt hat; Nachweise bei Cremer, Die Wirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, S. 353. Mit der Bestellung der Verfassungsrichter in zahlreichen osteuropäischen Ländern, die im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz bedenklich erscheint, beschäftigt sich ausführlich Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, S. 835 ff. Zum „Leerlauf“ der Verfassungsbeschwerde in denjenigen osteuropäischen Staaten, welche die Verfassungsbeschwerde zumindest „auf dem Papier“ ihr eigen nennen können, kann ebenfalls auf Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, S. 856 ff., verwiesen werden. 1071 Vgl. hierzu Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, S. 856 ff.; betreffend Ungarn: Halmai, Bürgerliche und politische Rechte in der Verfassungsrechtsprechung Ungarns, S. 128.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

die Individualbeschwerde in Spanien („recurso de amparo“).1072 Gleichwohl geht die spanische Verfassungsbeschwerde in ihren Gewährleistungen nicht so weit wie das deutsche Pendant: So können nach spanischem Verfassungsrecht Gesetze nicht mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden.1073 Überdies ist die Verfassungsbeschwerde nur im Falle der möglichen Verletzung der „Grundrechte und öffentlichen Freiheiten“ (Art. 15–20 der Verfassung des Königreiches Spanien) zulässig; die Verletzung der „Bürgerrechte“ (Art. 30–38 der spanischen Verfassung) kann mit ihr hingegen nicht geltend gemacht werden.1074 Außerdem stellt das Verfassungsgericht im Falle des Erfolges der Beschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung die Verletzung lediglich fest, enthält sich aber im Übrigen jeder weiteren Beurteilung des angegriffenen gerichtlichen Aktes (Art. 54 Ley orgánica del Tribunal Constitucional [LOTC]).1075 In Belgien,1076 Frankreich,1077 Italien, Portugal,1078 Griechenland,1079 Serbien und Montenegro,1080 Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, der Türkei sowie in der Ukraine existiert gar kein der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbarer Rechtsbehelf. In Bulgarien1081 ist die Situation ähnlich: Zwar gibt es einen der Verfassungsbeschwerde vergleichbaren Rechtsbehelf; 1072

Sommermann, Der richterliche Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 50. Zur verfassungsrechtlichen Lage in Spanien Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit in Spanien, S. 275; sowie Llorente, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Spanien, S. 268. 1074 Vgl. hierzu auch Cruz Villalón, Die Bewältigung der Arbeitsbelastung durch das spanische Verfassungsgericht, S. 155. Zu den „Grundrechten und öffentlichen Freiheiten“ gehören etwa das Recht auf Leben, körperliche und moralische Unversehrtheit, Religions- und Bekenntnisfreiheit, Rechtsgarantien im Falle der Freiheitsentziehung, allgemeines Persönlichkeitsrecht, Elternrecht, Meinungs- und Pressefreiheit. Zu den „Bürgerrechten“ zählen dagegen das Eheschließungsrecht, das Recht auf Privateigentum sowie das Erbrecht, das Stiftungsrecht, das Recht auf Arbeit und freie Berufswahl, die Koalitionsfreiheit sowie die Unternehmerfreiheit. 1075 Zierlein, Die Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung für die Bewahrung und Durchsetzung der Staatsverfassung, S. 316. 1076 Delpérée, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Belgien, S. 343 ff. 1077 Fromont, Der französische Verfassungsrat, S. 323; v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, S. 41. 1078 Moreira Cardoso da Costa, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Portugal, S. 289 f.; Weber, Generalbericht: Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, S. 119. 1079 Dagtoglou, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Griechenland, S. 375. 1080 In Serbien und Montenegro steht die Verfassungsgerichtsbarkeit auch heute noch in der autoritär-sozialistischen Tradition, vgl. hierzu Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, S. 827. Es existiert zwar ein an die deutsche Verfassungsbeschwerde angelehnter Rechtsbehelf; jedoch unterliegt dieser Rechtsbehelf erheblichen Beschränkungen, so dass von einer tatsächlichen Vergleichbarkeit nicht ausgegangen werden kann: So ist die Verfassungsbeschwerde nur subsidiär für den – seltenen – Fall vorgesehen, dass kein anderes Rechtsmittel gegeben ist, die bloße Erschöpfung des Rechtsweges reicht also nicht aus; vertiefend Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, S. 856. 1081 Zur verfassungsrechtlichen Situation in Bulgarien Drumeva, Das bulgarische Verfassungsgericht, S. 112 ff. 1073

6. Kap.: Ansätze zur Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens

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eingelegt werden kann er indes nach Art. 149 der Verfassung nur von staatlichen Organen. Der Individualcharakter der Verfassungsbeschwerde nach deutschem Verständnis wird dadurch geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Festzuhalten ist damit, dass die Verfassungsbeschwerde im Gefüge des deutschen Verfassungsrechts – aber auch im Vergleich mit den übrigen Konventionsstaaten – eine einmalige Sonderstellung einnimmt. Die Möglichkeit einer Urteilsverfassungsbeschwerde wird so, wie sie in Deutschland dem Bürger zur Verfügung gestellt wird, in keinem anderen Konventionsstaat gewährt; dort wo sie gewährt wird (Spanien), sind dafür Abstriche in anderen Bereichen festzustellen. Es gibt in den Rechtsordnungen der Konventionsstaaten keinen solch allumfassenden, vergleichbaren Rechtsbehelf wie den der deutschen Verfassungsbeschwerde.1082 Nur diese gewährt verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen jeglichen hoheitlichen Akt, sei es nun gegen Akte der Judikative, der Exekutive oder der Legislative. Aus diesem Grund kann der „Prototyp der echten Grundrechtsbeschwerde“ (Georg Brunner)1083 auch im europäischen Vergleich seine Einzigartigkeit verteidigen.1084 Gleiches gilt für das BVerfG selbst als „wohl bekannteste deutsche Einrichtung“ (Michel Fromont)1085. Kapitel 6

Lösungsansätze zur Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens durch den EGMR I. Konsequenz nationaler Sichtweise? Fasst man all diese spezifischen Merkmale, welche die Verfassungsbeschwerde kennzeichnen, zusammen, so liegt nahe, der Verfassungsbeschwerde auch auf Ebene der EMRK eine Sonderstellung einzuräumen. Fraglich ist aber, ob sich allein aus dem nationalen Verfassungsrecht ergebende Konsequenzen auf die völkerrechtliche „Ebene“ übertragen werden können. Konkret würde dies nämlich bedeuten, dass das nationale Recht eines Staates den EGMR zu einer Sonderbehandlung ohne Rücksicht auf die Rechtslage in anderen Konventionsstaaten zwänge. Auf den ersten Blick scheint der EGMR genau diesen Weg zu verfolgen – führt er doch in jedem Urteil zunächst die innerstaatlich relevanten Normen an und befasst sich sodann mit der Rechtslage des betroffenen Staates. 1082 So auch Frowein, Der europäische Grundrechtsschutz und die deutsche Rechtsprechung, S. 29. 1083 Brunner, Zugang des Einzelnen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Raum, S. 206. 1084 Hoffmann-Riem, Kohärenz europäischer und nationaler Grundrechte, S. 475. 1085 Fromont, Das BVerfG aus französischer Sicht, S. 493.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Der EGMR schwenkt freilich („gleichwohl“) ohne weitere Prüfung zu den bekannten standardisierten, in jedem Urteil nahezu identisch lautenden Passagen über, mit denen er die Unerheblichkeit des nationalen Rechts für seine eigenen Beurteilungsmaßstäbe begründet und bündig zu dem Schluss gelangt, dass eben jeder Konventionsstaat durch Art. 6 Abs. 1 EMRK verpflichtet werde, sein Rechtsschutzsystem so einzurichten, dass die Gerichte allen Anforderungen der Konvention entsprechen können, einschließlich der Verpflichtung, die Rechtssachen innerhalb angemessener Fristen zu entscheiden. Im Ergebnis bedeutet dies, dass das deutsche Verfassungsrecht für den EGMR weder im Hinblick auf die Besonderheit und Außerordentlichkeit des Verfassungsbeschwerdeverfahrens an sich, noch darauf, ob zwischen Annahme- und Nichtannahmeentscheidung zu differenzieren ist, ausschlaggebend sein kann. Für ihn stellt das nationale Recht nicht mehr als einen Ausgangspunkt dar. Mehr aus dem offenbar vorherrschenden – möglicherweise auch „politisch“ bedingten – „Pflichtbewusstsein“ heraus, das nationale Recht nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen, denn aufgrund des Dafürhaltens, dass jenes tatsächlich entscheidungserheblich sein könnte, streift der EGMR die nationale Verfassungsordnung in seinen Urteilsbegründungen oberflächlich. Betrachtet man dieses Vorgehen freilich aus völkerrechtlichem Blickwinkel, vermag es eher zu überzeugen: Die EMRK ist ein regionales Menschenrechtsinstrument.1086 Unter dem Geltungsbereich der EMRK sollen bestimmte gemeinsame Ziele, Wertvorstellungen und Rechte einheitlich verwirklicht werden. Um aber dieser Idee gerecht zu werden, ist es aus Sicht der Konvention nur konsequent, die Entscheidungen des EGMR nicht an das Recht des einzelnen betroffenen Staates zu „koppeln“. Der EGMR beurteilt die Europaratsstaaten „aus der Vogelperspektive“ nach denselben Grundsätzen und Maßstäben, die in der EMRK ihren Niederschlag gefunden haben und lässt somit das nationale Recht mehr oder minder außer Acht. Würde der EGMR im Rahmen seiner Prüfung auf die jeweiligen Besonderheiten in der Rechtsordnung des betroffenen Staates abstellen, so wäre die Folge, dass der ursprünglich regional erdachte Kontrollmechanismus in Richtung eines lokalen Mechanismus verändert würde. Rechtszersplitterung und Uneinheitlichkeit zwischen den Konventionsstaaten wären die Folge. Genau dies war aber bei der Schaffung der Konvention gerade nicht bezweckt. Der Kontrollmechanismus der EMRK würde konterkariert, stellte man maßgeblich auf das einzelne nationale Recht ab. Dies ist weder mit dem Zweck und den Zielen der EMRK, noch mit ihrer Entstehungsgeschichte vereinbar. Im Ergebnis bedeutet dies für die Behandlung der Verfassungsbeschwerde, dass jedenfalls allein aufgrund des nationalen Rechts eine Sonderbehandlung nicht in Betracht 1086 Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, Abschn. 3, Rn. 238.

6. Kap.: Ansätze zur Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens

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kommt. Zu betonen ist aber zugleich, dass dies gerade nicht besagt, dass damit eine Berücksichtigung der Besonderheiten der Verfassungsbeschwerde überhaupt ausgeschlossen ist. Hierbei sei an die bereits mehrfach erwähnte rechtsvergleichende Auslegung unter Berücksichtigung des gemeinsamen Nenners erinnert. Insofern besteht Übereinstimmung mit der evolutiven Auslegungspraxis des EGMR, die nicht bei der Bedeutung eines Rechtsbegriffs oder Umstandes im nationalen Recht verweilt, sondern hiervon losgelöst – autonom – argumentiert.1087 Die Verfassungsbeschwerde stellt unzweifelhaft ein einzigartiges Institut dar. Das nationale Recht allein oder die deutsche Übersetzung des Konventionstextes können indes nicht nutzbar gemacht werden, um dieser Sonderstellung auch auf EMRK-Ebene zur Durchsetzung zu verhelfen. Ein Lösungsansatz für die Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens im Hinblick auf Art. 6 EMRK kann nur aus dem Völkerrecht gewonnen werden. Dementsprechend soll im Folgenden auch aus dem völkerrechtlichen Blickwinkel untersucht werden, ob die Eigenarten der Verfassungsbeschwerde tatsächlich eine Sonderbehandlung in den Entscheidungen des EGMR rechtfertigen. Die Formulierung „von oben“ soll freilich keine Aussage zur Normenhierarchie treffen, insbesondere keine Hierarchie zwischen Völkerrecht und nationalem (Verfassungs)Recht festlegen, sondern vielmehr verdeutlichen, dass eine Betrachtung aus dem Blickwinkel des EMRK-Völkerrechts erforderlich ist, anhand derer „von oben“ alle Konventionsstaaten durch ein und dieselbe „Brille“ in Augenschein genommen werden. Alle Konventionsstaaten sind zu berücksichtigen, der Blick darf nicht auf den einen zu beurteilenden Staat fokussiert oder begrenzt werden. Zur Beantwortung der Frage, ob die Verfassungsbeschwerde einer Prüfung durch den EGMR am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 EMRK unterliegt, bieten sich drei Ebenen zur Erörterung an: die Subsidiarität der EMRK, der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie die Angemessenheit der Verfahrensdauer. Alle drei Ebenen werden im Folgenden daraufhin überprüft werden, ob die Verfassungsbeschwerde auf einer dieser Stufen „abseits“ gestellt werden kann. II. Subsidiarität der EMRK Inwiefern der Grundsatz der Subsidiarität der EMRK an dieser Stelle eine Rolle spielen könnte, lässt sich schnell beantworten: Einige Entscheidungen des EGMR wurden von deutschen Juristen vor allem deshalb kritisch betrachtet, weil der EGMR einer Beschwerde stattgegeben hatte,1088 die vom BVerfG we1087 van Dijk/van Hoof, Theory and Practice ot the European Convention on Human Rights, S. 77. 1088 Oder dieser zumindest ihre Zulässigkeit bescheinigt hatte.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

gen Unzulässigkeit oder mangels verfassungsrechtlicher Bedeutung nicht zur Entscheidung angenommen worden war. Die meisten europäischen Länder kennen einen solchen dem Gang nach Straßburg vorgeschalteten nationalen Filter, wie ihn das Annahmeverfahren der Verfassungsbeschwerde darstellt, nicht.1089 Gerade deshalb werden Forderungen laut, diese Filterfunktion auch auf europäischer Ebene anzuerkennen. Der Grundsatz der Subsidiarität der EMRK, ein allgemeines völkerrechtliches Prinzip,1090 ergibt sich bereits aus Art. 1 EMRK. Diese Norm besagt, dass die in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten zuallererst von den Konventionsstaaten selbst zugesichert werden.1091 In erster Linie sind damit die staatlichen Behörden, insbesondere die Gerichte, für die Anwendung und Durchsetzung der Konvention verantwortlich.1092 In Art. 13 und 35 EMRK kommt besonders zum Ausdruck, dass der Beschwerdemechanismus der EMRK gegenüber staatlichen Kontrollmechanismen subsidiär ist.1093 Auch im Rahmen der Durchführung rechtskräftiger Urteile, Art. 46 EMRK, hebt der EGMR stets hervor, dass es zunächst dem verurteilten Staat belassen sein müsse, den jeweiligen Richterspruch innerstaatlich umzusetzen, wobei er von Straßburg – subsidiär – überwacht wird.1094 Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert daher, dass der innerstaatliche Rechtsweg vor Anrufung des EGMR ausgeschöpft wird. Sinn und Zweck dessen ist zum einen die Entlastung des Straßburger Gerichtshofs. Zum anderen sollen dem EGMR nur rechtlich und tatsächlich vollständig aufgeklärte Fälle unterbreitet werden.1095 Auch soll die EMRK den nationalen Grundrechtsschutz nicht verdrängen, sondern gewissermaßen als Auffangeinrichtung erst dann greifen, wenn jener versagt oder zu kurz greift.1096 In Bezug auf die Verfassungsbeschwerde liegt der Gedanke nah, diese aufgrund ihrer Besonderheiten nicht zu den im Rahmen des Art. 35 Abs. 1 EMRK auszuschöpfenden innerstaatlichen Rechtsbehelfen zu zählen. Nach deutschem Verfahrensrecht zählt die Verfassungsbeschwerde aufgrund ihres Charakters als außerordentlicher Rechtsbehelf nicht zum Rechtsweg. Sie steht vielmehr jenseits des Instanzenzugs. Deshalb ist daran zu denken, dass ein Kläger, der den Ins1089 Faisst, Verfahrensflut setzt Richter unter Druck, in: Schwäb. Tagblatt v. 5. Oktober 2006. 1090 Grabenwarter, EMRK, § 13 Rn. 19. 1091 Kudla ./. Polen, Beschwerde Nr. 30210/96, Urt. v. 26. Oktober 2000, Ziff. 152. 1092 Meyer-Ladewig, EMRK, Einl., Rn. 31a. 1093 Kudla ./. Polen, Beschwerde Nr. 30210/96, Urt. v. 26. Oktober 2000, Ziff. 152. 1094 Vgl. Broniowski ./. Polen, Beschwerde Nr. 31443/96, Urt. v. 22. Juni 2004, Ziff. 192. 1095 Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, S. 199. Entsprechendes soll der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung sowie der Subsidiarität der deutschen Verfassungsbeschwerde bewirken; die Parallelen sind deutlich sichtbar. 1096 Wildhaber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 689.

6. Kap.: Ansätze zur Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens

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tanzenzug erschöpft hat und in letzter Instanz – etwa beim BGH – erfolglos blieb, sich direkt, ohne zuerst den Weg zum BVerfG zu beschreiten, an den EGMR wenden kann. Die Verfassungsbeschwerde bliebe danach unberücksichtigt bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschwerdeführer vor Einlegung der Individualbeschwerde alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft hat. Die Einlegung der Verfassungsbeschwerde wäre schlicht „Privatvergnügen“ des Beschwerdeführers. Nicht erfasst wird von diesen Überlegungen freilich die Konstellation, in der ein Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde direkt gegen ein Gesetz erhebt. Hier bleibt ihm keine andere prozessuale Möglichkeit als eben die Erhebung der Verfassungsbeschwerde. Art. 35 Abs. 1 EMRK lautet: „Der Gerichtshof kann sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts und nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung befassen.“ 1097

Die ursprüngliche Fassung dieser Regelung – vormals in Art. 26 EMRK verankert – lautete: „Die Kommission1098 kann sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtszuges in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts und innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach dem Ergehen der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung befassen.“

Die Beschwerde zum EGMR soll damit ultima ratio sein. Bereits nach der Urfassung entsprach es der herrschenden Meinung, dass die Verfassungsbeschwerde zum Rechtsweg im Sinne des Art. 26 EMRK (a. F.) gehört.1099 Einige deutsche Autoren äußerten sich diesbezüglich dennoch kritisch – hauptsächlich mit dem Argument, die Verfassungsbeschwerde mit ihrem außerordentlichen 1097 Grundlegend äußerte sich der EGMR zu dieser Vorschrift in der Sache Civet ./. Frankreich, Beschwerde Nr. 29340/95, Urt. v. 28. September 1999, Ziff. 41–44. 1098 So vor Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 (1998) zur EMRK. 1099 So bereits die KOM in den Entscheidungen X. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8961/80, Entsch. v. 8. Dezember 1981; X. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8499/ 74, Entsch. v. 7. Oktober 1980; X. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 12134/86, Entsch. v. 15. Dezember 1988; Kropf ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 14733/89, Entsch. v. 2. Juli 1990. Anders freilich in der Entscheidung H. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 16052/90, Entsch. v. 9. Dezember 1991, wo die KOM die Verfassungsbeschwerde als einen Rechtsbehelf mit subsidiärem Charakter einstufte; zudem hatte die Regierung aus Sicht der KOM nicht hinreichend deutlich gemacht, inwieweit sich die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf das zugrundeliegende Strafverfahren als wirksamer Rechtsbehelf in Bezug auf die Rüge überlanger Verfahrensdauer darstelle. Vgl. im Übrigen Oppermann, Europarecht (1991), Rn. 70; Dörr, Faires Verfahren, S. 86; Peukert, Überlange Verfahrensdauer, S. 265; ders., Die Garantie des „fair trial“ in der Straßburger Rechtsprechung, S. 249 f.; ders., Vorschläge zur Reform des Europäischen Menschenrechtsschutzsystems, S. 176 f.; Bernhardt, Die EMRK und die deutsche Rechtsordnung, S. 341.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

Charakter gehöre nicht zum innerstaatlichen Rechtsmittelverfahren, weshalb ihre vorherige Einlegung auch keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Individualbeschwerde sein könne.1100 Die Argumentation gründet damit, ähnlich wie diejenige zur Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK, auf den Besonderheiten des Rechtsbehelfs der Verfassungsbeschwerde. Richterliche Zurückhaltung sei deshalb seitens Straßburgs geboten, das sich nicht in die Rolle eines obersten Rechtsmittelgerichts begeben dürfe.1101 Dem kann mit Recht entgegengehalten werden, dass der Begriff des „Rechtszuges“ nach der ursprünglichen Fassung mit dem nationalen Rechtszugbegriff nicht zwingend identisch sein muss.1102 Ein Argument dafür, dass weder nach der Urfassung noch nach der neuen Fassung beabsichtigt war, die Verfassungsbeschwerde aus dem Anwendungsbereich der Norm herauszuhalten, liefert im Übrigen die Begründung zum Protokoll Nr. 11 zur EMRK1103 vom 11. Mai 1994: Der neuen Fassung des Art. 35 Abs. 1 EMRK, die ausdrücklich von Rechtsbehelfen1104 spricht, soll nach dem Erläuternden Bericht zum Protokoll Nr. 11 zur EMRK genau dieselbe inhaltliche Bedeutung zukommen wie der ursprüngliche Fassung des Art. 26 EMRK.1105 Die Verfassungsbeschwerde gehört demnach grundsätzlich1106 – sowohl nach der alten Fassung wie auch nach der Neufassung in Art. 35 Abs. 1 EMRK – zum innerstaatlichen Rechtsweg. Der Gesetzeswortlaut der Neufassung verlangt dies ausdrücklich. Allenfalls dann, wenn bereits in Parallelfällen eine ablehnende Entscheidung ergangen war, ist vom Erfordernis der vorherigen Einlegung der Verfassungsbeschwerde abzusehen.1107 Es entspricht deswegen seit jeher nahezu einhelliger Meinung sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum, dass die Verfassungsbeschwerde zum Rechtsweg im Sinne von Art. 35 Abs. 1 EMRK gehört. Ob dies im Einzelfall abweichend zu beurteilen ist – etwa wenn die Verfassungsbeschwerde evident unzulässig war1108 – mag an dieser Stelle dahinstehen. 1100

Beyer, Die Mehrgleisigkeit des Grundrechtsschutzes, S. 578. So freilich in etwas anderem Zusammenhang – Caroline – Hans-Jürgen Papier, FAZ, Nr. 288 v. 9. Dezember 2004, S. 5; Nachweise bei Mückl, Kooperation oder Konfrontation?, S. 405. 1102 Schaupp-Haag, Die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges nach Art. 26 EMRK, S. 103. 1103 BGBl. 1995 Teil II, S. 578. 1104 „nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe“ – also begriffsnotwendig auch die Verfassungsbeschwerde umfassend. 1105 BT-Drs. 13/858, S. 41 (die bisherige Praxis zu Art. 26 EMRK soll ausdrücklich fortgeführt werden); sowie S. 37 Ziff. 41. 1106 Auf eine Ausnahme wird im Folgenden noch einzugehen sein. 1107 Wittiger, Die Einlegung einer Individualbeschwerde vor dem EGMR, S. 1239. 1108 Hierfür plädiert wohl Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, S. 200, die die Einlegung einer evident unzulässigen Verfassungsbeschwerde als nicht korrektes Ausschöpfen des Rechtsweges im Sinne des Art. 35 EMRK ansehen und dementsprechend die Menschenrechtsbeschwerde ebenfalls als unzulässig behandeln will (in 1101

6. Kap.: Ansätze zur Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens

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Speziell im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit darf freilich eine wichtige Ausnahme in Bezug auf Verfassungsbeschwerdeverfahren, die die Rüge überlanger Verfahrensdauer vor den Fachgerichten zum Gegenstand haben, nicht unerwähnt bleiben: Nach bisheriger Straßburger Judikatur musste die Verfassungsbeschwerde auch gegen Verletzungen des Beschleunigungsgebots erhoben werden, um den Anforderungen an die Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe gerecht zu werden.1109 Diese Rechtsprechung hat der EGMR jüngst aufgegeben: Im Fall Sürmeli urteilte er, die Verfassungsbeschwerde stelle im Hinblick auf die Geltendmachung der Verletzung des Anspruchs auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist im „zivil“-gerichtlichen 1110 Instanzverfahren keinen im Sinne des Art. 13 EMRK wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf dar. Aus diesem Grunde brauche sie in diesem Fall auch nicht notwendig vor Einlegung einer Individualbeschwerde erhoben zu werden. Diese Rechtsprechung wurde kürzlich in den Fällen Herbst1111 und Kirsten1112 bestätigt. Der EGMR ging freilich nicht explizit auf die Frage ein, ob dies auch im Falle eines zugrundeliegenden Strafverfahrens gelten solle. Er beschränkte sich vielmehr auf die Aussage, im Hinblick auf das zugrundeliegende Zivilverfahren müsse die Verfassungsbeschwerde nicht erhoben werden, um Art. 35 Abs. 1 EMRK zu genügen.1113 Angesichts der Tatsache, dass das BVerfG ein Strafurteil im Falle eines solchen Verstoßes aufhebt und die Sache mit der Maßgabe zurückverweist, die überlange Verfahrensdauer strafmildernd zu berücksichtigen beziehungsweise bei schweren Verstößen das Verfahren gegebenenfalls selbst einer Einstellung zuführt, erscheint es fraglich, ob die Sürmeli-Rechtsprechung ohne weiteres hierauf übertragen werden kann. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Unterschiede zwischen der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Zivilverfahren und Strafverfahren überzeugt eine solch pauschale Bewertung nicht. Auch der EGMR hat sich in den zuvor genannten Urteilen auf den Ausconcreto bezieht sich die Verfasserin auf den Fall Schmelzer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45176/99, Entsch. v. 12. Dezember 2000) – vgl. hierzu noch unten. 1109 X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8499/79, Entsch. v. 7. Oktober 1980; W./. Deutschland, Beschwerde Nr. 10785/84, Entsch. v. 18. Juli 1986; Reisz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 32013/96, Entsch. v. 20. Oktober 1997; Teuschler ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7636/99, Entsch. v. 4. Oktober 2001; Thieme ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38365/97, Entsch. v. 15. November 2001. 1110 Gemeint sind hier Zivilverfahren im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK, bei denen die rechtsvergleichende Auslegung ergibt, dass sie als „zivilrechtlich“ zu klassifizieren sind. 1111 Herbst ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20027/02, Urt. v. 11. Januar 2007, Ziff. 62–69. 1112 Kirsten ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 19124/02, Urt. v. 15. Februar 2007, Ziff. 29–36. 1113 Sürmeli ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75529/01, Urt. v. 8. Juni 2006, Ziff. 108; Herbst ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20027/02, Urt. v. 11. Januar 2007, Ziff. 63; Kirsten ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 19124/02, Urt. v. 15. Februar 2007, Ziff. 33.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

spruch beschränkt, die Verfassungsbeschwerde stelle jedenfalls im Falle eines zugrundeliegenden Zivilverfahrens keinen wirksamen Rechtsbehelf dar. Eine Ausweitung dieser Rechtsprechung auch auf das Strafverfahren ist damit wohl – zu Recht – nicht beabsichtigt. Die Zugehörigkeit der Verfassungsbeschwerde zu den zu erschöpfenden innerstaatlichen Rechtsbehelfen im Sinne des Art. 35 Abs. 1 EMRK ist also grundsätzlich gegeben. Einzig bei der Rüge angemessener fachgerichtlicher Verfahrensdauer stellt sich dies abweichend dar. Mit dem Inkrafttreten der neuen Untätigkeitsbeschwerde muss diese innerstaatlich bemüht werden, um den Rechtsweg im Sinne des Art. 35 Abs. 1 EMRK zu erschöpfen. Der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde bedarf es nicht mehr. In aller Regel sollte es – so Sinn und Zweck des Art. 35 EMRK – mit einem Gang vor das BVerfG sein Bewenden haben. Die Menschenrechte der EMRK sowie die zugehörigen Protokolle einerseits und die Grundrechte des Grundgesetzes andererseits entsprechen sich nämlich im Großen und Ganzen.1114 Das Grundgesetz enthält darüber hinaus einige Grundrechte, die in der EMRK nicht vorgesehen sind, etwa die in Art. 12 GG geregelte Berufsfreiheit. Außerdem kennt die EMRK keine eigenständige Verbürgung der Gleichheitsrechte; das in Art. 14 EMRK verbriefte Diskriminierungsverbot ist nicht im Sinne eines allgemeinen Gleichheitsgebots zu verstehen,1115 genauso wenig das am 1. April 2005 in Kraft getretene allgemeine Diskriminierungsverbot des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK. Soweit das Grundgesetz also in seinen Gewährleistungen weiter geht als die EMRK, können schon deshalb keine Kollisionen auftreten, weil dem Betroffenen gegen eine behauptete Verletzung etwa der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG seitens der EMRK keine entsprechende Garantie zur Verfügung gestellt wird. Soweit sich Menschenrechte und Grundrechte entsprechen, setzen EGMR und BVerfG zumeist gleiche Maßstäbe an.1116 Man sollte insgesamt also annehmen dürfen, dass über den Subsidiaritätsgrundsatz auch Bagatell-Fälle ausgeschieden werden und nicht zum EGMR gelangen. Gleichwohl sieht die Realität anders aus: Es gibt einige Judikate des EGMR, in denen der Bundesrepublik eine Verletzung attestiert wurde, obwohl das BVerfG die Ver1114

Zuleeg, Menschenrechte, Grundrechte und Menschenwürde, S. 682. Dies ergibt sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm, vgl. hierzu Frowein/Peukert, EMRK, Art. 14 Rn. 1. Bestrebungen, diese Garantie durch ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot zu ersetzen, waren bislang nicht erfolgreich. 1116 Dementsprechend hat der EGMR die Beschwerde von Hans Adam II von Liechtenstein abgewiesen (Hans Adam II von Liechtenstein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42527/98, Urt. v. 12. Juli 2001). Das BVerfG hatte zuvor die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung abgelehnt (BVerfG, Entsch. v. 28. Januar 1998, 2 BvR 1981/97). Auch Luzius Wildhaber geht davon aus, dass im Grunde echte Divergenzen zwischen der Straßburger Rechtsprechung und derjenigen eines Konventionsstaates selten bleiben, Wildhaber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 690; zustimmend auch Mückl, Kooperation oder Konfrontation?, S. 408. 1115

6. Kap.: Ansätze zur Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens

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fassungsbeschwerde entweder nicht zur Entscheidung angenommen hatte, oder die angenommene Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg hatte. Zahlreiche Fälle, die vom BVerfG nicht angenommen wurden, gelangten gleichwohl vor den EGMR.1117 Einprägendes Beispiel ist der Fall Schmelzer:1118 Der mehrfach vorbestrafte Bf., dem BVerfG bereits aus über 100 Verfahren bekannt, hatte eine ganz und gar offensichtlich unzulässige Verfassungsbeschwerde erhoben, der weder entnommen werden konnte, auf welchen Gegenstand sie sich beziehen sollte, noch welche Grundrechtsrügen geltend gemacht werden sollten. Die Beschwerde mit einem Gegenstandswert von 100 DM richtete sich gegen die Notveräußerung seines Kraftfahrzeugs wegen der angelaufenen Unterstellkosten infolge einer im Rahmen eines Strafverfahrens erfolgten Beschlagnahme. Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Anders freilich der EGMR: Aus seiner Sicht war der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft – obwohl die Verfassungsbeschwerde evident unzulässig war.1119 Hätte der EGMR dies nicht mit in seine Überlegungen im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung miteinbeziehen müssen? Andernfalls ist doch vorherzusehen, dass ein Bf., der wegen des Bagatellcharakters in Karlsruhe keinen Erfolg hat, in Straßburg mit größerer Wahrscheinlichkeit erfolgreich ist, weil der EGMR besagten Bagatellcharakter nicht in die Subsidiaritätsprüfung mit einbezieht.1120 Auch wenn manches dafür sprechen mag, zumindest nicht angenommene Verfassungsbeschwerden auf der Ebene der Subsidiarität der EMRK auszuscheiden, 1117

Beispielhaft sind hier die Fälle Vogt ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 17851/91, Urt. v. 26. September 1995; Caroline ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 59320/00, Urt. v. 24. Juni 2004; Schmelzer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45176/99, Entsch. v. 12. Dezember 2000; sowie Görgülü ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 74969/01, Urt. v. 26. Februar 2004 zu nennen. Andererseits darf man die hier zu Tage tretenden Divergenzen in der Entscheidungsfindung beider Rechtsprechungsorgane auch nicht überbewerten. Ihre Bekanntheit ist auch deshalb so groß, weil sie in der deutschen – nicht nur juristischen – Presse sehr in den Vordergrund gestellt wurden. Insbesondere das Urteil im Fall Caroline schlug in Deutschland deshalb große Wellen, weil es sich bei der Genannten um eine sehr öffentlichkeitswirksame Persönlichkeit handelt. Insgesamt betrachtet entsprechen sich der Menschenrechtsschutz der EMRK und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in weitem Maße. Aus diesem Grunde wird auch das BVerfG in den allermeisten Fällen die Annahme einer Verfassungsbeschwerde nicht aufgrund mangelnder grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung ablehnen, obwohl ein Verstoß gegen die entsprechende Garantie der EMRK zu bejahen wäre. Der Subsidiaritätsgrundsatz trägt dementsprechend dazu bei, dass der EGMR von unwesentlichen Fällen verschont bleibt. 1118 Schmelzer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45176/99, Entsch. v. 12. Dezember 2000. 1119 Die Beschwerde scheiterte schließlich daran, dass der EGMR eine Menschenrechtsverletzung für offensichtlich nicht gegeben hielt. Sie wurde deshalb – nach umfangreicher Sachprüfung – für unzulässig erklärt. 1120 So auch geschehen im Fall Stambuk (Stambuk ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 37928/97, Urt. v. 17. Oktober 2002), dessen Verfassungsbeschwerde aufgrund ihres Bagatellcharakters nicht angenommen wurde, obwohl die Grund- und Menschenrechtsverletzung auf der Hand lag.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

überzeugt diese Lösung nicht: Jedermann muss die Möglichkeit haben, nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs den EGMR im Wege der Individualbeschwerde anzurufen. Ein umfassender Menschenrechtsschutz, wie ihn die EMRK anstrebt, setzt dies nun einmal voraus. Gelangte man nun zu dem Ergebnis, der EGMR müsste im Falle einer unzulässigen oder nicht angenommenen Verfassungsbeschwerde mit Bagatellcharakter die erforderliche Ausschöpfung des Rechtswegs verneinen, so fragt man sich, was der rechtsuchende Bürger stattdessen hätte tun sollen. Im Fall einer unzulässigen Verfassungsbeschwerde mag dies noch einleuchten – er hätte ganz einfach eine zulässige Beschwerde erheben können. Was aber ist mit einer Verfassungsbeschwerde mit Bagatellcharakter, die eben aufgrund dieses Charakters mangels grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung nicht angenommen wird? Sollte der EGMR etwa alle diese Fälle bereits auf Subsidiaritätsebene ausscheiden? Das kann nicht im Sinne der EMRK sein. Die EMRK grenzt im Rahmen der Rechtswegerschöpfung bewusst nicht nach dem Gegenstandswert ab. Dieser findet auf anderer Ebene Beachtung – beim Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer wird die Bedeutung der Sache etwa beim Prüfungspunkt ,Angemessenheit der Verfahrensdauer‘ berücksichtigt. Im Übrigen kann diese Lösung auch im Fall einer unbegründeten Nichtannahmeentscheidung nicht überzeugen: Woher soll der EGMR „wissen“, warum genau das BVerfG die Beschwerde nicht angenommen hat? Kann er in diesem Fall nachvollziehen, dass es sich tatsächlich um einen Bagatell-Fall handelte? Will man vom EGMR nicht fordern, Erkundigungen beim BVerfG über den Grund für die Nichtannahme einzuholen, ist diese Frage zu verneinen.1121 Im Übrigen gibt das gegenwärtige System der EMRK für eine solche Lösung auch aus rechtlicher Sicht nichts her. Art. 35 EMRK fordert lediglich die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs. Der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhoben hat, die vom BVerfG mangels grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung nicht zur Entscheidung angenommen wurde, kam dieser Pflicht offensichtlich nach; eine andere Möglichkeit stand ihm nicht offen. Allein demjenigen Bürger, der eine evident unzulässige Beschwerde erhebt, könnte ein „Vorwurf“ zu machen sein. Ob dies freilich dazu berechtigt, die Verfassungsbeschwerde bereits auf Subsidiaritätsebene auszusondern, ist mehr als fraglich. Dem Beschwerdeführer ist die Einlegung einer unzulässigen Beschwerde wohl eher im Rahmen der Sachprüfung vorzuhalten.1122 1121 Es grenzt an faktische Unmöglichkeit, vom EGMR zu fordern, sich in jedem Fall einer unbegründeten Nichtannahmeentscheidung beim BVerfG über dessen Gründe zu informieren. Soweit ersichtlich wurde diese Forderung bislang zu Recht nicht erhoben. 1122 Etwa im Rahmen der Angemessenheit der Verfahrensdauer: Hier würde man dem Bf. vorwerfen müssen, durch die Einlegung der unzulässigen Beschwerde selbst zur Verfahrensdauer beigetragen zu haben.

6. Kap.: Ansätze zur Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens

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Zwar erscheint bisweilen unbefriedigend, dass eine Beschwerde – obwohl der Gang nach Karlsruhe evident unzulässig war – in Straßburg angenommen wurde und womöglich mit der Feststellung endete, ein Verstoß gegen die EMRK sei zu bejahen. Nichtsdestotrotz sind die Zulässigkeits- beziehungsweise Annahmevoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG streng zu trennen von der Subsidiaritätsprüfung, die der EGMR vornimmt. Rechtlich haben beide nichts miteinander zu tun. Wer dem gleichwohl kritisch gegenüber steht, mag getröstet sein: Vermutlich noch im Jahr 20071123 wird das Protokoll Nr. 14 zur EMRK in Kraft treten, welches dieser Diskrepanz wohl Abhilfe schaffen wird. Nach diesem Protokoll wird dem EGMR die Nichtannahme der Beschwerde mit der Folge ihrer Unzulässigkeit erlaubt sein, wenn der Beschwerdeführer keinen besonderen Nachteil erleidet.1124 Die eben diskutierten Bagatellfälle können über diesen Weg ausgeschieden werden. Ebenso soll der EGMR nach der Neuregelung die Nichtannahme einer Beschwerde durch das BVerfG wegen Unzulässigkeit respektieren. Die Beschwerde wird in diesen Fällen so behandelt, als wäre der innerstaatliche Rechtsweg nicht erschöpft.1125 Die Notwendigkeit der durch das Protokoll Nr. 14 vorgesehenen Neuerungen macht deutlich, dass – zumindest nach der gegenwärtigen Rechtslage – eine nach innerstaatlichem Recht unzulässige oder nicht angenommene Verfassungsbeschwerde nicht zugleich auch aus der Prüfung am Maßstab der EMRK ausgeschlossen werden darf. Die Ausscheidung der Verfassungsbeschwerde auf der Ebene der Subsidiarität verbietet sich demzufolge (noch). Ob das Protokoll Nr. 14 den aufgezeigten Unzulänglichkeiten Abhilfe schaffen kann, bleibt abzuwarten. Für die Lösung des hier angesprochenen Problems bietet der Subsidiaritätsgrundsatz jedenfalls keine befriedigende Hilfestellung.

1123

Bereits für 2006 war das Inkrafttreten des 14. Protokolls eigentlich vorgesehen. Nach Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14 soll in Art. 35 EMRK folgender Absatz eingefügt werden: „Der Gerichtshof erklärt eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde für unzulässig, a. wenn er sie für unvereinbar mit dieser Konvention oder den Protokollen dazu, für offensichtlich unbegründet oder für missbräuchlich hält oder b. wenn er der Ansicht ist, dass dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist, es sei denn, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, erfordert eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde, und vorausgesetzt, es wird aus diesem Grund nicht eine Rechtssache zurückgewiesen, die noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist.“ 1125 Vertiefte Nachweise zu den geplanten Neuerungen im Zuge des Protokolls Nr. 14 zur EMRK bei Keller/Bertschi, Erfolgspotenzial des 14. Protokolls zur EMRK, S. 204 ff.; Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, S. 202 f.; Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 58 ff.; Siess-Scherz, Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für den Reformprozess des EGMR, S. 83 ff.; sowie in BT-Drs. 16/19 (20. November 2005). 1124

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

III. Der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK 1. Aussonderung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens Möglicherweise ergibt sich aus einer – richtig verstandenen – autonomen Auslegung, der zufolge sich die Einordnung des betreffenden Anspruchs unter anderem nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten der EMRK zu richten hat, dass das Verfassungsbeschwerdeverfahren mangels internationaler Vergleichbarkeit aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK auszuscheiden ist. Der EGMR freilich, obgleich Mit-Urheber der autonomen Auslegung, scheut sich vor einer wirklich vertieften Auseinandersetzung mit der rechtsvergleichenden Methode.1126 Anstelle rechtsvergleichend zu arbeiten, begibt er sich auf den gewohnten Weg der Prüfung über den standardisierten Überleitungssatz, jeder Staat habe sein Gerichtswesen so einzurichten, dass er den in Art. 6 Abs. 1 EMRK statuierten Verpflichtungen genügen könne. Zu seiner Aussage im Belgischen Sprachenfall1127, wonach ein Staat, der – freilich ohne hierzu verpflichtet zu sein – Verfassungsgerichte einrichtet, über seine ihm im Hinblick auf Art. 6 EMRK obliegenden Verpflichtungen hinausgeht, mithin „mehr“ tut als erforderlich, steht dies freilich im Widerspruch. Genau diese Inkonsequenz im Prüfungsaufbau des EGMR wird von vielen Seiten – selbst von am maßgeblichen Urteil beteiligten Richtern – scharf kritisiert. So geht mancher Vorwurf sogar so weit, der EGMR scheue sich vor einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Recht der Mitgliedstaaten aus der Angst heraus, das jeweilige Recht nicht richtig zu interpretieren und sich deshalb der „Lächerlichkeit“ preis zu geben.1128 Hier schlägt die Stunde der „Rechtsvergleichung als Zukunftswissenschaft“ (Peter Häberle).1129 Eine Konvention, die von Staaten mit unterschiedlichsten Rechtsordnungen unterzeichnet wurde und das Ziel hat, gemeinsame Werte und Anschauungen gewissermaßen „unter einem gemeinsamen Dach zu vereinigen“ und die unterschiedlichen Interessen zu bündeln, kann nicht völlig autonom und losgelöst ausgelegt werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die EMRK die „Bodenhaftung“ verliert und der EGMR im „luftleeren Raum“ argumentiert. Die Konventionsstaaten 1126 So auch die Kritik am Caroline-Urteil des EGMR (Beschwerde Nr. 59320/00, Urt. v. 24. Juni 2004) von Halfmeier, der die Entscheidung als „dezisionistische Rechtsvereinheitlichung par ordre du mufti, der keine nennenswerten rechtsvergleichenden Anstrengungen zugrunde liegen“, bezeichnet; Nachweise bei Mückl, Kooperation oder Konfrontation?, S. 405. Auf diese Weise überzöge der EGMR die Rolle eines internationalen Gerichts, Grimm, FAZ v. 14. Juli 2004, S. 34, zitiert bei Mückl, Kooperation oder Konfrontation?, S. 405. 1127 Belgischer Sprachenfall, Beschwerden Nr. 1474/62, 1691/62, 1769/63, 1994/ 63, 2126/64, 1677/62, Urt. v. 23. Juli 1968, Ziff. 9. 1128 So Mosler, Rechtsvergleichung vor völkerrechtlichen Gerichten, S. 409; Bothe, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Praxis internationaler Gerichte, S. 286. 1129 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 477.

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müssen ihre eigenen Rechtstraditionen zumindest ansatzweise in den Judikaten aus Straßburg wiedererkennen können. Wendet man diese Voraussetzungen auf die Frage der Einbeziehung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK an, so ergibt sich Folgendes: Beim BVerfG müsste es sich um ein Gericht handeln, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen beziehungsweise über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Eigentlich tut es dies wie bereits erwähnt nicht; vielmehr entscheidet es über mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachte Grundrechtsverstöße.1130 Fraglich ist aber, ob hierauf bei der Betrachtung aus völkerrechtlichem Blickwinkel überhaupt abgestellt werden darf. Ginge man, streng formal den deutschen verfassungsrechtlichen Ansatz wählend, davon aus, das BVerfG entscheide im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens immer „nur“ über Grundrechte, weshalb der Tatbestand des Art. 6 Abs. 1 EMRK nie erfüllt wäre, gewährte man dem Gericht im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens gewissermaßen einen „Freifahrschein“. Verfassungsbeschwerdeverfahren, die 96% der beim BVerfG eingehenden Verfahren ausmachen,1131 unterfielen dann niemals dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dass diese Lösung nicht richtig sein kann, drängt sich auf. Der EGMR versucht diesen Dissens zu lösen, indem er mit der bereits erwähnten Auswirkens-Formel operiert. Er gelangt so zum Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK immer auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren anwendbar ist. Dass dieser gleichermaßen pauschale, „umgekehrte“ Schluss ebenfalls nicht die Lösung des Problems sein kann, ist evident: Sie passt – nicht nur nach deutschem Rechtsverständnis – insbesondere dann nicht, wenn der Rüge einer Verletzung von Art. 12 und 14 GG im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Verletzung einfachgesetzlicher, klassisch1132 öffentlich-rechtlicher Normen zugrunde liegt.1133 Abzulehnen ist sie aber insbesondere deshalb, weil dann – mit Ausnahme zugrundeliegender Strafverfahren – zwischen solchen Verfassungsbeschwerdeverfahren, im Rahmen derer lediglich die Dauer vor den Instanzgerichten gerügt wird und solchen, im Rahmen derer daneben auch materielle Grundrechte gerügt werden, unterschieden werden müsste: Die Auswirkens-Formel dürfte im ersteren Fall nicht zum Zuge kommen, da eben die bundesverfassungsgerichtliche Feststellung eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot mangels Beruhens auf 1130

So auch Favoreu, Cours constitutionnelles nationales et CEDH, S. 797. Im Jahr 2005 waren von insgesamt 157.233 eingehenden Verfahren 151.424 Verfassungsbeschwerden, Nachweise abrufbar unter http://www.bverfg.de/organisation/ gb2005/A-I-4.html. 1132 Also auch nach dem Recht anderer Konventionsstaaten als öffentlich-rechtlich zu beurteilender Normen. 1133 Etwa Normen der Handwerksordnung oder sonstiger berufsständischer Ordnungen. 1131

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dem Verfahrensverstoß niemals zur Aufhebung der betreffenden Instanzgerichtsentscheidung führen würde. Diese Konsequenz zieht der EGMR freilich nicht. Vorzugsweise sollte der EGMR stattdessen – um völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen gerecht zu werden – im Wege der Rechtsvergleichung klären, ob auch in anderen Mitgliedstaaten ein Instrument wie dasjenige der Verfassungsbeschwerde zur Verfügung steht. Wenn dann nach dem Recht dieser Staaten das Verfassungsgericht im Rahmen der Verfassungsbeschwerde mittelbar oder unmittelbar über „zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen“ entscheidet, hätte dies auch Konsequenzen für die Beurteilung der deutschen Verfassungsbeschwerde. Nur über die rechtsvergleichende Methode kann sich gegebenenfalls ergeben, dass es unerheblich ist, ob nach deutschem Verfassungsverständnis im Verfassungsbeschwerdeverfahren allein über Grundrechte entschieden wird. Diese Tatsache hat bei der Rechtsvergleichung zurückzustehen, da es nur darauf ankommt, ob es in anderen Vertragsstaaten ein der Verfassungsbeschwerde vergleichbares Instrument gibt und ob das Gericht dieses betreffenden Konventionsstaates – sei es unmittelbar oder mittelbar – über zivilrechtlichen Ansprüchen oder Verpflichtungen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK gleichzusetzende Grundrechte entscheidet. Einem hieraus resultierenden weiteren Begriffsverständnis der „zivilrechtlichen Ansprüche oder Verpflichtungen“ müsste das deutsche Rechtsverständnis – aus dem Blickwinkel des Völkerrechts – sich dann beugen. In Anwendung dieser Grundsätze gelangt man gleichwohl auch im Wege der Rechtsvergleichung recht schnell zu dem Punkt, dass ein „gemeinsamer Nenner“ nicht zu ermitteln ist, da die Verfassungsbeschwerde, wie bereits dargestellt, auch im europäischen Kontext beispiellos ist. Bedeutet dies, dass die Besonderheiten der Verfassungsbeschwerde im Vergleich mit den Rechtstraditionen der übrigen Konventionsstaaten gleichsam herausragen und deshalb eben eine andere Behandlung verdienen? Wie ist vorzugehen, wenn ein „gemeinsamer Nenner“ überhaupt nicht ermittelt werden kann, weil es keinen Vergleichsmaßstab gibt? Die einschlägige Literatur liefert hierfür keine Lösungsansätze. Zur Beantwortung dieser Frage müssen zuvörderst die Folgen vergegenwärtigt werden, die sich bei einer Sonderbehandlung der Verfassungsbeschwerde auf dieser Prüfungsstufe ergäben. Dies bewirkte – wie bereits erwähnt – einen Freifahrschein für die Bundesrepublik. Unterstellt, das BVerfG ließe sich 20 Jahre Zeit um eine Nichtannahmeentscheidung zu treffen, bestünde keine Möglichkeit, dies durch den EGMR am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 EMRK überprüfen zu lassen. Kann derartiges akzeptiert werden? Kann sich ein Staat durch Schaffung einzigartiger Instrumente der Prüfung durch den EGMR entziehen? Genau dies wäre nämlich die Konsequenz. Die Staaten hätten es in der Hand, durch entsprechende „Kreationen“ den Anwendungsbereich der EMRK auszuhebeln. Insofern ist der Aussage des EGMR, die Konventionsstaaten seien dafür verantwortlich, die Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK durch ein funktionierendes

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Gerichtssystem sicherzustellen, letztlich beizupflichten. Diese Verpflichtung muss auch für ein Verfassungsgericht gelten – selbst wenn es über eine Verfassungsbeschwerde zu entscheiden hat. Jedes andere Ergebnis hätte zur Folge, dass sich das BVerfG im „völkerrechtsfreien Raum“ bewegen würde. Dass dies nicht sein kann, war aber auch den Unterzeichnern der Konvention auf deutscher Seite am 3. September 1953 bewusst. Andernfalls hätten diese bei Unterzeichnung der Konvention einen Vorbehalt gem. Art. 57 EMRK dahingehend gemacht, dass die Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 EMRK für ein Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht gelten solle.1134 Sich jetzt darauf zu berufen, das Verfassungsbeschwerdeverfahren müsse per se aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK herausfiltriert werden, grenzte an widersprüchliches Verhalten (estoppelPrinzip1135). Festzuhalten ist, dass das Verfassungsbeschwerdeverfahren allein aufgrund seiner Besonderheiten und mangelnder Vergleichbarkeit mit anderen europäischen Instituten nicht aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK herausgehalten werden kann. Die Tatsache, dass im Verfassungsbeschwerdeverfahren über Grundrechtsverstöße, nicht unmittelbar über „zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen“ im Sinne deutschen Rechts entschieden wird, kann dem nicht entgegengehalten werden. Deutsches Begriffsverständnis kann hier nicht allein maßgeblich sein. Als ein „civil right“ lässt sich ein nach dem Grundgesetz gewährleistetes Grundrecht nach völkerrechtlichem Begriffsverständnis durchaus begreifen. Überdies kann mit der Formel der mittelbaren Entscheidung über die „dahinterstehenden“ Grundrechte argumentiert werden. Gleichwohl muss dies nicht bedeuten, dass ein Verfassungsbeschwerdeverfahren im Wege eines Automatismus immer in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt: Man denke in diesem Zusammenhang nur an den bereits mehrfach erwähnten Fall König, der unabhängig von der Frage, ob das verfassungsgerichtliche Verfahren mit einzubeziehen ist, deshalb Anlass zur Kritik bietet, weil dem durch Rechtsvergleichung zu ermittelnden gemeinsamen Nenner nicht Rechnung getragen wurde. Die zugrundeliegenden Ansprüche bezie1134 Gleichwohl versuchte die Bundesrepublik in ihrer Stellungnahme im Fall RuizMateos ./. Spanien, Beschwerde Nr. 14324/88, Entsch. v. 19. April 1991, die Nichtanwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK damit zu begründen, dass sie andernfalls die Konvention nicht ratifiziert hätte – zumindest was die Anwendbarkeit auf verfassungsgerichtliche Verfahren angeht, vgl. die Nachweise bei Favoreu, Cours constitutionnelles nationales et CEDH, S. 798. 1135 Das estoppel-Prinzip enthält das Verbot des „venire contra factum proprium“. Veranlasst danach eine Vertragspartei durch ihr Verhalten eine andere Partei zu einem bestimmten rechtserheblichen Handeln, so kann sie sich später auf ein diesem Verhalten widersprechendes Recht nicht mehr berufen, wenn dadurch die andere Partei einen rechtlichen Nachteil erleiden oder im Vertrauen auf diese Haltung ihre eigene Position verändern würde. Tragender Gehalt des estoppel-Prinzips ist damit der Gedanke des Vertrauensschutzes. Weiterführend Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, Abschn. 1, Rn. 134 ff., 149.

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hungsweise Verpflichtungen hätten nach dem Ergebnis der Rechtsvergleichung unzweifelhaft dem klassischen öffentlich-rechtlichen Kernbereich zugeordnet werden müssen. Gleiches gilt etwa in Bezug auf eine Verfassungsbeschwerde gegen eine finanzgerichtliche Entscheidung, die ja selbst nach der weiten Rechtsprechung des EGMR Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht unterfallen soll. Hier muss dann konsequenterweise auch das Verfassungsbeschwerdeverfahren von Art. 6 Abs. 1 EMRK „verschont“ bleiben und zwar nicht deshalb, weil ein Verfassungsbeschwerdeverfahren im Spiel ist, sondern weil sich hier die verfassungsgerichtliche Entscheidung auch nicht über die Formel der „mittelbaren Entscheidung“ als solche über ein „civil right“ darstellen kann. Generell ist das Verfassungsbeschwerdeverfahren daher in den für die Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer relevanten Zeitraum einzubeziehen und kann nicht – wie teilweise gefordert1136 – per se aus der Gesamtdauer „herausgerechnet“ werden. Bei aller Kritik an der Vorgehensweise des Gerichtshofs ist diesem damit im Ergebnis zuzustimmen, wenn er Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht generell aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausscheiden will. Ausnahmen können sich folglich allein aus der Feststellung ergeben, dass entweder in Bezug auf den Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ein gemeinsamer Nenner nicht zu ermitteln ist, oder dass eben das in Frage Stehende nach den Rechtsordnungen aller oder zumindest der überwiegenden Mitgliedstaaten kein „civil right“ beziehungsweise keine „criminal charge“ darstellt. Eine solche Ausnahme ergibt sich aber keinesfalls aus dem Umstand, dass ein Verfassungsbeschwerdeverfahren zur Überprüfung ansteht, sondern allein daraus, dass das in Frage stehende Recht nach dem Recht aller Konventionsstaaten dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist. 2. Aussonderung der Nichtannahmeentscheidungen Wenn auch nicht das Verfassungsbeschwerdeverfahren als solches aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK auszusondern ist, gilt möglicherweise abweichendes für die vom BVerfG im Wege der Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde getroffenen Entscheidungen. Bereits oben wurde beschrieben, dass das BVerfG im Falle einer Nichtannahme keine materielle Rechtsprüfung vornimmt, sondern die Sache lediglich summarisch daraufhin untersucht, ob ein Annahmegrund im Sinne des § 93a BVerfGG vorliegt. Angesichts dessen kommt in Betracht, das Vorliegen einer Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu verneinen.1137 Mangels Entscheidung des Gerichts in der Sache wäre die Einbeziehung der Nichtannahmeentscheidungen danach abzulehnen.1138 1136

Bergmann, Das Bundesverfassungsgericht, S. 623. So auch Frowein/Peukert, Art. 6 Rn. 142 (ob die Autoren diese Auffassung auch heute noch vertreten, ist zweifelhaft – die aktuellste Auflage des Kommentars 1137

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Folgt man dagegen der bereits beschriebenen Auswirkens-Formel des EGMR, so gelangt man freilich zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar ist. Die hypothetische Frage, ob im Falle des Erfolges Einfluss auf den zivilrechtlichen Anspruch des Beschwerdeführers genommen würde, ist – selbst im Falle einer offensichtlich unzulässigen Beschwerde – bei gleichzeitiger Geltendmachung auch von materiellen Grundrechten zu bejahen, da gem. § 95 BVerfGG eine Beeinflussung des Rechtsstreits vor den Instanzgerichten angesichts der Möglichkeit der Aufhebung der Entscheidung zumindest theoretisch möglich ist.1139 Hat das BVerfG seine Nichtannahmeentscheidung zumindest begründet, wäre die Vorgehensweise des EGMR eher nachvollziehbar: Im Fall eines begründeten Nichtannahmebeschlusses ist davon auszugehen, dass sich das BVerfG mit der behaupteten Grundrechtsverletzung materiellrechtlich zumindest befasst hat. Darauf hat der EGMR auch seine Auffassung im Fall Süßmann gestützt.1140 Die Richter Jambrek und Pettiti hatten in ihrer abweichenden Meinung zwar die Auffassung vertreten, eine Entscheidung im Annahmeverfahren, in welchem die Kammer darauf beschränkt sei, die Stellungnahmen des Beschwerdeführers in der Sache auf ihre Erfolgsaussichten hin zu prüfen, entspreche nicht der Ausübung voller Gerichtsbarkeit. Es handle sich gerade nicht um eine abschließende Entscheidung über die Begründetheit der Sache. Zwar enthalte auch eine Entscheidung im Annahmeverfahren eine detaillierte Würdigung in der Sache; gleichwohl sei es eben keine volle Begründetheitsprüfung.1141 Gleichwohl wurden die Nichtannahmeentscheidungen in den dem Süßmann-Urteil nachfolgenden Judikaten einstimmig in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK miteinbezogen, gleich ob diese mit1142 oder ohne1143 Begrünstammt von 1996). Fragwürdig erscheint das Zitat zudem im Vergleich mit Art. 6 Rn. 27, wo vertreten wird, allein eine unzulässige Verfassungsbeschwerde sei aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK herauszuhalten. 1138 So im Ergebnis auch Malinverni, Droit à un procès équitable et cours constitutionnelles, S. 390. 1139 So der EGMR bspw. im Fall Süßmann, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 43 unter Verweis auf die kassatorische Entscheidungsbefugnis des BVerfG. 1140 Ziff. 45: „Zwar hat die mit drei Mitgliedern besetzte 2. Kammer des Ersten Senats in diesem Falle die Beschwerde von Herrn Süßmann im Zuge eines Annahmeverfahrens (§§ 93a und 93b BVerfGG in der Fassung von 1985) nicht angenommen. Gleichwohl hat es sich in der Begründung dieser Entscheidung mit den Argumenten des Bf. auseinandergesetzt und insbesondere genau geprüft, ob der Bundesgerichtshof bei der Bestätigung der Rechtsgültigkeit der Satzungsänderungen das verfassungsmäßige Eigentumsrecht des Bf. verletzt hatte.“ (Hervorhebung durch Verf.) 1141 Abweichende Meinung des Richters Jambrek, der sich Richter Pettiti anschloss, abgedruckt in EuGRZ 1996, 521 f. 1142 Kind ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 44324/98, Urt. v. 20. Februar 2003, Ziff. 43. 1143 Uhl ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 64387/02, Urt. v. 10. Februar 2005, Ziff. 26; hier handelte es sich sogar um eine mangels Substantiierung unzulässige Ver-

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dung ergingen. Grund hierfür mag wohl sein, dass die genannten Kritiker an den folgenden, die Bundesrepublik Deutschland betreffenden Urteilen nicht mehr beteiligt waren. Richtigerweise darf nicht die hypothetische Frage nach der Auswirkung der Verfassungsbeschwerde im Falle ihres Erfolgs gestellt werden. Vielmehr muss schlicht geprüft werden, ob sich die Annahmeentscheidung selbst – gleich ob sie positiv oder negativ endet – als Entscheidung über „civil rights“ oder über eine „criminal charge“ darstellt. Nach der Konzeption der Annahmeverfahrensregelungen muss diese Frage an sich abschlägig beantwortet werden, da das Annahmeverfahren als Gerichts-Zugangsverfahren sui generis1144 lediglich eine Entscheidung über die Verfahrensannahme, nicht aber über die Zulässigkeit oder Begründetheit der Sache selbst darstellt.1145 Dem steht jedoch entgegen, dass der EGMR im Falle einer unbegründeten Nichtannahmeentscheidung nicht erkennen kann, von welchen Gründen sich das BVerfG hat leiten lassen, beziehungsweise ob eine inhaltliche Befassung überhaupt stattfand.1146 Spekulationen seinerseits über diese Frage verbieten sich jedenfalls – dies gehört gewiss nicht zu den Aufgaben des Gerichtshofs.1147 Die Entscheidung über die Einbeziehung auch der Nichtannahmeentscheidungen hängt vielmehr maßgeblich davon ab, welche Bedeutung der Wendung „Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ respektive „Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage“ beizumessen ist: Aus nationaler Sicht ist die Einbeziehung mangels Vorliegens einer Sachentscheidung im Annahmeverfahren zu verneinen. Dort wird rein verfahrenstechnisch überprüft, ob ein Annahmegrund vorliegt. Kommt das Gericht zum Ergebnis, dass ein solcher Grund nicht vorliegt, hat es allein über diese verfahrensrechtliche Vorfrage entschieden, nicht aber über das Vorliegen eines Anspruchs. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet könnte das Vorliegen einer Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen beziehungsweise über eine strafrechtliche Anklage verneint werden. fassungsbeschwerde. Gleichwohl hatte die Kammer nach dem oben beschriebenen Muster die Entscheidung im Annahmeverfahren getroffen. 1144 Lechner/Zuck, BVerfGG, vor § 93a Rn. 5. 1145 So auch Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, S. 200, die darauf hinweist, dass die Entscheidung des BVerfG, die Annahmevoraussetzungen des § 93a BVerfGG lägen nicht vor, nicht bedeutet, dass kein Grundrechtsverstoß festzustellen ist. 1146 So der EGMR selbst in: Keles ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 32231/02, Urt. v. 27. Oktober 2005, Ziff. 44: „In these circumstances, the Court is not in a position to take place of the Federal Constitutional Court and to speculate why it had decided not to admit the complaint.“; ebenso in Stork ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 38033/ 02, Urt. v. 13. Juli 2006, Ziff. 33; sowie Klasen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75204/ 01, Urt. v. 5. Oktober 2006, Ziff. 25. 1147 So der EGMR ausdrücklich in Petersen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 68891/ 01, Entsch. v. 12. Januar 2006.

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Aus völkerrechtlicher Sicht hingegen könnte die Tatsache, dass eine Nichtannahmeentscheidung in einem nur summarischen Verfahren ergeht und sich allein der Frage widmet, ob ein Annahmegrund im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG vorliegt, nebensächlich sein: Wenn es hier nicht entscheidend ist, dass das BVerfG nur über Grundrechtsverstöße befindet, kann mit gutem Grunde noch weitergehend auch eine im summarischen Verfahren ergangene Entscheidung dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu subsumieren sein. Wenn also Entscheidungen über Grundrechtsverstöße der Entscheidung über „zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen“ beziehungsweise über eine „strafrechtliche Anklage“ gleichzusetzen sind, dann besteht kein Grund, dies bei einer summarischen Entscheidung abweichend zu handhaben. Mit dem rein verfahrensrechtlichen Argument, es handle sich dabei nach deutschem Verfahrensrecht schließlich nicht um eine Sachentscheidung, kann jedenfalls auf völkerrechtlicher Ebene nicht agiert werden. Art. 6 Abs. 1 EMRK unterscheidet nicht zwischen summarischen Entscheidungen und vollständiger Überprüfung der Sach- und Rechtslage. Schlagendes Argument für diese Sichtweise stellt wiederum die Rechtsfolgenseite dar: Aus Sicht des Völkerrechts und in Anbetracht dessen, dass die EMRK einen völkerrechtlichen Vertrag darstellt, welchem sich die Bundesrepublik Deutschland vollumfänglich unterworfen hat, missfällt es, dem BVerfG – trotz seiner wohl unbestrittenen Sonderrolle – einen „Freifahrschein“, eine carte blanche1148, in Bezug auf das weite Feld der Nichtannahmeentscheidungen zuzubilligen und es von völkerrechtlichen Verpflichtungen, welche die EMRK den einzelnen Staaten auferlegt, hier gänzlich unberührt zu lassen. Im Ergebnis würde die Außerachtlassung des Annahmeverfahrens nämlich bedeuten, dass sich das BVerfG für eine Nichtannahmeentscheidung unbegrenzt und von keiner Seite behelligt Zeit lassen könnte. Man stelle sich einmal vor, was es für den Rechtssuchenden bedeutete, wenn er im Wechsel zwischen Hoffen und Bangen zehn Jahre warten muss, um dann zu erfahren, dass seine Beschwerde erst gar nicht die Vorrunde passiert hat! Ist nicht vielmehr erst recht bei einer summarischen Entscheidung, die zumal in einem speziellen Verfahren ergeht, welches Zeit sparen soll, zu fordern, dass diese Entscheidung besonders zügig ergeht? Diese Frage muss bejaht werden. Der „einfache“ Weg, die Verfassungsbeschwerde bereits im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK völlig außer Acht zu lassen, steht jedenfalls mit den sich aus der EMRK ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands zu einer effektiven Gewährleistung der Konventionsrechte nicht in Einklang.

1148 So im Ergebnis auch Hoffmann-Riem, Kohärenz europäischer und nationaler Grundrechte, S. 476, wonach für ein verfassungsgerichtliches Verfahren ebenfalls das Zügigkeitsgebot gelten muss.

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Die Entscheidung im Annahmeverfahren stellt unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten daher gleichfalls eine Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen beziehungsweise eine strafrechtliche Anklage dar: Zugegebenermaßen handelt es sich zwar nicht um eine Entscheidung zu dem zugrundeliegenden, möglicherweise auch nach deutschem Recht „zivilrechtlichen“ Anspruch, wohl aber eine solche über denselben. Wird etwa eine zivilrechtliche Klage gem. § 823 BGB abgewiesen, weil die Klage bereits aus formalen Gründen unzulässig war, so stellt diese Klageabweisung zwar keine Entscheidung zu § 823 BGB dar, wohl aber eine solche über den geltend gemachten Anspruch. Vergleichbares muss auch vorliegend gelten. Das Verfassungsbeschwerdeverfahren unterfällt damit insgesamt, auch hinsichtlich seines Annahmeverfahrens, grundsätzlich dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK.1149 IV. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer 1. Vorbemerkungen In diesem Abschnitt wird erörtert werden, warum und auf welche Weise das zu diesem Zweck bereits erläuterte völkerrechtliche Institut der Lehre vom Beurteilungsspielraum in Verbindung mit dem Souveränitätsprinzip dazu führt, dass das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf der Ebene der Bestimmung der Angemessenheit mit etwas anderem Maßstab zu messen ist. In Betracht kommt die Gewährung eines zeitlichen „Aufschlags“. Dabei ist klarzustellen, dass ein eventuell zu gewährender zeitlicher Aufschlag nicht jedem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu gewähren ist, welches vor den EGMR gelangt. Folgte man dem, so könnte man sich den Weg über die Bejahung der Frage der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren sparen und sogleich das Eingangstor zu Art. 6 Abs. 1 EMRK versperren. Der hier skizzierte Lösungsvorschlag widmet sich vielmehr allein denjenigen Verfassungsbeschwerdeverfahren, bei denen der Beschwerdeführer – zumindest auch – die Verfahrensdauer vor dem BVerfG selbst beklagt. Ein „Bonus“ verbietet sich hingegen von vornherein, wo es allein um behauptete Verfahrensverstöße der Instanzgerichte geht, das BVerfG seinerseits zügig vorgegangen war, und die Verfahrensdauer vor dem BVerfG lediglich deshalb miteinbezogen wurde, weil erst mit der verfassungsgerichtlichen Entscheidung ein Verfahrensabschluss1150 vorliegt. Diese Fälle sind wie gewohnt zu behandeln. Ein zeitlicher Aufschlag kann konsequenterweise nur dort in Betracht kommen, wo 1149 Sofern nicht der zugrundeliegende Rechtsstreit – etwa steuerrechtliche Verfahren – nach rechtsvergleichender Auslegung dem öffentlichen Recht zuzurechnen ist. 1150 Der Verfahrensabschluss ist nach dem oben erzielten Ergebnis, wonach das Verfassungsbeschwerdeverfahren mit einzubeziehen ist, konsequenterweise erst in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu sehen.

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auch das BVerfG selbst wegen behaupteter Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vom Beschwerdeführer angegriffen wird. Wie bereits erläutert, überprüft der EGMR die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Einzelfall anhand des bekannten Kriterienbündels. Vorab betont der Gerichtshof dabei stets die Bedeutung der Rechtsvergleichung, welche unter Umständen dazu führen könne, dass nationalen Besonderheiten Rechnung getragen werden muss. Vor allem wenn Verfassungsgerichtsverfahren betroffen sind, könnten für diese „Hüter der Verfassung“ 1151 andere Maßstäbe anzusetzen sein. Gleichwohl werden die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, die geeigneten Maßnahmen ergreifen, um Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht zu werden.1152 Diese Forderung richtet sich an die Instanzgerichte und das BVerfG gleichermaßen. Im Ergebnis relativiert sich so die von Straßburg einleitend in Aussicht gestellte Sonderbehandlung. 2. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Angemessenheit“ Angemessenheit1153 ist nicht nur nach deutschem Begriffsverständnis ein unbestimmter Rechtsbegriff.1154 Was angemessen ist, kann nicht abstrakt, sondern jeweils nur anhand der konkreten Gegebenheiten des Einzelfalles beurteilt wer1151 Süßmann ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 20024/92, Urt. v. 16. September 1996, Ziff. 56; Gast und Popp ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 29357/96, Urt. v. 25. Februar 2000, Ziff. 75; Wimmer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 60534/00, Urt. v. 24. Februar 2005, Ziff. 30; Ellersiek ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 77151/01, Entsch. v. 23. Juni 2005; Klasen ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 75204/01, Urt. v. 5. Oktober 2006, Ziff. 36. 1152 Bezeichnenderweise hat das BVerfG selbst bereits im Jahr 1973 ähnlich formulierte Forderungen an die Fachgerichte gestellt und diese dazu angehalten, „im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, dieser Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen,“ BVerfGE 36, 264 (275). Geschehe dies nicht, so könne die Überlastung der Gerichte jedenfalls nicht zur Rechtfertigung einer langen Verfahrensdauer führen, BVerfGE 36, 264 (272, 274). Jüngst hatte das BVerfG die Vorgehensweise des BGH sogar als „schlechthin unbegreiflich“ bezeichnet, BVerfG, Beschl. v. 5. Dezember 2005, 2 BvR 1964/05: Der Vorwurf richtete sich hauptsächlich gegen den Vorsitzenden Richter im Verfahren gegen einen mutmaßlichen Mörder: Nach acht Jahren Untersuchungshaft war dieser vom BVerfG auf freien Fuß gesetzt worden, weil es unter anderem „durch Organisationsverschulden“ beim BGH zu unverzeihlichen Verzögerungen gekommen sei; vgl. Müller, „Nicht angemessen“, in: F.A.Z. v. 2. Februar 2006, S. 4. Das BVerfG fordert offensichtlich von den Fachgerichten, was es selbst nicht erfüllt, Bergmann, Das Bundesverfassungsgericht, S. 623. 1153 Grundlegend und nicht beschränkt auf den Begriff der Angemessenheit im Sinne der EMRK Corten, L’utilisation du „raisonnable“ par le juge international, S. 1 ff. 1154 Otto, Der Anspruch auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit, S. 151; Schlette, Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, S. 28. Vgl. hierzu auch Mosler, Problems of Interpretation, S. 162 f., sowie Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 92 f.

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den.1155 Unbestimmte Rechtsbegriffe zeichnen sich dadurch aus, dass auf außerhalb des Rechts befindliche, wandelbare Wertvorstellungen Bezug genommen wird, ohne sich damit zugleich den jeweiligen Kenntnis- oder Wissensstand als Maßstab zu eigen zu machen.1156 Verwendet werden unbestimmte Rechtsbegriffe vor allem im Bereich des Umwelt- und Technikrechts1157, um mit den aus wissenschaftlichen Erkenntnissen resultierenden Neuerungen Schritt halten zu können. Auf diese Weise müssen Normen, in deren Anwendungsbereich derartige Veränderungen häufig wiederkehren, nicht ständig angepasst werden. Daneben werden unbestimmte Rechtsbegriffe in Sachbereichen verwendet, die mit moralischen oder ethischen Wertvorstellungen verknüpft oder allgemein wertender Art sind. Hier dient der unbestimmte Rechtsbegriff dazu, gesellschaftlichen Änderungen Rechnung zu tragen. Zahlreiche Begriffe aus dem Bereich der Sitte oder Moral werden heute inhaltlich anders ausgefüllt als noch vor einigen Jahren. Der unbestimmte Rechtsbegriff ermöglicht die Normauslegung in Anpassung an die gesellschaftliche Entwicklung.1158 Ihm kommt daher integrierende Funktion zu. Der Begriff der „Angemessenheit“ ist in die letztgenannte Gruppe der wertenden Begriffe einzuordnen. Konkrete Zeitgrenzen für die Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens gibt es nicht; unter Umständen kann auch ein Verfahren von 10 und mehr Jahren Dauer noch als angemessen zu bewerten sein.1159 Der konkrete Sachverhalt, die konkrete Situation sind in die Abwägung mit einzubeziehen. Viele Faktoren können maßgeblich Einfluss darauf nehmen, ob die Dauer eines Verfahrens noch als angemessen im Sinne der Konvention angesehen werden kann. Gleichwohl bleibt die Frage unbeantwortet, wie das Verfassungsbeschwerdeverfahren im Rahmen der Angemessenheit zu 1155 So der EGMR schon im Urteil König ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6232/73, Urt. v. 28. Juni 1978, Ziff. 99; Buchholz ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 7759/77, Urt. v. 6. Mai 1981, Ziff. 49; Eckle ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 8130/78, Urt. v. 15. Juli 1982, Ziff. 80; sowie Deumeland ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 9384/81, Urt. v. 29. Mai 1986, Ziff. 78; vgl. außerdem Miehsler/Vogler in Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 310; sowie van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 446. Auf diese Weise verfahren auch das BVerfG (BVerfG v. 6. Mai 1997, NJW 1997, 2811) sowie der EuGH (Baustahlgewebe ./. Kommission, EuGH, Slg. 1998, I-8417 = EuGRZ 1999, S. 41, Ziff. 29). 1156 Justen, Unbestimmte Rechtsbegriffe mit „Beurteilungsspielraum“ im Strafvollzugsgesetz, S. 12. 1157 Beispielsweise „Stand der Wissenschaft“ (§ 6 Abs. 3 GenTG), „Stand der Technik“ (§ 3 Abs. 6 BImSchG); Plagemann/Tietzsch, „Stand der Wissenschaft“ und „Stand der Technik“ als unbestimmte Rechtsbegriffe, S. 29. 1158 Ausführlich zu den unbestimmten Rechtsbegriffen, insbesondere unter semantischen Gesichtspunkten Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, S. 9 ff. 1159 KOM, Soltikow./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2257/64, Kommissionsbericht v. 15. April 1970, Yearbook 14, 868 [872]; X ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 6946/75, Entsch. v. 6. Juli 1976, DR 6, 114 [116].

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berücksichtigen ist. Der EGMR hat den Versuch unternommen, den Besonderheiten der Verfassungsbeschwerde gerecht zu werden, indem er ihre Eigenarten der Angemessenheitsprüfung voranstellt. Allerdings lassen seine Judikate die Umsetzung dieser Vorgabe vermissen. Der EGMR leitet vielmehr vom „Besonderen“ der Verfassungsbeschwerde über zum „Normalen“ der Instanzverfahren und umgeht so eine tatsächlich abweichende Angemessenheitsprüfung bei Verfassungsbeschwerdeverfahren. Verfahrensbedingte Besonderheiten, wie beispielsweise der enge zeitliche Zusammenhang einer Verfassungsbeschwerde mit der deutschen Einigung wurden zwar vom EGMR schon berücksichtigt. Die Eigenarten der Verfassungsbeschwerde an sich blieben freilich im Gros der Fälle unberücksichtigt. Konkrete Maßstäbe, wie die Angemessenheit der Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu beurteilen ist, liefert der EGMR nicht. Gleichwohl lässt der offene Begriff der Angemessenheit hinreichenden Freiraum, um den Besonderheiten des Verfassungsbeschwerdeverfahrens gerecht zu werden. 3. Der Souveränitätsgedanke Das Prinzip der Souveränität aller Staaten,1160 eines der ältesten Prinzipien des modernen Völkerrechts,1161 stellt einen Grundsatz dar, welcher nicht lediglich im Zusammenhang mit völkerrechtlichen Verträgen wie der EMRK eine bedeutsame Rolle spielt. Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bildet das Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten in der Charta der Vereinten Nationen1162 die Basis der gesamten Völkerrechtsordnung.1163 Die UNGründungskonferenz in San Francisco hatte sich bewusst für den neuen Begriff der souveränen Gleichheit und gegen die rechtliche Herrschaft eines souveränen Staates über einen anderen entschieden,1164 um dem Bestreben nach einer gemeinsamen Unterordnung aller Staaten unter die internationale Gemeinschaft Ausdruck zu verleihen. Dieses Prinzip, auf dem letztlich die nachfolgend zu besprechende Lehre vom Beurteilungsspielraum gründet, kann möglicherweise für die Frage fruchtbar gemacht werden, ob und gegebenenfalls wie eine Sonder1160 Grundlegend v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, sowie Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Zur Veränderung dieser Begrifflichkeit vgl. Kelsen, Der Wandel des Souveränitätsbegriffes, S. 1 ff.; zur Herausbildung eines neuen Verhältnisses von Souveränität und Völkerrecht angesichts gegenwärtiger und künftiger Internationalisierungsprozesse Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, S. 469 ff. 1161 Fassbender, Sovereignty and Constitutionalism in International Law, S. 115. 1162 Art. 2 Nr. 1 der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945. 1163 BVerfG, Beschl. v. 21.10.1987 – 2 BvR 373/83; Fassbender, Die souveräne Gleichheit der Staaten, S. 7; Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 147. 1164 Fassbender, Die Souveränität des Staates als Autonomie im Rahmen der völkerrechtlichen Verfassung, S. 1094.

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behandlung von Verfassungsbeschwerdeverfahren gerechtfertigt werden kann – wenngleich der EGMR im Gegensatz zur KOM1165 der souveränitätsfreundlichen Auslegung von Beginn an eher ablehnend gegenüberstand.1166 Eine Definition des schillernden Begriffs der Souveränität zu finden, fällt nicht leicht.1167 Nicht umsonst ist dieser Terminus seit jeher Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion, seine Bedeutung und Reichweite bis heute umstritten.1168 Hans Kelsen brachte dies einst treffend auf den Punkt: „Obgleich der Ausdruck Souveränität einen der bedeutsamsten Grundbegriffe der traditionellen Staats- und Völkerrechtstheorie bezeichnet, ist er doch von einer für den Streit um seinen Sinn verhängnisvollen Vieldeutigkeit.“ 1169 Dieser Satz bringt die Schwierigkeiten zum Ausdruck, welche sich im Zusammenhang mit dem Versuch einer Begriffsklärung ergeben.1170 Nach Georg Jellinek ist unter Souveränität „die Eigenschaft einer Staatsgewalt, kraft deren sie die ausschließliche Fähigkeit rechtlicher Selbstbestimmung und Selbstbindung hat“ 1171, zu verstehen. Werner von Simson vertritt Ähnliches, sieht aber die Voraussetzung für eine solche Fähigkeit darin, dass zuvor „eine Grundstruktur des Unbezweifelten“ 1172, die zur Institutionalisierung führt, geschaffen wurde, welche bewirkt, dass sich die bloße Ausübung von Gewalt in die Ausübung von rechtlichem Zwang wandelt.1173 Nach Carl Schmitt ist derjenige Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet.1174 Neil Walker1175 hebt ebenfalls die Probleme hervor, die im Zusammenhang mit der Begriffsklärung existieren und definiert Souveränität als „the discursive form in which a claim concerning the existence and character of a supreme ordering power for a particular polity is expressed, which supreme ordering power purports to establish and sustain the identity and status of the particular polity qua polity and to provide a continuing source and vehicle of ultimate authority for the juridical order of that polity.“ 1176 Der Gemeinschaftsbezogenheit des Staates im Sinne einer souveränen Gleichheit aller Staaten trägt die Definition Rechnung, wonach „Souveränität des Staates die ihm durch die Verfassung der internationalen Gemeinschaft, vornehmlich die 1165

De Becker ./. Belgien, Beschwerde Nr. 214/56, Entsch. v. 9. Juni 1958. Nachweise bei Leibiger, Die souveränitätsfreundliche Auslegung im Völkerrecht, S. 206 ff. 1167 Nachweise bei Herzog in Maunz-Dürig, GG-Kommentar, Art. 20, Rn. 8. 1168 Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts III, S. 278. 1169 Kelsen, Souveränität, S. 278. 1170 Loughlin, Ten Tenets of Sovereignty, S. 55, plädiert gar dafür, das Souveränitätsprinzip im Interesse der Rechtsklarheit und -sicherheit aufzugeben. 1171 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 467, 481. 1172 v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, S. 264. 1173 v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, S. 123. 1174 Schmitt, Politische Theologie, S. 11. 1175 Professor für Europäisches Recht am European University Institute in Florenz. 1176 Walker, Late Sovereignty in the European Union, S. 6. 1166

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UN-Charta eingeräumte und garantierte Autonomie [ist]“ (Bardo Fassbender).1177 Gemeinhin kann Souveränität (aus dem Lateinischen: superanus, darüber befindlich, überlegen, französisch: souveraineté) des Staates1178 als Zuhöchstsein, keinem fremden Willen untergeordnet zu sein, Völkerrechts-Unmittelbarkeit besitzend, bezeichnet werden.1179 Souveränität ist Gegenbegriff zur Fremdbestimmung und zeichnet sich aus durch unabgeleitete staatliche Herrschaftsgewalt,1180 Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Staates. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass der souveräne Staat gar keiner Bindung unterworfen ist: Vielmehr besteht heute Einvernehmen darüber, dass auch der souveräne Staat sich nicht einseitig von jeglicher rechtlichen Bindung lossagen kann. Zwar muss er sich nicht dem Diktat eines anderen Staates unterordnen; er bleibt jedoch den Regeln des Völkerrechts unterworfen, deren Inhalt er gerade nicht souverän ändern kann. Aufgrund dieser Einschränkung wird weithin von relativer Souveränität gesprochen, ohne die das Völkerrecht seine Aufgaben im Interesse des Friedens nicht erfüllen könne.1181 Konsequenz dessen ist die Gleichordnung aller souveräner Staaten. Dies bedeutet, dass die Staaten untereinander keiner überstaatlichen Macht, sondern nur dem vom zwischenstaatlichen Konsens getragenen Völkerrecht untergeordnet sind1182 und einen Achtungsanspruch auf völkerrechtlicher Ebene haben.1183 Der Begriff der Souveränität entstammt dem 16. Jahrhundert und wurde vor allem durch die Absolutismuslehre des französischen Staatsphilosophen Jean Bodin (1530–1596) entwickelt.1184 Seine „Les six livres de la République“ (1576, lat. 1586) befassen sich mit dem rein säkularen Staatsdenken und kon1177 Fassbender, Die Souveränität des Staates als Autonomie im Rahmen der völkerrechtlichen Verfassung, S. 1096. 1178 Im Folgenden wird – entsprechend der Terminologie in der völkerrechtlichen Literatur – stets von der Souveränität des Staates gesprochen. Teilweise wird indes auch vertreten, es handle sich bei der Souveränität um eine Eigenschaft der Staatsgewalt, die dann vorliege, wenn sie sich von keiner anderen staatlichen Gewalt herleite, Herzog in Maunz-Dürig, GG-Kommentar, Art. 20, Rn. 10. 1179 Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, Abschn. 1, Rn. 46. 1180 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 57. 1181 Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 7; in der von Stein/v. Buttlar fortgeführten 11. Auflage dieses Werks wird die Relativität der Souveränität nicht mehr in Zweifel gezogen, vgl. Stein/v. Buttlar, Völkerrecht, Rn. 515. Anders noch die sog. Harmon-Doktrin, nach der Souveränität einseitig, ohne Rücksicht auf Belange anderer, definiert und als absolute Rechtsposition durchgesetzt wird. – Nachweise bei Graf Vitzthum, Raum und Umwelt im Völkerrecht, Abschn. 5, Rn. 94. 1182 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 35. 1183 Herdegen, Völkerrecht, § 28 Rn. 8. 1184 Souveränität kann demzufolge als ein „originär französisches Konzept“ verstanden werden, Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht, S. 166.

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zentrieren sich auf die Machtstruktur des Staates. Im Mittelpunkt steht der Souveränitätsbegriff: „Maiestas (franz.: souveraineté) est summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas“,1185 und „la soveraineté est la puissance absolue et perpetuelle d’une République“1186. Die Souveränität gewährt dem Herrschenden danach umfassende Macht und Unabhängigkeit gegenüber allen anderen Herrschaftsmächten. Sie kennzeichnet sich folglich nicht allein durch Gewalt über die eigenen Untertanen, sondern vielmehr auch durch nach außen unabhängige Macht (sog. äußere Souveränität).1187 Das Recht zur Gesetzgebung ist nach Jean Bodin eines der herausragendsten Souveränitätsrechte.1188 Auf diese Thesen ist letztlich der Souveränitätsgrundsatz zurückzuführen, welcher – in Übereinstimmung mit der Lehre Jean Bodins – besagt, dass die Staaten von der „Befehlsmacht“ (Alfred Verdross) eines anderen Völkerrechtssubjekts unabhängig sind (äußere Souveränität).1189 Daneben besitzt ein Staat die Fähigkeit zu staatlicher Selbstorganisation (innere Souveränität). Dazu zählt insbesondere, dass der Staat letztverbindliches, von keiner Macht abgeleitetes Recht setzt.1190 Weiter entwickelt wurde der Souveränitätsbegriff Bodins vor allem durch Hugo Grotius. Dieser schärfte den Begriff der äußeren Souveränität, indem er aus der inneren Souveränität Folgen für die äußere entwickelte: Wer niemandem intern untergeordnet ist, kann demnach auch von außen keinem anderen Souverän untergeordnet sein.1191 Nahezu zeitgleich trieb Thomas Hobbes (1588–1679) die Begriffsentwicklung weiter voran, indem er im Gegensatz zu den eben Genannten zwischen der Person des Herrschers (Souverän) und der Souveränität als Eigenschaft des Staates unterschied.1192 Die Entwicklung gipfelte schließlich in der These Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778), Souveränität stehe allein dem Volke zu.1193 Diese Forderung übernahm die französische Verfassung von 1791 in ihrem Art. III.1194

1185 Bodin, Les six livres de la République, S. 123. – „Die Majestät/Souveränität ist eine höchste Gewalt über Bürger und Untertanen, gelöst von den Gesetzen.“ 1186 Bodin, Les six livres de la République, S. 122 – „Unter der Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen.“ 1187 Landmann, Der Souveränitätsbegriff bei den französischen Theoretikern, S. 128. 1188 Bodin, Les six livres de la République, S. 240. 1189 Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, Abschn. 1, Rn. 73. 1190 Fassbender, Die souveräne Gleichheit der Staaten, S. 8. 1191 Nachweise bei Leibiger, Die souveränitätsfreundliche Auslegung im Völkerrecht, S. 63. 1192 Hobbes, Leviathan, Kap. 18, S. 207 ff.; Kap. 26, S. 284 ff. 1193 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Buch 1 Kap. 6, 7, Buch 2 Kap. 1, 2. 1194 „Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la nation; nul corps, nul individu ne peut exercer d’autorité, qui n’en émane expressément.“

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Im zwanzigsten Jahrhundert wurden „viele verfrühte Grabreden“ (Bardo Fassbender)1195 auf den Souveränitätsbegriff gehalten.1196 Sie haben sich allesamt nicht bewahrheitet. Das Souveränitätsprinzip stellt vielmehr ein bedeutendes – nach Albert Bleckmann gar das einzige1197 – Strukturprinzip der innerstaatlichen wie auch der internationalen Rechtsordnung dar und prägt den Inhalt der meisten völkerrechtlichen Rechtssätze. Die Völkerrechtsordnung ist bestrebt, ein System souveräner Staaten aufrechtzuerhalten. 1198 Dies zeigt schon die Verankerung des Souveränitätsprinzips in der Charta der Vereinten Nationen.1199 Die zentrale Bedeutung der Souveränität in der Gegenwart hat auch der IGH im Jahr 1986 hervorgehoben.1200 Die Aktualität des Souveränitätsbegriffs beweist unter anderem die Formulierung in Art. 7 Abs. 2 des „Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990“:1201 „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“ Der Richter des IGH Shi stellte im Jahr 1996 in einer Erklärung zum Gutachten Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons klar: „The structure of the international community is built on the principle of sovereign equality.“ 1202 Von einem bloßen Relikt staatenbezogenen Völkerrechts1203 kann daher keine Rede sein. Auch wenn sich ein Staat (teilweise) einer Internationalen Organisation unterwirft oder einem völkerrechtlichen Vertrag beitritt1204 bedeutet dies nicht, dass er deshalb seiner Souveränität verlustig ginge. Im Gegenteil: Gerade dadurch, dass ein Staat völkerrechtliche Verträge abschließt, bringt er seine souveräne Entscheidungsmacht zum Ausdruck.1205 Entsprechend beurteilte dies der Stän1195 Fassbender, Die Souveränität des Staates als Autonomie im Rahmen der völkerrechtlichen Verfassung, S. 1089. 1196 Zum Streitstand Kempen, Einige Bemerkungen zum völkerrechtlichen Begriff der Souveränität, S. 783 ff. 1197 Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 147. 1198 Ähnlich auch Brownlie, Principles of Public International Law, S. 287. 1199 Art. 2 Nr. 1 der UN-Charta. 1200 Military and Paramilitary Activities, ICJ Rep. 1986, S. 14, S. 97 ff., 108. 1201 BGBl. II 1990, S. 1318 ff.; geläufiger ist die Bezeichnung „Zwei-Plus-VierVertrag“. 1202 Decl. Shi, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, ICJ Rep. 1996, S. 226, 277 f. 1203 Ipsen, Völkerrecht, § 1 Rn. 11, ist der Auffassung, die Entwicklung des modernen Völkerrechts [sei] „tendenziell auf eine Relativierung der beherrschenden Position ausgerichtet, die der Staat bislang eingenommen und bis heute innehat.“, „. . . das die Souveränität in vielfältiger Hinsicht begrenzende Völkerrecht der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.“ (§ 2 Rn. 67). Grundlegend hierzu Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft (2006). 1204 Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. b) WVK. 1205 Stein, Vertragsrecht, in: Handbuch Vereinte Nationen, Nr. 137 Rn. 8; Verdross/ Simma, § 34. „Sovereignty, in the end, is status – the vindication of the states’s existence as a member of the international system. In today’s setting, the only way most

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dige Internationale Gerichtshof im Wimbledon-Fall1206: „Der Gerichtshof kann in dem Abschluss eines Vertrages, in dem sich ein Staat verpflichtet, etwas zu tun oder zu unterlassen, nicht einen Verzicht auf seine Souveränität sehen. (. . .) Aber die Befugnis, internationale Vereinbarungen abzuschließen, ist gerade eine Eigenschaft des Begriffs der Souveränität des Staates.“ 1207 Gewiss gibt er dadurch seine Souveränität gegenüber anderen Staaten nicht auf.1208 Nur so realisiert sich die Souveränität des Staates letztendlich als „Abgrenzung vom Universalen“ 1209. Souveränität konstituiert – gleichsam als Korrelat zur Unabhängigkeit und Gleichheit der Staaten – die Pflicht, sich in die inneren und äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates nicht einzumischen.1210 Zwar gibt ein Staat, der sich durch völkerrechtliche Verträge etwa zu umfassendem Menschenrechtsschutz oder anderen internationalen Zielen verpflichtet und auf diese Weise einen Teil seiner Souveränität „zugunsten der Souveränität des Rechtes“ (Pierre-Henri Teitgen)1211 abtritt, in gewisser Weise auch Verantwortung und Selbständigkeit in eigenen Regelungsbereichen auf.1212 Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass dem einzelnen Staat jegliche Einflussnahme auf innerstaatliche Gestaltung abhanden käme. Die Verpflichtung, einen bestimmten, international anerkannten Menschenrechtsstandard anzuerkennen und dessen Verwirklichung anzustreben, bedeutet nicht zugleich, dass die Methoden, wie dieser Standard erreicht werden kann, dem einzelnen Staat vorgegeben wären. Konkret besagt dies, dass auch ein Staat, der sich der EMRK oder einem anderen völkerrechtlichen Vertrag unterwirft, dennoch seine Souveränität – auch diejenige nach innen, die Unantastbarkeit der inneren Angelegenheiten1213 – nicht verliert. Ein states can realize and express their sovereignty is through participation in the various regimes that regulate and order the international system. Isolation from the pervasive and rich international context means that the state’s potential for economic growth and political influence will not be realized.“, Chayes/Handler Chayes, The New Sovereignty, S. 27. 1206 In der Sache ging es um den britischen Dampfer „Wimbledon“, dem seitens der deutschen Behörden am 21. März 1921 die Durchfahrt durch den Kieler Kanal mit der Begründung verweigert wurde, die Ladung des Dampfers bestehe aus Kriegsmaterial mit Bestimmung nach Polen. Die deutschen Neutralitätsvorschriften untersagten aber die Durchfuhr von Kriegsmaterial nach diesem Gebiet, da der Friedensvertrag zwischen Polen und Russland noch nicht ratifiziert sei. 1207 Wimbledon-Fall (Frankreich, Italien, Japan und Großbritannien gegen Deutschland), Entscheidungen des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, Serie A, Nr. 1 (1923), S. 95 [111]. 1208 Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, Abschn. 1, Rn. 73; Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, S. 191, 193; Simma, Der internationale Schutz der Menschenrechte, S. 37. 1209 v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, S. 18. 1210 Brownlie, Principles of Public International Law, S. 290; Leibiger, Die souveränitätsfreundliche Auslegung im Völkerrecht, S. 74. 1211 Zitiert bei Weiß, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 31. 1212 Fassbender, Die souveräne Gleichheit der Staaten, S. 12.

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Staat ist souverän in diesem Sinne, wenn er „nicht mehr von einer höheren, umfassenderen Ordnung abhängt“ 1214, sondern auf sich selbst und auf seinem eigenen Willen beruht. Auf diesem Souveränitätsgedanken basiert unter anderem die souveränitätsfreundliche Auslegung,1215 wonach Vertragsbestimmungen, die Beschränkungen der staatlichen Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit enthalten, im Zweifel einschränkend auszulegen sind (in dubio mitius).1216 Ihren Niederschlag in der Wiener Vertragsrechtskonvention oder in vergleichbaren völkerrechtlichen Vertragswerken hat die souveränitätsfreundliche Auslegung ausdrücklich genauso wenig gefunden wie etwa die Regeln der restriktiven, der dynamischen, aber auch der autonomen Auslegung.1217 Teilweise wird sie als völkergewohnheitsrechtlicher Grundsatz verstanden,1218 teilweise wird sie aber auch als Ausformung des Art. 31 Abs. 1 und 3c) WVK angesehen. Ihre Bedeutung innerhalb der Völkerrechtsordnung kann ihr jedenfalls angesichts der zahlreichen geführten Diskussionen1219 und ihrer Anwendung in der Praxis1220 wohl kaum abgesprochen werden. Aus dem Mangel unmittelbarer Kodifikation resultieren auch hier Schwierigkeiten bei der Begriffsbestimmung. Souveränitätsfreundliche Auslegung im weiteren Sinne meint zunächst einmal – vereinfachend formuliert – alles, was bei der Auslegung mit Souveränität „zu tun hat“.1221 Die Auslegung der jeweiligen völkerrechtlichen Norm wird durch das Souveränitätsprinzip bestimmt. Souveränitätsfreundliche Auslegung lässt sich demnach am anschaulichsten als „die harmonische Einordnung der auszulegenden Norm in das Gesamtsystem der Rechtsordnung“ 1222 beschreiben. Wichtig 1213 Weiß, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 31. 1214 v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, S. 19. 1215 Ausführlich hierzu Leibiger, Die souveränitätsfreundliche Auslegung im Völkerrecht, S. 58 ff. 1216 Bernhardt, Auslegung, S. 143. 1217 Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 644 f.; Leibiger, Die souveränitätsfreundliche Auslegung im Völkerrecht, S. 162. 1218 Schwarzenberger, International Law I, S. 529 ff. (531). 1219 Vgl. etwa Oeter, Souveränität – ein überholtes Konzept?, S. 259 ff. 1220 Wemhoff ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 2122/64, Urt. v. 27. Juni 1968, Ziff. 8; Entsch. Nuclear Tests I d. Internat. Gerichtshofs v. 20. Dezember 1974, ICJ Rep. 1974, S. 253, 267; Entsch. Nuclear Tests II d. Internat. Gerichtshofs v. 20. Dezember 1974, ICJ Rep. 1974, S. 457, 472 f.; Entsch. Western Sahara d. Internat. Gerichtshofs v. 16. Oktober 1975, ICJ Rep. 1975, S. 12, 23 ff., 28 f.; Entsch. Continental Shelf (Tunisia/Libyan Arab Jamahiriya) v. 24. Februar 1982, ICJ Rep. 1982, S. 18, 61; Entsch. Gulf of Maine v. 12. Oktober 1984, ICJ Rep. 1984, S. 246, 296; Entsch. Continental Shelf (Libyan Arab Jamahiriya/Malta) v. 3. Juni 1985, ICJ Rep. 1985, S. 13; Entsch. Territorial Dispute (Libyan Arab Jamahiriya/Chad) v. 3. Januar 1994, ICJ 1994, S. 6, 51, 87; Entsch. Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons v. 8. Juli 1996, CJI Rep. 1996, S. 226, 238 f. 1221 Leibiger, Die souveränitätsfreundliche Auslegung im Völkerrecht, S. 60. 1222 Leibiger, Die souveränitätsfreundliche Auslegung im Völkerrecht, S. 282.

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in diesem Zusammenhang – bezogen auf die EMRK – ist, dass dies keine Einschränkung des Menschenrechtsschutzes bedeutet. Zwischen souveränitätsfreundlicher Auslegung und effektivem Menschenrechtsschutz mag ein Spannungsverhältnis bestehen; eine wirkliche Einschränkung des Menschenrechtsschutzes vermag die souveränitätsfreundliche Auslegung dagegen nicht zu bewirken. Im Verlauf dieser Arbeit wurde die Bedeutung der Rechtsvergleichung und des in diesem Zusammenhang relevanten gemeinsamen Nenners mehrfach angesprochen. Hinter der Auslegung unter Beachtung der Rechtsvergleichung zugunsten eines gemeinsamen Nenners steht das Souveränitätsprinzip. Ein Staat kann nur dann vertraglich gebunden sein, wenn er sich gemeinsam mit seinen Partnern gebunden hat.1223 Besteht ein Dissens, beziehungsweise ist Streitgegenstand eines Verfahrens ein Institut oder eine Regelung, die sich allein im Recht eines Staates findet, so fehlt eine völkerrechtliche Bindung.1224 Dies bedeutet nun aber nicht, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren mangels völkerrechtlicher Bindung der Bundesrepublik in diesem konkreten Fall gar nicht anwendbar wäre. Vielmehr können auf der Grundlage des Souveränitätsgedankens in Verbindung mit dem rechtsvergleichend ermittelten gemeinsamen Nenner1225 die Besonderheiten im Rahmen der Angemessenheit berücksichtigt werden. Der Souveränitätsgedanke stützt damit die These, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Falle eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens abweichend vom herkömmlichen Vorgehen zu bestimmen ist. Andernfalls droht die Gefahr, dass den Konventionsstaaten eines der letzten Rückzugsgebiete ihrer Souveränität – das Verfassungsgericht – genommen wird.1226 In diesem Zusammenhang könnte man – noch weitergehend – auf den Gedanken kommen, die sog. interpretatio in favorem debitoris anzuwenden. Diese Rechtsregel stellt eine völker(gewohnheits)rechtliche Auslegungshilfe dar, derzufolge diejenige Auslegung zu wählen ist, nach welcher der Schuldner beziehungsweise der Vertragspartner in seiner Souveränität und Handlungsfreiheit am wenigsten belastet wird.1227 Auf den ersten Blick scheint diese Auslegungsregel trefflich auf das vorliegende Problem zu passen: Sie hätte zur Folge, dass die Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EMRK stets in einer Weise zu erfolgen hätte, die den Vertragspartner Bundesrepublik Deutschland geringstmöglich belastet. Dass dies nicht den Zielen und Zwecken der Konvention entsprechen kann, liegt auf 1223

Leibiger, Die souveränitätsfreundliche Auslegung im Völkerrecht, S. 391. In diese Richtung auch Doehring, Völkerrecht, Rn. 393, der indes verstärkt darauf abstellt, dass jede Einschränkung der staatlichen Souveränität einer Begründung bedarf. Ähnlich auch Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 96 f. 1225 Anhand des im Folgenden noch zu behandelnden margin of appreciation. 1226 Favoreu, Cours constitutionnelles nationales et CEDH, S. 798. 1227 v. Münch, Völkerrecht, S. 181. 1224

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der Hand. Die Durchsetzung der Ziele der Konvention im Sinne des effet utile wäre unmöglich. Aus diesem Grund wird die Rechtsregel der interpretatio in favorem debitoris lediglich bei Verträgen für anwendbar erklärt, deren Leistungen in einem Austauschverhältnis stehen.1228 Bei multilateralen Verträgen wie etwa bei Menschenrechtsverträgen, die auf langfristige Zusammenarbeit angelegt sind, muss die Auslegung anhand der Ziele des Vertrages vorgenommen werden, will man nicht Gefahr laufen, die in einem solchen Vertrag enthaltenen Verpflichtungen ad absurdum zu führen.1229 Diese Auslegungshilfe kann daher nur bei einer beschränkten Anzahl von völkerrechtlichen Verträgen fruchtbar gemacht werden; bei der Auslegung der EMRK verbietet sie sich jedenfalls.1230 Der Souveränitätsgedanke kann im Rahmen der Auslegung der EMRK als Stütze für die Begründung der These, dass der Verfassungsbeschwerde eine Sonderbehandlung im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK zukommen muss, herangezogen werden. Gleichwohl liefert er nicht die einzige Grundlage für diese These. Das zweite „völkerrechtliche Standbein“ für eine Sonderbehandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens im Rahmen der Angemessenheit der Verfahrensdauer soll im Folgenden erörtert werden. 4. Die Lehre vom Beurteilungsspielraum – „margin of appreciation“ Die Lehre vom Beurteilungsspielraum1231 basiert auf dem soeben beschriebenen völkerrechtlichen Souveränitätsprinzip1232 und kann gewissermaßen als dessen „Ableger“ bezeichnet werden. Sie soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Konventionsorgane trotz des hehren Ziels eines einheitlichen Menschenrechtsschutzes in Europa keine Uniformität diktieren können. Vielmehr soll die regionale Vielfältigkeit, welche den Konventionsstaaten eigen ist, bewahrt werden. Das Instrument des „margin of appreciation“ wurde vom EGMR selbst geschaffen, um einen Ausgleich zwischen der Konvention und dem Souveränitätsanspruch der Vertragsstaaten zu finden.1233 Die Lehre vom Beurteilungsspielraum beruht auf der Erkenntnis, dass – wie Walter Hallstein bereits 1964 bezeichnend formulierte – „wir kein StromlinienEuropa brauchen, dass vielmehr die Bewahrung der großartigen Fülle, der uner1228

Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 31. So auch Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 648. 1230 Dagegen zumindest missverständlich Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 344, der diese Auslegungshilfe offenbar verallgemeinernd und nicht auf bestimmte Vertragsarten beschränkt anwenden will. 1231 Bereits im 2. Kapitel wurde darauf hingewiesen, dass die Begriffe Ermessensbzw. Beurteilungsspielraum im Völkerrecht synonym verwendet werden. 1232 Vgl. Waldock, Wirksamkeit des Systems der EMRK, S. 602. 1233 Lord Mackay of Clashfern, The margin of appreciation and the need for balance, S. 840. 1229

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schöpflichen Vielfalt unseres Kontinents, ein neben der Integration gleichwertiges Ziel bleiben muss“.1234 Eindringlich wies Hermann Mosler darauf hin, dass die Europäischen Organe die Fortentwicklung der EMRK „nicht in einem Parforceritt entgegen dem europäischen Grundkonsens durchsetzen können“ 1235. Auch andere Völkerrechtler stellen die große Bedeutung des Konsenses in den Vordergrund.1236 Die Gewährung eines Beurteilungsspielraums soll dafür sorgen, dass die Effektivität der Konvention mit dem Souveränitätsanspruch des einzelnen Konventionsstaats harmonisch einhergeht. Die Lehre vom Beurteilungsspielraum entspringt der – jedenfalls zu Beginn der Straßburger Rechtsprechung vorhandenen – Tendenz der Konventionsorgane zu judicial self-restraint. Der EGMR betonte einst: „(. . .) the Convention leaves to each Contracting State, in the first place, the task of securing the rights and freedoms it enshrines.“ 1237 Die Lehre vom Beurteilungsspielraum besagt, wie bereits an anderer Stelle erwähnt,1238 dass den nationalen Behörden und Gerichten bei der Auslegung der in der Konvention enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe ein Beurteilungsspielraum zukommt, in etwa vergleichbar dem Beurteilungs- oder Ermessensspielraum, der unter anderem aus dem deutschen Verwaltungsrecht bekannt ist.1239 Dieser „margin of appreciation“ hat die Aufgabe, die Wirksamkeit der EMRK mit dem Souveränitätsanspruch der Konventionsstaaten in Einklang zu bringen1240 und steht daher in engem Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Grundsatz staatlicher Souveränität. Der „margin of appreciation“ basiert gleichsam auf dem zuvor erörterten Souveränitätsanspruch eines jeden Staates. 1234 Zitiert bei Matscher, Methoden der Auslegung der EMRK, S. 116. – Vgl. auch den Wahlspruch der Union im auf Eis liegenden Vertrag für eine Verfassung für Europa: „Einheit in Vielfalt“. 1235 Mosler, Bericht über die Ergebnisse des V. Internationalen Kolloquiums über die Europäische Menschenrechtskonvention, Frankfurt vom 9.–12. April 1980, S. 9; zit. bei Hailbronner, Einschränkung von Grundrechten in einer demokratischen Gesellschaft, S. 371. 1236 Bernhardt, Schutz der Menschenrechte, S. 120; Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der EMRK, S. 39. 1237 Handyside ./. Großbritannien und Irland, Beschwerde Nr. 5493/72, Urt. v. 7. Dezember 1976, Ziff. 48. 1238 Kapitel 2, II. 5. 1239 Im Verwaltungsrecht wird zwischen der Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen, die unbestimmte Rechtsbegriffe ausgelegt haben, und solchen, die in Ausübung eines gesetzlich eingeräumten Ermessens ergangen sind, unterschieden. Die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs wird vom Verwaltungsgericht voll überprüft, während im Falle eingeräumten Ermessens lediglich die Einhaltung des Ermessensrahmens sowie die Ausübung des Ermessens im Hinblick auf die Ermessensfehlerlehre überprüft wird. Daneben gibt es in seltenen Fällen noch die sog. „Koppelungsvorschrift“, bei der unbestimmter Rechtsbegriff und Einräumung von Ermessen kombiniert werden. Vgl. zu letzterem Konstrukt die Ausführungen in Kapitel 2. 1240 Wildhaber/Breitenmoser in Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 32.

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Um diesem Souveränitätsanspruch gerecht zu werden, müssen den einzelnen Staaten in bestimmten Bereichen Freiräume gewährt werden, innerhalb derer sie ihre eigenen nationalen Vorstellungen und Anschauungen einbringen und zugleich bewahren dürfen. So bleibt der Schutz der Grundrechte zuvörderst der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Konventionsstaaten anvertraut. Die Konvention hat nämlich nicht zum Ziel, diesen Schutz zu ersetzen, sondern soll vielmehr ergänzend und korrigierend eingreifen.1241 Im Gegensatz zu nationalen Verfassungen, deren Konkretisierung durch die einfachen Gesetze und Rechtsverordnungen erfolgt, besitzt die EMRK keinen solchen „Unterbau“ 1242. Es liegt daher an den nationalen Rechtsordnungen, die Garantien der EMRK auszugestalten und umzusetzen. Im Rahmen dieser Ausgestaltung gewähren die Konventionsorgane den einzelnen Staaten einen Gestaltungsfreiraum. Neben rein dogmatischen Erwägungen wird die Entstehung der Lehre vom Beurteilungsspielraum aber auch auf politische Ursachen zurückgeführt: So wurde befürchtet, „if the Commission adopted the role of a European ,busybody‘, it is likely that a good number of states would withdraw from the Convention. These are the facts of political life with which the Commission has to live.“ 1243

Insbesondere in Bereichen, die sich in einem Staat durch Einzigartigkeit auszeichnen, gestehen die Konventionsorgane regelmäßig einen erweiterten Ermessensspielraum zu. Dagegen werden einem Staat, der von einer gemeinsamen europäischen Linie abweicht, obwohl die betreffende Frage in den übrigen Konventionsstaaten recht einheitlich beantwortet wird, die Grenzen dieses Spielraums eher eng gezogen.1244 Je divergierender die Lösungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten sind, desto weiter ist auch der Spielraum desjenigen, der „aus der Reihe tanzen will“. Wo nur geringfügige Gemeinsamkeiten zwischen den Vertragsstaaten bestehen, ist Raum für einen weiten Spielraum.1245 Trotz dieser im Grunde einleuchtenden Differenzierung ist die – gleichwohl recht vage – Definition1246 der Lehre vom Beurteilungsspielraum nicht in der Lage, unumstößlich darzulegen, welche Anforderungen bei ihrer Anwendung gelten sollen.1247 Für den Anwendungsbereich der Lehre vom Beurteilungsspiel1241

Matscher, Methoden der Auslegung der EMRK, S. 117. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der EMRK, S. 39 f. 1243 Gilmour, The Sovereignty of Parliament and the European Commission of Human Rights, S. 70. 1244 Matscher, Methoden der Auslegung der EMRK, S. 123. 1245 So der EGMR ausdrücklich im Fall Cossey./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 10843/84, Urt. v. 27. September 1990, Ziff. 40. 1246 Vgl. hierzu die Ausführungen im Rahmen des 2. Kapitels, II. 5. 1247 So auch van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 588: „Despite the rather long period of time during which the 1242

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

raum konnten bis heute keine präzisen Kriterien herausgearbeitet werden.1248 Aufgrund dessen bedarf es klarer Maßstäbe, die eine „Einschränkung der Beliebigkeit“ 1249 herbeizuführen imstande sind. Zum Einsatz kommt die Lehre vom Beurteilungsspielraum vor allem im Bereich der in der Konvention verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe.1250 Für den Bereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK wurde die Lehre vom Beurteilungsspielraum bislang lediglich in Bezug auf die Garantie des Zugangs zu einem Gericht angewandt.1251 Einvernehmen besteht indes darüber, dass der Anwendungsbereich der Lehre vom Beurteilungsspielraum nicht prinzipiell auf bestimmte Bereiche begrenzt ist.1252 Dass die Lehre vom Beurteilungsspielraum in der Straßburger Rechtsprechung zum Anspruch auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist noch nicht zur Anwendung kam, ist demzufolge unerheblich, denn die Lehre ist „at the heart of virtually all major cases that come before the Court, whether the judgments refer to it explicitly or not.“1253 Im Gegenteil: In der Literatur wird sogar vielfach betont, dass bei der Beurteilung der Angemessenheit ein Spielraum zu gewähren ist.1254 Allein der EGMR hat zu dieser Frage noch nicht ausdrücklich Stellung genommen. Allerdings hat er bereits früh in seinem Handyside-Urteil1255 herausgestellt, dass die nationalen Behörden besser als die Konventionsorgane in der Lage seien, bestimmte in der Konvention enthaltene Begriffe – insbesondere solche, die von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig sind – auszulegen. Insbesondere hob er hervor, dass auch bei dem Begriff der „Angemessenheit“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK, der sich durch große Flexibilität auszeichne, eine spielraumbedürftige Auslegung durchaus in Betracht kommen könne. Der Weg, die „AngemessenCourt and the Commission have now been using the doctrine it is still extremely difficult to precisely define the nature of the test enshrined in the margin of appreciation doctrine as well as the conditions of its application.“ Sie sei „not capable of precise formulation“, Morrisson, Margin of Appreciation, S. 284. 1248 Fahrenhorst, Familienrecht und EMRK, S. 133; Burke, Secret Surveillance and the European Convention on Human Rights, S. 1132. Mit den Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs dieser Doktrin befasst sich auch Higgins, Derogations under Human Rights, 281 ff. 1249 Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 52. 1250 Bsp. „Privat- und Familienleben“, „Schutz der Ehre“, „Schutz der Moral“, „normale Bürgerpflichten“, „Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind“. 1251 Prinz Hans-Adam II von Liechtenstein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42527/ 98, Urt. v. 12. Juli 2001, Ziff. 43 ff. 1252 Ähnlich Morrisson, Margin of Appreciation, S. 283; sowie Fahrenhorst, Familienrecht und EMRK, S. 133 f. 1253 MacDonald, The Margin of Appreciation, S. 208. 1254 Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 171 f.; Borm, Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer, S. 138; Corten, L’utilisation du „raisonnable“ par le juge international, S. 390. 1255 Fall Handyside, Urt. v. 7. Dezember 1976, Ziff. 48 = EuGRZ 1977, 38 (41 f.).

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heit der Verfahrensdauer“ an der Lehre vom Beurteilungsspielraum zu messen, ist also keinesfalls versperrt.1256 Dies wird zusätzlich bestätigt durch jüngere Judikate des EGMR zur Frage des Zugangs zu einem Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der EGMR urteilte, dass bei dieser Frage seine eigene Zurückhaltung geboten sei, da auch insoweit den Staaten ein Beurteilungsspielraum eingeräumt werden müsse.1257 Bereits recht früh entschied er ferner, dass jeder Staat die Zuständigkeit besitze, sein eigenes System der militärischen Disziplin zu bestimmen und dabei über einen gewissen Ermessensspielraum verfüge.1258 Die Lehre vom Beurteilungsspielraum ist damit nicht auf bestimmte Bereiche beschränkt. In jedem einzelnen Fall ist durch den EGMR zu ermitteln, ob und wie viel Ermessensspielraum dem betreffenden Staat zukommen muss.1259 Je weniger Anhaltspunkte für einen gemeinsamen Nenner im Recht der verschiedenen Vertragsstaaten ersichtlich sind, desto größer muss der Spielraum sein, der dem „Abweichler“ eingeräumt wird. Richterliche Zurückhaltung ist gerade dann angebracht, wenn der fragliche Mitgliedstaat sich durch Besonderheiten gegenüber anderen Mitgliedstaaten – die freilich nicht in einem „Weniger“ an Rechtsschutz bestehen dürfen als dies bereits durch die Konvention selbst gewährleistet ist – auszeichnet.1260 Dies hat zur Folge, dass die Lehre vom Beurteilungsspielraum im Einzelfall dazu führen kann, dass bereits die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgeschlossen ist. In diesen Fällen gelangt dann konsequenterweise auch das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht zur Überprüfung durch den EGMR.1261 Erforderlich sind dafür zwei Voraussetzungen: Es darf erstens keinen gemeinsamen Nenner bezüglich des streitgegenständlichen Rechts in den Rechtsordnun1256 Verfehlt wäre es indes gewesen, die Lehre vom Beurteilungsspielraum bereits oben im Rahmen des Anwendungsbereichs auf die Wendung „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ anzuwenden. Bei dem Begriff „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ handelt es sich zwar – wie bereits zur Genüge zum Ausdruck kam – um einen auslegungsfähigen Rechtsbegriff. Dies ist aber nicht gleichbedeutend mit der Unbestimmtheit eines Rechtsbegriffs. Um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt es sich bei der Wendung „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ gerade nicht. Vielmehr kann es hier im Interesse der Effektivität der Konvention keinen Ermessensspielraum geben, Bleckmann, Der Beurteilungsspielraum, S. 486 f. 1257 Prinz Hans-Adam II von Liechtenstein ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 42527/ 98, Urt. v. 12. Juli 2001, Ziff. 43 ff. 1258 Engel u. a. ./. Niederlande, Beschwerden Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, Urt. v. 8. Juni 1976, Ziff. 59. 1259 Zutreffend der Richter am EGMR Martens in seiner abweichende Meinung zum Urteil im Fall Cossey./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 10843/84, Urt. v. 27. September 1990, Ziff. 3.6.3. 1260 Martens, ebenda. 1261 Dies freilich nicht aufgrund der Tatsache, dass es sich gerade um ein Verfassungsbeschwerdeverfahren handelt, sondern vielmehr deshalb, weil der zugrundeliegende Rechtsstreit nach rechtsvergleichenden Überlegungen Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht zu subsumieren ist.

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gen der Mitgliedstaaten geben, und der betreffende Staat muss sich zweitens bei der Behandlung beziehungsweise Qualifizierung des streitgegenständlichen Rechts durch Besonderheiten im Sinne eines „Mehr“ 1262, die in den anderen Konventionsstaaten nicht vorherrschen, auszeichnen. 5. Anwendung dieser Grundsätze auf die Angemessenheit der Dauer von Verfassungsbeschwerdeverfahren Im Rahmen dieses Abschnittes soll aus einer Gesamtschau des Souveränitätsprinzips sowie der Lehre vom Beurteilungsspielraum für das Problem der Angemessenheit der Verfahrensdauer von Verfassungsbeschwerdeverfahren eine Lösung gesucht werden, die der Einzigartigkeit der Verfassungsbeschwerde im europäischen Kontext gerecht wird. Ausgangspunkt muss dabei die Zielsetzung der Lehre vom Beurteilungsspielraum sein: Sie will dem einzelnen Konventionsstaat Freiräume belassen, wo er sich von anderen Staaten abhebt, wo ein „gemeinsamer“ Nenner, ein „common sense“, zwischen den Konventionsstaaten nicht zu ermitteln ist, und soll die Wirksamkeit der EMRK mit dem Souveränitätsanspruch der Vertragsstaaten in Einklang bringen.1263 Es kann und darf dabei freilich nicht allein genügen, dass sich ein Staat hinsichtlich innerstaatlicher Regelungen oder Strukturen von den übrigen Konventionsstaaten abhebt. Wenn aber ein mehrstufiges Gerichtssystem existiert, das den verfahrensrechtlichen Anforderungen der EMRK genügt und die Beachtung der EMRK über Jahrzehnte unter Beweis gestellt hat, erscheint ein größerer Beurteilungsspielraum vor allem dann begründbar, wenn die Qualität der Entscheidungsorgane erkennen lässt, dass eine dem Niveau der EMRK grundsätzlich entsprechende Kontrolle bereits innerstaatlich stattfindet.1264 Dass das – im Ausland hochgelobte und nachgeahmte – deutsche Rechtssystem diesen Anforderungen in aller Regel genügt, kann angenommen werden. „Schwarze Schafe“ im Europarat sind andere Staaten.1265 Dass die Verfassungsbeschwerde im europäischen Vergleich ein Unikat ist, wurde bereits hinlänglich dargestellt. Dieser Einzigartigkeit muss Rechnung getragen werden, indem der Bundesrepublik im Hinblick auf die zeitliche Gestaltung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ein weiter Spielraum eingeräumt wird. Dies hat durch eine erweiternde Auslegung der inhaltlichen Bemessung der Angemessenheit zu geschehen, 1262 Selbstverständlich gilt dies nur dann, wenn der betreffende Staat seine rechtsstaatlichen Verpflichtungen überobligatorisch erfüllt. Ein Staat kann sich freilich nicht auf Besonderheiten seines Systems berufen, die hinter den Anforderungen der EMRK zurückbleiben. Andernfalls wären Missbrauchsbestrebungen Tür und Tor geöffnet. 1263 Wildhaber/Breitenmoser in Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 32. 1264 Grabenwarter, Kontrolldichte bei mehrpoligen Rechtsverhältnissen, S. 491. 1265 Etwa Italien – im Bereich der Verfahrensdauer – oder die Staaten der russischen Föderation hinsichtlich jeglicher EMRK-Rechte.

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wenn die Prüfung der Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens zur Entscheidung ansteht. Dieser Weg ist – im Gegensatz zu der pauschalen Äußerung, das nationale Recht gebiete eine Sonderbehandlung der Verfassungsbeschwerde – auch möglich, da nicht aufgrund des nationalen Rechts eine abweichende Behandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens erzielt wird, sondern allein aufgrund der Auslegung von Konventionsnormen, die im Lichte der Rechtsvergleichung einem abweichenden Bedeutungsgehalt zugeführt werden.1266 Auf diese Weise kann es gelingen, die Konventionsorgane auch im Hinblick auf die Beurteilung der Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu judicial self-restraint1267 zu verpflichten. Bei dem Begriff der Angemessenheit der Verfahrensdauer handelt es sich um einen auslegungsbedürftigen – insofern „unpräzisen“ 1268 – unbestimmten Rechtsbegriff. Auf diesen kann die Lehre vom Beurteilungsspielraum zunächst einmal ungezwungen angewendet werden. Bringt man nun den Begriff der Angemessenheit der Verfahrensdauer in Verbindung mit dem oben angesprochenen Erfordernis der Sonderbehandlung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, gelangt man rasch zu dem Ergebnis, dass sich dieses Problem nicht unmittelbar unter Zuhilfenahme der Lehre vom Beurteilungsspielraum lösen lässt. Die Lehre vom Beurteilungsspielraum bietet Lösungsmöglichkeiten bei der Frage der Auslegung von Konventionsbegriffen durch die staatlichen Behörden selbst. Dass ein deutsches Gericht – gar das BVerfG – den Begriff der Angemessenheit auslegt, stellt noch keine Antwort auf die Frage dar, ob – beziehungsweise auf welche Weise – das Verfassungsbeschwerdeverfahren selbst eine Sonderbehandlung verdient. Schließlich geht es ja nicht darum, ob das BVerfG oder ein sonstiges nationales Gericht den Begriff der Angemessenheit unter Gewährung eines Spielraumes auslegen darf.1269 Vielmehr soll die Lehre vom Beurteilungsspiel1266 Vgl. zu dieser wichtigen Unterscheidung Favoreu, Cours constitutionnelles nationales et CEDH, S. 794. 1267 Für das Erfordernis von judicial self-restraint des EGMR spricht sich der Richter am EGMR Martens in seiner abweichenden Meinung im Fall Cossey./. Großbritannien, Beschwerde Nr. 10843/84, Urt. v. 27. September 1990, Ziff. 3.6.3. aus. Auch das BVerfG erlegt sich selbst judicial self-restraint auf: Nach eigener Aussage (BVerfGE 36, 1 [14] – Grundlagenvertrag) bedeutet dieser Grundsatz auch keine Verkürzung oder Abschwächung seiner Kompetenz, sondern einen Verzicht, in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Ähnliches könnte auch für den EGMR gelten. 1268 Eine andere Auffassung hierzu vertritt Morrisson, Margin of Appreciation, S. 285, der die in Art. 5 und Art. 6 EMRK enthaltenen Begrifflichkeiten für präzise hält. Dass diese Auffassung kaum haltbar ist, zeigen schon die zahlreichen wissenschaftlichen Dispute um die Auslegung des Begriffs „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“. 1269 Um diese Frage geht es nur, wenn das BVerfG selbst eine Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer zu bescheiden hatte. Diesbezüglich gelten indes keine Besonderheiten, da das BVerfG die Instanzverfahren wie gewohnt nach den gegebenen Maßstäben zu beurteilen hat. Anders liegt der Fall hingegen, wenn der

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raum dazu dienen, dass das BVerfG selbst besonders behandelt wird. Wenn demnach das BVerfG im Verfassungsbeschwerdeverfahren entscheidet, muss später die Beurteilung, ob dieses Verfassungsbeschwerdeverfahren unter Wahrung der Voraussetzungen angemessener Verfahrensdauer durchgeführt wurde, unter Berücksichtigung der Grundsätze der Lehre vom Beurteilungsspielraum erfolgen. Es geht also nicht um die Anwendung der Lehre vom Beurteilungsspielraum in Bezug auf die Beurteilung eines anderen Instanzgerichtsverfahrens durch das BVerfG, sondern vielmehr um die Inanspruchnahme dieser Lehre für das BVerfG. Aus völkerrechtlicher Sicht ist diese Folgerung nur konsequent: Wiederum „von oben“ gesehen kann es keinen Unterschied machen, ob dem BVerfG bei der Beurteilung der Frage, ob ein Instanzgericht „in angemessener Frist“ geurteilt hat, ein Beurteilungsspielraum zugesprochen wird oder ob das BVerfG einen solchen Beurteilungsspielraum bei seinen eigenen Handlungen für sich selbst erhält. Ein Unterschied zwischen der Inanspruchnahme für eigenes oder für fremdes Handeln kann dabei nicht bestehen. Sobald also das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde entscheidet, sind bei der nachfolgenden Überprüfung durch den EGMR, ob das Gericht den Anforderungen an die Angemessenheit der Verfahrensdauer gerecht geworden ist, andere Maßstäbe anzusetzen als bei einem Instanzgericht. Die Lehre vom Beurteilungsspielraum, die den einzelnen Staaten umso größere Freiräume lässt, je weniger es eine allen Staaten gemeinsame Praxis in Bezug auf den Streitgegenstand gibt, bewirkt, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens aufgrund seiner Einzigartigkeit – und damit mangelnder gemeinsamer Praxis – anders zu beurteilen ist als im Rahmen eines Instanzgerichtsverfahrens. Diese Sonderbehandlung steht zudem im Einklang damit, dass es sich beim EGMR nicht um ein Gericht „letzter Instanz“ handelt.1270 Seine Aufgabe ist es nicht – dies hat er selbst vielfach betont1271 – lokale Verschiedenheiten zu beseitigen und die Rechtsordnungen durch Einflussnahme auf nationale Besonderheiten im Gerichtswesen der einzelnen Staaten zu harmonisieren.1272 Vielmehr hat er – und zwar lediglich subsidiär – darauf zu achten, dass der gemeinsame EGMR die Verfahrensdauer vor dem BVerfG selbst zu beurteilen hat. Hier werden die vorliegend entwickelten Ansätze relevant. 1270 „The Court is a court of review rather than a court of appeal“, Lord Mackay of Clashfern, The margin of appreciation and the need for balance, S. 841. 1271 Belgischer Sprachenfall, Beschwerden Nr. 1474/62, 1691/62, 1769/63, 1994/ 63, 2126/64, 1677/62, Urt. v. 23. Juli 1968, Ziff. 10; Handyside ./. Großbritannien und Irland, Beschwerde Nr. 5493/72, Urt. v. 7. Dezember 1976, Ziff. 48. 1272 Lord Mackay of Clashfern, The margin of appreciation and the need for balance, S. 840.

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Menschenrechtsstandard in den Konventionsstaaten bewahrt bleibt.1273 Ein Staat, der im Hinblick auf die Rechtsschutzmöglichkeiten für den Bürger „mehr tut“ als andere Staaten, darf dementsprechend in diesem Bereich auch Freiräume hinsichtlich der Ausgestaltung dieses „Mehr“ beanspruchen. Wie es der EGMR im Handyside-Urteil1274 selbst formulierte, ist es jedem Vertragsstaat – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass dieser die eigenen nationalen Verhältnisse am besten kennt – selbst überlassen, wie er die Sicherung der Rechte und Freiheiten der Konvention bewerkstelligt.1275 Der im Anwendungsbereich der Konvention einzigartige Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde darf damit im Rahmen der Angemessenheit der Verfahrensdauer1276 eine von den herkömmlichen Rechtsmitteln in den einzelnen Staaten abweichende Behandlung erfahren. Diese Lösung steht im Übrigen auch in Einklang mit Art. 53 EMRK, aus dem sich ergibt, dass die in der Konvention verbürgten Garantien einen Mindeststandard darstellen. Weitergehende, ein Mehr an Schutz für den Einzelnen bietende Gewährleistungen im nationalen Recht – hier in Gestalt der Verfassungsbeschwerde – gehen der Konventionsnorm vor.1277 6. Zeitlicher „Aufschlag“ für Verfassungsbeschwerdeverfahren Die Berücksichtigung der Besonderheiten des Verfassungsbeschwerdeverfahrens hat dergestalt zu erfolgen, dass im Falle eines solchen Verfahrens, welches wegen behaupteter Verletzung des Gebots der Entscheidung innerhalb angemessener Frist zur Überprüfung vor den EGMR gelangt, im Rahmen der „Angemessenheit“ der Verfahrensdauer ein zeitlicher Aufschlag gewährt wird. Diese Formulierung legt zunächst nahe, dass eine konkrete Quote ermittelt wird und im Falle eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens dann etwa pauschal eine um zwei Jahre längere Verfahrensdauer akzeptiert wird, als es bei einem Instanzverfahren der Fall wäre. Eine solche Lösung ist indes bei näherer Betrachtung zu verwerfen. Bei dieser Vorgehensweise näherte man sich dem bereits als unbrauchbar verworfenen Ansatz an, welcher von starren Zeitgrenzen im Rahmen der Angemessenheit der Verfahrensdauer ausgeht. Zusätzlich steht dem entge-

1273 Kritisch zur Gefahr einer fünften Instanz – „un cinquième degré de juridiction“ – in Gestalt des EGMR Favoreu, Cours constitutionnelles nationales et CEDH, S. 796. 1274 Handyside ./. Großbritannien und Irland, Beschwerde Nr. 5493/72, Urt. v. 7. Dezember 1976. 1275 Ziff. 48 des Urteils. 1276 Wie eingangs erwähnt meint dies wiederum allein den Fall der überlangen Verfahrensdauer vor dem BVerfG selbst, nicht hingegen die behauptete Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK durch ein oder mehrere Instanzgerichte. 1277 Vgl. hierzu Cohen-Jonathan, zitiert bei Favoreu, Cours constitutionnelles nationales et CEDH, S. 792.

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gen, dass es sich bei der Angemessenheit gerade um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Stattdessen wird man das vom EGMR stets bemühte herkömmliche Kriterienbündel – also die Schwierigkeit der Sache, das Verhalten des Beschwerdeführers sowie der zuständigen Gerichte und die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer – heranzuziehen und zu prüfen haben. Im Rahmen dessen ist dann aus einer Gesamtschau heraus – innerhalb derer durchaus ein Vergleich mit der Verfahrensdauer eines vergleichbaren Instanzgerichtsverfahrens einbezogen werden kann1278 – ein Aufschlag zu gewähren. Mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit ist dies vereinbar: Geht man so vor, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand der bekannten Kriterien so geprüft wird, als ob es sich nicht um ein Verfassungsbeschwerdeverfahren, sondern um ein gewöhnliches Instanzverfahren handelte, kommt man im Lichte der Umstände des Falles zu einem bestimmten Ergebnis. Entweder ergibt die Prüfung, dass der Anspruch auf Entscheidung in angemessener Frist verletzt ist, oder eben nicht. Kommt man zu ersterem Ergebnis, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, wie viel Zeit das Gericht, wäre es ein gewöhnliches Instanzgericht, eigentlich hätte benötigen dürfen, damit Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht verletzt wäre. Angenommen, man gelangte dann zu dem Resultat, anstelle der tatsächlich benötigten sieben Jahre wären nur vier gerechtfertigt, geht man über zum nächsten Schritt, der Einbeziehung der Tatsache, dass eine Verfassungsbeschwerde impliziert ist. Man orientiert sich nun an den gerechtfertigten vier Jahren und gewährt unter Berücksichtigung der Eigenarten des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zugunsten der Verfassungsbeschwerde einen zeitlichen Aufschlag. Die Ermittlung der Reichweite dieses Aufschlags muss freilich ebenso unter Berücksichtigung der einzelnen Umstände des Falles erfolgen. Gewiss einfacher wäre dieses Prozedere, wenn der EGMR in seinen bisherigen Judikaten bestimmte Richtlinien aufgestellt hätte. So wäre es zu begrüßen, wenn der Gerichtshof in seinen die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK bejahenden Entscheidungen darlegte, welche Verfahrensdauer seinen Maßstäben denn noch genügt hätte. Der Hinweis, anstelle der Verfahrensdauer von sieben Jahren wäre angesichts der Gesamtumstände eine Verfahrensdauer von fünf Jahren noch gerechtfertigt, wäre offenkundig äußerst hilfreich für die Bestimmung des Aufschlags bei Verfassungsbeschwerdeverfahren. Andererseits würde ein 1278 Zwar entscheidet ein deutsches Instanzgericht nicht unmittelbar über grundrechtliche Fragen. Gleichwohl hat es schon aufgrund der Normenhierarchie die Grundrechte bei seiner Entscheidung ebenso zu berücksichtigen. Darüber hinaus sind die im Rahmen der einzelnen zu berücksichtigenden Faktoren – Schwierigkeit der Sache, Verhalten des Bf., Verhalten des Gerichts, Bedeutung der Sache für den Bf. – durchaus vergleichbar, handelt es sich nun um ein Verfassungsgerichtsverfahren, oder um ein Instanzverfahren. Legt etwa der Bf. querulatorisches Verhalten an den Tag, macht es keinen Unterschied, ob er dies vor dem BVerfG oder einem Instanzgericht tut. Allenfalls beim ersten Kriterium ergeben sich Unterschiede, da der Prüfungsmaßstab der Gerichte unterschiedlich ist.

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solches Vorgehen wiederum die Gefahr in sich bergen, starre Zeitgrenzen einzuführen, was ja gerade vermieden werden soll. Die Beantwortung der Frage nach der Gewichtung der einzelnen Aspekte im Rahmen der „Aufschlags“-Prüfung soll indes nicht Gegenstand dieser Arbeit sein, in der es lediglich darum ging, einen grundsätzlichen Weg zu finden, wie die Eigenart von Verfassungsbeschwerdeverfahren adäquate und zugleich rechtlich begründbare Berücksichtigung finden kann. Herauskristallisiert hat sich, dass dem BVerfG bei den von ihm zu behandelnden Verfassungsbeschwerdeverfahren ein – variabler – Spielraum zuzugestehen ist. Starre Zeitgrenzen sind dagegen nicht förderlich. Solange sich das BVerfG innerhalb dieses zu respektierenden Spielraumes bewegt, genügt es den Anforderungen an die Angemessenheit der Verfahrensdauer. Jedes einzelne Verfassungsbeschwerdeverfahren, dessen Dauer zur Überprüfung durch den EGMR ansteht, muss daraufhin untersucht werden, ob ein zeitlicher Aufschlag gewährt werden kann. Jegliche Pauschalität verbietet sich. Gerade die Höhe des Aufschlags muss dem Einzelfall überlassen bleiben. In aller Regel wird ein Verfassungsbeschwerdeverfahren, welches mit einem – gar unbegründeten – Nichtannahmebeschluss geendet hat, weniger Nachsicht zu erwarten haben als ein durch Urteil beendetes Verfahren. Abweichungen sind unter Umständen aber auch hier denkbar. Was den Umfang des Spielraumes angeht, der dem BVerfG einzuräumen ist, so wird sich dieser nach den bewährten Kriterien des EGMR zu richten haben. Handelt es sich etwa um eine sowohl rechtlich als auch tatsächlich einfach gelagerte Sache, so wird der Spielraum eher knapp zu bemessen sein. Erging die Entscheidung des BVerfG dazu im Nichtannahmeverfahren, verringert sich der Spielraum nochmals. Zu beachten wird ferner sein, ob die Nichtannahmeentscheidung begründet wurde, oder ob eine Begründung gänzlich unterblieb. Liegt der Sache dagegen ein komplizierter Sachverhalt zugrunde, der es unter Umständen zudem erforderlich machte, dass Stellungnahmen von Ministerien und anderen Stellen eingeholt werden mussten, so wird man einen großzügigeren Spielraum anzusetzen haben – wiederum berücksichtigend, ob es sich um eine Nichtannahmeentscheidung handelte oder um ein ad finem durchgeführtes Verfassungsbeschwerdeverfahren. Bei der Bestimmung dieses Spielraums kann durchaus berücksichtigt werden, dass die Verfahrensdauer in Straßburg selbst durchschnittlich zwischen vier und 10 Jahre beträgt. Immerhin bricht der EGMR selbst in vielen Fällen die Maßstäbe, die er durch seine Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK geschaffen hat.1279 Selbst die Ratifizierung mehrerer Protokolle zur EMRK, die Entlastung

1279 Vgl. hierzu den Bericht der Arbeitsgruppe betreffend die Arbeitsmethoden des EGMR vom Dezember 2005 unter Vorsitz von Lord Woolf of Barnes (Lord Chief Justice von England und Wales), abrufbar unter http://www.echr.coe.int/ECHR/Resour ces/Home/LORDWOOLFREVIEWONWORKINGMETHODS.pdf.

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2. Teil: Betrachtungen zur Verfahrensdauer

bringen sollten, vermochten keine Abhilfe zu schaffen.1280 Jährlich über 40.000 Klagen1281 – Tendenz steigend1282 – mehrere 10.000 Verfahren, die im Rückstau noch auf Erledigung warten – und keine Besserung in Sicht: Ein Grund für den EGMR, vor der eigenen Türe zu kehren.1283 Nicht überzeugend erscheint hiergegen der lapidare Hinweis von Luzius Wildhaber, das Problem überlanger Verfahrensdauer vor dem EGMR (!) ließe sich dadurch lösen, dass die nationalen Gerichte die Garantien der EMRK bei ihrer eigenen Rechtsfindung „automatisch beachten“.1284 Gewiss ist es richtig, dass in Karlsruhe bisweilen mehr Zügigkeit bei Verfassungsbeschwerdeverfahren angezeigt ist. Andererseits darf die Verfassungsbeschwerde, Krönung der Rechtsstaatlichkeit im europäischen Vergleich, einen besonderen Maßstab für sich in Anspruch nehmen. Zwischen effektiver Handhabung der EMRK und der Existenz dieses einzigartigen Rechtsbehelfs muss ein angemessener Ausgleich im Sinne der obigen Ausführungen erzielt werden.

1280 Vgl. hierzu Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 39 ff. (54 ff.). 1281 Sattler, Die Macht der Richter, in: Das Parlament v. 11./18.7.2005. 1282 Vor allem bedingt durch die Erweiterung des Europarates. „It will not be possible endlessly to enhance the Court’s human and financial resources on account of both lack of space and budgetary constraints. . .the current system (a single court for 800 million Europeans) has reached its limits and must therefore evolve further and possibly fundamentally.“ (Audit Report on the Court’s workload and the necessary budgetary resource, 2004 –2007, S. 5. Im Jahr 2010 werden 250.000 Neueingänge erwartet, vgl. die Nachweise im Bericht vom Dezember 2005 der Arbeitsgruppe betreffend die Arbeitsmethoden des EGMR unter Vorsitz von Lord Woolf of Barnes, abrufbar unter http://www.echr.coe.int/ECHR/Resources/Home/LORDWOOLFREVIEWON WORKINGMETHODS.pdf. 1283 Die Gründe für die lange Verfahrensdauer vor dem EGMR werden in der Regel außerhalb des Gerichtshofes gesucht, zumeist werden innerstaatliche Ursachen genannt (die Maßgaben der EMRK müssten bereits vor den nationalen Gerichten berücksichtigt werden, dann gelangten auch weniger Beschwerden vor den EGMR; außerdem seien viele Beschwerden unzulässig oder offensichtlich unbegründet, was auf mangelnde Aufklärung in den einzelnen Staaten über das Institut der Individualbeschwerde zurückzuführen sei); angeführt werden aber auch politische Gründe (mangelnde Personalausstattung; Vorwürfe gegenüber – zumeist osteuropäischen – Konventionsstaaten, der Aufstockung mit Personal- und Sachmitteln vor allem deswegen reserviert gegenüberzustehen, weil ein effektiverer Menschenrechtsschutz von diesen Staaten gar nicht gewollt sei). Zum Ganzen Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 39 ff. (74 ff.); sowie die Rede von Luzius Wildhaber anlässlich der Eröffnung des Juristischen Jahres am 22. Januar 2004, S. 4 ff., abrufbar unter http://www.echr.coe. int/NR/rdonlyres/. 1284 Wildhaber, Rede anlässlich der Eröffnung des Juristischen Jahres am 22. Januar 2004, Annual Report 2003, S. 32.

Résumé und Ausblick „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ,Es ist möglich‘, sagt der Türhüter, ,jetzt aber nicht.‘ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: ,Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger, als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.‘ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schluss sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne (. . .)“.1

Diese Kurzgeschichte von Franz Kafka endet damit, dass der Mann schließlich – zermürbt vom endlosen Warten – stirbt. Einlass wurde ihm nicht gewährt. Relevanz und Aktualität von „Zeit“ beziehungsweise „Zeit im Recht“ wurden im Verlauf dieser Arbeit verdeutlicht. Die einleitend aufgeworfenen Fragen nach der Definition der Zeit konnten freilich nicht abschließend beantwortet werden. Schließlich geht es bei der Garantie des Anspruchs auf Entscheidung in angemessener Frist weniger um das „Was ist Zeit“, als vielmehr um das „Wieviel“ der Zeit, die in Anspruch genommen werden darf. Dass auch diese Frage ähnlich schwierig zu beantworten ist wie die „Urfrage“ nach der Bestimmung der Zeit selbst, dem „Geheimnis, – wesenlos und allmächtig“ (Thomas Mann)2, haben die vorangegangenen Ausführungen gezeigt. Was „angemessen“ ist, kann weder aus nationalem noch aus völkerrechtlichem Blickwinkel pauschal bestimmt werden. Für den einleitend erwähnten, auf eine Entscheidung wartenden 1 Kafka, Vor dem Gesetz, in: Franz Kafka, Sämtliche Werke, Neu Isenburg 2006, S. 987. 2 Mann, Der Zauberberg, S. 358.

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Beschwerdeführer mag selbst eine nach objektiven Maßstäben vielleicht hinnehmbare Zeitspanne schlechthin unerträglich scheinen. Schließlich ist er es allein, der auf den Verfahrensausgang warten muss. Die Gerichte, die mit der Frage nach der Angemessenheit dieser Zeit des Wartens befasst werden, können lediglich im nachhinein, anhand messbarer Umstände befinden, ob dieses Warten zumutbar war oder nicht. Dem Beschwerdeführer ist zudem die rein juristische Frage, ob denn nun vor einem Verfassungsgericht andere Maßstäbe gelten sollen, oder nicht, einerlei. Für ihn ist allein wichtig, sein Recht zu erlangen – und dies möglichst rasch –, denn: justice delayed is justice denied. Bei der Grenzziehung zwischen effektivem Rechtsschutz und der Berücksichtigung nationaler Besonderheiten handelt es sich um eine „Gratwanderung“ 3, einen „dangerous path“ (Hermann Mosler)4. Sie erfordert die jeweilige Überprüfung des Konsenses zwischen den Mitgliedstaaten. Folgerichtig dürfen Verfahren, die nach dem Recht sämtlicher Mitgliedstaaten als unzweifelhaft öffentlich-rechtlich zu qualifizieren sind – unabhängig davon, ob der jeweilige Beschwerdeführer schlussendlich nach Karlsruhe zog – ganz im Sinne des im Verlauf dieser Arbeit häufig betonten gemeinsamen Nenners Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht subsumiert werden.5 Lässt sich ein Konsens nicht oder kaum feststellen, so ist der Beurteilungsspielraum des betreffenden Staates größer, sofern sich das zugrundeliegende Recht des betreffenden Konventionsstaats darüber hinaus durch Besonderheiten auszeichnet, die im Recht keines anderen Mitgliedstaates zu verzeichnen sind. Ergibt sich hieraus ein weiter Beurteilungsspielraum, so erfordert es der Souveränitätsgedanke in Verbindung mit dem auf ihm basierenden margin of appreciation, dass dieser zugunsten des betroffenen Staates berücksichtigt wird. Der Beurteilungsspielraum muss bei der Rechtsanwendung Berücksichtigung finden. Konkret bezogen auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren bedeutet dies, dass der EGMR die Besonderheiten dieses Verfahrens dergestalt würdigen muss, dass er im Rahmen der Angemessenheit der Verfahrensdauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens einen zeitlichen Aufschlag gewährt. Herkömmlicherweise wird die Lehre vom Beurteilungsspielraum zwar nur für den Fall ins Feld geführt, dass einer nationalen Behörde oder einem Gericht bei der Anwendung der Konventionsbestimmungen ein Spielraum

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Brötel, Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens, S. 43. Mosler, Problems of Interpretation, S. 160. 5 Vgl. hierzu etwa den mehrfach erwähnten Fall König sowie die angesprochenen steuerrechtlichen Verfahren. Ein erfreuliches Gegenbeispiel stellt wiederum der Fall Deumeland dar, bei dem soweit ersichtlich das einzige Mal rechtsvergleichend ermittelt wurde, ob von einem civil right auszugehen ist. Die rechtsvergleichenden Ermittlungen des EGMR endeten mit einem Patt: Die Entscheidung für die eine oder die andere Seite – konkret: die Zuordnung sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche auf Leistungen aus der Unfallversicherung zu den civil rights – war demzufolge vertretbar und konsequent, mag sie auch aus Sicht des deutschen Rechts nicht ganz behagen. 4

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gewährt wird. Dem hier eingebrachten Ansatz gewissermaßen „von oben“, der die Lehre vom Beurteilungsspielraum für das Handeln des BVerfG selbst in Anspruch nimmt, steht dies nicht entgegen. Die Lehre vom Beurteilungsspielraum ist für diese Lösung offen, Grenzen ihrer Anwendbarkeit wurden bis heute nicht aufgestellt. Im Ergebnis stellt sich diese Lösung auch für den EGMR selbst als vorteilhaft dar: Wird dem BVerfG etwas mehr Zeit gewährt für die Bewältigung schwieriger Fälle, so können diese gründlicher aufgearbeitet werden. Gelangt ein solcher Fall später vor den EGMR, so wird dem Gerichtshof ein vollständig aufbereiteter und aufgearbeiteter Fall präsentiert. Der EGMR kann so seine eigenen Verfahren beschleunigen. Verlangt man dagegen vom BVerfG die Einhaltung derselben zeitlichen Vorgaben wie von einem Instanzgericht, so läuft man Gefahr, dass schwierige Fragen der Verletzung von Grundrechten eine nur oberflächliche, dem Zeitmangel geschuldete Prüfung erfahren. Zur Überprüfung durch den EGMR gelangen so rechtlich weniger aufbereitete Fälle. Gesteht man dem BVerfG dagegen eine etwas zeitaufwendigere Prüfung zu, so wird das Resultat auch entsprechend sorgfältig und umfassend sein. Welche Folgen sich für den Betroffenen unter der Last eines überlangen Verfahrens, insbesondere eines Strafverfahrens, ergeben können, veranschaulicht Franz Kafka in seinem Roman „Der Process“ eindrucksvoll. Der Protagonist Josef K. erlebt im Laufe seines über ein Jahr andauernden Verfahrens seine mit dem Tatverdacht einhergehende Schuld als einen Vorwurf, den er sich nach einiger Zeit der Rebellion gegen die gegen ihn gerichteten Anschuldigungen zu eigen macht, um sich am Ende kampflos der Vollstreckung auszuliefern. Lebenszeit und Verfahrenszeit geraten in ein Spannungsverhältnis zueinander: auf der einen Seite das Zeitmoment eines selbstbestimmten Verhaltens, der regelmäßige Besuch bei Bekannten, dem die fremdbestimmten Verfahrensabschnitte, etwa die Ladungen, gegenüberstehen. Am Ende verliert sich die Lebenszeit des Josef K. in der Verfahrenszeit und hört mit seiner Exekution auf zu existieren: „Das einzige, was ich jetzt tun kann, ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand behalten. Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig. Soll ich nun zeigen, dass nicht einmal der einjährige Prozess mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen? Soll man mir nachsagen dürfen, dass ich am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will? Ich will nicht, dass man das sagt. Ich bin dafür dankbar, dass man mir auf diesem Weg diese halbstummen, verständnislosen Herren mitgegeben hat und dass man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen.“ 6

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Kafka, Der Process, in: Franz Kafka, Sämtliche Werke, Neu Isenburg 2006, S. 142.

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Im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes, der kafkaeske Auswüchse verhindern soll, müssen seitens des EGMR strenge Maßstäbe angesetzt werden. Diese müssen auch für das BVerfG Geltung beanspruchen. Auf der anderen Seite muss auch der Betroffene anerkennen, dass ihm mit der deutschen Verfassungsbeschwerde eine ganz besondere prozessuale Möglichkeit an die Hand gegeben wird. Gäbe es die Verfassungsbeschwerde nicht, wäre sein Verfahren und wären die damit verbundenen Hoffnungen mit dem Erlass der Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder irgendeines anderen letztinstanzlichen Gerichts beendet. Stattdessen gewährt ihm die Verfassungsbeschwerde eine weitere Möglichkeit, seine Rechte durchzusetzen. Effektiver Rechtsschutz und umfassender, weitestgehender Rechtsschutz stehen damit in einem Spannungsverhältnis und sind im Sinne „praktischer Konkordanz“ aufzulösen. Sowohl die Besonderheiten der Verfassungsbeschwerde als auch die Interessen des Beschwerdeführers sind dabei zu berücksichtigen. Mittels des im Verlauf der vorliegenden Arbeit entwickelten Vorschlags soll erreicht werden, beiden Interessenlagen gerecht zu werden. Die Interessen des Beschwerdeführers werden dadurch berücksichtigt, dass die Verfassungsbeschwerde nicht – wie teilweise gefordert – gänzlich aus dem Einzugsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK herausgehalten wird. Zugleich wird aber den nationalen Besonderheiten Rechnung getragen, indem über den Weg des Souveränitätsprinzips und des margin of appreciation andere Maßstäbe für die Behandlung der Verfassungsbeschwerde Geltung erlangen. Um Zitaten wie „Es ist eine sehr schlechte Konvention, aber ein sehr schöner Palast.“ (Paul Henri Spaak)7, vorzubeugen, muss sich der EGMR um eine Auslegung der Konvention im für alle Konventionsstaaten gleichermaßen verträglichen Sinn bemühen, die ihre Akzeptanz vorantreibt. Abgesehen von der Zubilligung von Spielräumen im Sinne des margin of appreciation muss Straßburg aber auch durch seine eigene Praxis einen Beitrag leisten: Wenn der Gerichtshof in einem seiner Urteile zur Verfahrensdauer festschreibt, die besagte Verfahrensdauer sei schlicht nicht hinnehmbar und deshalb zu verurteilen, so hat er für eben diesen Richterspruch gewöhnlich zwischen vier und zehn Jahre Zeit in Anspruch genommen. Im Fall Süßmann etwa befand der EGMR, die Verfahrensdauer vor dem BVerfG von drei Jahren, vier Monaten und drei Wochen genüge den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht. Der EGMR benötigte für diese Feststellung vier Jahre und sechs Monate!8 Auch solche Verhältnisse

7 Belgischer „Europäer“, der als einer der Gründerväter der Europäischen Union bezeichnet wird, über die Unterzeichnung der Konvention in Rom im Palazzo Barberini, zit. bei v. Simson, Der Staat und die Staatengemeinschaft, S. 201. 8 Im Fall Siebert ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 59008/00, Urt. v. 23. März 2006, hatte der EGMR gar 5 Jahre benötigt, um lediglich über die Zulässigkeit der Beschwerde zu entscheiden.

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sind nicht akzeptabel und wurden zum Anlass mehrfacher Reformen des EGMR gemacht. Das Protokoll Nr. 11 brachte nicht den gewünschten Erfolg,9 weshalb das Protokoll Nr. 14 zur EMRK geschaffen wurde, welches planmäßig bereits 2006 in Kraft treten sollte. Bislang geschah dies nicht – es fehlt die Ratifikation durch Russland.10 Das Protokoll Nr. 14 sieht ein dem deutschen Annahmeverfahren vergleichbares System vor, mit welchem die über den EGMR hereinstürzenden Massen von Individualbeschwerden selektiert werden sollen. Im Mittelpunkt steht die Ergänzung des Art. 35 EMRK um einen zusätzlichen Unzulässigkeitstatbestand, der es dem Gerichtshof erlaubt, in noch größerem Ausmaß als bisher Individualbeschwerden a limine zurückzuweisen. Möglich werden zudem Einzelrichter-Entscheidungen.11 Den Ausschüssen, denen bisher zusätzlich die Aufgaben der Einzelrichter oblegen haben, werden nunmehr Zuständigkeitsbereiche der Kammern zugewiesen: Sie dürfen nach der Neuerung auch – materielle – Urteile fällen, die auf einschlägiger Rechtsprechung basieren und sollen die Kammern vor allem hinsichtlich der Masse der „repetitive cases“ – vom EGMR selbst scherzhaft als „Klonfälle“ bezeichnet12 – entlasten, Art. 28 Abs. 1 lit. b EMRK (geplante Neufassung).13 In der Entstehungsphase der Änderungen wurde eine Verlagerung von mehr als 70% der Fälle von der aus sieben Richtern bestehenden Kammer auf den aus drei Richtern zusammengesetzten Ausschuss angestrebt.14 Die Kapazitäten der Kammern werden so für die wirklich „wichtigen“ Rechtsfragen frei gehalten.15 Art. 28 Abs. 1 lit. b EMRK (geplante Neufassung) ist vergleichbar mit § 93 c Abs. 1 BVerfGG, welcher die Möglichkeit der Stattgabe durch die Kammer anstelle des Senats in Fällen vorsieht, deren zugrundeliegende Rechtsfrage bereits entschieden ist.

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Ohms, EGMR am Wendepunkt?, S. 14. Zum Ratifikationsstand vgl. http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/Cherche. 11 Es versteht sich von selbst, dass dies nicht gilt, sofern es sich um eine Beschwerde handelt, die sich gegen denjenigen Staat richtet, von dem der betreffende Einzelrichter vorgeschlagen wurde, Art. 26 Abs. 3 EMRK (geplante Neufassung). 12 Stoltenberg, Neuere Vorschläge zur Reform des EGMR aus dem Kreis der Mitgliedstaaten, S. 140. 13 Art. 28 Abs. 1 EMRK (geplante Neufassung) wird lauten: „Ein Ausschuss kann durch einstimmigen Beschluss eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde a. für unzulässig erklären oder im Register streichen, wenn eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann, oder b. für zulässig erklären und ein Urteil über die Begründetheit fällen, sofern die der Rechtssache zugrunde liegende Frage der Auslegung oder Anwendung dieser Konvention oder der Protokolle dazu durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits entschieden ist.“ 14 Nachweise bei Stoltenberg, Neuere Vorschläge zur Reform des EGMR aus dem Kreis der Mitgliedstaaten, S. 139. 15 Ohms, EGMR am Wendepunkt?, S. 22. 10

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Erwähnenswert erscheint außerdem folgende Neuerung: Gem. Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK (geplante Neufassung)16 i.V. m. Art. 20 des 14. Zusatzprotokolls17 sollen nunmehr Individualbeschwerden zurückgewiesen werden können, wenn der Beschwerdeführer keinen erheblichen Nachteil erlitten hat, es sei denn die Achtung der Menschenrechte erfordert es, die Begründetheit der Beschwerde zu prüfen und vorausgesetzt, die Rechtssache ist von einem innerstaatlichen Gericht ordnungsgemäß untersucht worden. Diese Regelung weist offensichtlich Ähnlichkeiten mit § 93a BVerfGG auf: Während Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK (geplante Neufassung) negativ die Voraussetzungen festlegt, unter welchen der Gerichtshof eine Beschwerde für unzulässig erklären soll, normiert § 93a BVerfGG positiv, unter welchen Voraussetzungen die Beschwerde anzunehmen ist. Dogmatisch korrekter wäre wohl, die Beschwerde unter dieser Prämisse entsprechend den deutschen Verfahrensregelungen nicht anzunehmen, als sie für unzulässig zu erklären, da die Beschwerde unter Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK (geplante Neufassung) ja eigentlich sogar begründet ist. Einziger Grund für die Nichtbescheidung in materieller Hinsicht ist schließlich die Tatsache, dass der Beschwerdeführer keinen wesentlichen Nachteil erlitten hat, nicht aber die Unzulässigkeit der Beschwerde aus irgendeinem formalen (Zulässigkeits-)Grund. Folgende Formulierung des Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK wäre daher möglicherweise klarer und „systemgerechter“: „Der Gerichtshof nimmt eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde nicht zur Entscheidung an, (. . .), wenn er der Ansicht ist, dass dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist, es sei denn, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, erfordert eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde, und vorausgesetzt, es wird aus diesem Grund nicht eine Rechtssache nicht zur Entscheidung angenommen, die noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist.“ Empfehlenswert wäre auch hier ein Blick über (deutsche) Grenzen gewesen – schließlich stammt der Ände16 Art. 35 Abs. 3 EMRK (geplante Neufassung) wird zukünftig lauten: „Der Gerichtshof erklärt eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde für unzulässig, a. wenn er sie für unvereinbar mit dieser Konvention oder den Protokollen dazu, für offensichtlich unbegründet oder für missbräuchlich hält oder b. wenn er der Ansicht ist, dass dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist, es sei denn, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, erfordert eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde, und vorausgesetzt, es wird aus diesem Grund nicht eine Rechtssache zurückgewiesen, die noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist.“ 17 Art. 20 des 14. ZP lautet: „I. Mit Inkrafttreten dieses Protokolls sind seine Bestimmungen auf alle beim Gerichtshofs anhängigen Beschwerden und auf alle Urteile, deren Vollzug das Ministerkomitee überwacht, anzuwenden. II. Auf Beschwerden, die vor Inkrafttreten dieses Protokolls für zulässig erklärt worden sind, ist die neue Zulässigkeitsvoraussetzung, die durch Artikel 12 dieses Protokolls in Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe b der Konvention eingefügt wird, nicht anzuwenden. In den ersten zwei Jahren nach Inkrafttreten dieses Protokolls darf die neue Zulässigkeitsvoraussetzung nur von Kammern und der Großen Kammer des Gerichtshofs angewendet werden.“

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rungsvorschlag von der schweizer, maßgeblich aber von der deutschen Delegation18 und beruht letztlich auf den deutschen Annahmeverfahrensregelungen. Die weitgehend positiven Erfahrungen, die die Bundesrepublik mit den ähnlich gestalteten Annahmeverfahrensregelungen gemacht hat, können auch auf Ebene der EMRK fruchtbar gemacht werden. Eine weitere, im Protokoll Nr. 14 nicht berücksichtigte Entlastungsmaßnahme könnte darin zu sehen sein, dass der EGMR die Vorverfahrensprüfungen des BVerfG beziehungsweise anderer entsprechend operierender Gerichte stärker berücksichtigt. Als Beispiel soll der bereits an anderer Stelle erwähnte Fall Schmelzer19 dienen: Hätte dieser Beschwerdeführer zumindest eine zulässige Verfassungsbeschwerde eingelegt – was ohne weiteres möglich war –, hätte zumindest die Möglichkeit einer Überprüfung der geltend gemachten Grundrechte bestanden.20 Den Misserfolg in Karlsruhe hatte der Beschwerdeführer vorliegend ganz allein zu vertreten. Nachdem die Verfassungsbeschwerde für unzulässig befunden war, legte der Beschwerdeführer Individualbeschwerde zum EGMR ein. Dieser hatte die Individualbeschwerde nicht etwa gem. Art. 28 EMRK in der Besetzung von drei Richtern mangels ordnungsgemäßer Rechtswegerschöpfung für unzulässig erklärt, sondern – gar in der Besetzung von sieben Richtern – ausführliche Ermittlungen in der Sache angestrengt und die Beschwerde schließlich deshalb für unzulässig erklärt, weil eine Menschenrechtsverletzung unter keinem Gesichtspunkt in Betracht kam. Hier wurde offensichtlich Ressourcenverschwendung betrieben, wo die Beschwerde mangels Rechtswegerschöpfung bereits für unzulässig hätte erklärt werden können.21 Bei Fällen dieser Art ist im Rahmen von Reformbemühungen anzusetzen: Der EGMR fordert im Rahmen der Rechtswegerschöpfung lediglich, dass der Beschwerdeführer alle zumutbaren innerstaatlichen Rechtsbehelfe eingelegt hat – und zwar form- und fristgemäß. Ob die Beschwerde substantiiert war und die behauptete Grundrechtsverletzung klar erkennen ließ, überprüft der Gerichtshof hingegen nicht. Diese Vorgehensweise steht im Einklang mit der aktuellen Fassung des Art. 35 Abs. 1 EMRK,22 der lediglich davon spricht, dass alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sein müssen. So ist dieser Formulierung 18 Nachweise bei Stoltenberg, Neuere Vorschläge zur Reform des EGMR aus dem Kreis der Mitgliedstaaten, S. 139. 19 Schmelzer ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 45176/99, Entsch. v. 12. Dezember 2000. 20 Die Annahme der Verfassungsbeschwerde wäre gleichwohl zweifelhaft gewesen, da es wohl an einem schweren Nachteil gefehlt hätte: Die Unterstellkosten in Höhe von 100 DM überstiegen nämlich den Wert des verwerteten PKW. 21 In der Besetzung von drei Richtern. 22 Art. 35 Abs. 1 EMRK lautet: „Der Gerichtshof kann sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts und nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung befassen.

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auch ein gänzlich unzulässiger Rechtsbehelf zu subsumieren. Es müsste daher auch die Regelung des Art. 35 Abs. 1 EMRK einer Änderung unterzogen werden: Die offensichtliche Unzulässigkeit eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs jenseits von Form- und Fristfragen müsste ebenfalls nach Art. 35 Abs. 1 EMRK auszuscheiden sein. Art. 35 Abs. 1 EMRK könnte beispielsweise so gefasst werden, dass dem unveränderten Satz 1 folgender Satz 2 angehängt wird: „Eine Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe liegt vor, wenn alle in Betracht kommenden Rechtsbehelfe zulässigerweise erhoben worden sind.“ Diese Änderung würde dazu führen, dass Individualbeschwerden querulatorisch veranlagter Beschwerdeführer bereits auf Zulässigkeitsebene – ohne vertiefte Prüfung möglicher Menschenrechtsverletzungen – ausgeschieden würden. Ein Ergebnis wie im Fall Schmelzer wäre nicht mehr die Folge. Man hätte gut daran getan, sogleich zum „Rundumschlag“ auszuholen und Art. 35 EMRK insgesamt zu ändern, anstatt die Reformbemühungen auf halber Strecke abzubrechen. Gleichwohl bleibt zu hoffen, dass das Protokoll Nr. 14 in der Lage sein wird, der eingehenden Beschwerden besser Herr zu werden,23 damit die effektive Durchsetzung des Menschenrechtsschutzes in Europa gewahrt bleibt. Von einem „monströsen Zustand dieses durchaus kranken Körpers, der nur durch ein Wunder am Leben erhalten ward“, wie es Goethe mit Blick auf das Kammergericht so trefflich formulierte,24 kann in Bezug auf den EGMR noch nicht gesprochen werden. Gleichwohl muss auch der EGMR das Seine dazu beitragen, um der Garantie effektiven Rechtsschutzes durch die Individualbeschwerde – das „Herzstück des Europäischen Menschenrechtsschutzsystems“ (Christian Tomuschat)25 – auch auf europäischer Ebene zur Durchsetzung zu verhelfen und dem Gerichtshof seinen Glanz als „Juwel in der Krone des Europarates“ (Ingrid Siess-Scherz)26 zu bewahren.

23 Bezeichnenderweise titulierte das niederländische Außenministerium ein am 22. November 2002 in Den Haag veranstaltetes Seminar zur Zukunft des EGMR mit „Sink or Swim?“, Nachweise bei Ohms, Entlastung des EGMR, S. 148. 24 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Teil 12. Buch, S. 101. 25 Tomuschat, Individueller Rechtsschutz, S. 95. 26 Siess-Scherz, Der EGMR nach der Erweiterung des Europarates, S. 107.

Dokumentenverzeichnis I. Völkerrechtliche Verträge, Dokumente und Deklarationen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, BGBl. 1952 II S. 685, 953 in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002, BGBl. 2002 II S. 1055; zuletzt geändert durch Protokoll Nr. 14 vom 13. Mai 2004, BGBl. 2006 II S. 138. Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 4. November 1998, BGBl. 2002 II S. 1081 in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 2006, BGBl. 2006 II S. 693. Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949, BGBl. 1950 I S. 263. Amerikanische Konvention über Menschenrechte vom 22. November 1969; abgedruckt in deutscher Übersetzung in Bundeszentrale für politische Bildung, Menschenrechte, 4. Auflage, Bonn 2004, S. 500 ff., sowie in englischer Sprache in: Robertson, Human Rights, S. 249 ff. Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II S. 927. Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland („Zwei-plus-VierVertrag“) vom 12. September 1990, BGBl. II 1990 S. 1318 ff. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, BGBl. 1973 II S. 1553; abgedruckt bei Opitz, Menschenrechte und Internationaler Menschenrechtsschutz, S. 272 ff. in englischer Sprache, sowie in deutscher Übersetzung in: Bundeszentrale für politische Bildung, Menschenrechte, 4. Auflage, Bonn 2004; S. 69 ff. Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, BGBl. 1973 II S. 430. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, abgedruckt in: Bundeszentrale für politische Bildung, Menschenrechte, 4. Auflage, Bonn 2004, S. 54. Council of Europe, Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, Den Haag 1975–1985, Band 1 Preparatory Commission of the Council of Europe, Committee of Ministers, Consultative Assembly, 11 may–8 september 1949.

II. Europarechtliche Verträge, Rechtsakte und sonstige Dokumente Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957, BGBl. 1957 II S. 766 (seit dem Vertrag über die Europäische Union – „Vertrag von Maastricht“ – vom 7. Februar 1992, BGBl. 1992 II S. 1253 „Europäische Gemeinschaft“); letzte Änderung vom 16. April 2003, BGBl. 2003 II S. 1410.

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Dokumentenverzeichnis

Vertrag über die Europäische Union – „Vertrag von Maastricht“ – vom 7. Februar 1992, BGBl. 1992 II S. 1253; letzte Änderung vom 16. April 2003, BGBl. 2003 II S. 1410. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18. Dezember 2000, ABl. EG Nr. C 364/7. Vertrag über eine Verfassung für Europa, CIG 87/1/04 REV 1 mit ADD 1 und ADD 2, ABl. EG 2004 Nr. C 310/1 S. 1. Richtlinie 71/354/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Einheiten im Messwesen vom 18.10.1971, ABl. 1971 Nr. L 039 vom 15. Februar 1980, novelliert durch die Richtlinien 76/770/EWG vom 27. Juli 1976 und 80/181/EWG vom 20. Dezember 1979, zuletzt geändert durch die Richtlinie 1999/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.1. 2000, ABl. 2000 Nr. L 34/17. Richtlinie 2000/84/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Regelung der Sommerzeit vom 19. Januar 2001, ABl. 2001 Nr. L 31/21.

III. Rechtsquellen und sonstige Dokumente anderer Konventionsstaaten Bundesverfassungsgesetz der Republik Österreich vom 1. Oktober 1920, Stammfassung BGBl. Nr. 1/1930 (Wiederverlautbarung), zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 5/2007 (Stand 23. Februar 2007). Bundesgesetz der Republik Österreich über die Beschwerde an den Obersten Gerichtshof wegen Verletzung des Grundrechtes auf persönliche Freiheit, BGBl. 1992/864. Legge „Pinto“ vom 24. März 2001, in Kraft getreten am 18. April 2001, Gesetz Nr. 89 der italienischen Republik. Verfassung des Königreichs Spanien vom 29. Dezember 1978, letzte Änderung vom 27. August 1992, in: Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, Textausgabe mit Einführung und Sachverzeichnis, 6. Auflage, München 2005, S. 789 ff. Ley orgánica del Tribunal Constitucional [LOTC] 2/1979 vom 3. Oktober 1979, letzte Änderung vom 7. Januar 2000. Verfassung der Republik Bulgarien vom 12. Juli 1991, abrufbar unter http://www. verfassungen.de/eu/index.htm.

IV. Gesetze und Dokumente der Bundesrepublik Deutschland und der Länder Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, BGBl. 1949 S. 1, letzte Änderung vom 26. Juli 2002, BGBl. 2002 I S. 2863. Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, BGBl. 1951 I S. 243, in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993, BGBl. 1993 I S. 1473, letzte Änderung vom 15. Dezember 2004, BGBl. 2004 I S. 3396.

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Sachwortverzeichnis a limine 375 amerikanisches Modell 327 Amtshaftungsanspruch 224, 290 Angemessenheit 29, 44, 54, 58, 61, 62, 66, 67, 71, 72, 74, 75, 78, 80, 83, 85, 88, 90, 92, 96, 99, 101, 105, 108, 113, 117, 119, 125, 129, 135, 139, 143, 146, 149, 154, 158, 186, 223, 247, 252, 253, 254, 255, 256, 259, 260, 272, 274, 277, 280, 293, 295, 331, 338, 348, 349, 350, 358, 359, 362, 364, 365, 366, 367, 369, 372 Anhörungsrüge 135, 318, 320, 321, 325 Anhörungsrügengesetz 320, 321, 381, 391 Annahmeentscheidung 301, 306, 346 Annahmeverfahren 32, 72, 283, 294, 299, 300, 305, 306, 311, 319, 332, 345, 346, 348, 375 Aufschlag 348, 367, 369, 372 Auslegungsregeln 191, 199, 207 außerordentlicher Rechtsbehelf 29, 312, 321, 332 Auswirkens-Formel 288, 289, 290, 291, 324, 341, 345 authentische 194 autonome Auslegung 192, 200, 201, 203, 206, 209, 216 Beurteilungsspielraum 214, 216, 218, 223, 348, 350, 351, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 365, 366, 372, 386, 394 bien fondé 183 bona fide 192 cautious approach 205, 406 contestation 52, 220, 221, 228, 397 context 199, 356

dynamische 209, 211, 219 Edukationseffekt 304 effet utile 197, 207, 359 Engel-Kriterien 237, 240, 241, 246 Ermessensspielraum 213, 214, 215, 223, 360, 361, 363 estoppel 343 evolutive Auslegung 209 Gesetzesverfassungsbeschwerde 71, 224, 290, 307, 327 Grundrechtsbeschwerde 326, 329 Hüter der Verfassung 60, 63, 108, 119, 149, 159, 288, 293, 296, 298, 305, 314, 349, 394, 402 in dubio mitius 357 Individualbeschwerde 43, 77, 92, 96, 98, 101, 103, 105, 107, 110, 113, 115, 117, 118, 121, 125, 126, 128, 131, 134, 139, 142, 145, 147, 151, 156, 160, 255, 274, 288, 311, 325, 328, 333, 334, 335, 338, 339, 370, 375, 376, 377, 378, 407 Instanzgericht 149, 280, 281, 287, 295, 366, 368, 373 Instanzverfahren 154, 223, 287, 295, 296, 335, 351, 365, 367, 368 interpretatio in favorem debitoris 358 iudex a quo 319, 324 judicial self-restraint 365 Justizgewährungsanspruch 259, 319 Justizverweigerung 166, 175, 176, 178, 179, 393, 400

Sachwortverzeichnis Kassationsbefugnis 288 Kernbereich 232, 283, 344 konkrete Normenkontrolle 112, 296 Kriterienbündel 368 Kudla-Entscheidung 135, 318, 319 legge Pinto 258, 318 living instrument 209, 210, 317 margin of appreciation 192, 213, 215, 217, 218, 358, 359, 360, 362, 366, 372, 374, 396 Nenner 198, 203, 204, 206, 218, 230, 235, 342, 343, 344, 358, 363, 364 Nichtannahme 64, 116, 142, 308, 310, 311, 338, 339, 344 Nichtannahmeentscheidung 54, 90, 92, 94, 143, 284, 289, 293, 306, 310, 330, 338, 342, 345, 346, 347, 369 Normenkontrollverfahren 64, 221, 283, 287, 291, 326 Notion autonome 200 objektive Theorie 193 ordinary meaning-rule 193 österreichisch-deutsche Modell 297 Ratifizierung 182, 191, 369 Rechtsstaatsprinzip 267, 272, 319, 327, 391 Rechtsvergleichung 203, 204, 205, 206, 218, 235, 236, 239, 340, 342, 343, 349, 358, 365, 386, 392, 398 Rechtsverweigerung 161, 166, 175, 177 Rechtsweg 29, 81, 142, 162, 278, 312, 314, 319, 323, 332, 333, 336, 337, 339, 393

409

Rechtswegerschöpfung 60, 167, 332, 338, 377, 407 recurso de amparo 328 Sachentscheidung 283, 346, 347 Sanktion 44, 238, 245 Souveränitätsprinzip 348, 352, 355, 357, 358, 359 Statusdenkschrift 314 Strafzumessung 47, 114, 127, 128, 129, 130, 272, 273, 274, 308, 322 Streitigkeit 52, 54, 98, 110, 111, 112, 161, 220, 222, 223, 232, 233, 234, 235, 284, 285 Subsidiarität 212, 331, 332, 337, 339 Suprarecht 314 Systematik 192, 199, 203, 220, 395 Überlastung 30, 66, 72, 75, 167, 246, 266, 267, 276, 298, 303, 313, 316, 349 unbestimmte Rechtsbegriffe 360, 400 Untätigkeitsbeschwerde 317, 336, 400 Urteilsverfassungsbeschwerde 390

110, 163, 280, 294, 214, 350, 324, 325, 291, 329,

Wiedervereinigung 66, 68, 72, 75, 97, 102, 150, 156, 159, 267, 293, 294 Wiener Vertragsrechtskonvention 191, 357 Wimbledon-Fall 356 Zeitgrenzen 252, 253, 254, 277, 350, 367, 369

SUMMARY This study deals with the jurisdiction of the European Court of Human Rights (ECHR) concerning the length of proceedings when a constitutional complaint is involved. None of the Contracting States of the European Convention on Human Rights, except Germany, knows this particular right of appeal to the Constitutional Court. Although Germany thus offers to its citizens a “surplus” of legal protection, the ECHR deals with a constitutional complaint substantially in the same way as it does with any other legal remedy. In some cases the ECHR holds that the greater length of proceedings due precisely to this “surplus” of legal protection is a violation of Article 6 of the Convention. Other Contracting States who, a priori, do not offer these additional instruments of legal protection do not run this risk. The question is whether a State providing an extended legal protection through a constitutional complaint will face sanctions since this may increase the length of proceedings. The author attempts to answer this question. The first part of the study, descriptive, reviews the jurisdiction of the ECHR concerning proceedings that include a constitutional complaint. The second part, analytical, presents first a historical view of the general importance of the length of proceedings, explains then the methods of interpretation of public international law, and interprets finally the elements of Article 6, paragraph 1, of the Convention. Concluding, the author proposes a solution that is based on public international law and takes into account national particularities and aspects of comparative law.

RÉSUMÉ Cet ouvrage traite de la juridiction de la Cour européenne des Droits de l’Homme (CEDH) concernant la durée de procédure quand un recours constitutionnel est impliqué. Aucun des États signataires de la Convention de sauvegarde des Droits de l’Homme et des Libertés fondamentales, à part l’Allemagne, ne connaît ce recours exceptionnel. Bien que la législation allemande offre «un excédent» de protection juridique aux citoyens, la CEDH traite le recours constitutionnel en substance de même que tout autre recours ordinaire. Dans certains cas, la durée prolongée de la procédure due à cet excédent de protection juridique entraîne un arrêt de la CEDH constatant violation de l’article 6 de la Convention. D’autres États signataires qui, a priori, n’offrent pas de tels moyens exceptionnels de protection juridique ne courent pas ce risque. La question se pose si un État qui offre une protection juridique étendue sera sanctionné parce que le recours constitutionnel prolonge la durée de la procédure. Cette étude cherche à répondre à la question posée. La première partie, descriptive, explique la juridiction de la CEDH concernant les affaires qui impliquent un recours constitutionnel. La seconde partie, analytique, présente d’abord un précis historique de l’importance de la durée de procédure, explique ensuite les méthodes d’interprétation du droit international public et interprète enfin les éléments de l’article 6, paragraphe 1, de la Convention. En conclusion, l’auteur propose une solution du problème qui est fondée sur le droit international public tout en tenant compte de particularités nationales et d’aspects de droit comparé.