Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften [1 ed.] 9783428509836, 9783428109838

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist heute aus der täglichen Entscheidungspraxis der EU-Organe nicht mehr wegzudenk

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften [1 ed.]
 9783428509836, 9783428109838

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OLIVER KOCH

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 92

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften

Von Oliver Koch

Duncker & Humblot . Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-10983-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Für Lilly Bogner

Vorwort Die Idee zum Thema der vorliegenden Arbeit entstand bei der Vorbereitung eines Seminars zur Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts. Wesentliche Teile der Arbeit, die im Februar 2002 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen wurde, sind während meiner Tätigkeit am Jean-Monnet-Lehrstuhl fiir Europarecht der Universität Göttingen entstanden. Die Fertigstellung des Manuskripts erfolgte im Juli 2002. Herrn Prof. Dr. Volkrnar Götz gebührt Dank dafiir, dass er die Arbeit betreut und durch zahlreiche Anregungen wesentlich gefordert hat. Herrn PD Dr. Kyrill-Alexander Schwarz danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Besonders herzlich bedanken möchte ich mich bei Herrn Dr. Jose Martinez-Soria und Frau Dr. Sylvia Baule, die mir bei der Bewältigung und Strukturierung der komplexen Materie sehr geholfen haben. Ihre Bereitschaft, einzelne Aspekte der Verhältnismäßigkeitsproblematik mit mir zu diskutieren und das umfangreiche Manuskript kritisch durchzusehen, hat das Gelingen der Arbeit ebenso be fOrdert wie das angenehme Arbeitsumfeld, zu dem sie - gemeinsam mit den übrigen Institutsmitarbeitern - beigetragen haben. Schließlich möchte ich auch meinen Göttinger Freunden, insbesondere Ralf und Bettina, sowie meiner Familie dafür danken, dass sie mich auf vielfältige Weise unterstützt und geduldig auf die Fertigstellung der vorliegenden Arbeit gewartet haben. Hamburg, im Juli 2002

Oliver Koch

Inhaltsübersicht Einleitung

Die Schlüsselrolle des Gerichtshofs bei der Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ................................................................... 33 II. Erfassung des Untersuchungsgegenstandes .............................................................. 35 I. Terminologische Schwierigkeiten ...................................................................... 35 2. Vorläufige Definition des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes .............................. 37

I.

Erster Teil

Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in den europäischen Rechtsordnungen

Entwicklung des Rechtsprinzips der Verhältnismäßigkeit - die Idee der Verhältnisgerechtigkeit in der europäischen Rechtsgeschichte ........................................... 39 I. Gemeineuropäische Wurzeln des Verhältnismäßigkeitsgedankens in der Antike ................................................................................................................. 39 2. Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in den modemen europäischen Rechtsordnungen ..................................................................................... 43 II. Die Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle in den europäischen Rechts,_ ordnungen ................................................................................................................. 48 1. Deutschland ....................................................................................................... .49 2. Frankreich .......................................................................................................... 63 3. Großbritannien ................................................................................................... 79 4. Irland .................................................................................................................. 92 5. Österreich ........................................................................................................... 97 6. Italien ............................................................................................................... 102 7. Griechenland .................................................................................................... 106 8. Niederlande ...................................................................................................... 109 9. Belgien ........................................................................................ .. ................... 114 10. Luxemburg ............................................................................................... .. ...... 120 11. Schweden ......................................................................................................... 122 12. Finnland ........................................................................................................... 125 13. Dänemark ......................................................................................................... 127 14. Spanien ............................................................................................................. 130 15. Portugal ............................................................................................................ 137 16. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Rechtsprechung des EMGR .............. 142 17. Rechtsvergleichende Würdigung ...................................................................... 153

I.

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Inhaltsübersicht

Zweiter Teil Inhalt des gemeinschaftsrechtIichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Grundstrukturen der gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsdogmatik ..... 158 I. Geltungsgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ...................................... 158 2. Rang und Adressaten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ............................ 193 3. Teilgrundsätze der VerhältnismäßigkeitspTÜfung - Variabilität des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitskonzepts ............................................ 198 4. Abgrenzung der Verhältnismäßigkeit von ähnlichen Grundsätzen ................... 23I 11. Defizite der gemeinschaftlichen Verhältnismäßigkeitsdogmatik ............................ 252 I. Das rechtsstaatliche Gebot der Transparenz hoheitlicher Abwägungsentscheidungen ...................................................................................................... 253 2. Fehlen einer einheitlichen und konsistenten Verhältnismäßigkeitsdogmatik ... 254 3. Das Abwägungsdefizit der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung .................... 259 4. Möglichkeiten einer Präzisierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung ................ 277 I.

Dritter Teil Anwendungspraxis der Verhältnismäßigkeitskontrolle des Gerichtshofs Verhältnismäßigkeitskontrolle des Handelns der Gemeinschaftsorgane ................ 290 I. Verhältnismäßigkeitsprinzip im Sanktionsrecht ............................................... 293 2. Verhältnismäßigkeit als Korrektiv marktsteuernder Eingriffe der Gemeinschaft ................................................................................................................ 342 3. Verhältnismäßigkeit und Binnenmarkt ............................................................. 369 4. Verhältnismäßigkeitsprüfung von Grundrechtseingriffen ................................ 396 5. Sonstige Anwendungsbereiche der Verhältnismäßigkeitskontrolle ................. .412 11. Verhältnismäßigkeitskontrolle nationaler Maßnahmen ......................................... .415 1. Verhältnismäßigkeit als Grenze flir Beschränkungen der Grundfreiheiten .... .415 2. Erforderlichkeit nationaler Ausnahmen von der Wettbewerbsordnung der EG ................................................................................................................... .456 3. Verhältnismäßigkeit mitgliedstaatlicher Grundrechtseingriffe ........................ .484 III. Zusammenfassende Analyse der praktischen Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle .......................................................................................................... 494 I. Funktionen des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes .. .494 2. Steuerung der VerhältnismäßigkeitspTÜfung durch eine Abstufung der Kontrolldichte ......................................................................................................... 521 3. Die Kritik an der praktischen Wirksamkeit der gerichtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle .......................................................................................... 554

I.

Zusammenfassung ...................................................................................................... 577 Literaturverzeichnis ........ ............................................................................................ .589 Sachverzeichnis ............................................................................ ............................... 626

Inhaltsverzeichnis Einleitung

Die Schlüsselrolle des Gerichtshofs bei der Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ................................................................... 33 II. Erfassung des Untersuchungsgegenstandes .............................................................. 35 I. Terminologische Schwierigkeiten ...................................................................... 35 a) Verhältnismäßigkeit - Proportionalität ......................................................... 35 b) Uneinheitlichkeit der deutschen Verhältnismäßigkeitsterminologie ............ 36 2. Vorläufige Definition des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes .............................. 37

I.

Erster Teil

Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in den Europäischen Rechtsordnungen

Entwicklung des Rechtsprinzips der Verhältnismäßigkeit - die Idee der Verhältnisgerechtigkeit in der europäischen Rechtsgeschichte ...................................... 39 I. Gemeineuropäische Wurzeln des Verhältnismäßigkeitsgedankens in der Antike ................................................................................................................. 39 a) Talionslehre archaischer Rechtsordnungen .................................................. 39 b) Weiterentwicklung der Verhältnismäßigkeitsdogmatik durch Aristoteles ... 40 c) Zweckrationalität des Römischen Rechts .................................................... .41 d) Fazit ............................................................................................................ .42 2. Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in den modemen europäischen Rechtsordnungen ............................................. .43 a) Liberaler Rechtsstaat und Idee der Grundrechte ......................................... .43 b) Entwicklung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch das deutsche Verwaltungsrecht des 19. Jahrhunderts ................. .45 c) Fazit ............................................................................................................ .47 II. Die Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle in den europäischen Rechtsordnungen ................................................................................................................ .48 1. Deutschland ....................................................................................................... .49 a) Anwendungsbereich: Verhältnismäßigkeit als übergreifendes Rechtsprinzip ........................................................................................................ .49 aa) Umfassende Bindung der staatlichen Tätigkeit an die Verhältnismäßigkeit ............................................................................................... 50 bb) Beschränkung der Anwendung auf grundrechtsrelevante Sachverhalte ....................................................................................................... 51 b) Dogmatische Struktur: Dreistufige Verhältnismäßigkeitsprüfung ............... 54 aa) Geeignetheit ........................................................................................... 56 bb) Erforderlichkeit ...................................................................................... 57 cc) Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) .................... 58 c) Praktische Bedeutung ................................................................................... 59 aa) Kontrolldichte ........................................................................................ 59

I.

Inhaltsverzeichnis

12

2.

3.

4.

5.

6.

(1) Intensive Verhältnismäßigkeitskontrolle als Rege\fall... .................. 59 (2) Grenzen der umfassenden Verhältnismäßigkeitskontrolle ............... 60 bb) Der Rang des Verhältnismäßigkeitsprinzips ......................... ,................ 61 cc) Funktionen ............................................................................................. 62 d) Würdigung ................................................................................................... 63 Frankreich .......................................................................................................... 63 a) Anwendungsbereich: "Verdeckte" Verhältnismäßigkeitskontrolle .............. 63 aa) Fehlen eines anerkannten Rechtsprinzips .............................................. 63 bb) Traditionelle Skepsis gegenüber der Kontrolle des Verwaltungsermessens .................................................................................................. 64 cc) Elemente einer Verhältnismäßigkeitskontrolle ...................................... 65 (I) Die Rechtsprechung des Conseil d'Etat zur Verhältnismäßigkeit....65 (2) Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des Conseil constitutionnel ... 68 (3) Positivierungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips .......................... 69 b) Dogmatische Einordnung der Verhältnismäßigkeitskontrolle ...................... 70 aa) Die objektive Rechtsschutzkonzeption des französischen Verwaltungsrechts ............................................................................................. 70 bb) Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des "erreur manifeste d'adequation" ......................................................................................... 71 cc) Die umstrittene Verbindung zwischen "contröle du bilan" und Verhältnismäßigkeit ..................................................................................... 72 c) Praktische Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ............................. 75 aa) Kontrolldichte ........................................................................................ 75 bb) Rang des Verhältnismäßigkeitsprinzips ................................................. 77 cc) Funktionen des Verhältnismäßigkeitsprinzips ....................................... 78 d) Würdigung der Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips im französischen Recht ............................................................................................................ 78 Großbritannien ................................................................................................... 79 a) Anwendungsbereich: Verhältnismäßigkeit und Parlamentssouveränität... ... 79 aa) Positivierungen des Verhältnismäßigkeitsgedankens ............................. 80 bb) Anwendungsbereiche der Verhältnismäßigkeitskontrolle ...................... 81 b) Dogmatische Einkleidung der Verhältnismäßigkeitskontrolle ..................... 83 c) Praktische Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle ............................ 87 aa) Kontrolldichte ........................................................................................ 87 bb) Rang ....................................................................................................... 89 cc) Funktion ................................................................................................. 89 d) Würdigung der Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips .............................. 89 Irland .................................................................................................................. 92 a) Anwendungsbereich ............................................................... .. .................... 92 b) Dogmatik ..................................................................................................... 94 c) Praktische Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle ............................ 95 d) Würdigung ................................................................................................... 96 Österreich ........................................................................................................... 97 a) Anwendungsbereich ..................................................................................... 97 b) Dogmatik ..................................................................................................... 98 c) Praktische Bedeutung ................................................................................. 100 aa) Kontrolldichte ...................................................................................... 100 bb) Rang ..................................................................................................... 101 cc) Funktion ............................................................................................... 101 d) Würdigung ................................................................................................. 101 Italien ............................................................................................................... 102

Inhaltsverzeichnis

7.

8.

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10. 11.

12.

13.

14.

15.

13

a) Anwendungsbereich ................................................................................... 102 b) Dogmatik .................................... ...... .. ..... .. .... .. ..... .. ...... .. .. .... .... ........ ......... 103 c) Praktische Bedeutung ................................................................................. 105 d) Würdigung ............................................. .. .................................................. 105 Griechenland .................................................................................................... 106 a) Anwendungsbereich ................................................................................... 106 b) Dogmatik ................................................................................................... 107 c) Praktische Bedeutung ................................................................................. 108 d) Würdigung ................................................................................................. 109 Niederlande ...................................................................................................... 109 a) Anwendungsbereich ................................................................................... 109 b) Dogmatik ................................................................................................... 111 c) Praktische Bedeutung ................................................................................. 112 aa) Kontrolldichte ...................................................................................... 112 bb Rang .................................................................................................... 113 cc) Funktion ............................................................................................... 113 d) Würdigung ................................................................................................. 114 Belgien ............................................................................................................. 114 a) Anwendungsbereich ................................................................................... 114 b) Dogmatik ................................................................................................... 116 c) Praktische Bedeutung ................................................................................. 118 aa) Kontrolldichte ...................................................................................... 118 bb) Rang ..................................................................................................... 119 cc) Funktion ............................................................................................... 11 9 d) Würdigung ................................................................................................. 120 Luxemburg ....................................................................................................... 120 Schweden ......................................................................................................... 122 a) Anwendungsbereich .................................. .. ..................................... .. ........ 122 b) Dogmatische Ausformung ......................................................................... 123 c) Praktische Bedeutung ............................................................ .. ................... 123 d) Würdigung ................................................................................................. 124 Finnland ........................................................................................................... 125 a) Anwendungsbereich ................................................................................... 125 b) Dogmatik ................................................................................................... 125 c) Praktische Bedeutung ................................................................................. 126 d) Würdigung ................................................................................................. 126 Dänemark ......................................................................................................... 127 a) Anwendungsbereich ................................................................................... 127 b) Dogmatik ............................. .. ........... .. .... .. ... .... .... .. ........ .. ... ........... .... ... ..... 129 c) Praktische Bedeutung ................................................................................. 129 d) Würdigung ........................ ..... ....... .... ...... .. ... .... .... .. ........ .. ... ........... ............ 130 Spanien ............................................................................................................. 130 a) Anwendungsbereich ....... .. .......................................................................... 130 b) Dogmatik ................................................................................................... 133 c) Praktische Bedeutung ................................................................................. 135 aa) Kontrolldichte ...................................................................................... 135 bb) Rang ..................................................................................................... 136 cc) Funktion ............................................................................................... 137 d) Würdigung .......... ...... .. ............................ ..... .. ...... ..... .. ... ..... .. ...... ........ .. ..... 137 Portugal ............................................................................................................ 137 a) Anwendungsbereich .......... ................ .. .... ..... .. ...... .. ... .. ... ..... .... .... ..... ... .. ..... 137

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Inhaltsverzeichnis b) Dogmatik ................................................................................................... 140 c) Praktische Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle .......................... 140 d) Würdigung ................................................................................................. 141 16. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Rechtsprechung des EGMR .............. 142 a) Anwendungsgebiete der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Bereich der EMRK ........................................................................................................ 142 aa) Konkretisierung der Schranken in den "Zweiten Absätzen" der Grundrechte ......................................................................................... 142 bb) Übergreifende Anwendung als allgemeiner Rechtsgrundsatz .............. 143 b) Spezifische Struktur der Verhältnismäßigkeitsdogmatik des EGMR ......... 145 c) Kontrolldichte ............................................................................................ 149 d) Würdigung der Verhältnismäßigkeitskontrolle durch den EGMR ............. 152 17. Rechtsvergleichende Würdigung ...................................................................... 153 a) Angleichung bei der umfassenden Anwendung der Verhältnismäßigkeitskontrolle .............................................................................................. 153 b) Vielfalt bei Inhalt und Dogmatik des Verhältnismäßigkeitsprinzips .......... 153 c) Praktische Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle .......................... 155 Zweiter Teil Inhalt des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

I.

Grundstrukturen der gemeinschaftsrechtIichen Verhältnismäßigkeitsdogmatik ..... 158 I. Geltungsgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ...................................... 15 8 a) Herleitung aus dem geschriebenen Recht... ................................................ 160 aa) These von der enumerativen Kodifizierung einzelner Verhältnismäßigkeitsgebote ................................................................................. 160 bb) Art. 5 Abs. 3 EG als Geltungsgrund des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ......................................................................... 163 (I) Thesen zum Regelungsbereich von Art. 5 Abs. 3 EG .................... 164 (a) Umfassende Verankerung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ............................................................. 164 (b) Verankerung nur der kompetenzverteilenden Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ............................................ 164 (2) Art. 5 Abs. 3 EG in der Rechtsprechung des EuGH ...................... 165 (3) Der Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 EG ............................................... 166 (4) Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte ................................ 167 (5) Die systematische Stellung von Art. 5 Abs. 3 ............................... 168 (6) Das Subsidiaritätsprotokoll: Schutz mitgliedstaatlicher Interessen durch die Beschränkung der Regelungsintensität.. .................. 169 (7) Ergebnis: Keine Verankerung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Art. 5 Abs. 3 EG ................................... 171 cc) Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta der Grundrechte als Geltungsgrund der Verhältnismäßigkeit? ........................................................... 171 b) Herleitung aus anderen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts ........ 173 aa) Verhältnismäßigkeit als Bestandteil des allgemeinen Diskriminierungsverbots ......................................................................................... 173 bb) Ableitung aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit... .......................... 173 c) Die Anerkennung der Verhältnismäßigkeit als eigenständiger allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts ........................................... 174 d) Der Geltungsgrund der allgemeinen Rechtsgrundsätze ......... ..................... 176

Inhaltsverzeichnis

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aa) Ableitung der allgemeinen Rechtsgrundsätze aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten oder aus dem Völkerrecht .................. 177 (I) Der "gemeinsame Kern" der nationalen Rechtsordnungen als Quelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze ..................................... 177 (2) Völkerrechtlicher Ursprung der allgemeinen Rechtsgrundsätze .... 179 (3) Die Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts als Hindernis für eine abgeleitete Geltung der Rechtsgrundsätze ........................ 180 bb) Die Erwähnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze in den Gemeinschaftsverträgen ................................................................................... 182 (1) Art. 288 Abs. 2 i.V.m. Art. 220 EG als Geltungsgrund der Rechtsgrundsätze ........................................................................... 182 (2) Deduktion allgemeiner Rechtsprinzipien aus einer "Gesamtschau" einzelner Vertragsnorrnen .................................................. 183 cc) Ableitung der allgemeinen Rechtsgrundsätze aus den Grundrechten bzw. dem "Freiheitsprinzip" .......................................................... 184 dd) Gewohnheitsrechtlicher oder richterrechtlicher Ursprung der allgemeinen Rechtsgrundsätze ............................................................. 185 ee) Das Rechtsstaatsprinzip als Geltungsgrund der allgemeinen Rechtsgrundsätze ............................................................................................ 187 (1) These von der Autonomie der allgemeinen Rechtsgrundsätze ....... 187 (2) Existenz eines Rechtsstaatsprinzips auf Gemeinschaftsebene ....... 188 (3) Verhältnismäßigkeit als Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit der Gemeinschaft ........................................................................... 190 (4) Fazit ............................................................................................... 193 2. Rang und Adressaten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ............................ 193 a) Rang des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ............................................... 193 aa) Bindung des Gesetzgebers ................................................................... 193 bb) Verhältnismäßigkeitsprinzip als "Verfassungsgrundsatz" ................... 195 b) Adressaten des Verhältnismäßigkeitsprinzips ............................................ 196 aa) Bindung aller drei Gewalten an die Verhältnismäßigkeit .................... 196 bb) Mitgliedstaaten als Adressaten des Verhältnismäßigkeitsgebots ......... 197 3. Teilgrundsätze der Verhältnismäßigkeitsprüfung - Variabilität des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitskonzepts ............................................ 198 a) Benennung der herangezogenen Teilgrundsätze: Fehlen einer einheitlichen Verhältnismäßigkeitsdefinition ....................................................... 199 aa) Bloße Prüfung der "Verhältnismäßigkeit" ohne Prüfung einzelner Teilgrundsätze ...................................................................................... 199 bb) Beschränkung der Definition auf einen Teilgrundsatz ......................... 200 (1) "Offensichtliche Ungeeignetheit" .................................................. 200 (2) "Erforderlichkeit" bzw. "Notwendigkeit" ...................................... 201 cc) Zwei stufige Definition des Verhältnismäßigkeitsbegriffs ...... .............. 201 (1) "Angemessenheit und Erforderlichkeit" ........................................ 201 (2) "Eignung und Erforderlichkeit" ..................................................... 202 dd) Dreistufige Verhältnismäßigkeitsdefinition nach deutschem Muster. .. 203 b) Tatsächliche geprüfte Teilgrundsätze - Unterschiede zwischen Terminologie und tatsächlicher Prüfung .............................................................. 204 aa) Die Rolle des Kriteriums der Geeignetheit .......................................... 205 (1) Geringe praktische Bedeutung der Eignungsprüfung .................... 205 (2) Die Dogmatik der Eignungsprüfung: Eignung als "Minimalkriterium" ...................................................................................... 207 (a) Die Wertungsabhängigkeit der Eignungsprüfung .................... 207

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Inhaltsverzeichnis (b) Der flir die Eignungsprognose maßgebliche Zeithorizont ....... 208 (c) Mangelnde terminologische Trennschärfe des Gerichtshofs ... 208 bb) Erforderlichkeitsprüfung im Rahmen der objektiven Verhältnismäßigkeitskontrolle ............................................................................. 209 (I) Praktische Bedeutung der Erforderlichkeitsprüfung in der Rechtsprechung ............................................................................. 209 (2) Dogmatik des gemeinschaftlichen Erforderlichkeitskonzepts ....... 210 (a) These vom Ausschluss der Erforderlichkeitsprüfung durch den Maßstab der "offensichtlichen Ungeeignetheit" ............... 211 (b) Die Wertungsabhängigkeit der ErforderlichkeitsprüfungErforderlichkeit als Prognoseentscheidung .............................. 213 (c) Mutation der Erforderlichkeitsprüfung zur Güterabwägung bei Berücksichtigung mehrerer geschützter Interessen ............ 214 cc) Angemessenheit: "Ausgewogenheit" statt individuelle Zumutbarkeit ....................................................................................................... 217 (I) Die praktische Bedeutung des Angemessenheitskriteriums ........... 217 (a) Der Streit um die Existenz einer Angemessenheitskontrolle ... 217 (b) Dominanz der Angemessenheitsprüfung im Sanktionsrecht ... 219 (aa) Verfahren der "uneingeschränkten Ermessenskontrolle" .220 (bb) Überprüfung außerhalb des Verfahrens der "uneingeschränkten Ermessenskontrolle" ........................ 220 (c) Der Ausnahmecharakter einer eigenständigen Angemessenheitsprüfung jenseits des Sanktionsrechts ........... 221 (aa) Geringe Bedeutung der Angemessenheitsprüfung in den frühen Urteilen des EuGH ......................................... 221 (bb) Beispiele fehlender richterlicher Güterabwägungen trotz des Bekenntnisses zur Angemessenheitsprüfung ..... 222 (cc) Vereinzelte Güterabwägungen in neueren Urteilen .......... 223 (2) Dogmatische Ausformung des Angemessenheitskriteriums .......... 226 (a) Der objektive Charakter des gemeinschaftsrechtlichen Abwägungskonzepts ..................................................................... 226 (aa) Dominanz der objektiv-typisierenden Güterabwägung: Ausgewogenheit statt Zumutbarkeit.. .............................. 226 (bb) Prüfung der Zumutbarkeit im Rahmen der Angemessenheitskontrolle? ...................................................... 229 (b) Terminologische Unschärfen im Zusammenhang mit dem Angemessenheitsbegriff .......................................................... 230 4. Abgrenzung der Verhältnismäßigkeit von ähnlichen Grundsätzen ................... 23I a) Verhältnismäßigkeit und Wesensgehaltsgrundsatz .................................... 231 aa) These der Garantie eines absolut geschützten Grundrechtskerns ......... 23I bb) Fehlen eines eigenständigen Gehalts der Wesensgehaltsgarantie gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ................................... 233 cc) Funktion der relativen Wesensgehaltsgarantie: Beschreibung der Grenze zur Unverhältnismäßigkeit ...................................................... 234 b) Verhältnismäßigkeitsprinzip und Gleichheitsgrundsatz ............................. 237 aa) Verhältnismäßigkeit als Ausprägung des Gleichheitssatzes ................. 238 bb) Eigenständigkeit von Verhältnismäßigkeit und Gleichheitssatz .......... 240 (I) Überwiegen der getrennten Prüfung beider Grundsätze ................ 240 (2) Klare Abgrenzbarkeit bei der Rechtsgrundsätze ............................. 241 (3) Unterscheidung zwischen Verhältnismäßigkeit und Verhältnisgerechtigkeit .................................................................................. 242

Inhaltsverzeichnis

17

c) Verhältnismäßigkeit und Subsidiaritätsprinzip .......................................... 242 aa) Differenzen bei der Beurteilung des Verhältnisses der Prinzipien ....... 243 (I) Verhältnismäßigkeitsprinzip als Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips ..................................................................................... 243 (2) Subsidiarität als Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips ......................................................................... 244 bb) Bei der PTÜfung der "Erforderlichkeit" zu berücksichtigende Teilgrundsätze ............................................................................................ 246 d) Verhältnismäßigkeit und Ermessensmissbrauch ........................................ 247 aa) Verhältnismäßigkeit als Teil der Ermessensmissbrauchsprüfung ........ 247 bb) These von der PTÜfung des zulässigen Zieles als Teil der Verhältnismäßigkeit ......................................................................................... 248 cc) Der Begriff des Ermessensmissbrauchs als Maßstab für die Kontrolldichte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung .................................. 250 e) Verhältnismäßigkeit und Vertrauensschutz ................................................ 251 11. Defizite der gemeinschaftlichen Verhältnismäßigkeitsdogmatik ........................... 252 I. Das rechtsstaatliche Gebot der Transparenz hoheitlicher Abwägungsentscheidungen ................................................................................................. 253 2. Fehlen einer konsistenten Verhältnismäßigkeitsdogmatik ............................... 254 a) Fehlende oder widersprüchliche Definitionen des Verhältnismäßigkeitsprinzips und seiner Teilgrundsätze ..................................................... 254 b) Das Phänomen der "doppelten Verhältnismäßigkeitskontrolle" ............... 255 aa) Inhaltliche Parallelität der beiden VerhältnismäßigkeitspTÜfungen ...... 255 bb) Verzichtbarkeit der doppelten Verhältnismäßigkeitsprüfung ............... 257 c) Die Vermischung der "multipolaren" ErforderIichkeitskontrolle mit der Güterabwägung .......................................................................................... 25 8 3. Das Abwägungsdefizit der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung .................... 259 a) Die unzureichende Präzisierung der abwägungsrelevanten Kriterien ........ 259 aa) Herausarbeitung der beteiligten Interessen - unzureichende Benennung beeinträchtigter Interessen ..................................................... 260 bb) Das grundsätzliche Manko der fehlenden Gewichtung der beeinträchtigten Interessen ........................................................................... 261 cc) Mangelnde Transparenz des eigentlichen Abwägungsvorganges das Kriterium des "offensichtlichen" Missverhältnisses ...................... 264 b) Berücksichtigung der Grenzen der Objektivität der richterlichen Kontrolle von Abwägungsentscheidungen ........................................................ 266 aa) These von der Existenz "objektiver" Abwägungsentscheidungen ....... 266 bb) These vom "Versagen der Abwägung" ................................................ 268 (I) Die Grenzen der mathematisch-logischen Erfassbarkeit der Abwägung - Erklärungsansätze der Wohlfahrtsökonomie ............. 268 (2) Spezifisch gemeinschaftsrechtliche Probleme der Abwägung ....... 271 (a) Fehlen normativer Vorgaben für den Abwägungsprozess ....... 271 (b) Problem der "multipolaren" Interessenabwägung ................... 272 (3) Die These von der mangelnden Eignung der Abwägung als Instrument der Rechtsfindung ........................................................ 274 c) Berechtigung der Abwägung zur Rationalisierung des Entscheidungsprozesses .................................................................................................... 275 aa) Abwägungskriterien als Orientierungshilfe der Entscheidung ............. 276 bb) Interpersonale Verifikation der Entscheidungsgründe ......................... 277 4. Möglichkeiten einer Präzisierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung ............... 277 a) Das fünfstufige PTÜfraster von Epiney und Möllers ................................... 278 2 Koch

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Inhaltsverzeichnis b) Das vierstufige Schema von Generalanwalt Lenz ...................................... 279 c) Das siebenstufige Prüfraster der Kommission im Bereich von Maßnahmen der kommerziellen Kommunikation ................................................... 280 d) Eigener Vorschlag zur Strukturierung der Verhältnisprüfung ........ ............ 282 aa) Eignungsprüfung .................................................................................. 282 (I) Genaue Benennung der anvisierten Ziele ...................................... 283 (2) Analyse und Beschreibung des Ist-Zustands .................................. 283 (3) Beschreibung des von der Maßnahme in Gang gesetzten Kausalverlaufs ...................................................................................... 283 (4) Prüfung der Förderung der anvisierten Ziele ................................. 283 bb) Struktur der Erforderlichkeitsprüfung im Rahmen des objektiven Verhältnismäßigkeitskonzeptes ............................................................ 284 (1) Suche und genaue Benennung von Handlungsaltemativen ............ 284 (2) Prüfung der Eignung der einzelnen Handlungsaltemativen ........... 285 (3) Analyse des Wirkungsgrades: Gleiche Wirksamkeit? ................... 285 (4) Prüfung der Eingriffsintensität. ...................................................... 285 (a) "Eindimensionale" Ermittlung der Belastungsintensität... ....... 286 (b) Ermittlung der Belastungsintensität bei Einbeziehung mehrerer unterschiedlich betroffener Gruppen ........................ 286 cc) Struktur der Angemessenheitsprüfung im Rahmen des objektiven Verhältnismäßigkeitskonzeptes ............................................................ 287 (I) Ermittlung der beteiligten Rechtsgüter .......................................... 288 (2) Gewichtung der jeweiligen Rechtsgüter ........................................ 288 (3) Bestimmung des Ausmaßes der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter ............................................................................. 288 (4) Gesamtbilanz: Missverhältnis im Einzelfall? ................................ 289 Dritter Teil

Anwendungspraxis der Verhältnismäßigkeitskontrolle des Gerichtshofs I.

Verhältnismäßigkeitskontrolle des HandeIns der Gemeinschaftsorgane ...... ......... 290 I. Verhältnismäßigkeitsprinzip im Sanktionsrecht ............................................... 293 a) Rechtlicher Rahmen und Begriff des Sanktionsrechts ...................... ......... 293 aa) Ansätze eines allgemeinen Verwaltungssanktionsrechts ..................... 293 bb) Problematik der Eingrenzung des Sanktionsbegriffs .......................... 294 b) Verhältnismäßigkeit des gemeinschaftsrechtlichen Kautionssystems ........ 296 aa) Erforderlichkeit des Kautionssystems zur MarktIenkung .................... 298 bb) Angemessenheit der Höhe der jeweiligen Kaution ............................. 300 (I) Ausschreibungskautionen .............................................................. 300 (2) Höhe der Vorausfestsetzungskaution ............................................. 300 (3) Zuschlagshöhe bei Vorschusskautionen ........................................ 301 cc) Die Rolle der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit dem Problem des totalen Kautionsverfalls ................................................... 302 (I) Mäßigung der Rechtsfolgen durch den Ausnahmetatbestand der höheren Gewalt .............................................................................. 303 (2) Ermöglichung eines anteiligen Kautionsverfalls ........................... 304 (3) Berücksichtigung der Art der Pflichtverletzung ............................. 305 (a) Ablehnung des Verfalls bei minderschwerem Pflichtverstoß .. 305 (b) Eptwicklung der Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenpflicht ............................................................................ 308 (4) Berücksichtigung der Auswirkungen des Kautionsverfalls ............ 309

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(5) Grenzen des Verhältnismäßigkeitsausgleichs ................................ 31 0 (a) Kein Anspruch auf die Aufnahme von Härteklauseln ............. 311 (b) Enge Auslegung des "unabwendbaren Ereignisses" ................ 3 11 (c) Keine Pflicht zum strikt an der Menge orientierten Kautionsverfall ............................................................................... 312 (d) Fälle des Totalverfalls trotz geringer Frist-, Qualitäts- oder Mengenabweichungen ............................................................. 313 dd) Die Rechtsprechung zu den Ausnahmen vom Totalverfall als Ausdruck des Schuldprinzips ..................................................................... 315 c) Verhältnismäßigkeit der Verweigerung/Rückforderung von Beihilfen ...... 318 aa) Implizite Anwendung der Haupt- und Nebenpflichtdoktrin ................. 318 (1) Fallgruppen minderschwerer Pflichtverletzungen, die keine Rückforderung der Beihilfe rechtfertigen ...................................... 319 (2) Fallgruppen der Verletzung wesentlicher Pflichten, die eine Rückforderung der Beihilfe rechtfertigen ...................................... 320 (3) Insbesondere: Das Problem der Einstufung von "Unregelmäßigkeiten" als schwerwiegende Hauptpflichtverletzung ..................... 321 bb) Berücksichtigung des Verschuldens beim Ausschluss von Beihilfen durch die Vertypung objektiver Verschuldenskriterien ........................ 323 cc) Die Verhältnismäßigkeit punitiver Sanktionen im Beihilfebereich ...... 325 d) Die richterliche Kontrolle von Geldbußen und Zwangsgeldern ................. 326 aa) Bußen wegen Verstößen gegen Wettbewerbsvorschriften ................... 327 (1) Bedeutung des Verfahrens der "uneingeschränkten Ermessensnachprüfung" rur die Kontrolle von Bußen ................................... 328 (2) Einzelne Kriterien zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit der Buße ............................................................................................... 330 bb) Montanrechtliche Bußgelder ................................................................ 334 cc) Verhältnismäßigkeitskontrolle von Zwangsgeldem ............................. 335 e) Sanktionen im Antidumpingrecht .............................................................. 337 aa) Verhältnismäßigkeit bei der Auswahl der Sanktion ............................. 337 bb) Verhältnismäßigkeit bei der Festlegung der Zollhöhe ......................... 338 f) Die Verhältnismäßigkeitskontrolle disziplinarrechtlicher Sanktionen ....... 340 g) Sanktionen in anderen Rechtsgebieten ....................................................... 342 2. Verhältnismäßigkeit und marktsteuernde Eingriffe der Gemeinschaft ............. 342 a) Die Vereinbarkeit von Produktionsquoten mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ............................................................................................ 344 aa) Die grundsätzliche Zu lässigkeit des Instruments der Quotierung ........ 345 bb) Kürzung von Produktionsquoten als Verhältnismäßigkeitsproblem .... 346 (1) Verhältnismäßigkeit von Änderungen der zulässigen Gesamtproduktionsmenge ......................................................................... 346 (2) Die Verhältnismäßigkeit der Berechnung von Quotenkürzungen aufgrund von Referenzmengen ...................................................... 348 b) Die Verhältnismäßigkeit der Begrenzung gemeinschaftsrechtlicher Subventionen .............................................................................................. 350 aa) Klagen von Subventionsempfangem wegen vermeintlich unverhältnismäßiger Subventionskürzungen ................................................ 350 bb) Konkurrentenklagen wegen vermeintlich unverhältnismäßiger Subventionen ............................................................................................. 351 c) Verhältnismäßigkeit von Umverteilungs-/Mitverantwortungsabgaben ...... 354 aa) Verhältnismäßigkeit umverteilender Abgaben ..................................... 354 bb) Verhältnismäßigkeit von Mitverantwortungsabgaben .......................... 357

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Inhaltsverzeichnis d) Verhältnismäßigkeit von Schutzmaßnahmen gegen Drittlandseinfuhren ... 357 aa) Heranziehung der Verhältnismäßigkeit zur Rechtfertigung nicht vorgesehener Schutzinstrumente .......................................................... 358 bb) Ableitung eines Stufenverhältnisses einzelner Schutzmaßnahmen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz .............................................. 360 (1) Abstufung der verschiedenen Schutzmaßnahmen .......................... 360 (2) Abstufungsgrenzen: Erfordernis der "gleichen Wirksamkeit" ....... 361 (3) Abstufungsgrenzen: Der Maßstab der "offensichtlichen Ungeeignetheit" (Entscheidungen zur Bananenmarktordnung) .............. 361 cc) Tendenz zur strikten Verhältnismäßigkeitskontrolle von Ausgleichsabgaben ..................................................................................... 366 3. Verhältnismäßigkeit und Binnenmarkt ............................................................. 369 a) Prüfung der Verhältnismäßigkeit gemeinschaftlicher Beschränkungen der Grundfreiheiten .................................................................................... 369 aa) Eingriffe im Interesse des Gesundheits- und Verbraucherschutzes ...... 369 (I) Kostenpflichtige Kontroll- und Kennzeichnungspflichten ............. 369 (2) Verkehrsverbote ............................................................................. 371 (a) Verbote gesundheitsgefährdender Inhaltsstoffe ....................... 372 (b) Tierseuchenrechtliche Verkehrsverbote ................................... 374 (aa) Erfordlichkeit des HandeIns auf Gemeinschaftsebene ..... 374 (bb)Räumliche Ausdehnung der Schutzgebiete ....................... 375 (cc) Alternative Schutzmaßnahmen ........................................ 376 bb) Eingriffe im Interesse der Wahrung der Markteinheit: Das System der Währungsausgleichsbeträge ........................................................... 378 b) Verhältnismäßigkeitskontrolle von Hannonisierungsrnaßnahmen im Bereich des Binnenmarktes ........................................................................ 382 aa) Die Verhältnismäßigkeit der Ausgestaltung grundfreiheitsbeschränkender Hannonisierungsmaßnahmen ................................................... 382 (1) Verhältnismäßigkeit von Hannonisierungsmaßnahmen - Beispiel der Entscheidung zur Einlagensicherungsrichtlinie ............... 383 (a) Verhältnismäßigkeit des sog. "Ausfuhrverbotes" höherer Deckungssummen ................................................................... 384 (aa) Prüfung der Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz .............................................. 384 (bb )Abbau von Marktstörungen als legitimes Allgemeinwohlziel ............................................................................ 385 (b) Verhältnismäßigkeit der Pflicht zur Aufnahme ausländischer Zweigniederlassungen in die Sicherungssysteme .................... 387 (2) Das Urteil zur Mietleitungsrichtlinie ............................................. 388 (3) Hannonisierungsmaßnahmen im Interesse des Verbraucher- und Umweltschutzes ............................................................................. 389 (4) Unternehmensregister- und Warenstatistikverordnung ................. 390 bb) Die Rolle der Verhältnismäßigkeit bei der Entscheidung über die Notwendigkeit einer Hannonisierung auf Gemeinschaftsebene .......... 391 (1) Produktsicherheitsrichtlinie ........................................................... 391 (2) Arbeitszeitrichtlinie ....................................................................... 392 (3) Einlagensicherungsrichtlinie .......................................................... 394 (4) Tabakrichtlinie ............................................................................... 395 (5) Richtlinie über den Schutz biotechnologischer Erfindungen ......... 396 4. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung von Grundrechtseingriffen .......................... 396

Inhaltsverzeichnis

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a) Das Fehlen einer differenzierten Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Eingriffen in die Berufs- und Eigentumsfreiheit... ........................................... 399 aa) Beispiele flir einen völligen Verzicht auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der Grundrechtsprüfung ...................................... 399 bb) Knappe Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in Wirtschaftsgrundrechte ............................................................................... 400 ce) Der Maßstab der offensichtlichen Unverhältnismäßigkeit - Fehlen einer "abwägenden Verhältnismäßigkeitsprüfung" ............................. .40 I dd) Fehlende Auseinandersetzung mit individuellen Härten ..................... .403 b) Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in Grundrechte zum Schutz der Privatsphäre ................................................................................................ 404 aa) Untersuchungsrechte der Kommission und Schutz der Privatsphäre von Unternehmen ................................................................................ .404 (I) Frühe Urteile zum Untersuchungsrecht - kein Vorrang des Auskunftsverlangens ............................................................................ 405 (2) Herausnahme der Geschäftsräume aus dem Schutzbereich des Grundrechts auf Privatsphäre ........................................................ .406 bb) Achtung des Privatlebens und Schutz der körperlichen Integrität... .... .409 c) Recht auf Zugang zu Dokumenten ............................................................. 411 d) Keine Erörterung der Verhältnismäßigkeit bei anderen Grundrechten ...... .411 e) Fazit zur Verhältnismäßigkeitskontrolle bei den Grundrechten ................ .412 5. Sonstige Anwendungsbereiche der Verhältnismäßigkeitskontrolle ................ .412 11. Verhältnismäßigkeitskontrolle nationaler Maßnahmen ......................................... .415 I. Verhältnismäßigkeit als Grenze für Beschränkungen der Grundfreiheiten .... .415 a) Herausbildung typischer Fallgruppen der Erforderlichkeitskontrolle ....... .417 aa) Die Etikettierungsrechtsprechung im Lebensmittelrecht .................... .417 (I) Information statt Import-, Verkehrs- oder Bezeichnungsverbot ... .417 (2) Grenzen der Etikettierungsdoktrin ................................................ .418 bb) Die Pflicht zur Anerkennung gleichwertiger Genehmigungen und Diplome .............................................................................................. .419 (I) Anerkennung von Genehmigungen, Zulassungs- und Qualitätsnachweisen .............................................................................. .419 (2) Anerkennung ausländischer Diplome ........................................... .421 (3) Grenzen der Anerkennungsrechtsprechung .................................. .422 cc) Notwendigkeit von Niederlassungserfordernissen und Zweitniederlassungsverboten ....................................................... .423 b) Verhältnismäßigkeitskontrolle bei einzelnen Rechtfertigungsgründen ..... .425 aa) Sittlichkeit, öffentliche Ordnung/Sicherheit. ....................................... .425 (I) Regeln zum Schutz der öffentlichen Ordnung .............................. .425 (2) Maßnahmen zum Schutz der äußeren Sicherheit .......................... .427 (3) Maßnahmen im Interesse der "Sittlichkeit" .................................. .428 bb) Gesundheitsschutz .............................................................................. .429 (I) Zu lässigkeit tierhygienischer Kontrollen ...................................... .429 (2) Verhältnismäßigkeit tierseuchenrechtlicher Einfuhrverbote ......... .430 (3) Zusatzstoffverbote ........................................................................ .431 (4) Gesundheitswesen ........................................................................ .433 (5) Sonstige Beschränkungen der Grundfreiheiten im Interesse des Gesundheitsschutzes ...................................................................... 435 (6) Fazit .............................................................................................. .436 cc) Verbraucherschutz ............................................................................... 437 dd) Maßnahmen des Umwelt- und Naturschutzes ..................................... .440

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Inhaltsverzeichnis ee) Gewerbliche Schutzrechte ................................................................... .443 ff) Verhältnismäßigkeit im Rahmen sonstiger Rechtfertigungsgründe .... .446 (1) Wirksame steuerliche Kontrolle ................................................... .446 (2) Schutz der kulturellen Vielfalt ...................................................... .447 (3) Erhalt der Funktionsfähigkeit der Sozialsysteme .......................... .448 (4) Sicherung eines geordneten sportlichen Wettkampfes .................. .449 (5) Erhaltung des Leistungsstandards des Handwerks ........................ .450 gg) Verhältnismäßigkeit der Ausnahmen im Bereich der öffentlichen Verwaltung ......................................................................................... .450 c) Verhältnismäßigkeit mitgliedstaatlicher Sanktionen ................. ................ .452 aa) Freizügigkeitsbeschränkungen ............................................................ .452 bb) Sanktionen im Bereich des Steuer- und Zollrechts .............................. 454 cc) Fälle verhältnismäßiger Sanktionen .................................................... .455 2. Die Erforderlichkeit nationaler Ausnahmen von der Wettbewerbsordnung .... .456 a) "Unerlässliche" Ausnahmen vom gemeinschaftsrechtlichen Kartellverbot ............................................................................................................. .457 aa) Erforderlichkeit von Vereinbarungen im Montanbereich gern. Art. 65 § 2 EGKS ....................................................................................... .457 bb) "Unerlässlichkeit" kartellrechtlicher Ausnahmen gern. Art. 81 Abs. 3 EG .................................................................................................... .457 (I) Unverhältnismäßige Vereinbarungen ........................................... .458 (2) Fälle geeigneter und notwendiger Wettbewerbsbehinderungen .... .465 b) Verhältnismäßigkeit als Kriterium zur Feststellung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gern. Art. 82 EG .............................. .466 c) Die Rolle der Verhältnismäßigkeit bei der Prüfung der Erforderlichkeit nationaler Beihilfen .................................................................................... 469 aa) Erforderlichkeit der Gewährung einer nationalen Beihilfe .................. .470 bb) Erforderlichkeit der Rücliforderung einer nationalen Beihilfe ............ .472 (I) Argumente für den Ausschluss der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Rückforderung rechtswidriger Beihilfen ............................ 473 (2) Indizien für eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Rückforderungsentscheidung...................................................................... 474 (3) Vermutung zugunsten der Rechtmäßigkeit der Rückforderung .... .475 cc) Bestimmung des Umfanges der Rückforderung .................................. .476 d) Die Erforderlichkeit der"service public"-Ausnahme gern. Art. 86 EG ...... 476 aa) Die Theorie vom Verzicht auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art. 86 Abs. 2 EG .......................................................... .477 bb) Die Theorie von der Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Rahmen des Art. 86 Abs. 2 EG .............................................. .478 cc) Beispiele für Verhältnismäßigkeitsprüfungen bei Art. 86 Abs. 2 EG .. 479 dd) Der im Rahmen des Art. 86 Abs. 2 EG angelegte Kontrollrnaßstab ... .480 (1) Beispiele für einen weiten Ermessensspielraum ............................ 480 (2) Strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle nationaler Ausschließlichkeitsrechte ............................................................................... .482 ee) Fazit zur Erforderlichkeitsprüfung bei Art. 86 Abs. 2 EG .................. .483 3. Verhältnismäßigkeit mitgliedstaatlicher Grundrechtseingriffe ......................... 484 a) Prüfung von Eingriffen in Freiheitsrechte .................................................. 486 b) Prüfung von Eingriffen in Gleichheitsrechte .............................................. 488 aa) Rechtfertigung von Diskriminierungen beim Berufszugang und der Berufsausübung ................................................................................... 489

Inhaltsverzeichnis

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bb) "Objektive Rechtfertigung" von Diskriminierungen bei Lohn und Sozialleistungen ................................................................................... 490 (I) Indirekte Diskriminierungen ......................................................... .491 (2) Ausdrückliche Diskriminierungen ................................................. 492 III. Zusammenfassende Analyse der praktischen Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle .......................................................................................................... 494 1. Funktionen des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ... 494 a) Objektiver Rechtmäßigkeitsmaßstab .......................................................... 496 aa) Der objektive Charakter der Verhältnismäßigkeitsprüfung .................. 496 (1) Verhältnismäßigkeit als allgemeine Handlungsschranke für Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten .................................... 496 (2) Insbesondere: Kompetenzausübungsschranke im Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten ................................ .498 bb) Subjektivrechtliche Funktionen innerhalb der objektiven Verhältnismäßigkeitsprüfung: allgemeine Eingriffsschranke ............................... 499 (1) Individualschützende Funktion der "akzessorischen" Verhältnismäßigkeitsprüfung bei den Grundrechten- und Freiheiten ............. 500 (a) Beschränkung von Grundrechtseingriffen ............................... 500 (aa) These der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke .500 (bb )Probleme bei der Übertragung des Begriffs der Schranken-Schranke ins Gemeinschaftsrecht.. ................. 501 (cc) Verhältnismäßigkeit als "Eingriffsschranke" ................... 501 (b) Beschränkung von Eingriffen in die Grundfreiheiten .............. 502 (c) Funktion der Wesensgehaltssicherung bei Grundrechten und Grundfreiheiten ....................................................................... 502 (d) Verhältnismäßigkeit und Schutzpflichten - Hinweise auf eine eigenständige Funktion als Untermaßverbot.. .................. 503 (2) Die individual schützende Funktion des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ................................................................... 506 (a) Auffangfunktion - Schutz vor übermäßigen Belastungen durch Hoheitsakte .................................................................... 506 (b) Ersatz für das Fehlen einer grundrechtlichen Verbürgung der allgemeinen Handlungsfreiheit ................................................ 506 (c) Schutz vor atypischen Härtefällen im Einzelfall ...................... 508 (d) Die einzelfall orientierte Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der "unbeschränkten" Kontrolle von Sanktionen ...... 512 b) Verhältnismäßigkeit als Auslegungsregel .................................................. 512 aa) Auslegung von Normen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit ........... 513 (1) Konkretisierung "offener" Rechtsvorschriften ............................... 513 (2) Die Füllung von Rechtslücken durch geltungserhaltende Auslegung über den Wortlaut hinaus ...................................................... 514 (a) Fälle einer "berichtigenden" Auslegung ................................. 514 (b) Verhältnismäßigkeitsbedingte Rechtsfortbildung .................... 515 (c) Geltungserhaltende Auslegung als Ausdruck der Bindung des Gerichtshofs an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ......... 516 bb) Konkretisierung der Abwägung bei anderen Rechtsgrundsätzen ......... 516 c) Exkurs: Die präventive Funktion des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Optimierung hoheitlicher Entscheidungen ........................................... 517 aa) Optimierung durch Zwang zur Wirkungsprognose und Suche nach Alternativen ......................................................................................... 517

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Inhaltsverzeichnis bb) Die präventive Funktion der Verhältnismäßigkeit am Beispiel des Subsidiaritätsprotokolls ........................................................................ 519 cc) Die Präventivfunktion bei Maßnahmen der Mitgliedstaaten ................ 52I 2. Steuerung der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch eine Abstufung der Kontrolldichte ......................................................................................................... 521 a) Der Einfluss der jeweils angelegten Kontrolldichte auf das Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung ..................................................................... 521 aa) Das Paradoxon der Verhältnismäßigkeit als ausfüllungsbedürftiger Ermessensgrenze .................................................................................. 522 (I) Der gemeinschaftsrechtliche Ermessensbegriff.. ........................... 522 (2) Die Rolle der Verhältnismäßigkeit als Ermessensgrenze ............... 523 (3) Verhältnismäßigkeit als unbestimmter Rechtsbegriff.. .................. 523 bb) Konsequenz: Verhältnismäßigkeit als Ermessensentscheidung ........... 525 b) Bereiche eingeschränkter/intensiver Verhältnismäßigkeitskontrolle .......... 526 aa) Schwierigkeiten bei der Analyse der Kontrolldichte ............................ 526 bb) Bereiche eingeschränkter Kontrolldichte ............................................. 527 (I) Gemeinschaftsmaßnahmen ............................................................ 527 (2) Maßnahmen der Mitgliedstaaten .................................................... 528 cc) Bereiche einer intensiven Verhältnismäßigkeitskontrolle .................... 529 (I) Gemeinschaftsmaßnahmen ............................................................ 529 (2) Maßnahmen auf nationaler Ebene ................................................. 530 c) Methoden der Kontrolldichteabstufung ...................................................... 530 aa) Verzicht auf eine Begründung der eingeschränkten Kontrolle ............. 531 bb) Anwendung des Maßstabs der "offensichtlichen Fehlerhaftigkeit" .... 531 cc) Verweisung der Sache zur Entscheidung an die nationalen Gerichte ... 532 dd) Verweis auf den mangelnden Beweis der UnverhältnismäßigkeitUnterschiede bei der Beweislastverteilung .......................................... 534 (I) Relevanz der Beweislastverteilung für die Kontrolldichte ............. 534 (2) Vermutung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme .................. 535 (3) Vermutung der Unverhältnismäßigkeit von Maßnahmen .............. 536 d) Determinanten der jeweils angelegten Kontrolldichte................................ 538 aa) Normative Vorgaben ............................................................................ 538 (I) Anordnung einer erhöhten Kontrollbefugnis bei Zwangsmitteln ... 539 (2) Ableitung einer grundsätzlich eingeschränkten Kontrolle von Gemeinschaftsmaßnahmen aus Art. 229 EG ................................. 540 (a) Regel-Ausnahme-Verhältnis im Montanrecht ......................... 540 (b) Übertragung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses auf den EG-Vertrag .............................................................................. 541 (3) "Quantifizierbare" und "komplexe" Ermessensnormen ................ 543 bb) Horizontale und vertikale Kompetenzverteilung .................................. 544 (I) Horizontale Gewaltenteilung: Berücksichtigung des normativen Ermessens des Gesetzgebers .......................................................... 544 (2) Vertikale Gewaltenteilung: Berücksichtigung nationaler Souveränitätsbereiche .............................................................................. 546 cc) Gewicht der beteiligten Interessen ....................................................... 547 (I) Wirtschaftliche und persönliche Interessen ................................... 547 (2) Der hohe Rang des unverfälschten Wettbewerbs (Integrationsprinzip) als Ursache der unterschiedlichen Kontrolle ................... 548 (a) Untauglichkeit des "formalen" Kriteriums der Urheberschaft einer Maßnahme als Determinante der Kontrolldichte ............ 549

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(b) Verzerrungswirkung nationaler Alleingänge als struktureller Unterschied .............................................................................. 550 (c) Fazit: Eingeschränkte Vergleichbarkeit nationaler mit Gemeinschaftsmaßnahmen .......................................................... 552 dd) Abhängigkeit der Verhältnismäßigkeitskontrolle vom Partei vorbringen - faktische Dispositionsmaxime .............................................. 552 e) Fazit zur Kontrolldichteproblematik .......................................................... 554 3. Die Kritik an der praktischen Wirksamkeit der gerichtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle .......................................................................................... 554 a) Verhältnismäßigkeitskontrolle zwischen Rechtsschutzgewährleistung und Wahrung hoheitlicher Entscheidungsspielräume ................................. 554 aa) Die These von der unzureichenden Verhältnismäßigkeitskontrolle von Gemeinschaftsmaßnahmen ........................................................... 555 bb) Der Vorwurf der Missachtung der Gewaltenteilung durch die richterliche Verhältnismäßigkeitskontrolle .................................................... 556 b) Die These des vermeintlichen Rechtsschutzdefizits im Lichte der Rechtsprechung ................................................................................................... 557 aa) Rechtsstaatliche Anforderungen .......................................................... 557 bb) Partieller Ausfall der Verhältnismäßigkeitskontrolle? ......................... 559 (1) Zurückbleiben hinter der deutschen Rechtsschutzkonzeption ....... 559 (2) Keine Bestätigung der These von der "Rechtsverweigerung" ....... 560 c) Bewertung des vom Gerichtshof gewählten Kontrolldichteniveaus ........... 563 aa) Argumente für eine Beschränkung der Kontrolldichte ......................... 563 (1) Ableitung eines Verbotes der gerichtlichen Ermessenskontrolle aus Art. 229 EG? ........................................................................... 563 (2) Beschränkung der Kontrolldichte durch das Integrationsprinzip ... 564 (3) Das Problem divergierender Rechtsschutzkonzeptionen - der Ausnahmecharakter des deutschen Rechtsschutzkonzeptes ........... 565 (4) Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung - Missachtung des Demokratieprinzips? .................................................. 566 (a) Das Problem der mangelnden demokratischen Legitimation der Judikative .......................................................................... 567 (b) Relativierung des Vorwurfs wegen bestehender Demokratiedefizite auf Gemeinschaftsebene ............................................. 568 (c) Ergebnis ................................................................................... 570 bb) Argumente für eine Intensivierung der Kontrolle ................................ 571 (I) Ausgleich fehlender Kontrollmechanismen zum Schutz der Rechte des Einzelnen ..................................................................... 571 (2) Der Wandel der Gemeinschaft von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft .................................................................................. 5 72 (a) Die Ausweitung des Tätigkeitsfeldes der Gemeinschaft ......... 572 (b) Die Aufwertung der Grundrechte durch das ausdrückliche Bekenntnis der Union zum Grundrechtsschutz ........................ 573 Zusammenfassung ...................................................................................................... 577 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 589 Sachverzeichnis ........................................................................................................... 626

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ABI.

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BJC

Boletin de Jurisprudencia Constitucional

Abkürzungsverzeichnis

27

BOE

Boletin Oficial dei Estado

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

B-VG

Österreichisches Verfassungsgesetz

BYIL

British Yearbook of International Law

bzw.

beziehungsweise

CA

Cour d'arbitrage

ca.

circa

CBB

College van Beroep voor het bedrijfsleven

CC

Conseil Constitutionel

CdE

Cahiers de droit europeen

CE

Conseil d 'Etat

CMLR

Common Market Law Review

CMLRep.

Common Market Law Reports

CRvB

Centrale Raad von Beroep

CSE

Dokument des Rates

D.C.

District Court

DCSI

Diritto comunitario e degli scambi internazionali

DDH

Declaration des droits de I'homme et du citoyen

Diss.

Dissertation

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DVBI.

Deutsches Verwaltungsblatt

ebd.

ebenda

EG

Europäische Gemeinschaft; Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

ELR

European Law Review

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

28

Abkürzungsverzeichnis

eng!.

englisch

etc.

et cetera

EU

Vertrag zur Gründung der Europäischen Union; Europäische Union

EuG

Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften

EuGH

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

EuR

Europarecht

EuZW

Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWS

Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht

f.

folgende

F.A.Z.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

ff.

folgende (Mehrzahl)

FJ

Fundamento juridico

Fn.

Fußnote

franz.

französisch

FS

Festschrift

GA

Generalanwalt

gern.

gemäß

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GRUR

Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht

GYIL

Gerrnan Yearbook of International Law

HC

House of Commons

HL

House of Lords

HR

Hoge Raad

HRLJ

Human Rights Law Journal

Hrsg.

Herausgeber

i.e.S.

im engeren Sinne

HGLS

Indiana Journal of Global Legal Studies

ILRM

Irish Law Reports Monthly

ILTR

Irish Law Times Reports

I.R.

Irish Reports

Abkürzungsverzeichnis i.S.d.

29

im Sinne des

i.V.m.

in Verbindung mit

JA

Juristische Ausbildung

JBI.

Juristische Blätter

J.O.

Journal Officiel

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

K.B.

King's Bench Report

KOM

Dokument der Kommission

Lat.

lateinisch

L.G.R.

Knight's Local Governrnent Reports

LKV

Landes- und Kommunalverwaltung

Ltd.

Lirnited

rn.w.N.

mit weiteren Nachweisen

n.F.

neue Fassung

NGefAG

Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

no

nurnber

Nr.

Nummer

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

OJLS

Oxford Journal of Legal Studies

ÖJZ

Österreichische Juristen-Zeitung

OWiG

Gesetz über Ordungswidrigkeiten

PrLVGes

Preußisches Landesverwaltungsgesetz

PrOVGE

Entscheidungssammlung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts

Q.B.

Queen's Bench Report

R.

Regina

RA

Riksaklagore

RabelsZ

RabeIs Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

RAwb

Rechtspraak Algernene Wet Bestuursrecht

Abkürzungsverzeichnis

30

RDP

Revue de droit public et de la science politique

Rec.

Receuil

REDP

Revue europeen de droit public

RFD

Revue franr;:aise de droit administratif;

RIW

Recht der Internationalen Wirtschaft

RJF

Revue de jurisprudence fiscale

RL

Richtlinie

RMC

Revue du Marche commun et de rUnion europeenne

Rn.

Randnummer

Rs.

Rechtssache

RTDE

Revue trimestrielle de droit europeen

RuP

Recht und Politik

s.

siehe

S.

Seite

SächsVerfGH

Sächsischer Verfassungsgerichtshof

SE

Apofasis tou Symbouliou Epikratias (Entscheidungen des Griechischen Staatsrates)

Sec.

Section

SEW

Sociaal-Economische Wetgeving

Slg.

Sammlung Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften

Slg.OD

Sammlung der Rechtsprechung zum öffentlichen Dienst des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften

s.o.

siehe oben

STC

Sentencias deI Tribunal Constitucional

StGB

Strafgesetzbuch

StGG

Österreichisches Staatsgrundgesetz

StPO

Strafprozessordnung

STS

Sentencias deI Tribunal Supremo

s.u.

siehe unten

TBP

Tijdschrift voor Bestuurswetenschappen en Publiekrecht

TC

Tribunal Constitucional

Abkürzungsverzeichnis

31

UZwG

Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes

v.

von

VA

Verwaltungsarchiv

verb. Rs.

verbundene Rechtssachen

VfGH

Österreichischer Verfassungsgerichtshof

vgl.

vergleiche

VO

Verordnung

vs.

versus

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

WLR

Weekly Law Report

WRP

Wettbewerb in Recht und Praxis

WuW

Wirtschaft und Wettbewerb

YEL

Yearbook of European Law

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

z.B.

zum Beispiel

ZEW

Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht

ZG

Zeitschrift für Gesetzgebung

ZHR

Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht

zit.

zitiert

ZLR

Zeitschrift für Lebensmittelrecht

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

z.T.

zum Teil

Einleitung I. Die Schlüsselrolle des Gerichtshofs bei der Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Die dogmatische Ausformung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zählt zu den herausragenden Leistungen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts in Deutschland 1. Als Mittel zur - rechtsstaatlich gebotenen2 - Begrenzung der Intensität hoheitlicher Entscheidungen spielt die Verhältnismäßigkeitskontrolle heute aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Mitgliedstaaten und im Gemeinschaftsrecht eine" überragend wichtige ,,3 Rolle. Gleichzeitig ist die Entwicklung der Verhältnismäßigkeitsdogmatik ein Beispiel fiir die wechselseitige Befruchtung zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht4 • Dementsprechend hat auch das Interesse der Rechtswissenschaft am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in den letzten Jahren 5 deutlich zugenommen. Aus der täglichen Entscheidungspraxis der Organe der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz heute nicht mehr wegzudenken. Dabei kommt dem Europäischen Gerichtshof Wahl, Die Verwaltung 1980,273 (279). Zur engen Verknüpfung von Rechtsstaatsgebot und Verhältnismäßigkeit vgl. unten, 3. Teil, I., 1., d). 3 So etwa v. BogdandylNettesheim, in: GrabitzlHilf, EUV/EGV, Art. 3 b, Rn. 43. 4 Kutscher, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 89 (95); Schwarze, Verwaltungsrecht 11, S. 841. 5 V gl. nur die Monographien von Mekhantar, Le contröle juridictionnel de la proportionnalite dans I'action administrative unilaterale, Paris 1990; Xynopoulos, Le contröle de proportionnalite dans le contentieux de la constitutionnalite et de la legalite en France, Allemagne et Angleterre, Paris 1995; speziell zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht etwa Emiliou, The Principle of Proportionality in European Law - A Comparative Study, London 1996; Heinsohn, Der öffentlichechtiche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Diss. Münster 1997; Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, Diss. Bayreuth 1998; vgl. auch Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, 1033 ff. 6 Der Begriff "Gerichtshof' wird hier als gemeinsamer Oberbegriff zur Kennzeichnung des aus den Spruchkörpem EuGH und EuG bestehenden Organs verwendet; sowohl in Art. 5 EU als auch in Art. 7 EU und im 4. Abschnitt des EG-Vertrags (vgl. etwa Art. 245 EG; vgl. auch die Protokolle über die "Satzung des Gerichtshofs") wird der Begriff "Gerichtshof' benutzt; auch nach der Vertragsreform von Nizza wird der gemeinsame Oberbegriff für EuGH und EuG beibehalten, vgl. etwa Art. 229 ades VerI

2

3 Koch

34

Einleitung

eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Verhältnismäßigkeitsdogmatik und der Ausdehnung der Verhältnismäßigkeitskontrolle auf immer mehr Bereiche des Gemeinschaftsrechts zu. Die Zahl der zur Verhältnismäßigkeit ergangenen Gerichtsentscheidungen hat in den letzten zehn Jahren signifikant zugenommen 7 . Mittlerweile zählt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Verfahren vor dem EuGH und dem EuG zu den am häufigsten geprüften allgemeinen Rechtsgrundsätzen8 • So komplex die zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergangene Rechtsprechung ist, so groß sind - nicht zuletzt aufgrund des eher knappen Entscheidungsstils des Gerichtshofs - die Unklarheiten über die dogmatische Struktur und die praktische Anwendung der Verhältnismäßigkeitskontrolle in den einzelnen Bereichen des Gemeinschaftsrechts. Dies gilt um so mehr, als der Gerichtshof einen eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entwickelt hat, dessen Dogmatik sich von der in den einzelnen Mitgliedstaaten bekannten Verhältnismäßigkeitsdogmatik nicht unerheblich unterscheidet. Anlass genug also, die Wurzeln, die Dogmatik und den Anwendungsbereich des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes näher zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Analyse der mehr als 800 zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergangenen Entscheidungen von EuGH und EuG. Dabei soll der Versuch unternommen werden, die Grundlinien der Verhältnismäßigkeitsdogmatik des Gerichtshofs sowie die Besonderheiten des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes herauszuarbeiten und zu bewerten (2. Teil). Weil die Verhältnismäßigkeitskontrolle des Gerichtshofs in hohem Maße einzelfallorientiert ist, wird die praktische Bedeutung der gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle letztlich erst durch eine Analyse ihrer Handhabung im Einzelfall deutlich. Im Mittelpunkt des letzten Teils der Arbeit steht daher eine systematische Bestandsaufnahme der bisherigen Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung und eine Untersuchung der praktischen Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle in den verschiedenen Bereichen des Gemeinschaftsrechts (3. Teil).

trags von Nizza; so auch Wägenbaur, DVBI. 2001, 1258 (1260); vgl. auch Wohlfahrt, in: GrabitzJHilf, EGV/EUV, Art. 168 a, Rn. 5. 7 Mehr als die Hälfte der ca. 800 ausgewerteten Urteile von EuG und EuGH zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind seit 1990 ergangen. 8 Vom "wichtigsten Rechtsgrundsatz" sprechen etwa Biancharelli. Le principe de proportionnalite en droit beIge et en droit fran~ais, 151 (174); Gündisch, in: Schwarze, Wirtschaftsrecht des Gemeinsamen Marktes, S. 97 (108); Schwarze, Verwaltungsrecht 11, S. 841; Rengeling, EuR 1984, 331.

H. Erfassung des Untersuchungsgegenstandes

35

Der Gerichtshof hat den gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Wege wertender Rechtsvergleichung - also unter Berücksichtigung nationaler Verfassungstraditionen - entwickelt. Deshalb soll zunächst herausgearbeitet werden, welche Rolle der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in den Mitgliedstaaten bzw. in der Rechtsprechung des EGMR spielt (1. Teil).

11. Erfassung des Untersuchungsgegenstandes Eine Untersuchung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wirft in zweierlei Hinsicht begriffliche Probleme auf: Einerseits erschwert der uneinheitliche Sprachgebrauch in der Literatur das Verständnis. Andererseits ist zu klären, ob sich eine gemeinsame Definition des Verhältnismäßigkeitsbegriffs ermitteln lässt und welchen Inhalt sie haben kann.

1. Terminologische Schwierigkeiten a) Verhältnismäßigkeit - Proportionalität

Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen dem Rechtsbegriffl der "Verhältnismäßigkeit" und dem in der Mathematik als Ausdruck der Verhältnisgleichheit verwendeten Begriff der "Proportionalität". Anders als in den meisten anderen europäischen Sprachen sind die Begriffe "verhältnismäßig" und "proportional" im Deutschen also nicht deckungsgleich. Andere Sprachen kennen eine solche Unterscheidung jedoch nicht, sondern umschreiben auch das Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeit mit dem der Mathematik entlehnten Begriff der "Proportionalität"lO. Dieser geht wiederum auf den griechischen Begriff der "avaAoYtKOl111a" zurücklI. Beide Begriffe sind Kombinationen aus den Wörtern "Maß/Anteil" ("logos" bzw. "portio") und "entsprechend/gemäß" ("ami" bzw. "pro") und bringen somit den Gedanken des Maßgerechten bzw. des Anteilsmäßigen zum Ausdruck.

9 Vgl. Brockhaus, Stichwort "Verhältnismäßigkeit": "Aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes abgeleiteter allgemeiner Grundsatz des öffentlichen Rechts (...) 10 Französisch: "proportionnalite"; englisch: "proportionality"; italienisch: "proporzionalita"; spanisch: "proporcionalidad"; portugiesisch: "proporcionalidade"; dänisch: "proportionalitetsprincippet"; schwedisch: "proportionalitetsprincipera"; finnisch: "suhteellisuusperiaatteiden"; niederländisch: "evenredigheidsbeginsel" griechisch: "UVUAOytK01T]lU" ("analogik6tita"). 11 Zu den Schnittpunkten der Begriffe "analog" und "proportional" vgl. Georgiadou, ARSP 1995,532 (533). H.

36

Einleitung

b) Uneinheitlichkeit der deutschen Verhältnismäßigkeitsterminologie

Wenn in der deutschen Rechtssprache auch Abgrenzungsschwierigkeiten durch die Verwendung verschiedener Begriffe zur Kennzeichnung des mathematischen und des juristischen Prinzips vermieden werden, ist die deutsche Terminologie weit entfernt von einer klaren und einheitlichen Begrifflichkeit: So wird der Begriff der Verhältnismäßigkeit sowohl als zusammenfassender Oberbegriff für das (aus mehreren Teilgrundsätzen bestehende) Prinzip als solches, andererseits aber auch zur Bezeichnung einzelner Teilgrundsätze selbst herangezogen 12. Im Interesse der Begriffsklarheit wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff der Verhältnismäßigkeit nur für das Gesamtprinzip, nicht aber im Zusammenhang mit der Angemessenheit oder anderen Teilgrundsätzen verwendet. Die aus der Bedeutungsvielfalt des Begriffs der Verhältnismäßigkeit resultierende terminologische Unsicherheit wird dadurch verstärkt, dass seit den sechziger Jahren neben dem Begriff der "Verhältnismäßigkeit" in der deutschsprachigen Rechtsprechung l3 und Literatur l4 auch der Begriff "Übermaß verbot" verwendet wird. Die Begriffe des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Übermaßverbotes werden aber inzwischen weitgehend synonym gebraucht l5 , weshalb im Folgenden mit der vorherrschenden Terminologie l6 nicht der Begriff des Übermaß verbotes, sondern der des Verhältnismäßigkeitsprinzips 17 verwendet wird.

12 Der Begriff "Verhältnismäßigkeit" wird sowohl für den Teilgrundsatz der Angemessenheit ("Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne") gebraucht, vgl. etwa Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 21, als auch (seltener) für den Teilgrundsatz der Erforderlichkeit, vgl. etwa Birk, JZ 1972, 343 (348 f.). \3 Vgl. etwa als Oberbegriff BVerfGE 20, 45 (49); 351(361); 21,173 (183); 38, 348 (368); in neuerer Zeit verwendet das BVerfG den Begriff des Übermaßverbotes zur Kennzeichnung der Angemessenheit, vgl. etwa BVerfGE 90, 145 (146); 92, 277 (V. 1.). 14 Vgl. etwa Stern, Staatsrecht Bd. III/2, S. 761 ff.; Schalz, AöR 100 (1975), S. 265 (274); Degenhart, Staatsrecht, Rn. 324; für die Schweiz etwa Giacameti, Allgemeine Lehren, S. 292 ff.; Huber, Verhältnismäßigkeit, S. 28. 15 Lerche hatte ursprünglich vorgeschlagen, "Übermaßverbot" als Oberbegriff zu verwenden und mit "Verhältnismäßigkeit" den entsprechenden Teilgrundsatz zu kennzeichnen, vgl. Lerche, Übermaß, S. 19. Diese Unterscheidung hat sich in der deutschen Rechtssprache jedoch nicht durchgesetzt. 16 Vgl.dazu Zimmerli, Verhältnismäßigkeit, S. 18; Leisner, Abwägungsstaat, S. 198; im Gemeinschaftsrecht wird fast ausschließlich vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gesprochen, vgl. Kutscher, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 89. 17 Nicht unterschieden wird hier zwischen den Begriffen "Verhältnismäßigkeitsgrundsatz" und "Verhältnismäßigkeitsprinzip", die auch von der überwiegenden Literatur und der Rechtsprechung synonym verwendet werden, vgl. dazu etwa EmmerichFritsche, Verhältnismäßigkeit, S. 97.

II. Erfassung des Untersuchungsgegenstandes

37

2. Vorläufige Definition des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

Weitere Probleme bereitet der Versuch der inhaltlichen Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes. Der juristische Verhältnismäßigkeitsbegriff hat in den einzelnen Mitgliedstaaten einen ganz unterschiedlichen Bedeutungsgehalt. Eine Gemeinsamkeit besteht allerdings darin, dass Verhältnismäßigkeit stets einen Ausgleich zwischen verschiedenen Größen voraussetzt. Ausgehend von diesem semantischen Inhalt des Wortes, wurde Verhältnismäßigkeit in Frankreich beispielsweise als "logisch kohärente Relation zwischen zwei Variablen, die zum Ausgleich gebracht werden müssen" definiert l8 . Diese Umschreibung bleibt allerdings konturenlos. Sie vernachlässigt insbesondere, dass es bei der Verhältnismäßigkeit nicht nur um zwei beliebige Variablen, sondern um einen Ausgleich zwischen einem bestimmten Zweck und einem dazu eingesetzten Mittel geht. Der Kerngehalt des Verhältnismäßigkeitsbegriffs besteht gerade darin, eine vernünftige, "maßvolle" Relation zwischen dem Zweck einer Maßnahme und den dazu eingesetzten Mitteln zu kennzeichnen. In den meisten Mitgliedstaaten wird der Begriff der Verhältnismäßigkeit bzw. der Proportionalität in diesem "finalen" Sinne definiert l9 . Dementsprechend soll auch im Rahmen dieser Arbeit das Prinzip der Verhältnismäßigkeit als Mechanismus zur Herstellung eines vernünftigen Ausgleichs zwischen dem Zweck einer hoheitlichen Maßnahme und den dabei angewandten Mitteln definiert werden. Es wird hier bewusst ein "offener" Verhältnismäßigkeitsbegriff gewählt, der keine Festlegungen darüber enthält, wie bzw. also nach welchen Maßstäben der "strukturierte Interessenausgleich ,,20 zur Herstellung der Verhältnismäßigkeit stattzufinden hat. Bei der Untersuchung des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann es nicht darum gehen, ein bestimmtes nationales Konzept der Ermittlung der Verhältnismäßigkeit als vorgegeben zugrunde zu legen. Eine solche Vorgehensweise liefe Gefahr, nationale Betrachtungsweisen vorschnell auf europäische Ebene zu projizieren21 und den Blick rur nationale und europä18 Für diese weite Definition der "proportionnalit(~" im französischen Recht etwa Philippe, Proportionnalite, S. 7; ablehnend Xynopoulos, Proportionnalite, S. 104. 19 De Burca, in: YEL 1993, 105: "Vernünftiges Verhältnis zwischen Mittel und Zweck"; Neri, RTDE 1981,652 (653): "Strikte Proportion ("proportion stricte") zwischen gesetzlichem Ziel und verwendeten Mitteln "; Azema, Le principe de proportionnalite, 177: " Gleichgewicht zwischen widerstreitenden Zielen und Interessen. " 20 Vgl. de Burca, in: YEL 1993, 105. 21 Gerade in Deutschland herrscht die Meinung vor, der EuGH habe den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit so, wie er aus dem deutschen Recht bekannt sei, ins Gemeinschaftsrecht übernommen, vgl. etwa Schiller, RIW 1983, 929; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und EG-Recht, S. 414; ähnlich Weustenfeld, Die Bananenmarktordnung der EG und der Handel mit Drittstaaten, S. 51 f.

38

Einleitung

ische Eigenheiten zu trüben. So ist etwa das dreistufige Verhältnismäßigkeitskonzept des deutschen Rechtskreises, nach dem alle Eingriffe in Rechte des einzelnen geeignet, erforderlich und angemessen sein müssen, zwar möglicherweise eines des detailliertesten Konzepte 22 , keineswegs jedoch der einzige Ansatz, Maßstäbe für einen verhältnismäßigen Interessenausgleich zu gewinnen und deshalb ungeeignet fiir eine übergreifende Definition. Wie noch gezeigt werden wird, haben sich in den einzelnen Mitgliedstaaten und auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts eigene, vom deutschen Recht teilweise abweichende Konzepte zur Ausfiillung des Verhältnismäßigkeitsbegriffs entwickelt. Trotz gewisser Gemeinsamkeiten - etwa bei der Heranziehung des Erforderlichkeitsgedankens 23 - werden zur Ermittlung der Verhältnismäßigkeit auch zahlreiche andere ein- oder mehrstufige Konzepte der Interessenabwägung, Kosten-Nutzen-Analyse oder Gefahrabschätzung herangezogen. Die hier gewählte offene Definition der Verhältnismäßigkeit als ZweckMittel-Ausgleich spiegelt den Kerngehalt bzw.- gewissermaßen den "kleinsten gemeinsamen Nenner" - des Verhältnismäßigkeitsbegriffs wider, ohne sich auf ein bestimmtes nationales Konzept festzulegen.

22 Vgl. aber das ebenfalls sehr differenzierte Konzept des Kanadischen Supreme Court, dazu unten, I. Teil, H., 4. 23 Vgl. dazu sogleich, I. Teil.

Erster Teil

Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in den europäischen Rechtsordnungen I. Entwicklung des Rechtsprinzips der Verhältnismäßigkeit die Idee der Verhältnisgerechtigkeit in der europäischen Rechtsgeschichte Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften kann inzwischen selbst auf mehr als vier Jahrzehnte Rechtsprechung zur Verhältnismäßigkeit zurückblicken. Bei der Entwicklung seiner Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung konnte er allerdings auf eine noch viel weiter zurück reichende gemeinsame Rechtstradition bei der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten zurückgreifen. Als allgemeines Prinzip des Interessenausgleichs ist er tief in der europäischen Rechtskultur verwurzelt. Die Ursprünge des Verhältnismäßigkeitsgedankens reichen bis in die Anfänge des kodifizierten Rechts zurück.

1. Gemeineuropäische Wurzeln des Verhältnismäßigkeitsgedankens in der Antike

a) TaUons/ehre archaischer Rechtsordnungen

Der Verhältnismäßigkeitsgedanke als Ausdruck eines Ausgleichs von Zweck und Mitteln ist eng mit der Gerechtigkeitsidee selbst verknüpft 1 und lässt sich schon in den ältesten kodifizierten Rechtssystemen ausmachen. So finden sich nicht nur im Alten Testament2 , sondern auch schon in früheren GesetzeskodifiRess, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 16; Sobota, Rechtsstaat, S. 245. Vgl. etwa 2. Buch Mose, 21, 24: ,,Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst Du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde". Dieselbe Regel wird fast wörtlich übernommen im 3. Buch Mose, 24, 19/20 und im 5. Buch Mose, 19,21. Vgl. aber dann die Abkehr vom Talionsgebot im Neuen Testament, Matthäus, 5.38/39 ("Wenn Dichjemand auf Deine rechte Backe schlägt, so biete ihm auch Deine linke dar."). Auch im römischen Zwölftafelgesetz war das Talionsgebot enthalten, vgl. (Tabula VIII 2): "si membrum rupsit(..) talio esto 1

2

H.

40

I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

kationen3 Strafkataloge, die am sog. Talionsgebot ("Auge um Auge, Zahn um Zahn") orientiert waren und so einen mäßigenden4 Rahmen fur das Strafmaß archaischer Gerichte vorgaben. So ist etwa - trotz der aus heutiger Sicht drakonisch anmutenden Sanktionen - schon im detaillierten Strafenkatalog des Kodex des Hammurabi das Bemühen erkennbar, ein festes Verhältnis zwischen Zweck (Sühne) und Mittel (Sanktion) herzustellen. Diese festen Sanktionen waren ein erster Schritt, die oft verheerende - Privatrache auf Vergeltung mit einem Gleichen zu begrenzen und so die öffentliche und auch private Sicherheit zu erhöhen. Demselben Zweck diente auch der schon in diesen Rechtssystem ausgeprägte Gedanke der Berücksichtigung der individuellen Schuld5.

b) Weiterentwicklung der Verhältnismäßigkeitsdogmatik durch Aristoteles

Das Fundament ftir die nächste wesentliche Entwicklungsstufe des Verhältnismäßigkeitsprinzips wurde in der griechischen Antike gelegt. Aristoteles, der sich in seiner Nikornachischen Ethik mit der Idee der Gerechtigkeit beschäftigte, übertrug erstmals den in der Antike aus der Mathematik, der Kunst und Architektur bekannten6 Begriff der Proportionalität auf den rechtlichen Bereich. Während der Fortschritt der Strafkataloge archaischer Rechtsordnungen vor allem darin bestand, Sanktionen überhaupt zu begrenzen, stellt Aristoteles das Prinzip starrer Strafregeln in Frage. Er lehnte das Talionsgebot, also das Prinzip der schlichten Wiedervergeltung, als Sanktionsmaßstab ab? Während das Talionsgebot die individuellen Besonderheiten des Falles - wie etwa die Frage des Vorsatzes - unberücksichtigt ließe, komme es in Wahrheit darauf an, die

3

Die erste Kodifikation des Talionsgebotes findet sich im Kodex Hamurabi, vgl.

§ 196 "Wenn jemand einem anderen das Auge ausschlägt, so soll man ihm sein Auge

ausschlagen"; § 200: "Wenn jemand den Zahn von einem anderen seinesgleichen ausschlägt, so soll man ihm seinen Zahn ausschlagen". Das Alte Testament hat diese Passagen fast wörtlich übernommen, dazu Winckler, Gesetze Hammurabis, S. 59. 4 Zu dieser Funktion der frühen Kodifikationen als Instrument gegen als überhöht empfundene Strafen Seagle, Weltgeschichte des Rechts, S.163; zur "Talionsgrenze" auch Wieacker, in: Fischer-FS, S. 867 (875). 5 Zum Schuldprinzip im Kodex des Hammurabi vgl. KohlerlPeiser, HammurabiGesetz, S. 129; zu den Berührungspunkten des Schuldprinzips mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vgl. WoljJ, AöR 124 (1999), S. 56 (69 ff.). 6 Zu den Parallelen mit dem Proportionalitätsbegriff anderer Disziplinen vgl. etwa Mekhantar, Proportionnalite, S. 1 sowie Mescheriakoff, in: Le Principe de proportionalite, S. 7 (8). 7 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V., Kapitel 8, 1132 b; dazu auch Bien, in: Höffe, Nikomachische Ethik, S. 163.

I. Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Europa

41

gerechte Proportion der Strafe zu ermitteln. Nicht die "mechanische Gleichheü"s schaffe Gerechtigkeit, sondern die Ermittlung der jeweils angemessenen Proportion. Das Postulat der Verhältnisgerechtigkeit als Voraussetzung von Gerechtigkeit9 kann als Grundstein des abendländischen Verhältnismäßigkeitsdenkens betrachtet werden 10. In der Feststellung "das kleinere Übel rückt, verglichen mit dem größeren, an die Stelle eines Gutes,,11 spiegelt sich bereits der Erforderlichkeitsgrundsatz als Kern des Verhältnismäßigkeitsgedankens wider. Auch einen weiteren Entwicklungsschritt hat Aristoteles bereits gedanklich vorweggenommen: Er schlug vor, den Anwendungsbereich der Verhältnismäßigkeit von der vergeltenden Gerechtigkeit (lat.: "iustitia vindicativa") auf das Gebiet der austeilenden Gerechtigkeit (lat.: "iustitia distributiva") auszudehnen. Indem Aristoteles die Achtung der rechten Proportion etwa bei der Besetzung öffentlicher Ämter oder der Verteilung öffentlicher Gelder einforderte l2 , befreite er den Verhältnismäßigkeitsgedanken von seiner Beschränkung auf das Strafrecht und gab dem Grundsatz erstmals die Gestalt eines übergreifenden Rechtsgrundsatzes. Es sollte jedoch bis in die Neuzeit dauern, bis die Rechtslehre die Funktion der Verhältnismäßigkeit auch jenseits des Sanktionemechts erkannte. c) Zweckrationalität des Römischen Rechts

Das Römische Recht war nicht nur das am weitesten entwickelte Rechtssystem der Antike. Der über Jahrhunderte gewachsene Bestand an Rechtsregeln fand über das ius commune auch Eingang in fast alle europäischen Rechtsordnungen und prägt diese bis heute 13. Auch der Europäische Gerichtshof greift in

8 9

Aristoteles, a.a.O. "Das Gerechte ist etwas Proportionales ", vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik,

Buch V, Kapitel 6, 1l3la. 10 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre, S. 468, der die Verhältnismäßigkeit als Ausdruck des "Prinzips des Maßstabsgerechten" auffasst. 11 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kapitel 7, 1131 b. 12 V gl. Aristoteles, a.a.O., 1131 a und b, dazu Bien, in: Höfle, Nikomachische Ethik, S. 135 (154). 13 Vgl. etwa für das Common Law Newark, in: Keeton, The British Commonwealth, S. 3 f.; für das italienische Recht Di Marzo, Le basi romanistiche dei Codice civile; für die spanische Entwicklung vgl. Goyena, Concordancia, motivos y Comentarios dei C6digo civil Espafiol; für Frankreich: Le Clercq, Le droit romain dans ses rapports avec le droit franlYais.

42

I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

seiner Rechtsprechung vielfach auf Prinzipien zurück, die im ius comune bzw. im römischen Recht entwickelt wurden l4 . Zwar war der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im römischen Recht weder positiviert noch institutionell aus geformt. Dennoch finden sich zahlreiche Anwendungsfälle des Verhältnismäßigkeitsgedankens. So leitete Cicero aus dem Grundsatz der modestia als einer der vier Kardinaltugenden das Gebot eines angemessenen Verhältnisses zwischen Strafe und Schuld ab l5 . Nachdem die öffentliche Strafverfolgung in der römischen civitas die Privatrache abgelöst hatte, dienten Verhältnismäßigkeitserwägungen wie die Berücksichtigung der Tatschwere oder der Gefährlichkeit des Täters der Beschränkung des öffentlichen Strafanspruchs l6 . Auch jenseits des Sanktionemechts spiegelt sich der Grundsatz etwa im von Ulpian formulierten Satz "ius suum cuique tribuere" 17 wider und verdeutlicht hier zugleich die Nähe der Verhältnis mäßigkeit zum Gleichheitsgrundsatz l8 . Römische Rechtsgelehrte beschrieben darüber hinaus erstmals die Ausrichtung des Rechts am Ökonomiegebot. Alles Recht finde seine Rechtfertigung im jeweiligen Nutzen l9 . Die Betonung der Zweckrationalität steigerte die Notwendigkeit, Prinzipien für einen angemessenen Ausgleich zwischen Zweck und Mittel zu finden, was die Ausbreitung des Gedankens der Verhältnismäßigkeit begünstigte.

d) Fazit Die Entwicklung der Verhältnismäßigkeit ist nicht an die Rechtstradition eines Landes geknüpft, sondern findet sich bereits in den antiken Rechtsordnungen, die alle europäischen Rechtssysteme entscheidend geprägt haben. Die Frage nach den geeigneten Mitteln zur Erreichung des jeweiligen Gesetzeszwecks ist nur die logische Konsequenz der Zweckgerichtetheit einer jeden Rechtsordnung 20 . Bei der notwendigen Herstellung einer angemessenen Zweck14 Grundlegend hierzu Knülel, JuS 1996, 768 ff.; Lenz, in: Gaedertz-FS, S. 337 ff. 15 Vgl. Cicero, Oe officiis, S. 31 und 71 sowie ders., Oe finibus bonorum et malorum, S. 27; auch Seneca forderte das rechte Maß von Sanktionen ein, vgl. ders., Oe c1ementia, S. 11 ff. 16 Vgl. dazu Wieacker, in: Fischer FS, S. 867 (874ff.). 17Digesten, 1,1,1 § I. 18 Dazu näher unten 3. Teil, l., 4. b). 19 V gl. Ulpian, Digesten I, I, I, § 2 Ulpian I, der das ius privatum als" ius qoud ad singularum utilitalem spectal" definierte, zit. nach Hugo, Lehrbuch der Digesten, S. 65. 20 Vgl dazu grundlegend Jhering, Der Kampf ums Recht, S. 28. Zum Zusammenhang zwischen Zweckcharakter des Rechts und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch Ermacora, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 67.

I. Entwicklung des Verhältnisrnäßigkeitsprinzips in Europa

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Mittel-Relation hat der Gedanke der Verhältnisgerechtigkeit seit den frühesten Anfängen des Rechts eine tragende Rolle gespielt; er gehört zum abendländischen Wertekanon und ist Bestandteil des "ius publicum commune europaeum". Die "Entdeckung" der Verhältnismäßigkeit als eigenständiges Rechtsprinzip, die dogmatische Ausformung durch die Lehre und die Positivierung durch den Gesetzgeber ließen dennoch bis in die Neuzeit auf sich warten.

2. Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in den modernen europäischen Rechtsordnungen Trotz der Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgedankens im gemeinsamen europäischen Rechtserbe hat sich die Verhältnismäßigkeit erst in jüngerer Zeit als eigenständiges Rechtsprinzip etablieren können.

a) Liberaler Rechtsstaat und Idee der Grundrechte: Entdeckung der Verhältnismäßigkeit als Grenze hoheitlicher Befugnisse im 18. Jahrhundert Die wachsende Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in der Neuzeit ist eng an die Entwicklung des liberalen Rechtsstaates und die damit einhergehende Begrenzung hoheitlicher Willkür geknüpft. Schon die Magna Charta Libertatum von 1215, die einen ersten Schritt zur Begrenzung der Befugnisse des Landesherrn markierte, schrieb ein Verbot von übermäßig hohen Strafen fest 21 . Die Bill of Rights von 1689 schaffte dann erstmals allgemeingültige Rechte der einzelnen gegenüber der Krone und untersagte brutale und unnötige Bestrafungen Einzelner22 • Vor den Gerichten in Englands spielen diese Bestimmungen bis heute eine Rolle 23 • Im ausgehenden 18. Jahrhundert schließlich fanden die zu unveräußerlichen Menschemechten erstarkten Bürgerrechte in verschiedenen Staaten Eingang in

21 In der Magna Charta heißt es: "Der freie Mann soll für ein Vergehen nicht anders bestraft werden als nach dem Maßstab seines Vergehens", vgl. Dennewitz, Verfassun-

gen, Bd. I, S. 37.

22 "Excessive fines" und "cruell and unusuall punishment" sind verboten, vgl. den Abdruck der Bill ofRights bei Dennewitz, a.a.O., S. 42. 23 V gl. etwa Lord Justice Purchas in "Regina vs. Secretary of State for the Horne Department, ex parte Herbage" 2 (1987) Q.B., 1077.

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

neu geschaffene Verfassungen24 • Die Rolle des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in den Grundrechtserklärungen blieb auch hier zunächst auf den Schutz vor übermäßiger Strafe begrenzt 25 • Dasselbe galt zunächst für die Grundrechtsdogmatik. So finden sich etwa bei Montesquieu Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit, die sich jedoch auf die Forderung nach angemessenen Strafsanktionen beschränken26 . Dies trifft auch auf die Verhältnismäßigkeitsdogmatik Beccarias zu, der in seinem Hauptwerk "Dei delitti e delle pene" ein angemessenen Verhältnis zwischen Art des Delikts und verhängter Strafe forderte und so das theoretische Fundament für die Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgedankens im Strafrecht legte 27 • Nachdem sich die naturrechtliche Vorstellung von der angeborenen Freiheit des Menschen aber in Europa immer weiter durchsetzte, musste es fast zwangsläufig auch zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Frage der Einschränkbarkeit der "neu gewonnenen" Freiheit kommen.

Rousseau weitete den Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgedankens über das Strafrecht hinaus aus und zog ihn zur Abgrenzung des Freiheitsbereichs des einzelnen gegenüber dem Staat heran. Nach seinem Konzept des "contrat social" dürfe die Freiheit des einzelnen nur insoweit eingeschränkt werden, wie es im Allgemeininteresse nützlich sei 2s • Der hier nur angedeutete Aspekt der Notwendigkeit als allgemeiner Eingriffsschranke wurde erstmals klar von Blackstone formuliert. In seinen "Commentaries" äußerte er sich in grundsätzlicher und bis heute gültiger Weise zur Frage der Reichweite der individuellen Freiheit. Seine These ,,Politicalor civilliberty ( ..) is no other than naturalliberty so far restrained by human laws (and no farther) as it is necessary and expedient for the general advantage of the public ,,29 umreißt bereits die Grundzüge der modernen Verhältnismäßigkeitsdogmatik. Seine Feststellung, die Freiheit des Einzelnen dürfe nur soweit 24 Vgl. insbesondere die erstmalige Positivierung eines Grundrechtskatalogs in der "DecIaration of Rights of Virginia" von 1776, Dennewitz, a.a.O., S. 52 ff, und die französische "DecIaration des Droits de I'Homme et du Citoyen" von 1789, a.a.O., S. 77 ff. 25 Vgl. etwa Art. 8 der DecIaration des Droits de I'Homme von 1789 ("Peines strictement et evidemment necessaire "); dazu Xynopuolos, Proportionnalite, S.357; Moderne, RFD 1997 (9, serie special), S. 13. 26 Vgl. Montesquieu, De I'esprit des lois, XI, 16: ,/1 est essentiel que les peines aient de ['harmonie entre elles"; vgl. dazu Jung, in: JuS 1999, S. 216 (219); Pedraz Penalva/Ortega Benita, Poder Judicial 17 (1990), S. 69. 27 Beccaria, Dei delitti e delle pene, S. 40: ,,Dunque vi deve essere una proportione fra i delitti e le pene". 28 Rousseau, Du Contrat Social, S. 33: " ... Ie souverain, de san cote, ne peut pas charger les sujets d'aucune chalne inutile a la communaute. " 29 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, S. 115.

I. Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Europa

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eingeschränkt werden, wie es notwendig und sinnvoll rur das Allgemeininteresse ist, weist auf die Teilgrundsätze der Geeignetheit ("expedient") und Notwendigkeit als Bestandteile der Verhältnismäßigkeitsprüfung hin.

b) Entwicklung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch das deutsche Verwaltungsrecht des 19. Jahrhunderts

Obwohl in Deutschland der Kampf um die Aufnahme der bürgerlichen Freiheiten in die Verfassung länger als in anderen europäischen Ländern dauerte und es erst im 20. Jahrhundert eine gesamtdeutsche Verfassung mit einem Grundrechtskatalog gab, hat gerade die deutsche Verwaltungsrechtslehre die Dogmatik des Verhältnismäßigkeitsprinzips entscheidend vorangebracht und so den Anwendungsbereich des Grundsatzes erheblich erweitert. Zurecht sieht die überwiegende Literatur30 den Ursprung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als eigenständiges Rechtsprinzip im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Der von Rousseau und Blackstone herausgearbeitete Gedanke des Erforderlichkeitsvorbehalts bei Freiheitsbeschränkungen wurde von zahlreichen deutschen Juristen des ausgehenden 18. Jahrhunderts 3l aufgegriffen und insbesondere von Svarez weiterentwickelt: Er übertrug diesen "ersten Grundsatz des öffentlichen Staatsrechts ,,32 auf das Gebiet des Polizeirechts. Die" allgemeinen Grundsätze des Polizeirechts " von Svarez umfassten nicht nur den Erforder30 Zur Herkunft aus deutschem Recht etwa Emiliou, Proportionality, S. 129; Huber, Integration, § 23, Rn.7; Gautron, Droit europeen, S. 127; Akehurst, BYIL 52 (1981), 29 (39); Sandulli, Rivista trimestrale di diritto pubblico 1995, 329 (351); Georgiadou, ARSP 1995, 532 (533); Akehurst, BYIL 52 (1981), 29 (38); Usher, ELR 75176, 363; Lugato, DeSI 1991,67 (68), unter Hinweis auf Art. 20 Abs. GG; GA Jacobs xi (in: Emiliou): main source of this principle; Ziller, AJDA 1996, 185 (186); Arnull, General Principles, S. 44; Biancarelli, Le principe de proportionnalite, S. 151 (152); Cripps, IJGLS 1994,213 (217); Pollak, Verhältnismäßigkeit, S.122; Tridimas, Irish Jurist 31 (1996), 83; Schwarze, Verwaltungsrecht II, S. 832 (Fn. 560); Heinsohn, Verhältnismäßigkeit, S. 75; Emmerich-Fritsche, Verhältnismäßigkeit, S. 63 f. 31 Vgl. etwa Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, S. 476; Darjes, Natur- und Völkerrecht, S. 1010. 32 Vgl. bei Conrad/Kleinheyer (Hrsg.): Vorträge über Recht und Staat von c.G. Svarez, S. 486: "Da es nun der erste Grundsatz des öffentlichen Staatsrechts ist, daß der Staat die Freiheit des einzelnen nur so weit einzuschränken berechtigt sei, als es notwendig ist, damit die Freiheit und Sicherheit aller bestehen könne, so fließt aus dieser Betrachtung der erste Grundsatzdes Polizeirechts, daß nur die Abwendung eines großen und mit moralischer Gewißheit zu beforchtenden Schadens für die bürgerliche Gesellschaft oder nur die sehr begründete Hoffnung zur Erlangung eines sehr erheblichen und dauerhaf ten Vorteils for das Ganze den Staat berechtigen könne, die natürliche Freiheit seiner einzelnen Bürger durch Polizeigesetze einzuschränken. "

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

lichkeitsgrundsatz als Voraussetzung polizeilichen Einschreitens. Svarez forderte auch, dass der durch den Eingriff abzuwendende Schaden die damit einhergehenden Nachteile für den einzelnen erheblich übersteigen müsse 33 und legte so den Grundstein für die im deutschen Recht als dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung geläufige Angemessenheitsprüfung. Berl 4 beschrieb den Erforderlichkeitsgrundsatz in seinem Polizeirechtslehr-

buch von 1802 als universale Eingriffsschranke beim Tätigwerden der Polizei. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der Polizeibegriff damals noch nicht auf das heutige Anwendungsgebiet beschränkte, sondern in einem umfassenden Sinne die eingreifende Verwaltungs tätigkeit bezeichnete 35 . Als entscheidend für die Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Rechtsprinzip und seine Verbreitung im gesamten deutschen Verwaltungsreche 6 erwies sich die polizeiliche Generalklausel des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. § 10 11 17 ALR37 bestimmte, dass der Polizei nur "die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe" aufgegeben waren. Der von den Gedanken der Aufklärung beeinflusste Svarei 8 hatte als maßgeblicher Schöpfer des ALR Anteil an dieser Kodifizierung des Erforderlichkeitsgrundsatzes. Die Entwicklung eigenständiger verwaltungsrechtlicher Kontrollrnaßstäbe wurde daneben auch durch den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland begünstigt. So griff die Rechtsprechung des PrOVG in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Gedanken der Erforderlichkeit auf und verhalf durch seine umfangreiche Rechtsprechung 39 zu § 10 11 17 ALR dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu seinem endgültigen Durchbruch als anerkanntes 33 Vgl. den "Zweiten Grundsatz des Polizeirechts", a.a.O., S. 487; dazu d'Avoine, Verhältnismäßigkeit, S.186 ff. 34 Berg wurde in der Literatur vielfach als "Entdecker" des Terminus "Verhältnismäßigkeit" apostrophiert (vgl. Stern, in: Lerche-FS, S. 165 (168); v. Krauss, Verhältnismäßigkeit, S. 4 und Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 3; Xynopoulos, Proportionnalite, S. 113). Berg verwendete den Begriff "verhältnismäßig" jedoch nicht im Zusammenhang mit dem Erforderlichkeitsprinzip, sondern um eine "verhältnisgerechte" Entschädigung zu gewähren, vgl. Berg, Handbuch des deutschen Polizeyrechts, S. 91. 35 V gl. dazu etwa Dennewitz, Die Systeme des Verwaltungsrechts, S. 28. 36 Stern, in: Lerche-FS, S.165 (168). 37 Im "Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten" (AGB) von 1791, der nicht in Kraft getretenen Grundlage für das ALR von 1794, war eine noch weitergehende Kodifikation des Erforderlichkeitsgrundsatzes vorgesehen. So sollte § 79 AGB bestimmen: "Die Gesetze und Verordnungen des Staates dürfen die natürliche Freyheit und Rechte des Bürgers nicht weiter einschränken, als es der gemeinschaftliche Endzweck erfordert ". 38 Vgl. Schneider, in: BVerfG-FS, S. 390 (394); Stern, a.a.O., S. 168. 39 Vgl. nur PrOVGE 10, 322 ff; 13, 273 (278); 424 (426); 18, 336 (342); 31, 409 (410).

I. Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Europa

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Rechtsprinzip des deutschen Verwaltungsrechts 40 . In seinem 1895 erschienenen Lehrbuch prägte Mayer den bis heute verwendeten Begriff des Prinzips der "Verhältnismäßigkeit", das als "oberster Grundsatz" für alle Eingriffe der Polizei gelte 41 • Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts - und damit zu einer Zeit, in der sich liberale Staatsideen nur in sehr begrenztem Umfang in der Verfassung fanden und ein kodifizierter Grundrechtskatalog noch immer fehlte - werteten vom Gedankengut der Aufklärung und des protestantisch-preußischen Prinzips der Mäßigung beeinflusste Juristen42 somit einen naturrechtlichen Grundsatz zum verbindlichen "Rechtsprinzip" des Verwaltungsrechts auf und machten die Verhältnismäßigkeit so - erstmals in Europa - zu einer in der praktischen Rechtsanwendung anerkannten allgemeinen Eingriffsschranke. Die Entdeckung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit durch die Rechtswissenschaft als Instrument der Verwaltungskontrolle blieb zunächst ein auf Deutschland beschränktes Phänomen. Zwar zogen auch in anderen europäischen Staaten Gerichte Erwägungen der Erforderlichkeit bei der Zweck-Mittel-Abwägung zur Entscheidungsfindung heran. Jedoch war dort eine systematische Verhältnismäßigkeitskontrolle ebenso unbekannt wie ein "Rechtsinstitut" der Verhältnismäßigkeit.

c) Fazit

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist keine Erfindung des deutschen Rechts. Der Gedanke des Ausgleichs zwischen Zweck und Mitteln und der Beschränkung hoheitlicher Eingriffe auf das Erforderliche geht auf eine gemeinsame europäische Rechtstradition zurück und hat unter dem Einfluss der Ideen der Aufklärung als allgemeiner Rechtsgrundsatz Eingang in die europäischen Rechtsordnungen gefunden. Der deutschen Verwaltungs- und Verfassungslehre kommt allerdings das Verdienst zu, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zuerst als eigenständiges Prinzip des öffentlichen Rechts herausgearbeitet und ihn sowohl in seiner Struktur als auch in seinem Anwendungsbereich am weitesten fortentwickelt zu haben.

40 Vgl. etwa Meyer, Grundsätze des Verwaltungsrechts, Biermann, Privatrecht und Polizei in Preußen, S. 19f.; Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Band 2, S. 284. 41 Vgl. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band I, S. 267 und 297. 42 Vgl. zum Einfluss der "preußischen" Tradition der Selbstbeschränkung und Mäßigung und deren Wurzeln im Protestantismus Schneider, a.a.O., S. 394.

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

11. Die Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle in den europäischen Rechtsordnungen Für das Verständnis des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist die Kenntnis des Stellenwerts der Verhältnismäßigkeit in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten von grundsätzlicher Bedeutung. Der Gerichtshof entwickelt seine allgemeinen Rechtsgrundsätze mit Hilfe der Technik der wertenden Rechtsvergleichung. Dabei zieht er sowohl das Recht der Mitgliedstaaten als auch das Recht der EMRK als Erkenntnisquelle heran. Dabei ist der Prozess der Rezeption fremden Rechts heute allerdings nicht mehr bloß durch eine einseitige Beeinflussung des Gemeinschaftsrechts durch das Recht der Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Vielmehr hat das Gemeinschaftsrecht seinerseits auf vielfältige Weise die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchdrungen und dort gerade in den letzten Jahren einen Konvergenzprozess im Bereich des Verwaltungsrechts ausgelöst, der Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher Forschung war l . Noch in den achtziger Jahren fanden rechtsvergleichende Untersuchungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kaum Indizien für einen solchen "spill over-Effekt" im Bereich dieses Rechtsgrundsatzes und kamen zu dem Schluss, dass sich ein Prinzip der Verhältnismäßigkeit nur in wenigen Mitgliedstaaten finde 2 . Es zeigt sich, dass dieser Befund heute nur schwerlich aufrecht erhalten werden kann. Im Folgenden soll der Versuch einer Bestandsaufnahme der Verhältnismäßigkeitsdogmatik in den einzelnen Mitgliedstaaten und der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte unternommen werden3 . Dabei sind nicht nur Anwendungsbereich und Dogmatik, sondern auch die praktische Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle zu untersuchen.

1 V gl. die Länderberichte bei Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1996); Cassese, Der Staat 34 (1994), 25 ff; Fromont, in: Melanges Chapus, S. 197 ff.; aus der deutschen Literatur vgl. insbesondere Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1999); v. Danwitz, VerwaItungsrechtliches System und europäische Integration (1996); Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit (1996); Schwarze, DVBI. 1996, 881 ff.; Sommermann, DVBI. 1996,889 ff.; Ladeur, EuR 1995,227 ff; Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), 154 ff.; Rengeling VVDStRL 53 (1994), 201 ff.; ders., in: Rengeling (Hrsg.), Europäisierung des Rechts, S. I ff.; Klein, Der Staat 33 (1994),39 ff.; Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993,924 ff.; Schoch, JZ 1995, 109 ff.; Streinz, in: Schweitzer, Europäisches VerwaItungsrecht, S. 240 ff.; Ehlers, in: DVBI. 1991,605 ff.; Tonne, Rechtsschutz (1996). 2 Vgl. insbesondere die Untersuchung von Schwarze, Verwaltungsrecht, Band 11, S. 664 ff. (1987) und die Schrift von Kutscher, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen (1985).

II. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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1. Deutschland

a) Anwendungsbereich: Verhältnismäßigkeit als übergreifendes Rechtsprinzip Deutschland war zwar weder das erste noch das einzige Land, in dessen Rechtsordnung der Gedanken der Verhältnismäßigkeit eine Rolle spielte. Die Weiterentwicklung zu einem übergreifend geltenden Rechtsprinzip mit einer differenzierten Prüfungsstruktur wird aber zurecht als "deutsche Erfindung" bezeichnet4 • Dass die modeme Verhältnismäßigkeitsdogmatik gerade in Deutschland entwickelt wurde, lässt sich nur zum Teil mit dem hohen Grad an "wissenschaftlicher Durchdringung ,,5 des deutschen Verwaltungsrechts erklären. Von entscheidendem Einfluss fiir den Aufstieg des Verhältnismäßigkeitsprinzips zum Verfassungsgrundsatz war vielmehr die Ausrichtung des deutschen Verwaltungsrechts auf das subjektive Recht, durch die sich das deutsche Verwaltungsrecht bis heute von vielen europäischen Rechtsordnungen unterscheidet6 • Nach dem Scheitern der Weimarer Verfassung und den Erfahrungen der NSZeit wurde der Schutz der individuellen Rechte - als Ausdruck eines nicht nur formal, sondern auch materiell empfundenen Rechtsstaats durch die Schaffung eines Grundrechtskatalogs weiter gestärkt, dessen Beachtung von einer mit umfangreichen Kompetenzen ausgestatteten Verfassungsgerichtsbarkeit abgesichert wurde. Damit war die Notwendigkeit eines Ausgleichs zwischen subjektivem Recht und öffentlichem Interesse gleichsam "systemimmanent".

3 Weil das gemeinschaftliche Verwaltungsrecht traditionell besonders stark vom französischen und deutschen Verwaltungsrecht geprägt ist, soll der dortigen Verhältnismäßigkeitsdogmatik besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zum starken Einfluss des französischen Rechts etwa auf die Rechtmäßigkeitskontrolle im Rahmen des Art. 230 (ex- 173) EG Becker, Einfluß des französischen Rechts, S. 69 ff. 4 Vgl. etwa Emiliou, Proportionality, S. 129; Huber, Integration, § 23, Rn.7; Gautron, Droit europeen, S. 127; Akehurst, BYIL 52 (1981), 29 (39). 5 So - aus der Sicht des französischen Verwaltungsrechtiers - Xynopoulos, Proportionnalite, S. 114. 6 Vgl. dazu auchXynopoulos, Proportionnalite, S. 133,157. 4 Koch

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

aa) Umfassende Bindung der staatlichen Tätigkeit an die Verhältnismäßigkeit Die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft hat nicht nur den seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anerkannten Erforderlichkeitsgrundsatz zu einem komplexen, dreistufigen Verhältnismäßigkeitsprinzip weiterentwickelt7• Das Bundesverfassungsgericht übernahm dabei, gestützt auf entsprechende Vorarbeiten der Literatur8 und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs 9 , insoweit eine Vorreiterrolle, als es im Jahr 1954 erstmals ein Gesetz anband des "Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und Mittel" überprüftelo. Durch die Anerkennung als eigenständige Eingriffsschranke mit Verfassungsrang hat das Bundesverfassungsgericht dafür gesorgt, dass der "omnipräsente" Verhältnismäßigkeitsgrundsatz heute fast das gesamte öffentliche Recht durchdringt, denn die Erstarkung zum verfassungsrechtlichen Grundsatz war ein entscheidender Faktor für die flächendeckende Ausbreitung im Verwaltungsrecht als "konkretisiertem Verjassungsrecht"lI. Der Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Verwaltungsrecht beschränkt sich nicht mehr auf den gesamten 12 Bereich der Eingriffsverwaltung, sondern ist auch von der Leistungsverwaltung zu beachten 13 • Die aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Interpretation nahezu aller belastenden staatlichen Maßnahmen als GrundrechtseingrifJe und der so geschaffene "allgemeine Verhältnismäßigkeitsvorbehalt" haben dazu geführt, dass heute kaum ein Rechtsgebiet von der Verhältnismäßigkeitskontrolle ausgenommen ist: Dies gilt nicht nur für die geläufige Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Strafrecht l4, sondern auch für das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht ls . Zur Dogmatik des deutschen Verhältnismäßigkeitsprinzips sogleich c). Entsprechende Anregungen finden sich bei Krüger, DVBI. 1950, 625 (628); v. Krauss, Verhältnismäßigkeit, S. 26 ff., 42 ff.; Dürig, AöR 81 (1956), S. 117 (146). 9 Vgl. BayVerfGHE 9 II 158 (177); 11 II 23 (33 0. 10 Erstmals wurde in BVerfGE 3, 383 (399) ein Gesetz am Maßstab der Verhältnismäßigkeit gemessen; vgl. weiterhin etwa 7,377 (407 ff.); 8, 274 (310); 13,97 (104); 25, 1 (11 ff.), 30, 250 (316); 50,290 (341); 63, 266 (282); 66, 337 (353). 11 Vgl. das berühmte Zitat von Werner, DVBI. 1959,527. 12 Vgl. zur Anwendung in den unterschiedlichsten Bereichen wie Ausländer-, Beamten-, Steuer-, Wehr-, Wirtschaftsverwaltungs- oder Umweltrecht Ossenbühl, in: LercheFS, S. 151 (153). 13 Vgl. etwa Stern, Staatsrecht IIII2, S. 764; Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaates, S. 11 ff. 14 Vgl. etwa § 34 StGB (Notstand) und § 74 d StGB (Einziehung von Schriften); vgl. auch Pae, Verhältnismäßigkeit im Maßregel recht des StGB, passim. 15 Siehe dazu die Dissertationen von Groggert, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im deutschen Arbeitskampfrecht, passim; Dey, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Kündigungsrecht, passim. 7

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11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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Mit der zunehmenden Grundrechtsbindung des privaten HandeIns 16 steigt auch in solchen Teilen des Privatrechts die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgebots, die bislang von seiner Anwendung ausgenommen waren, so dass er heute Rechtsgebiete wie das Mietrecht ebenso wie das Versicherungs- oder das Gesellschaftsreche 7 beeinflusst. In einer Vielzahl von Gesetzen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit inzwischen ausdrücklich verankert l8 . Begrenzt wird die Verhältnismäßigkeitskontrolle im Bereich der Grundrechte nur durch die Rechtsprechung zu den sog. behördlichen Beurteilungsspielräumen, die die richterliche Kontrolle in Fällen, in denen Behörden - wie etwa bei wirtschaftspolitischen Prognoseentscheidungen - ein tatbestandlicher Beurteilungsspielraum eingeräumt ist, stark einschränkt l9 .

bb) Beschränkung der Anwendung auf grundrechtsrelevante Sachverhalte Die umfassende Bindung des grundrechtsrelevanten HandeIns aller drei Gewalten20 ist heute unbestritten21 • Nicht zutreffend ist jedoch die verschiedentlich vertretene These, in Deutschland sei das gesamte öffentliche Recht dem 16 Ossenbühl, DVBI. 1995,904 (907), fUhrt für diese Entwicklung die Urteile zur Eigentümerstellung des Mieters (vgl. BVerfGE, 89,1 ff.) und die neuere Bürgschaftsrechtsprechung (vgl. etwa BVerfGE 89, 214) an. 17 V gl. dazu Canaris, JuS 1989, S. 161 ff.; Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 129 ff. 18 Besonders deutlich etwa in den Vorschriften zum unmittelbaren Zwang, so etwa in §4 UZwG: (I) ,,Die Vollzugsbeamten haben bei der Anwendung unmittelbaren Zwanges unter mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenigen zu treffen, die den einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigen. " (2) "Ein durch eine Maßnahme des unmittelbaren Zwanges zu erwartender Schaden darf nicht erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg stehen." Vgl. auch § 4 Abs. J NGefAG: ,,Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat Verfassungsrang. Er gilt bei jeder Maßnahme ( ... )"; § 30 NGefAG (Datenerhebung); § JJJ m StPO (Beschlagnahme von Druckwerken); § 24 OWiG (Einziehung); § 34 StGB (rechtfertigender Notstand); § 74 d StGB (Einziehung von Schriften). 19 Vgl. zur Rechtsprechung vom Beurteilungsspielraum bei beamtenrechtlichen Beurteilungen, Sachverständigen- und verwaltungspolitischen Entscheidungen Maurer, Verwaltungsrecht, § 7, Rn. 37 ff.; Lerche, in: Frowein, Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, S. 249 (257 ff.); Nagel, Die Rechtskonkretisierungsbefugnis der Exekutive: Ermessenskategorien und verwaltungsrechtliche Kontrolldichte, S. 165 ff.; zu den seit BVerfGE 84, 34 (59) nicht mehr gänzlich von der Kontrolle ausgenommenen Prüfungsentscheidungen und der Tendenz eines offenen Rechtsnormen aller Art als Richtschnur fUr die Auslegung dientD. Bei geschutz im Verw'altungsrecht, S. 359 ff. 20 Zur Bindung der Rechtsprechung vgl. Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 136 ff. 21 Vgl. Ress, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 5 (15) m.w.N.

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterworfen22 . Vielmehr ist der Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach der Rechtsprechung nur dann eröffnet, wenn die individuelle Rechtssphäre betroffen ist. In anderen Bereichen dagegen ist die staatliche Tätigkeit nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterworfen. So lehnt es das Bundesverfassungsgericht trotz entsprechender Vorschläge der Literatur23 bislang ausdrücklich ab, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch im Staatsorganisationsrecht - etwa zur Abgrenzung von Bundes- und Länderkompetenzen - heranzuziehen. Wegen seines individualschützenden Zuschnitts sei eine Anwendung in grundrechtsfernen Bereichen wie der staatlichen Kompetenzordnung oder im Finanzverfassungsrecht ausgeschlossen. In seinem Urteil zum atomrechtlichen Weisungsrecht eines Bundesministers fiihrte das Bundesverfassungsgericht dazu aus: "Aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Schranken für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen sind im kompetenzrechtlichen Bund-LänderVerhältnis nicht anwendbar. Dies gilt insbesondere für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: ihm kommt eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zu (00')' Das damit verbundene Denken in den Kategorien in Freiheit und Eingriff kann weder speziell auf die von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Bund und Ländern bestimmte Sachkompetenz des Landes noch allgemein auf Kompetenzabgrenzungen übertragen werden,,24.

Auch in anderen Bereichen, in denen sich zwei öffentliche Interessen gegenüber standen, ohne dass der individuelle Freiheitsbereich tangiert war, wurde die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips abgelehnt. Weil es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts etwa bei der Verschuldungsobergrenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 "an einer entsprechenden Konstellation ,,25 fehle, sei der Gesetzgeber bei der Kreditaufnahme nicht an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden. Auch beim Erfordernis eines "angemessenen" Ausgleichs im Rahmen der den Länderfinanzausgleich betreffenden Vorschrift des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG kommt der Grundsatz nicht zur Anwendung 26 • Mangels berührtem Individualrecht wendet das Verfassungs gericht das Verhältnisrnä22 So Ossenbühl, in: Lerche-FS, S. 151 (153) m.w.N., der diese These als "einhellige Auffassung" bezeichnet. 23 Vgl. insbesondere Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 397 ff.; Krüger, BayVBI. 1984,545 (549). 24 V gl. BVerfGE 81, 310 (338); zustimmend Knarr, Die lustitiabilität der Erforderlichkeitsklausel i.S.d. Art. 72 Abs. 2 GG, S. 159; Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 72, Rn. 38; Ossenbühl, in: Lerche-FS, S. 151 (161); Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 176. 25 Vgl. BVerfGE 79, 311 (341). 26 BVerfGE 72, 330 (397); dazu Knarr, Die lustitiabilität der Erforderlichkeitsklausel i.S.d. Art. 72 11 GG, S. 151; Neumeyer, in: Kriele-FS, S. 543 (570).

H. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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ßigkeitsprinzip schließlich auch nicht auf Regelungen der kommunalen Selbstverwaltung an, die die Institutsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG berühren27 • Auch vor den Verwaltungs gerichten spielt die Verhältnismäßigkeit nicht in kompetenzrechtlichen Fragen, sondern nur in Verbindung mit dem Eingriff in subjektive Rechtspositionen eine Rolle 28 • Allerdings mehren sich die Stimmen in der Literatur, die vorschlagen, den Verhältnisrnäßigkeitsgrundsatz nach dem Modell des Gemeinschaftsrechts auch für die Abgrenzung von Kompetenzen heranzuziehen29 • Immerhin legt die Neufassung von Art. 72 Abs. 2 GG die Anwendung der Verhältnismäßigkeitsbzw. Erforderlichkeitsprüfung durchaus nahe 3o, lässt er doch, ähnlich der Bestimmung des Art. 5 Abs. 2 EG, nur erforderliche Bundesregelungen ZU 3l . Das Bundesverfassungsgericht hat bislang allerdings seine restriktive Rechtsprechung beibehalten und darauf verzichtet, die Notwendigkeit einer Bundesregelung anband des Erforderlichkeitsgrundsatzes zu überprüfen32 • Auch im Staatsorganisationsrecht hat der Erforderlichkeitsgundsatz als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgedankens somit Eingang in die Verfassung gefunden. Es bleibt abzuwarten, ob das Verfassungsgericht künftig von seiner strikten Ausrichtung der Verhältnisrnäßigkeitsprüfung auf das subjektive Recht abrückt und das gemeinschaftsrechtliche Konzept der kompetenziellen Verhältnismäßigkeit33 aufgreift.

Vgl. BVerfGE 79,127 ff; dazu Ossenbühl, in: Lerche-FS, S. 151 (161) m.w.N. Dazu Bleckmann, in: JuS 1994, 177 (183). 29 Vgl. etwa Brenner, DVBI. 1998,409; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 397 ff.; Krüger, BayVBI. 1984, 545 (549); vgl. auch die von der Enquete-Kommission Verfassungsreform vorgeschlagene Neufassung des Art. 72 GG, dessen Abs. 3 lauten sollte: ,,Bundesgesetze, nach Absatz 2 sind auf diejenigen Regelungen zu beschränken, die erforderlich sind, um die dort genannten Ziele zu erreichen; das Weitere ist der Landesgesetzgebung zu überlassen." Dazu die Enquete-Kommission Verfassungsreform, Zur Sache 2177, S. 64/280. 30 Brenner, DVBI. 1998,409. 31 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die von der Enquete-Kommission Verfassungsreform vorgeschlagene Neufassung des Art. 72 GG, dessen Abs. 3 lauten sollte: ,,Bundesgesetze, nach Absatz 2 sind auf diejenigen Regelungen zu beschränken, die erforderlich sind, um die dort genannten Ziele zu erreichen; das Weitere ist der Landesgesetzgebung zu überlassen." Dazu die Dokumentation der Enquete-Kommission Verfassungsreform, Zur Sache 2177, S. 64/280. 32 Ministerpräsident Stoiber sprach in diesem Zusammenhang bei den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission über die Neufassung von Art. 72 Abs. 2 GG von der Gefahr, dass Art. 72 Abs. 2 GG "Makulatur" bleibe, wenn das Verfassungsgericht seine restriktive Rechtsprechung beibehalte, vgl. Protokoll der 11. Sitzung des Gemeinsamen Verfassungskommission vom 15.10.1992, S. 14. 33 Dazu unten, 3. Teil, H., I., a), aa), (2). 27 28

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

b) Dogmatische Struktur: Dreistufige Verhältnismäßigkeitsprüfung

Der Tenninus der Verhältnismäßigkeit wurde bis nach dem Zweiten Weltkrieg zumeist als Synonym rur den Grundsatz der Erforderlichkeit verwendee 4 • Die heute im deutschen Recht geläufige dreistufige Verhältnismäßigkeitskontrolle hat sich erst in den fiinfziger Jahren dauerhaft etablieren können3S . Wenngleich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Deutschland spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts fester Bestandteil der Verwaltungsrechtsdogmatik war und zunehmend auch Eingang in die Gesetzestexte fand 36, bestand noch lange Zeit große Unsicherheit hinsichtlich der Tenninologie und des genauen Inhalts des Prinzips. Überwiegend wurde mit dem Wort "Verhältnismäßigkeitsprinzip" - rur das sich auf Vorschlag Jellineks 37 auch die Bezeichnung "Übermaßverbot" einbürgerte - das Erforderlichkeitsgebot umschrieben. Der Grundsatz der Geeignetheit einer Maßnahme wurde zwar ebenfalls als Rechtmäßigkeitskriterium erkannt, jedoch zumeist getrennt von der Verhältnismäßigkeit (bzw. der Erforderlichkeit) behandele s. Seit Beginn der Verhältnismäßigkeitskontrolle flossen auch immer wieder Erwägungen der Güterabwägung, die heute unter dem Stichwort der "Angemessenheitsprüfung" als dritte Prüfungsstufe fester Bestandteil des deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist, in die Prüfung ein39 • Diese Differenzierungen blieben zunächst jedoch singulär, so dass der Tenninus der Verhältnismäßigkeit bis nach dem Zweiten Weltkrieg zumeist synonym mit dem Grundsatz der Erforderlichkeit verwendet wurde 40 •

34 Vgl. nur Mayer, Verwaltungsrecht, S. 267; Jellinek, a.a.O., S. 439, sowie, noch 1951, Kaufmann, Der polizeiliche Eingriff, S. 186. Demnach ist auch die von einer bedeutenden Gruppe von Autoren vertretene Ansicht, der Angemessenheitsgrundsatz habe "schon immer" zur Verhältnismäßigkeit gehört, in dieser pauschalen Formulierung unzutreffend. Wie hier etwa Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 14. 35 Vgl. dazu v. LangsdorfJ, Das allgemeine Notstandsprinzip der Verhältnismäßigkeit, S. 56 ff. 36 Vgl. etwa die Verpflichtung zur Wahl des mildesten Mittels in § 41 Abs. 2 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931 sowie für das Gebiet des Verwaltungszwangs § 132 PrLVGes. 37 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 439. 38 Vgl. Jellinek, a.a.O., S. 440; Friedrichs, Polizeiverwaltungsgesetz, § 14 Rn. 33. 39 Zum Beispiel einer Angemessenheitsprüfung bei 127 Abs. und 112 StPO Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 7; auch in der von Fleiner, Institutionen, S. 354, geprägten Umschreibung, die Polizei solle nicht .. mit Kanonen auf Spatzen schießen ", klingt nicht nur das Kriterium der Notwendigkeit, sondern auch das der Güterabwägung an; vgl. auch die Ausführungen von Svarez zum Angemessenheitserfordernis (soeben, b). 40 Vgl. nur Mayer, Verwaltungsrecht, S. 267; Jellinek, a.a.O., S. 439, sowie, noch 1951, Kaufmann, Der polizeiliche Eingriff, S. 186. Demnach ist auch die von einer bedeutenden Gruppe von Autoren vertretene Ansicht, der Angemessenheitsgrundsatz

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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Erst in den ftinfziger Jahren dieses Jahrhunderts erlebte der deutsche Verhältnismäßigkeitsbegriff einen Bedeutungswandel. Nach den Schrecken des Dritten Reiches war es zu einem Erstarken naturrechtlicher Vorstellungen gekommen; damit hatte auch der Aspekt der Angemessenheitsprüfung neue Aktualität gewonnen41 • Die öffentlich-rechtliche Dogmatik reagierte, indem sie das Erfordernis einer Angemessenheitsprüfung aufgriff, das für das Notstandsrecht schon 1896 im BGB gesetzlich festgeschrieben und mit der Erforderlichkeit kombiniert worden war. Lehre42 und Rechtsprechung43 übertrugen die in den § 228 und § 904 BGB ausdrücklich normierte Unterscheidung zwischen dem Grundsatz der Erforderlichkeit und der Angemessenheit einer Notstandshandlung 44 auf das Gebiet des öffentlichen Rechts und gaben so dem Verhältnismäßigkeitsprinzip seine bis heute im deutschen Recht geläufige dreistufige Ausformung. Dementsprechend unterteilen Rechtsprechung 45 und die ganz überwiegende Mehrheit der Literatur46 - trotz mancher in der Literatur angeregter Alternativschemata47 - die Verhältnismäßigkeit in die Teilgrundsätze der Ge-

habe "schon immer" zur Verhältnismäßigkeit gehört, in dieser pauschalen Formulierung unzutreffend. Wie hier etwa Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 14. 41 Die Beschränkung der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die Erforderlichkeit, die "nur" den Einsatz des mildesten wirksamen Mittels verlangt, ließe letztlich jede effektive Maßnahme zu, ohne dabei Rücksicht auf unveräußerliche Grundrechte zu nehmen. Zu den Faktoren, die die Entwicklung des dreistufigen Verhältnismäßigkeitsprinzips in Deutschland begünstigten, vgl. etwa Xynopoulos, Proportionnalite, S. 114; Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 12. 42 Grundlegend v Krauss, Verhältnismäßigkeit, S. 14 ff. und Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 50 f. 43 Vgl. BayVerfGHE I 11 64 (76); 81 (88); angedeutet in BVerfGE 3, 383 (399); im Apothekenurteil werden erstmals alle drei Stufe klar getrennt, vgl. BVerfGE 7, 377 (402 ff.), sowie 19,330 (337); 21,150 (155); 26, 215 (228); 27, 211(219). 44 Vgl. dazu v. LangsdorjJ, Das allgemeine Notstandsprinzip der Verhältnismäßigkeit, S.56 ff. 45 V gl. etwa BVerfGE 30, 292 (316); 33, 171 (187); 39, 210 (230); 40, 196 (222); 70, 278 (286); 81,156 (192); BVerwGE 79, 90 (91); 80, 36 (39); 89,138 (144). 46 Vgl. nur Stern, Staatsrecht III/2, S. 775 ff.; Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, 50 ff.; Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 320; Grabitz, in: AöR 98 (1983), 568 (570 ff.); Degenhart, Staatsrecht, Rn. 325; Bleckmann, JuS 1994, 177; Lerche, in: IsenseeIKirchhof: Handbuch des Staatsrechts, Band 5, § 122, Rn. 16; Stein, in: Madlener: Deutsche öffentlich-rechtliche Landesberichte zum X. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung, S. 273 (278); Dechsling, Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 7 ff.; Ress, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 5 (17 ff.). Angesichts der teilweise vetretenen Alternativkonzepte erscheint es jedoch nicht berechtigt, von einer "einhelligen Meinung" zu schreiben - so aber Schnapp, JuS 1983,850 (852). 47 Vgl. zur Kritik in Bezug auf die Angemessenheitsprüfung Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 48 ff.; siehe auch das fünfstufige Schema bei Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 104, der dem dreistufigen Konzept eine Subsidiaritätsprüfung vorschalten und eine Zumutbarkeitsprüfung anhängen will.

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

eignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).

aa) Geeignetheit Zunächst ist eine Maßnahme danach darauf zu untersuchen, ob sie geeignet48 ist, also den angestrebten Erfolg fördern kann49 . Ungeeignet und unverhältnismäßig ist sie, wenn sie im Hinblick auf den Erfolg keinerlei Wirkung entfaltet oder dem angestrebten Ziel sogar schadet50 • So hat das Bundesverfassungsgericht etwa ein Verbot von Mitfahrzentralen als ungeeignet zur Erhöhung der Sicherheit des Straßenverkehrs angesehen51 • Das eingesetzte Mittel kann dabei in tatsächlicher oder in rechtlicher Hinsicht ungeeignet sein52 • Die Eignung wird jedoch nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Mittel den Erfolg nicht optimal oder sogar nur minimal fördert 53 • Einige Autoren verlangen, der Eignungsprüfung eine Prüfung der Zulässigkeit des Ziels oder des Mittels voranzustellen. Danach seien solche Maßnahmen als unverhältnismäßig anzusehen, die nicht im Interesse des Gemeinwohls lägen oder zu sachfremden Zwecken Erwägungen erfolgten54 • Die weitere Aufspaltung der Verhältnismäßigkeit in einen vierstufigen Grundsatz findet jedoch weder in der Rechtsprechungspraxis noch in den meisten Legaldefinitionenss eine Stütze. Zwar findet sich in einigen Gerichtsentscheidungen vor der eigentlichen Eignungsprüfung eine Erörterung des Ziels der Maßnahme 56 • Dabei dient die Erörterung des Eingriffszwecks aber vor allem der Verdeutlichung des in den verschiedenen Prüfungsstufen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigenden Eingriffszwecks. Systematisch ist die Frage der Zulässigkeit der Zwecke

48 Synonym werden auch die Begriffe der Tauglichkeit, Zwecktauglichkeit oder Zulänglichkeit verwendet, vgl. Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 102. 49 V gl. etwa BVerfGE 30 ,292 (316); 33, 171 (187); 39, 210 (230); 40, 196 (222); 70, 278 (286); 81, 156 (192). 50 Vgl. Stern, Staatsrecht IIII2, S. 776 m.w.N. 51 BVerfDE 17,306 (315 ff.). 52 Vgl. zu Fällen der rechtlichen Ungeeignetheit Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 335; dazu auch Ossenbühl, in: Jura 1997, 617 (618). 53 BVerfDE 16,147 (183); Grabitz, in: AöR 98 (1983), 568 (570). 54 So etwa v. Münch, in: v. MünchlKunig, GG, Band I, Vorb. Art. 1-19, Rn. 55; Emmerich-Fritsche, Verhältnismäßigkeit, S. 150 f. 55 V gl. etwa § 4 und § 12 UZwGBw, § 4 Abs. 1 NGefA G; § 30 NGefA G; § 111m StPO; § 24 OWiG; § 34 StGB; § 74 d StGB, die allesamt ohne eine vorgeschaltete Stufe des "zulässigen Ziels" auskommen. 56 Vgl. etwa die sehr ausführliche Verhältnismäßigkeitsprüfung des SächsVerfGH, Entscheidung vom 23.1.1997 ("Reiten im Walde"), LKV 1997, 251 (252).

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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oder Mittel eine Vor/rage der Verhältnismäßigkeitskontrolle, die von der eigentlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterscheiden ist57 •

bb) Erforderlichkeit Die Maßnahme muss weiter erforderlich, also das mildeste Mittel zur Erreichung des verfolgten Ziels sein. Der Grundsatz der Erforderlichkeit58 hat die Aufgabe, aus der Gruppe der geeigneten Mittel das herauszufinden, welches die individuelle Freiheit am wenigsten beschränkt59 • Während frühere Regelungen noch nicht zu einer umfassenden Prüfung aller in Frage kommenden Alternativen verpflichteten6o, besteht heute eine Pflicht zur umfassenden Prüfung erkennbarer Alternativen61 . Das Mittel mit der jeweils geringsten Beeinträchtigung des individuellen Freiheitsbereichs muss allerdings nur dann gewählt werden, wenn es den angestrebten Erfolg ebenso wirksam wie die eingriffsintensiveren Mittel erreichen kann 62. Maßnahmen, die zwar schonender fiir die Freiheitssphäre des Einzelnen sind, aber einen geringeren Wirkungsgrad bei der Erreichung des angestrebten Ziels aufweisen, scheiden somit als "mildere Mittel" i.S.d. Erforderlichkeitsgrundsatzes aus. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach Gesetze 63 oder Entscheidungen64 unter Hinweis auf mildere Alternativen, die den Erfolg ebenso gut erreichen konnten, aufgehoben. Im Verwaltungsrecht kommen als mildere Mittel häufig Auflagen oder Nutzungsbeschränkungen in Betracht, die einem totalen Verbot oder einer totalen Beseitigungsverfiigung vorzuziehen sind65 • Die durch 57 Dazu, dass der PfÜfungspunkt des "zulässigen Ziels" systematisch nicht dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zuzuordnen ist, 3. Teil, II., 3., b), aa), (2). 58 Synonym werden auch die Begriffe der Notwendigkeit, des Interventionsminimums, des Grundsatzes des geringsten/geringstmöglichen Eingriffs, des mildesten oder schonendsten Mittels verwendet, vgl. dazu Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 102. 59 Vgl. etwa Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 320/337. 60 Zu § 41 Abs. 2 PVG, nach dem nur "thunlichst" die mildesten Mittel zu wählen waren, Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 339. 61 Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 320/337. 62 Vgl. BVerfGE 30, 292 (316): Erforderlichkeit ist zu bejahen, "wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fohlbar einschränkendes Mittel hätte wählen können . .. 63 Vgl. etwa das sog. "Puffreisurteil", in dem ein Verkehrsverbot für Puffreis wegen der Möglichkeit der Kenn-zeichnung abgelehnt wurde, BVerfGE 53, 135 (l45ff.); weitere Beispiele bei Stelzer, Verhältnismäßigkeit, S. 98. 64 V gl. etwa zum Entzug einer Anwaltszulassung wegen eines fehlenden Praxisschilds, die deshalb "unverhältnismäßig (war), weil es schonendere Mittel gab, die Anbringung des Praxisschildes zu erzwingen" BVerfGE 72, 26 (33); weitere Beispiele bei Grabitz, AöR 1983, 98 (1983), 568 (574 f.). 65 Weitere Beispiele bei Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 338.

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

den Grundsatz der Erforderlichkeit bewirkte Beschränkung staatlicher Interventionen im Grundrechtsbereich auf das Minimum66 ist zurecht als der Kern der Verhältnismäßigkeitsprüfung bezeichnet worden67 •

cc) Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) Abschließend ist die Maßnahme darauf zu untersuchen, ob die bewirkte Beeinträchtigung individueller Rechte erkennbar außer Verhältnis zum angestrebten Erfolg steht68 • Die Rechtsprechung prüft hier, ob bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist. Die auch als Grundsatz der Angemessenheit oder Proportionalitär bezeichnete Güterabwägung soll sicherstellen, dass das jeweilige Ziel nicht um jeden Preis 70 verwirklicht wird, sondern eine vernünftige Relation zwischen Schutzzweck und Eingriffsfolgen gewahrt bleibt. Als unangemessen wurde etwa der Schusswaffengebrauch bei geringen Gefahren 7 \ der Entzug einer Bauerlaubnis bei nur formeller Baurechtswidrigkeit 72 , die Auflösung einer Versammlung wegen einer unfriedlichen Minderheie 3 oder die Liquorentnahme bei einer Bagatellstraftae4 angesehen. Gerade in der Prüfung des Teilgrundsatzes der Angemessenheit manifestiert sich in zweierlei Hinsicht die besondere Struktur des deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes : Einerseits wird im deutschen Recht stets ein Eingriff in ein Individualinteresse mit einem staatlichen Schutzzweck kontrastiert. Anders als in anderen 66 Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 337 prägte den Begriff des "Interventionsminimums"; ihm folgend Ossenbühl, in: Jura 1997, 617 (618). 67 Vgl. Götz, Rn. 337; ihm folgend Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 176. 68 V gl. dazu Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 341; Ossenbühl, in: Jura 1997, S. 617 (619); Stern, Staatsrecht III/2, S. 782. 69 V gl. Ossenbühl, in: Jura 1997, S. 617 (619); Stern, Staatsrecht III/2, S. 782; Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 102; Z.T. wird flir die dritte Prüfungsstufe auch der Begriff der Verhältnismäßigkeit oder des Übermaßverbotes gebraucht. Diese Gleichsetzung des Teilprinzips mit dem Gesamtprinzip hat sich wegen der terminologischen Unklarheit jedoch nicht durchgesetzt, vgl. dazu schon oben, Einleitung, 11. 2. 70 Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 341. 71 Vgl. dazu Gölz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 344/408. 72 BVerwGE 3, 351; dazu Gölz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 344; Ossenbühl, in: Jura 1997, 617 (619). 73 Vgl. BVerfGE 69,315. 74 BVerfGE 16, 194 (201 ff.).

II. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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Rechtsordnungen, in denen eine "multipolare7s " oder "globale" Interessenabwägung vorherrschend ist, wird die Abwägung streng auf das dialektische Verhältnis zwischen Grundrecht und Allgemeininteresse beschränkt. Wegen dieser Ausformung als "Grundrechts-Verhältnismäßigkeit" ist etwa eine Gegenüberstellung zweier staatlicher Interessen ausgeschlossen. Andererseits unterscheidet sich der deutsche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch dadurch von den meisten anderen europäischen Rechtssystemen, dass die Angemessenheitsprüfung fester Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist. Die drei Stufen werden im deutschen Recht nicht alternativ 76, sondern kumulativ als Prüfungspunkte bei Grundrechtseingriffen herangezogen. Der Urteilsstil von Verfassungsgericht und Verwaltungsgericht zeichnet sich dabei durch eine sehr sorgfältige Analyse und Abwägung der beteiligten Interessen aus 77 , die weit über die knappen und eher pauschalen Feststellungen der Gerichte anderer Länder hinausgeht.

c) Praktische Bedeutung

aa) Kontrolldichte Eine Besonderheit des deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besteht in der hohen Kontrolldichte der richterlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle, die über das Kontrollniveau der übrigen Mitgliedstaaten hinausgeht.

(1) Intensive Verhältnismäßigkeitskontrolle als Regelfall

Auch wenn die Verhältnismäßigkeit nicht immer mit maximaler Strenge kontrolliert wird, leiten die Gerichte aus dem in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Rechtsschutzgebot einen richterlichen Kontrollauftrag ab, der sie berechtigt, behördliche Entscheidungen - soweit den Behörden nicht ausnahmsweise ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist - grundsätzlich voll auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu kontrollieren. Trotz vereinzelter Kritik 78 besteht in Deutschland seit langem ein breiter Konsens über die Zulässigkeit der richterlichen 75 Zur nicht an die individuellen Rechte geknüpften Verhältnismäßigkeitsprüfung im Gemeinschaftsrecht unten 3. Teil, III., I., a), aa). 76 Vgl. etwa zur Rechtslage in Frankreich oder im Rahmen der EMRK, wo eine dreistufige Prüfung nur in Ausnahmefällen vorzufinden ist, unten, 1. Teil, II., 16. 77 Vgl. etwa das sog. "G IO-Urteil", BVerfGE 67,157 (175). 78 Vgl. etwa Steiner, BayVBI. 1997, Beiheft, S. II; Badura, in: Bachof-FS, S. 169 ff.; Smeddinck, DÖV 1998,370 (374); Bertrams, in: Stem-FS, S. 1027.

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Kontrolle wertender Entscheidungen. Dementsprechend finden sich in keinem Land Europas so viele Urteile, in denen Gesetze mit z.T. erheblichen Konsequenzen rur unverhältnismäßig erklärt wurden; in keinem Land spielt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der täglichen Entscheidungspraxis der Verwaltung eine so große Rolle 79 • Es gehört nicht nur zum ,juristischen Alltag", dass Verfassungsrichter Gesetze wegen des Vorwurfs der "Unverhältnismäßigkeit" aufheben; der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist auch in der täglichen Entscheidungspraxis der einfachen Gerichte von großer Bedeutung8o •

(2) Grenzen der umfassenden Verhältnismäßigkeitskontrolle

Die hohe Kontrolldichte ist dabei nicht eine "natürliche Folge" des hohen formalen Differenzierungsgrades des deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dies zeigt sich schon daran, dass der Verwaltung und dem Gesetzgeber bei jedem der drei Teilgrundsätze gewisse Einschätzungsspielräume eingeräumt werden8 ). So überprüfen die Gerichte bei der Eignungsprüfung lediglich, ob zum Zeitpunkt der Entscheidung und unter Zugrundelegung der damals erreichbaren Kenntnisse die Maßnahme "schlechthin ungeeignet" war82 • Dementsprechend scheiterten bislang nur eine sehr geringe Zahl hoheitlicher Maßnahmen am Kriterium der Geeignetheit83 . Auch bei der Erforderlichkeitsprüfung ist die Frage nach der gleichen Wirksamkeit eines Mittels - gerade bei Maßnahmen des Gesetzgebers - nicht immer eindeutig zu beantworten. Das Bundesverfassungsgericht84 ruhrte dazu aus:

"Nur wenn sich eindeutig feststellen läßt, daß andere weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen, kann die gesetzliche Regelung übermäßig belastend und deshalb verfassungswidrig sein".

Auch bei der Angemessenheitsprüfung wird die Maßnahme nicht auf einen positiven oder negativen "Gesamtsaldo", sondern nur daraufhin überprüft, ob

Vgl. dazu Grabitz, AöR 1983,98 (1983), 568 (612 ff.). Vgl. zur großen praktischen Bedeutung und hohen Kontrolldichte der deutschen Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung im europäischen Vergleich auch de Burca, in: YEL 1993, 105 (110); Xynopoulos, Proportionnalite, S. 194; Schwarze, Verwaltungsrecht II, S. 669. Oeter, in: Frowein: Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, S. 266 (276); Hälscheidt, EuR 2001, 376 (393). 8\ Zu den Grenzen der Bestimmtheit des Verhältnismäßigkeitsbegriffs vgl. unten, 2. Teil, H., 3., b). 82 BVerfGE 16, 1477(181); 19, 119 (l26f.): .. (..)objektivuntauglich". 83 Vgl. die Nachweise bei Stern, Staatsrecht IIII2, S. 777. 84 BVerfGE 12,232 (244 f.). 79

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11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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der Eingriff in die individuelle Freiheit die Grenze des Zumutbaren überschritten hat8s • Wie bereits erwähnt, gibt es zudem auch in Deutschland Bereiche, in denen die Verhältnismäßigkeitskontrolle keine Anwendung fmdet 86 oder die Kontrolldichte - wie etwa bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen87 - erheblich reduziert ist. Auch das detaillierte dreistufige Prüfungsschema wird nicht in allen Entscheidungen eingehalten, sondern gelegentlich durch eine pauschale Prüfung der Verhältnismäßigkeit ersetzt88 • bb) Der Rang des Verhältnismäßigkeitsprinzips Auch wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an keiner Stelle des Grundgesetzes ausdrücklich genannt ist, wird sein Rang einer Grundnorm mit Verfassungsrang nach vierzig Jahren Verhältnismäßigkeitsjudikatur nicht mehr bestritten89 • Nachdem sich zahlreiche andere Begründungsversuche nicht durchsetzen konnten90 , ist auch die Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem "Wesen der Grundrechte" heute allgemein akzeptiert91 • Die - nicht in allen europäischen Ländern vorhandene 92 - klare Normenhierarchie des deutschen 85 BVerfGE 9,338 (345); 13,97 (113); 13,230 (235); 15,226 (234); 16,286 (297); 18,353 (362); 22, I (20); 26, 215 (226); 49, 24 (58); 67,157 (178); 77, 84 (111); 81, 70 (92); 83, 1 (19). Deutlich in der Entscheidung des SächsVerfGH vom 23.1.1997 ("Reiten im Walde"), LKV 1997,251 (252). Vgl. zum Zumutbarkeitskriterium auch Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 75. 86 Vgl. etwa zur Weigerung des Verfassungsgerichts, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsorgansationsrecht anzuwenden, oben, a). 87 V gl. zuletzt etwa den Beschluss des BVerfG zur Einführung des Euro, EuGRZ 1998, 164 (170 ff.); weitere Beispiele einer eingeschränkten Verhältnismäßigkeitskontrolle bei Schneider, in: BVerfG-FS, S. 390 (392 ff.). 88 V gl. etwa die pauschalen Verweisungen auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in BVerfGE 76, 256 (359); 80,244 (255); 80, 286 (295); 80, 367 (380). Dazu auch Stern, Staatsrecht 1II/2, S. 810. 89 Zum Verfassungsrang des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch Grabitz, AöR 98 (1983),568(570); Stern, Staatsrecht, Band III/2, § 84 I 5, S. 770; Ossenbühl, LercheFS, S. 151, spricht - nicht ohne Ironie - von einem "Obermaßstab" der Verfassung. V gl. auch § 4 Abs. 1 Satz 1 NGefAG. 90 V gl. zu den Versuchen einer Herleitung aus Art. 1 Abs. I oder 19 Abs. 2 GG und anderen Vorschriften eingehend Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 28 ff. 91 Stern, Staatsrecht III/2, S. 771; v. Münch, in: v. MünchlKunig, Vorb. Art. 1-19, Rn. 55. 92 Vgl. zum Faktor der Normenhierarchie für die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Xynopoulos, Proportionnalite, S. 114. Zu Unterschieden in der Normenhierarchie der Mitgliedstaaten vgl. Reiners, Normenhierarchie, S. 128 ff. Vgl. auch die Forderung des Europäischen Parlaments zur Schaffung einer klareren Normenhierarchie auf Gemeinschaftsebene, ABI. 1997, C 167, S. 134.

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I. Teil: VerhäItnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Rechts bewirkt, dass sich alle grundrechtsrelevanten hoheitlichen Maßnahmen einschließlich der Gesetze am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen müssen.

cc) Funktionen Der Zweck des deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes liegt im Schutz der individuellen Freiheitssphäre93 . Der deutsche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird daher zurecht als "Grundrechts-Verhältnismäßigkeit" beschrieben94 . Als sog. "Schranken-Schranke" dient er dazu, Eingriffe in die Grundrechte durch den Staat zu begrenzen. Die Betonung dieser Schutzfunktion als konstitutives Merkmal des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist eine Besonderheit der deutschen Verhältnismäßigkeitsdogmatik. Dabei hat die dominante Stellung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Prüfung von Grundrechtsbeschränkungen den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts praktisch zum "Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes" gewandelt95 . Die Verhältnismäßigkeit kommt nicht nur bei der Begrenzung übermäßiger Eingriffe zum Tragen. Auch bei den staatlichen Schutzpflichten zieht das Bundesverfassungsgericht seit seiner Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch zur Bestimmung der jeweils erforderlichen Maßnahmen das Verhältnismäßigkeitsprinzip heran und gibt ihm so die Funktion eines Untermaßverbotes 96 . Während er in den bislang geschilderten Fällen als Rechtmäßigkeitsmaßstab für hoheitliche Maßnahmen diente, spielt der "ubiquitäre,,97 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch als Auslegungsmaxime eine große Rolle, indem er bei offenen Rechtsnormen aller Art als Richtschnur flir die Auslegung dient98 • Bei gesetzlichen Abwägungsgeboten ist er immer dann zu berücksichtigen, wenn individuelle Rechtspositionen auf dem Spiel stehen99 • Eine kompetenzielle Funktion kommt ihm dagegen bislang nicht zu !00.

Vgl. etwa BVerfGE 81, 310 (338). Für das Gebiet des Polizeirechts etwa Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 323. 95 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 314. 96 Zur umstrittenen Frage, ob dem von Götz, Handbuch des Staatsrechts, Band 3, § 79 Rn.30, und Canaris, AcP 184 (1984), 201 (228) propagierten Untermaßverbot eine eigenständiger rechtlicher Gehalt zukommt vgl. unten, 3. Teil., I1I., 1., a), bb), (I), (d). 97 Ossenbühl, Jura 1997,617 (620). 98 Dazu ausführlich Ossenbühl, Jura 1997,617 (620); Grabitz, AöR 98 (1983), (611); Stein, in: Madlener, Landesberichte zum X. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung, S. 273 (287 ff.). 99 Vgl. zur äußerst umstrittenen Verbindung von Abwägung und Verhältnismäßigkeit etwa Schlink: Abwägung im Verfassungsrecht, 127 ff.; Hubmann, Wertung und Abwä93

94

H. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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d) Würdigung

Seine große praktische Bedeutung verdankt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht nur der Ausrichtung des deutschen Verwaltungsrechts auf das subjektive Recht, sondern auch der Existenz einer starken Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Unter Berufung auf Art. 19 IV GG sind die Gerichte nicht bereit, die Verhältnismäßigkeitskontrolle von Maßnahmen der Exekutive und der Legislative aus Rücksicht auf deren Entscheidungsspielräume grundlegend einzuschränken. Das deutsche Modell der Verhltltnismäßigkeitskontrolle, das vielfach als "Vorbild" der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des EuGH bezeichnet wurde IOI , unterscheidet sich damit von den Verhältnismäßigkeitskonzepten anderer Mitgliedstaaten.

2. Frankreich a) Anwendungsbereich: " Verdeckte" Verhältnismäßigkeitskontrolle

aa) Fehlen eines anerkannten Rechtsprinzips Trotz der großen Bedeutung allgemeiner Rechtsgrundsätze im französischen Recht I02 sucht man in Urteilen und Gesetzestexten ein "principe de proportionnalite" bis heute zumeist vergebens. Diese Tatsache kontrastiert in auffälliger Weise mit der seit etwa zwanzig Jahren I03 zu verzeichnenden intensiven wisgung im Recht, S. 145 ff.; Schneider, Güterabwägung, S. 48 ff; Bartlsperger, in: Erbguth u.a., Abwägung im Recht, S. 79 ff.; Ossenbühl, in: S. 25 (29 ff.); Stern, Staatsrecht IIII2, S. 814 ff. 100 Vgl. aber Brenner, DVBI. 1998,409, der es für möglich hält, das das Vorbild der EG hier einen neuen Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzip im Verfassungsrecht erschließt. 101 V gl. Sandulli, Rivista trimestrale di diritto pubblico 1995, 329 (351); Georgiadou, ARSP 1995,532 (533); Isaac, 152; - Akehurst, BYIL 52 (1981), 29 (38); Usher, ELR 75/76,363; Lugato, DCSI 1991,67 (68), unter Hinweis auf Art. 20 III GG; GA Jacobs, in: Emiliou, Proportionality, xi; Ziller, AJDA 1996, 185 (186); Arnull, General Princip1es of EEC law, 4; Biancharelli, Proportionnalite, 151 (152); Cripps, IJGLS 1994, 213 (217); Pollak, Verhältnismäßigkeit, S.122; Tridimas, Irish Jurist 31 (1996), 83; Schwarze, Verwaltungsrecht H, S. 832 (Fn. 560); Heinsohn, Verhältnismäßigkeit, S. 75; Emiliou, Proportionality, S. 129; Huber, Integration, § 23, Rn. 7; Gautron, Droit europeen, S. 127, Emmerich-Fritsche, Verhältnismäßigkeit, S. 140. 102 V gl. Krech, Die Theorie der allgemeinen Rechtsgrundsätze im französischen öffentlichen Recht, S. 15 ff; David, in: Tipke-FS, S. 511 (512); Rivero/Waline, Droit administratif, Rn. 73 ff. m.w.N. 103 Angestoßen wurde die Debatte im Jahr 1974 von Braibant, in: Melanges Waline, S. 297 ff.; vgl. auch Mescheriakoff, AJDA 1976, S. 596 (597); Costa, AJDA 1988, S. 434 ff; sowie die Dissertationen von Mekhantar, Le contröle juridictionnel de la

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

senschaftlichen Auseinandersetzung mit der Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips: So enthalten heute die meisten Lehrbücher Ausführungen zum "principe de proportionnalite,,104, während noch zu Beginn der neunziger Jahre ein entsprechendes Stichwort fehlte lO5 • Diese Anerkennung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit durch die französische Literatur lO6 wird von den Obergerichten allerdings weitgehend ignoriert, die es bisher vermieden, ausdrücklich von einem "principe de proportionnalite" zu sprechen lO7 • Es lässt sich jedoch zeigen, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in zunehmendem Maße als Prüfungs- und Rechtmäßigkeitsmaßstab herangezogen wird - wenn auch unter dem "Deckmantel" anderer Begriffe. bb) Traditionelle Skepsis gegenüber der Kontrolle des Verwaltungsermessens Die Zurückhaltung französischer Gerichte beim Umgang mit dem Begriff der Verhältnismäßigkeit wird verständlicher, wenn man sich die große Bedeutung des Grundsatzes der Gewaltenteilung für das französische Verwaltungsrechtssystem vergegenwärtigt. Das schon in Zeiten der Französischen Revolution für den Richter festgeschriebene Verbot, in die geschützte Sphäre der Verwaltung einzudringen lO8 , wirkt sich bis heute durch eine große Zurückhaltung bei der Kontrolle von hoheitlichen Entscheidungen durch die Verwalproportionnalite dans I' action administrative unilaterale (1990); Philippe, Le contröle de proportionnalite dans les jurisprudences constitutionnelle et administrative fran.yaises, (1989), Xynopou/os, Le contröle de proportionnalite dans le contentieux de la constitutionnalite et de la legalite en France, Allemagne et Angleterre (1995). 104 Vgl. nur Laubadere, Droit administratif, Rn. 900 bis (eingefügt durch die 15. Auflage von 1995); RiverolWaline, Droit administratif, Rn 265-1, 2 (1998); Chapus, Droit administratif, Rn. 897; Vede/, Droit administratif, S. 324. 105 Vgl. dazu die Nachweise bei Albert, Principe de proportionnalite, S 104; auch im Standardwerk von DuhamellMeny, Dictionnaire constitutionnel von 1992 fehlt noch ein entsprechendes Stichwort. 106 Vgl. Laubadere, Droit administratif, Rn. 900; RiverolWaline, Droit administratif, Rn 265-1,2 (1998); Chapus, Droit administratif, Rn. 897; Vedel, Droit administratif, S. 324; selbst Fromont, AJDA 1995, 1556 (163), der zwar die Existenz eines "allgemeinen Prinzips der Verhältnismäßigkeit" ablehnt, erkennt an, dass ein großer Teil dr beueren Rechtsprechung zur ermessenskontrolle auf der Idee der Verhältnismäßigkeit basiert ("inconstestab1ement fondee sur I'idee de la proportionnalite"). Ablehnend jedoch David, in: Tipke-FS, S. 511 (513). 107 Mekhantar, Proportionnalite, S. 378, spricht von einer "amnesiejuridietionnelle"; Philippe, Proportionnalite, S. 447, spricht von einer "versteckten" Anwendung. 108 Vgl. Art. 13 des Gesetzes vom 16.08.1790: "Lesfonetionesjudieiaires sont distinetes et demeureront toujours separees des fonetions administratives." (s. AubylDrago, Traite administratif, Nr. 380). Dazu Xynopoulos, Proportionna1ite, S. 26.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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tungsgerichtsbarkeit aus. Das modeme französische Verwaltungsrecht ist jedoch durch die zunehmende Erosion des Dogmas der strikten Gewaltenteilung und eine wachsende Kontrolle hoheitlicher Ermessensentscheidungen gekennzeichnet, bei der die Prüfung der Verhältnismäßigkeit eine wichtige Rolle spielt.

ce) Elemente einer Verhältnismäßigkeitskontrolle im französischen Recht Durch den Einfluss der Philosophie der Aufklärung und der Theorie individueller Grundrechte ist Frankreich auf besondere Weise mit der Entstehung des Verhältnismäßigkeitsdenkens verbunden lO9 • Wesentlicher Ausgangspunkt der französischen Rechtsprechung zur Verhältnismäßigkeit war eine Vorschrift der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Die in der Erklärung von 1789 enthaltene Beschränkung gesetzlicher Strafvorschriften auf das "strikt notwendige,,11O ist nicht nur eine der ersten Positivierungen der Verhältnismäßigkeit überhaupt. Französische Gerichte nehmen bis heute auf diese "Generalnorm" des Art. 8 der Menschenrechteerklärung Bezug, wenn sie die Rechtrnäßigkeit von Sanktionen der Verwaltung überprüfen 111.

(1) Die Rechtsprechung des Conseil d 'Etat zur Verhältnismäßigkeit

Außerhalb des Sanktionenrechts zog der Conseil d'Etat den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erstmals im Urteil Olivier aus dem Jahre 1909 heran ll2 . In diesem Urteil, das die gesetzlich garantierte ll3 Religionsfreiheit betraf, erklärte das Gericht das generelle Verbot von Begräbnisfeiem unter freiem Himmel für rechtswidrig, weil es die Intention des Gesetzgebers gewesen sei, die traditio-

109 Vgl. zu den Theorien Rousseaus und Montesquieus zur Verhältnismäßigkeit oben, 1. Teil, I., 2., a). 110 Art. 8 DDH: "La loi ne doit etablir que des peines strictement et evidemment necessaires (. .) ... 111 Vgl. dazu den folgenden Abschnitt sowie Xynopoulos, Proportionnalite, S. 318; Philippe, Proportionnalite, S. 497; Moderne, RFD 1997, 1 (13). 112 CE 19.02.1909, Abbe Olivier, Receuil S. 181; vgl. dazu etwa Fromont, AJDA 1995, 156 (161); Xynopoulos, Proportionnalite, S. 26; Galmot, in: La tutela giurisdizionale dei diritti nel sistema comunitario, S. 20 (25). 113 Vgl. das im Urteil zitierte Gesetz vom 09.12.1905, das freie Religionsausübung unter dem Vorbehalt der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung garantierte.

5 Koch

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

neBen religiösen Bräuche nicht mehr zu beeinträchtigen, als unbedingt notwendig, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten 114. Das Urteil Benjamin aus dem Jahr 1933 schließlich l15 , in dem der Conseil d'Etat ein Versammlungsverbot des Bürgermeisters von Nevers aufhob, war nicht nur eine Leitentscheidung in Bezug auf die richterliche Ermessenskontrolle 116, sondern auch im Hinblick auf die Etablierung der richterlichen VerhältnisrnäßigkeitskontroBe: Das Gericht begründete die Ablehnung eines Versammlungsverbotes damit, dass die bloße Wahrscheinlichkeit von Störungen nicht ein totales Verbot der Versammlung rechtfertigen könne, weil die Sicherheit auch mit anderen polizeilichen Mitteln gewährleistet werden könne ll7 . Bei der hier vorgenommenen Notwendigkeitsprüfung verwies das Gericht erstmals auf konkrete mildere Mittel. Die Rechtsprechung zu übermäßigen oder unnötigen hoheitlichen Maßnahmen beschränkt sich heute nicht mehr auf den Bereich des Straf oder Polizeirechts JJ8, sondern durchdringt immer mehr Gebiete des öffentlichen Rechts 119. Im Beamtenrecht werden etwa Disziplinarmaßnahmen von den Verwaltungsgerichten auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft und ggf. aufgehoben 120. Eingang gefunden hat die Verhältnismäßigkeitsprüfung auch das in Frankreich in weiten Teilen vom öffentlichen Recht durchdrungene Arbeitsrecht l2l . So hat der Conseil d'Etat in zahlreichen Entscheidungen das Streikrecht unter den Vorbehalt

114 Vgl. a.a.O.: " .. Tintention manifeste du !egislateur a ete de respecter autant que possible les habitudes et les traditions locales et de n 'y porter atteinte que dans la mesure strictement neccessaire au maintien". 115 CE vom 19.05.1933, Benjamin, Receuil S. 541. 116 Vgl. Costa, AJDA 1988,434 (435); Fromont, AJDA 1995, 156 (162); Xynopoulos, Prportionnalite, S. 62; Schlette, Kontrolle von Ermessensakten, S. 219 ff.; Schmitz, Grundrechtsschutz, S. 218 ff. II? Vgl. a.a.O.: " .. .l'eventualite des troubles, (..), ne presentait pas uns gravite tel qu 'il n 'ait pu, sans interdire la conference, maintenir {'ordre en edictant les mesures de police qu 'illui appartenait de prendre. " 118 Noch 1989 war das Polizeirecht das Hauptanwendungsgebiet der Verhältnismäßigkeit, vgl. ausftihrlich dazu Schmitz, Grundrechtsschutz, S. 240 ff.; Lerche, in: Frowein: Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, S. I (18 f.); Knaub, in: Burmeister, Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, S. 127 (144). 119 Vgl. zuletzt Schwarze, DVBI. 1999,261 (2640; Xynopoulos, Proportionnalite, S. 63, spricht von einer "neuen Modeerscheinung", Fromont, AJDA 1995, S. 156, von einer "renaissance", Philippe, Proportionnalite, S. 498 von einer "Entdeckung" der Verwaltungsrechtsdogmatik der letzten Jahre. 120 Vgl. dazu die Nachweise bei Xynopoulos, Proportionnalite, S. 94 ff., Philippe, Proportionnalite, S. 369 ff. oder Teitgen, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S.57 ff. 121 Vgl. dazu etwa Philippe, Proportionnalite, S. 89; Fromont, AJDA 1995, S. 156 (162).

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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"notwendiger" Beschränkungen aus Gründen des "ordre public" gestellt 122, Einschränkungen von sonstigen Arbeitnehmerrechten aus Gründen der betrieblichen Sicherheit als unverhältnismäßig verworfen 123 und den Gedanken der Verhältnismäßigkeit auch im Kündigungsschutzrecht herangezogen 124. Im Steuerrecht finden sich zahlreiche Entscheidungen, in denen Kautionen oder Geldbußen für rechtswidrig erklärt wurden, weil sie als unverhältnismäßig hoch angesehen wurden 125 • Im Wettbewerbsrecht wird nicht nur die Notwendigkeit von Sanktionen 126, sondern auch von Vertriebsbeschränkungen und sonstigen Wettbewerbsbehinderungen 127 überprüft. Wenn der Conseil d'Etat im Bau- und Planungsrecht einen "maßvollen" Ausgleich der verschiedenen Interessen fordert und die negativen Auswirkungen ins Verhältnis zu den bezweckten Zielen setzt J28 , so zeigt sich die Bedeutung der Verhältnismäßigkeit auch in diesem Rechtsgebiet, wo sie nicht zuletzt der größtmöglichen Effektivierung des Eigentumsschutzes dient 129. Auf dem Gebiet des einstweiligen Rechtsschutzes spricht der Conseil von der "Notwendigkeit" einstweiliger Maßnahmen und ermittelt diese durch eine Güterabwägung J3 o. Erwähnenswert scheint im Übrigen der europarechtliche Einfluss auf die Rechtsprechung des Conseil d'Etat, der sich insbesondere bei grundrechtsrelevanten Urteilen zunehmend auf die Europäische Menschenrechtskonvention

122 Vgl. CE vom 07.08.1950, Dehaene, Rec. S. 426; CE vom 28.11.1958, Sieur Lepouse, Rec. S. 596. 123 V gl. etwa CE vom 01.02.1980, Peintures Corona, Rec. S. 59. Dies Rechtsprechung hat schließlich ihren Niederschlag im Gesetz Nr. 82.689 vom 04.08.1982 zur inneren Verfassung von Unternehmen gefunden. 124 Vgl. etwa zur Kündigung eines Betriebsratsmitglieds CE vom 05.05.1976, SAFER d'Auvergne, Rec. S. 232. 125 Vgl. zu "exzessiven" Kautionen etwa CE vom 06.01.1993, Bonnnet, RJF 1993, 356. Zur Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Steuerrecht ausführlich David, in: Tipke-FS, S. 511 (526 ff.). Im französischen Recht wird der Begriff der Verhältnismäßigkeit aber auch oft als Ausdruck des Prinzips der Belastungsgleichheit verwendet (Phillipe, S. 318 ff.), das dogmatisch von der Verhältnismäßigkeit zu unterscheiden ist. 126 Dazu Azema, Le principe de proportionnalite, 177 (181). 127 Vgl. dazu auch Art. 7 ordonnance NI. 86.1243 vom 01.12.1986, der (in Anlehnung an Art. 81 EG) Vertriebs beschränkungen nur zulässt, soweit sie für eine adäquate Verteilung notwendig sind. 128 Dazu auch Xynopoulos, Proportionnalite, S. 101. Philippe, Proportionnalite, S. 288. Zu den - teilweise von der Literatur bestrittenen - Parallelen der "bilan"-Technik und der Verhältnismäßigkeitsprüfung sogleich b), cc). 129 Darauf weist Philippe, S. 369, zutreffend hin. 130 Vgl. dazu Philippe, a.a.O., S. 269 f.

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

stützt l31 • In der Sache Belgacem 132 prüfte er unter Hinweis auf Art. 8 EMRK die Notwendigkeit einer Ausweisung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, und auch in zwei neueren Entscheidungen 133 zog das Gericht bei der Beurteilung von Einschränkungen der Pressefreiheit und Aspekten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Abwägungsmaßstäbe des Art. 10 EMRK heran.

(2) Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des Conseil constitutionnel

Die im Verwaltungsrecht inzwischen geläufige Verhältnismäßigkeitskontrolle fasst allmählich auch im Verfassungsrecht Fuß 134 . Dabei hat der französische Conseil constitutionnel eine nur beschränkte Normenkontrollkompetenz und darf zu erlassende Gesetze nur präventiv überprüfen 135. Mit der seit den späten siebziger Jahren intensivierten Grundrechtsprüfung 136 gewann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in den Urteilen des Conseil constitutionnel jedoch erkennbar an Bedeutung 137 • Vereinzelt erklärte der Verfassungsrat unter Bezugnahme auf Art. 8 der Menschenrechtserklärung von 1789 Gesetze für rechtswidrig 138, weil die in ihnen enthaltenen Sanktionen "offensichtlich unverhältnismäßig" seien\39. Die Anwendung der Verhältnismäßigkeit betrifft bis131 Vgl. dazu etwa Fromont, AJDA 1995, 156 (163); Chapus, Droit administratif, Rn. 897; Schwarze, in: EuR 1997, S.419-432; Schwarze, DVBI. 1999,261 (264 f.). 132 CE vom 19.04.1991 (Belgacem), Rec. S. 152 ff. l33 Vgl. CE vom 09.07.1997 (Association EKIN), AJDA 1998, 374 ff.; CE vom 28.07.1995 (Association Alexandre), Rec. S. 174 ff. 134 Ausftihrlich dazu Goesel-LeBihan, in: Revue fran~aise de droit constitutionnel 30 (1997), S. 227-267, die von einer "inzwischen klassischen Kontrollmethode " des CC spricht; Albert, Le pricipe de proportionnalite, S. 103 ff; Fromont, a.a.O., S. 166, spricht von einer "stark wachsenden Anwendung"; Savoie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa, S. 238, stellt sogar pauschal fest: "Einschränkungen (von Grundrechten) durch die Legislative dürfen nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfolgen. " Xynopoulos, Proportionnalite, S. 210, betont, zeichnet hier den "klassischen" Weg des Rechtsprinzips aus dem Verwaltungsrecht ins Verfassungsrecht nach. 135 V gl. dazu etwa Reiners, Normenhierarchie, S. 128 ff. 136 Dazu etwaXynopoulos, Proportionnalite, S. 352. m Vgl. zur Ausdehnung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf das Verfassungsrecht auch Xynopoulos, Proportionnalite, S. 210 f. sowie 360 ff.; Philippe, Proportionnalite, S. 238. 138 V gl. etwa die Überprüfung gesetzlicher Sanktionen in den Entscheidungen des CC vom 19./20.01.1981, Rec. S. 15; dazu auch Albert, Le pricipe de proportionnalite, S. 103 (107); CC vom 28.08.1989, Rec. S. 248; CC vom 20.01.1993, Rec. S. 14; CC vom 18.01.1995; in: JOvom21.01.1995. 139 Vgl. CC vom 30.12.1987, Rec. S. 63; CC vom 20.08.1993 Rec. S. 196. Das Gesetz betraf eine Strafe auf dem Gebiet des Steuerrechts, vgl. dazu David, in: Tipke-FS, S. 511 (528).

H. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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lang vor allem staatliche Sanktionen, die Grundrechte wie die Meinungsjreiheit l40 , die Freizügigkeit l41 , das Eigentum l42 _ oder das Streikrecht 143 unverhältnismäßig stark beschränken könnten. In zwei - vereinzelt gebliebenen - Fällen verwendete der Conseil dabei ausdrücklich den Begriff eines "principe de proportionnalite" 144.

(3) Positivierungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips

Art. 8 der Allgemeinen Menschemechtserklärung war nicht die einzige Keimzelle der französischen Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung. Auch in anderen Verfassungsnormen, in denen etwa von der "necessite publique" als Voraussetzung von Enteignungen 145 oder dem "contrainte necessaire,,146 für Inhaftierte die Rede ist, klingt das Verhältnismäßigkeitsprinzip an. Partielle Positivierungen finden sich im Arbeitsrecht, wo eine neuere Vorschrift die Rechtsprechung des Conseil d'Etat zur Verhältnismäßigkeit nachvollziehe 47 , in haushaltsrechtlichen Bestimmungen 148 und in vielen Vorschriften des Wettbewerbsrechts 149. Gerade bei den wettbewerbsrechtlichen Normen, die in weiten

V gl. CC, Dec. NT. 94.345, AJDA 1994, 731 ff. CC vom 09.01.1980, Rec. S. 29; CC vom 03.09.1986, Rec. S. 135. 142 CC vom 30.12.1987, Rec. S. 63. 143 CC vom 25.07.1979, Rec. S. 33. 144 Vgl. CC vom 17.01.1989, 1.0. vom 18.01.1989, S. 754 (757); CC vom 28.07.1989,1.0. vom 01.08.1989, S. 9676 (9678). 145 Vgl. Art. 17: "La proprihe hant un droit inviolable et sacre, nul ne peut en etre prive, si ce n 'est lorsque la necessite publique, tegalement constatee, l'exige evidemment, et sous la condition d'une fuste et prealable indemnite. .. 146 Vgl. Art. 9 des Verfassungs entwurfs vom 19.04.1946. 147 V gl. das Gesetz NT. 82/689 vom 04.08.1982 zur inneren Verfassung von Unternehmen, das den Stand der Rechtsprechung in Bezug auf zulässige Grundrechtsbeschränkungen wiedergibt. 148 Vgl. dazu Laubadere, Droit administratif, Rn. 900 bis. 149 Zwei typische Formulierungen finden sich etwa im Gesetz vom 31.12.1992, wo es in Art. 13 heißt: "les sanctions pecuniaires sont proportinnees a la gravite des faits reproches, l'importance du dommage (...) et la situation de l'entreprise sanctionnee." Art. 12 erlaubt: ". .. mesures provisoires, mais strictement limitees a cequi est necessaire pour faire face l'urgence . .. - vgl. dazu auch Chapus, Droit administratif, Rn. 988. Zu Art. 42 II des Gesetzes vom 30.09.1986 (Schwere zu verhängender Sanktionen) vgl. CE vom 26.7.1991, Rec. S. 298 = Al 1991, p. 911; vgl. auch Art. 7 der Verordnung NT. 86.1243 vom 01.12.1986 (nur "notwendige" Vertriebsbeschränkungen); Art. 10 derselben Verordnung (nur "unerlässliche" Wettbewerbsbehinderungen). 140 141

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Teilen den Vorschriften des EG-Vertrages nachgebildet sind, wird wiederum der Einfluss des Gemeinschaftsrechts sichtbar l50 .

b) Dogmatische Einordnung der Verhältnismäßigkeitskontrolle Die wissenschaftliche Diskussion um die Verhältnismäßigkeitskontrolle ist in Frankreich noch durch eine gewisse Unsicherheit beim Umgang mit dem Begriff der Verhältnismäßigkeit gekennzeichnet l5l . Die mangelnde Begriffsklarheit resultiert u.a. aus der sehr weit gefassten Verhältnismäßigkeitsdefinition einiger Autoren, die unter "Verhältnisrnäßigkeit" z.T. schon "jede Beziehung zwischen zwei auszugleichenden Variablen ,,152 bzw. "jede Ermessenskontrolle " verstehen 153 und so das Prinzip weitgehend konturenlos lassen.

aa) Die objektive Rechtsschutzkonzeption des französischen Verwaltungsrechts Mangels ausdrücklicher Anerkennung durch die Gerichte herrscht in der Literatur noch Uneinigkeit über die Dogmatik des "principe de proportionnalit6,,154. Zwar ist die Rechtskontrolle wegen der objektiven Rechtsschutzkonzeption des französischen Verwaltungsrechts nicht durch die Dichotomie von Allgemeininteresse und Individualrecht geprägt. Schon der Name der bedeutendsten Klageart ("recours pour exces de pouvoir" - Anfechtungsklage ) deutet aber daraufhin, dass die Gerichte im Rahmen ihrer objektiven Überprüfung auch die Frage der "übermäßigen" Machtausübung kontrollieren I55 •

ISO Dazu ausführlich Azema, Le principe de proportionnalite, 177 (181). Zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auch Schmitz, Grundrechtsschutz, S. 221. 151 Vgl. auch die Kritik von Schielte, Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich, S. 338, Fn. 631, der den Bezug, den französische Autoren zwischen einigen Urteilen und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip konstruieren "fragwürdig und gekünstelt" nennt. 152 So Philippe, Proportionnalite, S. 7. 153 Vgl. Mekhantar, Proportionnalite, S. 481, wonach jede Ermessenskontrolle ist auch letztlich auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hionausläuft. Zurecht kritisch gegenüber einem zu weitgefassten Verhältnismäßigkeitsbegriff Fromont, AJDA 1995,

S. 156 (165). 154 Dazu Schmitz, Grundrechtsschutz, S. 233 ff. ISS Auch Costa, AJDA 1988, S. 434 hält die Anfechtungsklage für das "champs

d'application naturel et privilegie du principe de proportionnalite".

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

71

Von den vier l56 im Rahmen des exces de pouvoir anerkannten Ermessensfehlern l57 werden insbesondere der "detournement de pouvoir" und die "violation de la loi" in Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gebracht. Der Aufhebungsgrund des "detournement de pouvoir", der von der französischen Literatur z.T. als "Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips ,,158 angesehen wird, betrifft allerdings keine Zweck-Mittel-Relation, sondern - analog zur deutschen Doktrin des Ermessensfehlgebrauchs - nur die Frage, ob die Motive einer Maßnahme sachfremd bzw. unzulässig waren: Wenn z.B. Maßnahmen der Gefahrenabwehr nicht aus rein fiskalischen Erwägungen getroffen werden dürfen l59 , so ist das Mittel in diesem Fall nicht unangemessen, sondern schlicht unzulässig. Somit ist die Verhältnismäßigkeitskontrolle in Frankreich der "violation de la loi" ("Gesetzesverletzung") zuzuordnen. Dieser Ermessensfehler hat in den letzten zwanzig Jahren einen tiefgreifenden Wandel erfahren; bei seiner Prüfung wird heute überwiegend auf zwei Kontrollkonzepte zurückgegriffen, den "erreur manifeste d'adequation" und die" contr6le du bi/an ".

bb) Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des "erreur manifeste d'adequation" Die in den sechziger Jahren erstmals angewandte Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen auf "offensichtliche Beurteilungsfehler" war Ausdruck einer vorsichtigen Ausweitung der gerichtlichen Ermessenskontrolle l60 . Viele Verhältnismäßigkeitsprüfungen des Conseil d'Etat, insbesondere bei Urteilen über die Rechtmäßigkeit von Sanktionen l61 , wurden unter der Überschrift des "erreur manifeste" vorgenommen l62 , weshalb die "Unverhältnismäßigkeit I63 " heute von der Literatur zu den anerkannten Rechtswidrigkeitsgründen im Rah156 Zu den vier Rechtswidrigkeitsgründen ("incompetence", "vice de forme", "detoumement de pouvoir" und "violation de la loi") im Rahmen der Anfechtungsklage vgl. etwa Rivero/Waline, Droit administratif, Rn. 252 fT. 157 Zur weit gefassten französischen Terminologie der Ermessenskontrolle vgl. Schlette, Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich, S. 95 ff. 158 So etwa von Philippe, Proportionnalite, S. 210. 159 Zu diesem klassischen beispiel des "deoumement de pouvoir" vgl. etwa Rivero/Waline, Droit administratif, Rn. 260 unter Hinweis auf das Urteil des CE vom 04.07.1928, Rec. S. 641. 160 Vgl. dazu Henry, AJDA 1979, 17 (26). 161 Vgl. etwa CE vom 30.12.1987, zum loi de finances pour 1988, J.O. 1987, p. 15763; dazu Fromont, AJDA 1995, 156 (163). 162 CE vom 09.06.1978, Rec. S. 245. 163 Oft ist auch einfach von der "inadequation manifeste" die Rede, vgl. CE vom 09.06.1978, Rec. S. 245; dazu auch Costa, AJDA 1988,434 (435).

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

men des erreur manifeste gezählt wird l64 . Die Kontrolle des erreur manifeste beschränkt sich dabei zumeist auf die lapidare Feststellung, eine Maßnahme sei "unnötig" oder "exzessiv", ohne dass eine mehrstufige Differenzierung in Eignungs-, Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung vorgenommen, die gegenüberstehenden Interessen benannt oder gar die Gründe für die Gewichtung mitgeteilt würden. Einige Autoren stehen einer zu starken Differenzierung des Verhältnismäßigkeitskonzepts grundsätzlich kritisch gegenüber und halten es nicht auf das französische Recht übertragbar l65 • Der Versuch einiger deutscher Autoren l66 , den erreur manifeste mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gleichzusetzen, kann schon angesichts der wenig differenzierten Struktur der Prüfung im Rahmen des erreur manifeste nicht überzeugen. Zudem überschneiden sich die Konzepte des erreur manifeste und der Verhältnismäßigkeit nur zum Teil. Elemente der Verhältnismäßigkeit sind nur ein Teil der Kontrolle im Rahmen des erreur manifeste, bei dem auch andere Rechtsverletzungen gerügt werden, die nach deutschem Verständnis unter andere Prinzipien - wie etwa den Gleichheitssatz - zu subsumieren wären l67 .

cc) Die umstrittene Verbindung zwischen "contröle du bilan" und Verhältnismäßigkeit Umstritten ist auch, ob die vom Conseil d'Etat entwickelte Technik der "contröle du bilan" ein Anwendungsfall des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist. Es handelt sich dabei um eine Technik der Ermessenskontrolle, die der Conseil

164 Vgl. etwa Rivero/Waline, Droit administratif, Rn. 265 ff; Mekhantar, Proportionnalite, S. 648; Laubadere, Droit administratif, Rn. 900 bis; Costa, AJDA 1988, 433 (435); Mescheriakoff, Le principe de proportionnalite, 7 (18); Vedel, Droit administratif, S. 3241706; Philippe, Proportionnalite, S. 179 f. 165 Mekhantar, Proportionnalite, S. 649 warnt ausdrücklich vor einem "Exzess" an dogmatischen "Haarspaltereien" ("exces des doctrines d'inspiration germanique"). Sein Einwand, die deutschen Begriffe der "Geeignetheit" und "Notwendigkeit" seien nicht auf das französische Vokabular übertragbar, überzeugt aber angesichts der Rechtsprechung, die Z.T. eben diese Begriffe benutzt, nicht. 166 So schlägt Schlelte, Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich, S. 334 ff., vor, das Verhältnismäßigkeitsprinzip als normative Grundlage des erreur manifeste zu betrachten. Rausch, Kontrolle von Tatsachenfeststellungen, S. 143 ist der Ansicht, die Kontrolle des erreur manifeste entspreche der Verhältnismäßigkeitskontrolle des deutschen Rechts. 167 Vgl. zu Verletzungen des Gleichheitssatzes etwa die Entscheidung CE vom 06.11.1970, A.J. S. 54, die vorschrieb, enteigneten Bauern Ersatzflächen mit ähnlich hoher Produktivität zur Verfügung zu stellen.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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in seiner Entscheidung Ville nouvelle Est für das Planungsrecht entwickelt und seitdem auf andere Rechtsgebiete übertragen hat 168. Um die erforderliche "utilite publique" eines Projekts festzustellen, hatte der Conseil d 'Etat zuvor nur abstrakt geprüft, ob ein Vorhaben "in irgendeiner Weise,,169 öffentlichen Belangen dienen konnte. Mit der steigenden Bedeutung groß angelegter Raumordnungsprojekte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensivierte der Conseil d'Etat seine Kontrolle durch die Einfiihrung der sog. "contröle du bilan cout-aventages". Bei dieser fiir das Planungsrecht entwickelten Theorie werden in einer Kosten-Nutzen-Bilanz der verfolgte Zweck und der damit verbundene Nutzen (etwa eines Bebauungsprojekts) und die mit dem Projekt einhergehenden Nachteile gegenüber gestellt und saldiert. Dabei ist nicht schon jedes Projekt mit einem negativem Saldo rechtswidrig, dessen Kosten den Nutzen überschreiten. Da eine solch strenge Kontrolle auf eine gerichtliche Zweckmäßigkeitskontrolle hinausliefe und somit dem Selbstverständnis französischer Verwaltungsgerichte massiv widerspräche, hebt der Conseil d'Etat nur dann eine Entscheidung als rechtswidrig auf, wenn die Bilanz offensichtlich negativ ist und ein offensichtliches Missverhältnis im Kosten-Nutzen-Verhältnis besteht 170. In einigen Fällen schaltet der Conseil dieser Abwägung noch eine Prüfung der Notwendigkeit der Maßnahme vor und überprüft, ob nicht weniger einschneidende Maßnahmen zum gleichen Ergebnis gefiihrt hätten 171. Hier weist die "bilan"-Technik sogar Züge einer mehrstufigen Verhältnismäßigkeitskontrolle auf und zeigt so die Nähe zum Konzept der Verhältnismäßigkeit 172 . Von vielen ausländischen Autoren wird die contr6le du bi/an daher mit der Verhältnismäßigkeitskontrolle gleichgesetzt l73 • Andere Autoren sehen die "bilan"-Technik nicht als Anwendungsfall des Verhältnismäßigkeitsprinzips an 174 • So wendet sich Fromont gegen eine solche Interpretation der theorie du bilan, weil sie nicht geschaffen worden sei, um Dazu etwa Chapus, Droit administratif, Rn. 1089 ff. Chapus, a.a.O. 170 Costa, AJDA 1988, 434 (436): Annullation nur bei einer "disproportion incontesable". 171 Vgl. etwa CE vom 16.0l.1979, Rec. S. 946; CE vom 11.03.1981, Rec. S. 770. l72 In diesem Sinne etwa Belley, in: Cahiers de Droit 1997,245 (301 ff.); Mescheriakoff, Le Principe de Proportionnalite, 7 (17); Philippe, Proportionnalite, S. 189: " ... Der exakteste Ausdruck der Verhältnismäßigkeit in Frankreich. "; Mekhantar, Proportionnalite, S. 345, der die Verbindung zur deutschen Abwägungsfehlerlehre herstellt; Vedel/Devolw!, Droit administratif, S. 324; Langavant/Rouault, Contentieux administratif, S. 240; Chapus, Droit administratif, S. 980 ff. 173 So von Bell, in: Public Law 1986, 99 ff.; Schmitz, Rechtsstaat, S. 218. S. 311; Schielte, a.a.O., S. 334 ff. Vgl. auch Autexier, in: Frowein: Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, Berlin u.a. 1993, S. 313. 174 Vgl. insbesondere Fromont, AJDA 1995, 156 (164); ihm folgend Ziller, AJDA 1996, 185 (187). 168

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

einen Ausgleich zwischen Individual- und Allgemeininteresse zu bewirken, sondern lediglich das Merkmal der "utilite publique" ausfüllen solle. Während es bei der Verhältnismäßigkeit in einer "binären"175 Gegenüberstellung von subjektiven Rechten und Allgemeininteresse um die Verteidigung individueller Interessen gehe, sei die "bilan"-Technik ein Optimierungs gebot, bei dem vielfältige Interessen, teils öffentlicher, teils privater Natur saldiert würden, um den Gesamtnutzen des Projekts zu ermitteln. Da es dem Conseil d'Etat nicht um den Schutz des Einzelnen gehe, handele es sich auch nicht um einen Anwendungsfall der Verhältnismäßigkeit. Fromont ist zuzugeben, dass nicht jede Abwägung gleich als Verhältnismäßigkeitsprüfung angesehen werden muss. Andererseits hieße es, den Begriff der Verhältnismäßigkeit zu eng zu fassen, wollte man nur dann von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung reden, wenn ein individuelles Recht durch einen hoheitlichen Eingriffbeschränkt wird. Dieses Verhältnismäßigkeitsmodell ist vor allem in denjenigen Rechtsordnungen zu finden, die ein an subjektiven Rechten orientiertes Rechtsschutzsystem haben. Auch in Rechtsordnungen mit objektiven Rechtsschutzkonzeptionen wie in Frankreich aber, bei denen es um einen "multipolaren"176, nicht den Seiten "Staat" und "Bürger" zugeordneten Interessenausgleich geht, kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Tragen kommen, indem er Beeinträchtigungen der jeweiligen - individuellen oder eben auch staatlichen - Interessen auf das Notwendige beschränkt und unverhältnismäßige Nachteile vermeidet. Dies wird gerade auch am gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz deutlich 177.

Auch der Einwand Zillers, gegen eine Zuordnung der contr6le du bilan zur Verhältnismäßigkeit spreche die Tatsache, dass bei der Bilanztechnik nicht jeder Negativsaldo gleich zur Nichtigkeit der Maßnahme führt 178 , vermag nicht zu überzeugen, denn dies ist einzig eine Frage der angelegten Kontrolldichte und, wie auch ein Blick auf den deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zeigt 179, kein konstitutives Merkmal der Verhältnismäßigkeitskontrolle. Das Verbot unverhältnismäßiger Einschränkungen der "Bilanzkontrolle" wird somit zurecht als Spielart des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angesehen l80 . 175 "Conception binaire", Fromont, a.a.O. 176 Zu den Begriffen vgl. Fromont, a.a.O.

Dazu unten, 3. Teil, III., 1., a), aa). Vgl. zu diesem Einwand Ziller, AJDA 1996, 185 (187). 179 Sie etwa die Beschränkung der Kontrolle auf "offensichtliche Unangemessenheit", 1. Teil, 11., 1., b), cc). 180 So auch Mescheriakoff, Le Principe de Proportionnalite, 7 (17), der die Verbindung zur Verhältnismäßigkeit dadurch für gegeben hält, dass bei Abwägung aller Belange die negativen Auswirkungen nicht exzessiv gegenüber dem verfolgten Ziel sein dürfen. 177 178

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

75

c) Praktische Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips

aa) Kontrolldichte Betrachtet man die ursprünglich äußerst zögerliche Haltung der französischen Gerichte gegenüber jeder Art von richterlicher Kontrolle staatlichen Handelns, so fällt auf, dass inzwischen Kontroll- und Rechtsschutzinstrumente existieren, mit denen nicht nur die formelle, sondern auch die materielle Rechtmäßigkeit einer Entscheidung und die dabei angestellten Sacherwägungen einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen werden. Traditionell werden im französischen Verwaltungsprozessrecht zwei 181 Stufen der Kontrolldichte unterschieden. Bisher beschränkte sich die Kontrolle zumeist auf eine sog. "contröle minimum", bei der lediglich überprüft wurde, ob der dem jeweiligen Gesetz zugrunde liegende Tatbestand (z.B. eine Verletzungshandlung eines Beamten) tatsächlich gegeben war. Weder die Subsumtion noch das Auswahlermessen werden hierbei einer Kontrolle unterzogen l82 . Über diese äußerst limitierte Tatsachenkontrolle hinaus geht die sog. "contröle normal", bei der auch die "qualification des faits", also die Subsumtion des Sachverhalts unter die betreffende Norm und die gewählte Rechtsfolge, kontrolliert wird l83 . Diese erweiterte Kontrolle war zunächst auf wenige Gebiete wie etwa das Polizeirecht beschränkt l84 . Mit der neueren Rechtsprechung zum erreur manifeste bzw. zur theorie du bi/an hat die praktische Bedeutung dieser ursprünglich strikten Trennung zwischen contr6le minimum und contr6le minimum aber stark abgenommen l85 . Auch in Bereichen, die bislang nur einer eingeschränkten Kontrolle i.S.d. con-

181 Vgl. Knaub, in: Burmeister, Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, S. 127 (129 ff.); von einigen wird auch eine Dreiteilung der Abstufung der Kontrolldichte in "contröle minimum, "contröle normal" und "contröle maximum" vorgeschlagen, vgl. dazu Lerche, in: Frowein: Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, S. 1 (13). 182 Rivero/Waline, Droit administratif, Rn. 265 ff.: Kontrolle nur der "exactitude des faits"; Vedel, Droit administratif, S. 611. 183 Rivero/Waline, Droit administratif, Rn. 265-1: Kontrolle auch der "qualification des faits". 184 Vgl. dazu Knaub, in: Burmeister, Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, S. 127 (129 ff.); Schmitz, Rechtsstaat, 229. 185 Zur zunehmenden Ausbreitung der "contröle normal" vgl. Flauss, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 31 (86); Mekhantar, Proportionnalite, S. 189; Rivero/Waline, a.a.O.; Costa, AJDA 1988,434 (435).

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

trole minimum unterworfen waren 186, setzt sich zunehmend die - über eine bloße Kontrolle der Tatsachenfeststellung hinausgehende - Kontrolle auf einen erreur manifeste bzw. die Anwendung der controle du bilan durch. Trotz dieser Ausbreitung der Verhältnismäßigkeitsprüfung darf nicht übersehen werden, dass die richterliche Kontrolldichte insgesamt bislang äußerst gering ist. Entscheidungen der Verwaltung werden zumeist nur auf ihre "offensichtliche" Unverhältnismäßigkeit hin untersucht 187 •• Dass der Maßstab der Offensichtlichkeit eine hohe Hürde rur die Annahme der Unverhältnismäßigkeit einer Maßnahme ist, zeigt sich daran, dass nur ein geringer Anteil der geprüften hoheitlichen Entscheidungen letztlich als unverhältnismäßig verworfen wurde l88 • Das Offensichtlichkeitskriterium dient den Gerichten offenbar als Schutz vor einer als zu ausufernd empfundene Kontrolle der Verwaltung 189 und einer Aushöhlung des Prinzips der Parlamentssouveränität l9o • Der Ermessensspielraum bleibt aber nicht stets auf Fälle evidenter und völlig offensichtlicher 191 Unverhältnismäßigkeit beschränkt 192: Vielmehr legen die Gerichte einen differenzierten Kontrollmaßstab an, der sich nach der jeweiligen Materie richtet, wobei etwa grundrechtsrelevante Normen 193 und Sanktionen im Bereich des Polizeirechts 194 strenger kontrolliert werden als der Bereich der Planungsentscheidungen 195 oder des Verfassungsrechts 196.

186 Vgl. zuletzt die Urteile CE vom 09.07.1997 (Association EKIN), AJDA 1998,374 ff.; CE vom 28.07.1995 (Association Alexandre), Rec. S. 174 ff.; CE vom 19.04.1991 (Belgacem), Rec. S. 152 f1 187 Vgl. dazu Knaub, in: Burmeister, Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, S. 127 (136). 188 Zu diesem Schluss kommt auch der den Verhältnismäßigkeitsbegriff sehr weit auslegende Philippe, Proportionnalite, S. 484; ähnlich David, in: Tipke-FS, S. 511 (522); vgl. zur im Vergleich zum deutschen Recht geringeren Kontrollichte auch Nolte, in: Frowein: Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, S. 278 (287) sowie Müller-Michaels, Eigentumsschutz, S. 225. 189 So auch Costa, AJDA 1988, 434 (436); vgl. zu dieser Kritik auch Schmitz, Rechtsstaat, S. 227 m.w.N. 190 Vgl. dazu David, in: Tipke-FS, S. 511 (522). 191 Vgl. dazu auch Boyron, in: OJLS (1992) 12, S. 237 (249), die betont, dass nicht jeder "manifeste" Irrtum ein offensichtlicher, für jedermann erkennbarer sei. 192 Dazu Rivero/Waline, Droit administratif, Rn. 265-1; Costa, AJDA 1988, 434 (437). 193 Vgl. zum Gesetz über Identitätskontrollen das Urteil des CC vom 05.08.1993, 10 vom 07.08.1993, S. 11193. 194 Schielte, Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich, S 221 vertritt sogar die Auffassung, im Polizeirecht werde eine gründlichere Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen als im deutschen Recht. 195 Philippe, Proportionnalite, S. 401. Zu den die Kontrolldichte bestimmenden Faktoren vgl. auch David, in: Tipke-FS, S. 511 (527 f.).

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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Allerdings gibt es auch heute noch zahlreiche Materien, die gänzlich von jeder richterlichen Ermessenskontrolle und damit auch von der Verhältnismäßigkeitskontrolle ausgeschlossen bleiben. Dazu zählen beispielsweise Entscheidungen der staatlichen Wirtschaftspolitik, Fragen des Beamtemechts, Gebietsreformen und Arnnestieentscheidungen 197 . Entgegen der Auffassung von Heinsohn l98 wird die Anwendung der Verhältnismäßigkeitskontrolle dagegen nicht durch die sog. "theorie des circonstances exceptionnelles" ausgeschlossen, die der Verwaltung gewisse Sonderrechte in Krisensituationen eimäumt l99 . Dass die Inanspruchnahme der "besonderen Umstände" die Überprüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht ausschließt, sondern im Gegenteil ein klassisches Feld der Verhältnismäßigkeitskontrolle ist200 , zeigte sich im Fall "Cana/", in der ein Todesurteil eines Militärgerichts trotz "außergewöhnlicher Umstände" wegen mangelnder Verhältnismäßigkeit aufgehoben wurde 201 . bb) Rang des Verhältnismäßigkeitsprinzips Da es ein von französischen Gerichten formell anerkanntes Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht gibt, hat die Rechtsprechung noch nicht zur Frage des Ranges der Verhältnismäßigkeit Stellung genommen. Schon der Rang der anerkannten "allgemeinen Rechtsprinzipien" (principes generaux du droit) ist im französischen Recht aber umstritten. Während einige Autoren202 einen Verfassungsrang ablehnen, billigen andere jedenfalls den in den Verfassungstexten angedeuteten Prinzipien Verfassungsrang ZU203 .

196 Trotz der scheinbar raschen Ausbreitung im Verfassungsrecht geht der Conseil constitutionnel bislang eher zögerlich mit dem Terminus der Verhältnismäßigkeit um und billigt zumeist einen weiten Ermessensspielraum zu, vgl. etwa David, in: Tipke-FS, S. 511 (528). Siehe dazu auch das Urteil zum Gesetz über die Verwendung der französischen Sprache, in dem der CC trotz Bezugnahme auf Art. 8 DDH die vorgesehenen hohen Strafen (bis zu 6 monate Gefängnis) ftir verhältnismäßig erklärte: CC vom 29.07.1994, AJDA 1994, 731ff. 197 DazuXynopoulos, Proportionnalite, S. 102 ff. Costa, AJDA 1988,434 (437). 198 Heinsohn, Verhältnismäßigkeit, S. 140 f, die es "befremdlich" findet, dass gerade diese Theorie oft als Anwendungsfall der Verhältnismäßigkeit angeftihrt wird. 199 Dazu ausftihrlich Schmitz, Rechtsstaat, S. 270 ff. 200 Vgl. dazu Rivero/Waline, Droit administratif, Rn 84 ff; Schlette, Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich, S 226 f; Schmitz, Rechtsstaat, S. 270. 201 CE vom 19.10.1962, Rec. S. 552 ff. 202 Chapus, Droit administratif general, S. 85: "Les principes generaux du droit ont une valeur certes supra-decrerale mais infra-legislative 203 So etwa Rivero/Waline, a.a.O., Rn. 75. H.

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Die Verpflichtungen zu verhältnismäßigem Handeln richteten sich bislang zumeist an die Exekutive 204 • Wie in anderen Ländern hat das Verhältnismäßigkeitsprinzip zwar die Schwelle vom Verwaltungs- ins Verfassungsrecht überschritten205 , wo es zunehmend Anwendung findet. Die Überprüfung von Gesetzen hat jedoch noch Ausnahmecharakter206 .Trotz einzelner Fälle, in denen der Conseil constitutionnel Gesetze wegen unverhältnismäßig harter Sanktionen für rechtswidrig erklärt hat207, erscheint es daher verfrüht, von einem Verfassungsrang des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu sprechen208 • cc) Funktionen des Verhältnismäßigkeitsprinzips Die objektive Rechtsschutzkonzeption und das Fehlen einer Individualverfassungsbeschwerde führen dazu, dass die individualschützende Funktion der Verhältnismäßigkeit in Frankreich bis heute nicht im Vordergrund steht209 • Es handelt sich vielmehr um eine objektivierte Verhältnismäßigkeitsprüfung, auf die gerechte Berücksichtigung aller beteiligter Interessen ausgerichtet ist. Diese, insbesondere bei der "bilan"-Technik zum Ausdruck kommende Funktion einer objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle ist eine der markantesten Eigenarten der französischen Verhältnismäßigkeitskontrolle.

d) Würdigung der Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips im französischen Recht

Die französische Verhältnismäßigkeitsdogmatik ist durch den überraschenden Widerspruch zwischen der weitgehenden Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch die Literatur und der Weigerung der Rechtsprechung 2lO, 204 David, in: Tipke-FS, S. 511 (533): ,,Dans la majorite des cas, le principe de proportionnalite a en France seulement une valeur tegislative(...): il s 'impose alors seulement au gouvernement et CL I 'Administration mais non au Parlement qui peut toujours l'ecarter par une disposition expresse." 205 Dazu auch Philippe, Proportionnalite, S. 210. 206 Vgl. Ziller, AJDA 1996, 185 (187). 207 Vgl. etwa die Überprüfung gesetzlicher Sanktionen in den Entscheidungen des ce vom 19./20.01.\ 981, Rec. S. 15; dazu auch Albert, Le pricipe de proportionnalite, S. 103 (107); ce vom 28.08.1989, Rec. S. 248; ce vom 20.01.\993, Rec. S. 14; ce vom 18.01.\995; in: JO vom 21.01.1995. 208 So auch David, in: Tipke-FS, S. 511 (533). 209 Durchaus kritisch dazu Philippe, Proportionnalite, S. 499. 210 Mekhantar, Proportionnalite, S. 348, beklagt in diesem Zusammenhang die durch mangelnde Transparenz entstehende Rechtsunsicherheit; vgl. auch die entsprechende Kritik von Phillipe, Proportionnalite, S. 499.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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die tatsächlich vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfungen unter emem entsprechenden Begriff förmlich anzuerkennen, geprägt. Allerdings besteht Anlass zu vermuten, dass die Rezeption des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Frankreich noch nicht abgeschlossen ist und eine förmliche Anerkennung eines allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips in Frankreich noch bevorsteht211 • Dafür spricht nicht nur die analoge Entwicklung in anderen europäischen Ländern212 , sondern auch der starke Einfluss des Europarechts auf die bisherige Entwicklung des französischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die schon jetzt ablesbaren Einflüsse des Gemeinschaftsrechts 213 und der Menschenrechtskonvention214 auf das französische Recht und nicht zuletzt der personelle Austausch zwischen europäischen Institutionen und den obersten Gerichten215 dürften rur eine wachsende Bedeutung der Verhältnismäßigkeit sorgen.

3. Großbritannien a) Anwendungsbereich: Verhältnismäßigkeit und Parlamentssouveränität

In keinem Land der EU wurde das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Kontrollinstrument der Verwaltung von Gerichten und Wissenschaft bislang so konsequent abgelehnt wie in Großbritannien216 • Britische Gerichte 217 bezeichneten 211 Die von vielen Autoren als "unmittelbar bevorstehend" bezeichnete Anerkennung war allerdings schon 1974 von Braibant, in: Melanges offerts a Marcel Waline, S. 297(298), für die nahe Zukunft ("in den nächsten zehn Jahren") vorausgesagt worden. Auch fünfzehn Jahre später wurde eine Grundsatzentscheidung des Conseil d 'Etat zur Anerkennung des "principe de proportionnalite" als "zu erwartende Entwicklung" bezeichnet, vgl. Schmitz, Rechtsstaat, S. 236. 212 Mekhantar, Proportionnalite, S. 652, weist zurecht auf die Parallele zur Entwicklung im deutschen Recht im 19. Jahrhundert hin,dazu oben I. Teil, I., 2., b). 213 Vgl. dazu Flauss, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 31 (86 f.); ders. in: Burmeister, Die verfassungsrechtliche Stellung der Verwaltung in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, S. 229 (237); Fromont, AJDA 1995, 156 (163); Ziller, AJDA 1996, 185 (186 ff.); Xynopoulos, Proportionnalite, S. 510; David, in: Tipke-FS, S. 511 (513); Everling, in: Frowein: Kontrolldichte, S. 300; Albert, Principe de Proportionnalite, S. 119ff.; Schmitz, Rechtsstaat, S. 221; Albert, Principe de proportionnalite, 122, weist auch darauf hin, dass erst vor kurzem das Gemeinschaftsrecht in den vom Conseil constitutionnel überprüften "bloc de constitutionnalite" aufgenommmen wurde, vgl. dazu auch Hecker, Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich, passim. 214 Vgl. dazu oben 2., a), cc), (1). 215 Auf die personelle Verflechtung und die daraus resultierende Öffnung des französischen Rechts für das Europarecht weist Xynopoulos, Proportionnalite, S. 509, hin. 216 Vgl. etwa vielzitierte These von Millet, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit sei eine neuartige und gefahrliche Doktrin, in der Rs. Allied Dunbar (Frank Weisinger) Ltd.

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Erfmdung des deutschen Verwaltungsrechts, die "dem britischen Rechtjremd.,218 sei. Die Ursache für das Misstrauen gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsprinzip dürfte vor allem in der historisch gewachsenen219 starken Stellung des Parlaments zu sehen, dessen Akte durch keine andere Instanz beschränkbar sind. Das Verfassungsprinzip der Parlamentssouveränität ("Sovereignity of Parliament") schließt jegliche richterliche Kontrolle von Parlaments gesetzen aus 220 • Auch die gerichtliche Kontrolle von Exekutiventscheidungen ist bislang auf ein Minimum reduziert. Allerdings widerlegt die Rechtsprechungspraxis die These, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit sei dem englischen Recht" völlig unbekannt .,221. aa) Positivierungen des Verhältnismäßigkeitsgedankens Schon die frühesten Verfassungstexte enthielten ein Verbot unverhältnismäßiger Sanktionen. So bestimmte die "Magna Charta Libertatum" von 1215, dass Strafen der Schwere des Delikts angemessen sein müssen222, und auch das in der Bill oj Rights von 1689 enthaltene Verbot exzessiver Strafen223 entfaltet bis heute als Grundregel des Common Law seine Wirkung über den Bereich des Strafrechts hinaus auch im Verwaltungsrecht224 •

v. Frank Weisinger, The Times vom 17.11.1987, S. 44; vgl. im übrigen die Nachweise bei HojJmann, in: Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 107 (110); Craig, in: Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 85 f. 217 Vgl. etwa R. vs. M.A.F.F., ex parte First City Trading, (1997) I CMLR, 250; vgl. dazu Craig, in: Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 85 (90); zur Zurückweisung von Bestrebungen, eine Verhältnismäßigkeitskontrolle im britischen Recht zu etablieren auch Boyron, in: OJLS (1992) 12, S. 237 ff. 218 Vgl etwa Jacobs, in Emiliou, Proportionality, S. XI: ..... english courts (..) rejected it as an alien notion. " 219 Zum Kampf um die Begrenzung der Macht der Krone und der Entwicklung der Doktrin der Parlamentssouveränität vgl. etwa Riedel, Kontrolle der Verwaltung im englischen Rechtssystem, S. 50 ff. 220 Vgl. Bradley, in: Jowell, Jeffrey/Oliver, Dawn, The Changing Constitution, S. 79 (81 ff.); Spoerr, in: Verwaltungsarchiv 82 (1991), 25 (30). 221 So Millet, in der Rs. Allied Dunbar Ltd. v. Frank Weisinger, The Times vom 17.11.1987, S. 44. 222 .. Imprisonment ought always to be accordingly to the quality oJ the ojJense ", vgl. Dennewitz, Verfassungen, Bd. I, S. 37. 223 Sec. 2 Chapter 2 der Bill ofRights verbietet u.a. "excessive fines" und "cruell and unusuall punishment", vgl. den Abdruck bei Dennewitz, a.a.O., S. 42; vgl. dazu auch JowelllLester, in: Jowell/Oliver, New Directions in Judicial Review, S. 51 (60). 224 Vgl. etwa die Bezugnahme von Lord Justice Purchas in .. Regina vs. Secretary oJ State Jor the Home Department, ex parte Herbage" 2 (1987) Q.B., 1077.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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Da die britische Rechtstradition einem selbständigen Verwaltungsrecht lange Zeit kritisch gegenüber stand225 , fehlt eine unabhängige und selbständige Verwaltungsgerichtsbarkeit226 ebenso wie ein umfassend kodifIziertes Verwaltungsrechf27 • So zieht die weitgehend nach den Grundsätzen des Common Law entscheidende ordentliche Gerichtsbarkeit beispielsweise die Notwehrnorm der Section 3 des Criminal Law Act (CLA) von 1967, in der die Intensität von Abwehrmaßnahmen auf ein "vernünftiges" Maß beschränkt wird228 , auch beim Einsatz der Polizei und der Streitkräfte heran. Maßstab für die "reasonable force" ist dabei die Notwendigkeit und die Angemessenheit der Maßnahme, so dass Section 3 CLA zurecht als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgedankens angesehen wird229 •

bb) Anwendungsbereiche der Verhältnismäßigkeitskontrolle Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist nicht auf den Bereich des Strafrechts beschränkt. Vielmehr lassen sich zahlreiche Fälle nachweisen, in denen Gerichte Sanktionen der Verwaltung aufhoben, weil sie der Schwere der Zuwiderhandlung nicht angemessen waren. Im Fall Hook, der den dauerhaften Entzug einer Standlizenz wegen öffentlichen Urinierens betraf, befand der Court of Appeal, der Totalentzug stehe außer Verhältnis zum Anlass (.. out 01proportion to the occasion U) und hob die von der Verwaltung verhängte Sanktion auf30 • Als unverhältnismäßig ("out of proportion") wurde auch ein generelles Hausverbot für öffentliche Gebäude wegen "ungebührlichen Verhaltens" bei einer Privatveranstaltung angesehen231 • 225 Spoerr, Verwaltungsarchiv 82 (1991), 25 (27), weist darauf hin, dass noch 1935 der Bgriff "Verwaltungsrecht" vom damals höchsten Richter Englands, Lord Hewart, als "continental jargon" zurückgewiesen wurde. Zu den von der sog. "Justice-AII Souls"Kommission zur Reform des Verwaltungsrechts entwickelten Vorschlägen zur Einflihrung einer eigenen Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. Spoerr, Verwaltungsarchiv 82 (1991), 25 (36). 226 Bislang teilen sich die ordentliche Gerichtsbarkeit und die - verfassungsrechtlich allerdings als Teil der Exekutive anzusehenden - "tribunals" die Entscheidung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten, vgl. Spoerr, Verwaltungsarchiv 82 (1991), 25 (32). 227 Vgl. dazu Spoerr, Verwaltungsarchiv 82 (1991), 25 (30). 228 In Seetion 3 CLA heißt es: "A Person may use such force as is reasonable in the prevention ofcrime ( ..) 229 Vgl. dazu SmithlHogan, Criminal Law, S. 325. 230 Vgl. die Rs. Hook 1 WLR (1976) AC, 1052: (Entzug einer Standlizenz wegen öffentlichen Urinierens) dazu 10welllLester, in: Jowell/Oliver, New Directions in Judicial Review, S. 51 (60). 231 Vgl. die Rs. Regina vs. London Borough of Brent. ex parte Assegai. The Times vom 18.06.1987: "The banning resolution was ( ..) out ofproportion to what the applicant had done H.

H.

6 Koch

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Eine implizite Verhältnismäßigkeitskontrolle findet auch auf dem Gebiet des Gefahrenabwehrrechts statt. Schon 1893 prüfte eine anläßlich der Niederschlagung gewalttätiger Unruhen in Featherstone einberufene Untersuchungskommission, ob dem Staat mildere Mittel zur Verfügung gestanden hätten und ob die Beeinträchtigungen nicht außer Verhältnis zum erstrebten Erfolg standen. Damit wurde die Zulässigkeit staatlicher Gewalt faktisch von der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips abhängig gemacht232 • Wenn es auch keine eigenständige öffentlich-rechtliche Kontrolle von Maßnahmen der Gefahrenabwehr gibt 233 , hat die Anwendung von Section 3 eLA für eine Etablierung der Verhältnismäßigkeitskontrolle bei polizeilicher Gewaltanwendung gesorgt234 • Auch präventive polizeiliche Befugnisse werden - etwa im Falle des Betretens von Räumlichkeiten - durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt235 • Im Bau- und Planungsrecht finden sich nicht nur Urteile, die bestimmte Auflagen als "nicht dem Ziel angemessen" verwarfen236 ; auch der planungsrechtliche Grundsatz, von zwei möglichen Planungsalternativen die jeweils Mildeste zu bevorzugen, wird zurecht in Verbindung mit dem Erforderlichkeitsgrundsatz gebracht237 • Auf dem Gebiet des Staatsrechts kann die "doctrine of necessity", die Befugnisse des Staates im Falle des Staatsnotstandes beschränkt, als Anwendungsfall des Verhältnismäßigkeitsprinzip betrachtet werden238 • Im Bereich der Grundrechte plädierte Blackstone239 zwar schon 1899 für die Verhältnismäßigkeit als Schranke der Grundrechte, doch haben das Fehlen eines geschriebenen Grundrechtskataloges und die bis vor kurzem fehlende innerstaatliche Geltung der EMRK dazu geftihrt, dass sich in der Rechtsprechung kaum Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen finden. Dennoch gibt es inzwischen Ansätze einer Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung, die von vielen Autoren24o auf einen indirekten Einfluss der RechtVgl. zum Untersuchungsbericht im einzelnen Marauhn, VA 85 (1994) 52 (54 f.). Vgl. dazu Marauhn, VA 85 (1994),52 (69). 234 Vgl. Marauhn, VA 85 (1994) 52 (57ff.). 235 Dazu Heckenberger, Befugnisse der VollzugspoIizei in Deutschland und England, S.83. 236 Newbury District Council vs. Secretary of State for the Environment, HL (1980) AC 528. 237 Vgl. Jowell/Lester, in: Jowell/OIiver, New Directions in Judicial Review, S. 51 (64 f.). 238 So zurecht Lerche, Übermaß, S. 305 ff. 239 Blackstone, Commentaries on the Laws ofEngland, 4. Aufl. 1899,115: "Political or civilliberty is no other than naturallibetry so far restrained by human laws (and no further) as it is necessary and expedient for the general advantage of the public. .. 240 Vgl. zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts etwa Craig, in: Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 85 (89); Green, in: Ellis (Hrsg.), The 232

233

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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sprechung von EuGH 241 und EMGR242 zUIÜckgefiihrt werden: So erklärten britische Gerichte etwa die Entlassung eines Lehrers, der sich geweigert hatte, Essensgeld einzusarnrneln243 , ebenso für rechtswidrig wie Veröffentlichungsverbote sicherheitsrelevanter Texte im sog. "Spycatcher"-Falf44 . Ohne sich dabei ausdrücklich auf ein Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beziehen, wurden die entsprechenden Maßnahmen als" nicht dem Ziel angemessen" verworfen.

b) Dogmatische Einkleidung der Verhältnismäßigkeitskontrolle

Bislang gibt es in England keine anerkannte Prüfung einer Maßnahme der Verwaltung unter dem Stichwort eines "principle of proportionality". Die gerichtliche Überprüfung hoheitlicher Maßnahmen beschränkt sich nach der sog. "ultra-vires-Doktrin", nach der eine Behörde nur dann rechtswidrig handelt, wenn sie außerhalb ihres Ermächtigungsrahmens tätig wird245 , auf eine äußerst zUIÜckhaltende Kontrolle von Entscheidungen der Exekutive. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit wird nicht als solche bezeichnet, sondern hinter anderen Begriffen und Prinzipien verborgen. Die Verwaltungsrechtsdogmatik unterscheidet bei der gerichtlichen Kontrolle (,judicial review") hoheitlicher Maßnahmen bislang drei Rechtswidrigkeits-

Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 145 (155); Jowell, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 273 (322); Cripps, in: IJGLS 1994, 213 (219); Herdegen, in: Frowein: Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, S. 38 (47); Everling, in: Frowein: Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, Berlin u.a. 1993, S. 300. 241 Vgl. von den zahlreichen einschlägigen Entscheidungen des EuGH, die sich auf die britische Rechtsordnung auswirkten nur EuGH, Rs. 181/84 (Man Sugar), Sig. 1985, 2889 (2903), in dem die britischen Gerichte zur Anwendung des (europarechtlichen) Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verpflichtet wurden; vgl. dazu Regina vs. Intervention Board [or Agricuktural Produce, ex parte E.D. & F. Man(Sugar) Ltd.(l986) 2 All ER 115 (126). 242 Zum Einfluss der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs auf das britische Recht vgl. etwa Jowell/Lester, in: Jowell/Oliver, New Directions in ludicial Review, S. 51(58 f.). Lewis, AJDA 1996, 138 fr.; Lester, in: Jowell/Oliver, The Changing Constitution, S. 48 f.; Lord Irvine o[ Lairg, in: Public Law 1996, 59 (74 f.); Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 403; vgl. im Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip insbesondere den Fall Sunday Times vs. United Kingdom, EGMR 1979, Series A, NT. 30, (67). 243 Price vs. Sunderland Corporation (1956) 1 WLR 1253. 244 Vgl. etwa Attorney General vs. Guardian Newspapers Ltd., HL (1991) AC 109. 245 Zum Inhalt der Doktrin ausführlich Craig, REDP 10 (1998), 823 (825 ff.); Kingston/Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa, S. 796 ff.; vgl. auch Borchardt, Vertrauensschutz, S. 49.

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

gründe 246 : Neben der Kontrolle der Einhaltung verfahrensrechtlicher Prinzipien ("procedural propriety U) wird die Maßnahme auf ihre Gesetzmäßigkeit (" illegality U) hin kontrolliert und aufgehoben, falls das geltende Recht nicht korrekt angewendet wurde 247 . Schließlich wird geprüft, ob ein Fall der" irrationality bzw. "unreasonableness vorliegt 248 . U

U

Die Leitentscheidung zu diesem letzten Kriterium ist das Urteil in der Sache "WednesburyU249 von 1948. Darin überprüfte der Court of Appeal eine Auflage, durch die eine Filmvorführlizenz an die Bedingung geknüpft war, Kindern unter 15 Jahren sonntags den Zutritt zu verweigern. Das Gericht verwarf eine Klage gegen diese Bestimmung mit der Begründung, dass eine hoheitliche Entscheidung nicht auf jede Unbilligkeit hin zu untersuchen sei, sondern nur dann aufgehoben werden dürfe, wenn sie "unreasonable" sei. Lord Dicey definierte das Evidenzkriterium der "unreasonableness" als "Maßnahme, die so in Widerspruch zu logischen oder moralischen Standards stünde, dass kein verständiger Mensch sie getroffen hätte u250. Unter diese Definition fallen auch grob unverhältnismäßige Maßnahmen. Zurecht vertreten daher viele britische Autoren die Ansicht, das Kriterium der "reasonableness" umfasse auch Ansätze einer Verhältnismäßigkeitsprüfung251 . Diese Ansicht bleibt allerdings urnstritten252 • Die dogmatische Einordnung wird dadurch erschwert, dass sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung hinter einer Vielzahl anderer Begriffe verbirgt. In vielen Fällen, in denen eine Maßnahme im Rahmen der "unreasonableness-Prüfung" als "unfair" aufgehoben wird, wurde tatsächlich eine Prüfung der angemessenen Relation zwischen Zweck und Mitteln und damit eine Verhältnismäßig246 Vgl. dazu die systematische Zusammenfassung der Gründe des ,judicial review" von Lord Diplock im Urteil des House of Lords GCHQ, (1985) AC, 374 (408), abgedruckt als Appendix I bei Wade/Forsyth, AdministratifLaw, S. 1012 (1014). 247 Vgl. Lord Diplock, a.a.O., S. 407: " ... the decision-maker must understand correctly the law and must give ejJect to it ". 248 Craig, in: Ellis (Hrsg.), The Principle ofProportionality, 85 ff.; Wong, Public Law 2000,92 (93 ff). 249 Associated Provincial Picture Houses Ltd. vs. Wednesbury Corporation (1948) 1 K.B.223. 250 Vgl. Diplock, HL (1985) AC 374 (410): " ... a decision,which is so outrageous in its dejiance o/logic or 0/ accepted moral standards that no sensible person who had applied his mind to the question to be decided could have arrived at it. " 251 So auch Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 403; Jowell/Lester, in: Joweil/Oliver, New Directions in Judicial Review, S. 51 (68); Brown, in: Cappelletti, Mauro (Hrsg.): New Perspectives for a Common Law ofEurope, S. 171 (193); vgl. im übrigen zur Verwandtschaft zwischen der umfangreichen Rechtsprechung zu den "principles of equity" und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit etwa Megarry/Baker, Equity, S. 5. 252 Ablehnend etwa Lord Lowry, in Regina vs. Secretary 0/ State /or the Home Department, ex parte Brind, (1991) 1 AC 696 (766f.).

II. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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keitsprüfung vorgenommen. So bezeichnete das Gericht im schon erwähnten Fall Hook, die Sanktion als "unfair means" und hob sie wegen mangelnder "relation between the penalty and the wrong" auf 53 • Andere Urteile stellten auf das Fehlen einer angemessenen Beziehung ("relationship") zwischen Sanktion und Vergehen ab 254 • Auch die Theorie der "overlapping powers", nach der von zwei Planungs alternativen jeweils die mildeste zu wählen ist, wird in Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeitskontrolle gebracht. Ebenso wird bei anderen Rechtsprinzipien vorzunehmende Güterabwägung z.T. als Anwendungsfall der Verhältnismäßigkeit angesehen255 : Im Fall widersprüchlichen Verhaltens einer Behörde etwa, der im britischen Recht nach der "doctrine of estoppel ,,256 behandelt wird, darf dem einzelnen aus dem widersprüchlichen Verhalten, auch wenn es im öffentlichen Interesse liegt, jedenfalls kein unverhältnismäßiger Nachteil zugefiigt werden257 • Nach der "doctrine of fettering of discretion ,,258 schließlich darf eine Behörde ihr Ermessen nicht durch eine vorherige vertragliche Vereinbarung völlig einschränken, sondern muss berechtigt bleiben, besondere individuelle Umstände und das jeweilige öffentliche Interesse frei abzuwägen, um unverhältnismäßige Auswirkungen zu vermeiden259 . Eine verdeckte Anwendung der Verhältnismäßigkeitsprüfung findet sich auch im Zusammenhang mit den Begriffen des (weitgehend mit dem Begriff der "umeasonableness" gleichzusetzenden260 ) "bad faith ,,261 und des zur Sanktionsabstufung herangezogenen Fahrlässigkeitsmaßstabs des" duty of care ,,262. Im Interesse einer klareren Verhältnismäßigkeitsdogmatik hat Lord Diplock schon 1985 in der "GCHQ"-Entscheidung263 mit einem Hinweis auf die Rolle der Verhältnismäßigkeit in anderen Mitgliedstaaten bzw. im Rahmen der Court of Appeal (1985) A.C. 1054. Vgl. etwa Court of Appeal (1976) 1 Q.B. 629. 255 Vgl. die Ausführungen von Garner bei Hailbronner, in: General Reports to the 10th International Congress of Comparative Law, S. 831 (835). 256 Dazu WadelForsyth, Administrative Law, S. 372. 257 Zur Verbindung von Verhältnismäßigkeit und "estoppel"-Prinzip auch Xynopoulos, Proportionnalite, S. 290. 258 Dazu WadelForsyth, Administrative Law, S. 366. 259 Vgl. Hailbronner, in: General Reports to the 10th International Congress of Comparative Law, S,. 831 (835). 260 So WadelForsyth, Administrative Law, S. 440. 261 Vgl. die Rs. Lord Roberts vs. Hopwood, (1925) AC, S.578 (603), in der es um die Angemessenheit von Löhnen ging. Xynopoulos, Proportionnalite, S. 282 spricht hier von einer "proportionnalite sousterraine". 262 Darauf weist Schwarze, Verwaltungsrecht, S. 679 hin. 263 HL, Council of Civil Service unions vs. Minister for the Civil Service (1985) AC 374 ff. 253

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

EMRK angeregt, die Verhältnismäßigkeitskontrolle als eigenständigen, vierten Rechtswidrigkeitsgrund zu etablieren264 . Dieses obiter dictum löste eine heftige Resonanz in der Literatur aus 265 . Während einige Autoren die Notwendigkeit einer Verhältnismäßigkeitskontrolle in England bezweifelten266, begrüßten andere den Vorschlag Diplocks als Schritt zur Beseitigung von Rechtsschutzlücken, die aus dem als unpräzise empfundenen Wednesbury-Test resultierten267 . Allerdings verwarf das House of Lords 1991 im Urteil Brind268 den Vorschlag Diplocks und lehnte die Einführung einer eigenständigen Verhältnismäßigkeitskontrolle explizit ab. Der Fall betraf ein Verbot, Äußerungen von Mitgliedern verbotener terroristischer Organisationen im Rundfunk zu senden. Die Richter sahen keinen Verstoß gegen den Grundsatz der reasonableness und lehnten eine gesonderte Verhältnismäßigkeitsprüfung ab. Nach britischem Recht komme eine eigenständige Kontrolle am Maßstab der Verhältnismäßigkeit, wie sie die Kläger gefordert hatten269 , nicht in Frage, weil eine solche Prüfung auf eine inhaltliche Prüfung der Ministerentscheidung ("appeal on the merits") hinausliefe und gegen das im Interesse der Parlaments souveränität eng begrenzte britische System der gerichtlichen Kontrolle verstieße 270 • Die Entscheidung in der Rechtssache Brind hat die Entwicklung einer eigenständigen Verhältnismäßigkeitsprüfung vorerst blockie«71.

264 Vgl. dazu auch Lewis, AJDA 1996, 138 (139). 265 Zur Diskussion um die GHQC-Entscheidung auch Smyth, in: American Journal Ad L 1995, 189 ff. m.w.N. 266 Vgl. etwa Boyron, in: OJLS (1992) 12, S. 237 (254 ff.); HojJmann, in: Ellis

(Hrsg.), The Principle ofProportionality in the Laws ofEurope, 107 (110). 267 Vgl. vor allem Jowell/Lester, in: Jowell/Oliver, New Directions in Judicial Review, S. 51 ff; Slynn: in: Zeidler-FS, S. 397 (400); Craig, in: Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 85 (100); Wong, Public Law 2000, 92 (93 ff.). 268 Vgl. HL Regina vs. Secretary of State for the Home Department, ex parte Brind, (1991) 1 AC 696 ff. 269 Die Klägerseite wurde von den durch zahlreiche Veröffentlichungen in Erscheinung getretenen "Verhältnismäßigkeits-Pionieren" Lester und Pannick vertreten, vgl. etwa Jowell/Lester, in: Jowell/Oliver, New Directions in ludicial Review, S. 51 ff. und Pannick, in: Public Law 1998, S. 545-551. 270 Vgl. etwa die Äußerungen von Lord Ackner, a.a.O., S. 762 f. 271 Vgl. etwa R. vs. M.A.F.F., ex parte First City Trading, (1997) 1 CMLR, 250; vgl. dazu Craig, in: Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 85 (90); zur Zurückweisung von Bestrebungen, eine Verhältnismäßigkeitskontrolle im britischen Recht zu etablieren auch Boyron, in: OJLS (1992) 12, S. 237 ff.

II. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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c) Praktische Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle Trotz der nachweisbaren Existenz einer Verhältnismäßigkeitskontrolle war die praktische Bedeutung der Verhältnismäßigkeitsprüfung in Großbritannien bislang272 gering.

aa) Kontrolldichte Einerseits ist das "Schattendasein" des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf die allgemein äußerst geringe Kontrollintensität im Königreich zurückzuführen, die mit einer geringen Normdichte 273 einhergeht. Nicht zuletzt wegen der zumeist sehr offen und generalklauselartig formulierten Eingriffserrnächtigungen274 bleibt die über die Evidenzkontrolle hinausgehende Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Praxis eine auf wenige Fälle beschränkte Ausnahme 275 . Wurden dennoch Verwaltungs sanktionen aufgehoben, bezeichneten die Gerichte diese Fälle oft selbst "Extremfälle ,,276. Auch im Gefahrenabwehrrecht zeigten sich die - politischen - Grenzen der Verhältnismäßigkeitskontrolle etwa bei der Aufarbeitung der Vorgänge rund um den sog. "Bloody Sunday", bei dem zwölf Zivilisten in Londonderry von Polizeikugeln getroffen wurden. Die Untersuchungskommission beschränkte sich darauf, von einer "Möglichkeit unverhältnismäßigen Handeins im Einzelfall" zu sprechen, stellte dann aber eher pauschal fest, in der Mehrzahl der Fälle sei rechtmäßig gehandelt worden277 . Im Ausländerrecht wird dem Innenministerium - jedenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts 278 - ein sehr weites Ermessen eingeräumt, was sich etwa bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer Abschiebung zeigt279 . Auch im Planungsrecht dürfen die Ansätze eines Abwägungsgebotes

272 Zur durch den Human Rights Act 1998 gewachsenen Bedeutung der Verhältnismäßigkeit sogleich d). 273 Dazu Spoerr, in: Verwaltungsarchiv 82 (1991),25 (51). 274 V gl. Marauhn, VA 85 (1994) 52 (78); Spoerr, a.a.O. 275 Deutlich in diesem Sinne auch Lord Irvine, in: Public Law 1998,221 (234) sowie Pannick, in: Public Law 1998, 545 (549), der Wednesbury-Test und Verhältnismäßigkeitskontrolle für "fundamentally different" hält. 276 (\ 984) 1 C.R. 723 (736): Aufhebung einer Verwaltungssanktion nur" in an extreme case", wobei die Sanktion "so disproportioned to the ofJence as to be perverse" sein muss. 277 Vgl. Untersuchungsbericht von Lord Widgery, HC 220 (1971-1972). 278 Zum europarechtlich gebotenen Erfordernis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Abschiebungen von Unionsbürgem vgl. EuGH, Rs. 30177 (Bouchereau), Slg. 1977, 1999 (2012). 279 Das konzedieren auch Jowell/Lester, in: lowell/Oliver, New Directions in ludicial Review, S. 51 (61).

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

nicht darüber hinwegtäuschen, dass der tatsächliche Rechtsschutz im Planungsrecht, gemessen an kontinentaleuropäischen Standards, rudimentär bleibe80 • Trotz zahlreicher Verurteilungen Großbritanniens durch den EGMR wegen Verstößen gegen Konventionsvorschriften281 durften britische Gerichte bisher nur eine zurückhaltende Kontrolle ausüben282 . Daher kann die vereinzelt vertretene Ansicht, die im Rahmen der "unreasonableness" vorgenommene Kontrolle entspreche "weitgehend" der deutschen Verhältnismäßigkeitskontrolle283 , nicht überzeugen. Allerdings gibt es durchaus einzelne Beispiele einer strengeren Kontrolle: Nicht nur im Gefahrenabwehrrecht finden sich Fälle einer über die reine Evidenzkontrolle hinausgehenden der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Rechtsprechung 284 • Auch die Verweigerung einer Baugenehmigung, die (nur) zu einer fmanziellen Mehrbelastung führte, wurde schon als "unreasonable" angesehen 285 • Zudem lässt sich auch ohne ausdrückliche Anerkennung eines "principle of proportionality" eine gewisse Flexibilität der Rechtsprechung bei der Handhabung der Kontrolldichte feststellen. Vergleicht man Entscheidungen mit und ohne Grundrechtsbezug, so fallt auf, dass die Begründungssorgfalt der Gerichte im grundrechtsrelevanten Bereich regelmäßig größer ist als in anderen Gebieten286 • Auf der anderen Seite nimmt die Prüfdichte ab, wenn der Entscheidungsträger direkt dem Parlament verantwortlich ist287 oder gar das Unterhaus am Entscheidungsprozess beteiligt war288 .

Vgl. etwa HL (1980) I AC 528ff. Zu den bislang über 50 Verurteilungen vgl. Irvine of Lairg, in: Public Law, 1998, 221 (225). 282 Vgl. Lord Brown in der Rs. Regina vs. Ministry of Defence, ex parte Smith (1996) QB, 517 (541): "In exercising merely a secondary judgement, this court is bound, even though acting in a human rights context, to act with some reticence. " 283 So aber Heckenberger, Befugnisse der Vollzugspolizei in Deutschland und England, S. 227. Auch Herdegen, in: Frowein: Kontrolldichte, S. 38 (47), bezeichnet das Fehlen eines eigenen Verhältnismäßigkeitsprinzips als .. eher terminologische Frage ". 284 Zu Anwendungsfällen im Rahmen des Public Order Acts von 1986 Marauhn, VA 85 (1994) 52 (69 ff.). 285 (1977) 76 L.G.R. 480 (D.C.). 286 Vgl. dazu ausführlich Xynopoulos, Proportionnalite, S.250, der diesen Umstand auf den Einfluss der Straßburger Rechtsprechung zurückführt. 287 V gl. dazu Lord Scarman in der Rs. Nottinghamshire County Council vs. Secretary ofStatefor Environment, H.L. (1986) A.C. 240 (250). 288 Vgl. Rs. Bromley LBC vs. Greater London Council, H.L. (1985) I AC 1054. 280 281

II. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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bb) Rang Der Grundsatz der Parlamentssouveränität lässt eine Kontrolle von Gesetzen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht zu. Dies gilt auch nach der im Oktober 2000 in Kraft getretenen Inkorporierung der EMRK durch den Human Rights Act289 , weil Section 311 (a) des Human Rights Act Gesetze ausdrücklich von der Bindung an die EMRK ausnimmt. Es bleibt abzuwarten, welche praktischen Auswirkungen die in Section 4 enthaltene Möglichkeit der Gerichte einer unverbindlichen Feststellung der Konventionswidrigkeit von Gesetzen haben wird290 • Die Bindung der Verwaltung und der Gerichte an die EMRK dürfte allerdings daftir sorgen, dass sich die Verhältnismäßigkeit zumindest im Rahmen der Grundrechtsprüfung als Prüfungsmaßstab mit Gesetzesrang etabliert.

ce) Funktion Bislang kommt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor allem im Zusammenhang mit der Beurteilung verwaltungsrechtlicher Sanktionen zum Tragen. Angesichts der geringen Kontrolldichte und schwer nachweisbarer subjektiver Rechte 291 bleibt die individualschützende Funktion jedoch gering. Den Gerichten war eine materielle Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen - etwa am Standard der EMRK - bislang weitgehend verwehrt, und auch als Leitlinie der Exekutive spielte der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bislang keine erkennbare Rolle 292 •

d) Würdigung der Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips

Die extrem zurückhaltende Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen bewirkt, dass Großbritannien innerhalb der EU bislang eine Ausnahmestellung in Bezug auf die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zukommt. Die Einwände gegen die Verhältnismäßigkeitskontrolle beziehen sich dabei vor allem auf die Gefahr einer Kompetenzverlagerung zugunsten der Gerichte, die

289 Human Rights Act 1998 (Commencement), Order 1998 vom 20.11.1998, Statuatory Instrument 1998 No. 2882 (C.71). 290 Eine Untersuchung des Horne Office hat ermittelt, dass der Human Rigts Act zwischen dem 02.10.2000 und dem 12.03.2001 in 109 Verfahren eine Rolle spielte und in 56 davon eine Rolle für den Ausgang des Verfahrens spielte, vgl. ..http.//www.homeoffice.gov.uk/hract!statistics.htm... abgerufen am 04.10.200 I. 291 Dazu Marauhn, in: VA 85 (1994), 52 (78). 292 Vgl. dazu auch Grate, in: ZaöRV 58 (1998) 2, S. 309 (327), der auf die geringe Wirkung der EMRK für die Verwaltungspraxis hinweist.

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

das in Großbritannien historisch gewachsene System der Gewaltenteilung aus dem Gleichgewicht bringen könnte 293 • Nach britischem Selbstverständnis ist es nicht die Aufgabe des Richters, Tatsachenfragen - wie die Entscheidung über alternative Maßnahmen der Verwaltung - oder auch nur die inhaltliche Richtigkeit einer Verwaltungsentscheidung zu kontrollieren 294 • Eine Untersuchungsmaxime im Rahmen des judicial review ist den britischen Verwaltungsgerichten fremd 295 • Selbst wenn es sich bei der Verhältnismäßigkeit um ein "kontinentales" Prinzip handeln mag, das dem pragmatischen und weniger an Prinzipien ausgerichteten Rechtsdenken des Common Law296 fremd ist, hat der europarechtliche Einfluss doch gezeigt, dass der Zwang zur Vornahme einer Verhältnismäßigkeitskontrolle in den Bereichen des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts 297 keineswegs "die theoretische Basis des britischen Rechts bedroht,,298. Dass die Kontrolle individueller Rechte jedoch in hohem Maße eine politische Frage ist, hat sich nicht zuletzt am Beispiel des Human Rights Act von 1998 gezeigt, mit dem die Labour-Regierung trotz erheblicher dogmatischer Bedenken konservativer Juristen299 der EMRK erstmals innerstaatliche Geltung verschafft hae oo . Die Tatsache, dass sich in Großbritannien - das bis 1998 über 50 mal wegen Grundrechtsverletzungen verurteilt wurde 301 - Gerichte und Verwaltung inzwischen an die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs halten müssen, dürfte zu einer grundlegenden Neubestimmung der Praxis der Verwaltungskontrolle fUhren. Der noch in der Malone-Entscheidung von 1979302 vertretene Grundsatz, wonach der Staat "alles tun dürfe, was nicht ausdrücklich 293 Vgl. Lord Brown in der Rs. Regina vs. Ministry of Defence, ex parte Smith (1996) QB, 517 (541): ..... the constitutional balance would shift". 294 Dazu Tiemann, Gerichtliche Kontrolle, S. 192. 295 Tiemann, Gerichtliche Kontrolle, S. 192. 296 Vgl. dazu etwa Jowell/Lester, in: Jowell/Oliver, New Directions in Judicial Review, S. 51(59): ..... rather remedies than principles"; ebenso Brown, in: Cappelletti, New Perspectives for a Common Law ofEurope, S. 171 (175): .. British Lawyers don't think in principles (...) ". 297 Vgl. etwa EuGH, Rs. 181/84 (Man Sugar), Slg. 1985,2889 (2903). 298 So aber Boyron, in: OJLS (1992) 12, S. 237 (238 ff.). 299 Dazu Grote, in: ZaöRV 58 (1998) 2, S. 309 (331 ff.). 300 Human Rights Act 1998 (Commencement) Order 1998 vom 20.11.1998, Statuatory Instrument 1998 No. 2882 (C.71). Vgl. zu früheren Überlegungen Koch, Zur Einführung eines Grundrechtskataloges im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, 131 ff. 301 Vgl. Irvine of Lairg, in: Public Law, 1998, 221 (225). 302 Vgl. die Rs. Malone vs. Metropolitain Police Commissioner (1979) Ch. 344. Während diese Entscheidung das Abhören von Telefonaten als rechtmäßig (weil nicht vom Common Law verboten) ansah, sah der EGMR einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK, vgl. EGMR, (Malone), 1984 Series A, No 82.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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durch Gesetz verboten ist,,303, wird unter der Ägide der EMRK nicht haltbar sein. Der Human Rights Act weist den Gerichten die Aufgabe zu, die Grundrechte umfassend vor einem Missbrauch exekutivischer Macht zu schützen304 und dürfte so ihre zurückhaltende305 Rolle bei der Grundrechtsprüfung grundlegend verändern.

Die aus EMRK-Recht folgende Pflicht zur Prüfung von Grundrechtseingriffen am Maßstab der Verhältnisrnäßigkeie06 wird zwar durch die den Mitgliedstaaten zugebilligte Einschätzungsprärogative ("margin of appreciation,,307) relativiert, die die Berücksichtigung nationaler Besonderheiten ermöglichen soll. Die neueren Urteile aus Straßburg308 zeigen jedoch, dass auch die verbleibende Kontrolle keineswegs auf eine minimale Kontrolldichte i.S.d. Wednesbury-Doktrin hinausläuft, sondern erheblich strengere Anforderungen an die Verhältnisrnäßigkeit der Maßnahme stelle o9 • Insgesamt erscheint es somit nicht übertrieben, wenn britische Autoren dem Human Rights Act eine "immense Bedeutung" fiir die weitere Verbreitung der Verhältnismäßigkeitsprüfung zuschreiben3IO • Die zu erwartende Neubestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte in Grundrechtsfällen311 dürfte auch auf andere Rechtsgebiete ausstrahlen und zu einer allgemeinen Ausweitung der Kontrolle staatlicher Entscheidungen führen 312 .

Vgl. dazu etwa Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 174. Dazu auch Grote, in: ZaöRV 58 (1998) 2, S. 309 (347). Vgl. auch Heimrich, F.A.Z. vom 15.08.2000, S.6. 305 V gl. Lord Brown im Urteil R. vs. Ministry of Defence, ex parte Smith (1996) Q.B. 517 (541): "In exercising merely a secondary judgement, this court is bound, even though acting in a human rights context, to act with some reticence. " 306 Vgl. dazu unten 16. a). 307 Vgl. EGMR (Handyside), Series A, 1976, Vol. 24. 308 V gl. etwa das Urteil in der Rs. Vogt, Series A, 1996, No. 323, §52. 309 Vgl. nur die soeben zitierte Malone-Entscheidung, EGMR, (Malone), 1984 Series A, No 82, oder die Rs. R. vs. Ministry of Defence, ex parte Smith (1996) Q.B. 517 (541). 310 Vgl. nur Irvine of Lairg, in: Public Law 1998,221 (229); Cripps, IJGLS 1994, 213 (221) weist zurecht auch auf den Einfluss prominenter VerhältnismäßigkeitsBefürworter im House of Lords für die weitere Entwicklung der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung in Großbritannien hin. So hat sich der jetzige Lordrichter Slynn - ehemals Richter am EuGH - schon 1987 für eine Ausweitung der Verhältnismäßigkeitskontrolle ausgesprochen, vgl. Zeidler-FS, S. 397 (400). 311 Grote, in: ZaöRV 58 (1998) 2, 309 (349); Anthony/Morison, REDP 10 (1998), 977 (1000 f.). 312 Irvine of Lairg, in: Public Law 1998, 221 (235), spricht von einem "shift from form to substance 303

304

H.

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

4. Irland a) Anwendungsbereich

Während das irische Verwaltungsrecht in hohem Maße vom britischen Recht beeinflusst ist, unterscheidet sich das irische Verfassungsrecht deutlich vom britischen Vorbild, dessen Dogma der Parlamentssouveränität es nicht übernommen hat3l3 . Die Verfassung vom l. Juli 1937 enthält einen umfangreichen Katalog von Grundrechten, deren Einhaltung von den Gerichten im Rahmen der Normenkontrolle überpruft werden kann314 • Trotz des Fehlens einer eigenen Verwaltungs- 315 oder Verfassungsgerichtsbarkeie 16 liegt das Hauptanwendungsfeld des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Verfassungsrechts, wo er eine zentrale Rolle bei der Normenkontrolle317 spielt, die den ordentlichen Gerichten, dem High Court und dem Supreme Court318 (als oberstem Gericht) zugewiesen ist. Hinweise auf eine Verhältnismäßigkeitskontrolle finden sich schon in der frühen Rechtsprechung des Supreme Court3l9 • So prüfte er 1965 im Fall Ryan vs. Attorney General im Zusammenhang mit einem Gesetz, das die Fluoridierung des Trinkwassers betraf, ob dessen Vorteile für die Allgemeinheit in einem angemessenen Verhältnis zu den Beschränkungen individueller Rechte stünden320 • Die Entwicklung eines verfassungsrechtlichen Prinzips der Verhältnismäßigkeit liegt jedoch erst wenige Jahre zurück321 : In der Sache Hand VS. Dublin Vgl. dazu Hogan/Morgan, Administrative Law in Ireland, S. 534. Vgl. dazu Feger, Jura 1987,6 (10). 315 Arnold, in: Müller-Graff, Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, S. 123 (145). 316 Streinz, Grundrechtsschutz, S. 138. 317 Zur Möglichkeit der Normenkontrolle im irischen Recht Feger, Jura 1987, 6 (10). 318 Der High Court ist gern. Art. 34 Abs. 3 NT. 2 der Verfassung vom 1. July 1937 zur Normenkontrolle befugt und hat die Dogmatik des hier beschriebenen Verhältnismäßigkeitstest maßgeblich bestimmt, vgl. 0 'Dowd, REDP 10 (1998), 705 (736). Berufungsinstanz ist gern. Art. 34 Abs. 4 NT. 3 der Supreme Court, der ebenfalls Befugnisse der Normenkontrolle wahrnimmt. Vgl. dazu Forde, Constitutional Law ofIreland, S. 167 ff. 319 Vgl. dazu auch Hogan/Morgan, Administrative Law in Ireland, S. 541 ff. 320 Supreme Court Ryan vs. Attorney General (1965) I.R., S. 294 (312 f.): " .. .unless there is no reasonable proportion between the benefits which the legislation will con/er on the citizens or a substantial body 0/ them and the interference with the personal rights o/the citizen." Dazu auch Müller-Michaels, Eigentumsschutz, S. 207. 321 Costello, REDP 10 (1998), 391 (399): "The last three years have seen the elaboration 0/ the principle 0/proportionality in irish public law." Denselben Zeitraum nen313 314

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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Corporation, in der es um die Prüfung eines Gesetzes ging, das den Entzug einer Verkaufslizenz wegen bestimmter Vorstrafen vorsah, prüfte der High Court unter dem Stichwort der "unreasonableness" erstmals ausfiihrlich, ob die Maßnahme "verhältnismäßig" war322 • Im Fall Cox vs. Ireland erklärte der Supreme Court dann erstmals ein Gesetz, das die Entfernung straffälliger Lehrer aus dem Schuldienst vorsah, wegen mangelnder Verhältnismäßigkeit fiir verfassungswidrig 323 • Im 1993 entschiedenen Fall People (DPP) v. WC 24 sprach der High Court dann schon von einem" constitutional principle of proportionality", das er seitdem in zahlreichen weiteren Verfahren bei der Prüfung von Grundrechtsverletzungen wie dem Schutz der Familie325, dem Recht auf ein faires Verfahren 326 oder dem Schutz vor Freiheitsentziehunl 27 heranzog. Wenn das Verhältnismäßigkeitsprinzip also im Verfassungsrecht als Element der Normenkontrolle inzwischen fest etabliert ist328 , so ist die Anwendung einer Verhältnismäßigkeitskontrolle bei Maßnahmen der Verwaltung, die zumeist noch am Maßstab der "unreasonableness" gemessen werden, durchaus umstritten329 • Einige neuere Urteile zur Abschiebung von Ausländern330 bzw. nen auch 0 'Dowd, REDP 10 (1998), 705 (735) und Hogan/Schuster, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 437 (463). 322 Von einigen Autoren wird dieser Fall als erste ausdrückliche Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Verfassungsrecht angesehen, vgl HoganiSchuster, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 437 (464). 323 Supreme Court, Cox vs. Ireland (1992) 2 IR, S. 503 (523 f.). 324 High Court, People (DPP) v. WC, Urteil vomI4.08.1993, vgl dazu Temple Lang, CMLR 1996, 1100 (1104). 325 Wegen eines unverhältnismäßigen Eingriffs in den gern. Art 40 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung garantierten Schutz der Familie wurde 1994 ein Gesetz zum Güterstand verworfen: Supreme Court, Re Article 26 of the Conslitution and the Matrimonial Homes Bill 1993 (1994) 1 ILRM, S. 241 (254). 326 Vgl. das Urteil des Supreme Court vom 15.05.1997 In re Article 26 of the Constitut ion and the Employment Equality Bill: ,,ln efJect a form of proportionality test must be applied to the proposed section." 327 So bezeichnete der Supreme Court im Verfahren 0'Callaghan vs. Ireland ein Gesetz, das Festnahme- und Untersuchungsrechte im Falle des Verdachts auf Drogenbesitz vorsah, als eine "verhältnismäßige" Reaktion auf die Gefahr flir die Gesellschaft durch den Gebrauch und Verkauf von illegalen Drogen. (,,lt was a proportionale response to the potential damage to society arising from the use and distribution of conlrolled drugs."), vgl. Supreme Court, Rs. 247/92 (O'Callaghan vs. Ireland) vom 24.05.1993, nicht veröffentlicht. Dazu Casey, REDP 6 (1994), 395 (408). Vgl. auch High Court Heany vs. Ireland (1994) 2, ILRM, S. 420 (434). 328 O'Dowd, REDP 10 (1998), 705 (735). 329 Skeptisch etwa der Richter Keane in einem neueren Urteil des Supreme Court, Radio Limerick vs. Independent Radio and Television Commission (1997) 2 ILRM, S. 1 (19): ,,No Irish authority was cited for the proposition that the principle ofproportionality could legitimately be invoked to test the validity of an administrative act, as opposed to the constitutionality of legislation (. ..)." Für eine Anwendung aber der Richter Costel10, in: Supreme Court, McCann vs. Minister for education (1997), 1 ILRM, S. 1 (10 f.)

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

zum Sanktionenreche 31 zeigen jedoch, dass das Handeln der Verwaltung zumindest dann am Maßstab der Verhältnismäßigkeit gemessen wird, wenn es in Grundrechtspositionen eingreife 32 • Die bisherigen Grenzen der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes werden im Urteil McCann vs. Minister for education deutlich, in dem die Prüfung der angegriffenen Maßnahme (Verweigerung einer Gehaltserhöhung) am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit der Begründung abgelehnt wurde, dass die Verhältnismäßigkeit nur im Zusammenhang mit Grundrechtseingriffen zu prüfen sei, der im vorliegenden Fall nicht gegeben sei333 •

b) Dogmatik

In Anlehnung an die zur Kanadischen Menschenrechtscharta entwickelten Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des Supreme Court von Kanada 334 wendet der Irische High Court seit dem Urteil Heany vs. Ireland335 bei der Kontrolle von Gesetzen den folgenden dreistufigen Test an: Erstens muss ein "vernünftiger Zusammenhang" zwischen der Maßnahme und dem verfolgten Ziel bestehen, zweitens muss die Rechtsbeeinträchtigung so gering wie möglich bleiben und drittens müssen ihre Auswirkungen auf individuelle Rechte dem angestrebten Ziel angemessen sein336 • Während die letzten

sowie O'Dowd, REDP 10 (1998), 705 (735). Die Ansicht des Richters am Supreme Court Barron in der Rechtssache Hand vs. Dublin Corporation, (1989) IR, S. 26 (31), die Verhältnismäßigkeit sei nur im Verwaltungsrecht, nicht aber im Verfassungsrecht zu prüfen, kann mittlerweile als durch die Rechtsprechung überholt gelten. 330 Supreme Court, Fajujonu vs. Minister for Justice (1990) 2 I.R. S. 151 ff. 331 Supreme Court, Mehigan vs. Duignan (1997) 1 ILRM, S. 171 ff. 332 O'Dowd, a.a.O. (738 f.), spricht von einem "Trend" der Ausbreitung des Verhältnismäßigkeitstests im Verwaltungsrecht. 333 Vgl. Richter Costello, Supreme Court, McCann vs. Minister for education (J 997), 1 ILRM, S. 1 (l0 f.): "The proportionality test cannot be extended to adminstrative orders, measures, decisions or regulations wh ich do not attack legally protected rights." 334 Zum kanadischen Einfluss auf die irische Dogmatik vgl. 0 'Dowd, REDP 10 (J 998), 705 (735) sowie Costello, REDP 10 (1998), 391 (398). 335 High Court (1994) 2, ILRM, S. 420 (434); vgl. seitdem die Urteile des High Court Daly vs. Revenue Commissioners (1996) 1 ILRM, S. 122 ff.; Iarnrod Eireann vs. Ireland (1995) 2 ILRM, S. 161 ff.; Rock vs. Ireland, unreported, High Court vom 10.1 J.J 995. Die Dogmatik eines mehrstufigen Verhältnismäßigkeitstests hat sich erst in den letzten fünf Jahren entwickelt, während die einzelnen Stufen schon vorher gelegentlich als Prüfungsmaßstab herangezogen wurden, vgl. Costello, REDP 10 (1998), 391 (398 f.). Denselben Zeitraum nennt auch O'Dowd, REDP 10 (1998), 705 (735). 336 Vgl. auch High Court, Daly vs. Revenue Commissioners (1996) 1 ILRM, S. 122 ff.: "The means chosen must pass a proportionality test. They must

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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beiden Stufen als Umschreibung des Erforderlichkeits- und Abwägungsgebots dem aus Deutschland und Österreich bekannten Verhältnismäßigkeitstest entsprechen, umschreibt das Erfordernis eines "vernünftigen Zusammenhangs" zwischen Ziel und Mittel in der Rechtsprechung des High Court weniger die Eignung als das Kriterium der "reasonableness". Gegen den "common sense" verstieß im Fall Limerick Corporation vs. Sheridan 337 etwa ein pauschales Verbot jeder Art des Zeltens in der Nähe von Straßen, weil es auch das Zelten im eigenen Garten verboten hätte. Mehr im Sinne eines Geeignetheitskriteriums legt dagegen der Supreme Court die erste Prüfungsstufe aus, wenn er fragt, ob die Maßnahme" vernünjiigerweise ihr Ziel erreichen kann ,,338. Grundrechtsrelevante 339 Verwaltungsmaßnahmen werden dagegen bislang nur auf ihre "Unverhältnismäßigkeit" untersucht, ohne dass der von der Normenkontrolle bekannte dreistufige Test angewendet würde 340 •

c) Praktische Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle

Dass die Übernahme der Verhältnismäßigkeitsdogmatik nicht nur theoretischer Natur ist, sondern die Rechtspraxis spürbar beeinflusst, zeigen mehrere Urteile, in denen Gesetze als unverhältnismäßig aufgehoben wurden341 • Das Verhältnismäßigkeitsprinzip besitzt somit heute Verjassungsrang 342 . Auch im Verwaltungsrecht, wo die Kontrolle bislang - in Anlehnung an das britische a.

be rationally connected to the objective, and not be arbitrary, unfair or based on irrational consideration, b. impair the right as liUle as possible, and c. be such that their ejJects on rights are proportional to the objective. " Dazu Costello, REDP 10 (1998), 395 (398); O'Dowd, REDP 10 (1998), 705 (736). 337 High Court (1952) 90, ILTR S. 59 jJ. 338 Supreme Court vom 15.05.1997 In re Article 26 ofthe Constitution and the Employment Equality Bill (unveröffentlicht): "In ejJect a form of proportionality test must be applied to the proposed section: (a) Is it rationally designed to meet the objective of the legislation? ( ..). " 339 Vgl. dazu oben 9 a). 340 Supreme Court, Fajujonu vs. Minister forJustice (1990) 2 LR., S. 151 ff.: " ... an action wh ich can have the ejJect of breaking up this family is not so disproportionate to the aim sought to be archieved as to be unsustainable." V gl. dazu auch 0 'Dowd, REDP 10 (1998), 705 (736). 34\ Vgl. das wegen eines unverhältnismäßigen Eingriffs in den gern. Art 40 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung garantierten Schutz der Familie aufgehobene Gesetz zum ehelichen Güterstand, Supreme Court, Re Article 26 ofthe Constitution and the Matrimonial Hornes Bill 1993 (1994) 1 ILRM, S. 241 (254) oder das Urteil des Supreme Court in der Sache Cox vs. Ireland (1992) 2 IR, S. 503 (523 f.). 342 Vgl. High Court, People (DPP) v. WC, Urteil vom 14.08.1993: ,,(...) the constitutional principle ofproportionality. "

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Konzept - auf die Prüfung der "unreasonableness" beschränkt war, scheint das Verhältnismäßigkeitsprinzip durch einen effektiveren Schutz der Grundrechtsverbürgungen 343 zu einer Ausweitung der richterlichen Kontrolle des Verwaltungsermessens zu führen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die individualschützende Funktion der Verhältnismäßigkeit auch auf andern Gebiete des Verwaltungsrechts Bedeutung erlangen wird. Als Entscheidungsmaxime wirkte sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Irland zunächst vor allem auf den Gesetzgeber aus; er wird - zumindest im Bereich grundrechtsrelevanten HandeIns - aber in zunehmendem Maße auch von der Verwaltung als Richtschnur herangezogen. d) Würdigung

Der Prozess der Rezeption des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem Europareche 44 und dem kanadischen Recht wird von der Literatur als eine der bedeutendsten Entwicklungen auf dem Gebiet des irischen Rechts der letzten Jahre bezeichnee45 • Bemerkenswert erscheint dabei nicht nur die von vergleichbaren Konzepten abweichende Prüfungssystematik346, sondern vor allem der Umstand, dass die Verhältnis mäßigkeit aus dem Bereich des Verfassungsrechts ins Verwaltungsrecht vorgedrungen ist, während die Entwicklung in den meisten europäischen Ländern den umgekehrten Weg gegangen ise 47 .

343 Grehan, in: Grabitz, Grundrechte in Europa, S.321, sprach noch 1986 im Zusammenhang mit den irischen Grundrechtsschranken von "im Grunde unbeschränkten Blankovorbehalten . .. 344 Der High Court hat sich in der Sache Heany vs. Ireland (1994) 2 ILRM, S. 420 (434) ausdrüchlich auf den in der EMRK geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bezogen. Die EMRK ist in Irland zwar nicht ins irirsche Recht transformiert worden, übt aber dennoch großen Einfluss auf die irische Grundrechtsprechung aus, vgl. Chubb, Irish Constitution, S. 105. Zur Anwendung der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrecht vgl. etwa High Court, Bosphorus vs. Minister [or Transport (1994) 2 ILRM, S. 551 sowie Hogan/Schuster, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 437 (464), Fn. 104. 345 Hogan/Schuster, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 437 (469): .. The significance o[ this development cannot really be overstatet. .. 346 Zur ersten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung oben, b). 347 So etwa in Deutschland, Frankreich und Österreich.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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5. Österreich

a) Anwendungsbereich Das Verhältnismäßigkeitsprinzip spielte in Österreich bis in die frühen achtziger Jahre im öffentlichen Recht eine eher untergeordnete Rolle. Zwar wurde das Prinzip seit langer Zeit im Straf- und Verwaltungsvollstreckungsrecht (wo es in § 2 Abs. 1 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes 348 sogar gesetzlich festgeschrieben ist) angewendet und gelegentlich auch in anderen Gebieten als Auslegungsmaxime herangezogen349 • Als Rechtsgrundsatz war die Verhältnismäßigkeit indes nur im Polizeirecht etabliere 50 • Erst in den letzten zwei Jahrzehnten ist der Grundsatz aber im Zusammenhang mit einer intensivierten Grundrechtskontrolle des Verfassungsgerichtshof (VfGH) zu einem übergreifenden Rechtsgrundsatz erstarkt, der inzwischen zum festen Bestandteil der Rechtsprechung geworden ist. Die verstärkte Heranziehung des Verhältnisrnäßigkeitsgrundsatzes 351 ist vor allem auf den Einfluss der EMRK zurückzuftihren352 ; Da das Bundesverfassungs-Gesetz (BV-G) keinen eigenen Grundrechtskatalog enthält353 und sich nur vereinzelte GrundrechtsverbÜTgungen in Nebengesetzen und im Staatsgrundgesetz (StGG) von 1867 finden 354 , ist die Konvention zu einem Hauptpfeiler der Grundrechtssprechung geworden355 • Der VfGH hatte zunächst einen engen Eingriffsbegriff verfochten (sog. "Intentionalitätsjudikatur") und Grundrechtseingriffe nur darauf überprüft, ob die Maßnahme die "Beseitigung" des Grundrechts zur Folge habe. Seit Mitte der achtziger Jahre werden Eingriffe zunehmend auch auf ihre Verhältnismäßigkeit hin kontrolliert356 • Verhältnismäßigkeitserwägungen verbergen sich insbesondere hinter dem für das Diskriminierungsverbot entwickelten "Sachlichkeitsgebot", in dessen Rahmen der VfGH etwa prüfte, ob das Verbot, Wein in "Tetrapaks" zu verkau348 Vgl. § 2 Abs. 1 VVG: "Bei der Handhabung der in diesem Gesetz geregelten Zwangsbefugnisse haben die Vollstreckungsbehörden an dem Grundsatz festzuhalten, daß jeweils das gelindeste noch zum Ziele fiihrende Zwangsmittel anzuwenden ist. .. 349 Vgl. etwa Adamovich, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 59; Pree, Österreich isches Verfassungs- und Verwaltungsrecht, S. 173. 350 Vgl. etwa die Erforderlichkeitspostulate in Art. 11 § 4 Abs. 2 V-ÜG und § 2 Abs. 1 VVG; dazu auch Novak, in: Winkler-FS, S. 39 (40). 351 Vgl. dazu ausführlich Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 74 ff. 352 Ermacora, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 67 (72). Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 82 ff. 353 Das Bundesverfassungs-Gesetz vom 10.11.1920 garantiert nur das Diskriminierungsverbot (Art. 7) und das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 83 Abs. 2). 354 Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 70. 355 Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 71. 356 Vgl. dazu Korinek, Grundrechtsverständnis, S. 88. 7 Koch

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

fen, eine" Überreaktion " des Gesetzgebers gewesen sei und dabei den Zweck und die Nachteile fiir die Betroffenen sorgfältig abwog 357 • Auch bei der Prüfung von Eingriffen ins Eigentum 358 und in die Privatautonomie 359 gern. Art. 5 StGG sowie bei Beschränkungen der Kunst360- (Art. 17a StGG) und Erwerbsjreiheit361 (Art. 6 StGG) prüft der VfGH inzwischen, ob die Beschränkungen "unverhältnismäßig und unsachlich ,,362 sind. Besonders ausfiihrlich ist die VerhältrJismäßigkeitsprüfung in den Fällen, in denen direkt auf EMRK-Rechte und deren "Notwendigkeits-Vorbehalt,,363 zurückgegriffen wird. Bei der Prüfung der Meinungsjreiheit364 wird eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ebenso selbstverständlich vorgenommen wie bei Eingriffen in die Privatsphäre und das Familienleben 365 oder in die Versammlungsjreiheit366 (Art. 11 EMRK). Der VerhältrJisrnäßigkeitsgrundsatz ist heute im gesamten Verfassungs- und Verwaltungsrecht zu beachten367 .

b) Dogmatik

Die Dogmatik des österreichischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist durch eine enge Verknüpfung mit dem Gleichheitssatz gekennzeichnet, den die überwiegende österreichische Literatur368 als Quelle des Verhältnisrnäßigkeits-

357 Vgl. das sog. VfGH (Wein-Erkenntnis), Sig. 10517/1985. 358 VfGH (Enteignung), EuGRZ 1981,28; VfGH (Atomwaffensperrgesetz), EuGRZ

1984,324. 359 VfGH (Beschäftigungsbewilligungen für Ausländer), EuGRZ 1997, 111 (113). 360 Vgl. VfGH (Strafbescheid wegen Musizierens) 11567/1987 sowie die weiteren Nachweise bei Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 113 ff. 361 VfGH (Werbeverbot für Optiker), Slg. 10718/1985; VfGH (Schrotthandelsgenehmigung), Slg. 10179/1984. 362 VfGH (Beschäftigungsbewilligungen für Ausländer), EuGRZ 1997, 111 (113). 363 V gl. dazu unten, H., 16. 364 Vgl. zuletzt etwa VfGH (Unverhältnismäßigkeit eines Werbeverbots für Kabelrundfunk), EuGRZ 1997, 252 (254); VfGH (Unverhältnismäßigkeit der Einspeisung selbstproduzierten Kabelrundfunks), EuGRZ 1996, 106 (108); vgl. auch VfGH (Strafe für unflätiges Protestlied), Sig. 10700/1985. 365 VfGH (Abschiebung von Ausländern), EuGRZ 1986, 190 ff. 366 VfGH (Auflösung einer Spontanversarnrnlung nur bei Notwendigkeit), EuGRZ 1996,471 (473). 367 Vgl. Novak, in: Winkler-FS, S. 39 (57 ff.). 368 Vgl. etwa Schäffer, in: Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 44 (68); Merli, in: Hofmann, RechtsstaatIichkeit in Europa, S. 83 (102) sowie ausführlich Pöschl, JBI. 1997,413 ff. m.w.N. (Fn.7).

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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grundsatzes betrachtee69 • Die Grundrechtsprechung des VfGH hat sich dementsprechend bis in die achtziger Jahre fast ausschließlich auf den Gleichheitssatz eines der wenigen in der Verfassung enthaltenen Grundrechte 370 - konzentriert37\ . Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wurde von den Gerichten gleichsam "aus dem Gleichheitsgrundsatz heraus,,372 entwickelt. Als Voraussetzung der Einschränkung des Gleichheitssatzes wurde zunächst ein Sachlichkeitsvorbehalt postuliert, der sich eng an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anlehnte. Statt zwei ähnliche Sachverhalte zu vergleichen, untersucht der Gerichtshof im Rahmen der "Sachlichkeitsprüfung", ob die jeweilige Regelung als solche - und nicht im Vergleich mit einer ähnlichen Maßnahme - sachlich gerechtfertigt war. Durch die Aufgabe des Vergleichsmoments entwickelte sich das Sachlichkeitsgebot zu einer allgemeinen Eingriffsschranke im Sinne eines Abwägungsgebots, das auch bei den Freiheitsrechten anwendet wurde. Dies ftihrte dazu, dass die Rechtmäßigkeit eines Eingriffs in ein bestimmtes Freiheitsrecht anband des Gleichheitsgebots geprüft wurde. Eine Grundrechtsverletzung lag immer dann vor, wenn die Regelung "das sich aus dem Gleichheiissatz ergebende Sachlichkeitsgebot verletzt ,,373. Die Sachlichkeitsprüfung des Gleichheitssatzes wurde so zu einer wichtigen Eingriffsschranke, was zu einer dominanten Stellung des Gleichheitssatzes und zu einer weitgehenden Verdrängung der anderen Grundrechte ftihrte 374 • Der VfGH zog das Sachlichkeitsgebot auch heran, wenn es einen Verstoß gegen das Wesensgehaltsgebot prüfte, das in der Prüfungspraxis ebenfalls eine große Rolle als Eingriffsschranke spielte 375 . Eine Verletzung des Wesensgehalts eines Grundrechts ist nach Ansicht des VfGH abzulehnen, wenn eine Maßnahme sachlich gerechtfertigt ist376 • Eine Analyse der neueren Rechtsprechung 377 zeigt jedoch, dass sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

369 Die Rechtsprechung hat bislang nicht zum Geltungsgrund der Verhältnismäßigkeit Stellung genommen, vgl. Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 76. 370 Vgl. zur ähnlichen Situation in Belgien, unten, 11., 9. 371 Bis zum 31.12.1979 wurden 121 Gesetze wegen eines Verstoßes gegen die Verhältnismäßigkeit und nur 22 wegen sonstiger Grundrechtsverstöße aufgehoben, vgl. Öhlinger, EuGRZ 1982,216 (244). Auch danach hat sich wenig an der Dominanz des Gleichheitssatzes geändert, vgl. Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 78, Fn. 49. 372 Päschl, JBI. 1997,413 m.w.N. (Fn. 3). 373 So wörtlich der VfGH (Witwenpensionen), Sig. 8457/1978. 374 Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 78. 375 Korinek, Grundrechtsverständnis, S. 88. 376 Vgl. etwa VfGH, Sig. 7304/1974; 8813/1980; dazu Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 78. 371 Vgl. VfGH (Arbeitserlaubnis flir Ausländer - unverhältnismäßiger Eingriff in die Privatautonomie), EuGRZ 1997, 111 (\ 13); VfGH (Unverhältnismäßigkeit eines Werbeverbots für Kabelrundfunk), EuGRZ 1997, 252 (254); VfGH (Unverhältnismäßigkeit

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

mittlerweile weitgehend vom Sachlichkeits- und Wesens gehalts grundsatz emanzipiert hat und zunehmend explizit als eigenständige Eingriffsschranke herangezogen wird. Auch die Priifungsstruktur des Verhältnismäßigkeitsprinzips hat sich in den letzten zwanzig Jahren von einer reinen Evidenzkontrolle378 zu einem mehrere Priifungsstufen umfassenden Rechtsprinzip entwickelt. Ohne dass sich eine konsequente dreistufige Kontrolle wie etwa im deutschen Recht herausgebildet hätte, finden sich heute sowohl Priifungen der Eignunl79 als auch der Erforderlichkeit38o einer Maßnahme. Der Schwerpunkt der Verhältnismäßigkeitspriifung liegt jedoch bei der Abwägung der verfolgten Ziele und der damit verbundenen Beeinträchtigungen38\. Die Rechtsprechung ermittelt das jeweilige Gewicht der jeweiligen Rechtspositionen im allgemeinen sehr sorgfaltig. Im Zusammenhang mit der Erwerbsfreiheit hat der VfGH eine an das entsprechende deutsche Konzept angelehnte Stufentheorie entwickelt382 . c) Praktische Bedeutung

aa) Kontrolldichte Wenn dem österreichischen Recht auch zumindest bei der Normenkontrolle eine geringere Kontrolldichte als dem deutschen Recht bescheinigt wird, so zeigt doch die große Anzahl von als unverhältnismäßig verworfenen Gesetzen383 , dass Österreich zu den Ländern Europas gehört, in denen die Verhältder Einspeisung von Kabelrundfunk), EuGRZ 1996, 106 (108); VfGH (Auflösung einer Spontanversammlung nur bei Notwendigkeit), EuGRZ 1996,471 (473). 378 V gl. zum sog. "Exzessverbot" Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 77 f. 379 Vgl. VfGH (Wein-Erkenntnis), Slg. 1136911987; VfGH (GüterbeförderungsBedarfsprüfung), Slg. 1148311987; mehrere Gesetze wurden als ungeeignet abgelehnt, vgl. etwa VfGH (Taxifahrer-Bedarfsprüfung), Slg. 109311986; VfGH (AugenoptikerWerbeverbot), Slg. 1071811985; VfGH. 380 Vgl. VfGH (Werbeverbot für Kabelrundfunk) EuGRZ 1997, 252 (254); VfGH (Strafe für unflätiges Lied), Sig. 10700/1985; häufig auch im Zusammenhang mit dem Eigentum seit VfGH (Enteignung), Sig. 3666/1959. 38\ Vgl. etwa VfGH (Ladenschluss), Slg. 11558/1987; VfGH (GüterbeförderungsBedarfsprüfung), Slg. 11483/1987VfGH (Beschäftigungsbewilligungen für Ausländer), EuGRZ 1997, 111 (113); VfGH (Unverhältnismäßigkeit der Einspeisung selbstproduzierten Kabelrundfunks), EuGRZ 1996, 106 (108); VfGH (Auflösung einer Spontanversammlung nur bei Notwendigkeit), EuGRZ 1996,471 (473). 382 Vgl. etwa die Unterscheidung zwischen Berufsausübungs- und Berufszugangsregelung, die nur durch "besonders wichtige Interessen" gerechtfertigt ist in VfGH (Güterbeförderungs-Bedarfsprüfung), Slg. 1148311987. 383 Vgl. zuletzt etwa. VfGH (Beschäftigungsbewilligungen für Ausländer - unverhältnismäßiger Eingriff in die Privatautonomie), EuGRZ 1997, 111 (113); VfGH (Un-

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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nismäßigkeitskontrolle sich nicht auf eine reine Willkürkontrolle beschränkt. Vielmehr suchen die Gerichte ohne Scheu vor einem Eingriff in den geschützten Bereich der Legislative bzw. Exekutive mögliche Alternativen. bb) Rang Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird auch zur Kontrolle von Gesetzen herangezogen und besitzt heute als übergreifendes Prinzip fiir das hoheitliche Handeln Verfassungsrang 384 . cc) Funktion Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dient der Verwaltung als Auslegungsmaxime 385 und soll dabei vor allem die individuellen Rechte des einzelnen schützen386 • Als zentrale Auffang- und Abwägungsnorrn387 wirkt sich die Verfassungsdirektive aber auch im Organisationsrecht und damit in einem Bereich aus, in dem Grundrechte nicht unmittelbar betroffen sind388 •

d) Würdigung

Die Betrachtung der Entwicklung der Verhältnismäßigkeit in Österreich zeigt den erheblichen Einfluss ähnlicher Konzepte aus Deutschland, der

verhältnismäßigkeit eines Werbeverbots für Kabelrundfunk), EuGRZ 1997, 252 (254); VfGH (Unverhältnismäßigkeit der Einspeisung selbstproduzierten Kabelrundfunks), EuGRZ 1996, 106 (108); VfGH (Güterbeförderungs-Bedarfsprüfung), Slg. 1148311987; mehrere Gesetze wurden als ungeeignet abgelehnt, vgl. etwa VfGH (Taxifahrer-Bedarfsprüfung), Sig. 109311986; VfGH (Augenoptiker-Werbeverbot), Slg. 1071811985; VfGH (Strafe für unflätiges Lied), Slg. 10700011985; VfGH (Schrottlenkungsgesetz), Sig. 10179/1984. Die geringe Zurückhaltung bei der Normenkontrolle zeigt sich im Übrigen auch schon an der hohen Anzahl verworfener Gesetze: allein bis 1980 wurden über 400 Gesetze vom VfGH für verfassungswidrig erklärt, vgl. Öhlinger, EuGRZ 1982, 216 (244). 384 Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 123; Novak, in: Winkler-FS, S. 39 (56). 385 Adamovich, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 59. 386 Adamovich, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 59. 387 SchäfJer, in: Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 44 (56). 388 SchäfJer, in: Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 44 (56).

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Schweiz389, der EG 390 und besonders der Europäischen Menschenrechtskonvention39 \ auf das österreichische Prinzip, dessen Dogmatik durch die enge Verbindung mit dem Gleichheitssatz dennoch eigene Konturen aufweist. 6. Italien a) Anwendungsbereich

Der italienische Strafrechtsge lehrte und Mitbegründer der Strafzumessungslehre Beccaria hat sich schon im 18. Jahrhundert für Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Leitprinzip der Strafzumessung eingesetzt392 • Außerhalb des Strafrechts hat sich in Italien jedoch ein eigenständiges Verhältnismäßigkeitsprinzip als Maßstab des staatlichen Handeins bisher nicht etabliert393 • Die italienische Verfassung besitzt zwar einen umfangreichen Grundrechtskatalog 394 , dessen Einhaltung im Rahmen der Normenkontrolle von einem eigenen Verfassungsgericht (Corte costituzionale) überprüft wird395 • Die differenzierte Schrankensystematik des Grundrechtsteils der Verfassung gibt jedoch nur die jeweils zulässigen Eingriffszwecke an und enthält keine Vorgaben bezüglich der Intensität der zulässigen Mittee96 • Allerdings stellt das Verfassungsgericht, ohne den Begriff der "proporzionalita" zu verwenden oder auf ein entsprechendes Rechtsprinzip zurückzugreifen, mitunter ausführlichere Zweck-Mittel-Erwägungen an, die einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nahekommen. So werden im Rahmen des die Verfassungs-

389 Zum Einfluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts und des schweizer Bundesgerichts vgl. Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 76. 390 Zum Einfluss des EuGH vgl. Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 76 f 391 Dazu Ermacora, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 67 (72). Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 82 ff. 392 Beccaria, Dei delitti e delle pene, S. 40: "Dunque vi deve essere una proporzione fra i delitti e le pene 393 So ausdrücklich Sandulli, Rivista trimestrale di diritto pubblico 1995,329 (346); Hahn, Verwaltungsakt, S. 143; Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 107; Ubertazzi, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 79; Schwarze, Verwaltungsrecht 11, S. 675; Galetta, in: Cuademos de Derecho Publico 5 (1998), S. 299 (321). 394 Dazu Feger, Jura 1987,6 (10). Zur weitgehenden Deckungsgleichhiet zur EMRK vgl. Astuti, EuGRZ 1981, 77 (79). Nicht im Grundrechtskatalog enthalten sind allerdings die Rechte aus Art. 10 und 8 EMRK. 395 Vgl. ausführlich Luther Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, 76 ff. Zu den weitreichenden Kompetenzen des Verfassungsgerichts auch Lombardi, in: Starck, Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung, S. 85 (93 f). 396 Monaco, in: Grabitz, Grundrechte in Europa, S. 412 f H.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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rechtsprechung dominierenden Gleichheitssatzes 397 mitunter die eingesetzten Mittel auf ihre "Vernunft,,398 hin überprüft. Ausführungen zum Verhältnis von Zweck und Mitteln finden sich etwa in Entscheidungen zur Meinungi 99 - und Rundjunkjreiheiloo. Erforderlichkeitserwägungen lassen sich daneben sowohl im Staatsnotstandsrechlo 1 als auch bei der Prüfung von Eingriffen ins Eigentum nachweisen. Hier prüfen die Verwaltungs gerichte nicht nur Enteignungen402, sondern auch Inhalts- und Schrankenbestimmungen403 darauf, ob der "Grundsatz der geringstmöglichen Opfer fiir die betroffenen privaten Interessen" gewahrt wurde. Verhältnismäßigkeitserwägungen im Sinne einer ZweckMittel-Abwägung404 finden sich schließlich auch im Verwaltungssanktionenrechlo 5.

b) Dogmatik

Bei der Normenkontrolle des Corte costituzionale hat sich im Rahmen des praktisch bedeutsamen Gleichheitssatzes das Kriterium der "Vernunft" ("ragionevolezza") zu einem entscheidenden Rechtrnäßigkeitskriterium entwickelt406 . 397 Zur großen Bedeutung des Gleichheitssatzes, auf dem ca. 80 % aller Sachentscheidungen des Corte costituzionale beruhen vgl. Luther Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 105, Fn. 263. 398 Zur Vermischung von "ragionevalezza" und Verhältnismäßigkeit vgl. sogleich b). 399 Dazu etwa Galetta, in: Cuademos de Derecho Publico 5 (1998), S. 299 (303). 400 Luther Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 107. 401 Zur "necessita" im Recht des Staatsnotstandes als Grundlage und Eingrenzung für die Schaffung notrechtlicher Normen Lerche, Übermaß, S. 304; vgl. allgemein zur Anwendung im Zusammenhang mit militärischen Maßnahmen Venturini, Necessita e proporzionalita nel\'uso della forza militare, S. 33. 402 V gl. dazu Galetta, in: Cuademos de Derecho Publico 5 (1998), S. 299 (315). 403 Vgl. die Entscheidung der Staatsrats zum Denkmalschutz von 1991, Cons. Stato, Sez. IV v. 26.09.1991, Nr',596 (Ministero dei beni culturali c. Sciarra e Paolocci), Cons. St. 1992, I, 1368: ,,E illegittimo il provvedimento amministrativo (..) che non rispetti la necessaria proporzione tra terreni vincolati e scopi perseguiti dal procedimenta di imposizione dei vincolo." Vgl. auch schon das Urteil Nr. 14/1964 des Corte costituzionale zum in Art. 42 und 43 der Verfassung geregelten Enteignungsrecht: ,,Eine Verfassungswidrigkeit würde sich auch aus der Feststellung ergeben, dass das Gesetz völlig ungeeignete oder dem verfogten Zweck widerstrebende Mittel vorsieht (..)." (zit. nach Luther Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 107); vgl. auch MüllerMichaels, Eigentumsschutz, S. 169 u. 177. 404 Zu den zahlreichen Anwendungsfällen der hier nicht unter den Verhältnismäßigkeitsbegriff subsumierten distributiven Verhältnismäßigkeit im Steuer-, Gebühren und Vergaberecht vgl. Galetta, in: Cuademos de Derecho Publico 5 (1998), S. 299 (311 ff.). 405 S. die Nachweise bei Ubertazzi, in: Kutscher, Verhältnismäßigkeit, S. 79 (80 f.). 406 Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 105 ff.; zum Gleichheitsatz auch Kindler, Einführung in das italienische Recht, S. 25.

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Danach ist eine Nonn verfassungswidrig, wenn sie ohne vernünftigen Grund Bürger unterschiedlich behandelt407 . Wenn das Verfassungsgericht Erwägungen der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt, geschieht das zumeist im Rahmen der Prüfung der ragionevolezza408 • In der eng an das französische Recht angelehnten Dogmatik des italienischen Verwaltungsrechts 409 spielt die Verhältnismäßigkeit daneben auch im Zusammenhang mit dem Grundsatz der "ordnungsgemäßen Verwaltung" ("buon andamento") eine Rolle, der im Rahmen des Ennessensfehlers des "eccesso di potere,,410 überprüft wird. Dieser Grundsatz umfasst nach der überwiegenden Auffassung auch die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit, Geeignetheit und der sorgsamen Interessenabwägung und damit von Elementen der Verhältnismäßigkeit411 . Trotz einzelner Ansätze einer Eignungsprüfung412 wird das eingesetzte staatliche Mittel bislang vor allem auf seine Angemessenheit ("proporzionalitaadeguatezza") überprüft413 • Eine Erforderlichkeitsprüfung bleibt die Ausnahme 414 . 407 Vgl. das Urteil der Corte costituzionale Nr. 1511960 bei Luther, a.a.O. 408 Vgl. etwa Galetta, in: Cuademos de Derecho Publico 5 (1998), S. 299 (302) sowie

die Nachweise bei Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 107; zur "ragionevolezza" vgl. Galateria/Stipo, Manuale di diritto amministrativo, S. 374; Meloncelli, Diritto pubblico, S. 173 f 409 Vgl. dazu Hahn, Der italienische Verwaltungsakt, S. 3 f; zu den Nichtigkeitsgrunden vgl. auch Galetta, in: Cuademos de Derecho PUblico 5 (1998), S. 299 (321 ). 410 Vgl. zu den bei den anderen Rechtswidrigkeitsgründen der "incompetenza" und der "violazione di legge" Karwiese, Kontrolle der Verwaltung, S. 50; Hahn, Der italienische Verwaltungsakt, S. 131; Certoma, Italian Legal System, S. 153; Delpino/Giudice, Diritto amrninistrativo, S.286 ff. Zur französischen Dogmatik des "exces de pouvoir" vgl. oben H., 2. 411 So ausdrücklich Meloncelli, Diritto pubblico, S. 318; Delpino/Giudice, Diritto amrninistrativo, S.236; Sandulli, Manuale di diritto amrninistrativo, S. 564; Cappacioli, Manuale di diritto amrninistrativo, S. 285; Hahn, Der italienische Verwaltungsakt, S. 143; Schwarze, Verwaltungsrecht, Band H, S. 677; Hartwig, in: Frowein, Kontrolldichte, S. 59 (71). Vgl. aber auch die Gegenauffassung von Salta, Giustiza amrninistrativa, S. 241; auch bei Galateria/Stipo, Manuale di diritto amrninistrativo, S. 224 ist die Verhältnismäßigkeit nicht erwähnt. 412 Vgl. etwa das Urteil Nr. 14/1964 des Corte costituzionale zum in Art. 42 und 43 der Verfassung geregelten Enteignungsrecht: ,,Eine Verfassungswidrigkeit würde sich auch aus der Feststellung ergeben, dass das Gesetz völlig ungeeignete oder dem verfolgten Zweck widerstrebende Mittel vorsieht (...)." (zit. nach Luther: Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, S.1 07). 413 Vgl. Sandulli, Rivista trimestrale di diritto pubblico 1995, 329 (364); Hahn, Der italienische Verwaltungsakt, S. 143; Schwarze, Verwaltungsrecht H, S. 676 f; Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 107. 414 Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 107.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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Wie in anderen Ländern fmdet in Italien die VerhältnismäßigkeitspfÜfung somit zumeist "verdeckt,,415 unter dem Deckmantel anderer Rechtsgrundsätze statt und ist noch nicht als eigenständiger Kontrollmaßstab etabliert.

c) Praktische Bedeutung

Die geringe Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird von der Literatur u.a. auf die wenig entwickelte Verhältnismäßigkeitsdogmatik zUfÜckgeruhrt. Die Ansätze einer von VerhältnismäßigkeitspfÜfung durch italienische Gerichte blieben vage und seien zu wenig konturiert, um die Verhältnismäßigkeit zu einemjustiziablen Prinzip erstarken zu lassen416 . Daneben ist die von den Gerichten angelegte Kontrolldichte im Vergleich etwa mit der deutschen Rechtsprechung eher gering 417 , was sich u.a. dadurch manifestiert, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz des "buon andamento" nur als Zweckmäßigkeitsfehler ("vizio di merito") angesehen wird und daher nur einer eingeschränkten Kontrolle unterliegt418 • Die Ermessenkontrolle befindet sich aber auch in Italien in einem Reformprozess, so dass einige Autoren auch rur den Bereich der "ragionevolezza"-PfÜfung in Zukunft eine erhöhte Kontrolldichte erwarten419 •

d) Würdigung

In Italien ist bislang weder eine eigenständige Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung noch eine entsprechende wissenschaftliche Diskussion auszumachen. Eine Doktrin der Verhältnismäßigkeit hat sich bislang noch nicht entwickelt420 • Es mag dahingestellt bleiben, ob die Ursache darur in der Integration

415 Sandulli, Rivista trimestrale di diritto pubblico 1995,329 (364), spricht von einer "applicazione nascota". 416 Galetta, in: Cuademos de Derecho Publico 5 (1998), S. 299 (319). 417 Dazu Sandulli, Rivista trimestrale di diritto pubblico 1995, 329 (361): .. ... un ambilo actualmente limitato "; Hahn, Der italienische Verwaltungsakt, S. 145; Tonne, Rechtsschutz, S. 104. 418 Vgl. zum "vizio di merito" und dessen eingeschränkter Justitiabilität, die auf wenige Fallgruppen (Dringlichkeitsmaßnahmen des Bürgermeisters; Grenzstreitigkeiten zwischen Gemeinden und Provinzen; Eingriffe in die Pressefreiheit) beschränkt bleibt Delpino/Giudice, Diritto amministrativo, S.241 f.; Karwiese, Kontrolle der Verwaltung, S. 50; Hahn, a.a.O. 419 Sandulli, Rivista trimestrale di diritto pubblico 1995,329 (360) m.w.N. 420 Galetta, in: Cuademos de Derecho Publico 5 (1998), S. 299 (319).

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

der Verhältnismäßigkeitsprüfung in andere Rechtsprinzipien421 oder im geringen Einfluss des europäischen Rechts auf die Grundrechtsdogmatik422 liegt.

7. Griechenland

a) Anwendungsbereich In Griechenland ist die Verhältnismäßigkeit aus dem Bereich des Strafrechts 423 ins allgemeine Verwaltungsrecht vorgedrungen, wo der Staatsrat424 als oberstes Verwaltungsgericht bei der Prüfung von Verwaltungsakten seit langem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ("UVUAOytKO'tT]'ta") als Richtschnur des Verwaltungsermessens heranzieht425 • Er fmdet hier nicht nur im Sanktionenrechl 26 , sondern im gesamten Wirtschajtsverwaltungsrechl 27 Anwendung. Große Bedeutung hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch beim Grundrechtsschutz. Zwar fehlt eine Individualverfassungsbeschwerde428 und eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit429 , jedoch hat der Staatsrat die umfangreichen Grundrechtsgarantien der Verfassung und der EMRK von Amts wegen zu

421 Chiti in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 229 (248), ist sogar der Auffassung, das italienische Recht enthalte ein ähnliches Verhältnismäßigkeitsprinzip wie das Gemeinschaftsrecht. 422 So ausdrücklich Chiti, a.a.O., S. 266, der angesichts eines hohen Schutzstandards der Grundrechte einen geringen Einfluss des EMRK-Rechts in Italien konstatiert und auch keine Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die italienische Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung sieht. 423 Vgl. zur "Erforderlichkeitsklausel" im griechischen Notwehrrecht Stamatis, Die Notwehr nach deutschem und griechischem Strafrecht, S. 219; zum Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Strafzumessung vgl. Kaiafa, Modeme Tendenzen bei der Strafzumessung im griechischen und deutschen Strafrecht, S. 45 ff. 424 Zum 1929 eingerichteten Staatsrat ("Symbouliou Epikratias") vgl. Gerontas, Das griechische Verwaltungsrecht, S. 25 ff. 425 KtistakilPapadimitriou, REDP 10 (1998), S. 925 (933); Gerontas, Das griechische VerwaItungsrecht, S. 31 u. 96 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen. Vgl. auch Manessis, in: , in: I1iopoulos-Strangas, Grundrechtsschutz im europäischen Raum, S. 15 (28). 426 Vgl. etwa SE 25711987: "Die Verwaltung muß bei der Bestimmung der angemessenen Strafe ( ..) nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit die Schwere des Verstoßes sowie die individuellen Tatumstände berücksichtigen." (zit. nach KtistakilPapadimitriou, REDP 10 (1998), S. 925 (934». 427 Dazu Efstratiou, in: Schwarze/Schmidt-Aßmann, Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle, S. 111 (150 ff.). 428 Feger, Jura 1987,6 (10). 429 Streinz, Grundrechtsschutz, S. 138.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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prüfen43o • Dabei griff er zunächst bei Eingriffen ins Eigentumsrechl31 und die Berufsfreiheit432 , später aber bei allen Grundrechtseingriffen auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip zurück, um den zulässigen Umfang eines Grundrechtseingriffs zu bestimmen. In einer Reihe von Gesetzen wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausdrücklich genannt433 •

b) Dogmatik

Die griechische Verwaltungsrechtsdogmatik ist zwar eng an das französische Modell angelehnt434 , ordnet die Verhältnismäßigkeitskontrolle aber - anders als das französische Recht - dem Aufuebungsgrund des Ermessensmissbrauchs 435 und nicht dem der Gesetzesverletzung436 zu. Im Bereich des Verwaltungsrechts wird die Verhältnismäßigkeit auch als Unterfall des "Grundsatzes der guten Verwaltung" angesehen437. Nachdem der Staatsrat sich bezüglich der dogmatischen Einordnung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zunächst zurückgehalten hatte438 , hat er den Grundsatz inzwischen als eigenständige Rechtmäßigkeitsvoraussetzung flir Grundrechtseingriffe etabliert, was von einigen auf den zunehmenden Einfluss

430 Feger, Jura 1987, 6 (J 0); Flogaitis, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 409 (421). 431 Vgl. SE 217311988 und 139511990; dazu KtistakilPapadimitriou, REDP 10 (J 998), S. 925 (934). 432 Vgl. die Definition des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Urteil SE 2112/1984 zur Berufsfreiheit gern. Art. 5 der Verfassung, zit. nach KtistakilPapadimitriou, REDP 10 (1998), S. 925 (934). 433 Vgl. die Nachweise bei Dagtoglou, Verfassungsrecht, S. 181 f. 434 Vgl. etwa Panagopoulos, DVBI. 1977, 154: "Bis vor kurzem war das Verwaltungsrecht in Griechenland ausschließlich von der französischen Tradition beeinflußt. " Zur wörtlichen Übernahme der vier Aufhebungsgründe des französischen Rechts vgl. Efstratiou, in: Schwarze/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle, S. 111 (140). 435 Dagtoglou, in: Verfassung und Verwaltung, Grothusen (Hrsg.), SüdosteuropaHandbuch, Band 3, Griechenland, S. 14 (44). Skeptisch gegenüber einer solchen Einordnung: Efstratiou, in: Schwarze/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle, S. 111 (J 46). 436 Vgl. zum entsprechenden, an die "violation de la loi" angelehnten Aufhebungsgrund Gerontas, Das griechische Verwaltungsrecht, S. 117. 437 Dagtoglou, in: Verfassung und Verwaltung, Grothusen (Hrsg.), SüdosteuropaHandbuch, Band 3, Griechenland, S. 14 (44). Zu dieser von ihm als "etwas undifJerenziert und unsystematisch" bezeichneten Rechtsprechung vgl. Efstratiou, in: Schwarze/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle, S. 111 (J 50). 438 KtistakilPapadimitriou, REDP 10 (J 998), S. 925 (933).

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

der Rechtsprinzipien des deutschen Rechts 439 bzw. des Gemeinschaftsrechts 440 zurückgeführt wird. Parallelen zeigen sich etwa, wenn der Staatsrat von einem "verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" spricht, der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und den individuellen Freiheitsgarantien ergebe und der bei allen Grundrechtseinschränkungen zu beachten sei441 • Intensität 442 und Dauel43 einer Grundrechtseinschränkung dürfen danach nicht über das erforderliche Maß hinausgehen. Im Verwaltungsrecht wird von den Gerichten sowohl die Geeignetheit444 als auch die Erforderlichkeit445 und die Angemessenheit überprüft, wobei die letzte Stufe im Sinne einer Kosten-Nutzen-Bilanz verstanden wird446 •

c) Praktische Bedeutung Zumindest bei der Kontrolle des Verwaltungshandelns geht die Kontrolldichte der gerichtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle weit447 über die Prüfung reiner Ermessenswillkür hinaus. Dies zeigt sich an der Prüfung der dritten Stufe als Kosten-Nutzen-Bilanz, bei der nicht nur die "offensichtliche Unangemessenheit", sondern schon ein Überwiegen der Nachteile zur Unverhältnismäßig-

439 Zur - vor allem auf die Ausbildung griechischer Juristen an deutschen Universitäten zurückzuführenden - Rezeption deutschen Rechts vgl. Gerontas, Das griechische Verwaltungsrecht, S. 92. 440 Flogaitis, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 409 (432), spricht von einer" increasing tendency of Hellenistic administrative jurisdictions to have recourse to the principles ofCommunity administrativ law. " 441 V gl. SE 211211984, zit. nach Ktistaki/Papadimitriou, REDP 10 (1998), S. 925 (934). Vgl. die Po si ti vierungen des Rechtsstaatsgebots in den Artikeln 1, 26, 50 und 95 der Verfassung vom 9. Juni 1975 und das al1gemeine Freiheitsgrundrecht gern. Art. 5 Abs. I. Vgl. auch SE 25711987: ,,Die Verwaltung muß bei der Bestimmung der angemessenen Strafe (..) nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit die Schwere des Verstoßes sowie die individuellen Tatumstände berücksichtigen. ", zit. nach Ktistaki/Papadimitriou, REDP 10 (1998), S. 925 (934). Zur Verhältnismäßigkeitsbindung Efstratiou, in: Starck, Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung, S. 148. 442 Vgl. nur SE 1341/1982, 2261/1984, 368211986, 1149/1988 und 1426/1989, zit nach Efstratiou, in: Schwarze/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Ausmaß der gerichtlichen Kontrol1e, S. 111 (151, Fn. 195). 443 Vgl. dazu schon SE 2111958 und 1961/1966, zit. nach Efstratiou, in: Schwarze/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Ausmaß der gerichtlichen Kontrol1e, S. 111 (151). 444 Efstratiou, in: Schwarze/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Ausmaß der gerichtlichen Kontrol1e, S. III (150). 445 Dazu Ktistaki/Papadimitriou, REDP 10 (1998), S. 925 (933). 446 Efstratiou, in: Schwarze/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Ausmaß der gerichtlichen Kontrol1e, S. 111 (150), rn.w.N. 447 So wörtlich Efstratiou, a.a.O., S. 111 (151).

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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keit fiihrt448. Vorsichtiger ist der Staatsrat allerdings bei der Verhältnisrnäßigkeitskontrolle des Gesetzgebers. Diese Zurückhaltung wird insbesondere am weiten Ermessensspielraum bei der Notwendigkeitsprüfung deutlich, wo die Suche nach milderen Alternativen nicht auf eine "Zweckmäßigkeitskontrolle" des Gesetzgebers hinauslaufen dÜTfe449 . Der Verfassungsrang des Verhältnisrnäßigkeitsgrundsatzes im griechischen Recht wird dadurch jedoch nicht in Frage gestellt450 • Der Verhältnisrnäßigkeitsgrundsatz dient heute als übergreifende Leitmaxime des hoheitlichen Handelns und begrenzt nicht nur Eingriffe in Freiheitsrechte, sondern ist auch beim leistenden Staatshandeln und bei den in der griechischen Verfassung ausdrücklich norrnierten451 Grundrechten der "Dritten Generation" zu beachten452 • d) Würdigung

Das vom französischen Recht geprägte Verwaltungsrecht Griechenlands geht bei der Verhältnismäßigkeitskontrolle der Verwaltung über das französische Modell hinaus und folgt auch in Bezug auf die Kontrolldichte eher der deutschen Dogmatik. 8. Niederlande a) Anwendungsbereich

Das Verwaltungsrecht der Niederlande befindet sich in einem - nicht zuletzt durch gemeinschaftsrechtliche Einflüsse angestoßenen - Reformprozess 453 , der die Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips ("evemedigheidsbeginsel" oder Efstratiou, a.a.O, S. 111 (150), m.w.N. Vgl. die Ablehnung der Entscheidung über mildere Regelungsalternativen des Gesetzgebers im Urteil SE 114911 988: Das Verhältnismäßigkeitsprinzip sei nicht verletzt, " weil der Richter nicht die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellen kann, wenn nur dessen Zweckmäßigkeit bestritten wird (..) .., zit. nach KtistakilPapadimitriou, REDP 10 (1998), S. 925 (935). 450 Zum Verfassungsrang Efstratiou, in: Schwarze/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle, S. 111 (151) sowie KtistakilPapadimitriou, REDP 10 (1998), S. 925 (935). 451 Vgl. etwa die Umwelt- und Kulturgüterschutzgebote des Art. 24 der Verfassung. 452 Zur Anwendbarkeit in diesem Bereich jenseits der Freiheitsrechte vgl. KtistakilPapadimitriou, REDP 10 (1998), S. 925 (935). 453 Zu den von Art. 6 EMRK und der zunehmenden Anwendung von Gemeinschaftsrecht vor nationalen Gerichten beeinflussten Reformbemühungen vgl. etwa De LangelWiddershoven, in: Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 529 (534 f./555). 448

449

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

"proportionaliteitsbeginsel") im öffentlichen Recht der Niederlande spürbar gestärkt hat. Noch in den achtziger Jahren kamen verschiedene Studien über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in den Niederlanden zum Schluss, dass ein solches Prinzip im öffentlichen Recht nur einen marginalen Anwendungsbereich habe und kaum praktische Bedeutung entfalte 454 . In der Tat spielte der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz lange Zeit vor allem455 im Strafrecht456 und in den "verwandten" Bereichen des Disziplinarrechts und bei der Überprüfung sonstiger hoheitlicher Sanktionen457 eine Rolle. Bis 1994 fanden sich nur vereinzelte gesetzliche Hinweise auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bzw. auf gesetzliche Abwägungsgebote. So begrenzt Art. 15 Abs. 3 der Verfassung (Grondwet) vom 17.02.1983 die Zeit zwischen Festnahme und Verhandlungstermin auf eine "angemessene" Frist. Die meisten Entscheidungen zur Verhältnismäßigkeit ergingen bislang im Zusammenhang mit Artikel 58 Absatz 3 des Beamtengesetzes (Ambtenarenwet) von 1929, der Beamten die Klage gegen der Schwere des Vergehens nicht angemessene Disziplinarmaßnahmen eröffnet458 . Unter dem Eindruck der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des EuGH zogen niederländische Gerichte den Grundsatz seit den späten achtziger Jahren aber verstärkt nicht nur in Urteilen mit Gemeinschaftsrechtsbezug459 , sondern auch in innerstaatlichen Fällen als Prüfungskriterium heran. So verwarf das oberste Gericht der Niederlande, der Hoge Raad, die Rückforderung der Gesamtsumme einer Subvention angesichts einer geringfügigen Fristüberschreitung als "unverhältnismäßig" und folgte so der entsprechenden Rechtsprechung des EuGH. Die Amtshaftung des Staates für Konkurse, die durch ein unange454 Vgl. die Studien von PrechallHeukels, SEW 1986,287 (301); Hailbronner, in: General Reports to the 10th International Congress of Comparative Law, S. 831 (836) (1981); Schwarze, Verwaltungsrecht 11, S. 683 (1988; vgl. auch De BloislHeringa, in: Grabitz, Grundrechte in Europa, S. 548 ff. (1984). 455 Vgl. zur Anwendung im Zivilrecht PrechallHeukels, SEW 1986, 287 (301). 456 Vgl. etwa zur Anwendung bei Maßregelvollzug KoenradtlDrost, Recht und Psychiatrie 1985, 18 (22). 457 De Moor-van Vugt, Tilburg Foreign Law Review 7 (1998), S. 7 (14); ders., Maten en gewichten, het evenredigheidsbeginsel in europees perspectief, S. 164 ff.; De LangelWiddershoven, in: Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 529 (551,637); Hailbronner, in: General Reports to the 10th International Congress of Comparative Law, S. 831 (836). 458 Vgl. CRvB vom 21.09.1979, AB 1980, S. 90; CRvB vom 26.03.1981, AB 1981, S. 384. Dazu De LangelWiddershoven, in: Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 529 (556). 459 Vgl. HR vom 18.01.1991, AB 1991, S. 241; CBB vom 27.04.1990, AB 1990, S. 508; ARRS vom 04.12.1990, AB 1991, S. 687. Dazu De Moor-van Vugt, in: Vervaele (Hrsg.), Administrative Law Application and Enforcement of Comrnunity Law in the Netherlands, S. 81 (1 00); De LangelWiddershoven, in: Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 529 (552 f.).

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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kündigtes Verbot einer bestimmten Füttermethode ausgelöst worden waren, begründete der Raad mit "unverhältnismäßigen" Härten rur die betreffenden Unternehmer. In einer Entscheidung vom 7. Mai 1993 460 prüfte das Gericht, ob eine Lohndiskriminierung ein ,,zulässiges Ziel" verfolge und "geeignet" sei, dieses Ziel zu erreichen. Das in den Niederlanden seit dem 1. Januar 1994 geltende Verwaltungsverfahrensgesetz (Algemene wet bestuursrecht -A WB) enthält im Kapitel "Allgemeine Vorschriften ftir Entscheidungen der Verwaltung,,46I mit Artikel 3:4 Absatz 2 nun erstmals eine übergreifende gesetzliche Regelung des VerhäItnismäßigkeitsprinzips. Es heißt dort: "Die negativen Folgen einer Maßnahme462 für eine oder mehrere Personen dürfen nicht außer Verhältnis zu den mit dem Beschluss verfolgten Zielen stehen ,,463. Auch in anderen Normen des neuen Verwaltungsverfahrensgesetzes464 und des Verwaltungsgerichtsgesetzes465 und finden sich spezielle VerbÜfgungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Diese Neuregelung dokumentiert eine bemerkenswerte Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Grundsatzes, dessen Beachtung jetzt rur alle Verwaltungsentscheidungen festgeschrieben ist.

b) Dogmatik

Die Rechtsprechung zur Verhältnismäßigkeit war bis in die späten achtziger Jahre dadurch gekennzeichnet, dass Verhältnismäßigkeitserwägungen zumeist unter Rückgriff auf andere Prinzipien angestellt wurden. So griffen die Gerichte häufig auf den dem Zivilrecht entliehenen Maßstab der "zorgvuldigheid" zurück, um Maßstäbe rur das ordnungsgemäße Verwaltungshandeln zu gewin-

460 Vgl. HR vom 07.05.1993, AB 1993, S. 440; dazu De Lange/Widdershoven, in: Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 529 (552 f.). 461 "AIgemene bepalingen over besluiten." 462 Der Begriff der Maßnahme ("besluit") wird in Section 1:3 Absatz I des Gesetzes als "schriftliche Regelung einer Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts" definiert ("een schrifte\ijke beslissing van een bestuursorgaan, inhoudende een publiekrechtelijke rechtshandeling. "). 463 "De voor een ofmeer belanghebbenden nadelige gevolgen van een besluit mogen niet onevenredig zijn inverhouding tot de met het besluit te dienen doelen. " 464 Vgl. Artikel 4.4.5 ( Ausnahmen für das Verwaltungshandeln, wenn die Konsequenzen unverhältnismäßig gegenüber den verfolgten Zielen ist) oder Art. 5.1.3. (Ein Aufsichtsbeamter soll seine Kompetenzen nur insoweit ausüben, wie es notwendig zur Erfüllung seiner Aufgaben ist). 465 Vgl. die Abwägung in Artikel 8 Abs. 1 c) des Wet adminstratieve rechtspraak 0verheidsbeschikkingen.

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

nen466 . Das 1952 von Wiarda fonnulierte Prinzip der "sorgHiltigen Interessenabwägung" ("beginsel van zorgvuldige belangenafweging,,467) umfasste u.a. auch die Angemessenheit von Zweck und Mitteln468 . Zweck-MittelAbwägungen werden aber auch unter der Überschrift des Willkürverbots 469 ("verbod van willekeur") vorgenommen. Erst in den neunziger Jahren hat sich ein eigenständiges Prinzip der Verhältnismäßigkeit entwickelt, das von den Gerichten zunehmend herangezogen wird470 . Auch die neueren Urteile legen dabei den Schwerpunkt auf die Abwägung, also die Kontrolle des Verhältnisses zwischen verfolgtem Ziel und beeinträchtigten Interessen. Bislang spielen bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (außerhalb der Anwendung des Gemeinschaftsrechts) weder die Frage nach milderen Mitteln, noch die Prüfung der Eignung der Maßnahme eine Rolle 471.

c) Praktische Bedeutung

aa) Kontrolldichte Die bislang nur marginale Rolle des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im niederländischen Recht lässt sich nicht nur mit dem Fehlen einer Individualverfassungsbeschwerde oder der vergleichsweise geringen praktischen Bedeutung der Grundrechte für das Verwaltungsrecht472 , sondern vor allem mit der Beschränkung der gerichtlichen Ennessenskontrolle erklären. Bis zum Erlass des AWB war weitgehend unbestritten, dass die niederländischen Gerichte Maßnahmen der Verwaltung nur sehr eingeschränkt, nämlich auf ihre offensichtliche Unrichtigkeit kontrollieren durften473. 466 PrechallHeukels, SEW 1986,287 (301); Vermeulen, in: Vervaele (Hrsg.), Administrative Law Application and Enforcement of Community Law in the Netherlands, S. 39 (76). 467 V gl. jetzt auch den gleichnamigen Abschnitt des AWB (3.2: "Zorgvuldigheid en belangenafweging"). 468 Wiarda, Algemene beginselen, S. 84 ff. 469 De Moor-van Vugt, Tilburg Foreign Law Review 7 (1998), S. 7; PrechallHeukels, SEW 1986,287 (301); Hailbronner, in: General Reports to the 10th International Congress of Comparative Law, S. 831 (836); vgl. auch Schwarze, Verwaltungsrecht 11, S.683. 470 De LangelWiddershoven, in: Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 529 (552 f.). 471 De Moor-van Vugt, in: Vervaele (Hrsg.), Administrative Law Application and Enforcement ofCommunity Law in the Netherlands, S. 81(101); De LangelWiddershoven, in: Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 529 (555). 472 Vgl. dazu Feger, Jura 1987,6 (12). 473 Schwarze, Verwaltungsrecht 11, S. 684.

H. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

113

Seit dem Erlass des Verwaltungsverfahrensgesetzes ist jedoch ein Streit über den im Rahmen von Art. 3.4 Abs. 2 AWB anzulegenden Kontrollmaßstab entbrannt. Die nach Erlass der Vorschrift festzustellende Ausweitung der Verhältnismäßigkeitskontrolle durch die Untergerichte 474 wurde in einer jüngeren Entscheidung475 des obersten Verwaltungsgerichts abgelehnt: Nach dem Willen des Gesetzgebers habe die KodifIzierung nichts an der bestehenden Rechtslage ändern und die Gerichte auf eine Willkürkontrolle beschränken wollen. Auch Teile der Literatur fUrchten zu weitreichende Eingriffe in die Verwaltung durch eine Ausweitung der Verhältnismäßigkeitskontrolle476 • Diese Auslegung des Art. 3.4 Abs. 2 AWB wird jedoch von anderen Autoren abgelehnt, die sich für eine intensivere Überprüfung nach dem Vorbild der EuGH-Rechtsprechung einsetzen477 und sich inzwischen ebenfalls auf höchstrichterliche Rechtsprechung berufen können478 .

bb) Rang Das Verhältnismäßigkeitsprinzip richtet sich in den Niederlanden ausschließlich an die Eingriffsverwaltung 479 • Eine gerichtliche Kontrolle formeller Gesetze ist nicht möglich480 , weshalb das Prinzip auch nach der Reform von 1994 keinen Verfassungsrang genießt. cc) Funktion Während die Funktion der Verhältnismäßigkeit bislang vor allem darin bestand, Sanktionen im Interesse des Individualrechtsschutzes zu mildem, macht ihn das neue Verwaltungsverfahrensgesetz zu einer überprüfbaren Leitmaxime

Vgl. dazu De Moor-van Vugt, Tilburg Foreign Law Review 7 (1998), S. 7 (15). Vgl. die Entscheidung des Afdeling bestuursrechtspraak Raad von State vom 09.05.1996, RAwb 104. 476 V gl. zuletzt De Zeeuw, in: Binnenlands Bestuurs 19 (1998), S. 30: "Met zo'n criterium wordt de rechter op de bestuursstoel geplaatst. " 477 Vgl. insbesondere De Moor-van Vugt, Tilburg Foreign Law Review 7 (1998), S. 7 (16); De Lange/Widdershoven, in: Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 529 (551 ff.). 478 Vgl. die intensive Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Entscheidung des College van Beroep voor het bedrijfsleven vom 24.07.1996, RAwb 1997, S. 14. 479 De Moor-van Vugt, Tilburg Foreign Law Review 7 (1998), S. 7 (8). 480 Kortmann, in: JöR 33 (1984), 175 (178). 474 475

B Koch

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

des Verwaltungshandelns481 • Auch wenn Gesetze nicht anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips gerichtlich überprüfbar sind, zählt die Verhältnismäßigkeit nach einem 1991 veröffentlichen Bericht der Regierung 482 zu den Standards, die der Gesetzgeber beim Normerlass beachten sollte, um die Qualität der Gesetzgebung zu verbessern.

d) Würdigung

Die rasche Weiterentwicklung des niederländischen Verhältnismäßigkeitsprinzips in den letzten zehn Jahren zu einem übergreifenden Leitprinzip veranschaulicht den großen Einfluss entsprechender Vorbilder aus Deutschland, Frankreich und dem Europarecht, die bei der parlamentarischen Beratung von Art. 3.4 Abs. 2 AWB eine wesentliche Rolle gespielt haben483 • Der Prozess der Neubestimmung der praktischen Rolle der Verhältnismäßigkeitskontrolle im niederländischen Verwaltungsrecht ist indes noch im Gange. 9. Belgien a) Anwendungsbereich

Nicht nur das Zivilrecht, auch das öffentliche Recht Belgiens ist stark von der französischen Rechtsdogmatik beeinflusst. Mehrere Verfassungsreformen484 und der Einfluss des niederländischen Rechts haben aber im Bereich der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung für eine Emanzipation vom französischen Vorbild gesorgt. Auch in Belgien ist die Entdeckung der Verhältnismäßigkeit für das öffentliche Recht jüngeren Datums. Bis 1973 wurde etwa im Disziplinarrecht eine richterliche Überprüfung von Sanktionen aus Gründen der Gewaltenteilung vom belgisehen Conseil d'Etat abgelehnt485 • Nachdem das Gericht diese ablehnende Haltung zunächst im Bereich des Disziplinarrechts aufgegeben hatte und nun untersuchte, ob die Sanktion der Schwere des Vergehens angemessen 481 Den Aspekt als Leitmaxime der Entscheidungsfindung betont auch De Moor-van Vugt, Tilburg Foreign Law Review 7 (1998), S. 7 (14). 482 Vgl. dazu Oosterhagenlvan der Tang/de Vos, REDP 1992,437 (442). 483 Vgl. Kamerstukken H, 1988/89, 21221, Nr. 3, S. 69. dazu auch De Lange/Widdershoven, in: Schwarze, Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 529 (555); De Moor-van Vugt, Tilburg Foreign Law Review 7 (1998), S. 7 (8). 484 Dazu Colla, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beIge et en droit fran~ais, S. 85 (86 ff.). 485 Vgl. C.E. vom 19.02.1973 (Everaert), Rec. S. 151.

II. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

115

war486 , breitete sich die Verhältnismäßigkeitskontrolle - schneller als in Frankreich487 - auch in anderen Bereichen des Verwaltungsrechts aus. Zwar ist ein "allgemeines Prinzip" der Verhältnismäßigkeit auch in Belgien noch nicht von den Gerichten anerkannt worden488 • Verhältnismäßigkeitsprüfungen finden sich heute aber nicht mehr nur im Strafrechl 89 und im Disziplinarrecht, sondern in einer großen Zahl490 unterschiedlicher Rechtsgebiete, wie etwa im Ausländerrecht, wobei der Conseil d'Etat z.T. auch auf EMRK-Vorschriften Bezug nimmt491 • Wenig Scheu vor dem Gebrauch des Begriffs der "proportionnalite" zeigen belgische Gerichte auch im Polizeirecht, im Bau- und Planungsrecht oder im Steuerrecht. Spätestens mit der Gründung des belgischen Schiedshofs ("Cour d'arbitrage") 1980 fand der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch Eingang ins Verfassungsrecht. Hier spielt er neuerdings besonders im Zusammenhang mit der seit 1989 möglichen richterlichen Kontrolle einer Verletzung des Gleichheitsgebotes ("contentieux d' egalite") eine praktisch bedeutende Rolle 492 • Im Rahmen dieser neuen Kompetenzen des Schiedshofs werden auch Grundrechte, die eigentlich nicht vor dem Schiedshof rügefahig sind, wie die Rundfunkfreiheil93 , Enteignungen 494 oder das Recht auf gerichtlichen Beistan~95, über den "Umweg" der Kontrolle des Gleichheitssatzes am Maßstab 486 Lagasse, L'erreur manifeste d'appreciation en droit administratif, S. 62 betont den Einfluss des niederländischen Rechts auf diese Entwicklung. 487 Vgl. Lewalle, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit fran~ais, S. 23 (46). 488 Lewalle, in: Barreaux de Liege, Le principe de proportionnalite en droit beIge et en droit fran9ais, S. 23 (31). 489 Vgl. Colla, in: Barreaux de Liege, Le principe de proportionnalite en droit beIge et en droit fran9ais, S. 125 (137) m.w.N. 490 Vgl. die Studie von Lewalle, in: Barreaux de Liege, Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit fran9ais, S. 23 (31 ff.), der 25 Rechtsgebiete auf Spuren einer Verhältnismäßigkeitskontrolle untersucht hat und feststellen musste, dass die Verhältnismäßigkeit heute in den meisten Rechtsgebieten eine Rolle spielt. 491 Vgl. den Bezug auf Art. 8 EMRK im Urteil des CE vom 25.03.1992 (Khrichef) , Rec. S. 278. Zur Bedeutung der EMRK im belgischen Recht vgl. Meeus/Velu, EuGRZ 1981,66 (69 f.). 492 V gl. dazu ausführlich Colla, in: Barreaux de Liege, Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit fran9ais, S. 85 (89 ff.). Vgl. auch sogleich b). 493 Colla, in Barreaux de Liege, Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit fran9ais, S. 85 (94). 494 Vgl. auch Art. 16 der Verfassung vom 17. Februar 1994, nach dem Eigentum nur zum Nutzen der Allgemeinheit und gegen eine gerechte Entschädigung entzogen werden darf. Das Erfordernis einer "gerechten" Entschädigung öffnet den Weg für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. 495 Vgl. CA, Rs. 41/91 vom 19.12.1991, in der Art. 675 des Codejudiciaire, der Einschränkungen beim Rechtsbeistand vorsah, wegen eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot für rechtswidrig erklärt wurde, weil die Mittel in keinem vernünftigen Verhältnis zum erstrebten Ziel stünden C... presentent pas un rapport raisonnable de proportionnalite avec le but vise. ").

116

I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

der Verhältnismäßigkeit gemessen496 . Die Verhältnismäßigkeit spielt auch bei der beim Prinzip des Vertrauensschutzes vorzunehmenden Abwägung eine Rolle 497 . Da der Schiedshof gerade auch im Hinblick auf die Kompetenzverteilung zwischen der föderalen Ebene und den Gemeinschaften und Regionen ins Leben gerufen wurde 498 , verwundert es schließlich nicht, dass der Cour d'arbitrage die Verhältnismäßigkeit auch zur Kompetenzabgrenzung heranzieht499 •

b) Dogmatik

Ähnlich wie im französischen Recht hat sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - trotz der Ausweitung seines Anwendungsbereichs in den letzten zehn Jahren und der Fürsprache von großen Teilen der Literatur500 - noch nicht als "principe general" des belgischen Rechts etablieren können. Jedoch scheinen die belgischen Gerichte weniger zögerlich zu sein, wenn es um die Verwendung des Begriffs der "proportionnalite" geht. Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit erfolgt dabei nach Vorbild des niederländischen Verwaltungsrechts 501 meist im Rahmen der Prüfung eines Verstoßes gegen das Prinzip der "ordnungsgemäßen Verwaltung"So2. Bei der verfassungsrechtlichen Gleichheitsklage ("contentieux d' egalite") nimmt der Cour d'arbitrage - in Anlehnung an die Dogmatik des Straßburger 496 Dazu Colla, in Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit fran~ais, S. 85 (94); vgl. zu diesem Phänomen auch die Entwicklung der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung in Österreich, oben II., 4. 497 Vgl. CA, Rs. 25/90 vom 05.07.1990 (Pilotage), Moniteur beige vom 06.10.1990, 8.B.7.2., in der die Nachteile einer rückwirkenden Regelung als "nicht unverhältnismäßig in Bezug aufdas verfolgte Allgemeinwohlziel" bezeichnet wurden. 498 Wils, in: Battis/Tsatsos/Stefanou, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, S. 13 (22). 499 Vgl. nur die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Zentral staat und Regionen das Urteil des Cour d' arbitrage vom 22.10.1986, Moniteur beige vom 13.11.1986, 3.B.3.3.: ". .. chaque legislateur doit mettre en balance l'interets qu'il entend proteger en creant le privilege et les autres interets qui sont proteges par des privilleges crees par d'autres legislateurs. Dans ce cas particulier, cette proportionnalite constitue un element de la comphence du tegislateur intervenant en l'espece. " 500 V gl. die von Lewalle, in: Barreaux de Liege, Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit fran~ais, S. 23 (28), Fn. 9 genannten Autoren. SOl Dazu Suetens, TBP 1981,379 (382). 502 "Pincipe de bonne administration" bzw. "behoorlijk bestuur"; dazu Lewalle, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit fran~ais, S. 28 (29 f.).

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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Menschemechtsgerichtshofs im Zusammenhang mit Art. 14 EMRK 503 - immer dann eine Verletzung des Diskriminierungsverbots aus Art. 11 der Verfassung an, wenn "keine angemessene und verhältnismäßige Beziehung zwischen angewendeten Mitteln und angestrebtem Ziel besteht ,,504. In dieser Definition, die auf die Gegenüberstellung zweier vergleichbarer Sachverhalte verzichtet, manifestiert sich zugleich die auffälligste Besonderheit der belgischen Verhältnismäßigkeitsdogmatik, nämlich die Verknüpfung von Verhältnismäßigkeits- und Diskriminierungsprüfung. Da die richterliche Kontrolle von Grundrechtsverletzungen bislang praktisch nur bei Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot möglich ist505 , kommt dem Gleichheitssatz in Belgien die Funktion eines "Auffanggrundrechts" ZU 506, weshalb auch der im Zusammenhang mit dem Gleichheitsgrundsatz geprüfte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein breiteres Anwendungsfeld gewinnt. Bei der im Rahmen der Diskriminierungsprüfung vorzunehmenden Güterabwägung kommen dann die jeweils beeinträchtigten Grundrechte ins Spiel, deren Verletzung für eine unverhältnismäßige Diskriminierung spricht507 . Durch die enge Verknüpfung zwischen Diskriminierungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt letzterer eine zentrale Rolle im belgischen Regime des Grundrechtsschutzes zu. Dementsprechend wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - wie auch in Österreich - von einigen Autoren als Ausprägung des . hheltssatzes . GI eic angese hen508 . van Gerven weist auch auf dogmatische Parallelen zwischen der im bel gischen Zivilrecht geläufigen Figur des Rechtsmissbrauchs ("abus de droit") und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip hin, die nichts anderes als eine Verkörperung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei509 .

503 Colla, in: Barreaux de Liege, Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit franlj:ais, S. 85 (90). 504 CA, Rs. 21/89 vom 13.07.1989 (Biorim), Moniteur beige, 21.07.1989, B.4.5.b.: ,,Le pricipe d'egalite est viole lorsqu 'i/ est etabli qu 'i/ n 'existe pas de rapports raisonnables de proportionnalite entre les moyens employes et le but vise." 505 Gern. Art. 142 Abs. 1 NT. 2 der Verfassung vom 17.02.1994 ist der Gerichtshof daneben noch für Rügen in bezug auf Eingriffe ins Unterrichtswesen zuständig. 506 Colla hält den Cour d'arbitrage aufgrund der weiten Auslegung des Diskriminierungsverbotes trotz seiner begrenzten Kompetenzen de facto schon für ein vollwertiges Verfassungsgericht, vgl. a.a.O., S. 96. Wi/s, in: Battis/Tsatsos/Stefanou, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, S. 13 (22), hält dagegen die Wahl des Namens ("Schiedshof') für ein Indiz, dass der Gesetzgeber gerade keinen vollwertigen Gesetzgeber habe dulden wollen. 507 CA, Rs. 18/90 vom 13.10.1990 (Comines), Moniteur beige, 08.11.1990, B. 2.9. 508 Vgl. etwa Colla, a.a.O., S. 92 f., m.W.N. 509 van Gerven, in: Journal des tribunaux 1992, S. 305 (306 f.).

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Was die Prüfungs struktur angeht, so stellt sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung belgischen Zuschnitts vor allem als Kontrolle der Interessenabwägung dar. Vereinzelt wird zwar auch die Eignung, kaum aber jemals die Notwendigkeit im Sinne einer Suche nach milderen Alternativen überprüft 5 \O.

c) Praktische Bedeutung

aa) Kontrolldichte Während die Kontrolldichte in Belgien bis vor wenigen Jahren zurecht als gering bezeichnet werden konnte 511 , gibt es doch Unterschiede in der Kontrollintensität von Conseil d'Etat und Cour d'arbitrage: Obwohl die Verhältnismäßigkeitskontrolle des Conseil d 'Etat keineswegs wirkungslos ist und in jüngerer Zeit zur Aufhebung vieler hoheitlicher Maßnahmen geführt hat 512 , beschränkt sich die eher weitmaschige Kontrolle des Conseil d'Etat zumeist auf eine Evidenzkontrolle, bei der hoheitliche Maßnahmen nur dann als rechtswidrig verworfen werden, wenn sie offensichtlich 513 unverhältnismäßig sind. In vielen Bereichen des öffentlichen Rechts spielt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bis heute gar keine Rolle 514 • Strengere Maßstäbe legte dagegen von Anfang an der neu geschaffene Cour d'arbitrage bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung an. Dies zeigt schon der Vergleich mit der Rechtsprechung EGMR, dessen Definition der Rechtfertigung einer Diskriminierung 515 das belgische Verfassungsgericht fast wörtlich über510 Vgl. zum Schwerpunkt beim Prüfungspunkt der Abwägung ("balance des interets") übereinstimmend Hannequart, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beIge et en droit fran'Yais, S. 125 (137); Lewalle, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beIge et en droit fran'Yais, S. 23 (55); Colla, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit fran'Yais, S. 85 (90). 511 Vgl. etwa Tonne, Rechtsschutz, S. 52 .w.N. 512 Erstmals wurde eine Disziplinarmaßnahme durch das Urteil des CE vom 19.02.1980 (Decock), Rec. S. 202, aufgehoben. Vgl. im übrigen die Nachweise bei Lewalle, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beIge et en droit fran'Yais, S. 23 (51, Fn. 55). 513 "Tout a fait deraisonnable" bzw. "manifestement disproportionnee" - vgl. dazu Lewalle, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beIge et en droit fran'Yais, S. 23 (55). 514 So etwa bei Personal- und Gremienentscheidungen, in weiten Teilen des Wirtschaftsverwaltungsrechts oder bei Fragen der äußeren Sicherheit - dazu ausflihrlieh die Übersicht bei Lewalle, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beIge et en droit fran'Yais, S. 23 (40 ff.). 515 V gl. die Definition im Belgischen Sprachen/all, Urteil vom 23.07.1968, Series A no 6 6, Rn. 5:

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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nommen hat 516 , ohne jedoch wie der EGMR517 die Verstöße auf eine "offensichtliche" Unverhältnismäßigkeit zu begrenzen. Der strengere Kontrollrnaßstab des Verfassungsgerichts im Bereich der Grundrechte ist auf Kritik in der Literatur gestoßen, die darin einen Eingriff in die durch das Prinzip der Gewaltenteilung geschützte Sphäre der Exekutive sieht518 • bb) Rang Mit der neueren Rechtsprechung des Cour d' arbitrage zum Diskriminierungsverbot und der mit der neuen Verfassung möglichen richterlichen Kontrolle von Gesetzen ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip erstmals auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben worden, ohne jedoch zu einem allgemeinen Prinzip mit Verfassungsrang zu erstarken. cc) Funktion Neben seiner Hauptfunktion einer Billigkeitskontrolle bei der Begrenzung von hoheitlichen Sanktionen kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch die Einführung der Gleichheitsklage zumindest im Bereich des Grundrechtsschutzes auch seine individualschützende Funktion erfüllen. Im föderalen Belgien519 kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch eine Funktion bei der Kompetenzverteilung zwischen zentraler und regionalen Ebenen zu.

,,L 'article 14 de la Convention est egalement viole lorsqu 'il est c1airement etabli qu 'il n 'existe pas de rapport raisonnable de proportionnalite entre les moyens employes et le but vise" (Hervorhebungen vom Verfasser). 516 CA, Rs. 21/89 vom 13.07.1989 (Biorim), Moniteur beige, 21.07.1989, B.4.5.b.: ,,Le pricipe d'egaliM est viole lorsqu 'il est etab/i qu 'il n 'existe pas de rapport raisonnable de proportionnalite entre les moyens employes et le but vise." 517 Vgl. zur hohen Kontrolldichte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung des Cour d'arbitrage auch Colla, in: Barreaux de Liege (Hrsg.), Le principe de proportionnalite en droit beige et en droit francais, S. 85 (90). 518 Zur Kritik an der strengen Verhältnismäßigkeitskontrolle vgl. Martens, in: o. Verf., Presence du droit public et des droits de l'homme: melanges offerts a Jacques Velu, Band 1, Brüssel1992, S. 49 (59 fI). 519 Vgl. den neuen Art. 1 der Verfassung vom 17. Februar 1994: ,,Belgien ist ein Föderalstaat, der sich aus den Gemeinschaften und den Regionen zusammensetzt."

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

d) Würdigung Auch in Belgien hat sich die Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle in den letzten zwei Jahrzehnten grundlegend geändert, was u.a. auf Einflüsse der Rechtsprechung des EGMR 520 und des EuGH52I zurückgeführt wird. Da eine eigene Verhältnismäßigkeitsdogmatik bislang weitgehend fehlt, greift die Rechtsprechung auf bekannte Prinzipien aus dem niederländischen und französischen Recht zurück.

10. Luxemburg Das Recht Luxemburgs besteht zu großen Teilen aus wortgetreuen Übersetzungen von französischen, belgischen522, deutschen 523 oder auch schweizer524 Gesetzestexten. Das öffentliche Recht lehnt sich dabei sehr eng ans französischen Rechtssystem an525 . Dies gilt nicht nur für die Gesetzestexte selbst, sondern auch für die Verwaltungsrechtsdogmatik526 . Bislang finden sich ausdrückliche Prüfungen der Verhältnismäßigkeit einer hoheitlichen Maßnahme nur im Bereich des Straf und Sanktionenrechts 527 • So wird aus dem in Art. 11 der Luxemburgischen Verfassung 528 festgeschriebenen Gleichbehandlungsgebot und dem in Art. 14 vorgeschriebenen Gesetzesvorbehalt für Strafen eine Pflicht für Strafrichter und die Verwaltung abgeleitet, ihre Sanktionen der Schwere des Vergehens anzupassen529 . Auch Art. 16 der Ver-

Meeus/Velu, EuGRZ 1981,66 (69 f.). Boes/Stuyck, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 333 (367 ff.). 522 Zum Einfluss auf das Handelsrecht vgl. Thewes, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 487 (488). 523 Der deutsche Einfluss auf das luxemburgische Steuerrecht ist ein "Relikt" der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, vgl. Thewes, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 487 (488). 524 Zum Einfluss auf das Verbraucherschutzrecht Thewes, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 487 (488). 525 Thewes, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 487 (488). 526 Rauchs, in: Schwarze, 17. F.I.D.E. Kongress, Band 3: Verfahren u. Sanktionen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 285 (302). 527 Vgl. zur Verhältnismäßigkeit im Straf- und Strafzumessungsrecht Wampach, in: Rebmann-FS, S. 533 (540). 528 Zuletzt geändert am 12.08.1996. Der Grundrechtsteil der Verfassung entspricht fast wörtlich der belgischen Verfassung vom 17. Februar 1994. 529 Vgl. Rauchs, in: Schwarze, 17. F.I.D.E. Kongress, Band 3: Verfahren u. Sanktionen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 285 (300). 520 521

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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fassung, der Eigentumsentziehungen nur gegen "gerechte Entschädigungen" gestattet, kann als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angesehen werden. Insgesamt jedoch spielt der Begriff der Verhältnismäßigkeit in der Verwaltungsrechtspraxis bisher weder bei der Dogmatik der Einschränkbarkeit von Grundrechten 530 noch beim Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung eine erkennbare Rolle. Wenn Maßnahmen auch implizit auf eine angemessene ZweckMittel-Relation hin überprüft werden 531 , so hat das offenbar nicht wie in anderen Ländern zu einer Diskussion über die Erweiterung der fiinf anerkannten Rechtswidrigkeitsgründe 532 um den der Verhältnismäßigkeit gefiihrt533 • Nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit und der Zurückhaltung der ordentlichen Gerichte bei der Verfassungskontrolle von Gesetzen 534 nehmen Fragen des Grundrechtsschutzes im kleinsten Land der Union nur eine untergeordnete Rolle in der juristischen Diskussion ein 535 • Seit dem 1.1.1997 sind in Luxemburg von der ordentlichen Gerichtsbarkeit getrennte Verwaltungsgerichte 536 mit der Sicherung des Verwaltungsrechtsschutzes betraut. Angesichts des allgemein akzeptierten Vorranges des EMRKund des Gemeinschaftsrechts vor dem niederländischen (Verfassungs-)Recht537 wird eine gesteigerte Bedeutung der Verhältnismäßigkeit im Recht Luxemburgs erwartet538 . 530 Vgl. zu den Einschränkungsmöglichkeiten der Grundrechte Liesch, EuGRZ 1981, 84 (85); nicht erwähnt ist die Verhältnismäßigkeit auch bei Pieters, in: Grabitz, Grundrechte in Europa, S. 483 ff. 531 So Schwarze, Verwaltungsrecht II, S. 682. 532 Vgl. Art. 31 des Gesetzes vom 8. Februar über die Errichtung des Conseil d 'Etat: "Le Comite du Contentieux statue en outre sur les recours diriges pour incompetence, exces et detournement de pouvoir, violation de la loi ou des formes destinees a proteger les interets prives ( ... )". 533 Dazu Rauchs, in: Schwarze (Hrsg.), 17. F.I.D.E. Kongress, Band 3: Verfahren und Sanktionen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 285 (302 ff.); Thewes, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 487 (501 ff.). 534 Zum Fehlen einer richterlichen Gesetzeskontrolle vgl. Frieden, in: Schwarze, 17. F.I.D.E. Kongress, Band 2, 344 (345); Reiners, Normenhierarchie, S. 153 f.; Feger, Jura 1987,6 (11); Liesch, EuGRZ 1981, 84. 535 So ausdrücklich Wivenes, in: Battis/Tsatsos/Stefanou, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, S. 303 (332). 536 Arnold, in: Müller-Graff, Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, S. 123 (145). 537 Vgl. zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der EMRK Thewes, a.a.O., S. 522 ff. 538 Vgl. zur weitgehenden Annäherung der Allgemeinen Prinzipien des luxemburgischen Rechts an die des Gemeinschaftsrechts Thewes, a.a.O., S. 503 sowie Schockweiler, in: Melanges Delvaux, S. 211 (216).

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

11. Schweden a) Anwendungsbereich Im schwedischen Strafrecht ist die Verhältnismäßigkeit seit langem als Maßstab der Strafzumessung etabliert539 • Auch wenn kein allgemeines Prinzip der Verhältnismäßigkeit in den einschlägigen Verwaltungsverfahrensgesetzen zu finden ist540 , ist heute unbestritten, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip von Gesetzgeber und Verwaltung zu beachten ist541 . Seit dem 1. Januar 1975 ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Maßstab für Grundrechtseingriffe sogar ausdrücklich in der Verfassung verankert. So bestimmt die hinsichtlich der Einschränkbarkeit der Grundrechte zentrale 542 Norm des § 12 Abs. 2 Satz 2543 : "Einschränkungen gern Abs. 1 sind nur zulässig, wenn sie Zwecken dienen, die in einer demokratischen Gesellschaft annehmbar sind. Die Einschränkungen dürfen nie weiter gehen, als es im Hinblick auf die damit verfolgten Zwecke erforderlich ist ( ... )."

Diese Regelung gilt allerdings nur für den Bereich der Grundrechte. Da die Gerichte bei ihren Entscheidungen zur Verhältnismäßigkeit aber nur selten auf die Grundrechte und damit auch nicht auf die Schrankenbestimmung des § 12 Abs. 2 eingehen., kommt dieser Bestimmung in der schwedischen Rechtsprechungspraxis keine große Bedeutung zu. Auch ohne explizite Regelung 544 wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip jedoch von den Gerichten - unabhängig von § 12 Abs. 2 Satz 2 - zunehmend als Entscheidungsmaßstab herangezogen. Die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgebots wird dabei nicht an die Voraussetzung eines Eingriffs in Freiheits- oder Gleichheitsgrundrechte 545 gekoppelt, sondern ist bei allen Entscheidungen zu beachten546 • Das oberste Verwaltungsgericht 547 wendet das Prinzip der Verhältnis mäßigkeit immer häufiger explizit 539 Zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im schwedischen Haftrecht vgl. etwa Schmidt, in: Tröndle-FS, S. 871 (883). 540 Wahlgren, REDP 1998, 955 (960). 541 Wahlgren, REDP 1998,955 (964); Bergh, EuGRZ 1980,579 (587). 542 Hahn, AöR 162 (1977), 576 (580), bezeichnet § 12 des Grundrechtskapitels als "die vielleicht wichtigste Neuerung" der Verfassung von 1975. 543 In § 12 Abs. 1 werden die einschränkbaren Grundrechte aufgezählt. 544 So - trotz § 12 Abs. 2 der Verfassung - ausdrücklich Wahlgren, REDP 1998, 955 (960). 545 V gl. § 16 der Verfassung von 1975. 546 Wahlgren, REDP 1998, 955 (964). 547 Zur Existenz einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Schweden vgl. Amold, in: Müller-Graff, Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, S. 123 (145).

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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an: So kam es bei der Überprüfung einer Baugenehmigung zum Schluss, dass die Verweigerung der Genehmigung aus Gründen des Naturschutzes eine Verletzung des "Prinzips der Verhältnismäßigkeit"S48 darstellte S49 . Im selben Jahr prüfte es die Rechtmäßigkeit der Rückwirkung eines Gesetzes, das Umweltauflagen fiir bestimmte Unternehmen vorsah, und lehnte die Rückwirkung als rechtswidrig ab, weil diese "unverhältnismäßig" gewesen wäre 550 • In dieser Entscheidung bezog sich das Verwaltungsgericht ausdrücklich auf das vom EuGH entwickelte gemeinschaftsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzipss '.

b) Dogmatische Ausformung Auch wenn das schwedische Rechtssystem - wie alle skandinavischen durch einen eher zurückhaltenden Umgang bei der Formulierung allgemeiner Rechtsprinzipien gekennzeichnet ist 552 , geht das schwedische Recht mit der Formulierung einer übergreifenden Eingriffsschranke in § 12 Abs. 2 Satz 2 der Verfassung in rechtsdogmatischer Hinsicht erheblich weiter als seine skandinavischen Nachbarländer. Die differenzierte Schrankensystematik, nach der die verschiedenen Rechte z.T. gar nicht SS3 oder nur aus "wichtigen Gründen"ss4 eingeschränkt werden dürfen, macht eine bestimmte Gewichtung der Grundrechte sichtbar.

c) Praktische Bedeutung

Trotz der expliziten Verankerung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Schranke für Grundrechtseingriffe spielt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Schweden keineswegs eine herausragende Rolle bei der richterlichen Ermessenskontrolle von Verwaltungsentscheidungen. Der Grund dafür dürfte in der Entscheidung Schwedens gegen die Einrichtung einer VerfassungsgerichtsbarkeitSSS und den Vorbehalten gegenüber einer richterlichen Kontrolle politischer "Proportionalitetsprincipema". V gl. RA 1996 ref. 44. 550 Vgl. RA 1996 ref. 57. 551 V gl. RA 1996 ref. 57; zum großen Einfluss des Europarechts auf die schwedische Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung vgl. Wahlgren, REDP 1998, 955 (960). 552 V gl. zur als "realistisch" bezeichneten Rechtsschule Skandinaviens Hofmann, EuGRZ 1985, 673 oder Gralla, Grundrechtsschutz, S. 102. 553 Vgl. etwa § 4 (Todesstrafe) oder § 5 (Folterverbot) der Verfassung vom 1.1.1975. 554 Zur Einschränkung der Meinungsfreiheit vgl. § 13 Abs. I Satz 3 der Verfassung. 555 Zum Fehlen eines Verfassungsgerichts vgl. Rahmn/Swartling, in: Sheridan/Cameron, EFTA Legal Systems, Sweden, S. 2. 548 549

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\. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Entscheidungen liegen556 , die sich etwa in der Begrenzung der Normenkontrolle auf "offensichtliche" Rechtsverstöße manifestiert557 • Ohnehin ist die Bedeutung der geschriebenen Grundrechte in der Rechtsprechungspraxis schwedischer Verwaltungs gerichte vergleichsweise gering, da sie - wie in anderen skandinavischen Rechtsordnungen - nur als "Ausdruck ohnehin geltender allgemeiner Rechtsregeln ,,558 interpretiert werden. Grundrechte 559 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werden nur selten als Kontrollrnaßstab herangezogen. Als Folge dieser Zurückhaltung wurden überdurchschnittlich viele Individualbeschwerden gern. Art. 25 EMRK aus Schweden in Straßburg eingereicht56o .

d) Würdigung

Das klare Bekenntnis zur Verhältnismäßigkeitskontrolle in der schwedischen Verfassung spiegelt sich bislang nur eingeschränkt in der Rechtsprechung wieder. Der schwedische Gesetzgeber hat jedoch den gesetzlichen Rechtsschutz gegen die Verwaltung inzwischen weiter gestärkt561 , so dass der nun erwartete erhöhte Einfluss der EMRK auf die Auslegung schwedischer Gerichte auch eine verstärkte Verhältnismäßigkeitskontrolle im Bereich der Grundrechte bewirken könnte 562 •

556 V gl. zur Entstehungsgeschichte des Grundrechtskatalogs und der Ablehnung der Schaffung einer eigenständigen Verfassungsrichtsbarkeit ausführlich Hahn, AöR 102 (1977), 576 (585 ff.). Die Materialien zur Verfassung enthalten einen ausdrücklichen Hinweis auf die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 39, 1 ff.), als Beispiel für eine als unangemessen empfundene richterliche Kontrolle; vgl. dazu Hahn, in: AöR 105 (1980), S. 400 (408 f.). 557 V gl. § 14 der Verfassung von 1975. 558 Hahn, AöR \02 (1977), 576 (605), meint, die schwedische Dogmatk habe die Bedeutung der Grundrechte damit gewissermaßen "auf den Kopf gestellt". 559 Rahmn/Swartling, in: SheridaniCameron, EFTA Legal Systems, Sweden, S. 2. 560 Hofmann, EuGRZ 1990, 10. 561 Vgl. zum Gesetz zur rechtlichen Überprüfung gewisser Verwaltungsentscheidungen vom \. Mai 1988 Hofmann, EuGRZ 1985,673 (12 f.). 562 Hofmann, EuGRZ 1985, 673 .. Rahmn/Swartling, in: Sheridan/Cameron, EFTA Legal Systems, Sweden, S. 2.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

125

12. Finnland a) Anwendungsbereich Obwohl das finnische Rechtssystem aus historischen Gründen563 zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem schwedischen Recht aufweist, gewinnt es in neuerer Zeit mit dem Erlass eigener Verwaltungs gesetze zunehmend einen eigenständigen Charakter564 • Wie in Schweden wurde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unabhängig von einer gesetzlichen Normierung seit langem angewendet. Die neue finnische Verfassung vom 1. August 1995 enthält allerdings zahlreiche Hinweise auf das Erfordernis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. So ist die Einschränkung von Eingriffen ins Briefgeheimnis (§ 8 Abs. 3 S. 2) und in die Rundfunkfreiheit (§ 10 Abs. 1 S. 2) ausdrücklich auf das "Notwendige" beschränkt. Wie in anderen Rechtsordnungen565 findet sich auch im finnischen Staatsnotstandsrecht ein deutlicher Hinweis auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. So bestimmt § 16 a Abs. 2 der Verfassung 566 : "Jede zeitlich begrenzte Aussetzung von Grundrechten kann gesetzlich festgelegt werden in dem Maße, wie sie nötig ist während eines bewaffneten Angriffs auf Finnland."

Auch im Straf- und Straftumessungsrecht567 gibt es ausdrückliche Positivierungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 568 •

b) Dogmatik Finnland verfUgt über eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit569 • Die Rechtsprechung des obersten finnischen Verwaltungs gerichts hat vier allgemeine Rechtsprinzipien entwickelt, die - ohne ausdrücklich im am 1.12.1996 in Kraft tretenden Verwaltungsverfahrensgesetz normiert zu sein - die finnische 563 Finnland wurde bis 1809 von Stockholm aus regiert, vgl. Modeen, DÖV 1973, 484 (485). 564 Zur neueren Gesetzgebung Mäenpää, in: REDP \0 (1998), S. 183 (204); Kulla, in: REDP 10 (1998), 881 (884). 565 Vgl. dazu Lerche, Übermaß, S. 305 ff. 566 Zit. nach Beck-Texte, Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, S. 111 (\ 15). 567 V gl. Art. 1 des Kapitels 6 des finnischen Strafgesetzes von 1976, der lautet: ,,Die Strafe ist im gerechten Verhältnis zum Schaden und zur Gefahr zu bemessen, die mit der Straftat verbunden sind, sowie zur Schuld des Täters, wie sie sich in der Straftat offenbart." 568 Comils, in: ZStW 99 (\ 987), 873 (881 f.). 569 Amold, in: Müller-Graff, Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, S. 123 (\44).

126

1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Rechtsprechung zum Verwaltungsrecht dominieren57o • Die Verhältnismäßigkeit gehört als eines dieser vier Prinzipien (neben dem Gleichheitssatz, dem Objektivitätsgrundsatz 571 und dem Verbot des Ermessensmissbrauchs 572 ) zu diesen "Eckpfeilern" des finnischen Verwaltungsrechtsschutzes. Sie wird von den Gerichten dabei dem Prüfungspunkt der materiellen Rechtmäßigkeit einer Entscheidung zugeordnet573 •

c) Praktische Bedeutung

Die Prüfung der Verhältnis mäßigkeit wird von den finnischen Gerichten auch dann vorgenommen, wenn die Behörden in einem bestimmten Gebiet über einen weiten Ermessensspielraum verfiigen 574 • Diese hohe Kontrolldichte im Verwaltungsrecht kontrastierte bislang mit der Zurückhaltung der finnischen Gerichte bei der richterlichen Kontrolle von Gesetzen im Bereich des Verfassungsrechts. Zwar gibt es auch heute in Finnland kein Verfassungsgericht575 • Dieser Umstand wird aber dadurch ausgeglichen, dass die finnischen Verwaltungsgerichte seit der Inkorporierung der EMRK im Jahr 1990 und dem fiinf Jahre später erfolgten Beitritt zur EU ihre ursprüngliche Zurückhaltung bei der in ihre Zuständigkeit fallende Normenkontrolle am Maßstab der Verfassung aufgegeben haben. Dieser von finnischen Autoren 576 als "fundamental" bezeichnete Wandel hat zu einer gestiegenen Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Kontrolle von Gesetzen am Maßstab subjektiver Rechte aus der finnischen Verfassung gefiihrt.

d) Würdigung

Finnland zählt zu den Ländern, in denen sich die Rolle der Verhältnismäßigkeitsprüfung in den letzten zehn Jahren grundlegend geändert hat. Nicht zuletzt aufgrund des Einflusses von Europarecht haben die Gerichte ihre Bereitschaft zur Verhältnismäßigkeitskontrolle spürbar ausgeweitet.

Kulla, in: REDP 10 (1998), 881 (884); Mäenpää, in: REDP 10 (1998),183 (204). Vgl. dazu Forstmann, VA 62 (1971), 313 (325 ff.). 572 Mäenpää, in: REDP 10 (1998),183 (204); Kulla, in: REDP 10 (1998), 881 (884). 573 Vgl. zu den anderen beiden Rechtswidrigkeitsgründen der formellen Rechtmäßigkeit und Unzuständigkeit Mäenpää, in: REDP 10 (1998), S. 183 (204). 574 Mäenpää, in: REDP 10 (1998), S. 183 (204). 575 KorpiolaiHapaniemi, in: Sheridan/Cameron, EFTA Legal Systems, Finland, S. 3. 576 Mäenpää, in: REDP 10 (1998), S. 183 (204). 570

571

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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13. Dänemark a) Anwendungsbereich

Anders als in Schweden gibt es in Dänemark bislang keine gesetzliche Regelung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Während das Prinzip im dänischen Straftumessungsrecht seit langem Anwendung findet 577 , ist es im öffentlichen Recht nicht als verwaltungs- oder verfassungsrechtliches Prinzip anerkannt 578 . Nachdem die richterliche Kontrolle von Ermessensentscheidungen lange Zeit kategorisch abgelehnt wurde, findet inzwischen insbesondere im Polizeirecht eine eingeschränkte (Willkür-) Kontrolle statt, die oft in die Nähe einer Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt579 • So erklärte das Oberste Gericht Jütlands das Verbot, antimilitaristische Flugblätter vor einer Kaserne zu verteilen, rur rechtswidrig, weil es nicht notwendig sei, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten 58o • In der wissenschaftlichen Diskussion spielte die Verhältnismäßigkeit dagegen bis vor wenigen Jahren keine erkennbare Rolle 581 • Das Desinteresse an der Verhältnismäßigkeit lässt sich u.a. mit der geringen praktischen Bedeutung von Grundrechten im dänischen Rechtssystem erklären582 • Wenn die vergleichsweise bescheidenen583 Grundrechtsgewährleistungen der dänischen Verfassung vom 5. Juni 1953 auch nicht abschließend zu verstehen sind584 , so macht sich die Tatsache, dass Dänemark über keine eigene Verwaltungsgerichtsbarkeit585 und kein Verfassungsgericht586 verrugt, dadurch bemerkbar, dass Grundrechtsstreitigkeiten selten587 in Verfahren vor den rur Cornils, in: ZStW 99 (1987), S. 873 (881). Vgl. Gralla, Grundrechtsschutz, S. 92; Germer, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 377 (401); nicht überzeugen kann daher die Ansicht Schwarzes, schon 1986 sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz "in ähnlicher Weise wie im Europäischen Gemeinschaftsrecht" beim der Ermessensausübung bei Grundrechtseingriffen zur Anwendung gekommen. 579 Vgl. Tonne, Rechtsschutz, S. 5 unter Hinweis auf Steenbeek, in: Prakkel Kortmann, Bestuursrecht, 53. 580 Vgl. die Nachweise bei Jensen, REDP 7 (1995), 471 (474). 581 Vgl. Gralla, Grundrechtsschutz, S. 92, der von einer "dogmatischen Vernachlässigung" spricht. 582 Vgl. zur Parallele mit dem schwedischen System oben, I. Teil, 11., 11. 583 Müller-Elschner, Verwaltungsrundschau 1994, 265 (268). 584 V gl. etwa bezüglich des nicht normierten Schutzes des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit und der Gleichberechtigung von Mann und Frau Gralla, Grundrechtsschutz, S. 143. 585 Arnold, in: Müller-Graff, Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, S. 123 (145). 586 Streinz, Grundrechtsschutz, S. 138; zur Übernahme von Funktionen eines Verfassungsgerichts durch den dänischen H0jesteret Mors, EuGRZ 2001, 199 (209). 587 Vgl. dazu Gralla, JöR 42 (\ 994), 507 (528). 577

578

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I. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

den Verwaltungsrechtsschutz zuständigen ordentlichen Gerichten588 eine Rolle spielen. Dabei finden sich im Grundrechtsteil der dänischen Verfassung durchaus Elemente der Verhältnismäßigkeit: So verbietet Art. 80 der Verfassung das Einschreiten der Behörden gegen Versammlungen, wenn nicht vorher dreimal zur Auflösung der Versammlung aufgefordert wurde. Art. 71 lässt (für das Gebiet von Grönland) Ausnahmen beim Festnahmerecht zu, soweit diese "erforderlich" sind. Diese Ansätze wurden der Literatur aufgegriffen, die eine generelle Prüfung anhand des Kriteriums der Notwendigkeit vorschlug 589 • Danach sollten Beschränkungen der Grundrechte nur dann rechtmäßig sein, wenn sie einem bedeutenden öffentlichen Interesse dienen und das schonendste Mittel sind590 • Die Gerichte haben diese Anregung bislang nicht aufgegriffen und das Prinzip der Verhältnis mäßigkeit noch nicht ausdrücklich als übergreifende Eingriffsschranke nutzbar gemacht. Die Grundrechte werden vor allem als "dueprocess-Garantien" angesehen, deren Einschränkung einem bestimmten Verfahren und richterlicher Kontrolle unterliegen S01l591. Die Frage des Umfangs der Einschränkbarkeit von Grundrechten mag sich vor dänischen Gerichten bislang auch deshalb seltener gestellt haben, weil eine Inanspruchnahme von Rechten der EMRK mangels Transformation ins dänische Recht bis 1992 ausgeschlossen war 592 • Die - wenn auch eingeschränkte 593 - innerstaatliche Anwendbarkeit der EMRK seit dem 1. August 1992 hat jedoch zu einer Auseinandersetzung der dänischen Gerichte mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip geftihrt und eine neuerliche Diskussion über die mögliche Geltung eines solchen Prinzips im dänischen Recht ausgelöst594 . So wurde die Anwendung des 1996 erlassenen "Motorradbanden-Gesetzes,,595, das unter gewissen Voraussetzungen zu Platzverweisen berechtigte 596 , sowohl am Maßstab der dänischen Verfassung als auch anhand der EMRK überprüft. Während die Gerichte im Rahmen der Prüfung eines Verstoßes gegen die in Art. 79 der Verfassung vom 5. Juni 1953

588 Germer, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 377 (382). 589 Ross, Dansk Statforfatningsret, S. 590 f.; Neuerdings auch Michel Hansen, Proportionalitetprincippet, S. 60. 590 Germer, in: Grabitz, Grundrechte in Europa, S. 107. 591 Gralla, JöR 42 (1994), 507 (540). 592 Feger, Jura 1987,6 (8). 593 Vgl. dazu Hofmann, EuGRZ 1992,253; Germer, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 377 (400). 594 Vgl. dazu Hansen Jensen, REDP 1998,375 (385) m.w.N. 595 Gesetz No. 907 vom 15. Oktober 1996. 596 V gl. dazu Hansen Jensen, REDP 1998, 375 f.

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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festgeschriebene Versammlungsfreiheit nur prüften, ob die Beschränkung ein legitimes Ziel (Gefahrenabwehr) verfolgte, mussten sie im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Rechten aus der EMRK auch die Notwendigkeit der Maßnahme überprüfen. Es ist jedoch umstritten, ob die Anwendbarkeit der EMRK - wie vielfach vertreten wird597 - tatsächlich zu einer verstärkten Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle gefiihrt hat598 •

b) Dogmatik Das Fehlen einer gerichtlichen Verhältnismäßigkeitsdogmatik spiegelt die als "realistisch" bezeichnete Haltung der skandinavischen Rechtsschule wider. Einige Autoren bezeichnen der Verwendung allgemeiner Rechtsprinzipien kritisch gegenüber und bezeichnen sie als "spekulative Theoretisierung599 ." Der Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Begrenzung von Grundrechtseingriffen überschneidet sich im dänischen Recht mit dem des Wesensgehaltsgebots 60o •

c) Praktische Bedeutung Die geringe praktische Bedeutung des juristischen Prinzips der Verhältnismäßigkeit muss keineswegs einen geringen Schutzstandard der dänischen Grundrechte implizieren. Haeberle 601 hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Grundrechtssicherung das Werk von einer Vielzahl von gesellschaftlicher Faktoren602 ist und eine mangelnde formelle Verankerung von Rechten nicht zwangsläufig ein niedriges Schutzniveau bedeutet. So wird die fehlende ge-

597 Hansen Jensen, Proportionalitetsprincippet i EF - retlig belysning, S. 40 ff.; Nan Rasmussen/Schenberg, EU-menneskeret, S. 223 fT. 598 Germer, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 377 (401), spricht von einer "Behauptung ohne harte Beweise" und sieht einen Bedarf an weiterer wissenschaftlicher Klärung der Frage der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch die dänische Verwaltung. 599 Gralla, Grundrechtsschutz, S. 102. 600 So etwa bei der Prüfung des "Motorradbanden-Gestzes", vgl. Gralla, Grundrechtsschutz, S. 110. 601 Haeberle, JZ 1989,915; ihm folgend Gralla, JöR 42 (1994), 507 (550). 602 Haeberle führt etwa den Einfluss der Wissenschaft, der öffentlichen Meinung, der Parteien, Verbände und Medien an, die ein "Ensemble politischer Kultur" bildeten.

9 Koch

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

richtliehe Relevanz des Verhältnismäßigkeitsprinzips zum Teil auch mit der Rolle des Ombudsmannes als bürgernaher Beschwerdeinstanz erklärt603 .

d) Würdigung Wie in anderen skandinavischen Ländern spielt das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch in Dänemark bislang nur eine geringe Rolle in der Entscheidungspraxis der Gerichte. In den neunziger Jahren wiesen jüngere dänische Autoren jedoch verstärkt darauf hin, dass auch das durch eine jahrhundertelange Tradition604 gewachsene "dänische Freiheitsdenken,,605 eine solide Grundrechtsdogmatik nicht dauerhaft ersetzen und den Schutz des materiellen Gehalts der Grundrechte wirksam sichern könne. Die in diesem Zusammenhang erhobene Forderung nach einer verstärkten Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im dänischen Recht kann u.a. auf den Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das dänische Verwaltungsrecht zurückgeführt werden606.

14. Spanien

a) Anwendungsbereich Vor dem Inkrafttreten der spanischen Verfassung am 29. August 1978 spielte das Verhältnismäßigkeitsprinzip fast ausschließlich im Straf- und Sanktionenrecht eine Rolle 607 . Die neue, auf die Gewährleistung eines materiellen Rechtsstaates 608 ausgerichtete Verfassung enthält einen umfangreichen Grund-

603 Dazu ausflihrIich Gralla, Grundrechtsschutz, S. 148 ff.; Germer, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 377 (385 ff.). 604 Gralla, Grundrechtsschutz, S. 142 ff. 605 Vgl. die Monographien von Hansen, Proportionalitetsprincippet i EF - retlig belysning, Kopenhagen 1990 und Nan Rasmussen/Schonberg, EU-menneskeret, S. 223. 606 Michel Hansen, Proportionalitetprincippet, S. 40 ff.; Germer, in: Schwarze, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 377 (402). 607 Gonzalez-Cuellar Serrano, Proporcionalidad y derechos fundamentales en el proceso penal, S. 20 ff.; vgl. zur heutigen Anwendung beim Strafzumessungsrecht und der Auslegung von Art. 25 Abs. 2 der Verfassung durch das Verfassungsgericht Armenta Deu, ZStW 104 (1992), 200 (201); Angel deI Arco Torres, Diccionario bäsico juridico, Stichwort: "proporcionalidad entre dilito y pena", S. 285. 608 Vgl. die Positivierungen der Rechtsstaatlichkeit in der Präambel bzw. Art. 1 Abs. 1 der Verfassung sowie den Auftrag zur Effektivierung der Grundrechte in Art. 9 Abs. 2. Zum Begriff des materiellen (im Gegensatz zum bloß formellen) Rechtsstaat vgl. etwa Bäckenförde, in: Böckenf6rde, Recht, Staat, Freiheit, S. 143 (144 ff.).

11. Bedeutung der Verhältnismäßigkeit in den Mitgliedstaaten

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rechtskatalog, der durch eine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit609 und die Möglichkeit der Individualverfassungsbeschwerde610 abgesichert ist, was zu einer erheblich gestiegenen Bedeutung der Verhältnismäßigkeitskontrolle im Verfassungsrecht geführt hat. Ein ausdrücklicher Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz findet sich zwar nur in Art. 17 Abs. 2 der Verfassung6 11 , der die Dauer der vorläufigen Festnahme auf das "Notwendige" beschränkt. Die Rechtsprechung zieht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz jedoch häufig bei der Güterabwägung im Rahmen der Grundrechtsprüfung heran612 • Nicht nur das Maß zulässiger Eingriffe in das Diskriminierungsverbol 13 , sondern auch die Grenzen der Freiheitsrechte werden mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgebots bestimmt. Viele Entscheidungen betrafen Beschränkungen der Meinungsfreiheit614 und des Rechts auf effektiven Rechtsschuti l5 • Ansätze 616 von Verhältnismäßigkeitserwägungen finden sich aber auch im Enteigungs617 _ und Streikrecht618 sowie außerhalb der Grundrechte, etwa im Notstandsrechl l9 •

609 Vgl. zum Tribunal Constitucional Arnold, in: Müller-Graff, Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, S. 123 (145). 610 Feger, Jura 1987,6 (14). 611 ,,La detencion preventiva no podra durar mas dei tiempo estrictamente necesario para la realisacion de las averguaciones tendentes al esclarecimiento de los hechos (..)"; vgl. Armenta Deu, ZStW 104 (1992), 200 (201). 612 Eine Datenbankabfrage nennt 610 Hinweise auf den Begriff der Verhältnismäßigkeit ("proporcionalidad") in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts bis zum April 2001. 613 Cruz Villaion, in: Frowein (Hrsg.): Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, S. 340. 614 Vgl. etwa das Urteil STC 199/1987, ein Gesetz für unverhältnismäßig erklärt wurde, das eine Nachrichtensprerre zur Bekämpfung terroristischer Umtriebe vorsah; dazu Medina Guerrero, in: Cuademos de Derecho Publico 5 (1998), S. 119 (127); vgl. auch STC 62/1982 vom 15.10.1982, BJC 1982, S. 919 (928 f.). 615 Barnes, in: Revista de Administraci6n Publica 135 (1994), S. 495 (531); zur Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Hinweis auf Art. 6 EMRK vgl. Martinez Soria, REDP 9 (1997), 335 (348). Zum Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz Martinez Soria, Garantie des Rechtsschutzes gegen die öffentliche Gewalt in Spanien, pas im. 616 Vgl. zur nur eingeschränkten Überprüfbarkeit des Eigentumsrechts als "Grundrecht 2. Klasse" Cruz Villaion, in: Frowein (Hrsg.), Kontrolldichte, S. 340. 617 STC 6/1991 vom 15.01.1991; vgl. zur Bedingung der "Notwendigkeit" der Enteignung Capitulo 11 ("De la necesidad de ocupaci6n de bienes 0 de adquisici6n de derechos") der Ley de Expropriaci6n forzosa de 16 de Diciembre de 1954; zur Verhältnismäßigkeit im Enteignungsrecht Delgado Barrio, in: Mertin-Retortillo (Hrsg.), Garcia de Enterria-FS, S. 2311 (2345 ff.). 618 STC 53/1986 vom 06.05.1986; STC 43/1993 vom 15.03.1990; STC 8/1992 vom 16.01.1992. 619 Vgl. dazu Vellnagel, Verfassungssicherung in Spanien, S. 102 ff.; Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, S. 40 f.

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1. Teil: Verhältnismäßigkeit in den nationalen Rechtsordnungen

Im Bereich des Verwaltungsrechts schenkten Rechtsprechung und Literatur dem Verhältnismäßigkeitsprinzip lange Zeit weniger Aufmerksarnkeit620 • Es ist zwar in Art. 106 Abs. 1 der Verfassung angedeutet621 , der die gerichtliche Kontrolle der Zwecksetzung des Verwaltungshandelns regelt622 , zählt aber nicht zu den in Art. 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes von 1992 geregelten "Grundprinzipien" des Verwaltungsverfahrens623 • Zunächst fand das Verhältnismäßigkeitsprinzip nur im Bereich des Gejahrenabwehr624 - und Disziplinarrechts 625 Anwendung. Nachdem die Literatur lange gefordert hatte, die Geltung des Gebots materieller Rechtsstaatlichkeit auch im Bereich der Verwaltung stärker abzusichern626 , hat sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip nunmehr aber fest in der Rechtsprechung zum Verwaltungsrecht etabliert627 . Es wird hier nicht mehr in nur wenigen, speziellen Anwendungsgebieten628 , sondern in den verschiedensten Bereichen des Verwaltungsrechts herangezogen. So dient es etwa im Baurecht der Beschränkung staatlicher Auflagen629 , im Ausländerrecht als

620 So findet man bei Angel dei Arco Torres, Diccionario basico juridico, S. 285, noch 1986 unter dem Stichwort "Propocionalidad" nur einen Hinweis auf das entsprechende strafrechtliche Prinzip angemessener Strafzumessung; vgl. zur geringen Bedeutung bis Ende der achtziger Jahre auch Thomashausen, in: Grabitz, Grundrechte in Europa, S. 631 ff; Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 245. 621 S. Art. 106 Abs. 1 der Verfassung: ,,Die Gerichte kontrollieren (..) die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns und die Beachtung der Zwecke, die es rechtfertigen." 622 V gl. der direkte Bezug auf Art. 106 Abs. 1 in STC vom 07.02.1997: ,,Este pricipio jinalista opera tres direcciones distinctas: (..) B) Llos medios utilizados por la Administracion han de ser proporcionados, no excesivos, en relacion con la jinalidad perseguida." (zitiert nach Delgado Barrio, in: Mertin-Retortillo (Hrsg.), Garcia de Enterria-FS, S. 2311