Der eine Gott und die Götter: Religions- und Theologiegeschichte Israels - ein Durchblick [1 ed.] 9783451396168, 9783451832468, 3451396165

Spannend wie ein Krimi erzählt der bekannte Bibelwissenschaftler Ludger Schwienhorst-Schönberger, wie der Gott JHWH aus

154 61 2MB

German Pages 272 Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der eine Gott und die Götter: Religions- und Theologiegeschichte Israels - ein Durchblick [1 ed.]
 9783451396168, 9783451832468, 3451396165

Table of contents :
Der eine Gott und die Götter
Impressum
Inhalt
Vorwort
I. Einleitung
Religion in der Moderne
Transzendenzerfahrungen
Säkulare und religiöse Deutung
Personale und apersonale Deutung
Moderne Bewusstseinsforschung
Transzendenzerfahrungen als Ursprung von Religion
Heilige Bilder
Heilige Schrift
Sprachbilder
Viele Götter
Ein Gott allein
Jesus Christus
Heiliger Geist
Der Erfolg des frühen Christentums
II. Hinführung
Der Sturz der Götter
Ein Volk im Abseits
III. Religionsgeschichtliche Vorgaben
Gemeinschaft der Lebenden und der Toten
Die nackte Göttin
Heilige Hochzeit
Pharaos Streitmacht
Übersetzbarkeit
Echnaton – eine monotheistische Revolution in Ägypten
Herrschaft
Umwälzungen
IV. Frühgeschichte Israels: Die Herkunft Jhwhs
Offenbarung und Geschichte
Die Herkunft Jhwhs
JHWH – im Sturm und im Säuseln
JHWH – ein Gott der Abgeschiedenheit
Jerusalem – Gründung des Gottes Schalem
V. Frühstaatliche Zeit (10. Jh. v.  Chr.)
Jerusalem – die Stadt Davids
David und der nicht gebaute Tempel
Assimilation und Integration
Der König – Sohn Gottes
Theologische Legitimation des Staates
Der Messias als Sohn Gottes
Rückfall in den Polytheismus?
Palast und Tempel Salomos
JHWH und der Sonnengott
Gottheit tief verborgen
Der leere Thron
VI. Reichsteilung: Israel und Juda (926 v.  Chr.)
Zwei Staaten – ein Gott
Der Gott des Exodus
Goldene Kälber?
Religiöser Pluralismus
Staatsreligion und familiäre Frömmigkeit
Hauskulte
Löwen, Stiere, Dämonen
JHWH und seine Aschera
Aschera – eine Göttin?
Trügerisches Gottvertrauen
Baal
Elijas Kampf: Jhwh oder Baal?
Elischa: theologisch, pastoral, politisch
JHWH– dein Arzt
Gott oder der Arzt?
Justizmord in Israel
Religion und Politik
Offenbarungsglaube
Auf dem Weg zum Gottesberg
VII. Untergang des Nordreiches (722 v.  Chr.)
Die Zeichen der Zeit deuten
Amos: Recht und Gerechtigkeit
Hosea: Gottes Liebe
Aus Liebe erwählt
Israel als Gottes Geliebte
Der Preis der Gottesliebe
Micha: Jerusalem wird zu einem Trümmerhaufen
VIII. Rettung Jerusalems (701 v.  Chr.)
Jesaja
Jesajas Berufung
Jesajas Vision
Ruhe bewahren!
Immanuel
Trügerische Hoffnungen
Glaube und Aberglaube
Fakten und ihre Deutung
Glaube und Vernunft
Religion und Kultur
IX. Juda unter der Herrschaft Assurs (7. Jh. v.  Chr.)
Das Bild der Aschera
Der bestirnte Himmel über mir
Die Himmelskönigin
Assurs Untergang
X. Das Deuteronomium und die konservative Reform (622 v.  Chr.)
Joschija
Staatsgrundgesetz
Konservative Reform
Höre, Israel!
Das Hauptgebot
Monotheismus und Gewalt
Liturgiereform
Der Festkalender
Gewaltenteilung
Das Königtum
Die Prophetie
Segen und Fluch
Herzensbeschneidung
Ein neues Herz
Joschijas Tod
Widerstand oder Ergebung?
Rettung
XI. Untergang des Staates Juda (587 v.  Chr.)
Jeremia
Prophet gegen Prophet
Politische Vernunft
Im Feuer verbrannt
Eroberung Jerusalems
An den Strömen von Babel
Wer kann dich heilen?
Gottes Zorn
Ein Weg durch das Leid
Ohne König?
Vidi aquam
Bilderverbot
Vom Bild zur Schrift
Sichtbar erschienen
Argumente der Bildergegner
Argumente der Bilderverehrer
Menschwerdung des Wortes Gottes
XII. Heimkehr und Sammlung
Heimkehr
Opfer
Tempel
Seelsorge
Sammlung
Literaturverzeichnis

Citation preview

Ludger Schwienhorst-Schönberger Der eine Gott und die Götter

Ludger Schwienhorst-Schönberger

Der eine Gott und die Götter Religions- und Theologiegeschichte ­Israels – ein Durchblick

Zum Coverbild: Kerubenthron aus Stein von der Südküste Libanons. Ein von Keruben gebildeter Thron stand auch im Jerusalemer Tempel. Gewöhnlich saß auf dem Thron eine Figur, die eine Gottheit darstellte. Doch der Thron im Jerusalemer Tempel war leer. „Der Herr sprach zu euch mitten aus dem Feuer. Eine Stimme habt ihr gehört, eine Gestalt habt ihr nicht gesehen, nur Donnerstimme war da“ (Dtn 4,12). Auch die christliche Tradition kennt den leeren Thron in Erwartung der Wiederkunft Christi (ἑτιμασία τοῦ θρόνου – Etimasia tou thronou), der das Bild des unsichtbaren Gottes ist (Kol 1,15; 2 Kor 4,4): „Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen“ (Mt 25,31). „Niemand hat Gott je gesehen; (der) Einziggeborene, (der) Gott (ist), der zur Brust des Vaters hin Seiende, er hat kundgetan“ (Joh 1,18).

fJ, FSC

www.fsc.org

MIX

Papier I Fördert gute Waldnutzung ®

FSC C014496

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Umschlaggestaltung: Verlag Herder Umschlagmotiv: © DiegoFiore / Dreamstime.com Satz: dtp studio eckart | Jörg Eckart Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN Print: 978-3-451-39616-8 ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83246-8 ©

Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Religion in der Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transzendenzerfahrungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Säkulare und religiöse Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personale und apersonale Deutung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne Bewusstseinsforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transzendenzerfahrungen als Ursprung von Religion. . . . . . . . Heilige Bilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heilige Schrift. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachbilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viele Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Gott allein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jesus Christus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiliger Geist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erfolg des frühen Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 19 21 22 30 36 38 39 41 46 48 50 54 59

II. Hinführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Der Sturz der Götter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Ein Volk im Abseits. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

III. Religionsgeschichtliche Vorgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Gemeinschaft der Lebenden und der Toten. . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Die nackte Göttin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5

Heilige Hochzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharaos Streitmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Echnaton – eine monotheistische Revolution in Ägypten. . . . . . Herrschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwälzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 73 75 76 78 80

IV. Frühgeschichte Israels: Die Herkunft Jhwhs . . . . . . . . . . . . . . 82 Offenbarung und Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Herkunft Jhwhs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jhwh – im Sturm und im Säuseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jhwh – ein Gott der Abgeschiedenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerusalem – Gründung des Gottes Schalem. . . . . . . . . . . . . . . . .

82 84 86 87 89

V. Frühstaatliche Zeit (10. Jh. v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Jerusalem – die Stadt Davids. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . David und der nicht gebaute Tempel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assimilation und Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der König – Sohn Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologische Legitimation des Staates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Messias als Sohn Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückfall in den Polytheismus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Palast und Tempel Salomos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jhwh und der Sonnengott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottheit tief verborgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der leere Thron. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92 93 95 97 99 101 103 105 107 109 111

VI. Reichsteilung: Israel und Juda (926 v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . 113 Zwei Staaten – ein Gott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Der Gott des Exodus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Goldene Kälber?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 6

Religiöser Pluralismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsreligion und familiäre Frömmigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauskulte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Löwen, Stiere, Dämonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jhwh und seine Aschera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aschera – eine Göttin?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trügerisches Gottvertrauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elijas Kampf: Jhwh oder Baal? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elischa: theologisch, pastoral, politisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jhwh – dein Arzt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott oder der Arzt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Justizmord in Israel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offenbarungsglaube. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zum Gottesberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118 120 122 123 125 127 129 131 133 135 136 138 140 142 143 145

VII. Untergang des Nordreiches (722 v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Die Zeichen der Zeit deuten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amos: Recht und Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hosea: Gottes Liebe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus Liebe erwählt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Israel als Gottes Geliebte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Preis der Gottesliebe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Micha: Jerusalem wird zu einem Trümmerhaufen. . . . . . . . . . .

148 149 151 153 155 156 158

VIII. Rettung Jerusalems (701 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Jesaja. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jesajas Berufung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jesajas Vision. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruhe bewahren!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immanuel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trügerische Hoffnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161 163 164 166 168 170 7

Glaube und Aberglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fakten und ihre Deutung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171 173 175 177

IX. Juda unter der Herrschaft Assurs (7. Jh. v. Chr.). . . . . . . . . . . . 179 Das Bild der Aschera. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der bestirnte Himmel über mir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Himmelskönigin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assurs Untergang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179 181 182 184

X. Das Deuteronomium und die konservative Reform (622 v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Joschija. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsgrundgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konservative Reform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höre, Israel!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Hauptgebot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monotheismus und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liturgiereform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Festkalender. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Königtum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Prophetie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Segen und Fluch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herzensbeschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein neues Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joschijas Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widerstand oder Ergebung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rettung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

187 189 190 192 194 196 198 200 202 203 205 207 209 211 213 215 217

XI. Untergang des Staates Juda (587 v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Jeremia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prophet gegen Prophet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Feuer verbrannt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eroberung Jerusalems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . An den Strömen von Babel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer kann dich heilen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottes Zorn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Weg durch das Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ohne König? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vidi aquam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bilderverbot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Bild zur Schrift. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sichtbar erschienen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumente der Bildergegner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumente der Bilderverehrer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschwerdung des Wortes Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222 224 225 227 229 231 233 235 237 238 240 242 244 246 248 250 251

XII. Heimkehr und Sammlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Heimkehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opfer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tempel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sammlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

254 256 259 263 264

Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

9

Vorwort

Im Frühjahr 2020 fragte mich Johannes Röser, der damalige Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ (CiG), ob ich mir vorstellen könnte, in der Sparte „Die Schrift“ die Gottesfrage zu thematisieren. Er war der Ansicht, dass im Hintergrund vieler kirchenpolitischer Diskussionen und Verwerfungen die Frage nach Gott steht und dass es kaum noch gelingt, sie im Kontext einer modernen Lebenswelt so zur Sprache zu bringen, dass sie ihre Überzeugungskraft, die sie in früheren Jahrhunderten einmal besaß, wiedergewinnt.1 Da auch mich diese Frage seit Jahren beschäftigt, konnte ich ihm eine Zusage geben. Bei der Entfaltung des Themas habe mich für einen biblisch-historischen Zugang entschieden. Das in CiG vorgegebene Format brachte es mit sich, in kurzer Form jeweils einen Aspekt des Themas pointiert und in allgemeinverständlicher Weise so darzustellen, dass es bei einer an der Sache interessierten Leserschaft eine gute Resonanz hervorruft. Insgesamt 107 Folgen umfasste die Serie, die in CiG 72 (25/2020) – 74 (27/2022) erschienen ist. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet das kultur- und religionsübergreifende Phänomen der Transzendenzerfahrungen. Es gibt Erfahrungen, die das gewöhnliche Dasein in der Welt erschüttern und das menschliche Bewusstsein in einen anderen Zustand versetzen. Derartige Erfahrungen gab es vor dreitausend Jahren, und es gibt sie auch heute. Sie gehören zur Natur des menschlichen Bewusstseins. Aus ihnen entstehen Religionen und zugleich sind sie der Strom, der Religionen am Leben erhält. Ist ein solcher Prozess innerhalb einer Gruppe einmal in Gang gesetzt, entfaltet sich die Geschichte einer Religion. Weil es diese Erfahrungen auch heute gibt, werden Religionen aus der modernen Lebenswelt nicht verschwinden. Transzendenzerfahrungen sind uns jedoch nur in spe1 Vgl. Johannes Röser (Hg.), Gott? Die religiöse Frage heute, Freiburg i. Br. 2018.

11

zifischen Deutungen zugänglich. Vereinfachend gesprochen lassen sich religiöse und säkulare Deutungen und innerhalb der religiösen Deutung personale und apersonale Deutungen unterscheiden. In der Einleitung (S. 17–62), die über die in „Christ in der Gegenwart“ erschienenen Beiträge hinausgeht, gehe ich auf diese Zusammenhänge näher ein. Wer sich für den hermeneutischen Hintergrund meiner Ausführungen nicht interessiert, kann gleich mit der Lektüre des II. Teils „Hinführung“ beginnen. Das in der Bibel bezeugte religiöse Symbolsystem ist aus personalen Deutungen von Transzendenzerfahrungen heraus entstanden. Theologisch gesprochen hat sich Gott selbst in diesen Erfahrungen Menschen mitgeteilt. Die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils lässt die Geschichte der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes mit dem ersten Menschenpaar beginnen, wenn es dort heißt (I, 3): „Gott, der durch das Wort alles erschafft (vgl. Joh 1,3) und erhält, gewährt den Menschen in den geschaffenen Dingen ein ständiges Zeugnis von Sich (vgl. Röm 1,19–20) und hat, weil Er den Weg des göttlichen Heiles zu eröffnen beabsichtigte, darüber hinaus den Ureltern von Anfang an Sich selbst kundgetan (Semetipsum manifestavit).“ Die Bibel ist das Zeugnis dieser Selbstmitteilung Gottes. Genau genommen ist die Bibel also nicht die Offenbarung Gottes, sondern sie bezeugt sie. Wie dieser Prozess im Zeitraum von etwa 1200 bis 500 v. Chr. (und auch noch darüber hinaus) abgelaufen ist, wird in dem hier vorliegenden Buch in Grundzügen beschrieben und theologisch erschlossen. In dieser Zeit fand der biblisch bezeugte Glaube seine grundlegende Gestalt. Die Leitidee der Darstellung bewegt sich in der Spannung von Polytheismus (Kosmotheismus) und Monotheismus und versucht die Entwicklung von einem religiösen Symbolsystem, das mit der Existenz vieler Götter rechnet, hin zu einer Religion, die von der Existenz eines einzigen Gottes überzeugt ist, zu beschreiben und zu verstehen. Dabei kommt eine Vielfalt an Themen zur Sprache. Diese stehen jedoch nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind Teil einer Geschichte, die sich als eine in sich zusammenhängende Sinn- und Diskursgeschichte erschließen lässt.

12

Unter den Gesichtspunkten von historischer Information, theologischer Reflexion und spiritueller Entfaltung soll diese Geschichte in einer ihrer Hauptlinien erzählt und verstanden werden. Es geht um einen Durchblick, nicht um eine umfassende Darstellung, die alle Aspekte des Themas berücksichtigt. Grundlage sind die historischen Fakten. Wer sich auch nur ein wenig in der Religionsgeschichte Israels und der Theologiegeschichte des Alten Testaments auskennt, weiß, dass Vieles umstritten ist, besonders was die Frühgeschichte Israels anbelangt. Auf eine Diskussion der unterschiedlichen in der Wissenschaft vertretenen Positionen habe ich weitgehend verzichtet. An wenigen Stellen werden alternative Deutungen vorgestellt. Wer das gesamte Spektrum an Meinungen kennenlernen und studieren möchte, sei auf das Literaturverzeichnis verwiesen. Der Ein-Gott-Glaube war in der alten Welt alles andere als selbstverständlich. Er musste sich durchsetzen. Das war ein langwieriger, von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägter Prozess. Der Monotheismus sah sich vielfältiger Kritik ausgesetzt. Das war in der Antike nicht anders als heute. Die Vertreibung der Götter aus der Welt war ein tiefgreifender mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Einschnitt. Religionswissenschaftler sprechen von der Revolution des Monotheismus. Die Welt wurde ihre Götter los. Wurde sie damit auch gottlos? Wurde bereits im Alten Testament der Keim zu jener Entwicklung gelegt, der in der Neuzeit zu einer säkularen Deutung von Transzendenzerfahrungen führte? Mit dem Übergang vom Kosmotheismus zum Monotheismus veränderte sich die Beziehung des Menschen zur Welt grundlegend. Wie lässt sich im Lichte dieser Geschichte die Inkarnation verstehen, die Menschwerdung des göttlichen Wortes, wie sie vom Neuen Testament bezeugt und als Mitte des christlichen Glaubens bekannt wird? Diese und weitere Fragen stehen im Zentrum des Buches. Es war mir wichtig, den zeitlich gesteckten Rahmen hin und wieder zu verlassen und einen Blick ins Neue Testament zu werfen, um zu zeigen, wie Altes und Neues Testament organisch miteinander verbunden sind. Ohne das Alte Testament kann das Neue Testament nicht verstanden werden, wie das Zweite Vatikanische Konzil mit der gesamten Tradition in Erinnerung ruft: „Gott, der Inspirator und Urheber (inspirator et auctor) der Bücher beider Testamente, hat so 13

weise angeordnet, dass das Neue im Alten verborgen und das Alte im Neuen erschlossen sei (ut Novum in Vetere lateret et in Novo Vetus pateret)“ (Dei Verbum IV, 16). In dem hier behandelten Zeitraum der Geschichte Israels stehen wir am Ursprung aller grundlegenden biblischen Themen, sei es dem der Rettung und Erlösung, der Gottessohnschaft, des Bundes, der Gottesliebe, des Opfers, des Gebetes, der Ausdifferenzierung von weltlicher und geistlicher Gewalt sowie des Übergangs von einer Kult- zu einer Seelsorgereligion und vieler weiterer mehr. Hin und wieder wurde der Blick über das Neue Testament hinaus auf die weitere Geschichte des Christentums gerichtet, wie etwa bei der Neuinterpretation des alttestamentlichen Bilderverbotes infolge eines vertieften Verständnisses der Menschwerdung Gottes im großen Bilderstreit des 7. bis 9. Jahrhunderts n. Chr. Die zahlreichen Rückmeldungen, die ich auf die in „Christ in der Gegenwart“ erschienenen Beiträge erhalten habe, sowie die Rezeption meiner Bücher: „Ein Weg durch das Leid. Das Buch Ijob“ sowie „Das Hohelied der Liebe“, die ebenfalls aus CiG-Beiträgen hervorgegangen sind, haben mich ermutigt, die essayistische Form der Ausführungen beizubehalten und sie leicht überarbeitet in Buchform vorzulegen. Offensichtlich besteht in einem säkularen Zeitalter nach wie vor ein Interesse an einer historisch redlichen, theologisch plausiblen und spirituell nachvollziehbaren Erschließung biblischer Themen. Abschließend noch ein Hinweis zum Gottesnamen. Der Gott Israels trägt einen Namen. Damit wird er von anderen Göttern unterschieden. Eigennamen dienen dazu, eine Person oder Gottheit von einer anderen zu unterscheiden. In der hebräischen Bibel wird der Name des Gottes Israels mit den vier Konsonanten JHWH, dem sogenannten Tetragramm, wiedergegeben. Wie der Name ausgesprochen wurde, wissen wir nicht. Etwa ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. wurde er wahrscheinlich nicht mehr ausgesprochen. Die griechische Bibelübersetzung, die Septuaginta, ein Projekt, das im 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandrien in Angriff genommen wurde, gibt den Gottesnamen nicht mehr als Namen wieder, sondern übersetzt ihn mit Kyrios, das heißt übersetzt: „Herr“. Darin spiegelt sich der Übergang von einem polytheistischen zu einem monotheistischen Bezugsrahmen wider. Sobald sich die Einsicht durchgesetzt hatte, 14

dass Jhwh nicht nur der Gott Israels, sondern der Gott der ganzen Welt ist, die anderen Götter also gar nicht existieren, benötigte dieser eine Gott keinen Namen mehr, denn er musste von anderen Götter gar nicht mehr unterschieden werden, weil es sie nicht gibt. Auch der erste Mensch hatte keinen Namen; solange er noch allein war, hieß er einfach Adam, das heißt: Mensch. Vor diesem Hintergrund ist die Übersetzung des Gottesnamens, genauer: die Ersetzung des Gottesnamens (nomen proprium) durch eine Gottesbezeichnung (nomen appellativum) konsequent. Damit geriet das Wissen, dass Jhwh ursprünglich ein Gott unter vielen Göttern war, in Vergessenheit. Wenn in wissenschaftlichen Zusammenhängen hebräische Bibeltexte in Übersetzung wiedergegeben werden, wird heute gewöhnlich für den Gottesnamen das Tetragramm Jhwh gesetzt. Ob man es als Adonai, wie heute allgemein üblich und der jüdischen Tradition entsprechend, oder als Jahwe, wie vor einigen Jahren in christlichen Kreisen verbreitet, ausspricht, sei dahingestellt. Die modernen Bibelübersetzungen geben den hebräischen Gottesnamen Jhwh heute in den meisten Fällen im Gefolge der Septuaginta (Kyrios) und der Vulgata (Dominus) mit „der Herr“ (Lord, Signore, Seigneur, Señor etc.) wieder. Im hier vorliegenden Buch wird, wenn aus der hebräischen Bibel zitiert wird, beides praktiziert: sowohl die aus dem liturgischen Gebrauch vertraute Übersetzung des Gottesnamens mit „der Herr“ – in Kapitälchen geschrieben, um ihn von „Herrn Müller“ zu unterscheiden – als auch die in wissenschaftlichen Kreisen übliche Wiedergabe mit Jhwh, die uns daran erinnert, dass der Gott Israels ursprünglich einer unter vielen war – das Thema dieses Buches. Den Kollegen Prof. Dr. Dieter Böhler SJ und Prof. Dr. Jan-Heiner Tück gilt mein Dank für die kritische Lektüre des Manuskripts und für wertvolle Anregungen. Etwaig verbliebene Fehler und Unzulänglichkeiten gehen auf das Konto des Autors. Frau Maria Steiger vom Herder Verlag danke ich für die angenehme und reibungslose Zusammenarbeit. Ich widme das Buch Dr. Cornelia Lindner in der gemeinsamen Suche nach dem Antlitz des Herrn (vgl. Ps 27,8). Passau, am Fest des heiligen Liudger 2023 Ludger Schwienhorst-Schönberger 15

I. Einleitung

Religion in der Moderne Bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ging die Religionssoziologie mehrheitlich davon aus, dass Religion im Zuge einer voranschreitenden Modernisierung der Lebenswelt bis auf kleine Restbestände verschwinden wird. Erklärt wurde der scheinbar unaufhaltsame Prozess mit der These, dass das moderne, auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Weltbild mit der traditionellen religiösen Deutung der Wirklichkeit nicht in Übereinstimmung zu bringen sei. Was bisher mit Gott und seinem Handeln in der Welt in Verbindung gebracht und religiös verstanden wurde, konnte nun mit dem Verweis auf die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften als ein Prozess erklärt werden, der nach rein innerweltlichen Gesetzen abläuft. Mit dieser bereits im 16. Jahrhundert zunächst weitgehend unbemerkt einsetzenden Entwicklung wandelte sich eine religiöse in eine weitgehend säkulare Lebenswelt. Der Rückgang religiöser Praxis sowie die rückläufige Zahl von Mitgliedern der großen Kirchen in den Ländern Westeuropas scheinen diese sogenannte Säkularisierungsthese zu bestätigen. Inzwischen wird diese Sicht nur noch von einer Minderheit von Religionssoziologen geteilt, und wenn, dann nur noch in stark modifizierter Form. Der über viele Jahre hin weltweit erhobene empirische Befund deutet in eine andere Richtung. Zum einen scheint der Zusammenhang zwischen fortschreitender Modernisierung und Säkularisierung kontingent zu sein. Es gibt Länder, die einen radikalen Prozess der Modernisierung durchlaufen haben, ohne dass die religiöse Praxis rückläufig wäre. Trotz einer weltweit forcierten Modernisierung hat die Zahl derer, die sich als religiös verstehen, nicht ab-, sondern zugenommen. Schließlich lässt sich die mit der Säkularisierungsthese einhergehende Erklärung, dass Religion verschwindet, wenn ein naturwissenschaftliches Erklärungsmodell die Oberhand 17

gewinnt, nicht verifizieren. „Blickt man auf die Zahlen der weltweiten Religionsstatistik, wird evident, dass die Annahme der Säkularisierungsthese sich empirisch nicht erhärten lässt. Das Säkularisierungsparadigma, je moderner eine Gesellschaft sei, desto areligiöser sei sie, trifft nicht zu.“2 Die Säkularisierungsthese stützte sich weitgehend auf Entwicklungen in Westeuropa. Weltweit betrachtet sind diese jedoch ein Sonderfall. Inzwischen spricht selbst Jürgen Habermas von einer postsäkularen Gesellschaft, „wenn religiösen Überzeugungen auch aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugestanden wird, der nicht schlechthin irrational ist.“3 Differenziert man nach den drei großen Strömungen des Christentums, der charismatisch-pfingstlichen, der traditionalen und der liberalen, so scheint sich die skizzierte Deutung zu bestätigen. Der sich selbst als liberal verstehende evangelische Theologe Jörg Lauster stellt nüchtern fest, dass die Mitgliederzahl der auf intensives religiöses Erleben gründenden evangelikalen und charismatischen Richtungen weltweit wächst. Weitgehend stabil ist das traditionale Segment, zu dem Lauster den Katholizismus rechnet. Ihm gelingt es, so Lauster, „trotz enormer innerer Spannungen weltweit als eine Größe zu agieren. […] So ist der Katholizismus der einzige global player des Christentums. Das Sorgenkind scheint der liberale Weg zu sein. Die liberalen Religionsformen praktizieren Offenheit gegenüber der Moderne. Dennoch sind sie allesamt konfessionsübergreifend auf dem Rückzug.“4 Der Befund macht uns auf ein Phänomen aufmerksam, das in liberalen Kreisen gerne belächelt wird, religionsgeschichtlich jedoch 2 Daniel Rothe, „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ Metaphorik und religiöses Erleben im 21. Jahrhundert (MThS II, 84), Sankt Ottilien 2022, 75. Ebd., 7–93, findet sich eine umfassende Präsentation und eingehende Diskussion der jüngeren religionssoziologischen Forschungen. 3 Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt 2005, 118; zitiert nach Rothe, Gott, 3 (s. Anm. 2). 4 Jörg Lauster, Der Heilige Geist. Eine Biographie, München 22021, 324f. Vgl. Klaus Vellguth, Geht Kirche heute noch? Pentekostalismus als Herausforderung für die christliche Ökumene, in: IKaZ 52 (2023) 56–65: „Der Erfolg der pentekostalen Bewegung stellt ein wesentliches Phänomen der christlichen Moderne dar, dem sich die Kirche stellen und zu dem sie adäquate Antworten finden muss“ (ebd. 58).

18

nicht zu leugnen ist und dem in unserer Darstellung besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden soll: dem Zusammenhang von Religion und Erfahrung.

Transzendenzerfahrungen Die empirischen Befunde deuten darauf hin, dass Religionen aus der menschlichen Lebenswelt nicht verschwinden werden. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass Menschen aller Kulturen und Zeiten Transzendenzerfahrungen machen. Religiösen Menschen ist das nichts Neues. Neu ist jedoch, dass dieses Phänomen inzwischen auch von einer empirisch arbeitenden Psychologie anerkannt wird. Dem amerikanischen Psychologen Abraham Harald Maslow fiel in den 1960er Jahren bei Studien zur seelischen Gesundheit auf, dass viele seiner Probanden von mystischen Erlebnissen berichteten, von Momenten intensivsten Glücks, bei denen das Gefühl des Getrenntseins von der Welt aufgehoben war.5 Derartige Gipfelerfahrungen (peak experiences) hatten offenbar einen wohltuenden Effekt auf die Gesundheit. Aus diesen und vielen ähnlichen Untersuchungen ergaben sich zwei Schlussfolgerungen: Transzendenzerfahrungen scheinen in der Natur des Menschen selbst angelegt zu sein. Sie finden sich unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft oder einer bestimmten Kultur. Damit hat sich die der Säkularisierungsthese zugrundeliegende Ausgangslage grundlegend verändert: In Konkurrenz zueinander stehen nicht mehr ein aufgeklärtes, wissenschaftliches und ein religiöses, vor-wissenschaftliches Weltbild, sondern zwei unterschiedliche Deutungen eines empirischen Faktums, die beide gleichermaßen Plausibilität für sich beanspruchen können. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Säkularisierungsthese eine sich selbst erfüllende Prophezeiung war, da sie von der Hintergrundannahme ausging, dass die Säkularisierung ein mit der Modernisierung nicht aufzuhaltender Prozess sei. In Wahrheit jedoch, so der kanadische Philosoph Charles Taylor, erleben wir gegenwärtig in Europa in re5 Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker. Mit einer Einführung von David Steindl-Rast, hg. von Erhard Doubrawa, Wuppertal 2014.

19

ligiöser Hinsicht eine Entwicklung von einer nicht-optionalen zu einer optionalen Gesellschaft.6 Wie konnte es dazu kommen? Transzendenzerfahrungen scheinen zeit- und kulturübergreifend zu sein. Doch wie sie gedeutet werden, ist in hohem Maße von soziokulturellen Gegebenheiten abhängig. Bis ins 16. Jahrhundert gab es in Europa im Grunde nur die Möglichkeit, Transzendenzerfahrungen in einem religiösen Sinn zu deuten. Eine säkulare Deutung war gar nicht möglich, nicht, weil die Kirche sie verboten oder gar verfolgt hätte, wie einige meinen, sondern weil eine derartige Deutung noch gar nicht etabliert war. Sie musste erst in einem komplexen, etwa dreihundert Jahre andauernden geistigen Prozess erarbeitet werden, bis sie als eine zu wählende Option einer größeren Anzahl von Menschen zur Verfügung stand. Charles Taylor hat diesen Prozess unter dem Begriff „ausgrenzender Humanismus“ („exclusive humanism“) beziehungsweise „selbstgenügsamer Humanismus“ („self-sufficient humanism“) eingehend beschrieben.7 Damit ist eine Bewusstseinsdisposition gemeint, welche die Erfahrung der Fülle nicht mehr mit einem Bereich außerhalb des Menschen und der Natur in Verbindung bringt, sondern sie rein immanent versteht. Mit diesem neu aufgekommenen Verständnis stand erstmals eine Weltdeutung ohne Bezugnahme auf eine transzendente Wirklichkeit zur Verfügung. Selbst Michael Schmidt-Salomon, der Vorstandssprecher der atheistischen Giordano-Bruno-Stiftung, gesteht ein: „Man kann den neuen Atheismus durchaus als Fortführung der negativen Theologie begreifen oder als konsequente Variante des jüdischen Bilderverbots. Diese Betrachtungsweise steht nicht notwendigerweise in Widerspruch zum mystischen Gott Spinozas, Meister Eckharts oder Giordano Brunos. Ein mystisch verborgener Gott ist durchaus kompatibel mit der naturalistischen Weltauffassung, wonach es im Universum mit rechten Dingen zugeht, also keine Götter, Kobolde, Hexen oder Dämonen in die Naturgesetze eingreifen.“8 6 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2012, 14f (A Secular Age, Cambridge – London 2007, 4f). 7 Ebd. 41–48 (Age, 18–22). 8 Zitiert aus einem Interview in: schweizer monat. Dossier: „Ungläubig“. ­Ausgabe 981 – November 2010. Zugriff am 02. 03. 2023 auf: https://schweizermonat.ch / sie-nennen-es-gotteslaesterung-ich-nenne-es-auf klaerung/#

20

Säkulare und religiöse Deutung Dass Menschen Transzendenzerfahrungen machen, kann nicht mehr geleugnet werden. Strittig ist, wie sie zu deuten sind. Bei den Deutungen lassen sich zwei Typen unterscheiden: eine säkulare und eine religiöse. Dass eine säkulare Deutung von Transzendenzerfahrungen möglich sein soll, mag überraschen. Bei aller methodischen Problematik von Statistiken wird gegenwärtig davon ausgegangen, dass etwa 16,4% der Weltbevölkerung zur säkularen Option zu rechnen sind. Bei der säkularen Option lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Die eine kennt keine Transzendenzerfahrung, eine weitere misst ihnen keine besondere Bedeutung zu und eine dritte erklärt sie rein immanent. Bei den religiösen Deutungen von Transzendenzerfahrungen lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: Die eine deutet sie personal, die andere apersonal. Wir werden sehen, dass es zwischen der religiösen und der säkularen sowie zwischen der personalen und der apersonalen Deutung fließende Übergänge gibt. Wichtig ist die Einsicht, dass es sich um Deutungen handelt. Daniel Rothe hat in einer grundlegenden Studie überzeugend gezeigt, dass es sich bei der Gegenüberstellung eines säkularen und eines religiösen Weltbildes nicht um das Gegeneinander eines faktenbasierten wissenschaftlichen und eines die Fakten deutenden religiösen Weltbildes handelt, sondern um zwei Weltanschauungen, die auf Deutungen beruhen. Die säkulare Option bewegt sich in einer modernen Welt ohne Religion, die religiöse Option in einer modernen Welt mit Religion.9 Einander gegenüber stehen sich nicht Moderne und Religion, so als würde im weltweiten Prozess der Modernisierung Religion mehr und mehr verschwinden, sondern eine moderne Lebenswelt, in der Fakten säkular, und eine gleichfalls moderne Lebenswelt, in der Fakten religiös gedeutet werden. Da es, so Rothe, keinen epistemischen Standpunkt außerhalb von Deutungen gibt, „lässt sich keine der beiden Optionen prinzipiell verifizieren oder falsifizieren.“10 9 Eine ausführliche Darstellung und Diskussion der beiden Optionen präsentiert Rothe, Gott, 94–223 (s. Anm. 2). 10 Rothe, Gott, 142 (s. Anm. 2).

21

Personale und apersonale Deutung Das in der Bibel bezeugte religiöse Symbolsystem ist Ausdruck einer religiös-personalen Deutung von Transzendenzerfahrungen. Die Alternative einer säkularen Deutung kommt so gut wie nicht in den Blick. Nur ein Narr kann der Ansicht sein, es gäbe keinen Gott (vgl. Ps 14,1). Eine apersonale Deutung findet sich in einigen Randbereichen der Bibel, wie wir noch sehen werden. Doch aufs Ganze gesehen ist die personale Deutung von Transzendenzerfahrungen in der Bibel alternativlos. In dieser Tradition steht das Judentum, das Christentum und der Islam. In den Religionen Asiens hingegen herrscht die apersonale Deutung von Transzendenzerfahrungen vor. Empirische Befunde zeigen allerdings, dass sich personale und apersonale Deutung nicht grundsätzlich ausschließen. Anders gesagt: Es gibt in den personal konzipierten Religionen apersonale Deutungen von Transzendenzerfahrungen sowie umgekehrt in apersonal konzipierten Religionen personale Deutungen. Sich diese Unterscheidung vor Augen zu führen, ist aus zwei Gründen wichtig. Zum einen, weil sie uns hilft, das besondere Profil der biblischen Religion zu verstehen. Zum anderen, weil sie uns vor Augen führt, dass im religiösen Spektrum die personale Option nicht die einzig mögliche ist. Wer sich intensiv mit der Bibel und ihren benachbarten Kulturen und Religionen beschäftigt, erliegt leicht der Gefahr, nur jene Religionen in den Blick zu bekommen, in denen mit Gott oder Göttern gerechnet wird, und folglich nur die personale Deutung von Transzendenzerfahrungen als eine religiöse Deutung anzuerkennen und die apersonale als eine nicht mehr zum Spektrum der Religion gehörige auszuschließen. Den Blick auf apersonale Deutungen von Transzendenzerfahrungen zu werfen, erscheint mir insbesondere in einer Zeit, in der die personale Deutung in eine Krise geraten ist, dringend notwendig zu sein. In Kreisen spirituell Suchender stoßen die apersonalen Religionen Asiens seit Jahren auf starke Resonanz. Gewöhnlich wird dies dem wiedererwachenden Interesse an Mystik zugerechnet. Unter Mystik werden dann vor allem die mystischen Religionen Asiens verstanden. Christliche Theologen macht diese Entwicklung ein 22

wenig ratlos. Irgendwie spüren viele, dass sich am Gottesbild etwas ändern muss. Doch die meisten der Vorschläge bleiben oberflächlich und kommen ein wenig hilflos daher. Erstaunlich ist, was Joseph Ratzinger im Vorwort zur Neuauflage seines Klassikers Einführung in das Christentum der Theologie ins Stammbuch geschrieben hat: „Die mystische Dimension des Gottesbegriffs, die von den Religionen Asiens als Anruf auf uns zukommt, muss deutlich auch unser Denken und unser Glauben bestimmen.“11 Greifen wir die Anregung Joseph Ratzingers auf und versuchen wir, den Unterschied zwischen einer personalen und einer apersonalen Deutung von Transzendenzerfahrungen präzise zu erfassen, bevor wir uns mit Hilfe eines Modells der Entstehung der biblischen Religion zuwenden. Wie lässt sich der Unterschied zwischen personalen und apersonalen Deutungen von Transzendenzerfahrungen verstehen? Personale Deutungen gehen tendenziell aus Bewusstseinszuständen hervor, die mit dem Erleben eines Ich-Bewusstseins einhergehen, während apersonale Deutungen tendenziell aus Bewusstseinszuständen hervorgehen, bei denen ein derartiges Ich-Bewusstsein beim Erleben nicht mehr existiert.12 Beide Typen von Transzendenzerfahrungen führen zu der Annahme, dass das phänomenale Ich keine Substanz, sondern ein Prozess ist, der durch bestimmte Gehirnaktivitäten aufrechterhalten wird. Diese geniale Erfindung der Natur bewirkt, dass der Mensch ein Ich-Bewusstsein hat. Allerdings kann dieser Prozess durch bestimmte Meditationstechniken heruntergefahren werden. Wenn das geschieht, öffnet sich das Bewusstsein für Erfahrungen ohne IchBewusstsein. Der Erfahrungsraum des menschlichen Bewusstseins geht also grundsätzlich über den seines phänomenalen Ichs hinaus. Es gibt Erfahrungen, bei denen das Ich-Bewusstsein so sehr in den Hintergrund tritt, dass es nicht mehr wahrgenommen wird. Derartige Erfahrungen sind die Grundlage der apersonalen Deutung von 11 Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 1968; Vorwort zur Neuausgabe aus dem Jahr 2000; wiederabgedruckt in: JRGS 4, 49f. 12 Zum Folgenden sei auf die ausführlichen Erörterungen von Rothe, Gott, 187– 214 (s. Anm. 2), verwiesen. Zum philosophischen Hintergrund vgl. Godehard Brüntrup, Philosophie des Geistes. Eine Einführung in das Leib-Seele-Problem, Stuttgart 2018.

23

Transzendenzerfahrungen. Ihnen entspricht die nonduale Konzeption der letzten Wirklichkeit. Der Ausgangspunkt der personalen Erfahrung ist zunächst ein anderer. Hier richtet sich ein Bewusstsein, in dem ein Selbst generiert wird, auf ein göttlich-personales Gegenüber aus. Dabei kann es geschehen, dass das menschliche Selbst-Bewusstsein, das sich in existenzieller Weise auf das göttliche Bewusstsein hin ausrichtet, von diesem in sich aufgenommen, aufgehoben oder gar ausgelöscht wird. Da das personale Gegenüber von menschlichem SelbstBewusstsein und göttlichem Bewusstsein Ausgangspunkt dieser Transzendenzerfahrung war, wird die transzendente Wirklichkeit als eine personale gedeutet. Ihr entspricht die duale Konzeption der letzten Wirklichkeit. Der Unterschied zwischen den beiden Konzepten ist nicht so groß, wie oft behauptet wird. Drei Beispiele aus der christlichen Tradition seien angeführt, die zeigen, dass die duale Konzeption in die nonduale übergehen, dass das Ich-Bewusstsein in der Begegnung mit der göttlichen Wirklichkeit (vorübergehend) ausgelöscht werden kann. Es dürfte unbestritten sein, dass der Glaube der Kirchenlehrerin und Heiligen Teresa von Ávila (1515–1582) zutiefst personal geprägt ist. Entsprechend der Spiritualität ihrer Zeit betont sie den Unterschied zwischen dem majestätisch großen Gott und dem Menschen, der so klein und elend ist wie ein Wurm. Sie ist zutiefst verwundert darüber, „wenn wir es schon hier in der Verbannung als möglich wahrnehmen, dass sich ein so großer Gott ein paar so übel riechenden Würmern mitteilt, und wir eine so gutherzige Güte und maßlose Barmherzigkeit lieben können.“13 In ihren Meditationen zum Hohelied äußert sie voller Verwunderung: „Mein Herr und mein Gott! Was für ein Wort, dass es ein Wurm zu seinem Schöpfer sagt!“14 Gemeint ist der erste Satz des Hoheliedes: „Er küsse mich mit dem 13 Teresa von Ávila, Wohnungen der inneren Burg (1M 1,3). Zitiert nach: Teresa von Ávila, Gesamtausgabe. Band. I: Werke, herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan und Elisabeth Peeters, Freiburg i. Br. 2015, 1686. Im Folgenden mit der üblichen Abkürzung M für Moradas del Castillo Interior (Wohnungen der Inneren Burg) zitiert. 14 Teresa von Ávila, Gedanken zum Hohenlied – Meditaciones sobre los cantares (MC 1,10). Zitiert nach der Gesamtausgabe, 1291 (s. Anm. 13).

24

Kuss seines Mundes!“ Diesen Satz spricht die Frau des Hoheliedes, die damit zum Ausdruck bringt, dass sie sich nach einer intimen Liebesbeziehung mit ihrem Geliebten, das ist Gott beziehungsweise Christus – so die traditionelle Deutung –, sehnt. Und da fragt Teresa: Darf ein Mensch so zu Gott sprechen? Damit greift sie die Warnungen einiger Theologen auf, die der Ansicht waren, dass sich das innere Beten für einfache Laien und insbesondere für Frauen nicht ziemt; einer der Kritiker der Öffnung des kontemplativen „inneren Betens“ für Laien war der hochangesehene Dominikanertheologe Melchor Cano.15 Teresa lebt und glaubt also in einem zutiefst personal geprägten Glauben, in dem der Mensch dem erhabenen Gott gegenübersteht. Und doch weiß auch sie von Erfahrungen zu berichten, in denen das Gegenüber von Gott und Mensch verschwindet. In ihren Wohnungen der Inneren Burg schreibt sie von der geistlichen Vermählung: „Es lässt sich darüber nicht mehr sagen, als dass die Seele – ich meine der Geist dieser Seele –, soweit man es erkennen kann, mit Gott eins geworden ist […]; so innig nämlich hat er sich mit dem Geschöpf verbinden wollen, dass er sich nicht mehr von ihm trennen will, so wie die, die sich nicht mehr trennen können“ (7M 2,3). Klingt hier noch deutlich eine personale Metaphorik von zwei Liebenden an, wie sie aus der Liebesmystik bekannt ist, so wird es schwer, das folgende Bild noch nach dem personalen Modell dual zu verstehen. Hier spricht sie – im Unterschied zur geistigen Verlobung, bei der die Verbindung von Gott und Mensch noch flüchtig und von Trennungen unterbrochen ist, – von der geistlichen Vermählung als einem „Einswerden […] so, wie wenn zwei Wachskerzen so nahe zusammengebracht würden, dass es ein einziges Licht wäre, oder wie wenn der Docht, das Licht und das Wachs zu einem verschmolzen wären. Nachher aber kann man die eine Kerze wieder leicht von der anderen lösen, und es sind wieder zwei Kerzen, und so auch mit dem Docht und dem Wachs. Hier ist es aber, wie wenn Wasser vom Himmel in einen Fluss oder eine Quelle fällt, wo alles 15 Vgl. Mariano Delgado, „Inneres Beten“ als Haupttrend der spanischen Mystik in der Frühen Neuzeit, in: Mariano Delgado / Volker Leppin, Homo orans. Das Gebet im Christentum und anderen Religionen (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 30), Basel – Stuttgart 2022, 213–243, hier 222f.

25

zu einem Wasser wird, so dass man es nicht wieder aufteilen oder voneinander trennen kann, was nun Flusswasser ist oder vom Himmel fiel; oder wie wenn ein kleines Rinnsal ins Meer fließt: Da gibt es keine Möglichkeit mehr, um sie zu trennen; oder wie wenn ein Raum zwei Fenster hätte, durch die ein starkes Licht einfällt; auch wenn es getrennt einfällt, wird doch alles zu einem Licht“ (7M 2,4). Anschließend spricht sie in Anlehnung an Paulus vom Sterben, womit hier eindeutig nicht der Tod am Ende des Lebens gemeint ist, sondern das Zugrundegehen des Ich-Bewusstseins in der Vereinigung mit Christus.16 Die Erfahrung des Übergangs von einer personalen Subjekt-Objekt-Struktur zu einer Erfahrung der Einheit, in der das phänomenale Ich aus dem Bewusstsein verschwindet, begegnet auch bei der Kirchenlehrerin und Heiligen Therese von Lisieux (1873–1897). Ihr wurde bei der Ersten Heiligen Kommunion eine Erfahrung zuteil, die sie in ihrer autobiographischen Schrift „Die Geschichte einer Seele“ so beschreibt: „Oh! Wie wohltuend war der erste Kuss Jesu in meiner Seele! […] Es war ein Kuss der Liebe, ich fühlte mich geliebt, und auch ich sprach: ‚Ich liebe dich und schenke mich dir für immer.‘ Es gab keine Forderungen, keine Kämpfe, Opfer; seit langem hatten sich Jesus und die arme kleine Therese angeblickt und verstanden […] An diesem Tag aber war es nicht mehr ein Blick, sondern eine Vereinigung (fusion), sie waren nicht mehr zwei, Therese war verschwunden, wie der Wassertropfen im weiten Meer sich verliert. Jesus allein blieb, er war der Herr, der König.“17 Die Anklänge an das 16 „Vielleicht ist es das, was der heilige Paulus sagt: Wer sich an Gott festmacht und sich ihm nähert, wird ein Geist mit ihm (1 Kor 6,17), womit er auf diese erhabene Vermählung anspielt, die voraussetzt, dass Seine Majestät durch Aneinung (unión) zur Seele gekommen ist. Er sagt ja auch: Mihi vivere Christus est, mori lucrum (Phil 1,21). So kann die Seele hier meines Erachtens auch sprechen, denn das ist der Ort, wo der kleine Schmetterling, von dem wir gesprochen haben [5M 2,5], stirbt, und das mit überaus großer Freude, da sein Leben nun bereits in Christus ist“ (7M 2,5). 17 Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften, Einsiedeln 1958, 162009, 73; die kursiv gesetzten Worte sind in ihrem Manuskript unterstrichen; Thérèse de Lisieux, Œuvres complètes, Les Édition du Cerf et Desclée De Brouwer 1992, 125 (Ms A 35r°): «Ah! qu’il fut doux le premier baiser de Jésus à mon âme!… Ce fut un baiser d’amour, je me sentais aimée, et je disais aussi: «Je vous aime, je me donne à vous pour toujours.»Il n’y eut pas de demandes, pas de

26

Hohelied, insbesondere an seine Eingangsverse, sind unverkennbar. Therese spricht von einer Verschmelzung beziehungsweise Vereinigung ( fusion) zwischen dem Geliebten und der Geliebten. „Sie waren nicht mehr zwei, Therese war verschwunden.“ Als drittes Beispiel sei auf das bekannte Wort des Apostels Paulus verwiesen, das sich im Anschluss an den Bericht von seiner Christuserfahrung vor Damaskus im Brief an die Galater findet: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Nach Udo Schnelle hat die „Schau des Auferstandenen […] Paulus zur Preisgabe des bisherigen Ich, zu einer ‚Entselbung‘“ geführt, „die als Negation Voraussetzung für das neue Sein in Christus ist.“18 In Paulus, so Jörg Lauster, „brach die Autorität des Heiligen mit unglaublicher Wucht durch. Paulus steht für eine religiöse Persönlichkeit, die durch und durch von der Erfahrung göttlicher Transzendenz bestimmt ist, und diese Erfahrung ist nicht an den irdischen Jesus gebunden. Sie ereignet sich als kraftvolle Gegenwart Christi im Bewusstsein des Glaubenden.“19 lutte, de sacrifices, depuis longtemps, Jésus et la pauvre petite Thérèse s’étaient regardés et s’étaient compris… Ce jour-là ce n’étaient plus un regard, mais une fusion, ils n’étaient plus deux, Thérèse avait disparu, comme la goutte d’eau qui se perd au sein de l’océan. Jésus restait seul, Il était le maître, le Roi.» Die Auslassungspunkte stehen im Original. 18 Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin – Boston 22014, 92. Das von Schnelle zitierte Wort „Entselbung“ stammt von Rudolf Otto, Mystische und gläubige Frömmigkeit, in: Ders., Sünde und Urschuld, München 1932, 144. 19 Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 32015, 47. Weiters heißt es ebd.: „Für Theoretiker der religiösen Erfahrung ist Paulus zu allen Zeiten eine bemerkenswerte Erscheinung.“ Wenn ich recht sehe, zielt auch Stefan Oster in seiner Habilitationsschrift darauf ab, „eine traditionelle Substanzontologie organisch mit einer anthropologisch-personalen Ontologie zusammenzuführen, zu ergänzen oder gar beide aus einer einheitlichen ontologischen Wurzel neu zu fassen“ (14). Ausgehend von der Erfahrung (34–171) über die „Personale Erfahrung“ (174–321) gelangt er in der „Theologischen Anthropologie“ (324–511) zu folgender Deutung des zum Person-Sein befreiten Menschen: „Die Wandlung vom alten zum neuen Menschen ereignet sich freilich nicht ohne ein dramatisches, krisenhaftes Geschehen auf der Seite des Menschen: Etwas Altes im Menschen, diejenige ‚natürliche‘ Dimension, die aus einer Subjektivität erwächst […], die sich primär nicht empfangen, sondern sich selbst behaupten, oder biblisch ‚sich selbst gewinnen‘ (Mt 10,39) will, muss der neuen Gestalt des Menschen bzw. der Gestalt des neuen Menschen weichen. Die Entfaltung

27

Die drei angeführten Beispiele aus der christlichen Tradition bewegen sich in einem zutiefst personal geprägten religiösen Symbolsystem und lassen doch erkennen, dass die zur Beschreibung der Transzendenzerfahrung verwendeten Bilder in einen Bereich vorstoßen, der kaum von einer apersonal gedeuteten Transzendenzerfahrung zu unterscheiden ist. Der Vollständigkeit halber sei ein Beispiel für eine Transzendenzerfahrung zitiert, die eine tendenziell apersonale Struktur erkennen lässt. Charles Taylor führt es in seinem monumentalen Werk „Ein säkulares Zeitalter“ als modernes Zeugnis einer „Erfahrung der Fülle“ an. Es entstammt der Autobiographie des englischen Benediktiners Bede Griffiths (1906–1993) aus seiner Jugendzeit, da er sich noch als Agnostiker verstand:20 „Gegen Ende meiner Schulzeit ging ich eines Abends allein spazieren und hörte den vollen Chorgesang der Vögel, wie man ihn nur bei Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang und nur zu dieser Jahreszeit zu hören bekommt. Noch heute erinnere ich mich an die Überraschung, die ich empfand, als der Klang plötzlich an meine Ohren drang. Mir schien, ich hätte die Vögel noch nie singen gehört, und ich fragte mich, ob sie das ganze Jahr über so sängen, ohne dass ich es gemerkt hätte. Als ich weiterging, stieß ich auf einige voll erblühte Weißdornbüsche, und wieder glaubte ich, noch nie einen solchen Anblick gesehen und niemals solchen Liebreiz empfunden zu haben. Wäre ich plötzlich unter die Bäume des Gartens Eden versetzt worden und hätte dort einen Engelchor singen gehört, hätte ich nicht verwunderter sein können. Sodann erreichte ich eine Stelle, an der man sehen konnte, wie die Sonne über den Sportplätzen unterging. Auf einmal flog eine Lerche neben dem Baum, an dem ich stand, vom Boden auf und ließ ihr Lied über mir erklingen, bis sie nach wie vor singend herabflog, um zu schlafen. Dann wurde alles still, als die letzten Sonnenstrahlen verschwanden und der Schleier der Dämdes neuen Menschen, biblisch dessen neue Geburt (Joh 3,3), geht mit dem Abstieg des an sich selbst festhaltenden Ich=Ich in den im gegenständlichen Sinn grundlosen Grund seines geeinten Selbstverhältnisses einher“ (Person und Transsubstantiation. Mensch-Sein, Kirche-Sein und Eucharistie – eine ontologische Zusammenschau, Freiburg i. Br. 2010, 396). 20 Bede Griffiths, The Golden String, London 1979, 9 (zitiert nach Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2012, 19). Ausführliche Kommentierung von Ludger Schwienhorst-Schönberger, Christlicher Glaube in einem säkularen Zeitalter, in: Thomas Möllenbeck / Ludger Schulte (Hg.), Spiritualität. Auf der Suche nach ihrem Ort in der Theologie, Münster 2017, 69–112, hier 74–87.

28

merung die Erde bedeckte. Ich entsinne mich des Gefühls der Ehrfurcht, das über mich kam. Ich wollte auf dem Boden niederknien, so als sei ein Engel gegenwärtig. Ich wagte es kaum, zum Himmel aufzublicken, denn es kam mir vor, als wäre er nur ein Schleier vor dem Angesicht Gottes.“

Es ist schwer zu sagen, ob es sich um eine personale oder eine apersonale Erfahrung handelt. Streng genommen stellt sich die Alternative nicht mehr. Transzendenzerfahrungen, die von Betroffenen als tiefes personales Angesprochensein erfahren werden, sind auch dann als personale Erfahrungen zu verstehen, wenn in der damit einhergehenden Erfahrung keine Person, kein Gott, kein Engel, sondern nur apersonale Bilder wie – sehr häufig – ein überaus hell strahlendes Licht geschaut wird. Charles Taylor deutet den Erfahrungsbericht von Griffiths wie folgt: „In diesem Fall hat sich das Gefühl der Fülle als ein Erlebnis eingestellt, das unser normales Empfinden des Daseins in der Welt mit ihren vertrauten Gegenständen, Tätigkeiten und Bezugspunkten erschüttert und durchdringt. Dabei handelt es sich vielleicht um Augenblicke, von denen Peter Berger in seiner Beschreibung des Werks von Robert Musil sagt, dass in ihnen ‚die gewöhnliche Realität ausgeschaltet wird und etwas erschreckend anderes durchscheint‘ – ein Bewusstseinszustand, den Musil als ‚den anderen Zustand‘ kennzeichnet.“21 Die Erfahrung eröffnete Bede Griffith einen Weg, der ihn vom Agnostizismus zu Gott, dann zu Christus und schließlich zur Kirche führte. Mit 26 Jahren trat er in den Benediktinerorden ein, im Jahre 1955 ging er nach Indien und lebte dort in einem Ashram. In seinem geistlichen Testament „Die Hochzeit von Ost und West“ entwirft er in einer geistigen Schau eine Synthese der religiösen Traditionen von Ost und West, die sich an den großen Themen der Bibel orientiert.22 21 Taylor, Zeitalter, 19 [Age, 5f] (s. Anm. 6). 22 Die Autobiographie The Golden String erschien erstmals im Jahre 1954. Im späteren Rückblick darauf schreibt Griffiths: „Aber tatsächlich, während ich ‚The Golden String‘ schrieb, begann gerade eine neue Ära in meinem Leben, die überall Veränderungen bringen sollte, die tiefer waren als alle, die vorausgegangen waren. Zuerst durfte ich Gott entdecken, dann Christus und schließlich die Kirche“ (Die Hochzeit von Ost und West. Hoffnung für die Menschheit, Salzburg 21983, 7; verwiesen sei insbesondere auf die beiden Teile „Die Offenbarung des persönlichen Gottes“ und „Die Lehre von der NichtZweiheit“, ebd. 80–96).

29

Halten wir als vorläufiges Fazit fest: In der Religions- und Spiritualitätsgeschichte finden sich zahlreiche Zeugnisse von Transzendenzerfahrungen. Dabei lassen sich zwei Deutungstypen unterscheiden, die zum Teil fließend ineinander übergehen: ein personaler und ein apersonaler. Die personale Deutung der Transzendenzerfahrung geht aus einem Erleben hervor, bei dem ein Selbst-Bewusstsein generiert wird. Das Gegenüber von menschlich-personalem und göttlich-personalem Bewusstsein wird als bedeutsam erfahren. Die apersonale Deutung geht aus einem Erleben hervor, bei dem kein Selbst-Bewusstsein mehr generiert wird. Im Bewusstseinsstrom gibt es kein Gegenüber mehr von dem, der erfährt, und dem, was erfahren wird. Neben den individuellen Bewusstseinsdispositionen sind auch die sozio-kulturellen Prägungen für das jeweilige Transzendenzerleben von Bedeutung. In Kulturen, in denen sich die personale Deutung durchgesetzt hat, werden Menschen ihre Transzendenzerfahrungen vorwiegend personal deuten; dies ist im Judentum, im Christentum und im Islam der Fall. In den asiatischen Religionen, in denen die apersonale Deutung vorherrschend geworden ist, werden Menschen ihre Transzendenzerfahrungen vorwiegend in apersonalen Konzepten deuten. Allerdings existieren diese Kulturen nicht in Reinformat. Auch in personal geprägten Religionen kommen apersonale und in apersonal konzipierten Religionen personale Erfahrungen vor. Das zeigt, dass Transzendenz immer nur als gedeutete erfahren wird und als solche in das kommunikative und kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft eingeht.

Moderne Bewusstseinsforschung Wir stehen damit vor einem eigenartigen Phänomen. Wie oben bereits angedeutet, hat sich seit den 1960er Jahren eine empirisch ausgerichtete Forschung an der Schnittstelle von Medizin, Psychologie und Philosophie etabliert, die sich mit Fragen nach dem Ursprung und den unterschiedlichen Zuständen des menschlichen Bewusstseins befasst. Lange Zeit wurde in der Wissenschaft unhinterfragt vorausgesetzt, dass das menschliche Wachbewusstsein die einzige 30

Form des Bewusstseins ist, die uns einen adäquaten Zugang zur Wirklichkeit verschafft. Auch in der Theologie, in der Bibelwissenschaft, in den aufgeklärten und „modernen“ Formen kirchlicher pastoraler Praxis wurde dieses erkenntnistheoretische Axiom weitgehend unhinterfragt übernommen. Nun begegnen uns allerdings in der Bibel sowie in der Geschichte des Christentums und anderer Religionen zahlreiche Zeugnisse von Erfahrungen „aus einer anderen Welt“ – um es einmal neutral auszudrücken. Dazu gehören nicht nur die einfachen Formen der Gottesrede – gewöhnlich eingeleitet mit den Worten: „Und Gott sprach“ –, sondern auch Erzählungen von Visionen, Auditionen, Prophezeiungen, Traumoffenbarungen und vereinzelt auch Himmelsreisen. Ohne intensiver darüber nachzudenken, erklärt die moderne zeitgenössische Exegese diese Phänomen heute gewöhnlich rein literarisch. Das heißt, sie geht davon aus, dass ein Autor innerhalb seines Wachbewusstseins einen Text verfasst, in dem er literarische Formen wie Gottesreden, Visionen, Auditionen, Berufungserzählungen und dergleichen mehr aufgreift, um mit ihrer Hilfe etwas aussagen zu wollen. Die dem gewöhnlichen Wachbewusstsein des jeweiligen Autors zugeschriebene Intention ist der erkenntnistheoretische und epistemische Bezugspunkt des vorausgesetzten Realitätsverständnisses. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass der Realitätsgehalt dessen, was „aus der anderen Welt“ vernommen und erzählt wird, nicht dem Wissen und der Erfahrung, sondern dem kulturell bedingten Meinen und Glauben zugewiesen wird. Dass diese Erzählungen aus Erfahrungen hervorgegangen sein könnten, die das Wachbewusstsein einer Person überschreiten und in einen Bewusstseinszustand hineinreichen, in dem eine Dimension der Wirklichkeit erkannt wurde, die im gewöhnlichen Wachbewusstsein nicht erkannt werden kann, kommt so gut wie nicht in den Blick. Für die zeitgenössische religiöse Praxis hat dieser epistemische Reduktionismus fatale Konsequenzen. Denn die Begrenzung menschlichen Bewusstseins auf das gewöhnliche Wach- oder Ich-Bewusstsein führt dazu, dass die genuin religiösen Erfahrungen und Handlungen, wie sie in der Bibel und anderer geistlicher Literatur bezeugt werden, nicht mehr in den Blick kommen. Religion wird auf eine ethische innerweltliche Praxis reduziert, die weitgehend mit dem identisch ist, was der jeweilige gesellschaftliche Mainstream 31

für gut und richtig hält. Das muss nicht unbedingt falsch sein, stellt jedoch vor dem Hintergrund der biblisch bezeugten Lebenswelt eine gewaltige Reduktion dar. Spätestens an dieser Stelle sollten sich Theologie und Bibelwissenschaft den Einsichten der modernen Bewusstseinsforschung öffnen. Für unsere Fragestellung reicht es, wenn aus der inzwischen umfangreichen Literatur zur Forschung nur eine Stimme zu Wort kommt. Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel hat sich „als Arzt und Wissenschaftler“ seit gut vierzig Jahren sowohl im Rahmen eigener empirischer Forschungen als auch unter Auswertung von inzwischen rund 42 Studien, die im Zeitraum von 1975 bis 2005 publiziert wurden, mit dem Phänomen der Nahtoderfahrung beschäftigt. Er gibt offen zu, dass er sich aufgrund seiner langjährigen Forschungen von einem materialistisch-mechanistischen Realitätsverständnis, in dem er als junger Arzt in den 1960er Jahren ausgebildet wurde, verabschiedet hat. Obwohl für ihn in diesem Zusammenhang noch viele Fragen offen sind, hält er folgende Deutung von Nahtoderfahrungen für wissenschaftlich gut begründet: „Aufgrund prospektiver Studien zur Nahtoderfahrung, neuerer Erkenntnisse der neurophysiologischen Forschung und der Entdeckung der Quantenphysik bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, dass das Bewusstsein weder an eine bestimmte Zeit noch einen bestimmten Ort gebunden ist. Dieses Phänomen nennt man Nicht-Lokalität. In einem solchen Raum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig existieren und zugänglich sind, ist das vollkommene und endlose Bewusstsein allgegenwärtig. Es ist ständig um uns herum und in uns präsent. Ein nicht-lokaler Raum und ein nicht-lokales Bewusstsein sind in der materiellen Welt theoretisch weder nachweisbar noch messbar. Unser Gehirn und unser Körper dienen nur als eine Annahmestation. Sie empfangen einen Teil unseres gesamten Bewusstseins und unserer Erinnerungen in unserem Wachbewusstsein. Das nicht-lokale Bewusstsein umfasst jedoch viel mehr als unser Wachbewusstsein. […] Die Vorstellung eines nicht-lokalen und endlosen Bewusstseins macht eine große Zahl außergewöhnlicher Bewusstseinserlebnisse, wie mystische und religiöse Erfahrungen, Sterbebettvisionen, peri- und postmortale Erlebnisse, eine erhöhte intuitive Sensibilität, prophetische Träume, Fernwahrnehmungen und den Einfluss des Bewusstseins auf die Materie, begreifbar. Man kann sich nur schwer der Schlussfolgerung entziehen, dass das endlose Bewusstsein schon immer unabhängig von unserem Körper existierte

32

und auch zukünftig weiter existieren wird. Unser Bewusstsein hat weder einen Anfang noch wird es je ein Ende haben. Wir sollten die Möglichkeit ernstlich in Erwägung ziehen, dass der Tod ebenso wie die Geburt nur ein Übergang in einen anderen Bewusstseinszustand darstellen könnte und dass unser Körper zeit unseres Lebens als Schnittstelle oder Resonanzort fungiert.“23

Wir müssen uns nicht näher auf das spannende Feld der Forschungen zu Nahtoderfahrungen begeben. Für unser Anliegen reicht die Feststellung, dass umfangreiche empirische Forschungen zu Nahtoderfahrungen und ähnlichen Phänomenen wie erhöhte intuitive Sensibilität, Fernwahrnehmungen, Psychokinese, Telekinese, Teleportation, Nachtod-Kontakte, Sterbebettvisionen, peri- und postmortale Erfahrungen mit Hilfe der modernen Neurophysiologie und Quantentheorie zu Ergebnissen gelangen, die mit zahlreichen Zeugnissen religiöser Literatur kompatibel sind. Die unter Berufung auf eine aufgeklärte Moderne lange Zeit behauptete Inkompatibilität von Religion und Naturwissenschaft dürfte der Vergangenheit angehören. Kompatibilität heißt natürlich nicht, dass die Inhalte religiöser Bekenntnisse naturwissenschaftlich zu beweisen wären; das würde ihrem Selbstverständnis widersprechen. Wohl jedoch heißt Kompatibilität so viel wie Anschlussfähigkeit: Was in Zeugnissen religiöser Literatur an Einsichten und transpersonalen Erfahrungen mitgeteilt und reflektiert wird, kann – bei allen noch offenen Fragen – mit den neuesten Theorien der Naturwissenschaften plausibilisiert werden. Der Kardiologe Pim van Lommel stellt genau diese Kompatibilität zwischen neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und dem jahrhundertealten Wissen der Religionen in einem eigenen Kapitel unter der treffenden Überschrift „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ anhand ausgewählter Beispiele vor.24 23 Pim van Lommel, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Ostfildern 32023, 22f. 24 Ebd. 331–353. Der Philosophieprofessor Godehard Brüntrup SJ, der selbst eine Nahtoderfahrung hatte, gelangt, soweit ich sehe, zu einer ähnlichen Deutung. Er spricht mit einer gewissen Vorsicht von einer „Revolution unseres wissenschaftlichen Weltbildes.“ Nach einer Nahtoderfahrung entsteht bei vielen der Wunsch nach einer kontemplativen Lebensform. Ein Bericht über seine Nahtoderfahrung mit einer philosophischen Reflexion findet sich auf: https://www.youtube.com/watch?v=4dCzOXsZS54. Verwiesen sei auch auf

33

Derartige Durchbruchserfahrungen in eine andere Dimension können sich an vielen Orten ereignen. Der katholische Theologe Karl-Heinz Menke geht in der Einführung zu seinem Buch „Inkarnation. Das Ende aller Wege Gottes“ auf drei derartige Erfahrungen ein: sehr kurz auf seine eigene, ausführlicher auf die „Erfahrungsberichte“ von André Frossard und Paul Claudel:25 „Worum Theologen sich in immer neuen Anläufen bemühen, das erfasst Frossard intuitiv in Sekunden: die Bedeutung der innersten Mitte des christlichen Glaubens, das Geheimnis der Inkarnation. Und das so untrüglich klar, dass alles, was er vor und nach seiner Taufe über Christus und das Christentum erfährt, bestenfalls das schwache Echo der in Sekunden erlebten Wirklichkeit ist.“26 Ebenso wichtig wie die Erfahrung selbst ist der mit ihr verbundene Auftrag, das Verstehen, die Aneignung, die Integration der Erfahrung und die damit einhergehende Transformation, kurz: ihre Verleiblichung, ihre Inkarnation. Nach christlicher Tradition ist der durch eine solche Erfahrung in Gang gesetzte Prozess der Transformation das ausschlaggebende Kriterium für ihre Echtheit: „Frossard beschreibt die Jahrzehnte zwischen seiner Bekehrung und seinem Tod als Auftrag. Er fühlte sich beauftragt, zu verstehen, was er erlebt hatte, und er wusste sich beauftragt, andere von der Wahrheit seines Glaubens zu überzeugen – nicht durch esoterische Praktiken, sondern durch Argumente. Ihn selbst konnte kein Zweifel und kein Einwand, keine Theodizeefrage und kein Schicksalsschlag aus der Überzeugung verdrängen, dass das christliche Glaubensbekenntnis wahr ist. Was Frossard ‚die Wahrheit‘ nannte, hatte nichts Zwingendes, nichts Aufdringliches, nichts Überhebliches, nichts Ausschließendes an sich. Im Gegenteil: Menschen, die Frossard nähe kannten, haben vielfach bezeugt: Er war frei von allem, woran Menschen einander messen; er war vollseinen Vortrag: „Die Phänomene retten. NTE [Nahtoderfahrung] als mystische Erfahrung“ im Rahmen der Tagung: „Am Rande des Todes. Eine philosophische Betrachtung zur so genannten ‚Nahtoderfahrung‘“. Darin vertritt Brüntrup die mir sehr plausibel erscheinende These, dass es sich bei Nahtoderfahrungen um mystische Erfahrungen handelt: https://www.youtube.com/ watch?v=sqRKYyUyerc. 25 Karl-Heinz Menke, Inkarnation. Das Ende aller Wege Gottes, Regensburg 2021, 17–21. 26 Ebd. 20.

34

kommen demütig; deshalb war sein Bekenntnis zu ‚der einen und einzigen Wahrheit‘ so befreiend.“27 Der amerikanische Psychiater Roger Walsh spricht von einer Art Schock, als sich in den 1960er Jahren in psychologischen Kreisen die Erkenntnis verbreitete, dass es vom normalen Wachbewusstsein zu unterscheidende Bewusstseinszustände gibt, in denen die Welt genauer wahrgenommen wird als dies gewöhnlich der Fall ist: „Einige der frühesten Entdeckungen der transpersonalen Bewegung bezogen sich auf den Wert und die Vielfalt der alternativen Bewusstseinszustände. Insbesondere entdeckte sie, dass es ganze Familien von potentiellen transpersonalen Bewusstseinszuständen gibt, dass diese Zustände zu allen Zeiten und in allen Kulturen bekannt waren und gewürdigt wurden, dass sie hingegen in der westlichen Kultur und Gesellschaft weitgehend geleugnet und verworfen worden sind.“28 Entsprechend lassen sich polyphasische und monophasische Kulturen unterscheiden. Das biblische Israel gehört zu den polyphasischen Kulturen, zu jenen Kulturen, die ihre Sicht der Welt von unterschiedlichen Bewusstseinszuständen herleiten, denen je eigene Dimensionen der Wirklichkeit entsprechen, die allerdings nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern die ineinander greifen und miteinander kommunizieren. Die Religions- und Theologiegeschichte Israels ist aus einem derartigen integralen Wirklichkeitsverständnis heraus zu verstehen.29 27 Ebd. Zugrunde liegt: André Frossard, Gott existiert. Ich bin ihm begegnet, Freiburg i. Br. 1970. 28 Roger Walsh, Die Transpersonale Bewegung – Geschichte und derzeitiger Entwicklungsstand, in: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1 (1995) 6–21, hier 8. 29 Zu einem von diesen Einsichten inspirierten Textverständnis siehe Ludger Schwienhorst-Schönberger, Sehen im Nicht-Sehen. Mose auf dem Berg Sinai, in: Stefan Gehrig / Stefan Seiler (Hg.), Gottes Wahrnehmungen. Helmut Utzschneider zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2009, 102–122. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf das Buch des Nobelpreisträgers Anton Zeilinger, Einsteins Spuk. Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik, München 92007, 8: „Noch wichtiger als die Änderungen durch neue Technologien werden wahrscheinlich die auf der Quantenphysik beruhenden Änderungen unserer Weltanschauung sein – Änderungen, von denen wir gegenwärtig nur eine grobe Ahnung haben.“

35

Transzendenzerfahrungen als Ursprung von Religion Fragt man nach dem Wirklichkeitsbezug zentraler alttestamentlicher Texte, in denen erzählt wird, dass Gott einem Menschen erscheint oder in irgendeiner Weise handelnd in die Welt eingreift, wie zum Beispiel in der Erzählung von der Berufung des Mose am brennenden Dornbusch oder in der Erzählung von der Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens, so erhält man von der alttestamentlichen Wissenschaft gewöhnlich sehr unterschiedliche Antworten. Sie lassen sich in zwei Typen klassifizieren. Der eine, historisierende Typ rechnet in irgendeiner Weise mit einem historischen Kern des Erzählten, der literarisch mehr oder weniger stark entfaltet und ausgeschmückt wurde. Der zweite, fiktionale Typ rechnet mit reiner Fiktionalität der Texte. In diesem Fall wären beispielsweis Abraham und Mose vom Erzähler erfundene literarische Gestalten und das von diesen Personen erzählte Geschehen ebenso. Tendierte die alttestamentliche Forschung bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – bei aller kritischen Einstellung – zum historisierenden Typ, so ist das Pendel in den letzten Jahrzehnten in Richtung eines fiktionalen Verständnisses der großen alttestamentlichen Erzählungen ausgeschlagen. Der Konstruktivismus hat auch Einzug in die Bibelwissenschaft gehalten. Die Frage, ob Abraham und Mose überhaupt gelebt haben, wird in der alttestamentlichen Wissenschaft heute kaum noch gestellt. Theologisch relevant sind Mose und Abraham als literarisch konstruierte Figuren, so eine verbreitete Auskunft. Nun muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Unterscheidung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten erst im Zuge der Neuzeit selbstverständlich wurde. Die Opposition von Wirklichkeit und Fiktion gehört zu den Elementarbeständen unseres kulturellen Wissens. „Nun fragt sich aber“, so der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser, „ob die gewiss handliche Unterscheidung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten sich an dieser geläufigen Opposition festmachen lässt. Sind fiktionale Texte wirklich so fiktiv, und sind jene, die man so nicht bezeichnen kann, wirklich ohne Fiktion? […] Denn das Oppositionsverhältnis von Fiktion und Wirklichkeit setzt als ‚stummes Wissen‘ immer schon die Gewissheit dessen voraus, was Fiktion und was Wirklichkeit sei, wobei die unverkennbar on36

tologische Bestimmung, die in einem solchen ‚stummen Wissen‘ waltet, die Fiktion durch das Absprechen jener Prädikate charakterisiert, die der Wirklichkeit eignen.“30 Vor diesem Hintergrund gehe ich von folgendem biblischen Textverständnis aus: Einige zentrale Texte der Bibel sind in ihrem Kern literarische Entfaltungen von Transzendenzerfahrungen. Diesen Erfahrungen wird der Charakter des Außergewöhnlichen zuerkannt, da sie sich von den gesellschaftlich vorherrschenden, alltäglichen Wirklichkeitsdeutungen signifikant abheben. Sie gehen gewöhnlich zunächst in schwach ausgeprägter Form („Mündlichkeit“) in das kommunikative Gedächtnis einer Gesellschaft ein, werden im weiteren Verlauf im Rahmen von Entscheidungs- und Selektionsprozessen als institutionalisierte Formen der Mnemotechnik Teil des kulturellen Gedächtnisses und konstituieren als solchermaßen geprägte und schließlich fixierte Bestände die Identität einer Religion oder Kultur.31 Transzendenzerfahrungen können nicht unmittelbar, sondern immer nur in gedeuteter Form bezeugt werden. Gedeutet und im weiteren Verlauf der Überlieferung auch reflektiert gehen sie in das kommunikative und schließlich in das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft ein. Auf diese Weise entstehen Religionen. Biblische Texte sind im weiteren Sinn kulturell geprägte Explikationen von Transzendenzerfahrungen. Der numinosen Erfahrung beziehungsweise dem in der Alltagserfahrung vernommenen numinosen Hintergrund wird eine Form gegeben. Dabei ist eine wechselseitige Abhängigkeit zu beachten: Einerseits prägt die Art der Transzendenzerfahrung die Form ihrer symbolischen Ausgestaltung, andererseits formen die ausgeprägten religiösen Symbole die Erfahrung der Transzendenz. Die Form, die einer solchen Erfahrung gegeben wird, kann eine bildliche, eine sprachliche oder eine dramatisch-rituelle sein. Im Laufe der Zeit entstehen in einem Gebiet oder einer Bevölkerungsgruppe regional unterschiedlich ausgeprägte Erfahrungsdiskurse. Diese werden im Laufe der Zeit miteinander 30 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt 1991, 18f. 31 Zu den Konzepten des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses siehe Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

37

verbunden und in eine zeitliche, eine thematische oder eine genealogische Linie gerückt. Aus der Verbindung verschiedener Diskurskonstellationen entsteht eine große Erzählung, eine Sinngeschichte. Diese generiert durch Integration nach innen und Abgrenzung nach außen die Identität einer Gruppe oder eines Volkes. Als eine aus einzelnen Transzendenzerfahrungen konstituierte Sinngeschichte ist die Bibel zu verstehen.

Heilige Bilder Was in den beiden vorangegangenen Abschnitten zur Deutung von Transzendenzerfahrungen gesagt wurde, bedarf im Hinblick auf die literarischen Ausgestaltungen derartiger Erfahrungen, wie sie in der Bibel anzutreffen sind, einer weiteren Vertiefung und Präzisierung. Den Ausgangspunkt dazu bildet die These, dass Transzendenzerfahrungen immer nur in Form von Deutungen und das heißt letztlich: in Form von Bildern zugänglich sind. Spricht man in einem personal konfigurierten religiösen Symbolsystem von Gotteserfahrungen, so stellen sich die Verarbeitungen und Ausgestaltungen dieser Erfahrungen in Form von Gottesbildern dar. Dabei sind grundsätzlich zwei Arten von Bildern zu unterscheiden. Gottesbilder im engeren Sinn sind Darstellungen einer Gottheit in Form einer Rundplastik oder eines Flachbildes.32 In den meisten Tempeln der Antike standen Götterstatuen. Sie repräsentierten die dort verehrte Gottheit. Nach ihr wurde der Tempel benannt, den man als Wohnhaus eines Gottes verstand. Darüber hinaus hat man in einigen Privathäusern Götterstatuetten gefunden (vgl. Ri 17,4f). Das sind kleine, leicht transportable Götterfiguren, die bei Gottesbefragungen (vgl. Ez 14,3f) und Heilungszeremonien Verwendung fanden und als Begleiter auf gefährliche Reisen mitgenommen werden konnten. Gen 31,19 erzählt, wie Rahel die Götterbilder (Terafim) ihres Vaters gestohlen hat (vgl. Gen 35,2–4). Plastische und flachbildliche Darstellungen einer Gottheit sind von der antiken Tradition her gesehen die eigentlichen Gottesbilder. Aber gerade diese Form der Vergegenwärtigung einer Gottheit wird im Alten Testament verboten. 32 Vgl. Christoph Uehlinger, Art. Götterbild, in: NBL I, 871–892.

38

Das nach der Exodus-Fassung zweite Gebot des Dekalogs lautet: „Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unterhalb der Erde“ (Ex 20,4). Offiziell durfte es also in Israel keine Gottesbilder geben. Ob sich die Israeliten immer daran gehalten haben, ist eine andere Frage. Ob es das Verbot in der Frühzeit Israels bereits gab, wird kontrovers diskutiert.

Heilige Schrift An die Stelle Heiliger Bilder tritt in Israel eine Heilige Schrift. In jüngster Zeit hat sich der Religionsphilosoph Eckhard Nordhofen intensiv mit diesem Medienwechsel in der Kultur- und Religionsgeschichte befasst. Er vertritt die These, dass es zwischen dem Wechsel von den vielen Göttern der Völker zu dem einen Gott Israels und dem damit einhergehenden Wechsel von den heiligen (Götter-)Bildern zur Heiligen Schrift einen inneren Zusammenhang gibt. Der Wechsel vom Polytheismus zum Monotheismus ging mit einem Medienwechsel vom Bild zur Schrift einher. Das Medium der Alphabetschrift, so Nordhofen, entspricht dem Monotheismus auf kongeniale Weise. Denn die dem biblischen Monotheismus inhärente Spannung von Präsenz und Entzug kann durch eine Alphabetschrift in ganz anderer Weise aufrechterhalten werden als durch rundplastische Gottesbilder. Bei einer bildlichen Darstellung ist die Gefahr der Verwechslung zwischen dem Bild und dem von ihm repräsentierten Gott weitaus größer als bei der Vergegenwärtigung durch ein Wort, etwa durch einen Gottesnamen wie Jhwh. Wer eine anthropomorphe Gottesstatue vor sich sieht, stellt sich nur allzu leicht die durch sie repräsentierte Gottheit entsprechend vor. Eine nichtbildliche Alphabetschrift hingegen ist hinsichtlich der prägenden Vorstellung weitaus blasser und wahrt auf diese Weise einen größeren Abstand, weil es keine natürliche Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten gibt. Die Schrift ist das Medium der Differenz und der Vorenthaltung. Um den hart erkämpften Durchbruch zum monotheistischen Bekenntnis zu bewahren, bedurfte es der Etablierung eines stabilen Mediums, dessen sich die Gläubigen bedienen konnten, um sich der Gegenwart ihres Gottes zu vergewissern. An die 39

Stelle des Kultbildes trat eine Heilige Schrift. Die Erfindung einer Heiligen Schrift war nach Nordhofen die Voraussetzung dafür, dass sich der Monotheismus in Israel – im Unterschied zu vereinzelten monotheistischen Durchbrüchen in anderen Kulturen – behaupten konnte. „Dass die Schrift in Israel zum Kultobjekt werden konnte, hat auch den handfesten Grund, dass ihr Alphabet rein konsonantisch ist. Hebräische Schrift wahrt die Distanz. […] So sehr das vokalisierte griechische Alphabet für fast alle anderen Funktionen, die eine fixierte Sprache haben kann, mehr leistete als die konsonantischen orientalischen Schriften, so machte dieser Vorzug es untauglich, zu einer Heiligen Schrift, zum Kultobjekt zu werden. Die aber – das ist meine These – wurde gebraucht, wenn es darum ging, den Bilderkult der Polytheisten durch den monotheistischen Schriftkult zu ersetzen.“33 An die Stelle des Kultbildes trat die kultische Verehrung der Schrift. Nach Nordhofen konnte Israel „die Kultbilder nur bekämpfen und verbieten, weil es im Schriftkult ein Substitutionsmedium entwickelt hatte. Weil die Schrift zum neuen Gottesmedium wurde, konnte sich auch das mit ihr verbundene neue Gottesverständnis durchsetzen. Im Kultbild war die Verwechslung des Gottes mit seinem Darstellungsmedium kaum zu vermeiden gewesen und gewissermaßen vorprogrammiert. Der suggestive Blick einer menschen- oder tiergestaltigen Götterfigur und das feierliche Ritual, das ihre Herstellung ‚von Menschenhand‘ vergessen machen sollte, bewirkten ihre spirituelle Aufladung und machten es leicht, die göttliche Präsenz in die Figur fahren zu lassen. Was dagegen durch Schrift präsent gemacht wird, ist gleichzeitig auch abwesend.“34 Mit dem Medienwechsel vom Bild zur Schrift war allerdings die alte Gefahr des Götzendienstes nicht grundsätzlich gebannt. Denn die kultische Verehrung der Heiligen Schrift konnte ihrerseits zu

33 Eckhard Nordhofen, Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus, Freiburg i. Br. 2018, 32 (32020). Zur Diskussion des Buches siehe Martin W. Ramb / Joachim Valentin / Ansgar Wucherpfennig / Holger Zaborowski (Hg.), Die anarchische Kraft des Monotheismus. Eckhard Nordhofens „Corpora“ in der Diskussion, Freiburg 2021. Der Folgeband zu „Corpora“ ist: Eckhard Nordhofen, Media Divina. Die Medienrevolution des Monotheismus und die Wiederkehr der Bilder, Freiburg i. Br. 2022. 34 Nordhofen, Corpora, 114.

40

einer Art von Götzendienst werden, wenn die Spannung von Vergegenwärtigung und Entzug des Göttlichen durch die Schrift nicht mehr gewahrt blieb. Nordhofen spricht von der „grapholatrischen Versuchung“. Die Heilige Schrift konnte selbst zu einem Götzen werden. Aus Idolatrie konnte Grapholatrie werden. Dass dies möglich war, „liegt am Objektcharakter der Schrift. Der verführt zu der Vorstellung, man könne den Willen Gottes schwarz auf weiß nach Hause tragen.“35 Das führt zu der Frage, wie denn Schrift zu verstehen ist, um dieser Gefahr zu entgehen, um also die dem biblischen Monotheismus inhärente Gleichzeitigkeit von Vergegenwärtigung und Entzug aufrechtzuerhalten.

Sprachbilder Neben den Gottesbildern im eigentlichen Sinne, den rundplastischen und flachbildlichen Darstellungen von Göttern und Göttinnen, die im Alten Testament verboten werden, gibt es sprachliche Bilder von Gott.36 Bilder von Gott in menschlicher Sprache sind in der Bibel in großer Vielfalt anzutreffen. Wenn wir in Ps 23,1 lesen: „Der Herr ist mein Hirt“, dann liegt hier ein sprachliches Bild vor. Der sprachwissenschaftliche Ausdruck für sprachliches Bild ist Metapher. Es handelt sich also in Ps 23 um eine bildliche, eine metaphorische Rede von Gott. In diesem Sinne gibt es viele Gottesbilder in der Bibel: Gott als Hirt, als König, als Gesetzgeber, als Retter, als Krieger, als Vater, als Mutter, um nur einige zu nennen. Das in der christlichen Tradition bedeutendste Gottesbild ist Jesus Christus, jedoch nicht mehr nur ein sprachliches Bild neben vielen anderen, sondern ein fleischgewordenes Gottesbild, „das Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15; vgl. 2 Kor 4,4), „der Einziggeborene, (der) Gott ist“ (Joh 1,18). Gott ist unsichtbar. In Jesus Christus wird dieser Gott sichtbar, 35 Ebd. 190. 36 Das Folgende im engen Anschluss an Ludger Schwienhorst-Schönberger, Metaphorisch wahr – Offenheit und Eindeutigkeit alttestamentlicher Gottesrede, in: Günter Kruck / Claudia Sticher (Hg.), „Deine Bilder stehn vor mir wie Namen.“ Zur Rede von Zorn und Erbarmen Gottes in der Heiligen Schrift, Mainz 2005, 115–124.

41

so das christliche Bekenntnis (ausführlich dazu in den Abschnitten „Sichtbar erschienen“ und „Menschwerdung Gottes“ im XI. Teil). Es wird oft so getan, als sei die Bedeutung des Wortes Gott klar und als könne oder müsse man zur Veranschaulichung dieser an sich klaren Bedeutung Bilder gebrauchen. Diese Vorstellung ist falsch. Das Wort Gott selbst ist eine Metapher, und zwar eine sogenannte unbewusste oder habituelle Metapher, näherhin eine verblasste (konventionalisierte, selbstverständliche) Metapher (Ex-Metapher; tote Metapher). Verblasste Metaphern sind beispielsweise Worte und Wortverbindungen wie „Baumkrone“, „faule Ausrede“, „der Motor heult auf“. Davon zu unterscheiden sind die bewussten oder akzidentellen Metaphern wie beispielsweise „Alexander war ein Löwe in der Schlacht“. Bewusste Metaphern werden ihrer poetischen und stilistischen Wirkung wegen eingesetzt. Sie erschießen der Sprache eine expressive Tiefendimension und erweitern ihren Bedeutungsraum. Das Wort „Gott“ ist eine unbewusste (habituelle) Metapher, da seine ursprüngliche Bedeutung verblasst ist. Nach Duden ist der Ursprung des gemeingermanischen Wortes nicht sicher geklärt. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Wort um das substantivierte zweite Partizip indogermanisch ĝhutó-m der Verbalwurzel *ĝhau in der Bedeutung „(an)rufen“, wonach also Gott als „das (durch Zauberwort) angerufene Wesen“ zu verstehen wäre. Andererseits kann das Wort im Sinne von „das, dem (mit Trankopfer) geopfert wird“ zu der indogermanischen Wurzel * ģheu in der Bedeutung „gießen“ gehören.37 Kluge bevorzugt die zweite Ableitung und versteht das Wort als Abstraktbildung mit ableitendem -t- zu indogermanisch * ģheu in der Bedeutung „gießen“ (besonders bei Opferhandlungen); von dort wird es auf das Wesen übertragen (metapherein), dem geopfert wird.38 Das Wort bezeichnet also ursprünglich kultische Handlungen, durch die Personen sich auf dieses Wesen beziehen. Deshalb sprechen wir von einer unbewussten (habituellen) Metapher. Übrigens war das Wort „Gott“ ursprünglich sehr wahrscheinlich ein

37 Duden Band 7. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim 42006, 284. 38 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23., erweiterte Auflage; bearbeitet von Elmar Seebold, Berlin 1999, 332.

42

Neutrum, weil es männliche und weibliche Gottheiten zusammenfasste. Erst mit der Übertragung auf den christlichen Gott wurde es zum Maskulinum.39 Auch die hebräischen und griechischen Gottesbezeichnungen elohim, theos und kyrios sowie der hebräische Gottesname Jhwh dürften unbewusste Metaphern sein (siehe dazu den Abschnitt „Die Herkunft Jhwhs“ im IV. Teil). Alles biblische Sprechen zu und über Gott ist metaphorische Rede. Es hebt sich von der allgemeinen Metaphorik der Sprache noch einmal ab.40 Wir können die biblische Gottesrede in unbewusste (habituelle) und bewusste (akzidentelle) metaphorische Rede aufteilen. Der Übergang zwischen beiden Bereichen ist fließend. Er hängt vom Sprachempfinden und vom theologischen Problembewusstsein ab. Oft wird versucht, theologisch anstößige Aussagen über Gott mit der Qualifikation „metaphorisch“ zu entschärfen, wie zum Beispiel die Aussage: „Der Herr ist ein Krieger“ (Ex 15,3). Angenehm erscheinende Aussagen wie „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,16) werden oft unreflektiert als wörtlich zu verstehende Aussagen über Gott angesehen. Eine solche Unterscheidung ist falsch. In beiden Fällen handelt es sich um metaphorische Rede. Das IV. Lateran-Konzil von 1215 n. Chr. hält fest: „Denn zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre.“41 Nun gibt es unter den unbewussten (habituellen) Metaphern eine Gruppe, die man eigens abgrenzen kann: die notwendigen Metaphern. Sie treten für Lücken im semantischen Katalog ein, wenn die Sprache für die Bezeichnung einer Sache keine eigentliche Benennung kennt. Beispiele für notwendige Metaphern sind im Deutschen unter anderem „Flussarm“, „Fuß des Berges“, „Glühbirne“ sowie „elektrischer Strom“. Das Wort „Gott“ ist sowohl eine verblasste als auch eine notwendige Metapher. Sie ist verblasst, weil die ursprüngliche Bedeutung des Wortes im durchschnittlichen Sprachgebrauch 39 Zum religions- und theologiegeschichtlichen Hintergrund vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Gott als Mutter?, in: IKaZ 44/1 (2015) 3–21. 40 Vgl. Otto Schwankl, Licht und Finsternis (HBS 5), Freiburg i. Br. 1995, 18: „Sprache ist von Grund auf immer metaphorisch.“ 41 Denzinger – Hünermann, 806: „Quia inter creatorem et creatum non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda“.

43

nicht mehr mitgehört wird, sie ist notwendig, weil sie eine Wirklichkeit bezeichnet, für die die Sprache keine eigentliche Bedeutung kennt (sogenannte Katachrese). Das Wort „Gott“ tritt für eine Lücke im semantischen Katalog ein. Diese Lücke ist kein Defizit einiger Sprachen, sondern hängt mit einer Eigenschaft jener Wirklichkeit zusammen, auf die das Wort verweist: ihre Unbenennbarkeit. Wenn gesagt wird, das Wort „Gott“ sei eine Metapher, folgt daraus nicht, dass das Wort unverständlich ist. Auch das Wort „Glühbirne“ ist eine unbewusste und zugleich notwendige Metapher. In einer durch Technik geprägten Lebenswelt weiß jeder, was eine Glühbirne ist. Daraus folgt nun allerdings für das Wort „Gott“, dass es nur derjenige annähernd in rechter Weise versteht, der mit jener Lebenswelt vertraut ist, in der das Wort „Gott“ seine normative Bedeutung gewinnt. Konkret heißt das für den christlichen Glauben, dass nur derjenige die Bedeutung des Wortes „Gott“ versteht, der mit der Welt der Bibel vertraut ist und aus dem in ihr bezeugten Glauben lebt. Hans Hübner hat es so ausgedrückt: „Ein rein begriffliches Erfassen, ein rein ‚intellektuelles‘ oder ‚rein‘ historisches Begreifen des Geschehens von Golgotha darf in theologischer Hinsicht nicht als ein Verstehen im eigentlichen Sinne des Wortes behauptet werden. Was das Wort ‚Gott‘ in der Schrift Alten und Neuen Testaments bedeutet, hat nur verstanden, wer diesen Gott als für sich selbst bedeutsame Wirklichkeit verstanden hat. (…) Das Neue Testament lässt daran keinen Zweifel: Es gibt keine Theologie ohne den Glauben. Theologie ohne Glaube ist nur eine Karikatur von Theologie. Das ist und bleibt die hermeneutische Fundamentalüberzeugung der neutestamentlichen Schriftsteller.“42 Zu den konventionalisierten Metaphern des Alten Testaments sind jene Aussagen zu rechnen, die wir im jüdisch-christlichen Kontext nicht mehr als metaphorisch empfinden. Es handelt sich dabei um

42 Hans Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. III. Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung. Epilegomena, Göttingen 1995, 143f (alle Hervorhebungen im Original). Zitiert nach: Rudolf Voderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn. Der Beitrag Henri de Lubacs zur Erforschung von Geschichte und Systematik christlicher Bibelhermeneutik, Einsiedeln – Freiburg 1998, 254. Nach Ansicht Voderholzers kann den „grundsätzlichen Erwägungen Hübners zur Hermeneutik des Lukas im Sinne de Lubacs nur voll und ganz zugestimmt werden.“

44

die zentralen Aussagen über Gott und sein Handeln, wie sie in der Bibel anzutreffen sind. Sie bilden das „Gottesmosaik des ‚Ersten Testamentes‘“.43 Zuschreibungen wie Schöpfung, Segen, Rettung, Gebot, Gericht, Vergebung und Allmacht gehören dazu. Die Aufzählung ist keineswegs vollständig. Aber sie enthält doch wesentliche Facetten des alttestamentlichen Gottesbildes, wie es auf der Textoberfläche entfaltet wird. Typisch für die biblische Gottesrede ist ihre narrative Struktur. Die hier genannten Gottesbilder werden gewöhnlich nicht in definierender Form gesetzt, sondern in Form von Erzählungen entfaltet. In die Erzählungen sind oft Diskurse eingebaut. Die Gottesrede der Bibel ist weitegehend narrativ und diskursiv strukturiert. Der Unterschied zwischen den bewussten und unbewussten (konventionalisierten) Metaphern hängt vom Sprachempfinden ab. Dabei ist zwischen dem Sprachempfinden der Autoren auf der einen und dem der Rezipienten auf der anderen Seite zu unterscheiden. Während die Metapher von Gott als Vater im Kontext des Alten Testaments sicherlich eine bewusste (akzidentelle) Metapher ist, wird sie im Neuen Testament und im Kontext der christlichen Rezeptionsgeschichte zu einer unbewussten (habituellen) Metapher. Im Alten Testament wird Jhwh / Gott nur an etwa zehn Stellen direkt oder indirekt als Vater bezeichnet. Das Bild spielt hier also keine bedeutende Rolle. Anders im Neuen Testament, wo das Wort „Vater“ etwa 250mal von Gott ausgesagt wird. Das Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte, beginnt mit der Vater-Anrede Gottes (Mt 6,9; Lk 11,2), das Apostolische Glaubensbekenntnis bekennt den einen Gott als allmächtigen Vater (patrem omnipotentem). Ändert sich der Rezeptionskontext, ändert sich gewöhnlich auch das Metaphernverständnis. Zu den bewussten Metaphern des Alten Testaments rechne ich die Metaphern von Jhwh / Gott als Krieger, als Löwe, als Fels, als Schutzburg, als Schild, als Arzt (Ex 15,26), als Vater, als Mutter, als Gemahl, um nur einige zu nennen. Beim Bild von Gott als König und Hirt dürfte es sich im Kontext des Alten Testaments um konventionalisierte Metaphern handeln.

43 Alfons Deissler, Art. Gott (AT), in: Johannes B. Bauer (Hg.), Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz 1994, 273.

45

Zu beachten ist, dass die biblischen Gottesbilder nicht beziehungslos nebeneinander stehen. Sie sind in Erzählungen eingebunden. Die basale biblische Gottesrede ist die Erzählung. Das hängt, wie bereits gesagt, damit zusammen, dass Religionen aus Transzendenzerfahrungen entstehen. Von diesen Erfahrungen wird erzählt, sie werden bezeugt, sie werden reflektiert, sie werden mit anderen Erfahrungen verbunden und in größere Zusammenhänge gestellt. Am Ende steht eine große Erzählung, in die viele kleine Erzählungen eingebunden sind. Nach christlichem Verständnis ist die Bibel, bestehend aus Altem und Neuem Testament, eine solche große Erzählung. Sie erzählt von den Großtaten Gottes (Ps 145,6), von dem, „was wir gesehen und gehört haben“ (Apg 4,20).

Viele Götter Der Glaube an den einen Gott, wie er in der Bibel bezeugt wird, ist nicht vom Himmel gefallen. Er hat eine Geschichte. Er musste sich durchsetzen und behaupten in einer Welt, in der viele Götter und Göttinnen verehrt wurden. Kulturen, die seit Jahrhunderten monotheistisch geprägt sind, deren religiöses Selbstverständnis sich im Glauben an einen Gott allein artikuliert, schauen auf polytheistische Religionen, in denen viele Götter verehrt werden, gewöhnlich im Gestus einer gewissen Überheblichkeit herab. Diese Religionen, so eine verbreitete Ansicht, seien primitiv, fänden sich in Restbeständen vielleicht noch bei einigen Naturvölkern und gehörten einer überwundenen Stufe kultureller Entwicklung an. Diese Ansicht ist nicht ganz falsch. Polytheistische Religionen sind in dem Sinne primitiv, dass sie – wie das lateinische Wort primitivus besagt – die „ersten ihrer Art“ sind. Sie stehen am Anfang der Religionsgeschichte der Menschheit und sind älter als der Monotheismus, der Glaube an einen Gott allein. Primitiv im Sinne von ursprünglich sind sie in mehrfacher Hinsicht. In ihnen kommt der elementare Weltbezug des Menschen unmittelbarer zum Ausdruck als in monotheistischen Religionen. Im Polytheismus stehen die Götter in enger Verbindung mit den Mächten der Natur, mit der Sonne, dem Mond und den Gestirnen am Himmel, mit dem Sturm, dem Gewitter und dem Re46

gen, der die Erde befruchtet. In Flüssen und ihren Quellen sind sie gegenwärtig, Pflanzen und Tiere sind vom Leben göttlicher Mächte durchdrungen. Ohne sie kann kein Mensch leben. Kein Wunder, dass diese Mächte und Gewalten als göttlich angesehen und verehrt wurden. Doch nicht nur der Kosmos, auch die kulturellen Errungenschaften der Menschheit können ohne das Wirken der Götter nicht verstanden werden. Götter legitimieren und stabilisieren den Staat, in ihrem Namen werden Kriege geführt und Frieden geschlossen. Ohne den Segen der Götter bleiben die Felder, die Herden und der menschliche Schoß unfruchtbar. Nimmt der Mensch diese vielfältigen Bezüge, in denen er steht und ohne die er nicht leben kann, als kommunikatives Wesen in ihren Wirkungen wahr, dann lebt er gleichsam von Natur aus in einem Geflecht personaler Beziehung zu vielen Göttern. Zwar haben die Götter gewöhnlich ihren Hauptwohnsitz im Himmel, doch zugleich sind sie in den vielfältigen, beeindruckenden und alltäglichen Erscheinungen der Natur und den Errungenschaften menschlicher Kultur auf der Erde gegenwärtig. Durch das Wirken der Götter werden Natur und Gesellschaft zusammengehalten. Aufgrund seiner engen Verbindung mit dem Kosmos und den kulturübergreifenden Institutionen war der Polytheismus trotz seiner jeweiligen regionalen Ausprägungen in verschiedene Kulturen hinein übersetzbar. Dem griechischen Zeus entspricht der römische Jupiter, der Göttin Demeter in Griechenland die Göttin Ceres in Rom, der griechischen Athene die römische Minerva und so weiter. Die verschiedenen polytheistischen Symbolsysteme sind wie Sprachen, von denen die eine in die andere übersetzt werden kann. Aufgrund der engen Verbindung der Götter mit den Mächten des Kosmos wird der entfaltete Polytheismus der großen antikenKulturen auch Kosmotheismus genannt. Der Kosmos als ganzer war von göttlicher Art. Im Kosmotheismus bewohnen Menschen und Götter eine gemeinsame Welt. „Tretet ein, auch hier sind Götter!“ – dieses dem griechischen Philosophen Heraklit zugeschriebene Wort könnte als Überschrift über die Welt des Kosmotheismus gestellt werden.

47

Ein Gott allein In der Bibel kommt uns eine andere Welt entgegen. Hier gibt es nur noch einen Gott allein, und dieser Gott ist kein Teil der Welt; er wohnt im Himmel. Israel darf sich kein Bild von diesem Gott machen. Am Gottesberg hat das Volk eine Stimme gehört, jedoch keine Gestalt gesehen: „Nehmt euch um eures Lebens willen gut in Acht! Denn ihr habt keinerlei Gestalt gesehen an dem Tag, als der Herr am Horeb mitten aus dem Feuer zu euch sprach. Lauft nicht in euer Verderben und macht euch kein Kultbild, das irgendetwas darstellt, keine Statue, kein Abbild eines männlichen oder weiblichen Wesens, kein Abbild irgendeines gefiederten Tiers, das auf der Erde lebt, kein Abbild irgendeines gefiederten Vogels, der am Himmel fliegt, kein Abbild irgendeines Tiers, das am Boden kriecht, und kein Abbild irgendeines Meerestieres im Wasser unter der Erde! Wenn du die Augen zum Himmel erhebst und das ganze Heer des Himmels siehst, die Sonne, den Mond und die Sterne, dann lass dich nicht verführen! Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen. Der Herr, dein Gott, hat sie allen Völkern unter dem ganzen Himmel zugewiesen. Euch aber hat der Herr genommen und aus dem Schmelzofen, aus Ägypten, herausgeführt, damit ihr sein Volk, sein Erbbesitz werdet – wie ihr es heute seid“ (Dtn 4,15–20).

Monotheismus und Bildlosigkeit verleihen dem in der Bibel bezeugten Glauben ein Alleinstellungsmerkmal in der antiken Welt. Der Kerngedanke des kosmotheistischen Weltbildes ist die sichtbare Präsenz des Göttlichen in der Welt in der Vielfalt ihrer Erscheinungen. Der biblische Monotheismus vollzieht demgegenüber eine doppelte Negation: Er negiert die Vielfalt zugunsten der Einheit und die Sichtbarkeit zugunsten der Unsichtbarkeit. An die Stelle der vielen Götter mit ihren unterschiedlichen Willensbekundungen und ihren in Spannung oder gar Widerspruch zueinander stehenden Interaktionen tritt der eine Gott, der einem aus der Vielzahl der Völker erwählten Volk seinen Willen bekundet, sich zu diesem Volk in ein besonderes Verhältnis setzt und damit eine Geschichte eröffnet, die darauf angelegt ist, alle Völker der Welt in sie mit hineinzunehmen. Offen bleibt die Frage, wie dieser eine, unsichtbare, transzendente Gott „aller Mächte und Gewalten“ in der Welt gegenwärtig ist. Dass Gott dem Geschehen in der Welt nicht teilnahmslos wie ein 48

Deus otiosus zuschaut, gilt in der Bibel als ausgemacht. Er ist in der Welt und seinem Volk gegenwärtig. Doch seine Gegenwart ist von anderer Art als die der Götter. Mit dem biblischen Monotheismus findet ein Prozess der Entflechtung statt. Die Natur verliert ihren numinosen Schrecken. Besteht im Kosmotheismus die Tendenz, das Göttliche in der Vielfalt seiner Erscheinungen mit dem Kosmos zu identifizieren, so zieht der Monotheismus eine Differenz ein, die im Sinne von res und signum, von Sache und Zeichen zu lesen ist: Gott und Welt stehen nicht beziehungslos nebeneinander wie im Deismus, sondern sind als Schöpfer und Geschöpf aufeinander bezogen. Die Schöpfung ist nicht Gott, sondern ein Zeichen, das auf Gott als ihren Schöpfer verweist: „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes und das Firmament kündet das Werk seiner Hände“ (Ps 19,2). Das um die Zeitenwende herum in der Weltstadt Alexandrien entstandene Buch der Weisheit Salomos aus dem Alten Testament äußert durchaus Verständnis für die polytheistische Sicht auf den Kosmos, lehnt sie aber letztendlich doch entschieden als unvernünftig ab, wenn es dort heißt (Weish 13,1–7): „Ohne Verstand waren von Natur aus alle Menschen, denen die Gotteserkenntnis fehlte. Aus den sichtbaren Gütern vermochten sie nicht den Seienden zu erkennen. Beim Anblick der Werke erkannten sie den Meister nicht, sondern hielten das Feuer, den Wind, die flüchtige Luft, den Kreis der Gestirne, die gewaltige Flut oder die Welt beherrschenden Himmelsleuchten für Götter. Wenn sie diese, entzückt über ihre Schönheit, schon für Götter hielten, dann hätten sie auch erkennen sollen, wie viel besser ihr Gebieter ist, denn der Urheber der Schönheit hat sie erschaffen. Und wenn sie über Macht und Wirkkraft in Staunen gerieten, dann hätten sie auch erkennen sollen, wie viel mächtiger jener ist, der sie geschaffen hat; denn aus der Größe und Schönheit der Geschöpfe wird in Entsprechung ihr Schöpfer geschaut. Dennoch trifft sie nur geringer Tadel: Vielleicht suchen sie Gott und wollen ihn finden, gehen aber dabei in die Irre. Sie verweilen bei der Erforschung ihrer Werke und lassen sich durch den Augenschein täuschen; denn schön ist, was sie schauen.“

Ein Zeichen zweiter Ordnung ist die Heilige Schrift. Sie liest das Geschehen in der Welt wie ein Buch, das auf Gott verweist: „Wie zahlreich sind dein Werke, Herr, sie alle hast du mit Weisheit gemacht!“ (Ps 104,24). So gesehen gibt es zwei Bücher, wie die Kirchenlehrer Augustinus und Bonaventura sagen: das Buch der Natur und das 49

Buch der Heiligen Schrift. Nach dem Sündenfall war der Mensch nicht mehr in der Lage, das Buch der Natur zu lesen. Sein Bewusstsein war getrübt, sodass er in der Natur nur noch Dinge (res) und keine Zeichen (signa) mehr erkennen konnte. Der gefallene Mensch bedurfte eines zweiten Buches, das ihm half, das verschlossene Buch der Natur wieder zu lesen. Die Heilige Schrift versteht die Dinge und das Geschehen in der Welt als Zeichen, die auf Gott verweisen; sie deutet diese Zeichen und wird damit zu einem Zeichen zweiter Ordnung. Nicht nur in Schöpfung und Geschichte, sondern auch im Lesen und Meditieren der Schrift, dem Zeichen zweiter Ordnung, ist Gott gegenwärtig: „Ich ergötze mich an deinen Gesetzen, dein Wort will ich nicht vergessen. […] Wie sehr liebe ich deine Weisung (Tora), den ganzen Tag bestimmt sie mein Sinnen“ (Ps 119,16.97). Mit dem Verschwinden der Götter und der Dekonstruktion ihrer Bilder setzt ein Prozess der Verinnerlichung ein. Immer und überall kann Gott angerufen werden. Damit ist er denen, die ihn anrufen, viel näher als es die Götter der Völker je sein könnten: „Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nahe sind, wie der Herr, unser Gott, uns nahe ist, wo immer wir ihn anrufen?“ (Dtn 4,7).

Jesus Christus Aus religionsgeschichtlicher Perspektive stellt sich die Jesus-Geschichte, wie sie im Neuen Testament und in der sich darauf stützenden christlichen Literatur erzählt und reflektiert wird, sowohl in ihrem Verhältnis zum Polytheismus als auch zum Monotheismus als eine eigenartige Spannung aus Kontinuität und Bruch dar. In Kontinuität zum polytheistischen Symbolsystem steht die Geschichte insofern, als mit Jesus ein geradezu handgreiflicher Realismus in die Religionsgeschichte zurückkehrt. Ein göttlicher Mensch, von einer Jungfrau geboren, vollbringt Wunder der Heilung; von ihm geht eine übernatürliche Kraft aus, ihm gehorchen die Mächte der Natur; „mit dem Ereignis der Inkarnation ist Gott fassbar, greifbar, berührbar, darstellbar geworden – in dem Antlitz und Leben eines bestimmten Menschen, in den authentischen Zeugnissen des Neuen Testamentes und auch in den Bildern der christlichen Ikonogra-

50

phie.“44 Völlig fremd hingegen ist dem Polytheismus, dass „die ganze Fülle der Gottheit in ihm leibhaftig wohnt“ (Kol 2,9), das monotheistische Bekenntnis zu Gott unangefochten in Geltung bleibt, Jesus in die Nachfolge ruft und sich selbst als den einzigen Weg zu Gott, dem Vater, versteht (Joh 14,6). Anhand der frühen christlichen Mission und der Anweisungen, die Papst Gregor der Große (540–604) den von Rom nach England ausgesandten Missionaren gab, zeigt Joseph Ratzinger, wie der christliche Glaube zu den heidnischen Religionen in einer Spannung von Verwerfung und Annahme, von „Verwandlung und Kontinuität“ steht. In einem seiner Briefe gibt Papst Gregor die Anweisung, die Tempel und Altäre der heidnischen Götter zu zerstören. In einem späteren Brief korrigiert er diese Sicht dahingehend, dass nur die Götterbilder, nicht jedoch die Heiligtümer selbst zu zerstören seien. Joseph Ratzinger deutet diese Spannung so: „Der heilige Ort bleibt heilig, und die Intentionen der Verehrung des Göttlichen, die vorangegangen war, werden aufgenommen und umgewandelt zu neuer Bedeutung gebracht. In Rom kann man das allenthalben studieren. Ein Name wie Santa Maria sopra Minerva lässt Verwandlung und Kontinuität gleichermaßen erkennen. Die Götter sind keine Götter mehr. Als solche sind sie gestürzt: Die Frage nach der Wahrheit selbst hat ihnen ihre Göttlichkeit genommen und ihren Sturz bewirkt. Aber zugleich ist ihre Wahrheit ans Licht getreten: dass sie Abglanz von Göttlichem, Vorahnungen von Gestalten waren, in denen sich ihr verborgener Sinn gereinigt erfüllte. Auf diese Weise gibt es nun auch eine ‚Übersetzbarkeit‘ der Götter, die als Ahnungen, als Stufe auf der Suche nach dem wahren Gott und seiner Spiegelung in der Schöpfung zu Botschaftern des einen Gottes werden können.“45

Aus traditionsgeschichtlicher Sicht ist völlig klar, dass die Jesus-Geschichte in der Tradition jener Geschichte steht, die im Alten Testament erzählt wird. In ihr erfüllt sich, was Gott durch die Propheten verheißen hat (Mt 12,15–21; Mk 1,2; Lk 1,55f). Von daher hat die junge Kirche trotz einiger Widerstände die Entscheidung getroffen, die Schriften des Alten Testaments zusammen mit den später entstan44 Menke, Inkarnation, 298 (s. Anm. 25). 45 Joseph Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz (2003), in: JRGS 3/1, 499.

51

denen Schriften des Neuen Testaments als die eine Heilige Schrift anzuerkennen. Die Gesprächspartner der frühen christlichen Theologen aus der heidnischen Kultur waren die Philosophen, die nach der Wahrheit suchten, nicht die Priester der heidnischen Religionen, die gemäß der Gewohnheit den Göttern Opfer darbrachten. Nach Sicht der frühen christlichen Theologen hat das Christentum „seine Vorläufer und seine innere Vorbereitung in der philosophischen Aufklärung, nicht in den Religionen.“46 Nach christlichem Verständnis kommt die im Alten Testament bezeugte Geschichte der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu ihrer Vollendung: „Vielfältig und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt“ (Hebr 1,1–3). Das präexistente Wort Gottes, in der Schrift auf vielfältige Weise bezeugt, ist vom Himmel herabgestiegen (Joh 3,13), hat Fleisch angenommen und als Mensch unter Menschen gewohnt (Joh 1,1–18; 1 Joh 4,2). Mit der Inkarnation, der Menschwerdung des göttlichen Wortes, kehrt ein Realismus in die Geschichte des Monotheismus ein, der zu Irritationen geführt hat (vgl. Joh 6,41–71). Hat der biblische Monotheismus der sichtbaren Gegenwart der vielen Götter auf Erden ein Ende bereitet, die Götter also aus der Welt vertrieben und die Transzendenz des einen Gottes so sehr betont, dass jede Vermischung mit den Elementen dieser Welt als ausgeschlossen galt, so scheint sich in der Jesus-Geschichte eine Umkehrung dieses Prozesses zu vollziehen: Der eine Gott erscheint leibhaftig, sichtbar und berührbar auf Erden (vgl. 1 Joh 1,1–5). Der katholische Theologe Karl-Heinz Menke schreibt dazu: „Das Ereignis der neutestamentlich bezeugten Inkarnation bedeutet die wirkliche Anwesenheit Gottes selbst in Raum und Zeit als ein ganz bestimmter Mensch mit dem Namen ‚Jesus‘.“47 Ähn46 Joseph Ratzinger, Das Christentum – die wahre Religion? (2003), in: JRGS 3/1, 445. 47 Menke, Inkarnation, 45 (s. Anm. 25).

52

lich Helmut Hoping: „Ohne Gott und sein Handeln in der Geschichte ist die Person Jesu nicht zu verstehen.“48 Es verwundert nicht, dass im Zusammenhang mit der Jesus-Geschichte der Polytheismus-Vorwurf wieder auftaucht (Joh 5,18; 10,32–39). Die christliche Theologie musste sich intensiv damit auseinandersetzen. Sie hatte an zwei Fronten zu kämpfen: Auf der einen Seite galt es, den Glauben an den einen Gott zu wahren. Einem Rückfall in den Glauben an zwei oder gar drei Götter ist das Christentum immer entgegengetreten. Auf der anderen Seite war aber auch klar, dass mit Jesus von Nazaret Gott in einer Weise in seinem Volk gegenwärtig war, welche die bisher vertrauten Formen seiner Gegenwart sprengte: Er war mehr als ein Prophet, mehr als Jona, mehr als Salomo (Mt 12,38–42), mehr als ein Sohn Davids (Mk 12,35–37), mehr als Abraham (Joh 8,48–59). Er war der Sohn des lebendigen Gottes (Mt 16,13–20), jedoch kein zweiter Gott. Die denkerischen Anstrengungen, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und seine bleibende Gegenwart im Heiligen Geist so zum Ausdruck zu bringen, dass einerseits der Monotheismus, andererseits die im Neuen Testament bezeugte hohe Christologie gewahrt blieb, prägten die theologischen Auseinandersetzungen im Umkreis der großen christologischen Konzilien des 4. und 5. Jahrhunderts. Die Frage, ob das christliche Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes nicht doch einen Rückfall in den antiken Polytheismus darstellte, stand auch im Hintergrund des Bilderstreites, der im 8. und 9. Jahrhundert den Osten des inzwischen christlich gewordenen Römischen Reiches erschütterte. Wird das mit dem Monotheismus verbundene alttestamentliche Bilderverbot (Dtn 5,7–10) übertreten, wenn die Gestalt Jesu auf Bildern gemalt und diese Bilder im Kult verehrt werden? Bischof Epiphanius von Salamis (gest. 403) warnte: „Stellt Bilder auf, und ihr werdet sehen, die Bräuche der Heiden tun den Rest.“ Der Streit drohte die Christenheit im Schatten des expandierenden Islams, der streng monotheistisch und bilderfeindlich ausgerichtet ist, zu zerreißen und konnte erst auf dem Zweiten Konzil von Nizäa im Jahre 787 theologisch geklärt werden, wenngleich er in verschiedenen reformatorischen Bewegungen immer wieder 48 Helmut Hoping, Jesus aus Galiläa – Messias und Gottes Sohn, Freiburg i. Br. 2019, 19.

53

aufflackerte (siehe dazu die Abschnitte „Sichtbar erschienen“ bis „Menschwerdung des Wortes Gottes“ unter Teil XI). „Die Menschwerdung bedeutet, dass das Ewige Wort im Menschenwort hörbar, aber auch in Menschengestalt sichtbar wurde. Was das Evangelium im Wort verkündet, sagt die Ikone im Bild.“49 Kurzum, der christliche Glaube verstand sich nicht als eine Relativierung des monotheistischen Bekenntnisses und schon gar nicht als eine Synthese von Polytheismus und Monotheismus, sondern als ein offenbarungstheologisch vertiefter Monotheismus, wie er im Alten Testament bezeugt wird: Der eine Gott hat sich selbst in Jesus Christus vorbehaltlos mitgeteilt. Jesus Christus ist das fleischgewordene Wort Gottes, das alle bisher gesprochenen Worte Gottes in sich zusammenfasst; er ist das verbum abbreviatum. In ihm hat der eine Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, sich ganz und endgültig ausgesagt. In diesem Sinne ist er „Gottes letztes Wort“.50

Heiliger Geist Die Gegenwart Gottes auf Erden in Jesus von Nazaret war begrenzt, auf einen überschaubaren Raum und auf eine kurze Zeit. Während seines irdischen Daseins konnte Jesus nur wenige erreichen. Wie wird es weitergehen, wenn der Sohn Gottes diese Welt wieder verlässt, wenn der, auf dem der Geist Gottes ruht (Lk 4,18), zu Gott zurückkehren wird (Joh 13,3; 16,28)? Ist der Preis der außergewöhnlichen Fokussierung göttlicher Gegenwart auf einen einzigen Menschen, wie sie in Jesus von Nazaret geschah, nicht zu hoch, wenn dieser Mensch nach kurzer Zeit das Zelt seiner irdischen Pilgerschaft abbrechen und diejenigen, die ihm gefolgt sind, als Waisen zurücklassen muss (vgl. Joh 13,31–38)? Seine Anhänger fanden auf diese existenzbedrohende Frage eine geniale Antwort. Ihnen wurde die Erfahrung des Geistes zuteil. Die Gegenwart Gottes in der Welt wird sich nach dem gewaltsamen Tod seines Sohnes nicht ver-

49 Christoph Kardinal Schönborn, Die Christus-Ikone. Eine theologische Hinführung, Wien 1998, 194. 50 Hansjürgen Verweyen, Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg 42002.

54

flüchtigen, sondern intensivieren und universalisieren. In der Gestalt des Geistes ist Jesus Christus nach Tod und Auferstehung weiterhin gegenwärtig – im Herzen eines jeden, der an ihn glaubt, in der Gemeinschaft der Glaubenden und – von ihr ausgehend – in der Welt der Völker. „So ist der Heilige Geist die Vollendung der Inkarnation“ und „keine zweite Offenbarung neben der des Christusereignisses.“51 Vor allem Paulus, Lukas und Johannes entwerfen eine je unterschiedlich akzentuierte Lehre vom Heiligen Geist (Pneumatologie), die allerdings nicht als eigenständige Lehre neben der Christologie steht, sondern nur in Verbindung mit ihr zu verstehen ist, denn der „Heilige Geist verbindet mit Christus und lehrt Wort und Tat Christi verstehen.“52 Paulus, der den irdischen Jesus nie erlebt hat, weiß sich nach seinem Damaskuserlebnis vom Geist Christi zutiefst ergriffen und in eine neue, geistige Daseinsweise geführt. Der Geist Christi ist kein anderer als der Geist Gottes (Röm 8,9). Gott selbst ist in den Herzen der Gläubigen aufgegangen: „Denn Gott, der sprach: ‚Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!‘, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit aufstrahlt die Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi“ (Röm 4,6). Die Wirkung des Geistes führt zur Verwandlung des Menschen. Seine durch die Sünde verletzte Gottebenbildlichkeit (Gen 1,27) wird geheilt und wiederhergestellt „Der Herr aber ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Wir alle aber schauen mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn“ (2 Kor 3,17f). In dieser Angleichung an Christus, dem „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15), wird der Mensch in gewisser Weise vergöttlicht. Der Theologe des Heiligen Geistes im Neuen Testament ist vor allem Lukas. Das Wirken des Geistes Gottes durchzieht die Jesus-Geschichte, beginnend mit Johannes dem Täufer (Lk 1,15), über die Inkarnation (Lk 1,35), die Taufe (Lk 3,21f) und den Tod Jesu (Lk 23,46) 51 Menke, Inkarnation, 188; 199 (s. Anm. 25). Karl-Heinz Menke, Jesus ist Gott der Sohn. Denkformen und Brennpunkte der Christologie, Regensburg 3 2012, 88: „Der trinitarische Gott hat sich ein für allemal in Jesus Christus offenbart und nicht ein weiteres Mal im Heiligen Geist.“ 52 Menke, Inkarnation, 199 (s. Anm. 25).

55

bis zur Ausgießung des Geistes an Pfingsten auf die im Gebet versammelte Gemeinde in Jerusalem (Apg 2). Von da an leitet der Geist die Kirche durch die Geschichte (vgl. Apg 16,6f; 28,25–30). In ihm ist der Immanuel, der „Gott-mit-uns“, unter denen, die seine Jünger geworden sind und sich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes haben taufen lassen, gegenwärtig „alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,18–20). Die Pneumatologie des Johannesevangeliums geht in zwei Punkten über die des Lukas hinaus. Zum einen ist für Johannes die Gegenwart des Geistes eine intensivere Form göttlicher Gegenwart in der Welt als die Präsenz des irdischen Jesus: „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden“ (Joh 16,7). Zum anderen wird erst der Geist in das volle Verständnis der Offenbarung führen (Joh 14,25f; 16,13). Diesen Geist übergibt Jesus in seinem Sterben mit dem Hinübergang zum Vater denen, die an ihn glauben: „Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und übergab den Geist“ (Joh 19,30). War Jesus in der Zeit seines irdischen Daseins für die Jünger ihr Beistand (vgl. 1 Joh 2,1), von Gott gesandt, so wird ihnen nach seinem Hinübergang zum Vater ein „anderer Beistand“ gesandt: „Und ich werde den Vater bitten und er wir euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird“ (Joh 14,16f). Dieser Beistand ist kein anderer als der Geist Jesu, den er mit seinem Tod „übergibt“ (Joh 19,30). Ist die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazaret als die endgültige und nicht mehr überbietbare Selbstmitteilung Gottes im Sinne einer Vereindeutigung des Glaubens an den einen Gott zu verstehen, so die Sendung des Heiligen Geistes als die Universalisierung dieser Vereindeutigung. Diese nachösterliche Universalisierung ist selbst ein qualitativer Sprung: „Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen und er wird noch größere als diese vollbringen, denn ich gehe zum Vater“ (Joh 14,12). Damit wird auf die nachösterliche universale Sendung der Jünger und die Geistbegabung in Joh 20,21–23 verwiesen: „Jesus sagte noch einmal zu ihnen: 56

Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.“ In gewisser Weise wird mit der christlichen Pneumatologie das Anliegen des Polytheismus wieder aufgegriffen, freilich nach dem Durchgang einer radikalen Verwerfung und Reinigung durch das monotheistische Bekenntnis: die universale Präsenz des Göttlichen in der Welt, nicht in der diffusen und undurchschaubaren Vieldeutigkeit einer mit den Mächten der Natur und der Geschichte verstrickten Götterwelt, sondern in der durch Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi offenbarten Eindeutigkeit der Wahrheit, die der Weg ist, der zum wahren Leben führt (Joh 14,1–14). Es dürfte kein Zufall sein, dass die bevorzugten Bilder für den Heiligen Geist wie das Brausen des Windes, das brennende Feuer, das reinigende und erfrischende Wasser der Natur abgeschaut sind. In den polytheistischen Religionen sind dies göttliche Mächte, die überall im Kosmos vorkommen und so Garanten der universalen Präsenz des Göttlichen in der Welt und zugleich die „natürlichen“ Brücken für die Übersetzbarkeit der verschiedenen kosmotheistischen Religionen sind. Diese Aufgabe übernimmt nun der Geist des einen, wahren Gottes: Er überwindet die babylonische Sprachverwirrung und verbindet Menschen aller Länder und Nationen. Der göttliche Geist weist eine kosmische und eine anthropologische Dimension auf: Er belebt als göttliche Kraft die ganze Schöpfung (Ps 104,30), die in Wehen liegt (Röm 8,18–39), und bewirkt im Menschen, dass er aus Gott neu geboren wird: „Ihr müsst von oben geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist“ (Joh 3,7f). Der Geist ist eine die Welt durchdringende Kraft Gottes und von Gott nicht zu trennen. Auf dem Konzil von Konstantinopel im Jahre 381 wurde der dritte Artikel des Nicänischen Bekenntnisses wesentlich erweitert: „Wir glauben an den einen Gott [...] und an den einen Herrn Jesus Christus [...] und an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch 57

die Propheten [...]“ Wenn ein zeitgenössischer Soziologe dem beziehungslos gewordenen Menschen der Moderne eine Resonanzbeziehung zur Welt anempfiehlt,53 dann handelt es sich aus christlicher Sicht um eine Wiederentdeckung der pneumatologischen Dimension der Wirklichkeit: „Der geistige Sinn verbirgt sich also überall, nicht bloß, auch nicht vor allem in einem Buch, sondern zuerst und hauptsächlich in der Wirklichkeit selbst.“54 Der Geist, der alles Seiende durchwirkt, ist kein anderer als der Geist Jesu, der „vom Vater (und vom Sohn) ausgeht“, und dieser Geist, der gesprochen hat durch die Propheten, ist Person, der mit dem Vater und dem Sohn zugleich angebetet und verherrlicht wird. Das Verhältnis zu Gott entscheidet sich somit nicht an der Welt vorbei, sondern im rechten Verhältnis zur Welt. Der Geist ist Person, das heißt: In der Öffnung für diesen Geist konstituiert sich eine zutiefst personale Beziehung zur Welt. War der personale Weltbezug im polytheistischen Symbolsystem diffus und zerrissen, so wird er im christologisch und pneumatologisch vertieften monotheistischen Bekenntnis vereindeutigt. Aus christlicher Sicht meint das Personalität im eigentlichen Sinn. Man könnte den Unterschied vergleichen mit einem kleinen Kind, das von vielen Müttern und Vätern gleichzeitig erzogen wird, deren Erziehungsmethoden nicht aufeinander abgestimmt sind und die, je nach Lust und Laune, Unterschiedliches sagen. Eine derartige Vielfalt ist nicht bereichernd, sondern verwirrend und wird nach allen Erfahrungen zu einer dissoziierten Persönlichkeit führen. Der christologisch vereindeutigte und pneumatologisch universalisierte Monotheismus rückt die bisweilen verwirrende Vielfalt der Welt in das Licht der einen göttlichen Wahrheit: Einheit in der Vielfalt, Verbindlichkeit und Nähe statt Ambivalenz, Verstrickung und Unverbindlichkeit. Der christliche Glaube ist demnach kein relativierter, sondern ein offenbarungstheologisch entfalteter Monotheismus. Der eine Gott hat sich selbst in Jesus Christus in nicht mehr zu überbietender Weise mitgeteilt und ist im Heiligen Geist, der vom Vater und vom Sohn ausgeht, in der Welt gegenwärtig. Die unabdingbare Voraussetzung dieser 53 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie gelingender Weltbeziehung, Berlin 2016. 54 Henri de Lubac, Katholizismus als Gemeinschaft, Einsiedeln – Köln 1943,148.

58

Entfaltung war der im Alten Testament bezeugte Durchbruch zum Glauben an den einen Gott, der sich seinem Volk in Liebe zuwendet. Damit wurde „das Kosmisch-Numinose und Zyklisch-Schicksalhafte einer mythischen Religiosität“ überwunden und Gott „als eine in Freiheit und Geschichte wirkende Person“ begriffen.55

Der Erfolg des frühen Christentums Das führt uns abschließend zu der viel diskutierten Frage, warum das Christentum in der Antike als eine attraktive Alternative zu den bestehenden Religionen angesehen wurde und sich von einer kleinen Sekte am Rande des Römischen Reiches zu einer Religion entwickeln konnte, die das Lebensgefühl einer wachsenden Zahl von Menschen gravierend veränderte. Udo Schnelle nennt fünfzehn Gründe „für den Erfolg des frühen Christentums“. 56 Für unsere Frage ist die These des französischen Althistorikers Paul Veyne von Bedeutung, der in der Präzisierung des Monotheismus den ausschlaggebenden Grund dafür sah, dass sich das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten trotz schwerwiegender Kritik von Seiten heidnischer Intellektueller und immer wieder aufflammender Verfolgungen von staatlicher Seite ohne Anwendung von Gewalt gesellschaftlich durchsetzen konnte, sodass es gegen Ende des 4. Jahrhunderts zur Staatsreligion des Römischen Reiches avancierte. Mit Präzisierung des Monotheismus meint der französische Historiker die Botschaft von einem dem Menschen in Barmherzigkeit zugewandten Gott. In der Verbindung von Universalität und Majestät auf der einen und liebevoller Zuwendung zu einem jeden Einzelnen auf der anderen Seite war der Gott der 55 So Georg Braulik in Bezug auf das deuteronomische Liebesgebot und das im Hintergrund stehende Rechtsdenken: „Das deuteronomische Liebesgebot wurde also aus der politischen Sphäre auf die religiöse Beziehung übertragen. Dennoch bleibt das in den Hintergrund gerückte Rechtsdenken wichtig. Es überwindet das Kosmisch-Numinose und Zyklisch-Schicksalhafte einer mythischen Religiosität und begreift Jhwh als eine in Freiheit und Geschichte wirkende Person“ (Das Buch Deuteronomium, in: Zenger / Frevel [Hg.], Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 92016, 174). Vgl. dazu den Abschnitt „Das Hauptgebot“ im X. Teil). 56 Udo Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr. Die Entstehung einer Weltreligion, Göttingen 22016, 560–562.

59

Christen den anderen Göttern überlegen. „Wenn ein Christ sich in Gedanken vor Gott hinstellt, dann tut er dies in der Gewissheit, von Gott ohne Unterbrechung betrachtet und geliebt zu werden. Für die heidnischen Götter gilt, dass sie vor allem unter sich, das heißt in ihrer eigenen Welt, bleiben.“57 Da es im Himmel neben dem einen Gott keine anderen Götter (mehr) gibt, ist der eine Gott frei, sich ganz auf die Welt einzulassen. Der alttestamentliche Monotheismus ist kein Deismus und kein rein abstraktes Prinzip, sondern ermöglicht eine affektive und zutiefst personale Beziehung zwischen dem einen Gott und seinen Verehrern. Das Hohelied des Alten Testaments ist ein eindrückliches Zeugnis dafür: „Die Rolle, die in altorientalischen Religionen die Göttin als Partnerin eines Gottes einnimmt, wird im Hohelied von einer menschlichen Figur, nämlich der Frau, eingenommen. Diese Frau steht für das Gottesvolk Israel und – vermittelt durch das Gottesvolk – für die Menschheit und somit für jeden einzelnen Menschen. Damit findet eine Revolution im Gottesbild statt. Der menschliche Partner, repräsentiert durch die Frau, wird geadelt und in gewisser Weise vergöttlicht, der göttliche Partner, repräsentiert durch den Mann, wird vermenschlicht. Gott und Mensch finden zu einer wahrhaft menschlich-göttlichen Begegnung.“58 Im christologisch und pneumatologisch entfalteten Monotheismus wird diese Dimension vertieft: Christus, das fleischgewordene Wort Gottes, ist der Bräutigam, der in die Welt gekommen ist, um sich mit seiner Braut, der Gemeinschaft der Gläubigen, der Seele eines jeden Einzelnen und letztlich der ganzen Menschheit, zu vermählen (Joh 3,29; vgl. Joh 4).59 Wahrscheinlich dürfte die Hinwendung Kaiser Konstantins zum Christentum mit der spezifisch christlichen Form des Monotheismus zusammenhängen. Die Herrschaft des Römischen Reiches be57 Paul Veyne, Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht, München 2011, 31. 58 Ludger Schwienhorst-Schönberger, Das Hohelied der Liebe, Freiburg i. Br. 2015, 169. 59 Vgl. Klaus W. Hälbig, Die Hochzeit am Kreuz. Eine Hinführung zur Mitte, München 2007. Ders., Die Krönung der Braut. Gottes Vermählung mit der Welt in Maria, Sankt Ottilien 2014.

60

fand sich seit der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. in einer schweren Legitimationskrise. Kaiser Diokletian hatte versucht, durch massive Wiederbelebung der altrömischen Religion die Krise zu überwinden; im Rahmen dieser Politik veranlasste er im Jahre 303 die bis dahin schwerste Verfolgung der christlichen Religion, die erst im Jahre 311 n. Chr. durch das Toleranzedikt des Kaisers Galerius beendet wurde. Die Abwendung von dieser Politik, die einige Jahre später Konstantin in die Wege leitete, dürfte nach neueren Forschungen wohl auch mit einem gravierenden Plausibilitätsverlust des antiken Polytheismus zusammenhängen. Entschieden plädiert Paul Veyne für die Annahme, „dass Konstantins Glauben echt und aufrichtig war.“60 Das Heidentum war damals noch „die Mehrheitsreligion, aber es wirkte altmodisch, während das Christentum, selbst in den Augen seiner Kritiker, als avantgardistisch galt […] Unter diesen Bedingungen übernahm Konstantin das Christentum nicht aus einem realistischen Machtkalkül heraus. Er rechnete nicht am Reißbrett dessen Machtmöglichkeiten aus, sondern erkannte vielmehr in der neuen Religion, die neun von zehn seiner Untertanen ablehnten, eine Dynamik und Lebendigkeit, die seiner kraftvollen Persönlichkeit wesensverwandt war.“61 Die geistige Auseinandersetzung zwischen dem spätantiken Heidentum und dem christlichen Glauben zog sich nach Konstantin noch gut zweihundert Jahre hin. Dabei wurden auf beiden Seiten nicht nur die Waffen des Geistes eingesetzt. Doch die Erklärung, das Christentum habe das antike Heidentum einfach aus der Welt gedrängt, macht es sich zu einfach. Die Vielzahl der Götter und Götterdarstellungen und die uns heute oft sympathisch erscheinende Toleranz des spätantiken Heidentums, wie sie etwa in dem Wort des römischen Stadtpräfekten Symmachus aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt: „Auf einem einzigen Wege können wir nicht zu dem großen Geheimnis des Göttlichen gelangen“,62 zeugte von einem hohen Plausibilitätsverlust des spätantiken Religionskonzepts, dem das Christentums mit innerer Überzeu60 Veyne, Aufstieg, 55 (s. Anm. 57). 61 Ebd. 68f. 62 Zitiert nach Veyne, Aufstieg, 183, Anm. 25 (s. Anm. 57).

61

gungskraft selbstbewusst entgegentrat. „Offensichtlich krankte das spätantike Heidentum an einem schleichenden Bedeutungsverlust seiner eigenen Gewissheiten und religiösen Praktiken. Es spricht vieles dafür, dass nicht allein das Christentum dem Heidentum ein Ende setzte. Es hat diesen Prozess beschleunigt und intensiviert, aber letztlich verschwand mit dem antiken Heidentum eine Religion aufgrund innerer Ursachen. Das Christentum vermochte diese Lücke zu schließen, indem es mit fester Autorität letzte Gewissheiten vermittelte.“63

63 Lauster, Kulturgeschichte, 113 (s. Anm. 19).

62

II. Hinführung

Der Sturz der Götter In der Geschichte dürfte es keine Kultur gegeben haben, die gänzlich ohne Religion war. Die ältesten kulturellen Zeugnisse der Menschheit werden von der Forschung als Ausdruck religiöser Erfahrungen und Überzeugungen gedeutet. Dazu gehören die Höhlenmalereien der in Frankreich gelegenen Grotte Chauvet. Ihr Alter wird auf 30.000 Jahre geschätzt. Sie werden von den meisten Forschern als Ausdruck der Mythologie steinzeitlicher Menschengruppen gedeutet. In Verbindung mit dem Höhlenheiligtum waren sie wahrscheinlich Bestandteile ritueller Begehungen. Die ältesten religiösen Vorstellungen der Menschheit dürften sich vor etwa 40.000 bis 80.000 Jahren entwickelt haben. Religion ist im wahrsten Sinne des Wortes etwas ganz Natürliches. Sie ist es in einem doppelten Sinn. Zum einen gehört sie zur Natur des Menschen. So zumindest lehrt es uns die historische Anthropologie. Zum anderen beziehen sich die ältesten religiösen Äußerungen der Menschheit auf die Natur selbst. Oft sind es besondere und außergewöhnliche Erscheinungen in der Natur, die als etwas Göttliches, als etwas Numinoses erfahren und angesehen werden. Tiere und Pflanzen, Flüsse und ihre Quellen, Berge und Wälder, die Gestirne am Himmel, Blitz und Donner – sie alle werden in der ein oder anderen Weise als Ausdruck göttlicher Mächte oder als Wohnorte der Götter verehrt und aufgesucht. Die ältesten Religionen waren polytheistische Religionen. In ihnen wurden viele Götter und Göttinnen verehrt. Diese standen in einer engen Beziehung zu den Erscheinungen in der natürlichen Lebenswelt. Deshalb nennen wir die ältesten Religionen kosmotheistische Religionen. In ihnen ist der Kosmos, die Welt, Ausdruck des Göttlichen. Da die Welt in vielfältiger Weise dem Menschen entgegenkommt, muss auch die göttliche Wirklichkeit selbst vielfältig sein. „Tretet ein, auch hier sind Götter“, 63

lautet ein Wort, das dem griechischen Philosophen Heraklit (ca. 540–480 v. Chr.) zugeschrieben wird. Etwas Weiteres kommt hinzu. Soweit bekannt sind fast alle antiken Religionen ikonische Religionen. Das heißt, in ihnen wird die göttliche Wirklichkeit in Form von Bildern (eikon) dargestellt. Bilder vermitteln in besonderer Weise die Gegenwart der Götter. Dabei ist vor allem an die Götterstatuen zu denken, die in den Heiligtümern aufgestellt sind. Will man mit den Göttern in Kontakt kommen, so geschieht dies insbesondere dadurch, dass man sich auf die Statuen und Bilder bezieht, die sie vergegenwärtigen. Vor ihnen legt man seine Gaben nieder, bringt Opfer dar und verrichtet Gebete. Schaut man nun vor dem Hintergrund der Religionsgeschichte der Menschheit auf die Bibel, insbesondere auf das Alte Testament, so stellt man verwundert fest: Was seit Menschengedenken als das Natürlichste von der Welt angesehen wurde, wird hier verworfen. Die Götter werden vom Thron gestürzt: „Gott steht auf in der Gottesversammlung, inmitten der Götter hält er Gericht. Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Verhelft zum Recht den Geringen und Waisen, dem Elenden und Bedürftigen schafft Gerechtigkeit! Befreit den Geringen und Armen, entreißt sie der Hand der Frevler! Sie erkennen nicht, verstehen nichts, sie wandeln umher in Finsternis. Alle Grundfesten der Erde wanken. Ich habe gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten. Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen, sollt stürzen wie einer der Fürsten“ (Ps 82,1–7).

Etwas Ungeheuerliches ist hier geschehen, ein Bruch in der Geschichte der Menschheit. Was immer und überall geglaubt wurde, soll nun nichts als eine Täuschung sein? Die Täuschung ist eine doppelte: Die verkehrten gesellschaftlichen Verhältnisse beruhen auf einem falschen religiösen Überbau. Die Götter sind nicht in der Lage, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Sie gehören abgesetzt – so das vernichtende Urteil des Gottes Israels: „Ich habe gesagt: Ihr 64

seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten. Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen, sollt stürzen wie einer der Fürsten“ (Ps 82,6f). „Nichtig sind alle, die ein Götterbild formen, ihre geliebten Götzen nützen nichts [...] Wer sich einen Gott macht und sich ein Götterbild gießt, hat keinen Nutzen davon“, lesen wir im Buch des Propheten Jesaja. Und weiter heißt es dort: „So spricht der Herr, Israels König, sein Erlöser, der Herr der Heerscharen: Ich bin der Erste, ich bin der Letzte, außer mir gibt es keinen Gott“ (Jes 44,6). Was hier geschieht, ist eine Revolution in der Kultur- und Religionsgeschichte der Menschheit. Jetzt soll es nur noch einen einzigen Gott geben, und dieser Gott ist unsichtbar und kann bildlich nicht dargestellt werden? Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Ein Volk im Abseits Monotheismus und Bildlosigkeit, der Glaube an (den) einen Gott und das Verbot, diesen Gott bildlich darzustellen, waren Israels Alleinstellungsmerkmal in der Welt der Antike. Das in der Bibel bezeugte religiöse Symbolsystem stellt einen Bruch in der Religionsgeschichte der Menschheit dar. Israel ist sich dessen sehr wohl bewusst: „Welche große Nation hätte Götter, die ihr so nahe sind, wie der Herr, unser Gott, uns nahe ist, wo immer wir ihn anrufen?“ (Dtn 4,7), fragt Mose das Volk Israel unmittelbar vor dem Einzug in das gelobte Land. Im Rückblick auf die Offenbarung Gottes am Horeb fordert der Prophet das Volk auf: „Forsche doch einmal in früheren Zeiten nach, die vor uns gewesen sind, seit dem Tag, als Gott den Menschen auf der Erde erschuf; forsche nach vom einen Ende des Himmels bis zum andern Ende: Hat sich je etwas so Großes ereignet wie dieses und hat man je solches gehört? Hat je ein Volk mitten aus dem Feuer die donnernde Stimme eines Gottes reden gehört, wie du sie gehört hast, und ist am Leben geblieben?“ (Dtn 4,32f). In der Tat, das hatte es bisher noch nicht gegeben. Bevor wir der Frage nachgehen, wie es zu diesem Bruch kam und wie er zu verstehen ist, richten wir unseren Blick auf eine der Folgen, die diese ungewöhnliche Gotteslehre für das Leben Israels hat. Da der Gott, an den Israel glaubt, sich nicht in die Reihe der anderen Götter einordnen lässt, kann und darf auch Israel nicht so werden 65

„wie alle anderen Völker ringsum“. Israel lebt abgesondert von der Welt der Völker. Das hat immer wieder den Argwohn und den Hass anderer Nationen hervorgerufen. Davon weiß schon die Bibel zu berichten. Auf dem Weg in das verheißene Land zieht Israel durch das Gebiet von Moab, jenseits des Jordan. Balak, den König von Moab, überkommt die Angst, die Israeliten könnten zu mächtig werden. Er lässt den Wahrsager Bileam holen und erteilt ihm den Auftrag, das „Volk, das aus Ägypten ausgezogen ist, zu verfluchen.“ In einer beeindruckenden öffentlichen Inszenierung, bei der gleichzeitig auf sieben Altären Brandopfer dargebracht werden, wird dem Seher Bileam ein Gotteswort zuteil, das dem Wunsch seines Auftraggebers strikt zuwiderläuft. Er kann nichts anderes als die Wahrheit sagen und spricht in einem Orakel das berühmte Wort: „Wie kann ich verwünschen, wen Gott nicht verwünscht, wie kann ich verdammen, wen der Herr nicht verdammt? Denn vom Gipfel der Felsen sehe ich es, von den Höhen aus erblicke ich es: Siehe, ein Volk, es wohnt für sich, es zählt sich nicht zu den Nationen“ (Num 23,8f). In der Tat ist Israel ein Volk, das sich nicht in die Reihe der anderen Nationen einordnen lässt. Das hängt mit seinem Gott zusammen, dem in der Reihe der anderen Götter kein Platz zugewiesen werden kann. Folglich bekommt Israel vor dem Einzug in das verheißene Land von seinem Gott die Anweisung, auf keinen Fall einen Bund mit den Bewohnern des Landes zu schließen. Denn das könnte dem Volk Gottes zu einer Falle werden. Es soll sich fernhalten von den Bewohnern des Landes und ihre Einladungen nicht annehmen: „Du hüte dich aber, mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst, einen Bund zu schließen; sie könnten dir sonst zu einer Falle in deiner Mitte werden. Ihre Altäre sollt ihr niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen. Du darfst dich nicht vor einem anderen Gott niederwerfen. Denn der Herr, der Eifersüchtige ist sein Name, ein eifersüchtiger Gott ist er. Hüte dich, einen Bund mit den Bewohnern des Landes zu schließen! Sonst werden sie dich einladen, wenn sie mit ihren Göttern Unzucht treiben und ihren Göttern Schlachtopfer darbringen, und du wirst von ihren Schlachtopfern essen. Du wirst von ihren Töchtern für deine Söhne Frauen nehmen; sie werden mit ihren Göttern Unzucht treiben und auch deine Söhne zur Unzucht mit ihren Göttern verführen. Du sollst dir keine Götter aus Metall gießen“ (Ex 34,12–17).

66

In diesem von der Forschung Privilegrecht genannten Text kommt der innere Zusammenhang von Fremdgötterverbot, Bilderverbot und Bündnisverbot in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Doch zeigt sich hier nicht zugleich die verheerende Verbindung von Monotheismus, Intoleranz und Gewalt, wenn dazu aufgerufen wird, die Altäre und Kulteinrichtungen der anderen Völker zu zerstören? Wir werden uns mit dieser Frage auf unserem Weg durch die Religions- und Theologiegeschichte Israels noch eingehend zu befassen haben.

67

III. Religionsgeschichtliche Vorgaben

Gemeinschaft der Lebenden und der Toten Judentum und Christentum sind keine Naturreligionen, sondern Offenbarungsreligionen. Sie bezeugen einen Gott, der sich in der Geschichte geoffenbart hat. Er hat Israel aus der Knechtschaft Ägyptens geführt und nach christlichem Verständnis sich selbst in Jesus von Nazaret, den er von den Toten auferweckt hat, geoffenbart. Doch heißt das, dass dieser Gott sich nicht auch – und vielleicht sogar zunächst und vor allem – in der Natur, in der Schöpfung, offenbart, in dem, was immer und überall geschieht? „Du machst dir die Wolken zum Wagen, du fährst einher auf den Flügeln des Windes. Du machst die Winde zu deinen Boten, zu deinen Dienern Feuer und Flamme“, lesen wir in Psalm 104, Vers 3. Hier wird kein altorientalischer Wettergott besungen, sondern Jhwh, der eine und einzige Gott Israels. Die Frage nach den Ursprüngen des biblischen Ein-Gott-Glaubens führt uns in die Epoche eines großen politischen, kulturellen und religiösen Umbruchs. Dieser Zeitraum wird von der Forschung im Übergang von der Späten Bronzezeit (1550–1200 v. Chr.) zur Frühen Eisenzeit (1250–1000 v. Chr.) angesetzt. Etwa in dieser Epoche dürfte jenes Volk entstanden sein, von dem der Glaube an den einen Gott in die ganze Welt ausging. Israel kam als Volk sehr wahrscheinlich nicht in der Wüste, sondern im Kulturland zur Welt; in einem Land, das bereits einige tausend Jahre Kultur- und Religionsgeschichte hinter sich hatte. Diese Geschichte ist auch an Israel nicht spurlos vorübergegangen. Die Bibel kennt viele Motive und Elemente, die weit in die Kultur- und Religionsgeschichte der Menschheit zurückreichen. Einige davon hat sie aufgegriffen, andere verworfen, wieder andere verwandelt. Das ging nicht in kurzer Zeit. Dabei entstand ein religiöses Symbolsystem, das im Alten Testament bezeugt wird, das

68

dem Judentum wie dem Christentum zugrunde liegt und von dem indirekt auch der Islam geprägt wurde. Welche Rückschlüsse lassen die ältesten Hinterlassenschaften, die die Archäologie ans Licht gebracht hat, auf die religiösen Anschauungen jener Menschgruppen zu, die in Palästina in der Jungsteinzeit (ca. 8500–4000 v. Chr.) gelebt haben? Zwei Themen scheinen prägend gewesen zu sein: der Ahnenkult und die Fruchtbarkeit. Die Toten wurden unter den Fußböden der Wohnhäuser begraben. Ihre Schädel wurden oft gesondert beigesetzt oder sichtbar aufgestellt, ihre Gesichter bisweilen mit Lehm naturgetreu modelliert und mit roter und schwarzer Farbe bemalt, in die Augen setzte man Muscheln ein oder füllte sie mit Kalkpaste aus. Die zentrale Absicht hinter diesen und ähnlichen Formen der Bestattung dürfte gewesen sein, die Verbindung mit denen nicht abreißen zu lassen, mit denen man in einem gemeinsamen Haus zusammengelebt hat. Auf diese Weise konnte die durch den Tod erzwungene Trennung überwunden werden. Es entstand eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten. Durch rituell vollzogene Handlungen wie Gebete und Opfer wurden die Toten in das soziale Leben der Gemeinschaft, aus dem sie herausgefallen waren, wieder eingegliedert. Unter den Funden aus dieser Zeit fallen ferner zahlreiche kleine Figuren auf, die einen fülligen Frauentyp darstellen mit besonderer Betonung der Brüste und der Geschlechtsorgane. Sehr wahrscheinlich symbolisieren diese Figuren den Aspekt der Fruchtbarkeit. Derartige Figuren wurden auch in Europa gefunden. Bekannt ist die Venus von Willendorf, deren Alter auf 25.000 Jahre geschätzt wird und die im Naturhistorischen Museum in Wien zu bewundern ist. Im Ahnenkult und in der Beschwörung der Fruchtbarkeit geht es im Grunde um ein und dasselbe Thema, um den Lebensstrom, der durch rituelle Handlungen aufrecht erhalten wird. Werden die Verstorbenen im Ahnenkult in das Leben der gegenwärtigen Generation eingebunden, so versichern und erhoffen sich die Lebenden in der bildlichen Vergegenwärtigung der Fruchtbarkeit, dass das Leben in den kommenden Generationen weitergeht. Bricht der Tod auch in das Leben ein, so kommt ihm doch nicht das letzte Wort zu. Der Vergewisserung und der Aufrechterhaltung dieses Lebensstromes dienten wahrscheinlich die ältesten religiösen Riten der Menschheit. 69

Die nackte Göttin Seit der Mittleren Bronzezeit II B (1750–1550 v. Chr.) besteht in Palästina eine religiöse und kulturelle Kontinuität, die sich trotz aller Umbrüche bis in jene Zeit hinein erstreckt hat, in der die Hebräische Bibel entstanden ist. Etwas vereinfachend bezeichnen wir die Kultur als kanaanäisch. Die Israeliten stammten wahrscheinlich von jenen Bevölkerungsgruppen ab, die in der Mittleren Bronzezeit in den Städten Palästinas gelebt haben, die in der Späten Bronzezeit (1550–1150 v. Chr.) zur nomadischen Lebensweise übergingen und die in der darauffolgenden Frühen Eisenzeit (1250–1000 v. Chr.) wieder sesshaft wurden, allerdings nicht in befestigten Städten, sondern in unbefestigten Dörfern im Gebirge. In diesen Gruppen entstand jene Religion, die sich als Glaube an den einen Gott einerseits sehr deutlich von den benachbarten Kulturen abhob, die aber zugleich bei der Darstellung ihres eigenen religiösen Symbolsystems auf zahlreiche Elemente und Motive dieser polytheistischen Religionen zurückgriff. Die Bibel zu verstehen, heißt unter anderem auch, diesen komplexen Prozess von Verwerfung und Aneignung zu verstehen. Es handelt sich um ein Strukturprinzip des biblisch bezeugten Glaubens. Die Heilige Schrift ist nicht vom Himmel gefallen; sie bezeugt das Wort Gottes, das uns aus der Tiefe des geschichtlichen Raumes entgegenkommt. Um das religiöse Symbolsystem der Mittleren Bronzezeit in Palästina zu verstehen, sind wir auf die Funde der Archäologie angewiesen. Was hat sie zu Tage gefördert? In der Kleinkunst finden wir Stempelsiegel, Rollsiegel und kleine Figuren. Es begegnen häufig wiederkehrende Bildmotive. Dargestellt werden vor allem Pflanzen und Bäume, Tiere und Menschen. Unter den Tieren finden sich Ziegen, Gazellen, Antilopen und Steinböcke, Löwen, Nilpferde, Krokodile und Schlangen, Tauben und Falken. Unter den menschlichen Figuren ragen der Anzahl nach unbekleidete Frauenfiguren hervor. Häufig sind deren Brüste und Scham betont dargestellt. Diese Figuren der nackten Göttin dürften Aspekte der Fruchtbarkeit verkörpert haben. Die wenigen männlichen Figuren, die gefunden wurden, waren häufig bewaffnet, trugen den Hüftschurz des Kriegers und sind dem Typ des kriegerischen Gottes zuzuordnen. Auffallend ist, dass 70

sich die Figuren der Göttinnen nahezu ausschließlich an Kultstätten unter freiem Himmel fanden, während die männlichen Götterfiguren vorwiegend oder sogar mehrheitlich in Kultanlagen anzutreffen waren, zu denen ein Tempel gehörte. In der Mittelbronzezeit erscheinen die Götter zumeist unbekleidet. Sie verkörpern unvermittelt die in der Natur wirksamen Mächte. Ihre Aufgabe wird der Schutz der menschlichen, tierischen und pflanzlichen Fruchtbarkeit gewesen sein. Das änderte sich in der Spätbronzezeit (1550–1150 v. Chr.). Jetzt tritt häufig der Körper hinter der Kleidung zurück. Den Figuren wurden Attribute und Symbole hinzugefügt; diese konnten auch an die Stelle der Götter treten und sie repräsentieren. Hier scheint ein Prozess der Abstraktion einzusetzen. Die Götter treten den Mächten der Natur stärker entgegen. In der Spätbronzezeit änderte sich auch das Verhältnis der Geschlechter. Die Zahl der männlichen Gottheiten nimmt zu; verbreitet war der Typ des jugendlichen kriegerischen Gottes, einer männlichen Figur, die kraftvoll einherschreitet und eine Waffe über dem Kopf schwingt. Das Thema „Herrschaft“ scheint an Bedeutung zu ­gewinnen.

Heilige Hochzeit Religionen setzen sich aus Bildern zusammen, die in der ein oder anderen Form über die Jahrhunderte hin immer wiederkehren. In der Kleinkunst der Mittleren Bronzezeit in Palästina haben sich Bildkonstellationen herausgebildet, die in der weiteren Geschichte der Religionen in immer neuen Anordnungen anzutreffen sind. Auf Rollsiegeln aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. finden sich Darstellungen einer männlichen und einer weiblichen Person, die aufeinander zugehen. Die weibliche Figur hebt ihr Kleid oder zieht es zur Seite. Ihre Scham wird sichtbar. Von ihr fliegt eine Taube zu dem ihr gegenüberstehenden Mann. Die Taube als Symbol der Liebesgöttin signalisiert ihre Bereitschaft zur Liebe. Die männliche Person dürfte den Wettergott darstellen, der über die Berge einherschreitet. Die Bildkonstellation begegnet in unterschiedlichen Variationen. Sie stellt das Motiv der Heiligen Hochzeit dar.

71

Der biblische Monotheismus verwirft Vorstellungen von einer Hochzeit zwischen einem Gott und einer Göttin. Der Gott des Alten Testaments ist ein Single-Gott. Er hat keine Göttin als Partnerin neben sich. Und doch ist er nicht beziehungslos. Auch er geht eine Liebesbeziehung ein – nicht zu einer anderen Göttin, sondern zu einem Volk, das er sich „für immer“ erwählt hat (vgl. Jer 31,3). Der Prophet Hosea aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. dürfte einer der Ersten gewesen sein, der das Modell der Heiligen Hochzeit auf das Verhältnis zwischen Gott und Israel übertragen hat. Auf der einen Seite bekämpft der Prophet wie kaum ein anderer zuvor die Verehrung fremder Götter und die damit einhergehenden Fruchtbarkeitskulte. Auf der anderen Seite greift er auf Begriffe und Vorstellungen zurück, die dieser kanaanäischen Tradition entstammen. Israel wird mit einer Frau verglichen, die anderen Männern nachgelaufen ist, weil diese ihr „Brot und Wasser, Wolle und Leinen, Öl und Getränke“ versprochen haben (Hos 2,7). Doch damit wird sie in ihr Verderben laufen. Erkennt sie es, wird sie in sich gehen und sagen: „Ich will zu meinem ersten Mann zurückkehren, denn damals ging es mir besser als jetzt“ (Hos 2,9). Der erste Mann ist hier Jhwh, der eine und einzige Gott Israels. Die Wiederherstellung der ursprünglichen intimen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk beschreibt der Prophet mit Bildern, die der Heiligen Hochzeit entstammen: „An jenem Tag – Spruch des Herrn – wirst du zu mir sagen: Mein Mann! Und du wirst nicht mehr zu mir sagen: Mein Baal“ (Hos 2,18). Die Erneuerung der Liebesbeziehung zwischen Gott und seinem Volk hat Auswirkungen auf die gesamte Schöpfung, die Natur ebenso wie die Gesellschaft: „Ich schließe zu ihren Gunsten an jenem Tag einen Bund mit den Tieren des Feldes und den Vögeln des Himmels und den Kriechtieren des Erdbodens. Bogen, Schwert und Krieg werde ich zerbrechen und aus dem Land verbannen und sie in Sicherheit schlafen lassen. Ich verlobe dich mir auf ewig; ich verlobe dich mir um den Brautpreis von Gerechtigkeit und Recht, von Liebe und Erbarmen, ich verlobe dich mir um den Brautpreis der Treue: Dann wirst du den Herrn erkennen“ (Hos 2,20–22). Das Wort „erkennen“ bezeichnet im Alten Testament sehr häufig den intimen Liebesvollzug zwischen Mann und Frau. Der Umgang mit dem altorientalischen Motiv der Heiligen Hochzeit kann als Modell angesehen werden, nach dem das Verhältnis 72

des Alten Testaments zur altorientalischen Religionsgeschichte verstanden werden kann: Zentrale Bilder, Begriffe und Vorstellungen der altorientalischen Religionen werden aufgegriffen und zugleich in einen neuen Rahmen gestellt. Damit nehmen sie selbst eine neue Gestalt an, ohne ihre Herkunft zu verleugnen. Entscheidend für die Bedeutung der einzelnen Elemente ist, wie man heute gerne sagt, das Framing, also die übergreifende Sinngebung durch Eingliederung der Einzelaussagen in einen umgreifenden Zusammenhang. Auf diese Weise entsteht das biblisch bezeugte religiöse Symbolsystem; einfacher gesagt: der biblische Glaube. „Der Glaube“, so hat Joseph Ratzinger diesen Prozess treffend beschrieben, „erscheint als Krise und Kritik der Religionsgeschichte, aber nicht als deren totale Verneinung“ (Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg i. Br., 42005, 79. – JRGS 3/1, 378).

Pharaos Streitmacht Mit dem Übergang von der Mittleren zur Späten Bronzezeit (1550– 1150 v. Chr.) änderte sich die politische Großwetterlage. Ägypten erwachte zu neuer Stärke. Eingeleitet wurde der Wiederaufstieg durch die Vertreibung der Hyksos. Die Hyksos – der Name heißt übersetzt „Herrscher der Fremdländer“ – waren eine Gruppe von westsemitischen Einwanderern, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts v. Chr. von Nordosten her in Ägypten eingedrungen waren und sich im Nildelta angesiedelt hatten. Von dort herrschten sie von 1637 bis 1529 v. Chr. über Mittel- und Unterägypten. Mit den Hyksos kamen technische Neuerungen in das Land am Nil, unter anderem der von Pferden gezogene Streitwagen und weitere Verbesserungen in der Kriegstechnik. Zugleich drangen religiöse Traditionen aus Kanaan nach Ägypten ein. Dazu gehörte der Wettergott Baal-Zaphon, den die Ägypter mit ihrem Gott Seth gleichsetzten. Ihm werden ambivalente Eigenschaften zugesprochen. Er ist ein kinderloser Gott der Wüste und der Einsamkeit, aber auch der Gott, der als Begleiter des Sonnengottes gegen das Chaos kämpft. Einige sehen in ihm den Vorläufer des Gottes Jhwh.

73

Das Ende der Mittleren Bronzezeit wird mit dem Zusammenbruch der Hyksos-Herrschaft in Ägypten eingeleitet. Schon während der 17. Dynastie (1606–1539 v. Chr.) saßen in Theben wieder einheimische Pharaonen auf dem Thron. Pharao Ahmose (1539–1514 v. Chr.) gelang es, die Hyksos aus Ägypten zu vertreiben. Dabei drang er in die südliche Levante vor und legte den Grundstein für eine sich über die gesamte Spätbronzezeit hin erstreckende Herrschaft Ägyptens über die syrisch-palästinische Landbrücke. Mit ihm beginnt die 18. Dynastie, die zusammen mit den beiden folgenden Dynastien das Neue Reich (1550–1070 v. Chr.) bildete und die letzte große Blütezeit der altägyptischen Kultur heraufführte. Ägypten stieg zum Weltreich empor. Die neue Streitwagentruppe revolutionierte die Kriegsführung. Der im Streitwagen gegen die Feinde kämpfende Pharao wird zum festen Bestandteil des politischen und religiösen Symbolsystems Ägyptens. Der Aufenthalt der semitischen Hyksos in Ägypten und deren Vertreibung hat in der Gedächtnisgeschichte Ägyptens und Israels vielfältige Spuren hinterlassen. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus (37–100 n. Chr.) verbindet die Vertreibung der Hyksos mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten (vgl. Ex 12,33). Lässt sich in der Josefsgeschichte des Buches Genesis vielleicht ein Echo der Herrschaft von Semiten über Ägypten vernehmen, wie Thomas Mann vermutet? Für die religiöse und politische Identität Israels wird Ägypten zu einem bleibenden Bezugspunkt. Dabei ist zu bedenken, dass mit Ägypten nicht nur das am Nil gelegene Land zu verbinden ist, sondern auch und vor allem die ägyptische Präsenz in Kanaan. Der ägyptische Kolonialismus war ein wesentlicher politischer, wirtschaftlicher und religiöser Faktor in Kanaan in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. Aus dem Zusammenbruch dieses Systems ging um die Wende vom 2. zum 1. Jahrtausend vor Christus jenes Volk hervor, das sich zu einem Gott bekennt, der als einziger über alle Mächte dieser Welt herrscht. Von ihm singt Mose nach der Rettung am Schilfmeer: „Ich singe dem Herrn (Jhwh) ein Lied, denn er ist hoch und erhaben. Ross und Reiter warf er ins Meer […] Jhwh ist ein Krieger, Jhwh ist sein Name. Pharaos Wagen und seine Streitmacht warf er ins Meer. Seine besten Vorkämpfer versanken im Roten Meer“ (Ex 15,1–4). 74

Übersetzbarkeit Wie stellt sich das religiöse Symbolsystem in der Späten Bronzezeit (1550–1150 v. Chr.) in Palästina dar – in jener Epoche, an deren Ende mit dem Volk Israel etwas Neues in die Welt kam? Ein beherrschender Zug der spätbronzezeitlichen Kultur in Palästina war der religiöse Synkretismus. Unterschiedliche religiöse Traditionen gingen Verbindungen miteinander ein. Einheimische Götter der syrisch-kanaanäischen Tradition konnten mit neu eingeführten Göttern aus Ägypten identifiziert werden. Hier begegnen wir einem zentralen Merkmal polytheistischer Religionen, das in jüngster Zeit in intellektuellen Kreisen auf viel Sympathie gestoßen ist: ihre Übersetzbarkeit. Damit ist gemeint, dass sich die Religion einer Kultur in diejenige einer anderen übersetzen lässt. Religionen werden dabei nach dem Modell von Sprachen verstanden. Kein gebildeter Mensch käme auf die Idee, das Französische als eine wahre und das Deutsche als eine falsche Sprache zu bezeichnen. Texte der einen Sprache können in die andere Sprache übersetzt werden. Der Grund für die Übersetzbarkeit polytheistischer Religionen liegt in ihrem Weltbezug. Da sich die Welt in den verschiedenen Kulturen hinsichtlich ihrer zentralen Bestandteile und Vollzüge nicht grundsätzlich unterscheidet, können die Götter der einen Kultur mit denjenigen einer anderen Kultur verbunden oder identifiziert werden. Der auf einem Stier stehende und mit der Blitzgabel ausgerüstete sumerische Wettergott Ischku ist dann kein anderer als der akkadische Adad und der aramäische Hadad. Deshalb ist es oft nicht leicht, ikonisch bezeugte Gottheiten sprachlich eindeutig zu identifizieren. Die auf einem Löwen oder einem Pferd stehende Göttin hieß in Ugarit vielleicht Aschera, in Ägypten möglicherweise Qadesch, in Palästina Astarte. Da sie wie ihre mittelbronzezeitlichen Schwestern nackt erscheint, gehörte sie wie diese zu den Naturgottheiten, die die Fruchtbarkeit bei Menschen, Tieren und Pflanzen zu schützen hatten. In sumerischen Listen aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. wurden Götternamen in zwei Sprachen angeführt: in Sumerisch und Akkadisch, und in einer dritten Spalte wurde der Zuständigkeitsbereich der Gottheit angegeben. Später wurden diese Listen auf die Götter anderer Kulturen hin ausgeweitet. Der Ägyptologe und Kulturwis75

senschaftler Jan Assmann sieht darin eine bedeutende kulturelle Errungenschaft: „Die Überzeugung, dass diese Völker im Grunde dieselben Gottheiten, nur unter anderen Namen, verehrten, ist daher alles andere als trivial und selbstverständlich. Ganz im Gegenteil müssen wir diese Einsicht zu den großen Errungenschaften der frühen Hochkulturen rechnen“ (Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998, 75). Was dieses Religionsverständnis in den Augen postmoderner Zeitgenossen sympathisch macht, ist ihr interkultureller und friedlicher Charakter. Hier muss niemand mit Gewalt um die Wahrheit der eigenen Religion kämpfen. „Die Namen, Ikonographien, Riten, kurz: die Kulturen sind verschieden, aber die Götter sind dieselben. Dieser Begriff von Religion als gemeinsamer Hintergrund kultureller Verschiedenheit brachte schließlich die typisch hellenistische Mentalität hervor, der die Namen der Götter wenig bedeuteten im Vergleich zu ihrer überwältigenden natürlichen Evidenz“ (Assmann, ebd. 76). Stellt vor diesem Hintergrund der biblische Glaube an den einen Gott und die damit verbundene Aufforderung, die Götterbilder der Kanaaniter und anderer Völker „im Feuer zu verbrennen“ (Dtn 7,5), nicht einen Rückfall in die Mentalität einer primitiven Stammesreligion dar? Sind mit dem biblischen Monotheismus Intoleranz und religiöse Gewalt in die Welt gekommen?

Echnaton – eine monotheistische Revolution in Ägypten In der Mitte des 14. Jahrhunderts v. Chr. erlebte Ägypten eine Revolution von oben, die der historischen Forschung noch heute Rätsel aufgibt. Was war geschehen? Pharao Amenophis IV. schaffte alle bisherigen Kulte im Land ab, ließ die Tempel der Götter schließen, ihre Namen austilgen und setzte fest, dass fortan nur noch ein einziger Gott verehrt werden dürfe: Aton, die Sonnenscheibe. Fernab der alten Heiligtümer gründete er in Tell el-Amarna eine neue Residenz und änderte seinen Namen in Echnaton, das heißt übersetzt: „dem Aton wohlgefällig“. Will man die von ihm begründete Religion auf eine Formel bringen, so müsste sie lauten: „Es ist kein Gott außer Aton, und Echnaton ist sein Prophet.“

76

Wie konnte es zu einem derartigen Bruch in der Religionsgeschichte Ägyptens kommen? Es gab im theologischen Diskurs der Zeit eine Tendenz, die den Sonnengott als eine alles überragende Gestalt ansah. Neu an der Religion Amarnas war, dass die damit einhergehende Konstellation weiterer Götter radikal verworfen wurde. Der Ägyptologe Erik Hornung spricht von einem „Umschlag des Denkens, der konsequent nach einer einzigen Ursache für alle Phänomene sucht und sie im Lichte zu finden glaubt, das nun zum alleinigen göttlichen Prinzip und damit zur Grundlage eines Monotheismus und einer ersten Religionsstiftung wird“ (Erik Hornung, Der Eine und die Vielen. Asltägyptische Götterwelt, Darmstadt 72011, 260). Nach Ansicht von Hornung war Echnaton kein religiöser Schwärmer, sondern „ein konsequenter Rationalist“. Sein religionspolitisches Programm war sorgfältig vorbereitet. In einer frühen Phase konnte man die neu gestiftete Religion noch als eine herkömmliche Form von Henotheismus verstehen, das heißt: als eine vorübergehende Verehrung nur eines Gottes, ohne dass die Existenz der anderen Götter grundsätzlich in Abrede gestellt wurde – ein Monotheismus des Affekts und der Stimmung. Doch schon bald sollte sich zeigen, dass damit das Ziel der religionspolitischen Maßnahmen Echnatons nicht erreicht war. Die monotheistische Revolution des Echnaton blieb Episode. Nach seinem Tod kehrte Ägypten zur althergebrachten Religion zurück. Systematisch wurden alle Spuren des Traumas von Amarna verwischt. „Je tiefer man in die altägyptische Welt eindringt“, so der Ägyptologe Jan Assmann, „desto klarer lässt sich nachvollziehen, was für ein furchtbarer Schock dieser Göttersturz gewesen sein muss für eine Gesellschaft, die davon überzeugt war, dass nicht nur die politische und ökonomische Wohlfahrt des Landes, sondern das Leben der gesamten Natur davon abhing, dass in allen Tempeln des Landes unablässig Riten vollzogen wurden. Der Abbruch der Riten bedeutete im ägyptischen Denken den Zusammenbruch der sozialen und kosmischen Ordnung“ (Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998, 49). Erst die moderne Forschung hat die monotheistische Revolution Echnatons wieder ans Licht gebracht. Schon bald kam die Frage auf: War Mose, mit dem doch das Alte Testament den biblischen Mono77

theismus in einzigartiger Weise verbindet, von Echnaton beeinflusst? Ist Mose nicht am Hofe des Pharao aufgewachsen (Ex 2) und wurde er nicht, wie es in der Apostelgeschichte (Apg 7,22) heißt, „in aller Weisheit der Ägypter erzogen?“ Sigmund Freud hat in seinem letzten Werk aus dem Jahre 1939 die in der damaligen alttestamentlichen Wissenschaft diskutierte These vertreten, Mose sei Anhänger der monotheistischen Aton-Religion gewesen und habe den semitischen Sklaven in Ägypten diese neue Religion beigebracht. Die heutige alttestamentliche Wissenschaft lehnt die These einer unmittelbaren Herleitung des biblischen Ein-Gott-Glaubens vom Monotheismus Echnatons weitgehend ab. Und doch lässt sich aus dieser Geschichte einiges lernen. Mit der Religion von Amarna ist historisch erwiesen, dass es innerhalb eines polytheistischen Symbolsystems in einer relativ kurzen Zeit zu einem monotheistischen Umbruch kommen kann, der mit einer einzigen Person in Verbindung steht und nur von wenigen Anhängern geteilt wird. Ist die Religion von Amarna ein frühes Beispiel für die Verbindung von Glauben und Vernunft? Wird nicht auch in der Bibel die Gewissheit bezeugt, dass alle (göttlichen) Mächte und Gewalten im Tiefsten von einem einzigartigen, heilschaffenden Licht durchdrungen sind, wenn es dort heißt: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil: Vor wem sollte ich mich fürchten?“ (Ps 27,1).

Herrschaft Lässt sich in der Späten Bronzezeit (1550–1150 v. Chr.) ein allgemeiner Trend in der Religionsgeschichte Palästinas beobachten? Die Bibelwissenschaftler Othmar Keel und Christoph Uehlinger sprechen von einer Verdrängung weiblicher und einer zunehmenden Dominanz männlicher Gottheiten. Die aus der Mittelbronzezeit bekannten Vegetations- und Fruchtbarkeitsgöttinnen, die allein oder als Partnerinnen des Wettergottes auf zahlreichen Siegelamuletten zu bewundern waren, gehen zahlenmäßig zurück oder sind als Massenware nur noch auf Billigplaketten aus Terrakotta anzutreffen. In der offiziellen Religion treten vor allem in den ägyptisch beherrschten Zentren kämpferische und politische Gottheiten in den Vordergrund. Der Wettergott der Mittleren Bronzezeit, so deutet Othmar 78

Keel den archäologischen Befund, hat sich in der Späten Bronzezeit unter dem Einfluss der Identifizierung mit dem ägyptischen Seth und der politischen Verhältnisse zu einem Gott gewandelt, der stärker durch seine Kampfkraft als durch die Gaben der Vegetation charakterisiert wurde. Seine stark gestiegene Bedeutung und die Verlagerung des Symbolsystems aus dem Bereich der Erotik und der Fruchtbarkeit in den des Krieges und der Herrschaft illustriert die Tatsache, dass die kostbaren Metallfiguren nicht mehr die nackte Göttin darstellen, sondern den triumphierenden männlichen Gott (Othmar Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus. Teil 1, Göttingen 2007, 125). Hier lässt sich eine Entwicklung beobachten, die auch für die Entstehung des biblischen Monotheismus mit zu bedenken ist. Das Thema Herrschaft gewinnt an Bedeutung. Es durchzieht die gesamte Heilige Schrift. In einigen liberalen Milieus moderner Gesellschaften ist der Begriff verpönt. Einige Theologen meinen sogar, Ziel christlicher Politik müsse eine herrschaftsfreie Gesellschaft sein. Dabei wird allerdings vergessen, dass die Idee der Herrschaft im Alten Orient wie im Alten Testament mit dem Begriff der Gerechtigkeit verbunden ist: „Jhwh ist König. Es juble die Erde! Freuen sollen sich die vielen Inseln. Rings um ihn her sind Wolken und Dunkel, Recht und Gerechtigkeit sind die Stützen seines Thrones“, heißt es in Psalm 97. Durch Herrschaft soll eine gerechte Ordnung errichtet und aufrechterhalten werden. Diejenigen, die diese gerechte Ordnung bedrohen, die „Feinde des Gerechten“, müssen überwunden oder zumindest in Schach gehalten werden. Sie werden eindringlich ermahnt, Gottes Herrschaft und die seines Sohnes, den er auf Zion als König eingesetzt hat, anzuerkennen (Ps 2). Auch die Verkündigung Jesu steht unter dem Begriff der Herrschaft, der Herrschaft Gottes (basileia tou theou). Um Christus und seine Hingabe zu verstehen, greift der Hebräerbrief auf Ps 110 zurück, wenn er schreibt, dass Christus, der zur Rechten Gottes sitzt, „wartet, bis seine Feinde ihm als Schemel unter die Füße gelegt werden“ (Hebr 10,13; vgl. 1 Kor 15,26; Mk 12,35–37). Dass Feinde dem (göttlichen) Pharao als Schemel unter die Füße gelegt werden, ist ein in der ägyptischen Religion geläufiges Bild.

79

Was auch immer unter der Herrschaft Gottes im christlichen Sinn zu verstehen sein mag, vor dem Hintergrund der altorientalischen Religionsgeschichte wird damit nicht etwas völlig Neues eingeführt. Allerdings stellt sich die Frage, ob mit der Vorherrschaft dieses Themas andere Themen wie Erotik und Fruchtbarkeit, die mit weiblichen Gottheiten in Verbindung gebracht werden, aus dem religiösen Symbolsystem ausgelagert oder an dessen Rand gedrängt wurden. In den Familiengeschichten des Buches Genesis wird der göttliche Segen vor allem mit Fruchtbarkeit und Nachkommenschaft in Verbindung gebracht. Im Buch Exodus verlagert sich der Schwerpunkt in Richtung Gottesherrschaft.

Umwälzungen Die Religionen Ägyptens, Mesopotamiens (das durch die beiden Flüsse Euphrat und Tigris geprägte Zweistromland im Gebiet des heutigen Irak und Nordsyriens) und der Levante (die Ostküste des Mittelmeeres und ihr Hinterland, also das Gebiet der heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel und Jordanien) waren polytheistisch geprägt. Bei aller nationalen und regionalen Unterschiedlichkeit gab es so etwas wie eine gemeinsame altorientalische religiöse Sprache. Unter dem Pharao Echnaton kam es im 14. Jahrhundert in Ägypten zu einer monotheistischen Revolution, die sich jedoch nicht halten konnte. In der Zeit des Neuen Reiches (1540–1070 v. Chr.) etablierten sich im Land am Nil theologische Diskurse, die der Frage nachgingen, ob hinter der Vielfalt der Götterwelt nicht doch so etwas wie die Einheit des Göttlichen zu vermuten ist. Liegt den vielen Göttern ein einziger, unsichtbarer und verborgener Gott zugrunde? Die altägyptische Götterwelt bewegt sich in der Spannung zwischen dem „Einen und den Vielen“. Das zwischen Ägypten und Mesopotamien gelegene Kanaan stand über die Jahrhunderte hin im Austausch mit den benachbarten Kulturen. Daneben bildete es auch eigene religiöse Traditionen aus, die allerdings aus dem gemeinorientalischen religiösen Symbolsystem nicht herausfielen. In der Landbrücke zwischen Ägypten und Mesopotamien kam es zu einem monotheistischen Durchbruch, der von Dauer war und der bis heute die Geschichte der Menschheit zutiefst 80

prägt. Träger dieser Geschichte war und ist das Volk Israel. Die Frage nach der Entstehung des Monotheismus ist zugleich die Frage nach der Entstehung und der Geschichte dieses Volkes. Geistesgeschichtliche Durchbrüche gehen oft mit gravierenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwälzungen einher. Die Entstehung des Volkes Israel wird in der gegenwärtigen Forschung mit jenen Umbrüchen in Verbindung gebracht, die sich im Übergang von der Späten Bronzezeit zur Frühen Eisenzeit (13. bis 11. Jh. v. Chr.) im gesamten Vorderen Orient ereigneten. Die kanaanäische Stadtstaatenkultur brach weitgehend zusammen. Der Zusammenbruch war kein regionales Ereignis, sondern Teil eines den gesamten Mittelmeerraum erschütternden Prozesses. Für diesen Zeitraum lässt sich eine gravierende Veränderung in der Siedlungsstruktur Palästinas beobachten. Eine Reihe spätbronzezeitlicher Städte wurde zerstört oder verlassen und im bisher nicht oder nur dünn besiedelten Bergland entstanden viele neue Dörfer. Die Bewohner dieser Dörfer werden gerne mit den frühen Israeliten in Verbindung gebracht. Dass sie insgesamt als einheitliche Gruppe von außen in das Land eingewandert seien, wird heute kaum noch angenommen. Wahrscheinlich handelt es sich größtenteils um Kleinviehnomaden, die schon länger im Land lebten und im wirtschaftlichen Austausch mit den Städten standen. Da diese nun zusammenbrachen, mussten sie selbst sesshaft werden und Ackerbau betreiben. Einige Forscher sehen in der Entstehung dieser neuen Dorfkultur abseits der kanaanäischen Städte die Wurzeln des Volkes Israel; sie sprechen von Proto-Israeliten. Archäologische Forschungen haben jedoch gezeigt, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den neu entstandenen Dörfern und den kanaanäischen Städten, von denen einige auch noch in der Frühen Eisenzeit weiterexistierten, größer waren als gemeinhin angenommen. Der Alttestamentler Christian Frevel kommt zu dem Ergebnis, dass man in diesem Zusammenhang nicht von einem Gegensatz zwischen Kanaan und der neu entstandenen Dorfkultur sprechen sollte. „Die Religion der frühen ‚Israeliten‘“, so Frevel, „unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der kanaanäischen Religion. Allerdings ist sie von ihrem Symbolsystem weit stärker auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Bauern des Berglandes ausgerichtet.“ (Christian Frevel, Geschichte Israels, Stuttgart 22018, 80). 81

IV. Frühgeschichte Israels: Die Herkunft Jhwhs

Offenbarung und Geschichte Sehr kontrovers wird die Frage diskutiert, welcher Quellenwert den biblischen Texten hinsichtlich der Rekonstruktion des Glaubens an den einen Gott zukommt. Noch vor einigen Jahrzehnten wurde die Geschichte Israels und seines Glaubens weitgehend auf der Grundlage der biblischen Texte nacherzählt. Inzwischen ist diese Form der Geschichtsschreibung höchst umstritten. Die Geschichte Israels, so sagt uns eine Richtung der Forschung, sei vor allem oder sogar ausschließlich auf der Grundlage externer Evidenzen zu rekonstruieren. Konkret versteht man darunter die materiellen Hinterlassenschaften, die uns in erster Linie von der Archäologie präsentiert und erschlossen werden. Die biblischen Texte hingegen seien weitgehend der fiktionalen Literatur zuzurechnen; sie erzählten schöne Glaubensgeschichten (stories), seien jedoch bezüglich der Informationen hinsichtlich des realen Geschichtsverlaufs (history) weitgehend wertlos. Tatsächlich hat die moderne Forschung gezeigt, dass nicht alle Texte der Bibel in einem streng historischen Sinn zu verstehen sind. Das hat die jüdischen wie christlichen Glaubensgemeinschaften über viele Jahrzehnte hin zutiefst erschüttert, gehen sie doch fest davon aus, dass in der Bibel die göttliche Wahrheit bezeugt wird. Und jetzt soll vieles davon falsch sein, wie uns die moderne Wissenschaft lehrt? In einigen religiösen Kreisen kam und kommt es zu fundamentalistischen Gegenreaktionen, die auf Biegen und Brechen beweisen wollen, dass „die Bibel doch recht hat“ (Werner Keller). An dieser Stelle müssen wir kurz innehalten und darüber nachdenken, wie göttliche Offenbarung und historische Richtigkeit einander zuzuordnen sind. Es geht um ein angemessenes Verständnis der biblisch bezeugten Offenbarung Gottes. Da nach jüdischem und christlichem Verständnis Gott kein Gegenstand dieser Welt ist, handelt es sich bei der Selbstmitteilung Gottes aus menschlicher 82

Perspektive gesehen um eine geistig-personale Erfahrung. Diese Erfahrung als solche ist der historischen Forschung nicht zugänglich. Gleichwohl ist die Erfahrung real und nicht bloß ausgedacht. Was der historischen Forschung zugänglich ist, sind die Wirkungen und Bezeugungen dieser Erfahrung. Die Bibel ist zunächst und vor allem Zeugnis derartiger Erfahrungen. Dieses Zeugnis begegnet in vielfältigen Formen und erstreckt sich über viele Jahrhunderte hin. Dabei bedient es sich der Sprache und der Vorstellungen der jeweiligen Zeit. In der Bibel werden diese Erfahrungen jedoch nicht nur bezeugt, sondern auch durchdacht. So entstehen theologische Schulen und Traditionen. Die historische Erforschung der Bibel richtet ihre Aufmerksamkeit auf diese raum-zeitlichen Zeugnisse und Wirkungen geistiger Erfahrungen und die darauf gründenden theologischen Diskurse. Joseph Ratzinger hat im Anschluss an den großen Theologen Bonaventura (1217–1274) diesen Zusammenhang so ausgedrückt: „Die Schrift ist geboren aus einem mystischen Kontakt der Hagiographen mit Gott, sie kann daher richtig verstanden werden wiederum nur auf einer letzterdings ‚mystisch‘ zu nennenden Ebene“ (JRGS 2, 518). Bonaventura unterscheidet hinsichtlich des Verständnisses biblischer Text drei Formen der Wahrnehmung: die körperliche (visio corporalis), die spirituelle (visio spiritualis) und die geistige Wahrnehmung (visio intellectualis). Erst auf der dritten Ebene, der geistigen Erkenntnis, kann von einem Verstehen der Heiligen Schrift gesprochen werden, das jene Dimension erreicht, die mit dem Begriff der Offenbarung bezeichnet wird. Jedes andere Verständnis bleibt demgegenüber vorläufig und vordergründig. Die geistigen Erfahrungen und Erkenntnisse selbst sind der historischen Forschung jedoch nicht zugänglich. Sie deshalb zu bestreiten oder sie als reine Konstruktionen menschlicher Vernunft in Frage zu stellen, übersteigt jedoch die Möglichkeiten historischer Kritik. Eine besondere Herausforderung besteht für die Theologie darin, unterschiedliche Offenbarungszeugnisse aufeinander zu beziehen und miteinander in Einklang zu bringen. Gibt es nicht auch religiöse Erfahrungen, die auf einer Täuschung beruhen und in die Irre führen? Die Bibel kennt viele falsche Propheten. Wir stoßen damit auf den Ursprung jener Tradition, die als die Unterscheidung der Geister in die Theologie- und Spiritualitätsgeschichte eingegangen 83

ist. Der biblische Kanon, der eine Auswahl an religiösen Schriften enthält, die für das Selbstverständnis der Kirche verbindlich sind, kann in einem theologischen Sinn als das Ergebnis eines Prozesses verstanden werden, der sich in der Gemeinschaft der Gläubigen als ein Ringen um die Unterscheidung der Geister vollzogen hat. Was nun den historischen Quellenwert biblischer Texte betrifft, so sollte man sich vor Extrempositionen hüten. Weder ist die Bibel von Anfang bis Ende als eine streng historische Quelle zu lesen, noch handelt es sich bei ihr durchgehend um rein fiktionale Literatur, der keinerlei zuverlässige historische Informationen zu entnehmen wären. Dabei sind vor allem auch die unterschiedlichen literarischen Gattungen zu berücksichtigen: Poetische Texte sind anders zu gewichten als novellenartige Erzählungen, diese wiederum anders als die Gattung der Geschichtsschreibung.

Die Herkunft Jhwhs Bis heute gibt es keinen Hinweis darauf, dass ein Gott namens Jhwh im 2. Jahrtausend v. Chr. in Kanaan, in Ägypten, in Mesopotamien oder in Syrien verehrt wurde. In den uns bekannten Texten, die oft viele Götternamen enthalten, ist dieser Gottesname nicht überliefert. Palästinische Ortsnamen aus dieser Zeit enthalten Namen unterschiedlicher kanaanäischer Gottheiten, wie zum Beispiel Jerusalem („Gründung des Gottes Schalem“), Bet-Schemesch („Haus des Sonnengottes“) oder Jericho („Gründung des Mondgottes“). Ein Ortsname, der mit Jhwh zusammengesetzt wäre, ist uns nicht bekannt. Das deutet darauf hin, dass Jhwh nicht zu den Göttern des Kulturlandes gehörte. In einer ägyptischen Ortsnamensliste im Tempel Amenophis’ III. (1379–1340 v. Chr.) in Soleb, im heutigen nördlichen Sudan, taucht ein Name auf, der sehr wahrscheinlich wie folgt zu übersetzen ist: „Land der Schasu JHW“. Das Wort JHW dürfte hier wahrscheinlich eine Region und zugleich die Gottheit bezeichnen, die in dieser Region verehrt wurde. Die Schasu waren ein halbnomadisches Volk, das im 14. bis 12. Jh. v. Chr. vor allem im Südosten Palästinas, im Gebiet von Edom und der Araba lebte. Die Ägypter hatten im Nildelta mit ihnen zu kämpfen. 84

Die ägyptische Quelle kann mit biblischen Texten in Verbindung gebracht werden, die davon sprechen, dass Jhwh aus dem Süden kommt. Im Buch der Richter 5,4–5 (und ähnlich im davon abhängigen Psalm 68,8–9) heißt es: „Jhwh, als du auszogst von Seïr, als du einherschrittest von Edoms Gebiet, da bebte die Erde, die Himmel ergossen sich, ja, aus den Wolken ergoss sich das Wasser. Die Berge flossen vor Jhwh, dem vom Sinai, vor Jhwh, dem Gott Israels.“ Im Buch Deuteronomiumn 33,2 lesen wir: „Jhwh kam hervor aus dem Sinai, er leuchtete vor ihnen auf aus Seïr, er strahlte aus dem Gebirge Paran.“ In einer Theophanieschilderung des Propheten Habakuk 3,3 heißt es: „Gott kommt von Teman her, der Heilige kommt vom ­Gebirge Paran.“ Teman dürfte das südliche Edom, Paran das Gebirge um Petra im heutigen Jordanien bezeichnen. Jhwh erscheint hier vor allem als Kriegsgott, der aus Feindesnot rettet. Er wird mit einem Berg in der Wüste in Verbindung gebracht. Das Gebiet ist nicht scharf umrissen, es weist in den Süden, östlich oder westlich der Araba. Diese und weitere Quellen deuten darauf hin, dass Jhwh von Haus aus kein kanaanäischer Gott war. Er ist von außen in das Land gekommen. Dabei muss man wohl mit zwei Phasen rechnen. In einer ersten Phase kam Jhwh von der Araba her in den Negev und mit David nach Jerusalem und in das spätere Südreich Juda. In einem davon zu unterscheidenden, etwas später anzusetzenden Schub gelangte Jhwh – ebenfalls von Süden oder Südosten her – nach Mittelpalästina, in das spätere Nordreich Israel. Diese Jhwh-Tradition war mit Mose und dem Exodus verbunden. Dass der Jhwh-Glaube in zwei unterschiedlichen Varianten nach Palästina kam, erklärt die Tatsache, dass wir im Alten Testament zwei große theologische Strömungen unterscheiden können, die erst in späterer Zeit zueinander fanden: eine Jhwh-Exodus-Tradition, die unter anderem von Hosea, einem Propheten des Nordreichs, bezeugt wird, und eine Jhwh-Tradition, die unter David und Salomo mit der vordavidischen Jerusalemer Kulttradition verbunden wurde und die unter anderem beim Propheten Jesaja noch deutlich zu erkennen ist. Auch eine ins 8. Jahrhundert zu datierende Inschrift aus Kuntillet Adschrud, einer im nördlichen Sinai gelegenen Karawanserei, könnte in diesem Sinne verstanden werden. Sie spricht von einem Jhwh 85

von Teman (des Südens) und einem Jhwh von Samaria, der Hauptstadt des Nordreiches. Der Gott Jhwh stammt aus der Wüste. Doch erst im Kulturland, insbesondere in der Stadt Jerusalem, ist er zu dem geworden, als der er in der Bibel bezeugt wird.

Jhwh – im Sturm und im Säuseln Der Gott des Alten Testaments trägt einen Namen. Im Hebräischen wird dieser mit den vier Buchstaben Jhwh angezeigt. Ausgesprochen wird er heute gewöhnlich als Adonaj. Die Septuaginta, die griechische Übersetzung der Bibel, hat den Gottesnamen (nomen proprium) als eine Gottesbezeichnung (nomen appellativum) gedeutet und mit kyrios übersetzt. In dieser Tradition stehend hat die Vulgata, die lateinische Bibelübersetzung, den Namen mit Dominus wiedergegeben. Deshalb wird in den meisten modernen Übersetzungen der ursprüngliche Gottesname mit „Herr“ und den entsprechenden sprachlichen Äquivalenten angezeigt (Lord, Seigneur, Signore). Im hebräischen Alten Testament liegt dieser Übersetzung jedoch ein Name zugrunde. Dass der Gott des Alten Testaments einen Namen trägt, deutet darauf hin, dass er ursprünglich einer unter vielen war. Damit ist jedoch (noch) nicht gesagt, dass Jhwh von seinen Anhängern zusammen mit anderen Göttern verehrt wurde. Wohl jedoch weist der Name des Gottes Israels darauf hin, dass sich die Verehrung dieses Gottes in einer Welt abspielte, in der auch andere Götter verehrt wurden. Von den vielen Göttern, die es geben mag, verehrt Israel den Gott Jhwh. Lässt sich aus der Bedeutung des Namens Jhwh etwas über den ursprünglichen Charakter dieses Gottes aussagen? Die Deutung des aus vier Buchstaben bestehenden Namens bleibt unsicher. Am wahrscheinlichsten gilt in der heutigen Forschung eine Ableitung von dem Verbum hawah. Das Wort heißt übersetzt: „fallen, wehen“. Ursprünglich bedeutet der Name Jhwh wahrscheinlich: „Er weht“ (vgl. Keel, Monotheismus I, 203; Römer, Erfindung 47). Jhwh dürfte demnach ein Gott (gewesen) sein, der im Wind und im Sturm wahrgenommen wurde. Im Kampf gegen die Philister bekundet Jhwh sein rettendes Kommen im Rauschen der Bäume: „David befragte 86

Jhwh und Jhwh antwortete ihm: Wenn du in den Wipfeln der BakaBäume ein Geräusch wie von Schritten hörst, dann beeil dich; denn dann geht Jhwh vor dir her, um das Heer der Philister zu schlagen“ (2 Sam 5,24). In der wahrscheinlich ältesten Exoduserzählung treibt Jhwh durch einen starken Ostwind das Meer fort, sodass die Israeliten trockenen Fußes hindurchziehen können (Ex 14,21). Dass sich Jhwh in besonderer Weise sowohl im Sturm als auch im sanften Säuseln des Windes offenbaren konnte, wurde auch in späterer Zeit nicht vergessen. Der Prophet Elija gelangte auf seiner Flucht vor seinen Verfolgern an den Gottesberg Horeb – an genau den Berg, an dem einst das Volk Israel auf der Flucht vor den Ägyptern seinem Gott in der Wüste begegnete. In seiner Not wandte sich Elija an Jhwh. Dieser antwortete ihm: „Komm heraus und stell dich auf den Berg vor Jhwh. Da zog Jhwh vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging Jhwh voraus. Doch Jhwh war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch Jhwh war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch Jhwh war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle. Da vernahm er eine Stimme, die ihm zurief“ (1 Kön 19,11–14). Der Offenbarung am Sinai, da Israel die Stimme Jhwhs vernahm, wird am jüdischen Wochenfest, dem christlichen Pfingstfest, gedacht. An eben diesem Tag, da die Urgemeinde in Jerusalem betend im Haus versammelt war, „kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab“ (Apg 2,2–4).

Jhwh – ein Gott der Abgeschiedenheit Der Hauptgott des kanaanäischen Kulturlandes war der Wetter- und Fruchtbarkeitsgott. Dieser wurde vom 3. bis zum 1. Jahrtausend v. Chr. in ganz Vorderasien unter verschiedenen Namen verehrt. Eine seiner bekanntesten Manifestationen ist der Gott Baal. Zwi87

schen ihm und Jhwh kam es, wie wir noch sehen werden, zu tödlichen Konflikten. Der Gott Jhwh stammt nicht aus dem Kulturland, sondern sehr wahrscheinlich aus einer gebirgigen Region in der Wüste, süd-östlich von Palästina gelegen. Von Haus aus war Jhwh kein Wetter- und Fruchtbarkeitsgott, sondern ein Sturmgott. Zwar hat er, wie noch zu zeigen sein wird, Eigenschaften und Aufgaben des Wettergottes übernommen, doch die ältesten mit ihm einhergehenden Erfahrungen waren die seiner Gegenwart im Sturm und im Wind abseits des Kulturlandes. Wenn er kommt, um die Seinen zu retten, bebt die Erde und schmelzen die Berge wie Wachs (vgl. Ri 5,4f; Mi 1,4; Ps 97,5). Sein Kommen löst Schrecken aus: „Die Seuche zieht vor ihm her, die Pest folgt seinen Schritten“ (Hab 3,7). „Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn Jhwh war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen. Der ganze Berg bebte gewaltig“, heißt es im Buch Exodus (Ex 19,18). Die Beschreibung erinnert an Vulkanausbrüche, die oft mit Erdbeben einhergehen. Bei dieser Beschreibung handelt es sich wohl kaum um frei umherziehende Motive, die im gesamten Vorderen Orient mit dem Erscheinen aller möglichen Götter in Verbindung gebracht und die dann auch auf Jhwh übertragen wurden. Das geben die vorhandenen Quellen nicht her. Wahrscheinlicher ist, dass sich hier ein Wissen um die Herkunft Jhwhs aus einer Region südöstlich der Araba, dem biblischen Midian, erhalten hat, in der es zur damaligen Zeit aktive Vulkane gab. Mit Hilfe dieser Vorstellungen entfalten die biblischen Texte die Erfahrung göttlicher Rettung aus Feindesnot. Gibt es für diesen Typ von Gott innerhalb der altorientalischen Götterwelt Entsprechungen? Im Süden Palästinas wurde lange Zeit vor Jhwh der ägyptische Gott Seth verehrt. Auch Seth war ein Sturmgott, der als Kampf- und Kriegsgott der Chaosschlange Apophis entgegentrat. In manchem ähnelt Seth dem Gott Jhwh. Beide Götter sind, von wenigen zeitlichen Ausnahmen abgesehen, alleinstehend und kinderlos. Sie haben gewöhnlich keine Partnerin neben sich und keine Gotteskinder unter sich. Den Ägyptern galt Seth als Gott der Fremde. In Serabit el-Chadim, einer ägyptischen Kupferund Türkismine im südwestlichen Sinai, sind Zeugnisse seiner Verehrung erhalten. Von den Ägyptern wurde Jhwh, der „Gott der 88

Hebräer“, als eine Gestalt ihres Gottes Seth wahrgenommen, der in der Welt außerhalb des Kulturlandes von gesellschaftlichen Außenseitern verehrt wurde (vgl. Ex 3,18). Von seiner Herkunft und seinem Wesen her ist Jhwh ein Gott der Abgeschiedenheit. Er stammt aus der Wüste, und er zieht ins Kulturland und in die Stadt, in die Gottesstadt, nach Jerusalem. Als Befreier aus der Knechtschaft Ägyptens wird er zum Staatsgott des Nordreiches Israel; mit David kommt er nach Jerusalem und wird in Verbindung mit der vordavidischen Jerusalemer Kulttradition zum Staatsgott des Südreiches Juda. In beiden Varianten ist Jhwh ein Gott des Kampfes und der Rettung. Im Exodus hat er die Streitmacht Ägyptens besiegt: „Jhwh ist ein Mann des Krieges, Jhwh ist sein Name. Pharaos Wagen und seine Streitmacht warf er ins Meer“ (Ex 15,3f). Als Gott Davids hat er sich im Kampf gegen die Philister bewährt: „Im Namen Jhwhs der Heerscharen, des Gottes der Schlachtreihen Israels“ (1 Sam 17,45) zieht David Goliat, dem Vorkämpfer der Philister, entgegen und besiegt ihn. Wie wird es dem Gott aus der Wüste im Lande der Fruchtbarkeit und in Jerusalem, der Stadt des Gottes Schalem, ergehen?

Jerusalem – Gründung des Gottes Schalem Bei der Entstehung des biblischen Monotheismus spielt Jerusalem eine bedeutende Rolle. Die Geschichte der Stadt reicht mindestens bis in die Mittlere Bronzezeit (ca. 1750 v. Chr.) zurück. Mit dem Einzug Davids in die Stadt der Jebusiter setzte im 10. Jahrhundert v. Chr. eine Entwicklung von weltgeschichtlicher Bedeutung ein. Es kam zur Verschmelzung zweier religiöser Traditionen: Der Jhwh-Glaube ging mit der kanaanäischen Religion der Bewohner Jerusalems eine Verbindung ein. Aus dieser Symbiose entstand der biblische Monotheismus mit seinem universalen Geltungsanspruch. Aufgrund der eingeschränkten Grabungsmöglichkeiten bleibt die Archäologie Jerusalems umstritten. In der jüngeren Forschung lässt sich die Tendenz beobachten, die Bedeutung der Stadt vor ihrer Einnahme durch David höher zu veranschlagen, als dies lange Zeit der Fall war.

89

Wie sah die Religion im vordavidischen Jerusalem aus? Nur wenige Zeugnisse sind uns aus dieser Zeit überliefert. Aus ihnen, einigen Analogieschlüssen und auf der Grundlage alttestamentlicher Texte können wir uns ein ungefähres Bild davon machen. In der Mittleren Bronzezeit war Jerusalem eine befestigte kanaanäische Stadt mit ungefähr 1.800 Einwohnern, für damalige Verhältnisse alles andere als ein unbedeutendes Dorf. An ihrer Spitze stand ein Stadtfürst, der sich König nannte. Zur Religion des mittelbronzezeitlichen Jerusalem gehörte sehr wahrscheinlich der Sonnenkult. Die Verehrung der Sonne ist uns aus der ägyptischen Religion bekannt. In ihr wird der Pharao in eine sehr enge Beziehung zum Sonnengott gerückt. Von der Verbindung des Königtums mit der Sonne lesen wir auch im Alten Testament. Seinem Sohn Salomo gibt David im Königstestament den Wunsch mit auf den Weg, der Name des Königs „soll ewig bestehen, solange die Sonne bleibt, sprosse sein Name. Mit ihm soll man sich segnen, ihn werden seligpreisen alle Völker“ (Ps 72,17). Neben dem Sonnenkult kann als ein weiteres Element genuin kanaanäischer Religion im vordavidischen Jerusalem die Verehrung eines Wettergottes und einer Fruchtbarkeitsgöttin angenommen werden. In der Späten Bronzezeit (1550–1150 v. Chr.) war Jerusalem administratives Zentrum eines Stadtstaates unter der Oberherrschaft Ägyptens. Aus den Amarnabriefen ist uns der Name eines seiner Stadtkönige überliefert: Abdi-Cheba. Der Name heißt übersetzt: „Diener der Cheba“. Cheba war sehr wahrscheinlich eine Göttin aus nordsyrisch-hethitischer Tradition. Der Name „Eva“ – „Mutter alles Lebendigen“ (Gen 3,20) – könnte damit zusammenhängen. Weiteren Aufschluss kann uns der Name der Stadt geben. Wahrscheinlich deutet der Name Jeru-schalem auf den Gott Schalem hin, den Gott der Abenddämmerung. Jerusalem wäre also die dem Gott Schalem geweihte Stadt. Pendant Schalems war Schachar, die Gottheit der Morgendämmerung. Weiß der Beter noch, in welcher Tradition er steht, wenn er in Ps 57,9 betet: „Wacht auf, Harfe und Leier! Ich will die Morgenröte wecken“? Noch der Dichter des Ijobbuches spricht von den „Wimpern der Morgenröte“ (Ijob 3,9; 41,10). In der wahrscheinlich ursprünglichen Version von Ps 110 wird der Priesterkönig von Jhwh „aus dem Schoß der Morgenröte“ (Vers 3) gezeugt. In der christlichen Tradition steht die Sonne für Christus. Bei sei90

nem Tod am Kreuz „verdunkelte sich die Sonne“ (Lk 23,45), beim Anbruch des Lichtes (Mt 28,1) kamen in aller Frühe Frauen zum leeren Grab und vernahmen die Botschaft von seiner Auferstehung. Die christlichen Kirchen sind gewöhnlich gen Osten ausgerichtet, dem kommenden Christus entgegen. Nach Joseph Ratzinger bedeutet diese Wendung nach Osten, „dass Kosmos und Heilsgeschichte zusammengehören. Der Kosmos betet mit, auch er wartet auf die Erlösung. Gerade diese kosmische Dimension ist der christlichen Liturgie wesentlich. Sie vollzieht sich nie nur in der selbstgemachten Welt des Menschen. Sie ist immer kosmische Liturgie – das Thema Schöpfung gehört in das christliche Gebet hinein“ (Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg i. Br. 2006, 61f. – JRGS 11, 74). Vor allem zwei religiöse Traditionen kommen im vordavidischen Jerusalem zusammen: aus Ägypten die Verehrung der Sonnengottheit mit ihrer Verbindung zum Königtum und aus dem vorderasiatischen Raum der Kult des Wettergottes, der durch Kampf gegen die Mächte des Todes die Vegetation in Gang hält. David und seine Leute nehmen die Stadt im Namen ihres Gottes, Jhwh, der aus einer Wüstenregion im Süden stammt, ein. Was passiert nun in der Stadt des Gottes Schalem, die mit der Einnahme durch den „König von ganz Israel und Juda“ (2 Sam 5,5) zur „Stadt Davids“ (2 Sam 5,7) und schließlich zur Stadt jenes Gottes (Ps 46,5) wird, von dem der Beter der Psalmen bekennt: „Groß ist Jhwh und hoch zu loben in der Stadt unseres Gottes“ (Ps 48,2)?

91

V. Frühstaatliche Zeit (10. Jh. v. Chr.)

Jerusalem – die Stadt Davids 6 Der König zog mit seinen Männern nach Jerusalem gegen die Jebusiter, die in dieser Gegend wohnten. Die Jebusiter aber sagten zu David: Du kommst hier nicht herein; vielmehr werden dich die Lahmen und die Blinden vertreiben. Das sollte besagen: David wird hier nicht eindringen. 7 Dennoch eroberte David die Burg Zion; sie wurde die Stadt Davids. 8 David sagte an jenem Tag: Jeder, der einen Jebusiter erschlägt [...] und er berührte die Röhre und die Blinden und die Lahmen, die David im Innersten verhasst sind. Deswegen sagt man: Ein Blinder und ein Lahmer kommt nicht in den Tempel. David ließ sich in der Burg nieder und nannte sie die Stadt Davids (2 Sam 5,6–9).

David war ein Judäer aus Betlehem. Mit einer Söldnertruppe schloss er sich Saul im Kampf gegen die Philister an und befreundete sich mit dessen Sohn Jonatan. Bald jedoch musste er sich vor den Nachstellungen seines Herrn in Sicherheit bringen. Vorübergehend kooperierte er mit den Philistern. Mit dem gescheiterten Versuch Sauls, eine Dynastie zu begründen, beginnt Davids Aufstieg. Nach dem Tod Sauls wird er zunächst König über Juda und einige Jahre später über ganz Israel. Nachdem David König von ganz Israel geworden war, brauchte er ein Zentrum mit einer funktionierenden Verwaltung. Dazu bot sich Jerusalem an. Die Stadt scheint den Niedergang der spätbronzezeitlichen Stadtkultur in Palästina weitgehend unbeschadet überstanden zu haben. Sie lag zwischen den beiden Herrschaftsbereichen, dem südlich gelegenen Juda und den nördlich davon gelegenen mittelpalästinischen Stämmen. Die von Westen her in das Bergland vordringenden Philister dürften versucht haben, einen Keil zwischen die beiden Herrschaftsbereiche zu treiben. Um dem zuvorzukommen, besetzte David im Jahre 980 v. Chr. die Stadt der Jebusiter. Die kurze Notiz von der Einnahme Jerusalems gibt Rätsel auf. Der Satz in 2 Sam 5,8 ist unverständlich. Wahrscheinlich hat er ursprünglich einmal so gelautet: „Jeder, der einen Jebusiter erschlägt, 92

soll getötet werden.“ Damit erteilt David unter Androhung des Todes seinen Leuten die Anweisung, die Bewohner Jerusalems bei der Einnahme der Stadt nicht zu töten. Es gibt zahlreiche Indizien, die darauf hindeuten, dass David die alteingesessene Bevölkerung Jerusalems tatsächlich verschont hat. Er dürfte sich darüber im Klaren gewesen sein, dass die bewährten Funktionsträger einer traditionsreichen Stadt besser geeignet waren, am Auf bau einer zumindest rudimentären Verwaltung für sein im Entstehen begriffenes Patri­ monialkönigtum mitzuwirken als seine Kampfgenossen aus vergangenen Tagen. Unter religionsgeschichtlichem Gesichtspunkt ist diese Tatsache von kaum zu überschätzender Bedeutung. Denn jetzt stehen plötzlich zwei unterschiedliche religiöse Symbolsysteme in einer Stadt nebeneinander. Wie reagiert der neue Herrscher darauf? Er setzt für den Kult eine Doppelspitze ein – jedoch nicht aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit, sondern im Sinne eines religionspolitischen Ausgleichs. Im Kabinett Davids gibt es einen Heerführer, einen Regierungssprecher, einen Staatssekretär, einen Chef der Leibwache und zwei (!) Priester (2 Sam 8,15–18). Auf der einen Seite behält David seinen alten Kampfgefährten Abjatar als Priester im Amt. Dieser hatte die Lade getragen, das alte Kultsymbol des Jhwh-Glaubens, das sich im Kampf gegen die Philister bewährt hatte und das nun mit David ebenfalls nach Jerusalem gekommen war (2 Sam 6). Doch die neue Situation in der neuen Stadt verlangte nach neuen Antworten. Und so stellt der König dem Priester Abjatar einen weiteren Priester an die Seite: Zadok. Dieser gehörte sehr wahrscheinlich der vordavidischen Jerusalemer Priesterschaft an. Wie werden sich diese beiden religiösen Traditionen, die ländlichjudäische und die städtisch-kanaanäische, zueinander verhalten?

David und der nicht gebaute Tempel 1 Als nun der König in seinem Haus wohnte und der Herr ihm Ruhe vor allen seinen Feinden ringsum verschafft hatte, 2 sagte er zu dem Propheten Natan: Ich wohne in einem Haus aus Zedernholz, die Lade Gottes aber wohnt in einem Zelt. 3 Natan antwortete dem König: Geh nur und tu alles, was du im Herzen hast, denn der Herr ist mit dir (2 Sam 7,1–3).

93

Vor dem Hintergrund altorientalischer Traditionen wäre zu erwarten gewesen, dass David mit der Einnahme der Stadt Jerusalem und der Gründung einer Dynastie dem Gott, dem er seinen Aufstieg zu verdanken hat, einen Tempel gebaut hätte. Ohne sichtbare Rückbindung an eine Gottheit hat eine Herrschaft nach antiker Auffassung auf Dauer keinen Bestand. Deshalb bekundet David dem Propheten Natan die Absicht, Jhwh ein Haus, das heißt: einen Tempel zu bauen. Die Reaktion Natans erweckt zunächst den Eindruck, als sei er mit dem Plan Davids einverstanden: „Geh nur und tu alles, was du im Herzen hast; denn Jhwh ist mit dir“ (2 Sam 7,3). In der folgenden Nacht jedoch wird der Plan durchkreuzt. Jhwh teilt dem Propheten mit, dass er bisher immer in einem Zelt gewohnt habe und dies auch in Zukunft zu tun gedenke. In eigenartiger Weise wird das Thema des Tempelbaus fallengelassen. Die biblische Überlieferung hat ein feines Gespür dafür, dass David eigentlich dem Herrn einen Tempel hätte bauen müssen. Tatsächlich hat er dies nicht getan. Erst sein Sohn Salomo hat das Projekt in Angriff genommen. Die in der Bibel angeführten Gründe dafür, dass David keinen Tempel gebaut hat, wollen offensichtlich einen historischen Sachverhalt verschleiern, der im Rückblick als theologisch problematisch angesehen wurde, nämlich die Tatsache, dass David das Heiligtum der Jerusalemer Jebusiter übernommen hat. Dass neben der Verehrung Jhwhs, die nun mit David und seinen Leuten in Jerusalem Einzug hielt, auch der vordavidische Kult der alteingesessenen Jerusalemer weiterhin in Geltung blieb, zeigt die bereits genannte Tatsache, dass zum Kabinett Davids zwei Priester gehörten: der aus Jerusalem stammende Zadok und der mit David nach Jerusalem gekommene Abjatar. „Zadok“ leitet sich von zedek ab; übersetzt heißt das Wort „Gerechtigkeit“. Die vom Priester Zadok repräsentierte Religion des vordavidischen Jerusalem dürfte mit der Sonnengottheit in Verbindung gestanden haben. In dieser Tradition steht der König in einem engen Verhältnis zur Gottheit, die als „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3,20) das Unrecht ans Licht bringt und die Übeltäter überführt und bestraft (vgl. Ijob 38,12f). Als ihr Sohn und Stellvertreter auf Erden hat auch der König für Recht und Gerechtigkeit im Land zu sorgen. „David war König von ganz Israel und sorgte für Recht und Gerechtigkeit in seinem ganzen Volk“ (2 Sam 8,15). 94

Das von David aus pragmatischen und politischen Gründen geduldete Nebeneinander zweier Religionen war fragil. Das Projekt bedurfte einer gründlichen theologischen Nachbearbeitung, welche die klügsten Köpfe in der Geschichte Israels noch lange Zeit beschäftigen sollte. Ist neben Jhwh jetzt auch noch der Sonnengott zu verehren? Oder soll Jhwh einfach mit dem Sonnengott in eins gesetzt werden, so dass jeder Fromme ohne Bedenken im Loblied auf die wunderbare Gegenwart Gottes in seinem Heiligtum beten kann: „Sonne und Schild ist Jhwh, Gott“ (Ps 84,12)? Doch droht diese Gleichsetzungstheologie, wie später der Prophet Ezechiel beklagt, nicht in den Götzendienst abzugleiten? In einer Vision wird der Prophet nach Jerusalem versetzt und sieht Abscheuliches: Priester beten die Sonne an! „Am Eingang zum Tempel Jhwhs, zwischen Vorhalle und Altar, standen etwa fünfundzwanzig Männer, mit dem Rücken zum Tempel Jhwhs, mit dem Gesicht nach Osten. Sie beteten, nach Osten gewandt, die Sonne an“ (Ez 8,16).

Assimilation und Integration Die auf Assimilation und Integration ausgerichtete Religionspolitik Davids führt uns ein Strukturmerkmal des Jhwh-Glaubens vor Augen, das seine weitere Geschichte prägen sollte und sie zu einer Erfolgsgeschichte werden ließ: Er kann flexibel auf veränderte Situationen reagieren und neue, andersartige Erfahrungen in sich aufnehmen, ohne seine Identität zu verlieren. Allerdings bedarf dieser Prozess einer sorgfältigen theologischen Reflexion. Im Alten Testament zieht er sich oft über Generationen hin. Ansätze einer derartigen Reflexion finden wir bereits in der Natanverheißung (2 Sam 7,1–17). Die der altorientalischen Königstheologie vertraute Legitimation des Königtums durch Rückbindung an eine Gottheit wird positiv aufgegriffen. Jhwh ist der Gott, der dem Königtum Davids die göttliche Legitimation zuspricht und der davidischen Dynastie bleibenden Bestand zusagt: „Dein Haus und dein Königtum werden vor dir auf ewig bestehen bleiben; dein Thron wird auf ewig Bestand haben“ (2 Sam 7,16). Die Verbindung von Königtum und Gottheit findet ihren sichtbaren Ausdruck in der engen Zuordnung von königlichem Palast und Tempel. Das dürfte auch im 95

vordavidischen Jerusalem der Fall gewesen sein. David hat richtig erkannt, dass seinem Palast, den er inzwischen bewohnt, ein Tempel an die Seite gestellt werden muss: „Ich wohne in einem Haus aus Zedernholz, die Lade Gottes aber wohnt in einem Zelt“ (2 Sam 7,2). Historisch gesehen war es vermutlich so, dass diese Funktion ein Heiligtum übernommen hat, das bereits in Jerusalem existierte. Wahrscheinlich handelte es sich dabei nicht um ein Tempelgebäude, sondern um einen offenen Heiligtumsbezirk. Dort dürfte die Sonnengottheit verehrt worden sein, die seit alters her in einer engen Verbindung zum Königtum stand. Der aus dem südlichen Raum stammende, ländlich geprägte Jhwh-Glaube war auf diese neue Aufgabe noch nicht vorbereitet. So spricht vieles dafür, dass David das Sonnenheiligtum der Jebusiter nicht zerstört, sondern einfach übernommen und die damit verbundenen theologischen Sinngehalte zur Legitimation seines Königtums aufgegriffen hat (vgl. 2 Sam 12,20). Für diese Aufgabe war der aus Jerusalem stammende Priester Zadok zuständig, der neben Abjatar, der die alten Traditionen des JhwhGlaubens betreute, im Kabinett Davids für Religionsangelegenheiten zuständig war. In späterer Zeit galt die Übernahme eines nicht-jahwistischen Heiligtums als verwerflich und als mit dem Jhwh-Glauben unvereinbar. Am Sinai wird dem Volk Israel vor dem Einzug in das verheißene Land eingeschärft: „Du hüte dich aber, mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst, einen Bund zu schließen; sie könnten dir sonst zu einer Falle in deiner Mitte werden. Ihre Altäre sollt ihr vielmehr niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen“ (Ex 34,12f). Dass der Jhwh-Tempel in Jerusalem nicht von David, sondern erst von seinem Sohn Salomo erbaut wurde, konnte auch in späterer Zeit nicht mehr geleugnet werden. Dass David zur Legitimation seines Königtums auf die mit dem kanaanäischen Tempel in Jerusalem verbundenen Sinngehalte zurückgriff, das Heiligtum der Jebusiter also nicht zerstörte, wird mit Stillschweigen übergangen. Das Verhalten des Königs erscheint auf diese Weise als tadellos. So erklärt sich die eigenartige Spannung in der Natanverheißung: David wollte Jhwh einen Tempel bauen, doch Jhwh selbst hat es ihm verwehrt.

96

Manche theologischen Probleme lassen sich nur durch Schweigen lösen. Das wusste offensichtlich bereits David, dem das folgende Gebet in den Mund gelegt wurde: „Dir ist Schweigen Lobgesang, Gott, auf dem Zion, dir erfüllt man Gelübde. Du erhörst das Bittgebet. Alles Fleisch wird zu dir kommen. Sündenlasten, die mir zu schwer sind, unsere Frevel, nur du kannst sie sühnen. Selig, den du erwählst und in deine Nähe holst, in deinen Höfen darf er wohnen. Wir wollen uns sättigen am Gut deines Hauses, am heiligen Gut deines Tempels“ (Ps 65,2–5).

Der König – Sohn Gottes 12 Wenn deine Tage erfüllt sind und du dich zu deinen Vätern legst, werde ich deinen leiblichen Sohn als deinen Nachfolger einsetzen und seinem Königtum Bestand verleihen. 13 Er wird für meinen Namen ein Haus bauen und ich werde seinem Königsthron ewigen Bestand verleihen. 14 Ich werde für ihn Vater sein und er wird für mich Sohn sein. Wenn er sich verfehlt, werde ich ihn nach Menschenart mit Ruten und mit Schlägen züchtigen. Nie wird sich meine Huld von ihm entfernen (2 Sam 7,12–14).

Handelt es sich um einen Rückfall in den Religionssynkretismus Kleinasiens und um eine heidnische und unjüdische Prämisse, wenn Jesus von Nazaret im Neuen Testament als „Sohn Gottes“ bezeugt wird? Hat das Christentum mit dem Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes das ursprünglich reine und einfache Evangelium des Nazareners durch griechisch-hellenistische Denkformen verdunkelt? – Wer sich unbefangen im Rahmen der historisch-kritischen Exegese auf das Alte Testament einlässt, wird erkennen, dass bereits in den ältesten Texten der Heiligen Schrift Israels vom Sohn Gottes gesprochen wird. Wie sind diese Texte zu verstehen? In Ägypten wurde der Pharao von alters her als Sohn Gottes angesehen. Als Stadt der Jebusiter stand Jerusalem in der Späten Bronzezeit unter dem kulturellen Einfluss Ägyptens. Wir haben gesehen, dass David bei der Einnahme Jerusalems die Bewohner der Stadt verschonte, ihren Tempel nicht zerstörte sowie einen Teil des religiösen und politischen Establishments übernahm. Es kam zu einer folgenreichen Interaktion zwischen dem aus der Wüste stammenden, ländlich geprägten Jhwh-Glauben und der Religion eines in 97

kanaanäisch-ägyptischer Tradition stehenden Stadtstaates. Einige Theologen meinen, damit habe der Jhwh-Glaube sein ursprünglich antistaatliches, emanzipatorisches Potenzial verraten. Der Vorwurf übersieht jedoch, dass sowohl in der ägyptischen als auch in der biblischen Tradition der Staat als eine große zivilisatorische Errungenschaft angesehen wird. Im letzten Teil des Buches der Richter wird die vorstaatliche Epoche Israels als eine Zeit des Chaos angesehen. Es kommt zu Diebstahl, Mord und Massenvergewaltigungen. Das Buch schließt mit den Worten: „In jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel; jeder tat, was in seinen Augen recht war“ (Ri 21,25). In dem sich daran anschließenden ersten Buch Samuel wird erzählt, wie Jhwh diesem Missstand dadurch Abhilfe verschafft, dass er den Propheten Samuel beauftragt, einen Mann aus dem Stamm Benjamin zum König zu salben. Die Wahl fällt zunächst auf Saul. Da Saul jedoch nicht auf das durch den Propheten vermittelte Wort Gottes hört, wird er verworfen: „Du hast töricht gehandelt. Hättest du das Gebot bewahrt, das dir der Herr, dein Gott, gegeben hat, dann hätte er jetzt deine Herrschaft über Israel für immer gefestigt. Nun aber wird deine Herrschaft keinen Bestand haben“, richtet ihm Samuel aus (1 Sam 13,13f). Saul gelingt es nicht, eine Dynastie zu bilden. Gott setzt noch einmal neu an und beauftragt Samuel, David, den Sohn Isias aus Betlehem, mit heiligem Öl zu salben. Durch göttliche Erwählung und Salbung rückt der König in eine innige Beziehung zu Jhwh. In der Natanverheißung wird das Verhältnis der beiden als das von Vater und Sohn umschrieben: „Ich werde für ihn Vater sein und er wird für mich Sohn sein“ (2 Sam 7,13). Der von Jhwh erwählte König ist beauftragt, wie ein guter Hirt sein Volk in Gerechtigkeit zu regieren, die Unterdrücker zu zermalmen und die Kinder der Armen zu retten (Ps 72,4). Wenn er das tut, handelt er an Gottes statt; dann wird sein Name auf ewig bestehen, „werden ihm dienen alle Völker“ (Ps 72,11). Diese Verheißung wurde David und seinen Nachfolgern gegeben. Daran müssen sie sich messen lassen. Sind sie dem gerecht geworden?

98

Theologische Legitimation des Staates Den Beschluss des Herrn will ich kundtun. Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt (Ps 2,7).

Die Einführung des Königtums markiert einen tiefen Einschnitt in der Religions- und Sozialgeschichte Israels. Der Jhwh-Glaube tritt damit in eine Sinnwelt ein, mit der er von Hause aus nicht vertraut war. Möglicherweise gab es in ihm sogar einen frühen antistaatlichen Willen (vgl. Ri 9,7–21). Mit der Entstehung des Königtums stand somit die Frage im Raum, wie diese Institution innerhalb des Jhwh-Glaubens theologisch zu verstehen und zu rechtfertigen sei. Die theologische Legitimation des Königtums war in Israel nie unumstritten. Sie ist ein altorientalisches Erbe. Der Pharao verstand sich als Sohn des Gottes Re. Mit der Salbung Davids zum König von Israel, der Einnahme Jerusalems und der stillschweigenden Übernahme des Heiligtums der Jebusiter übernahm der Jhwh-Glaube zentrale Gehalte der altorientalischen Königstheologie. Der davidische König rückt in eine enge, intime Beziehung zu Jhwh und versteht sich als dessen Sohn. In den alttestamentlichen Königspsalmen, die in ihrem Grundbestand in die vorexilische Zeit zurückreichen, kommen zentrale Aspekte des Königtums zur Sprache. Der König repräsentiert Recht und Ordnung: „Recht und Gerechtigkeit sind die Stützen seines Thrones“, heißt es in Psalm 89,15. Eine der vorzüglichsten Aufgaben des Königs besteht darin, die Feinde der rechtsstaatlichen Ordnung zu bekämpfen. Dabei steht ihm Jhwh zur Seite: „Du hast mich zum Kampf mit Kraft umgürtet, hast in die Knie gezwungen, die gegen mich aufstehen. Den Nacken meiner Feinde gabst du mir preis, ich konnte die vernichten, die mich hassen“, bekennt der König voller Dankbarkeit dem Herrn, der ihn erhörte, als er in der Not zu ihm rief (Ps 18,40f). In Psalm 2 wird erzählt, wie die Völker einen Aufstand planen „gegen Jhwh und seinen Gesalbten“; in der griechischen Übersetzung der Septuaginta heißt es: „gegen den Herrn (kyrios) und seinen Christus“. Wer sich gegen den von Jhwh erwählten Gesalbten auflehnt, lehnt sich gegen Gott selber auf. Angesichts immer wieder zu erwartender Rebellionen gibt Jhwh seinem auf Zion eingesetzten König die Zusage: 99

„Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt. Fordere von mir und ich gebe dir die Völker zum Erbe und zum Eigentum die Enden der Erde. Du wirst sie zerschlagen mit eisernem Stab, wie Krüge aus Ton wirst du sie zerschmettern“ (Ps 2,7). Die bisweilen martialisch klingenden Aussagen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier in der Sache um die normativen Grundlagen politischer Herrschaft geht. Das Königtum und damit der Staat legitimieren sich in der Bibel dadurch, dass sie sich an das Recht halten und zugleich in der Lage und bereit sind, dem Recht Anerkennung zu verschaffen. Sollen Gesetz und Freiheit „auch von Wirkung und nicht nur leere Anpreisung“ sein, so muss nach Immanuel Kant noch „ein Mittleres hinzukommen, nämlich Gewalt, welche, mit jenen verbunden, diesen Prinzipien Erfolg verschaff.“ Denn Gesetz und Freiheit ohne Gewalt führen zur Anarchie, so Kant (Anthropologie B 329 / A 331). Damit steht der Philosoph aus Königsberg in gut biblischer Tradition. Von der Anarchie erzählt uns in der Bibel das Buch der Richter. Die göttliche Erwählung eines Königs und die Gründung der davidischen Dynastie sollen der Anarchie ein Ende bereiten. Nun ist die Macht des Königs im Alten Testament keine unumschränkte. Dem Königtum wird die Prophetie als zweite Gewalt an die Seite gestellt. Die Gewaltenteilung ist also nicht erst, wie manche meinen, eine Erfindung der Neuzeit. Sie ist bereits im Alten Testament grundgelegt, insbesondere im Verfassungsentwurf des Deuteronomiums (Dtn 16,18–18,22). Deshalb sieht der Berliner Historiker Heinrich August Winkler zu Recht den biblischen Monotheismus als eine der Wurzeln des modernen Rechtsstaates an: „Zur Entstehung des Westens war mehr erforderlich als der Monotheismus, aber ohne ihn ist der Westen nicht zu erklären“ (Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009, 25).

100

Der Messias als Sohn Gottes Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden (Mk 1,11).

Der theologische Kerngehalt des alttestamentlichen Königtums ist die Erwählung und Einsetzung des Königs durch Gott. Gott erwählt einen König, um durch ihn in seinem Volk gerechte und friedvolle Herrschaft zu verwirklichen. Nun sind die Könige Israels, dem Urteil der biblischen Überlieferung zufolge, von wenigen Ausnahmen abgesehen, diesem Anspruch nicht gerecht geworden. Deshalb hat Jhwh seinen Gesalbten mit Zorn überschüttet und den Bund mit ihm zerbrochen (Ps 89,39f). Historisch gesehen ist die Daviddynastie als eine reale politische Herrschaft im Jahre 586 v. Chr. zu Ende gegangen. In diesem Sinne wird sie im weiteren Verlauf der Geschichte Israels zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend aufgegeben. Nicht aufgegeben wird allerdings das damit verbundene Konzept einer Herrschaft, die im Hören auf den Willen Gottes für Recht und Gerechtigkeit im Volk sorgt und die auf diese Weise auf die Welt der Völker eine faszinierende Ausstrahlung ausübt. Wird dieses Konzept mit der Erwartung eines kommenden Herrschers aus dem Geschlecht Davids verbunden, stehen wir an der Wiege der Messiaserwartung. Der Messias ist vor diesem Hintergrund jene Person, die ganz und gar tut, was dem Herrn gefällt, und die auf diese Weise dem Willen Gottes zunächst in seinem Volk und dann durch sein Volk hindurch in der Welt der Völker zum Durchbruch verhilft. In ihm ist jene Verwandlung des menschlichen Herzens Wirklichkeit geworden, die von den Propheten verheißen wurde (Ez 11,19f). Auf ihm „ruht der Geist des Herrn: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. […] Er richtet nicht nach dem Augenschein und nach dem Hörensagen entscheidet er nicht, sondern er richtet die Geringen in Gerechtigkeit und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist“ (Jes 11,2–4; vgl. Ez 34,23f). Die christliche Tradition bekennt, dass diese Person tatsächlich in der Welt erschienen ist. Bei der Taufe Jesu spricht eine Stimme aus dem Himmel: „Du bist mein geliebter Sohn. An dir habe ich Wohlgefallen gefunden“ (Mk 1,11). Bei seiner Antrittspredigt in Nazaret 101

liest Jesus aus dem Buch des Propheten Jesaja und bezieht die Perikope auf sich: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, den Armen ein frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen die Entlassung zu verkünden und den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen in Freiheit zu setzten und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen [Jes 61,1f]. Dann schloss er die Buchrolle, gab sie dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr gehört habt, erfüllt“ (Lk 4,18–21). Im Brief an die Römer greift Paulus auf ein urchristliches Bekenntnis zurück, in dem die beiden Ursprünge der Christologie zusammenlaufen. Seiner menschlichen Herkunft nach stammt Jesus von David ab, durch die Auferstehung ist er eingesetzt als Sohn Gottes: „Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert, das Evangelium Gottes zu verkünden, das er durch seine Propheten im Voraus verheißen hat in heiligen Schriften: das Evangelium von seinem Sohn, der dem Fleische nach geboren ist als Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten, das Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn“ (Röm 1,1–4). Im Hintergrund dieses urchristlichen, bis in die frühen 30er Jahre n. Chr. zurückreichenden Bekenntnisses steht die Natanverheißung (2 Sam 7,12–16). Aus ihr konnte man in Verbindung mit den Psalmen 2, 89 und 110 herauslesen, dass der Messias der Sohn Gottes ist. Diese Texte wurden zu den alttestamentlichen Säulen des christologischen Bekenntnisses. Sie reichen tief in die Religionsgeschichte der Menschheit hinein. Für die alte Kirche „gab es keinen Bruch zwischen dem Beten der Völker, dem Beten Israels und dem Beten der Kirche. Gewiss, die ‚Neuheit‘ des Christlichen war eine grundlegende Kategorie des christlichen Glaubens: Der Herr hatte wahrhaft Neues, das Neue schlechthin gebracht, aber dieses Neue war vorbereitet, und die Geschichte war in all ihren Wirrnissen und Verirrungen doch auf dem Weg dahin. Es galt freilich zu unterscheiden zwischen dem, was zu Christus hinführte, und dem, was ihm entgegenstand. Es galt, dies Ganze einem Prozess der Reinigung und Erneuerung auszusetzten, der aber eben doch nicht Zerstörung und absoluter Bruch, sondern Erneuerung und Heilung war. Der Glaube 102

erscheint als Krise und Kritik der Religionsgeschichte, aber nicht als deren totale Verneinung“ (Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg i. Br. 42005, 78f. – JRGS 3/1, 378).

Rückfall in den Polytheismus? So spricht der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten und ich lege deine Feinde als Schemel unter deine Füße (Ps 110,1).

Wenn im Alten wie im Neuen Testament vom Sohn Gottes gesprochen wird, dann handelt es sich nicht um einen Rückfall in den Polytheismus. Es geht nicht um Göttersöhne, die vom Himmel kommen und auf der Erde einhergehen. Das Alte Testament kennt solche Geschichten (vgl. Gen 6,1–4). Sie spielen jedoch in der biblischen Theologie keine wesentliche Rolle. Wenn im Alten Testament vom Sohn Gottes gesprochen wird, dann geht es um die Frage, wie und wodurch der Eine Gott in seinem Volk und durch sein Volk in der Welt der Völker herrscht. Jesus ist kein zweiter Gott. Die Kirche hat den Ditheismus und den Tritheismus, also den Glauben an zwei oder gar drei Götter, immer verworfen. Dass es im Islam zu diesem Missverständnis kommen konnte, ist verständlich, wenn man bedenkt, dass sich die Botschaft Mohammeds vor allem in der Auseinandersetzung mit dem altarabischen Polytheismus formte. Im Koran Sure 5,116 heißt es: „Und als Gott sprach: O Jesus, Sohn Marias, warst du es, der zu den Menschen sagte; ‚Nehmt euch neben Gott mich und meine Mutter zu Göttern?‘ Er sagte: ‚Preis sei Dir! Es steht mir nicht zu, etwas zu sagen, wozu ich kein Recht habe.‘“ In Sure 9,30 lesen wir: „Und die Christen sagen: ‚Christus ist Gottes Sohn.‘ Das ist ihre Rede aus ihrem eigenen Mund. Damit reden sie wie die, die vorher ungläubig waren.“ Hier wird das christliche Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes als Rückfall in den Polytheismus gedeutet: „Sie reden wie die, die vorher ungläubig waren“ – damit sind nicht Atheisten, sondern Polytheisten gemeint.

103

Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Vorwürfe und Missverständnisse kommt es zunächst einmal darauf an, deutlich zu machen, dass die Rede von Jesus als Sohn Gottes nicht vor dem Hintergrund eines polytheistischen Symbolsystems zu verstehen ist. Als Christen glauben wir nicht an viele Götter, sondern an den einen Gott: „Credo in unum Deum – Ich glaube an den einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Der christliche Glaube ist ein monotheistischer Glaube, allerdings ein offenbarungstheologisch entfalteter und vertiefter Monotheismus. Bereits das Alte Testament kann an wenigen Stellen den König als „Gott“ ansprechen, ohne das Gottsein Gottes zu leugnen oder gar zu verdoppeln. In Psalm 45 wird der König als „der Schönste von allen Menschen“ gepriesen. Weiter heißt es von ihm: „Dein Thron, Gott, steht für immer und ewig; ein gerechtes Zepter ist das Zepter deines Königtums. Du liebst das Recht und hasst das Unrecht, darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit dem Öl der Freude“ (Ps 45,7f). Wie auch immer der viel diskutierte Vers 7 zu übersetzen ist, in jedem Fall verleiht der „Menschenmaß überschreitende Segen […] dem König etwas Göttliches“ (Dieter Böhler, Psalmen 1–50, Freiburg i. Br. 2021, 823). Der Text bleibt „zweideutig zwischen der elliptischen Formulierung ‚dein Thron ist (der) Gottes‘ […] und ‚dein Thron, Gott‘. Es gehört wohl zum Rätselcharakter des Gedichts, dass der einerseits eindeutig von Gott unterschiedene König (V 3 und 8) andererseits so nah an Gott heranrückt, dass er mit ihm verschwimmt wie der erhoffte Prinz in Jes 7,14 (Immanuel ‚Gott mit uns‘) und 9,4 (‚Gottheld‘), sodass die Rätselfrage dringlich wird: Wer ist dieser König?“ (Böhler, Psalmen 1–50, 825). Palast und Tempel standen auf dem Zion eng beieinander. Allein schon durch diese räumliche Nähe von Thron und Altar wurde die innere Verbindung zwischen Gott und seinem Gesalbten auch äußerlich sichtbar. Der am häufigsten im Neuen Testament zitierte Text aus dem Alten Testament ist Psalm 110. Er wird an jedem Sonntag in der Vesper gebetet. Darin nimmt der König durch seine Throngenossenschaft mit Gott teil an dessen Weltherrschaft. Er ist der vor aller Zeit gezeugte Sohn Gottes: „Ich habe dich aus dem Schoß gezeugt vor dem Morgenstern“ (Ps 110,3). Gott legt ihm als Zeichen seiner Macht seine Feinde als Schemel unter die Füße – ein 104

Bild, das uns aus Ägypten wohlvertraut ist. Zugleich ist der König „Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks“ (Ps 110,4). Damit greift der Königspsalm auf den Priesterkönig des vordavidischen Salem (Jeru-Salem) zurück, den „Priester des Höchsten Gottes“, der mit Brot und Wein Abraham entgegenkam und ihn segnete (Gen 14,17–20). Für die frühe Kirche wurde dieser Psalm zu einem Schlüsseltext zum Verständnis Jesu, der „zur Rechten Gottes sitzt und für uns eintritt“ (Röm 8,34), „Gottes eingeborener Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen“. Dieser, so der Hebräerbrief, ist letztlich gemeint, wenn es in Ps 110 heißt: „Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks“ (Hebr 5,6).

Palast und Tempel Salomos 6,1 Im vierhundertachtzigsten Jahr nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, im vierten Jahr der Regierung Salomos über Israel, im Monat Siw, das ist der zweite Monat, begann er das Haus des Herrn zu bauen. 2 Das Haus, das König Salomo für den Herrn baute, war sechzig Ellen lang, zwanzig Ellen breit und dreißig Ellen hoch [...] 38 Sieben Jahre hatte man an ihm gebaut. 7,1 An seinem Palast baute Salomo dreizehn Jahre, bis er ihn ganz vollendet hatte. 2 Er baute das Libanonwaldhaus, hundert Ellen lang, fünfzig Ellen breit und dreißig Ellen hoch, mit drei Reihen von Zedernsäulen und mit Zedernbalken über den Säulen (1 Kön 6,1–7,2).

Biblische Texte mit Maß- und Datumsangaben gelten gewöhnlich als langweilig und werden oft überlesen. Dabei enthalten sie in aller Regel theologisch interessante und nicht selten auch brisante Angaben. Wir haben gesehen, dass Palast und Tempel im altorientalischen wie im davidischen Königtum eng miteinander verbunden und aufeinander bezogen waren. David hatte sich einen Palast gebaut und wahrscheinlich den Tempel der Jebusiter als Reichsheiligtum übernommen. Auch sein Sohn und Nachfolger baute für sich einen Palast. Was David noch durch ein prophetisches Wort verwehrt wurde, wird nun von seinem Sohn in Angriff genommen: Er baut Jhwh ein Haus. Vergleicht man Bauzeit und Größe von Tempel und Palast miteinander, so fällt auf, dass der Palast etwa doppelt so groß war und an ihm doppelt so lang gebaut wurde wie am Tempel. Zwar sind antike 105

Maß- und Zeitangaben mit Vorsicht zu genießen, dennoch dürften sich in diesen Angaben die tatsächlichen Verhältnisse widerspiegeln: Dem königlichen Palast kam eine weitaus größere Bedeutung zu als dem Tempel. Der Tempel war im Grunde eine Art „Palastkirche“. Das die Stadt dominierende Element war der königliche Palast. Für das Verständnis der alttestamentlichen Religionsgeschichte ist diese Feststellung von großer Bedeutung. Denn im Laufe der Geschichte Israels lässt sich beobachten, dass sich das Verhältnis von Palast und Tempel immer mehr zugunsten des Tempels verschiebt. Die Bedeutung des Palastes tritt in den Hintergrund, der Tempel und seine Ausstattung gewinnen mehr und mehr an Gewicht. Das Exil führte in dieser Hinsicht zu einem gewaltigen Einschnitt: Palast und Tempel werden im Jahre 586 v. Chr. von den Babyloniern zerstört. Nach dem Exil, in den Jahren 520 bis 515 v. Chr., wurde jedoch nur der Tempel wieder aufgebaut, nicht der Palast. Trotz vereinzelter Versuche kam es nicht mehr zur Wiedererrichtung eines jüdischen Staates. Diese sich über Jahrhunderte hin erstreckende Entwicklung und die damit einhergehenden theologischen Reflexionen wurden für die abendländische Geschichte von grundlegender Bedeutung: Es kam zur Trennung von weltlicher und geistlicher Gewalt. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Prozess die alttestamentlichen Propheten. Mit der Religionspolitik Davids und Salomos wurde die Jhwh-Religion, die von ihrer Exodus-Erfahrung her möglicherweise sogar eine antistaatliche Spitze aufwies, zu einer staatlich gestützten Nationalreligion. Die weitere, insbesondere durch das Exil forcierte Entwicklung könnte man pointiert auf die Formel bringen: Staat und Nation gehen zugrunde, die Religion bleibt. Aus dem Staatsvolk wird das Gottesvolk. Es kommt zur Ausdifferenzierung von Religion und Politik. Grundgelegt war dieser Prozess durch eine in der frühen Geschichte des Jhwh-Glaubens angelegte Trennung von Königtum und Prophetie. Die klassischen Propheten des Alten Testaments verstanden sich als eine dem Königtum vorgeordnete und ihm auch häufig entgegentretende Instanz. Kein Prophet des Alten Testamentes hat einen Staat gegründet. Im Unterschied dazu wird Mohammed in der islamischen Tradition als Prophet und Staatsmann verehrt. Die für das Selbstverständnis der Moderne grundlegende Idee des Rechtsstaates gründet im Alten Testament. Das mit ihr verbundene 106

Konzept der Gewaltenteilung ist grundgelegt in der alttestamentlich bezeugten Trennung von prophetischer (geistlicher) und königlicher (weltlicher) Gewalt.

Jhwh und der Sonnengott Damals sprach Salomo über dieses Haus, als er es zu bauen vollendet hatte: Der Herr (Jhwh) hat die Sonne am Himmel wissen lassen und gesagt, er wolle im Dunkeln wohnen. Baue mein Haus, ein erhabenes Haus für dich, um (darin immer wieder) von neuem zu thronen (3 Kgt 8,53a nach Septuaginta; vgl. 1 Kön 8,12f nach dem Masoretischen Text).

Was seinem Vater David noch verwehrt wurde, setzt sein Sohn Salomo in die Tat um: Er baut in Jerusalem einen Tempel für Jhwh. Schaut man sich die einschlägigen Texte genauer an, so lassen sie erkennen, dass der Tempelbau Salomos eine theologisch brisante Angelegenheit war. Eine Reihe religionswissenschaftlicher Beobachtungen deutet darauf hin, dass in Jerusalem, der Stadt des Gottes Schalem, von alters her als Hauptgott der Sonnengott verehrt wurde (siehe „Jerusalem – Gründung des Gottes Schalem“). Wahrscheinlich war ihm ein Freilichtheiligtum geweiht. Es gibt aus der Antike einige Beispiele dafür, dass Sonnengottheiten unter offenem Himmel verehrt wurden. Mit der friedlichen Einnahme der Stadt durch David zieht aus dem Süden ein neuer Gott, den seine Verehrer vor allem mit Sturm und Vulkan in Verbindung bringen, in die städtische Gesellschaft ein. Sein Name ist Jhwh. Wahrscheinlich ließ David das Sonnenheiligtum der Jebusiter unangetastet (vgl. 2 Sam 12,20). Dass die Jhwh-Religion in Jerusalem auf kanaanäisch-jebusitische Traditionen zurückgriff, zeigt die eigenartige Notiz über die Errichtung eines Jhwh-Altars auf der Tenne des Jebusiters Arauna. Damals sagte der Prophet Gad zu David: „Geh hinauf und errichte dem Herrn auf der Tenne des Jebusiters Arauna einen Altar!“ (2 Sam 24,18). David kaufte die Tenne, errichtete dort einen Altar für den Herrn und brachte Brand- und Heilsopfer dar. So konnte der Zorn des Herrn besänftigt und eine schwere Epidemie beendet werden, an der bereits siebentausend Personen im Volk gestorben 107

waren (2 Sam 24,15). Das zentrale Kultsymbol des Jhwh-Glaubens, die Lade, ließ David nach Jerusalem überführen und in einem Zelt abstellen (2 Sam 6,17). So dürften sich zur Zeit Davids die beiden religiösen Traditionen der Stadt an zwei Orten befunden und relativ unverbunden nebeneinandergestanden haben: der alteingesessene Kult der Jerusalemer mit dem Sonnengott auf der einen und der mit David und seinen Leuten neu hinzugekommene Jhwh-Kult aus der Steppe auf der anderen Seite. Davids Sohn Salomo geht nun einen bedeutenden Schritt weiter. Die älteste Fassung des Tempelweihspruchs ist uns sehr wahrscheinlich nicht in der hebräischen, sondern in der griechischen Fassung des Alten Testaments überliefert (vgl. ausführlich dazu Keel, Monotheismus, 267–272). Die Septuaginta beruht an dieser Stelle auf einem älteren hebräischen Text, der in der späteren Überlieferung ein wenig retuschiert wurde. In diesem älteren, ursprünglichen Text äußert Jhwh gegenüber der Sonne den Wunsch, er wolle im Dunkeln wohnen. Wörtlich übersetzt lautet der griechische Text: „Der Herr (kyrios / Jhwh) hat die Sonne am Himmel wissen lassen; er hat gesagt, er wolle im Dunkeln wohnen.“ Vor diesem Hintergrund ist der Tempelbau Salomos sehr wahrscheinlich so zu verstehen, dass dem Sonnengott auf dem offenen, ihm geweihten Kultplatz ein Tempel gebaut wurde, in dem dieser dem Gott Jhwh eine Mitbewohnerschaft anbot. Der Sonnengott beauftragt Salomo: „Baue mein Haus, ein erhabenes Haus für dich.“ Der Tempel war also – in gut altorientalischer Tradition – sowohl ein Haus der jeweiligen Gottheit („mein Haus“), in diesem Fall der Sonne, als auch ein Haus des Königs („ein erhabenes Haus für dich“). Warum beauftragt der Sonnengott den König, ihm ein Haus zu bauen? – Weil der Herr (Jhwh) der Sonne gegenüber den Wunsch geäußert hat, er wolle im Dunkeln wohnen. Mit diesem Weihespruch wird eine Art von Wohngemeinschaft zwischen dem Sonnengott und Jhwh legitimiert. Der Sonnengott greift also eine Bitte Jhwhs auf und beauftragt den König, einen Tempel zu bauen, in dem beide wohnen können.

108

Gottheit tief verborgen Von seiner Grundausrichtung her war der von Salomo erbaute Tempel ursprünglich wohl ein Sonnenheiligtum. Die älteste Fassung des Tempelweihspruchs verbindet drei Größen miteinander: den Sonnengott, seinen Mitbewohner Jhwh und König Salomo. Der Auftrag zum Bau des Tempels ging vom Sonnengott aus. Ihm dürfte auch der Kultbezirk gehört haben, auf dem das Haus errichtet wurde. Wie teilen sich nun die beiden Gottheiten die Räume im Tempel auf? Der Salomonische Tempel war ein sogenannter Langraumtempel, bestehend aus drei Räumen: einer Vorhalle, einem Hauptraum und dem Allerheiligsten. Mit gut 30 Metern Länge war er, verglichen mit den uns bekannten Tempeln aus damaliger Zeit, ein sehr großes Heiligtum. Im Unterschied zu einem Breitraumtempel, bei dem der Kultgegenstand von den außenstehenden Personen gesehen werden konnte, betont der Langraumtempel die Distanz zwischen der Gottheit und ihren Verehrern. Es ist ein langer Weg von der Vorhalle über den Hauptraum bis zum Allerheiligsten, dem sich nur die Priester nahen durften. Tief verborgen wohnt die Gottheit in der Dunkelheit des Raumes. „Kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben“, gibt Jhwh dem Mose am Sinai zu verstehen (Ex 33,20). Der Tempel war keine Versammlungsstätte für die Gläubigen, so wie es heute bei den Kirchengebäuden der Fall ist, sondern der Wohnort Gottes. „Ich werde inmitten der Israeliten wohnen und mein Volk nicht verlassen“, gibt Jhwh Salomo nach Abschluss des Tempelbaus zu verstehen (1 Kön 6,13). Entsprechend gehörte zum Jerusalemer Tempel die Grundausstattung eines Wohnhauses: Stuhl (Thron), Tisch, Leuchter und Räucheraltar. Im Allerheiligsten standen parallel nebeneinander zwei Keruben mit ausgebreiteten Flügeln. Keruben sind Mischwesen, gewöhnlich bestehend aus einem Menschengesicht, einem Löwen- oder Stierleib und kräftigen Flügeln. Sie sind in der altorientalischen Welt verbreitet, strahlen Kraft und Aggressivität aus und dienen ihren Besitzern als Wächter und Beschützer. Die inneren, ausgebreiteten Flügel der Keruben im Allerheiligsten berührten einander und bildeten eine waagerechte Linie, die eine Sitzfläche abgab, die man sich als Thron 109

vorzustellen hat. Die äußeren Flügel waren wahrscheinlich hochgestellt und ragten weit in den Raum hinein. Wer saß auf diesem Thron? Darüber sagt der biblische Text nichts. Einige Forscher gehen davon aus, dass man sich hier eine Gottesstatue vorzustellen habe, die den im Tempel thronenden Gott vergegenwärtige, wie es in den Heiligtümern der damaligen Welt gewöhnlich der Fall war. Da dies jedoch in späterer Zeit aufgrund des Bilderverbotes („Du sollst dir kein Kultbild machen!“ Ex 20,4) anstößig geworden sei, habe man diesen Sachverhalt in den einschlägigen Texten verschwiegen. Eine solche Deutung vertritt Thomas Römer. Er rechnet damit, dass sich im Jerusalemer Tempel „ein Thron mit einer Jhwh-Statue befand, die vielleicht wie der Gott El auf dem Thron saß und umgeben war von Kerubim und Serafim“ (Thomas Römer, Die Erfindung Gottes. Eine Reise zu den Quellen des Monotheismus, Darmstadt 2018, 167). Nach Othmar Keel steht eine solche Vermutung jedoch auf schwachen Füßen. Ihm zufolge blieb der Jerusalemer Kult „wahrscheinlich ohne anthropomorphes Kultbild Jhwhs“ (Othmar Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus. Teil 1, Göttingen 2007, 306; zum Folgenden sei auf die ausführliche Darstellung und Diskussion alternativer Deutungen von Keel, ebd. 264–332 verwiesen). Zunächst einmal ist zu fragen, für welche Gottheit denn überhaupt der Thron im Jerusalemer Tempel gedacht war. Erneut gibt uns die griechische Übersetzung des Alten Testaments einen Wink. Denn diese weiß davon zu berichten, dass dem Langraumtempel ein Seitenraum hinzugefügt und dass in ihm die „Lade des Bundes des Herrn“ aufgestellt wurde (1 Kön 6,16–18). Damit ergibt sich folgende Konstellation: Der von Salomo erbaute Tempel war ein Sonnenheiligtum. Der Kerubenthron war der Thron des Sonnengottes. Es gibt in der altorientalischen Ikonographie eine Reihe von Beispielen dafür, dass der Thron des Sonnengottes leer bleiben konnte. Manchmal schwebte über ihm eine geflügelte Sonnenscheibe. Demnach beherbergte der Salomonische Tempel in seiner ältesten Ausstattung zwei Kultsymbole: den leeren Kerubenthron für den Sonnengott im Allerheiligsten und die Lade, die in einer Seitenkapelle Jhwh repräsentierte. Die weitere Geschichte des Jerusalemer Tempels wird zeigen, wie diese beiden Gottheiten zu einer einzigen 110

wurden: Die Lade wurde zu einem späteren Zeitpunkt unter den Kerubenthron gestellt und als Schemel des Gottes Jhwh verstanden, der unsichtbar „auf den Kerubim thront“ (Ps 99,1).

Der leere Thron Der auf den Kerubim im Tempel Salomos thronende Gott wurde nicht dargestellt. Der Thron blieb leer. Ob es sich bei dem gegenständlich nicht dargestellten Gott ursprünglich um den Sonnengott gehandelt hat, wie wir mit einer Reihe von Exegeten vermuten, oder ob von Anfang an Jhwh als der auf den Kerubim thronende Gott vorgestellt wurde, ist für das im Folgenden zu erörternde Thema von nicht allzu großer Bedeutung. In jedem Fall setzte sich im Laufe der Geschichte die Vorstellung durch, dass es letztlich Jhwh, der Gott Israels, ist, der auf den Kerubim thront: „Du Hirte Israels, höre, der du Josef leitest wie eine Herde! Der du auf den Kerubim thronst, erscheine!“ (Ps 80,2). Von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis des biblischen Monotheismus ist nun die Tatsache, dass der Thron Gottes im Allerheiligsten leer blieb. Wie sehr hätte man sich doch gewünscht – damals wie heute – dass auf diesem wunderbaren, künstlerisch wertvollen Kerubenthron eine ebenso wertvolle, von Künstlerhand gefertigte Gottesstatue ihren Platz gefunden hätte, ein Gottesbild aus reinem Gold! Doch genau das war nicht der Fall. Welch eine Enttäuschung! Ein leerer Thron! Was sagt uns das über das Wesen dieses Gottes? Als erstes wird uns gesagt: Gott ist kein Teil dieser Welt. Er ist nichts von alledem, was du siehst. Er ist unsichtbar. Deshalb halte dich, wenn du Gott erkennen willst, an das Nichts, wird später der große Dominikaner Meister Eckhart (1260–1328) sagen. „Deus est supra nihil et aliquid – Gott steht über dem Nichts und dem Etwas“, sagt der Christ in dem von Nikolaus von Kues (1401–1464) verfassten Dialog über den verborgenen Gott (De Deo abscondito). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Kontemplation, also die ungegenständliche Meditation, zu den zentralen geistigen Übungen christlicher Spiritualität gehört. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist: Im Allerheiligsten des Tempels ist Gott wahrhaft gegenwärtig. Diesen 111

Ort hat Gott erwählt, um hier zu wohnen. – „Wohnt Gott wirklich auf der Erde?“, fragt Salomo im Gebet zur Einweihung des Tempels (1 Kön 8,27). Ist Gottes Wohnung nicht im Himmel? „Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe“ (1 Kön 8,27). Die Spannung von Anwesenheit und Abwesenheit, von Präsenz und Entzug gehört zum Wesen des biblisch bezeugten Gottes. Gottes Gegenwart in der Welt wird unübersehbar markiert, doch der Ort selbst bleibt leer. In diesem Sinne ist das biblische Bilderverbot zu verstehen. Zusammen mit dem Fremdgötterverbot bildet es eine Einheit: „Ich bin der Herr (Jhwh), dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen“ (Dtn 5,6–9). Kein Mensch darf sich ein Bild dieses Gottes machen, bekunden einstimmig der jüdische und der christliche Glaube. Doch der christliche Glaube wagt, einen Schritt darüber hinauszugehen. Es gibt, so das christliche Bekenntnis, ein wahres Bild des unsichtbaren Gottes, nicht von Menschenhand gemacht, auch nicht von Gott gemacht, sondern aus Gott geboren vor aller Zeit, gezeugt, nicht geschaffen, sichtbar in der Welt erschienen: Christus „ist das Bild (eikon) des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung [...] Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen“ (Kol 1,15–20).

112

VI. Reichsteilung: Israel und Juda (926 v. Chr.)

Zwei Staaten – ein Gott Die Jerusalemer Tempeltheologie, die sich unter David und Salomo in Form einer Verschmelzung von kanaanäisch-jebusitischen und jahwistischen Traditionen im 10. Jahrhundert v. Chr. in Grundzügen herausgebildet hatte, wurde zur offiziellen Staatsreligion Judas. Ihre beiden zentralen Elemente waren die Theologie des Königtums und die Vorstellung von Jerusalem als der Stadt Gottes. Beide Konzeptionen standen in einer gewissen Spannung zu den vorstaatlichen Traditionen des Jhwh-Glaubens. War Jhwh in vorstaatlicher Zeit ein Gott, der sich an eine Gruppe band, sie beschützte und an ihrer Seite gegen ihre Feinde kämpfte, so nimmt er mit dem Einzug Davids in Jerusalem und der Etablierung der davidischen Dynastie unter Salomo Wohnung im Heiligtum einer Stadt. Der Sturm- und Vulkangott Jhwh wird sesshaft. Jerusalem wird zur Stadt Gottes. Die Gegenwart Jhwhs im Tempel verleiht der Stadt eine unerschütterliche Sicherheit – so zumindest glaubte man lange Zeit. In der Zionstheologie hat sich dieses tiefe Gottvertrauen in beeindruckenden Bildern verdichtet. Der Gott-mit-uns beschützt seine Stadt vor ihren Feinden: „Eines Stromes Arme erfreuen die Gottesstadt, des Höchsten heilige Wohnung. Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken. Gott hilft ihr, wenn der Morgen anbricht. Völker tobten, Reiche wankten; seine Stimme erscholl, da musste die Erde schmelzen. Mit uns ist der Herr der Heerscharen, der Gott Jakobs ist unsere Burg“ (Ps 46,5–8). Das zweite Elemente der Staatsreligion Judas war die Theologie des Königtums. Der Gott Jhwh wird zu einem auf Keruben thronenden Königsgott, der den davidischen König als seinen Sohn einsetzt und seiner Herrschaft bleibenden Bestand verheißt. Rechnet man mit einem vorstaatlichen Kern der Exodusüberlieferung, so wird man auch hier eine gewisse Spannung nicht übersehen können. Speis113

te sich die Theologie des Exodus aus dem Widerstand gegen einen übermächtigen Staat, repräsentiert durch den Pharao, den „König Ägyptens“, so wird mit dem Königtum Davids und Salomos der Jhwh-Glaube in den Dienst der Legitimation staatlicher Herrschaft gestellt. Das konnte nicht unwidersprochen bleiben. Nach dem Tod Salomos kam es zu einem Aufstand gegen seinen Nachfolger Rehabeam. Der Aufstand mag politisch und sozial motiviert gewesen sein. Die Stämme des Nordreiches klagten über eine zu hohe Steuerlast. Der Nachfolger Salomos begab sich zu Verhandlungen in den Norden. Die Älteren in seinem Beraterstab gaben ihm den Rat, auf die Anliegen der Aufständischen einzugehen. Doch der König folgte den Empfehlungen der Jungen und schlug eine harte Gangart ein. Das führte zum Bruch. Der zur Durchsetzung der harten Linie in den Norden entsandte Fronaufseher Adoniram wurde von der aufgebrachten Menge gesteinigt. Die Abspaltung war nicht mehr zu verhindern (1 Kön 12). Jetzt gab es zwei Staaten. Das Südreich Juda hatte mit Jerusalem eine altehrwürdige Hauptstadt, mit dem von Salomo erbauten Tempel ein beeindruckendes Staatsheiligtum und eine stabile Herrscherdynastie. Sollte die Revolution der Nordstämme nicht versanden, musste ihr neu eingesetzter König Jerobeam nachziehen. Ein Staat braucht ein Staatsheiligtum zur Stabilisierung seiner Herrschaft. Doch auf welchen Gott sollte sich das Königtum des Nordreiches berufen, wenn Jhwh bereits der Staatsgott Judas war und wenn die aufständischen Israeliten mit der Parole: „Wir haben keinen Erbbesitz beim Sohne Davids“ (1 Kön 12,16) die Union mit dem Staat Juda aufkündigten? Die Antwort war: Der Gott des Exodus, der Gott, der Israel aus dem Frondienst des Königs von Ägypten befreit hat, er sollte den aus salomonischem Frondienst (vgl. 1 Kön 11,28) befreiten Stämmen des Nordens die theologische Legitimation zur Gründung eines von Juda unabhängigen Staates geben.

Der Gott des Exodus Jerobeam, ein tüchtiger Beamter im Dienst des Königs Salomo, wurde von diesem zum Aufseher über die Fronarbeiten des Hauses Josef eingesetzt. Doch nach einiger Zeit erhob er sich gegen den Kö114

nig, wurde verfolgt und floh nach Ägypten. Nach dem Tod Salomos kommt es unter den Nordstämmen zum Aufstand gegen Rehabeam, den Nachfolger Salomos auf dem Thron Davids. Die Aufständischen verhandeln mit den Vertretern des Königs, doch die Verhandlungen scheitern. Jerobeam hört davon, kehrt aus seinem ägyptischen Exil nach Israel zurück und wird von der Versammlung der Aufständischen zum König „über ganz Israel“ ausgerufen (1 Kön 12,20). Zwischen dem Auszug der Nordstämme aus dem Herrschaftssystem der davidischen Monarchie und der Erzählung vom Auszug Israels aus der Knechtschaft Ägyptens gibt es einige interessante Parallelen. In beiden Geschichten sind unmenschliche Arbeitsbedingungen Auslöser des Konflikts; von Fronarbeit ist die Rede. In beiden Geschichten scheitern die Verhandlungen; das Arbeitssoll wird verschärft. Der Anführer des Aufstandes, eine aus königlichem Hause stammende (Mose) bzw. in königlichem Dienst stehende Persönlichkeit (Jerobeam) muss nach einem ersten, gescheiterten Lösungsversuch in ein anderes Land fliehen, kehrt jedoch nach dem Tod des Königs zu seinen in prekären Arbeitsverhältnissen stehenden Landsleuten zurück. Schließlich gelingt der Auszug aus einem als bedrückend erfahrenen staatlichen Herrschaftssystem. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung ruft der Pharao in seiner Verzweiflung: „Ich muss vor Israel fliehen, denn der Herr kämpft auf ihrer Seite gegen Ägypten“ (Ex 14,25). Auch König Rehabeam von Juda muss vor den aufständischen Israeliten fliehen. Im letzten Moment gelingt es ihm, „den Wagen zu besteigen und nach Jerusalem zu entkommen. So überwarf sich Israel mit dem Haus David bis zum heutigen Tag“ (1 Kön 12,19). Die Parallelen zwischen der Erzählung vom Auszug Israels aus der Knechtschaft Ägyptens und dem Ausstieg der Nordstämme aus dem Herrschaftssystem der davidischen Dynastie dürften kein Zufall sein. Es ist gut vorstellbar, dass die älteste literarische Fassung der Exodus-Erzählung in jenen Kreisen entstand, die in kritischer Distanz zur davidisch-salomonischen Herrschaft und hinter dem Aufstand der Nordstämme gegen den Nachfolger Salomos standen. Rechnet man mit einem historischen Kern des Exodus, so wäre dieser am ehesten in das 13. oder 12. Jahrhundert v. Chr. zu datieren. Zwar gibt es außerhalb der Bibel keine eindeutigen Quellen, die 115

ein solches Ereignis als historisch bezeugen. Dennoch kann die historisch-kritische Forschung zeigen, dass ein hinter dem Exodus stehendes Geschehen historisch durchaus plausibel ist. Vor dem Hintergrund der uns bekannten Geschichte Ägyptens und der politischen und sozialen Verhältnisse im Palästina in der Spätbronzezeit (1550–1150 v. Chr.) und ihrem Übergang zur Frühen Eisenzeit (1250–1000 v. Chr.) ist es sehr gut vorstellbar, dass es einer (kleinen) Gruppe von Halbnomaden, die sich in den Arbeitslagern des Pharaos verdingt hatten, gelang, aus der „Knechtschaft Ägyptens“ zu fliehen. Dabei dürfte sich ihnen in einer dramatischen und lebensgefährlichen Flucht eine Dimension der Wirklichkeit erschlossen haben, in der sie das rettende Handeln ihres Gottes Jhwh erkannten. Diese Schlüsselerfahrung wurde zu einem bleibenden und dynamischen Element ihres Glaubens. Sie entfaltete eine Dynamik, die über viele Generationen hin immer tiefer durchdacht und in den unterschiedlichsten Stunden der Geschichte immer wieder neu ins Wort gefasst wurde.

Goldene Kälber? 12,26 Jerobeam dachte in seinem Herzen: Das Königtum könnte wieder an das Haus David fallen. 27 Wenn dieses Volk hinaufgeht, um im Haus des Herrn in Jerusalem Opfer darzubringen, wird sich sein Herz wieder seinem Herrn, dem König Rehabeam von Juda, zuwenden. Mich werden sie töten und zu Rehabeam, dem König von Juda, zurückkehren. 28 So ging er mit sich zu Rate, ließ zwei goldene Kälber anfertigen und sagte: Ihr seid schon zu viel nach Jerusalem hinaufgezogen. Hier sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten herausgeführt haben. 29 Er stellte das eine Kalb in Bet-El auf, das andere brachte er nach Dan (1 Kön 12,26–29).

Welche religionspolitischen Weichenstellungen wurden von Jerobeam, dem ersten König des Nordreiches Israel, im 10. Jh. v. Chr. vorgenommen? Die uns im Alten Testament zugänglichen Quellen beschreiben und bewerten den Vorgang aus der Sicht des Südreiches einseitig als einen zu verurteilenden Abfall der Nordstämme vom legitimen davidischen Königtum, mehr noch: als einen Abfall von Jhwh. Jerobeam, so erzählt uns das 1. Buch der Könige, habe im Norden und Süden des Landes jeweils ein goldenes Kalb aufstellen und 116

darüber ausrufen lassen: „Hier sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben“ (1 Kön 12,28). Der König selbst habe den Kälbern geopfert und so das ganze Volk zur Sünde des Götzendienstes verführt. So die Deutung der Geschichte. Wie verhält es sich mit den Fakten? Das hinter den goldenen Kälbern stehende religionspolitische Konzept Jerobeams und seiner theologischen Berater war sehr wahrscheinlich folgendes: Der Stier stellte das Postament dar, auf dem Jhwh, der Gott des Exodus, unsichtbar stehend vorgestellt wurde. Das Modell unterscheidet sich also im Grunde kaum vom Kerubenthron im Jerusalemer Tempel. Denn auch dort standen die Keruben nicht für Jhwh, sondern bildeten mit ihren ausgebreiteten Flügeln den Thron, auf dem Jhwh als unsichtbar thronend vorgestellt wurde. Der Stier in Bet-El und Dan war seiner zugrunde liegenden Idee nach also nicht als Gottesbild zu verstehen, sondern als Träger des unsichtbar darauf stehenden Gottes. Doch damals wie heute ist die theologisch korrekte Lehre das eine, die praktizierte Volksfrömmigkeit das andere. In der altorientalischen Ikonographie konnte der Stier verschiedene Götter repräsentieren; in Ugarit den Gott Baal, in Mesopotamien Hadad. In einem Freilichtheiligtum im Bergland von Samaria haben Archäologen eine 13 cm hohe und 18 cm lange Stierfigur aus Bronze gefunden, die aus der Frühen Eisenzeit stammt. Was besagt nun die Deutung der Geschichte, wie sie im ersten Buch der Könige aufgezeichnet wurde? Einerseits hat die deuteronomistische Polemik gegen die „goldenen Kälber“ in Dan und Bet-El den Sachverhalt verzerrt dargestellt. Andererseits zeigt sich in der Polemik ein feines Gespür für die Ambivalenz religiöser Bilder. Bestand nicht die Gefahr, den unsichtbar auf dem Stier thronenden Jhwh mit dem beeindruckenden, für Kraft, Vitalität und Schutz stehenden Tier selbst zu identifizieren? In Num 23,22 wird der Gott des Exodus mit einem Wildstier verglichen: „Gott (El) hat sie aus Ägypten herausgeführt. Er hat Hörner wie ein Wildstier“ (vgl. Num 24,8; Dtn 33,17). Im 8. Jahrhundert klagt der Prophet Hosea an: „Menschen küssen Kälber“ (Hos 13,2). Möglicherweise waren die Stiere in BetEl und Dan in einem offenen Heiligtum aufgestellt und den Kultteilnehmern direkt zugänglich. Vielleicht haben die Gläubigen, um mit der Gottheit in Kontakt zu kommen, den Stier berührt oder ihm 117

bei Prozessionen die Kusshand zugeworfen, so dass man schließlich doch sagen kann, dass Jhwh „in Israel in Form eines Jungstieres dargestellt und verehrt“ wurde (Thomas Römer, Die Erfindung Gottes. Eine Reise zu den Quellen des Monotheismus, Darmstadt 2018, 157) – ob nun im Rahmen der offiziellen Staatsreligion oder der praktizierten Volksfrömmigkeit, sei dahingestellt. Darin zeigt sich dann doch ein bedeutender Unterschied zur Konzeption des Jerusalemer Tempels. Denn dort thronte Gott im Verborgenen, im hintersten Raum des langgestreckten Heiligtums, der für Normalsterbliche nicht einsehbar und nicht zugänglich war. Mit der Reichsteilung und den religionspolitischen Maßnahmen Jerobeams setzte in Israel ein theologisch höchst bedeutungsvoller Diskurs ein. In ihm ging es um die Klärung der Ambivalenz religiöser Bilder. Am Ende dieses Diskurses steht die radikale Verwerfung jeglicher Kultbilder und der strenge Monotheismus, der die Götter und deren Bilder, die in den altorientalischen Religionen weit verbreitet waren, radikal verwirft.

Religiöser Pluralismus Die Jhwh-Religion war in Juda und Israel ab dem 10. Jh. v. Chr. Staatsreligion. Das heißt, dass sich das Selbstverständnis dieser beiden Staaten in einem religiösen Symbolsystem artikulierte, in dem Jhwh als der Gott dieses Staates, als Nationalgott, verehrt wurde. Dabei wurden die Akzente in Juda anders gesetzt als im Nordreich. In Jerusalem und Juda war die Theologie des im Heiligtum auf dem Zion thronenden und dem davidischen Königtum Bestand verleihenden Gottes prägend, im Nordreich die Theologie des Exodus-Gottes, der sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreit hat. Diese Form der Religion war noch kein Monotheismus. Auch ist es noch zu früh, von Monolatrie in dem Sinne zu sprechen, dass die Verehrung anderer Götter in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens emphatisch ausgeschlossen wurde. Dass andere Staaten ihre Nationalgötter haben und diese auch anzuerkennen sind, wenn man mit diesen Staaten in einen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch tritt, gehörte zum aufgeklärten kulturellen Wissen der damaligen Zeit. Diese Religionen waren nicht aus sich heraus intolerant. 118

Das dem aufgeklärten Preußenkönig Friedrich dem Großen zugeschriebene Wort: „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ findet sich – auf die einzelnen Nationen bezogen – bereits im Buch des Propheten Micha: „Auch wenn alle Völker ihren Weg gehen, ein jedes im Namen seines Gottes, so gehen wir schon jetzt im Namen Jhwhs, unseres Gottes, für immer und ewig“ (Mi 4,5). Vorstellungen von Zwangsbekehrungen oder aggressiven Missionierungen sind dieser Welt fremd. Der Alttestamentler Rainer Albertz spricht von einem diplomatischen Synkretismus. Dieser „zeigt sich besonders in den antiken Staatsverträgen, in denen die Götter beider Vertragspartner beschworen und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ihn theologisch zu ermöglichen, ist eine der Stärken des Polytheismus“ (Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 1, Göttingen 1992, 228, Anm. 1). Dennoch stellten sich bei diesem Nebeneinander den theologisch Nachdenklichen in Israel und Juda Fragen. Führt der Kontakt mit anderen Staaten und Kulturen und die damit einhergehende implizite Anerkennung anderer Gottheiten nicht zu einem Verrat am Alleinverehrungsanspruch Jhwhs? Die Frage verschärfte sich im 8. und 7. Jahrhundert, als Israel und Juda unter den politischen und kulturellen Druck der Großmächte Assyrien und Babylonien gerieten. Ist Jhwh allein der Gott Israels oder ist er nicht auch der Gott der ganzen Welt, der die Geschichte aller Völker lenkt und der auch von ihnen als der allein wahre Gott anerkannt werden will? Diese Denkform mag uns heute fremd erscheinen, weil wir Religion weitgehend zu einer privaten Angelegenheit erklärt haben. Doch von ihrer Struktur her ist sie in den gesellschaftlichen und politischen Debatten unserer Tage sehr wohl präsent. Darf ein Staat, der für sich beansprucht, ein Rechtsstaat zu sein, und der die Beachtung der allgemeinen Menschenrechte zum Kern seines Selbstverständnisses macht und der davon überzeugt ist, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit keine kulturellen Eigenarten sind, sondern einen universalen Geltungsanspruch erheben, – darf ein solcher Rechtsstaat mit Staaten Kontakt aufnehmen, die in seinen Augen diese Prinzipien nicht anerkennen? Darf ein Rechtsstaat mit einem sogenannten „Schurkenstaat“ Verträge schließen? Darf Israel mit Völkern einen Vertrag schließen, die „Abscheuliches tun“? Das Bünd119

nisverbot im Buch Exodus zielt darauf ab, Israels Identität durch Abgrenzung zu bewahren: „Hüte dich, einen Bund mit den Bewohnern des Landes zu schließen!“ (Ex 34,15). Damit steht die in jüngster Zeit viel diskutierte Frage im Raum: Ist der biblische Monotheismus intolerant? Neigt er aus sich selbst heraus gar zur Gewalttätigkeit, wenn im Buch Exodus Israel aufgefordert wird, die Altäre der Landesbewohner niederzureißen und ihre Kultgegenstände zu zerstören? (Ex 34,13).

Staatsreligion und familiäre Frömmigkeit Eine Religion weist gewöhnlich unterschiedliche Ebenen auf. Bisher haben wir uns weitgehend mit der offiziellen, staatlichen Ebene der Jhwh-Religion befasst. Unterhalb der Ebene der offiziellen Nationalreligion gibt es den Bereich der familiären und persönlichen Frömmigkeit. Wenn im Kult des Jerusalemer Tempels Jhwh als Gott der davidischen Dynastie verehrt wird, bedeutet das nicht ohne weiteres, dass in den Dörfern und Städten des offenen Landes im Rahmen des familiären Hauskultes und der persönlichen Frömmigkeit nicht auch andere Götter verehrt wurden. Die Vielfalt religiöser Praxis auf den verschiedenen Ebenen innerhalb einer Religion bezeichnen wir als religionsinternen Pluralismus. In der Geschichte Israels lässt sich beobachten, wie sich prophetische und theologische Kreise darum bemühten, die familiäre und persönliche Frömmigkeit mit der staatlich-gesellschaftlichen Ebene religiöser Theorie und Praxis so zu vermitteln, dass ein in sich stimmiges Sinngefüge entstand, das in Zeiten der Krise standhält. Für das Überleben des Jhwh-Glaubens war dies von ausschlaggebender Bedeutung. Hätte sich die religiöse Praxis allein auf staatlicher Ebene vollzogen, wäre sie mit dem Ende der beiden Staaten Israel und Juda im 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. verschwunden. Die großen und beeindruckenden politischen Religionen der Alten Welt, die der Ägypter, der Assyrer, der Babylonier und der Perser sind mit ihren Staaten und Tempeln untergegangen. Anders der Jhwh-Glaube. Er konnte sich nach dem Untergang des Staates Juda im 6. Jahrhundert v. Chr. im Exil behaupten, da er inzwischen auch auf der Ebene der familiären und persönlichen Frömmigkeit stark geworden war. 120

Dass die Bewohner des Nordreiches Israel, die nach dem Untergang ihres Staates im 8. Jahrhundert v. Chr. von den Assyrern deportiert wurden, ihren Glauben in der Fremde nicht bewahrt haben, dürfte unter anderem damit zusammenhängen, dass die Ebene der familiären und persönlichen Frömmigkeit zu jener Zeit noch zu diffus und noch zu wenig im Sinne des Jhwh-Glaubens durchformt war. Die „verlorenen Stämme Israels“ sind den Assimilationstod gestorben. Die hinter dem Buch Deuteronomium stehenden Theologen haben die Gefahr erkannt. Sie starteten nach dem Untergang des Nordreiches im 7. Jh. v. Chr. ein groß angelegtes Reformprogramm für das Südreich Juda. Dabei ging es um eine sowohl intellektuelle als auch emotionale Vertiefung und Aneignung einer von fremden Elementen gereinigten Jhwh-Religion. Mit ihrer theologischen Arbeit schufen sie die Voraussetzungen dafür, dass sich der Jhwh-Glaube der Judäer nach dem Verlust des Landes, dem Zusammenbruch des Staates und der Zerstörung des Tempels im 6. Jahrhundert in der Fremde, an „den Strömen Babylons“ (Ps 137,1), nicht auflöste. Von großer Bedeutung für das Verständnis des biblisch bezeugten Glaubens ist die Tatsache, dass der Anfang der Religionsgeschichte Israels in eine vor-staatliche Zeit verlegt wird. Im ersten Buch des Alten Testaments, dem Buch Genesis, vollzieht sich die Glaubenspraxis auf der Ebene von Familien. Die Geschichte des Glaubens beginnt hier nicht, wie in vielen altorientalischen Religionen, mit der Gründung eines Staates und der Errichtung eines Staatsheiligtums, sondern mit der Berufung Abrahams und der Gründung einer Familie. In Ägypten wird die Familie Jakobs zum Volk Israel. In der Tora, den fünf Büchern Mose, wird die Ursprungsgeschichte des Gottesvolkes als eine Geschichte ohne Staat erzählt. Theologisch bedeutet dies, dass die Identität Israels nicht an die Existenz eines (jüdischen) Staates gebunden ist. In dieser Tradition steht auch der christliche Glaube. Auch er hat gelernt, dass er überleben kann, wenn es keinen christlichen Staat mehr gibt, weil auch seine Ursprungsgeschichte nicht mit der Gründung eines Staates zusammenfällt. Zwar ist Jesus ein König, doch sein Königtum ist nicht „von dieser Welt“ (Joh 18,36).

121

Hauskulte Was lässt sich über die Religion in den Dörfern und Städten Palästinas abseits Jerusalems im 10. Jahrhundert v. Chr. sagen? Zunächst einmal fällt auf, dass es in den früheisenzeitlichen Städten keine Tempelanlagen mehr gab. Darin unterscheidet sich die Frühe Eisenzeit deutlich von der vorangehenden Späten Bronzezeit (1550–1150 v. Chr.). Diese tiefgreifende Veränderung hängt mit dem Übergang von einem Verbund selbständiger Stadtstaaten zu einem Flächenstaat unter David und Salomo zusammen. Der von staatlicher Seite geförderte Tempelbau konzentrierte sich auf ein einziges Heiligtum in der Hauptstadt (Jerusalem) oder auf einige wenige Nationalheiligtümer, wie es nach der Reichsteilung im Nordreich Israel in den Städten Bet-El und vielleicht in Dan und später in der Hauptstadt Samaria der Fall gewesen sein dürfte. Damit wurde eine Tendenz zur Konzentration auf eine einzige Gottheit politisch grundgelegt. Die religiöse Praxis in den Dörfern und Städten auf dem Land war dabei allerdings noch nicht mit eingebunden. Sie entzog sich weitgehend einer staatlichen Kontrolle. Mit Hilfe der Archäologie und einiger Hinweise im Alten Testament können wir uns ein ungefähres Bild von der Religion der Judäer und Israeliten ab dem 10. Jahrhundert v. Chr. machen. Dabei steht die Forschung vor der Herausforderung, die archäologischen Daten zu deuten und sie mit den biblischen Texten so zu vermitteln, dass ein einigermaßen stimmiges Bild entsteht. Die Alttestamentler und Religionswissenschaftler Othmar Keel und Christoph Uehlinger sprechen hinsichtlich des 10. Jh. v. Chr. von einer nur noch gebrochenen Kontinuität zur religiösen Tradition der vorangehenden Späten Bronzezeit (Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Freiburg i. Br. 62010, § 81). Die Veränderungen, die sie aufgrund der Kleinfunde aus dieser Zeit beobachten, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Zahl anthropomorpher, also menschengestaltiger Götterdarstellungen nimmt ab. Besonders auffallend ist der Rückgang weiblicher Gottheiten. In der Glyptik (Steinschneidekunst) tritt die Göttin hinter ihr Symbol, den stilisierten Baum, zurück. Auch in Begleitung von Muttertieren nimmt sie keine dominante Stellung mehr ein. Die beiden Forscher sprechen von einem

122

„weitergehenden Statusverlust der Göttin. Nackte Göttinnen geraten in Israel zunehmend außer Kurs“ (ebd. § 111). Auch männliche Gottheiten werden in wachsendem Maße nicht mehr anthropomorph, sondern in Gestalt der sie begleitenden Tiere wie Stier, Löwe und Skorpion, dargestellt. Die „goldenen Kälber“, die König Jerobeam aufstellen ließ, fügen sich in diese Entwicklung ein. Keel und Uehlinger deuten diese Tendenz im Sinne einer Auslagerung der Gottheiten in die himmlische Sphäre. Diese werden „durch die Darstellung vermittelnder Wirkgrößen aus dem irdischen Erfahrungsbereich ersetzt, in denen das Wirken der fernen Gottheiten erfahrbar war: Bäume, Pflanzen, Tiere und deren Fortpflanzung und Gedeihen, Größen, die dann ihrerseits zum Gegenstand der respektvollen Verehrung werden können“ (ebd. § 109). An die Stelle der spätbronzezeitlichen städtischen Tempelanlagen tritt der häusliche Kult. In Taanach, einer Stadt im Norden des Landes, wurden zwei Kultständer gefunden. Deren Dekoration deutet darauf hin, dass sie in einem Hauskult Verwendung fanden, der der Göttin Aschera gegolten haben könnte. Unter den Kleinterrakotten des 10. und 9. Jahrhunderts v. Chr. fällt eine Gruppe von weiblichen Figuren auf, die vor ihrem Oberkörper eine runde Scheibe halten. Sie dürften nicht eine Göttin, sondern Kultteilnehmerinnen darstellen, die die Handtrommel schlagen. Biblische Texte bezeugen, dass vor allem Mädchen und Frauen bei Siegesfeiern die Handtrommel schlugen: „Die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm die Handtrommel in ihre Hand und alle Frauen zogen mit Trommeln und Tanz hinter ihr her. Mirjam sang vor ihnen: Singt dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben! Ross und Reiter warf er ins Meer“ (Ex 15,20; vgl. Ri 11,34; 1 Sam 18,6 u. a.).

Löwen, Stiere, Dämonen Wie hat man sich die religiöse Lebenswelt in Juda und Israel im 9. und 8. Jahrhundert v. Chr. vor allem außerhalb der beiden Hauptstädte vorzustellen? Wie lässt sie sich anhand archäologischer Funde rekonstruieren? Für die gesamte Region blieb Ägypten der kulturelle Bezugspunkt. Vor allem im Südreich lebten aufgrund seiner abgegrenzten Lage lokale Traditionen fort. Im Nordreich hingegen lassen 123

sich Einflüsse aus dem Kunsthandwerk der phönizischen Küstenstädte beobachten. Unter den Tierdarstellungen in der Kleinkunst finden sich Strauße, Ziegen, Hirsche, Löwen und Stiere. Sie treten vermehrt als Einzelgestalten auf und nur noch selten in menschlicher oder menschenähnlicher Begleitung. Die sakrale Aura, die in der mittleren und späten Bronzezeit durch den heiligen Baum und andere Motive markiert wurde, tritt zurück. Es finden sich kaum noch Motive, die auf eine weibliche Gottheit verweisen. In einer Reihe von Namenssiegeln begegnet eine Hirschkuh, die umherzieht und nach Wasser und Futter sucht. Sie erinnert an Ps 42,2: „Wie eine Hindin lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.“ Der Löwe tritt in der Bildkunst dieser Zeit vor allem als Wächtertier auf. Einer bestimmten Gottheit kann er nicht mehr zugeordnet werden. Möglicherweise hatten die Betten und Diwane der damaligen Oberschicht löwengestaltige Füße und Lehnen, wie sie uns aus einem Relief des Assyrerkönigs Assurbanipal bekannt sind. In der Gerichtsankündigung der Propheten des 8. Jahrhunderts kann Jhwh als Löwe seinem Volk lebensgefährlich nahe kommen: „Ich bin für Efraim wie ein Löwe, wie ein junger Löwe für das Haus Juda. Ich bin es, der reißt und weggeht; ich trage fort – und da ist niemand, der mir etwas entreißen kann“, sagt Jhwh durch den Mund des Propheten Hosea (Hos 5,14). Die luxuriösen Löwendekorationen werden zu Bildern des Unheils, wie der Prophet Amos der feinen Gesellschaft in der Hauptstadt des Nordreiches im Namen Jhwhs androht: „So spricht der Herr: Wie ein Hirt aus dem Rachen des Löwen nur noch zwei Wadenknochen rettet oder den Zipfel eines Ohres, so werden Israels Söhne gerettet, die in Samaria auf ihrem Diwan sitzen und auf ihren Polstern aus Damast“ (Am 3,12). In einem Grab aus dem 9. Jahrhundert wurden Ritzzeichnungen von Löwendämonen gefunden; sie schauen in den Eingang des Grabes, wohl um die Lebenden vor den Geistern der Verstorbenen zu schützen. In einer ausweglosen Lage lässt König Saul mit Hilfe einer Totenbeschwörerin den Geist des toten Propheten Samuel aus dem Erdreich emporsteigen. Doch auch dieser kann ihm nur noch den bevorstehenden Untergang verkünden, woraufhin Saul „der Länge nach zu Boden stürzt“ (1 Sam 28,20). Im Nachtgebet der Kirche ergeht die Mahnung: „Seid nüchtern und wachsam! Euer Widersacher, 124

der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe umher und sucht, wen er verschlingen kann. Leistet ihm Widerstand in der Kraft des Glaubens!“ (1 Petr. 5,8f). Der Psalmist verspricht denen, die beim Herrn ihre Zuflucht suchen: „Dir begegnet kein Unheil, deinem Zelt naht keine Plage. Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt. Du schreitest über Löwen und Nattern, trittst auf junge Löwen und Drachen“ (Ps 91,10–13). Die „goldenen Stiere“, die König Jerobeam in Bet-El und Dan aufstellen ließ, könnten die Vermutung aufkommen lassen, dass Stiere in der religiösen Lebenswelt des 10. und 9. Jahrhunderts eine beherrschende Rolle spielten. In der israelitischen Kleinkunst dieser Zeit tauchen sie jedoch nur sehr vereinzelt auf. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass Jerobeam mit seinen religionspolitischen Maßnahmen auf eine alte religiöse Tradition des Ortes Bet-El zurückgegriffen hat. Dort sah in einem nächtlichen Traum der Patriarch Jakob auf seiner Flucht vor seinem Bruder Esau „eine Treppe, die bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.“ Als er aus seinem Schlaf erwachte, wurde ihm klar: „Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. […] Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort. Es ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels.“ Dann nannte er den Namen des Ortes Bet-El („Haus Gottes“) (Gen 28,12–19).

Jhwh und seine Aschera Im Jahre 1975 machten Archäologen der Universität Tel Aviv im nördlichen Teil des Sinai eine aufregende Entdeckung. Unter den Überresten einer Karawanenstation aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. fanden sie bemalte Vorratskrüge mit Inschriften. Zwei der Inschriften lauteten: „Ich segne euch bei Jhwh von Samaria und seiner Aschera“ und „Ich segne dich bei Jhwh von Teman und seiner Aschera“. Sind diese Inschriften ein Hinweis darauf, dass der Gott Jhwh ursprünglich eine göttliche Partnerin, eine sogenannte Paredros, an seiner Seite hatte? Begegnen wir hier einem Götterpaar in geschlechtergerechter Konstellation von männlicher und weiblicher Gottheit? Aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. wird uns eine Episode erzählt, bei der König Asa 125

von Juda seine Großmutter Maacha degradierte, „weil sie der Aschera ein Schandbild errichtet hatte“ (1 Kön 15,13). Die Bezeichnung als „Schandbild“ oder gar „Schockbild“ stellt eine gezielte Abwertung des deuteronomistischen Geschichtsschreibers dar. War der Kult der Aschera besonders bei Frauen beliebt? Hat das Deuteronomium in seinem Kampf um die Einheit und Reinheit des Jhwh-Glaubens im 7. Jahrhundert v. Chr. die Göttin aus dem religiösen Symbolsystem Israels verbannt, so dass wir uns heute mit einem rein männlich konnotierten Gottesbild begnügen müssen? Aschera begegnet uns im Alten Testament sowohl als Göttin als auch in der Gestalt eines stilisierten Baumes, der die Göttin repräsentiert. Im Deuteronomium fordert Mose Israel auf, beim Einzug in das verheißene Land derartige Kultpfähle umzuhauen: „Ihre Altäre sollt ihr niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle (ihre Ascheren) umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen“ (Dtn 7,5). Jhwh darf nicht zusammen mit Aschera verehrt werden: „Du sollst neben dem Altar des Herrn, deines Gottes, den du dir baust, keinen Kultpfahl (keine Aschera), keinerlei Holz einpflanzen“ (Dtn 16,21). Doch hat Israel sich an die Worte des Propheten gehalten? Von König Manasse im 7. Jahrhundert v. Chr. wird berichtet, dass er ein Bild der Aschera anfertigen und im Tempel zu Jerusalem aufstellen ließ (2 Kön 21,7). Einige Jahrzehnte später ließ König Joschija im Rahmen einer groß angelegten Reform „alle Gegenstände aus dem Tempel des Herrn hinausschaffen, die für den Baal, die Aschera und das ganze Heer des Himmels angefertigt worden waren“ (2 Kön 23,4). Der Prophet Jeremia beklagt die Verehrung einer Himmelskönigin. Sie scheint besonders bei Frauen beliebt gewesen zu sein: „Die Kinder sammeln Holz, die Väter zünden das Feuer an und die Frauen kneten den Teig, um Opferkuchen für die Himmelskönigin zu backen“ (Jer 7,18; vgl. 44,19). Darüber wird der Zorn Jhwhs entbrennen. Im 5. Jahrhundert v. Chr. sieht der Prophet Sacharja in einer Vision ein Fass. Der Deckel des Fasses hebt sich und mitten im Fass sitzt eine Frau. Ein Engel warnt ihn: „Das ist die Bosheit (ha-rischa). Darauf stößt er sie in das Fass zurück und verschließt es mit einer Bleiplatte“ (Sach 5,8). Zwei Frauen werden vom Wind durch die Lüfte getragen und bringen das Fass mit Frau Bosheit weit weg ins Land Schinar, das ist: Babylon. Die exegetische Forschung ist sich weitgehend darin einig, 126

dass die Frau im Fass das Bild einer Göttin war, vielleicht das Bild der Aschera. Wie sind die hier in Auswahl präsentierten Texte aus verschiedenen Jahrhunderten zu deuten? Und was sagt uns die Archäologie? War der Jhwh-Glaube vielleicht doch von seinem Ursprung her ein Glaube, in dem neben Jhwh eine Göttin verehrt wurde? Oder drangen mit der Verehrung der Göttin erst in späterer Zeit fremde Elemente in den Jhwh-Glauben ein, die im Rahmen groß angelegter Reformprojekte wieder beseitigt werden mussten? Wie ist dieser Prozess theologisch zu deuten? Stehen wir mit der Verbannung der Göttin aus dem religiösen Symbolsystem Israels vor den verheerenden Folgen einer in der jüdischen und christlichen Tradition bis heute als problematisch empfundenen Verdrängung spezifisch weiblicher Gotteserfahrungen? Oder ist der Verlust der Göttin ein Gewinn, der uns in die ganze Wahrheit führt?

Aschera – eine Göttin? Was sagen uns die Inschriften, die im Jahre 1975 in Kuntillet Adschrud, einem Ruinenhügel im nördlichen Sinai, gefunden wurden, über das Verhältnis von Jhwh und Aschera? Aus Texten der im Nordwesten Syriens gelegenen Hafenstadt Ugarit, die dem 14. Jahrhundert v. Chr. entstammen, ist uns bekannt, dass dem Gott El die Göttin Aschera und dem Gott Baal die Göttin Anat zur Seite standen. Dass Jhwh in einer frühen Phase seiner Geschichte mit dem Gott El identifiziert wurde, ist in der Wissenschaft weitgehend anerkannt. Der Name „Isra-el“ erinnert noch von Ferne daran. Hat Jhwh im Prozess der Identifikation mit El auch die Gemahlin dieses Gottes als die seinige mit übernommen, wenn es in einer der Inschriften von Kuntillet Adschrud heißt: „Ich segne euch von / bei Jhwh von Samaria und von / bei seiner Aschera“? Diese Frage wird in der Wissenschaft sehr kontrovers diskutiert. Dabei schälen sich zwei Positionen heraus. Die eine sieht in Aschera eine eigenständige Göttin neben Jhwh und findet in der Inschrift einen Beleg dafür, dass in der frühen und mittleren Königszeit (9. bis 7. Jh.) neben Jhwh eine weitere Göttin verehrt wurde und die Jhwh-Religion in dieser Zeit im Grunde polytheistisch war. Eine andere Deutung versteht Aschera in der genannten 127

Inschrift als ein Kultssymbol, durch das Jhwh seinen Segen spendet. Für diese Deutung spricht ein Bild, das sich auf dem Krug mit der oben genannten Inschrift findet. Es zeigt einen stilisierten Baum mit Lotusblüten, an denen aufgerichtete Ziegen oder Steinböcke (Capriden) fressen. Der Baum steht auf einem schreitenden Löwen als Trägertier und dürfte Aschera symbolisieren. In der Inschrift ist eindeutig Jhwh derjenige, von dem der Segen erbeten wird. Aschera ist die Mittlerin seines Segens. Die Frage wird diskutiert, inwieweit in diesem Kultsymbol, durch das Jhwh segnet, die Göttin Aschera durchscheint. Hier gehen einige Deutungen mehr in die Richtung einer personalisierten Göttin, andere mehr in die Richtung eines Kultobjekts. Als eigenständig handelnde Göttin neben Jhwh jedenfalls ist sie auf der Inschrift nicht zu verstehen. Auch wenn sie als Göttin verstanden wird, so ist sie Jhwh doch untergeordnet. Die Inschrift hat in der Forschung erneut die Frage nach einer Göttinnenverehrung im vorexilischen Israel aufgeworfen. Eine Reihe von alttestamentlichen Texten weist darauf hin, dass dies tatsächlich der Fall war. Eine Aschera stand im Heiligtum von Samaria (1 Kön 16,33; 2 Kön 13,6), in Bet-El (2 Kön 23,15) und sogar im Tempel zu Jerusalem. König Manasse (696–642 v. Chr.) hatte sie dort aufstellen lassen (2 Kön 21,7). Aschera hatte also ihre Verehrerinnen und Verehrer in Israel und Juda (vgl. 1 Kön 15,13). Klar ist aber auch, dass sie sich innerhalb der Jhwh-Religion auf Dauer nicht halten konnte. Im Rahmen einer groß angelegten Kultreform ließ König Joschija im Jahre 622 v. Chr. die Kultstatue der Aschera aus dem Jerusalemer Tempel entfernen und im Kidrontal verbrennen (2 Kön 23,6). Zur gleichen Zeit verbietet das deuteronomische Gesetz ausdrücklich: „Du sollst neben dem Altar des Herrn, deines Gottes, den du dir baust, keine Aschera, keinerlei Holz einpflanzen“ (Dtn 16,21). Die deuteronomistischen Geschichtsschreiber sahen im Abfall zu anderen Göttern den Grund für den Untergang des Nordreiches: „Sie liefen nichtigen Göttern nach und wurden selbst zunichte. Sie ahmten die Völker ihrer Umgebung nach, obwohl der Herr verboten hatte, ihrem Beispiel zu folgen. Sie übertraten alle Gebote des Herrn, ihres Gottes, schufen sich Gussbilder, zwei Kälber, stellten einen Kultpfahl (Aschera) auf, beteten das ganze Heer des Himmels an und dienten dem Baal“ (2 Kön 17,15f). 128

Aus Sicht feministischer Theologie wird die Frage gestellt, ob mit der Verdrängung weiblicher Gottheiten aus dem religiösen Symbolsystem Israels nicht zugleich eine Verdrängung weiblicher Lebenswirklichkeiten einherging, die dazu geführt hat, dass die biblisch bezeugte Religion zu einer vor allem von Männern beherrschten Religion wurde. Ist das der Preis des Monotheismus? Andererseits ist zu bedenken, ob nicht gerade mit der Zurückdrängung weiblicher Gottheiten eine Desexualisierung der Gottheit einherging, da diese aus einer männlich-weiblichen Paarkonstellation herausgenommen wird. Der Vorgang ist vergleichbar mit der Erschaffung Adams, des ersten Menschen. Erst durch die Erschaffung der Frau (ischah) wird dieser zum Mann (isch). Dem ersten aus Mann und Frau bestehenden Menschenpaar (Gen 2,21–24) geht Adam, der erste, geschlechtlich noch nicht differenzierte Mensch voraus; Adam heißt in Gen 2,7 Mensch (Lateinisch: homo), nicht Mann.

Trügerisches Gottvertrauen In einer Gerichtsbotschaft beklagt der Prophet Jeremia gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. schweres religiöses Fehlverhalten. Es begegnet auf den zwei uns bereits bekannten Ebenen der Religion. Auf der Ebene des offiziellen Staatskultes beklagt der Prophet ein falsches Gottvertrauen. Interessant ist, dass es dabei nicht um die Verehrung anderer Götter geht. Zumindest steht das nicht im Vordergrund der Anklage. Offensichtlich kann ein Vertrauen, dass sich allein auf Jhwh und seine Gegenwart richtet, trügerisch sein. Wie ist das möglich? Der Tempel in Jerusalem war das Realsymbol des Jhwh-Glaubens. Der theologische Kerngedanke, der sich damit verband, lautete: Der Tempel ist „des Höchsten heilige Wohnung“ (Ps 46,5). Jerusalem wird damit zur „Stadt Gottes“: „Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken. Gott hilft ihr, wenn der Morgen anbricht“ (Ps 46,6). Der Prophet Jeremia deckt auf, dass es sich um ein trügerisches Vertrauen handelt: „Vertraut nicht auf die trügerischen Worte: Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist dies!“ (Jer 7,4). In den dramatischen Auseinandersetzungen in den Jahren um 600 v. Chr. setzte die politische Führungsschicht offensichtlich 129

auch auf den religiösen Faktor. Sie tritt vor Gottes Angesicht „in diesem Haus“ und sagt: „Wir sind geborgen!“ (Jer 7,10). Im Jahre 701 v. Chr., als Jerusalem von den Assyrern belagert wurde, hatte sich dieses Vertrauen bewährt, so die Deutung einflussreicher Theologen (dazu ausführlicher weiter unten: VIII. Die Rettung Jerusalems im Jahre 701 v. Chr.). Das religiöse Fundament des Staates hatte sich in der Krise als stabil erwiesen: „Wie wir es gehört, so haben wir es gesehen in der Stadt des Herrn der Heerscharen, der Stadt unseres Gottes. Gott macht sie fest auf ewig“ (Ps 48,9). Der Prophet Jeremia deckt nun ein Gottvertrauen auf, das trügerisch ist. Er bindet die Gegenwart Gottes an ein ihr entsprechendes sittliches Verhalten: „Bessert euer Verhalten und euer Tun, dann will ich bei euch wohnen hier an diesem Ort!“ (Jer 7,3; dazu ausführlicher weiter unten: XI. Der Untergang des Staates Juda [587 v. Chr.]). Auf der Ebene der familiären Frömmigkeit liegen die Dinge anders. Hier richtete man sein Vertrauen auf eine Himmelskönigin. Die ganze Familie ist daran beteiligt, Väter, Mütter und ihre Kinder: „Die Kinder sammeln Holz, die Väter zünden das Feuer an und die Frauen kneten den Teig, um Opferkuchen für die Himmelskönigin zu backen“ (Jer 7,18). Was es mit dieser Himmelskönigin (regina caeli) auf sich hat, wird uns später noch beschäftigen, wenn wir uns mit der Verehrung der Gestirnsgottheiten und dem Wiederaufleben der Göttin im 7. Jahrhundert befassen werden (siehe IX. Juda unter der Herrschaft Assurs). An dieser Stelle soll auf ein anderes Problem aufmerksam gemacht werden: Ist die Verbannung der Göttin ein Verlust oder ein Gewinn? Die Argumentation des Propheten lautet: Mit der Verehrung der Himmelsgöttin schaden sie nicht Jhwh, sondern sich selbst: „Aber tun sie wirklich mir weh – Spruch des Herrn – und nicht vielmehr sich selbst, zu ihrer eigenen Schande?“ (Jer 7,19). Mit dieser Begründung wird ein hoher Anspruch erhoben. Im Klartext heißt das: Wer sich anderen Göttern zuwendet, richtet sich selbst zugrunde. Doch die Familien wehren sich und argumentieren genau andersherum: „Wir werden der Himmelskönigin Räucheropfer darbringen und ihr werden wir Trankopfer ausgießen, wie wir, unsere Väter, unsere Könige und unsere Großen in den Städten Judas und in den Straßen Jerusalems es getan haben. Damals hatten wir Brot genug; es ging 130

uns gut und wir haben kein Unheil gesehen. Seit wir aber aufgehört haben, der Himmelskönigin Räucheropfer darzubringen und ihr Trankopfer auszugießen, fehlt es uns an allem und wir kommen durch Schwert und Hunger um“ (Jer 44,17–18). Hier steht Aussage gegen Aussage, Erfahrung gegen Erfahrung. Wie lässt sich eine begründete Entscheidung treffen? Hat sich in der Bibel der Monotheismus allein mit Hilfe der Macht durchgesetzt, wie einige behaupten, oder war es der zwanglose Zwang des besseren Arguments?

Baal Der biblische Ein-Gott-Glaube ist nicht vom Himmel gefallen. Zwar trägt der Jhwh-Glaube in seiner ältesten Gestalt bereits den Keim eines universalen Geltungsanspruchs in sich, doch es dauerte einige Jahrhunderte, bis dieser erkannt und verstanden wurde, bis er zur Entfaltung kam und sich behaupten konnte. Es war ein dramatischer Prozess von Integration und Abgrenzung, von Übernahme und Verwerfung. Was ist mit den anderen Göttern und ihren Kompetenzen? Sollen sie unbeachtet bleiben oder gar verworfen werden? Lassen sie sich friedlich-schiedlich Jhwh an die Seite stellen? Oder empfiehlt sich eine freundliche Übernahme in dem Sinne, dass man den Göttern die ihnen zugesprochenen Kompetenzen abspricht und sie Jhwh zuspricht und so den Kompetenzbereich des Wüsten- und Sturmgottes nach und nach erweitert? Das waren tiefgreifende geistige, politische und theologische Auseinandersetzungen, die sich über einen Zeitraum vom 10. bis zum 6. Jh. hin erstreckten und die auch in der Zeit danach immer wieder aufflackerten, bis sich der strenge Monotheismus weitgehend durchsetzen konnte. Eine bedeutende Phase in diesem Prozess war die Auseinandersetzung mit der Verehrung des Gottes Baal. Dieser ist uns aus dem Pantheon Ugarits bekannt als junger, dynamischer Gott des Wetters, des Regens und der Fruchtbarkeit. Im siegreichen Kampf gegen Mot, den Gott des Todes, erwies sich Baal als ein Gott des Lebens. Ihm stand die Göttin Anat zur Seite. In den verschiedenen Regionen der Levante war Baal in jeweils landestypischer Ausprägung bekannt. Das dürfte auch in Israel so gewesen sein. Aus dem 10. Jh. v. Chr. 131

sind uns baalhaltige Namen überliefert. Ein Sohn Sauls, der sich anschickte, seinem Vater als König nachzufolgen, hieß Ischbaal, das heißt übersetzt: „Mann des Baal“. Ein Sohn Jonatans, des Sohnes Sauls, hieß Merib-Baal, das heißt übersetzt: „Baal möge streiten“ (2 Sam 9,1–13). Wir finden in der Bibel noch keine Hinweise darauf, dass es im 10. Jh. v. Chr. zu Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Baals und Jhwhs gekommen wäre. Offensichtlich lebten beide friedlich-schiedlich nebeneinander oder wurden gar miteinander identifiziert. Das sollte sich im 9. Jh. v. Chr. ändern. Inzwischen hatte sich der Nordstaat Israel nach einer anfänglich turbulenten Entwicklung unter König Omri (881–870) konsolidiert. Als neue Hauptstadt wurde Samaria ausgebaut. Mit der Stabilisierung des Staates ging eine wirtschaftliche und kulturelle Öffnung zu den phönizischen Küstenstädten einher. Sie wurde von einer entsprechenden Heiratspolitik flankiert. Ahab (870–851), der Sohn und Nachfolger Omris, bekam eine phönizische Prinzessin namens Isebel zur Frau. Möglicherweise brachte sie ihre eigenen religiösen Traditionen mit in die Ehe. Sie sei, so erzählen uns die Bücher der Könige, eine entschiedene Förderin der Baal-Propheten gewesen und habe im Gegenzug die Propheten Jhwhs blutig verfolgt (1 Kön 18,4.19). Ihr Mann, König Ahab, ließ in der Hauptstadt einen Tempel und einen Altar für Baal errichten (1 Kön 16,31–33). Dagegen erhob sich Widerstand. Wir begegnen nun erstmals einer gesellschaftlichen Gruppe, die einen wesentlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Religion Israels nehmen sollte: den oppositionellen Propheten. Die Propheten, die wir bisher kennengelernt haben, wie Natan und Gad, standen in enger Verbindung mit dem Königtum. Sie waren in Bereichen tätig, die wir heute als Politikberatung bezeichnen würden. Auch sie konnten dem König durchaus einmal entgegentreten, doch alles in allem bestand ihre Aufgabe darin, das politische System durch ihre prophetischen Ankündigungen zu stabilisieren. Im 9. Jh. v. Chr. taucht nun ein neuer Typ von Propheten auf, zunächst im Nordreich, später auch im Südreich. Sie hatten ihr Handwerk nicht in der Diplomatenschule des Hofes gelernt, sondern in religiösen Kreisen außerhalb der Hauptstadt, die sich in kleinen Gruppen versammelten und unter der Leitung eines „Vaters“ (Ab) standen. Vater einer solchen Prophetenschule war Elija. 132

Er schickte sich an, den offensichtlich unvermeidbaren Konflikt anzugehen.

Elijas Kampf: Jhwh oder Baal? Die Jhwh-Religion durchlebte immer wieder Phasen der Krise. Viele Erzählungen des Alten Testaments veranschaulichen und verdichten derartige Erfahrungen. Sie arbeiten mit dem Stilmittel der Zuspitzung, der Veranschaulichung, der Personalisierung. Diese Merkmale prägen auch die bekannte Erzählung vom Gottesurteil auf dem Karmel; die Geschichte im ersten Buch der Könige (Kap. 17) ist legendarisch überformt. Das heißt aber nicht, dass sie eine reine Erfindung späterer Jahrhunderte wäre. Vieles spricht dafür, dass der Jhwh-Glaube im 9. und 8. Jahrhundert vor allem im Nordreich in einen krisenhaften Klärungsprozess eintrat. Dabei ging es um die Frage, wie das Verhältnis zwischen Jhwh und dem Gott Baal zu bestimmen sei. Um den Konflikt theologisch zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, dass die Erfahrungen, die mit Jhwh in Verbindung gebracht wurden, ursprünglich nichts mit dem Regen und der Gabe der Fruchtbarkeit zu tun hatten. Die ältesten Erfahrungen mit Jhwh waren solche der Rettung aus Feindesnot. Nun besteht das Leben nicht nur aus Feinden und Kriegen. Auch eine Dürre kann zum Feind werden und viele Menschenleben dahinraffen. Wer kann ihr Einhalt gebieten? Im Polytheismus sind die Götter für unterschiedliche Bereiche der Wirklichkeit zuständig. Baal war der Gott des Wetters, des Regens und der Fruchtbarkeit. Wenn der Ackerbau zu den prägenden Elementen der Lebenswelt Israels im 9. Jh. gehörte und für das Überleben der Menschen unabdingbar war, dürfte sich für viele Israeliten die Frage gestellt haben, ob man in diesem lebenswichtigen Bereich nicht auf die bewährten religiösen Traditionen des Landes zurückgreifen sollte. Für den Regen und die Fruchtbarkeit der Felder scheint Jhwh nicht zuständig zu sein. Er ist kein Wettergott. Dann dürfte es nicht schaden, wenn man ihm einen bewährten Nothelfer an die Seite stellt: Baal.

133

Damit ist die theologische Herausforderung skizziert, vor die sich der Jhwh-Glaube gestellt sah. Wenn die religiöse Ursprungserfahrung Israels eine historische, und das heißt: eine lebensweltlich begrenzte Erfahrung war, lassen sich dann auch Erfahrungen aus gänzlich anderen, neuen Lebenswelten mit dieser Ursprungserfahrung in einen sinnvollen Zusammenhang bringen? Die Antwort der Bibel lautet: Ja, das ist möglich; aber ganz ohne Erfahrung geht es nicht. Das Volk schwankte und konnte sich nicht entscheiden. „Und Elija trat vor das ganze Volk und rief: Wie lange noch schwankt ihr nach zwei Seiten? Wenn Jhwh der wahre Gott ist, dann folgt ihm! Wenn aber Baal es ist, dann folgt diesem!“ (1 Kön 18,21). Auf dem KarmelGebirge werden zwei Altäre hergerichtet. Die vierhundertfünfzig Propheten Baals rufen voller Inbrunst zu ihrem Gott; doch es geschieht nichts. Dann kommt Elija an die Reihe und ruft zu seinem Gott: „Herr, Gott Abrahams, Isaaks und Israels, heute soll man erkennen, dass du Gott bist in Israel, dass ich dein Knecht bin und all das in deinem Auftrag tue. Erhöre mich, Herr, erhöre mich! Dieses Volk soll erkennen, dass du, Herr, der wahre Gott bist und dass du sein Herz zur Umkehr wendest. Da kam das Feuer des Herrn herab und verzehrte das Brandopfer, das Holz, die Steine und die Erde. Auch das Wasser im Graben leckte es auf“ (1 Kön 18,36–38). Das Volk wird in diesem Konflikt nicht durch Argumente überzeugt, sondern durch ein Geschehen. Die Aufgabe des Propheten besteht allein darin, die Alternative klar zu benennen, die Wahrheit zu bezeugen, den wahren Gott anzurufen und das Volk einzuladen, sich auf ein Experiment einzulassen, um zu sehen, was passiert. Das Risiko hat sich gelohnt. Am Ende kommt das Volk zu der Einsicht: „Jhwh ist Gott, Jhwh ist Gott“ (1 Kön 18,39). Es ist eine Einsicht aufgrund von Erfahrung, eine cognitio Dei experimentalis, eine Erkenntnis Gottes aufgrund von Erfahrung. Der Philosoph Charles Taylor meint, dass der christliche Glaube in einem säkularen Zeitalter nur eine Zukunft hat, wenn er sich der Erfahrung öffnet, einer „experience of fullness“, einer „Erfahrung der Fülle“ (A Secular Age, Cambridge – London, 2007, 26; Übersetzung: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2012, 18).

134

Elischa: theologisch, pastoral, politisch Die Propheten im Umkreis von Elija und Elischa waren theologisch, pastoral und politisch engagiert. Die genuin theologischen Auseinandersetzungen werden in der Überlieferung vor allem mit Elija in Verbindung gebracht. Der Name des Propheten ist Programm und lautet übersetzt: „Mein Gott ist Jhwh.“ Gegenüber einem staatlich geförderten, um sich greifenden Baal-Kult verkündet Elija Jhwh als den einzig wahren Gott. Das Wirken dieses Propheten in Israel markiert eine bedeutende Etappe auf dem Weg zum Glauben an den einen Gott. Elija ist einer der Hauptvertreter der sogenannten Jhwhallein-Bewegung. Einen anderen Akzent setzen die Erzählungen von Elischa. Der biblischen Überlieferung nach war Elischa ein Schüler des Elija. Er tritt als Prophet (nabi) und Gottesmann auf. Auch sein Name ist Programm: „Mein Gott hat geholfen.“ Elischa ist Leiter eines Prophetenkonvents. Im zweiten Buch der Könige bekommen wir einen Einblick in die alltäglichen Sorgen und Nöte dieser Gemeinschaft. „Die Prophetenjünger klagten bei Elischa: Der Raum, in dem wir vor dir sitzen, ist zu eng für uns. Wir wollen an den Jordan gehen und dort soll jeder von uns einen Balken holen, damit wir uns hier einen Raum errichten, in dem wir wohnen können“ (2 Kön 6,1f). Elischa und seine Schüler kümmerten sich um die alltäglichen Sorgen und Nöte der einfachen Leute: um Krankheiten, um Fehlgeburten, um Kinderwunsch, um verunreinigtes Wasser (2 Kön 2,19–22). Sie waren pastoral tätig und repräsentierten die fürsorglich-helfende Seite der Jhwh-Religion, eine Seite Gottes, die auch im Wirken Jesu zum Vorschein kommt, der viele Gebrechen und Krankheiten im Volk heilte (vgl. Mk 1,32–34). Sogar von Totenerweckungen wird erzählt (2 Kön 4,8–37). Jhwh, so wollen diese Geschichten sagen, ist nicht nur ein Staatsgott, ein Gott, der auf großer politischer Bühne spielt, sondern auch ein Gott der kleinen Leute. Doch auch die Politik kommt in diesen Kreisen nicht zu kurz. Hier lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Die eine ist sozialpolitisch ausgerichtet, die zweite zielt unter Anwendung von Gewalt auf einen Herrschaftswechsel und eine direkte Übernahme der Regierungsgeschäfte. Die sozialpolitische Ausrichtung der prophetischen 135

Oppositionsbewegung verdichtet sich in der berühmten Erzählung von Nabots Weinberg. Der Alleinverehrungsanspruch Jhwhs enthält in sich einen anti-totalitären Kern. Er setzt Widerstandskräfte frei, wenn innerweltliche Mächte einen quasigöttlichen Absolutheitsanspruch erheben und die Freiheit der Bürger bedrohen (dazu weiter unten: „Justizmord in Israel“). Eine eher problematische Seite der politischen Dimension der Jhwh-Religion zeigt sich, wenn der unbedingte Geltungsanspruch unmittelbar auf die politische Herrschaft übertragen wird. Hier gerät die Jhwh-Religion leicht in einen Selbstwiderspruch. Dies geschah im Jahre 845 v. Chr., als ein Offizier namens Jehu mit prophetischer Unterstützung einen Putsch ins Werk setzte und dabei der Baal-freundlichen Omri-Dynastie ein gewaltsames Ende bereitete (dazu weiter unten: „Religion und Politik“). Damit stand erneut die Frage im Raum, wie sich der JhwhGlaube als ein „Glaube in Geschichte und Gesellschaft“ (Johann Baptist Metz) zur staatlichen Macht verhalten soll. Soll er – notfalls mit Gewalt – eingreifen, wenn Dinge in die falsche Richtung laufen? Oder soll er sich auf die Seelsorge beschränken und Menschen in ihren täglichen Nöten beistehen: der Witwe, deren Öl zu Neige geht (2 Kön 4,1–7); der Frau, deren einziger Sohn gestorben ist (2 Kön 4,8–37); dem Prophetenkonvent, in dem eine Lebensmittelvergiftung grassiert (2 Kön 4,38–44)?

Jhwh – dein Arzt Die frühe Prophetie des 9. Jahrhunderts im Umkreis von Elija und Elischa erschließt uns eine wichtige Etappe auf dem Weg zum biblischen Ein-Gott-Glauben. Immer mehr Bereiche der Wirklichkeit, die in Palästina ursprünglich in die Zuständigkeit anderer Götter fielen, werden in den Jhwh-Glauben integriert. Als König Ahasja von Israel (851–850) durch das Gitter seines Obergemaches fiel und sich dabei schwer verletzte, schickte er Boten zum Gott der Philisterstadt Ekron. Die königliche Gesandtschaft sollte Möglichkeiten der Heilung erkunden. Doch sie kam nicht weit. Der Prophet Elija stellte sich den Boten entgegen: „Gibt es denn keinen Gott in Israel, sodass ihr fortgehen müsst, um Beelzebul, den Gott von Ekron, zu befragen?“ (2 Kön 1,3). Hier geraten zwei religiö136

se Systeme miteinander in Konflikt. Eine polytheistische Religion rechnet mit der Existenz mehrerer Götter, deren Zuständigkeiten sich auf unterschiedliche Bereiche der Lebenswelt erstrecken: Es gab Götter, die sich in besonderer Weise auf Heilung verstanden, andere, die behilflich waren, wenn es mit der Liebe und der Fruchtbarkeit nicht voranging, wieder andere, die dem bedrängten Heer im Kampf zur Hilfe kamen, und viele andere mehr. Der Polytheismus war international ausgerichtet. Die Götter benachbarter Länder wurden nicht verworfen, sondern, wenn es angebracht erschien, um Hilfe angegangen. Beelzebul, der Gott der Philisterstadt Ekron, war offensichtlich eine lokale Ausprägung des Gottes Baal und ein gern konsultierter Heilgott. Die Anhänger des Jhwh-Glaubens, die im Laufe der Zeit den Alleinverehrungsanspruch dieses Gottes immer deutlicher einforderten, sahen sich angesichts einer attraktiven polytheistischen Religion vor die Herausforderung gestellt, zu zeigen, dass Jhwh in der Lage ist, alle Bereiche des Lebens abzudecken. Ursprünglich war Jhwh kein Heilgott wie etwa der griechische Gott Asklepios. Doch in zunehmendem Maße wird es als ein Zeichen des Unglaubens angesehen, wenn jemand ihm nicht zutraut, im Falle einer schweren Krankheit rettend einzugreifen. So tritt Elija, der als Prophet im Dienste Jhwhs steht (1 Kön 17,1), dem König, der bei einem anderen Gott wegen seiner Verletzung um Hilfe angesucht hat, mit den harschen Worten entgegen: „So spricht der Herr: Du hast Boten ausgesandt, um Beelzebul, den Gott von Ekron, zu befragen, als gäbe es in Israel keinen Gott, dessen Wort man einholen könnte. Darum wirst du von dem Lager, auf das du dich gelegt hast, nicht mehr aufstehen; denn du musst sterben“ (2 Kön 1,16). Tatsächlich starb der König nach nur einjähriger Regierungszeit. Mit Elija und Elischa sind eine Reihe volkstümlicher Heilungserzählungen verbunden. Die Erzählungen lassen keine Auseinandersetzungen mit anderen Göttern erkennen. Es ist also durchaus möglich, dass in einer Jhwh-orientierten Familienfrömmigkeit Jhwh schon früh mit Heilung in Verbindung gebracht und bei Krankheiten angerufen wurde, selbst wenn er von Haus aus kein professioneller Heilgott war. Das schließt jedoch nicht aus, dass sich die Oberschicht – wie in unserem Fall König Ahasja von Israel – in besonders schweren Fällen an einen professionellen Heilgott wandte, 137

der international einen guten Ruf genoss. Der Prophet Elija dringt in unserer Erzählung auf Abgrenzung und Eindeutigkeit. Zugleich zeigt die Geschichte, wie Jhwh seine Zuständigkeit mehr und mehr erweitert. Der biblische Ein-Gott-Glaube ist ein integrativer Monotheismus. Der eine Gott erhebt den Anspruch, für alles in der Welt zuständig zu sein. „Ich bin Jhwh, dein Arzt“ (Ex 15,26), lautete die Devise. Nachdem alle göttlichen Konkurrenten Jhwhs auf dem Gebiet der Heilkunst verschwunden waren, tauchten einige Jahrhunderte später, im 3. Jahrhundert, menschliche Experten auf, die den Anspruch erhoben, auf ganz natürliche Weise heilen zu können. Sollte man angesichts dieser „Götter in Weiß“ auf Jhwh als Arzt ­verzichten?

Gott oder der Arzt? Krankheiten und Seuchen sind eine Wirklichkeit, die das Leben eines jeden Menschen, ganzer Gesellschaften und Kulturen in allen Jahrhunderten in der einen oder anderen Weise berühren, bisweilen sogar erschüttern. In der vorexilischen Zeit (ca. 10.–6. Jh v. Chr.) ging es in Israel um die Frage, wer von den Göttern für diesen Bereich zuständig ist. Vor allem durch das Wirken der Propheten Elija und Elischa und ihrer Nachfolger wurde klar: Auch die Krankheit ist eine Herausforderung, die im Lichte des Glaubens an Jhwh zu bewältigen ist. Es ist nicht nötig, dazu ins Ausland zu gehen und die Hilfe anderer, berühmter Heilgötter in Anspruch zu nehmen. Wer wirklich auf Jhwh vertraut, der vertraut sich ihm auch in schwerer Krankheit an. In nachexilischer Zeit sollte sich die Problematik verschieben. Inzwischen hatte die moderne, auf Erfahrung beruhende griechische Medizin ihren Siegeszug durch die mediterrane Welt angetreten. Auch in Israel konnte man davor nicht mehr die Augen verschließen. Bald standen die Frommen vor der Frage: Was soll ich tun, wenn ich krank bin? Soll ich – wie bisher – die Psalmen beten und auf die Hilfe Jhwhs vertrauen oder soll ich zum (heidnischen) Arzt gehen und mich seinen Künsten anvertrauen? Im zweiten Buch der Chronik, das im 3. Jh. v. Chr. entstanden sein dürfte, wird diese Alternative in aller Schärfe herausgestellt. Vom König Asa von Juda (ca. 908–868 138

v. Chr.) heißt es dort rückblickend: „Im neununddreißigsten Jahr seiner Regierung erkrankte Asa an den Füßen. Die Krankheit war sehr heftig. Aber auch in der Krankheit suchte er nicht Jhwh, sondern die Ärzte“ (2 Chr 16,12). Jetzt ging es nicht mehr um die Frage: „Jhwh oder ein anderer Gott?“, sondern um die Frage: „Jhwh oder der Arzt?“ Der auf Ausgleich bedachte Weisheitslehrer Jesus Sirach warnt im 2. Jahrhundert vor falschen Alternativen. Er vermittelt zwischen Tradition und Moderne und vertritt das Modell eines göttlichen Handelns durch Zweitursachen. Wenn jemand krank ist, so Sirach, soll er zum Arzt gehen und gleichzeitig beten. Zugleich mahnt der Weisheitslehrer seine Schüler, gesund zu leben und beim Essen das rechte Maß einzuhalten: „Giere nicht nach jedem Genuss und schwelge nicht in Speisen! Denn im Übermaß der Speisen steckt Krankheit und die Unersättlichkeit bringt Brechreiz“ (Sir 37,29f). Ist man trotz gesunder Lebensweise auf die Hilfe eines Arztes angewiesen, so soll man sie nicht verschmähen: „Gib dem Arzt seinen Platz, denn auch ihn hat der Herr erschaffen! Er bleibe dir nicht fern, denn er ist notwendig!“ (Sir 38,12). Gleichzeitig soll man wie bisher in der Krankheit zu Gott beten: „Bete zum Herrn und er selbst wird dich heilen!“ (Sir 38,9). Gott hat sowohl den Arzt als auch die Heilmittel erschaffen, „ein kluger Mann wird sie nicht verschmähen“ (Sir 38,4). Für das Verständnis des biblischen Monotheismus ist diese Lösung von grundlegender Bedeutung. Zugleich bringt sie neue Herausforderungen mit sich. Es scheint sich eine berühmte These des Soziologen Max Weber zu bestätigen. Sie besagt: Das moderne säkulare Verständnis der Welt hat seinen Ursprung im Alten Testament. Denn dadurch, dass der Wirkbereich der Götter immer mehr zurückgedrängt und diese schließlich als nicht existent erklärt wurden, wurde die Welt weltlich. Sie wurde die Götter los und verlor ihre sakrale Aura. Wurde sie damit auch gottlos? Diese Möglichkeit ist im biblischen Ein-Gott-Glauben angelegt, da der eine Gott – im Unterschied zu den vielen Göttern – kein Teil dieser Welt ist. Er steht der Welt frei und souverän gegenüber. Die Welt wird zu einem Ort, an dem der Mensch sein Werk frei und ungestört von Gott und Göttern im Vertrauen auf seine eigene Vernunft verrichten kann. Gott wurde in der westlichen Moderne aus der Lebenswelt der Menschen 139

in zunehmendem Maße verdrängt; ihm wurde ein Platz im Jenseits, außerhalb der Welt, zugewiesen, wo er sich ruhig verhalten und möglichst nicht in die innerweltlichen Angelegenheiten einmischen soll. Wenn dem so ist, sollte man dann nicht am besten ganz auf ihn verzichten und vorbehaltlos auf den eigenen Verstand vertrauen?

Justizmord in Israel Der biblische Ein-Gott-Glaube weist alle mit ihm konkurrierenden göttlichen und gottähnlichen Mächte und Gewalten in die Schranken. Ihm ist von seinem Ursprung her ein herrschaftskritischer Impuls zu eigen. Wenn Jhwh der eine und einzige Gott in Israel ist, dann darf kein anderer in seinem Volk eine unumschränkte Herrschaft für sich beanspruchen. Ist Jhwh der wahre König Israels (1  Sam 8,7), dann sind die Könige in Israel seine Repräsentanten. Ihre Herrschaft hat sich an einem Maßstab zu messen, den sie sich selbst nicht geben können. Als König und Schöpfer der Welt setzt Jhwh auch den Königen der Völker eine Grenze, die sie nicht überschreiten dürfen. Doch wer ist bereit und in der Lage, einem König entgegenzutreten, der meint, seiner Herrschaft seien keine Grenzen gesetzt? Es sind die Propheten, die sich von Jhwh berufen wissen, die bereit sind, in seinem Namen aufzutreten, und die nicht davor zurückschrecken, das Risiko einzugehen, dafür verfolgt und getötet zu werden. Ein beeindruckendes Beispiel eines solchen prophetisch Auftritts wird im ersten Buch der Könige (Kap. 21) erzählt. König Ahab (870–851) besaß einen Palast in der fruchtbaren Jesreel-Ebene. Unmittelbar an das Grundstück des Königs grenzte der Weinberg eines Mannes namens Nabot. Der König wollte sein Areal vergrößern und bot Nabot an, ihm den Weinberg abzukaufen oder gegen einen besseren einzutauschen. Doch Nabot lehnte ab mit der Begründung, der Weinberg sei unverkäuflich, da er das Erbe seiner Väter sei. Die Auskunft betrübte den König zutiefst, er wurde depressiv, konnte nichts mehr essen und legte sich ins Bett. Seine Frau Isebel machte sich Sorgen und erkundigte sich nach dem Grund seiner Niedergeschlagenheit. Der König erzählte ihr von seinen erfolglosen Verhandlungen mit Nabot. Daraufhin schickte seine Gemahlin sich an, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Mit den Worten: 140

„Du bist doch jetzt König in Israel. Steh auf, und sei guter Dinge! Ich werde dir den Weinberg Nabots aus Jesreel verschaffen“ (1 Kön 21,7), schritt sie zur Tat und zeigte – ihrem Verständnis nach –, was einem König in Israel zusteht. Sie schrieb Briefe im Namen Ahabs mit königlichem Siegel und schickte sie an die Ältesten und Vornehmen der Stadt, in der Nabot wohnte. Damit zettelte sie einen Justizmord an. In den Briefen heißt es: „Ruft ein Fasten aus und lasst Nabot oben vor allem Volk Platz nehmen! Setzt ihm aber zwei nichtswürdige Männer gegenüber! Sie sollen gegen ihn als Zeugen auftreten und sagen: Du hast Gott und den König gelästert. Führt ihn dann hinaus und steinigt ihn zu Tode“ (1 Kön 21,9f). Die Ältesten und Vornehmen der Stadt führten die Anweisungen Isebels bedenkenlos aus. Nabot wurde von zwei gedungenen falschen Zeugen angeklagt und zu Tode gesteinigt. Sobald Isebel davon hörte, forderte sie ihren Mann auf: „Auf, nimm den Weinberg Nabots aus Jesreel in Besitz, den er dir für Geld nicht verkaufen wollte; denn Nabot lebt nicht mehr; er ist tot. Als Ahab hörte, dass Nabot tot war, stand er auf und ging zum Weinberg Nabots aus Jesreel hinab, um von ihm Besitz zu ergreifen“ (1 Kön 21,15f). Jetzt greift Gott ein und beauftragt den Propheten Elija: „Mach dich auf und geh Ahab, dem König von Israel, entgegen, der in Samaria seinen Wohnsitz hat. Er ist zum Weinberg Nabots hinabgegangen, um von ihm Besitz zu ergreifen. Sag ihm: So spricht der Herr: Hast du getötet und in Besitz genommen? Weiter sag ihm: So spricht der Herr: An der Stelle, wo die Hunde das Blut Nabots geleckt haben, werden Hunde auch dein Blut lecken“ (1 Kön 21,18f). Der Gott Israels ist ein Gott des Rechts und der Gerechtigkeit. Das Ethos der Propheten hat in der Tora, dem Gesetz, seinen Niederschlag gefunden: „Du sollst nicht töten“ lautet eines der Gebote des Dekalogs (Ex 20,13). Im nachexilischen Verfassungsentwurf des Propheten Ezechiel werden die Rechte eines zukünftigen Herrschers deutlich eingeschränkt: Der Fürst darf die Angehörigen seines Volkes „nicht mit Gewalt von ihrem Eigentum vertreiben“ (Ez 46,18).

141

Religion und Politik Eine besondere Herausforderung, vor die sich der Jhwh-Glaube gestellt sah, war die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik. Wie politisch darf, wie politisch muss der Glaube sein? Auf eine enge Verbindung von Staat und Religion sind wir sowohl bei der Entstehung des Staates Juda unter David als auch bei der Abspaltung des Nordreiches unter König Jerobeam gestoßen. Ein politisches Gemeinwesen ohne religiöse Legitimation war in der Antike ­undenkbar. Mit Hilfe der Jhwh-Religion konnte aber nicht nur ein Staat stabilisiert und legitimiert werden. Im Namen Jhwhs konnte auch eine Revolution angezettelt und eine Regierung gestürzt werden. Im Jahre 845 v. Chr. kam es im Nordreich Israel zu einem Putsch, der – so die biblische Erzählung – unter maßgeblicher Beteiligung von Propheten in die Wege geleitet wurde. Die von Omri (881–870) begründete Dynastie im Nordreich verfolgte eine auf internationale Kooperation hin angelegte Wirtschaftspolitik. Vor allem unter seinem Sohn und Nachfolger Ahab und dessen Gemahlin Isebel, einer Prinzessin aus Sidon, zeigten sich deren kultur- und religionspolitische Folgen. Den Propheten Elija und Elischa sowie ihren Schülern passte diese Richtung nicht. Sie sahen die Gefahr, dass der Jhwh-Glaube seine Identität verliert und der Gott Israels einer unter vielen wird. Durch einige spektakuläre Aktionen wie den Opferwettstreit auf dem Karmel-Gebirge stellten die prophetischen Aktivisten klar, welcher Gott in Israel das Sagen hat. Doch was nützt der theologische Erweis der Wahrheit, wenn er nicht politisch durchgesetzt und abgesichert wird? Zu der Zeit, da Israel mit den Aramäern von Damaskus im Krieg lag, bot sich unter der Regierung des Königs Joram (850–845) eine günstige Gelegenheit, dem prophetischen Anliegen auch auf staatlicher Ebene Erfolg zu verschaffen. Der Prophet Elischa beauftragt einen seiner Schüler, ins Feldlager nach Ramot-Gilead zu gehen, um einen der dort versammelten Offiziere heimlich zum König von Israel zu salben. Der junge Mann macht sich auf den Weg, ruft einen der Obersten namens Jehu aus der Gruppe der versammelten Offiziere heraus, begibt sich mit ihm in einen abgeschlossenen Raum, 142

gießt ihm Öl über das Haupt und sagt: „So spricht der Herr, der Gott Israels: Ich salbe dich zum König über das Volk des Herrn, über Israel. Du wirst dem Haus Ahabs, deines Herrn, schwere Schläge versetzen und ich werde Rache nehmen für das Blut meiner Knechte, der Propheten, und für das Blut aller Diener des Herrn, das Isebel vergossen hat. Das ganze Haus Ahab wird zugrunde gehen. Ich werde vom Haus Ahab alles, was männlich ist, bis zum letzten Mann in Israel ausrotten […]. Isebel werden auf der Flur von Jesreel die Hunde fressen und niemand wird sie begraben“ (2 Kön 9,6–10). Der frisch zum König Gesalbte sowie der Prophetenjünger versuchen, die Angelegenheit zu verheimlichen. Doch die Offiziere schöpfen Verdacht und fragen ihren Kameraden: „Warum ist denn dieser Verrückte [gemeint ist der Prophetenschüler] zu dir gekommen?“ (2 Kön 9,11). Die Sache lässt sich nicht mehr verheimlichen. Sogleich nehmen alle der anwesenden Offiziere ihre Kleider, legen sie Jehu zu Füßen, stoßen in das Horn und rufen: „Jehu ist König“ (2 Kön 9,13). Die konservative Revolution führte zu großem Blutvergießen. Alle Angehörigen des Hauses Ahab wurden ermordet. Isebel wurde aus dem Fenster der königlichen Winterresidenz geworfen und von Hunden zerfressen, „wie der Herr durch seinen Knecht Elija aus Tischbe verkündet hat“ (2 Kön 9,30–37). Einige Jahrzehnte später denkt der Prophet Hosea neu über das Verhältnis von Religion und Politik im Staate Israel nach und gelangt zu einem vernichtenden Urteil. Der Herr sagte zu ihm: „Es dauert nicht mehr lange, dann werde ich das Haus Jehu für die Blutschuld von Jesreel heimsuchen und dem Königtum Israel ein Ende bereiten“ (Hos 1,4). Offensichtlich gibt es auch einen „Eifer für den Herrn“ (2 Kön 10,16), der auf politische Abwege führt.

Offenbarungsglaube Der biblische Glaube ist ein Offenbarungsglaube. Er ist nicht das Resultat der Verständigung einer demokratisch legitimierten Bürgerversammlung und eines sich daran anschließenden Mehrheitsbeschlusses. Vielmehr beruht er auf einer Erfahrung und einer Einsicht, die nur wenigen zuteilwurde. Das macht ihn angreif bar, ruft Unverständnis und Widerstand hervor. „Hat der Herr etwa 143

nur durch Mose gesprochen? Hat er nicht auch durch uns gesprochen?“, lautet die vorwurfsvolle Frage, die Mirjam und Aaron ihrem Bruder Mose entgegenhalten (Num 12,2). Mehrfach kommt es zum Aufstand in der Wüste gegen die demokratisch nicht legitimierte Führung. Unter der Leitung Korachs, Datans und Abirams erheben sich zweihundertfünfzig Israeliten, „Anführer der Gemeinde, Berufene der Festversammlung“, gegen Mose und Aaron mit den Worten: „Es reicht! Alle sind heilig, die ganze Gemeinde, und der Herr ist in ihrer Mitte. Warum erhebt ihr euch über die Versammlung des Herrn?“ (Num 16,3). Mit den Worten: „Jetzt wollt ihr auch noch den Priesterdienst!“ weist Mose ihre Forderung zurück (Num 16,10). Der Aufstand scheitert. Der biblische Glaube beruht auf Gotteserfahrungen. Mose wird aus seiner alltäglichen Arbeit herausgerissen und von Jhwh am Gottesberg in der Wüste berufen (Ex 3,1–6). Gott selbst teilt sich ihm mit. Die Erkenntnis Gottes aufgrund von Erfahrung, die cognitio Dei experimentalis, steht am Anfang. Ohne sie wäre der Glaube ein Machwerk von Menschenhand. In einem zweiten Schritt wird die Erfahrung bezeugt. Jetzt spielt die Glaubwürdigkeit der Zeugen eine entscheidende Rolle. Die bezeugte Gotteserfahrung zielt auf Anerkennung. Wird sie als glaubwürdig angenommen, setzt gewöhnlich ein Prozess des Nachdenkens ein, der auf ein tieferes Verstehen zielt und die Botschaft gegenüber Einwänden abzusichern versucht. Die Annahme des Zeugnisses ist jedoch nicht identisch mit der bezeugten Erfahrung selbst. Nach seiner Auferstehung ist Jesus einigen erschienen, nicht allen. Eine Gottesbegegnung anderen zu vermitteln oder gar zu erschließen, stellt eine Herausforderung ganz eigener Art da. Es mag fließende Übergänge geben, doch die Bibel kennt den Unterscheid zwischen einem Glauben „aus erster Hand“ und einem Glauben „aus zweiter Hand“. Schon Mose hatte damit zu kämpfen: „Was aber, wenn sie mir nicht glauben und nicht auf mich hören, sondern sagen: Der Herr ist dir nicht erschienen?“ (Ex 4,1). Genau genommen ist die Bibel nicht die Offenbarung Gottes, sondern sie bezeugt sie; sie ist Zeugnis der Offenbarung Gottes. Eine ihrer Stärken besteht darin, dass sie über einen Zeitraum von vielen hundert Jahren viele Zeugen aufzubieten hat, eine ganze „Wolke von 144

Zeugen“ (Hebr 12,1). Gott hat nicht nur – wie in einigen anderen Religionen – durch einen Propheten allein, sondern durch viele Propheten „auf vielerlei Weise“ gesprochen (vgl. Hebr 1,1). Das verleiht der Bibel einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit. Es bringt aber zugleich die Herausforderung mit sich, die vielfältigen Zeugnisse so aufeinander zu beziehen, dass ein sinnvolles Ganzes daraus wird. Schon in der frühen Kirche gab es die Ansicht, die vielen Glaubenszeugnisse der Bibel würden einander widersprechen. Man müsse eine Auswahl treffen. Ein gewisser Markion aus dem 2. Jh. n. Chr. vertrat die Ansicht, das Alte Testament würde einen anderen Gott bezeugen als das Neue Testament und sei deshalb für den christlichen Glauben irrelevant. Die Kirchenväter haben diese Ansicht als häretisch verworfen. Man darf nicht bei einem oberflächlichen Verständnis der Heiligen Schrift stehenbleiben, sagten sie, sondern muss in ihren Geist eindringen, dann wird man erkennen: Zwar gibt es viele Zeugnisse, doch sie widersprechen einander nicht – anders als bei den Gegnern Jesu, deren Zeugnisse nicht übereinstimmten (Mk 14,56.59). Einer der vielen biblischen Zeugen ist der Prophet Elija. Zu seinen Lebzeiten geriet der Jhwh-Glaube in eine schwere Identitätskrise. Zwar konnte der Prophet mit dem Gottesurteil auf dem Karmel einen vorübergehenden Erfolg verbuchen, doch schon bald kippte die Stimmung. Die staatlich geförderte Religion und der gesellschaftliche Mainstream gingen in Richtung der Baal-Verehrung. Jhwh-Propheten wurden verfolgt und getötet. Elija war allein übriggeblieben. Er war verzweifelt und wünschte sich den Tod. Er floh in die Wüste und gelangte an den Gottesberg.

Auf dem Weg zum Gottesberg Das von Elija herbeigeführte Gottesurteil auf dem Karmel war eine spektakuläre Machtdemonstration. In Begleitung eines vom Himmel herabkommenden verzehrenden Feuers hatte sich Jhwh als ein in die Welt eingreifender Gott erwiesen. Doch schon bald sollte sich das Blatt wenden. Die unterlegene Seite holte zum Gegenschlag aus. Isebel, die Gemahlin des Königs und eifrige Förderin des Baal-Kultes, schwor bei ihren Göttern, Elija zu töten. Dieser „geriet in Angst, 145

machte sich auf und ging weg, um sein Leben zu retten“ und floh in die Wüste (1 Kön 19,3). Die nun folgende Geschichte erzählt von einem langen Weg durch die Wüste, der zugleich als ein innerer Weg zu verstehen ist. Er ist Folge einer Krise. Sie wird durch eine äußere Bedrohung ausgelöst, sie hat aber auch eine innere Seite: Es geht um das Gottesbild des Propheten. Hatte sich Jhwh in der vorangehenden Geschichte als ein Gott des Sieges erwiesen, in dessen Gefolge die Propheten des Baal niedergemacht wurden, so scheint er nun ein Gott zu sein, der nicht eingreift, ein Gott, der schweigt, der in die Wüste führt. Elija ist am Ende und wünscht sich den Tod. „Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben, denn ich bin nicht besser als meine Väter. Dann legte er sich unter einen Ginsterstrauch und schlief ein“ (1 Kön 19,4f). Was nun geschieht, ist für das Verständnis biblischer Spiritualität von grundlegender Bedeutung. Elija selbst kann nichts mehr machen. Mit seinen eigenen Möglichkeiten ist er am Ende. Doch genau an diesem Punkt kommt es zu einem Umschwung. Ein anderer übernimmt das Gesetz des Handelns. Der Prophet bedarf zunächst einer Stärkung. Bevor er neu in die Welt gesandt wird, muss er – gleichsam aus dem göttlichen Grund heraus – neu aufgerichtet werden: „Ein Engel rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Als er um sich blickte, sah er neben seinem Kopf Brot, das in glühender Asche gebacken war, und einen Krug mit Wasser. Er aß und trank und legte sich wieder hin. Doch der Engel des Herrn kam zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich. Da stand er auf, aß und trank und wanderte, durch diese Speise gestärkt, vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb“ (1 Kön 19,8). Elija muss den Glaubensweg seines Volkes noch einmal gehen. Wie Israel vierzig Jahre in der Wüste mit dem Manna versorgt wurde, so wird nun der Prophet auf seinem Weg durch die Wüste mit einer wunderbaren Speise gestärkt. Schließlich gelangt er an den Gottesberg Horeb und sucht Schutz in einer Höhle. „Da erging das Wort des Herrn an ihn: Was willst du hier, Elija? Er sagte: Mit leidenschaftlichem Eifer bin ich für den Herrn, den Gott der Heerscharen, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, 146

deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben. Ich allein bin übriggeblieben und nun trachten sie auch mir nach dem Leben“ (1 Kön 19,10). Der Herr fordert ihn auf, die Höhle zu verlassen: „Komm heraus und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer eine Stimme verschwebenden Schweigens. Als Elija sie hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle. Da erging eine Stimme an ihn und sprach“ (1 Kön 19,11–13). Die Stimme vom Sinai, die einst im Feuer und im Beben an ganz Israel erging (Ex 19ff), ergeht nun in der Stille an den Propheten als eine „Stimme verschwebenden Schweigens“ (Martin Buber).

147

VII. Untergang des Nordreiches (722 v. Chr.)

Die Zeichen der Zeit deuten In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts beginnt eine neue Phase in der Geschichte des Jhwh-Glaubens. Erstmals treten Propheten auf, unter deren Namen eigene Schriften überliefert sind. Mit ihrer Botschaft stehen sie in scharfer Opposition zu den führenden Kreisen der Gesellschaft. Sie klagen Missachtung von Recht und Gerechtigkeit an. Die Ursache der Missstände sehen sie in einer tiefen Form von Gottvergessenheit: „Sie haben den Herrn verlassen, den Heiligen Israels verschmäht und ihm den Rücken zugekehrt“, heißt es im Buch des Propheten Jesaja (Jes 1,4). Wir nennen diese Propheten „oppositionelle Einzelpropheten“. Dazu gehören im 8. Jahrhundert Amos, Micha, Hosea und der frühe Jesaja. Sie kündigen ein Gericht Gottes an, das zunächst die für das Unrecht Verantwortlichen trifft, das aber am Ende das ganze Volk, das sich hat verführen lassen, mit ins Verderben zieht. Gehörten die Propheten des 9. Jahrhunderts wie Elija und Elischa zu einer Prophetengemeinschaft, so treten die Gerichtspropheten des 8. Jahrhunderts als einzelne auf. Sie wissen sich aus ihrem Alltagsberuf herausgerufen und von Jhwh gesandt, „Jakob seine Vergehen vorzuhalten und Israel seine Sünden“, wie es im Buch des Propheten Micha heißt (Mi 3,8). Mit der Gerichtsprophetie setzt eine weitere, nachhaltige Entwicklung in der Geschichte des Jhwh-Glaubens ein. Dass ausgerechnet in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts bedeutende Propheten in Israel und Juda auftraten, hängt mit einer krisenhaften Veränderung der politischen Großwetterlage zusammen. Vom Norden her droht eine aufsteigende, aggressive Großmacht die gesamte Levante bis in das Zentrum Ägyptens hinein zu erobern und ihrer Herrschaft zu unterwerfen: „Ein Feind wird das Land umzingeln; er wird deine Macht niederreißen und deine Paläste wer148

den geplündert“ lautet ein Gotteswort, das der Prophet Amos gegen Samaria, die Hauptstadt des Nordreiches, schmettert (Am 3,11). Zunächst ist es das Großreich der Assyrer, dem das Nordreich Israel im Jahre 722 zum Opfer fällt, später sind es die Neubabylonier, die dem Südreich Juda im Jahre 587 ein Ende bereiten. Prophetie ist ein Krisenphänomen. Äußere Ereignisse werden in der Bibel nicht als etwas rein Äußerliches betrachtet, das mit Gott nichts zu tun hat, wie es in einer weitgehend säkularen Gesellschaft häufig der Fall ist. Im Gegenteil. Dramatische politische Erschütterungen führen auch zu einer Erschütterung im Inneren einer Gesellschaft und eines Staates; sie können bis in den Kern der kulturellen und religiösen Identität hinein reichen. Lähmung und Entsetzen greifen um sich: „Vergehen wird der Mut des Königs und der Mut der Machthaber. Die Priester werden starr sein vor Schrecken, die Propheten werden sich entsetzen“ (Jer 4,9). Die Bibel richtet ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf das, was geschieht, sondern vor allem und in erster Linie auf das, was sich in dem, was geschieht, zeigt. Doch wer ist in der Lage, das Geschehen in rechter Weise zu deuten? Was zeigt sich und was ist zu tun, da „vom Norden Unheil und großes Verderben drohen“, wie es der Prophet Jeremia kommen sieht (Jer 6,1)? Treten nicht in jeder Krise selbsternannte Zeichendeuter und Orakelleser auf, die den Anspruch erheben, die Zeichen der Zeit zu deuten, die in Wahrheit aber gar nicht von Gott berufen sind, sondern die Krise nutzen, um ihr eigenes Programm durchzuziehen? Gegen diese Pseudopropheten, so heißt es bei Micha, spricht der Herr: „Sie verführen mein Volk“ (Mi 3,5). Gott hat sie nicht gesandt, sie sprechen „aus ihrem eigenen Herzen“ (vgl. Dtn 18,20). Doch wer beherrscht die Unterscheidung der Geister? Woran lässt sich erkennen, ob ein Prophet im Namen des Herrn spricht, oder ob er sich nur anmaßt, „in meinem Namen ein Wort zu verkünden, dessen Verkündigung ich ihm nicht geboten habe“, wie es in Dtn 18,20 heißt?

Amos: Recht und Gerechtigkeit Amos ist der älteste der Schriftpropheten. Er stammte aus dem Südreich, aus Tekoa, einem kleinen Dorf am Rande der judäischen Wüste, und trat mit seiner Gerichtsbotschaft um das Jahr 760 v. Chr. im 149

Nordreich auf. Am Reichsheiligtum in Bet-El kommt es zwischen ihm und dem dort amtierenden Priester Amazja zu einem Konflikt. Der Priester sieht in der Verkündigung des Amos einen Aufruf zum Umsturz und meldet seinem Dienstherrn, König Jerobeam: „Mitten im Haus Israel hat sich Amos gegen dich verschworen; seine Worte sind unerträglich für das Land. Denn so sagt Amos: Jerobeam stirbt durch das Schwert und Israel muss in die Verbannung ziehen, fort von seinem Boden“ (Am 7,10). Dem Propheten gibt der im staatlichen Dienst stehende Priester den gut gemeinten Rat: „Seher, geh, flieh ins Land Juda! Iss dort dein Brot und prophezeie dort! In Bet-El darfst du nicht mehr prophezeien; denn das hier ist das königliche Heiligtum und der Reichstempel“ (Am 7,12). Die Antwort des Amos klingt überraschend: „Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler, sondern ich bin ein Viehzüchter und ich veredle Maulbeerfeigen. Aber der Herr hat mich von meiner Herde weggeholt und zu mir gesagt: Geh und prophezeie meinem Volk Israel!“ (Am 7,14f). Mit der Aussage „Ich bin kein Prophet (nabi) und kein Prophetenschüler (ben-nabi)“ ist gemeint, dass Amos sich nicht der Gruppe der Hofund Tempelpropheten zugehörig weiß, die im Dienst des Staates und seines Tempels stehen und dort ihren Lebensunterhalt verdienen. Er versteht sich als ein von Jhwh berufener und zu Israel gesandter Bote, der Unrecht in Staat und Gesellschaft öffentlich anklagt und ein Gericht Gottes ankündigt. Es sind vor allem drei gesellschaftliche Wunden, die der Seher Amos aufdeckt: Ausbeutung der Armen, Bestechung in der Rechtsprechung und ein Opferkult, der nichts mehr mit Hingabe zu tun hat, sondern darauf abzielt, Gott zum Schweigen zu bringen. Doch Gott schweigt nicht. Er beruft einen Sprecher, der in seinem Namen spricht: „So spricht der Herr: Wegen der drei Verbrechen Israels und wegen der vier nehme ich es [das Gericht] nicht zurück: Weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen und den Armen wegen eines Paars Sandalen“ (Am 2,6). Richter lassen sich bestechen, sie verabscheuen den, der die Wahrheit sagt, und weisen den Armen ab vor Gericht. Mit Hilfe eines übertriebenen Kultes und üppiger Feste versuchen die Verantwortlichen, sich reinzuwaschen und ihr böses Tun vergessen zu machen. Doch Gott spielt nicht mit: „Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich 150

habe kein Gefallen an euren Gaben und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Am 5,21–24). Gewöhnlich rechnet man damit, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im 8. Jahrhundert v. Chr. derart verschlechtert haben, dass Propheten wie Amos und Micha mit ihrer sozialkritischen Botschaft an die Öffentlichkeit gingen. Es ist aber auch möglich, dass sich angesichts einer heraufziehenden Katastrophe die Sensibilität der Wahrnehmung verfeinert hat. Was lange Zeit in Staat, Gesellschaft und Religion als normal und legitim angesehen wurde, rückt im Bewusstsein eines Menschen, der aus seiner alltäglichen Arbeit herausgerissen und auf die Seite Gottes gezogen wird, in ein neues Licht. In diesem Sinne ist Amos ein „Seher“, jemand, der die verbreiteten Formen gesellschaftlicher Verschleierung durchschaut, jemand, der den Durchblick hat. Er sieht und macht sichtbar eine Not, die lange Zeit erfolgreich überspielt und verschleiert werden konnte. Propheten sind Seismographen Gottes. Amos, so lesen wir, trat „zwei Jahre vor dem Erdbeben auf“ (Am 1,1).

Hosea: Gottes Liebe Jhwh ist ein Gott des Rechtes und der Gerechtigkeit. Dafür ist vor allem der Prophet Amos ein Zeuge. Das Ethos der Gerechtigkeit, ohne das der Gott Israels nicht gedacht werden kann, bleibt nicht auf Israel beschränkt. Mit ihm werden auch die Völker konfrontiert. Deshalb beginnt das Buch Amos mit einer harten Anklage gegen sechs Israel benachbarte Völker. Ihnen wirft der Prophet schwere Verletzungen der Menschenwürde vor (Am 1,3–2,3). Der Sache nach ist der Prophet Amos ein früher biblischer Zeuge der unveräußerlichen Menschenrechte. Amos stand mit seiner Kritik nicht allein. Etwa zur gleichen Zeit, in den Jahren 750–722 v. Chr., trat im Nordreich ein weiterer Prophet auf: Hosea. Auch er richtete schwere Anklagen gegen Staat und Gesellschaft. Die Ursache der kollektiven Verblendung sieht er in der fehlenden Gotteserkenntnis: „Hört das Wort der Herrn, ihr Söhne Israels! Denn der Herr verklagt die Bewohner des Landes: Es gibt 151

keine Treue und Liebe und keine Gotteserkenntnis im Land. Nein, Fluch, Lüge, Mord, Diebstahl und Ehebruch machen sich breit, Bluttat reiht sich an Bluttat“ (Hos 4,1f). Hosea erkennt einen Zusammenhang zwischen kollektivem Fehlverhalten und einer bevorstehenden kosmischen Katastrophe. Menschliche Lebenswelt und Umwelt sind eng miteinander verbunden – ein Gedanke, der auch der Sintfluterzählung zugrunde liegt: „Darum soll das Land verdorren, alle seine Bewohner sollen verwelken, samt den Tieren des Feldes und den Vögeln des Himmels; auch die Fische im Meer sollen zugrunde gehen“ (Hos 4,3). Mit Hosea kommen neue und prägende Züge in das biblische Gottesbild. Im Unterschied zu Amos geht die Hauptstoßrichtung seiner Anklage direkt auf das gestörte Gottesverhältnis Israels. Hosea steht am Anfang einer Entwicklung, die über den Propheten Jeremia und das Buch Deuteronomium zum Erkennungszeichen des Gottes Israels geworden ist. Von daher ist es kein Zufall, dass das Zwölfprophetenbuch (Dodekapropheton), also die Zusammenstellung der sogenannten zwölf kleinen Propheten(-bücher), mit dem Buch Hosea eröffnet wird. Damit bekommt die Sammlung eine stark theologische Ausrichtung. Welche Weichenstellung nimmt Hosea vor? Hosea kritisiert ein primär genealogisch begründetes Gottesverhältnis: Man ist religiös ohne freie Entscheidung und Entschiedenheit, weil man von einer bedeutenden Gründergestalt abstammt. Im Nordreich war das der Stammvater Jakob. Hosea zeigt, dass Jakob eine ambivalente Figur war; er war ein Betrüger von Anfang an: „Schon im Mutterleib hinterging er seinen Bruder“ (Hos 12,4). Der fehlenden Entschiedenheit entspricht eine synkretistische religiöse Praxis. Jhwh und Baal leben in der Volksfrömmigkeit friedlich mitund nebeneinander. Kann Jhwh diese religiöse Vielfalt auf Dauer dulden? Wie kein anderer Prophet beklagt Hosea den „Baalismus“ in Israel: „Mein Volk verharrt in der Abkehr; sie rufen zu Baal, dem Hohen, doch der kann sie nicht hochbringen“ (Hos 11,7). An die Stelle eines durch Abstammung ruhiggestellten und naturreligiös geöffneten Jhwh-Glaubens setzt Hosea den Gott des Exodus, der sein Volk aus freier Liebe erwählt und es mit dem Unbedingtheitsanspruch seiner Liebe konfrontiert: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten“ (Hos 11,1). 152

Die Liebe Gottes zu seinem Volk und die Untreue des Volkes veranschaulicht Hosea mit Hilfe des Bildes einer Ehe. Wir werden uns noch eingehend mit dieser bedeutenden Weichenstellung in der Religionsgeschichte Israels befassen. Wie die Erfahrung zeigt, geht Liebe immer wieder mit Treulosigkeit einher und Ehe nicht selten mit Ehebruch. Werden nun die Rollen des liebenden Ehemannes auf Gott und die der treulosen Ehefrau auf das Volk übertragen und findet sich Jhwh in seinem Zorn nicht damit ab, dass seine Geliebte anderen Liebhabern nachläuft, dann wird eine Dynamik freigesetzt, die zu schweren emotionalen Ausbrüchen und Erschütterungen führt und am Ende die Frage aufwirft: Kann ein derart zerrüttetes Verhältnis noch geheilt werden? (Hos 14,5).

Aus Liebe erwählt Eine dramatische Ehegeschichte eröffnet das Buch Hosea. Gott fordert den Propheten zu einer ungewöhnlichen Zeichenhandlung auf: „Der Herr sagte zu Hosea: Geh, nimm dir eine unzüchtige Frau und Kinder der Unzucht! Denn das Land treibt Unzucht und hat den Herrn verlassen“ (Hos 1,2). Dreimal ergeht diese Aufforderung an den Propheten und dreimal zeugt der Prophet mit einer Frau namens Gomer Kinder. Die beiden jüngsten tragen die sprechenden Namen: „Lo-Ruhama“, das heißt: „Kein Erbarmen“, und „Lo-Ammi“, das heißt: „Nicht-mein-Volk“. Ob es sich um ein reales Geschehen oder um eine rein fiktionale Erzählung handelt, sei dahingestellt. Klar ist, dass die durch das Zeichen bezeichnete Wirklichkeit für den Propheten real ist: Das Verhältnis Gottes zu seinem Volk ist zerbrochen. Die Kinder aus der unzüchtigen Verbindung werden aufgefordert, ihre Mutter zu verklagen: „Verklagt eure Mutter, verklagt sie! Denn sie ist nicht meine Frau und ich bin nicht ihr Mann“ (Hos 2,4). Hosea scheint der erste zu sein, der die Beziehung Jhwhs zu Israel im Bild einer Ehe zum Ausdruck bringt. Damit wird das Verhältnis zwischen Jhwh und seinem Volk auf eine neue Grundlage gestellt. Jetzt geht es um Liebe. Wir haben uns daran gewöhnt, davon zu sprechen, dass Gott alle Menschen liebt und dass Israel geboten ist, den Herrn, seinen Gott, zu lieben. 153

Vor dem Hintergrund der altorientalischen Religionsgeschichte und der Geschichte des Jhwh-Glaubens ist die Rede von der Liebe Gottes alles andere als selbstverständlich. Es handelt sich um eine Innovation, die wohl erst in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. vom Propheten Hosea in das religiöse Symbolsystem Israels eingeführt wurde. Von Hosea aus gelangt das Konzept über Jeremia in das Deuteronomium. Dort wird Liebe zu einem theologischen Schlüsselbegriff: Weil der Herr Israel aus freier Liebe erwählt und aus dem Sklavenhaus Ägyptens befreit hat (Dtn 7,6), soll Israel den Herrn, seinen Gott, „lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5). Die Liebe allerdings wählt aus und grenzt ab. So wie Jhwh aus den vielen Völkern nur ein Volk erwählt hat, so soll Israel von den vielen Göttern, die es gibt, nur Jhwh lieben. Die Neuausrichtung der Gottesbeziehung auf die Liebe war ein bedeutender Schritt in der Geschichte der Monolatrie und des Monotheismus. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass es eine Entsprechung zwischen Monogamie und Monolatrie gibt. So wie eine verheiratete Frau von den vielen Männern, die es gibt, nur einen Mann als ihren Ehemann erwählt hat und sich zu ihm in ein besonderes, alle anderen Männer ausschließendes Verhältnis setzt, so soll auch Israel von den vielen Göttern, die es gibt, nur einen Gott, Jhwh, als seinen Gott anerkennen, weil dieser Gott zuvor von den vielen Völkern, die es gibt, nur ein Volk erwählt und sich zu diesem Volk in ein besonderes Verhältnis gesetzt hat. Wir spüren, dass wir hier an einem zentralen und zugleich neuralgischen Punkt der Geschichte des biblischen Glaubens stehen. Die zeitgenössische Kritik am Monotheismus wie an der Monogamie sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Denn die biblische Geschlechtermetaphorik, die das Konzept der auf Liebe beruhenden Beziehung zwischen Gott und seinem Volk zum Ausdruck bringt, ist nicht beliebig austauschbar. Jhwh wird in der Rolle des Ehemannes gezeichnet, sein geliebtes Volk in der Rolle der Frau. Liebe kann nicht ohne Verzicht und Abgrenzung gedacht werden. Das zu erkennen und zu leben, führt in der Regel zu einer schmerzhaften Krise. Warum soll Israel auf Baal und die anderen Götter, die das Leben im Land der Verheißung so reich 154

und vielfältig machen, verzichten? Ist es nicht verständlich, wenn sich das Volk anderen Göttern zuwendet und sagt: „Ich will meinen Liebhabern hinterhergehen. Sie geben mir Brot und Wasser, Wolle und Leinen, Öl und Getränke“ (Hos 2,7)?

Israel als Gottes Geliebte Was hat den Propheten Hosea dazu geführt, die Beziehung zwischen Jhwh und Israel nach dem Modell der ehelichen Liebe neu auszurichten? Handelt es sich lediglich um eine Übertragung aus der menschlichen Beziehungswelt auf die göttliche? Das scheint den biblischen Befund nicht hinreichend zu erklären. Denn wie kein anderer der Propheten kritisiert Hosea leidenschaftlich und eindringlich einen verbreiteten Baalkult in Israel: „Den Baalen brachten sie Schlachtopfer dar, den Götterbildern Räucheropfer“ (Hos 11,2). Nun war Baal kein Single-Gott. Wie viele andere Götter hatte er eine Partnerin im Himmel. In einigen altorientalischen Texten ist das die Göttin Anat. In Texten aus der phönizischen Hafenstadt Ugarit wird von Götterhochzeiten erzählt. Bei Hosea deutet einiges darauf hin, dass der scharf verurteilte Baalkult mit sexuellen Motiven verbunden war. Israel als Frau konnte mit dem Land Israel ausgetauscht werden. So heißt es in der prophetischen Anklage Hos 1,2: „Das Land treibt Unzucht und hat den Herrn verlassen.“ Wie die Frau vom Mann, so wird in der kanaanäischen Mythologie das Land vom Gott Baal durch den Samen des Regens befruchtet. In einem weiteren Gerichtswort klagt Jhwh seine Frau Israel an, weil sie ihn verlassen hat und anderen Göttern nachgelaufen ist: „Sie ist nicht mehr meine Frau und ich bin nicht mehr ihr Mann“ (Hos 2,4). Deshalb „werde ich sie heimsuchen wegen der Tage, an denen sie den Baalen Räucheropfer dargebracht hat; sie hat ihren Ring und ihren Schmuck angelegt und ist ihren Liebhabern hinterhergegangen, mich aber hat sie vergessen – Spruch des Herrn“ (Hos 2,15). Mit der Prophetie Hoseas wird eine in der Geschichte des biblisch bezeugten Glaubens bedeutende Entwicklung eingeleitet, die sich bis in das Neue Testament hinein erstreckt. Die für den altorientalischen Polytheismus typische göttliche Geschlechtermetaphorik wird auf Gott und sein Volk übertragen. Dieser Prozess ist von hoher theo155

logischer Relevanz. Die altorientalischen Götter waren im Himmel nicht allein. Sie lebten in vielfältigen und wechselnden Beziehungen. Vom Himmel aus griffen sie in das Geschehen auf der Erde ein, mal allein, mal im Verbund, immer wieder auch gegeneinander. In diesem polytheistischen Referenzrahmen war für Jhwh kein Platz. Er war ein Single-Gott, er kam aus der Wüste und war in gewisser Weise ein Sonderling. Trotz einiger immer wieder unternommener Versuche ließ er sich nicht in die Reihe der anderen Götter integrieren. Die gut gemeinten Integrationsprogramme, auf die wir in der Geschichte Israels immer wieder stoßen, funktionierten nicht. Jetzt kommt es zu einer Revolution im Gottesbild. Jhwh erwählt sich eine Partnerin, eine Geliebte – aber nicht im Himmel, sondern auf Erden – und er traut sich ihr an „auf ewig“. Die Rolle, die in den altorientalischen und antiken Religionen die Göttin als Partnerin eines Gottes einnimmt, wird im Alten Testament vom Volk Israel eingenommen. Nicht die Göttin Anat oder Aschera ist die Geliebte Jhwhs, sondern Israel. Hinzu kommt ein weiteres: Die Liebesbeziehung, die Jhwh zu seinem Volk eingeht, ist auf Ausschließlichkeit und auf Dauer angelegt: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir solange die Treue bewahrt“, spricht der Herr zur Jungfrau Israel (Jer 31,3; vgl. Hos 2,16). Im biblischen Monotheismus wird der altorientalische Polytheismus von Grund auf umgestaltet. Jhwh, der alleinige und einzige Gott, kann sich ungestört und mit ganzer Hingabe um das Geschehen auf Erden kümmern; denn im Himmel herrscht Ruhe, die Götter sind gestürzt (vgl. Ps 82). Aus Liebe erwählt er sich ein Volk und schließt mit ihm einen Bund: „Ich verlobe dich mir auf ewig; ich verlobe dich mir um den Brautpreis von Gerechtigkeit und Recht, von Liebe und Erbarmen, ich verlobe dich mir um den Brautpreis der Treue: Dann wirst du den Herrn erkennen“ (Hos 2,21f).

Der Preis der Gottesliebe Liebe hat ihren Preis. Das gilt auch für die Gottesliebe. Als Geliebte Jhwhs muss Israel auf Vieles verzichten; vor allem auf die anderen Götter und Göttinnen und die Gaben, die sie zu verteilen haben. Das reichhaltige religiöse Programm, das die anderen Völker zu bieten 156

haben, ist für Israel tabu. Israel darf da nicht mitspielen. Das fällt nicht leicht. Davon loszukommen, braucht Zeit. Es ist ein schmerzhafter Prozess (vgl. 1 Kor 12,2). Doch warum soll Israel auf den religiösen Reichtum der Völker verzichten? Warum nur der eine Gott? Das Buch Hosea nimmt diese Fragen sehr ernst. In Form eines Psychodramas arbeitet Jhwh das Thema mit verteilten Rollen durch. Dabei braucht er die Mitwirkung des Propheten. Dieser übernimmt die Rolle Gottes und wird aufgefordert, mit einer unzüchtigen Frau Kinder der Unzucht zu zeugen (Hos 1,2). Drei Kinder gehen aus dieser Beziehung hervor. Sie übernehmen die Rolle der Ankläger. Jhwh fordert sie auf: „Verklagt eure Mutter, verklagt sie! Denn sie ist nicht meine Frau und ich bin nicht ihr Mann“ (Hos 2,4). Die Kinder sind Folge und sichtbares Zeichen einer unzüchtigen Beziehung. Eine Haltung kann vor allem an dem erkannt werden, was aus ihr hervorgeht. Damit ist ein erster Schritt auf dem Weg der Heilung getan: Die Wunde wird sichtbar; sie lässt sich nicht mehr verbergen: „Ja, ihre Mutter hat Unzucht getrieben“ (Hos 2,7). Doch gibt es nicht gute Gründe dafür? Die Mutter rechtfertigt sich und sagt: „Ich will meinen Liebhabern hinterhergehen. Sie geben mir Brot und Wasser, Wolle und Leinen, Öl und Getränke“ (Hos 2,7). Mit anderen Göttern fremdzugehen, hat der Frau gutgetan, so sagt sie. Es war sogar lebensnotwenig für sie, so nimmt sie es wahr. Ihre Liebhaber haben sie mit den lebensnotwendigen Gaben des Landes versorgt, mit Brot und Wasser, Wolle und Leinen, Öl und Getränken. Die nächste Etappe des Psychodramas besteht darin, aufzudecken, dass es sich bei der Wahrnehmung der Frau um eine Täuschung handelt. Derjenige, der ihr in Wahrheit all diese Dinge gegeben hat, war Jhwh. Die Untreue der Frau beruhte auf einer gestörten Selbstwahrnehmung. Jhwh sagt: „Aber sie hat nicht erkannt, dass ich es war, der ihr das Korn und den Most und das Öl gab“ (Hos 2,10). Wie kann die Frau zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen? Jhwh arbeitet mit der Methode des Entzugs. Er stellt sich ihr in Weg: „Darum versperre ich dir den Weg mit Dornengestrüpp und verbaue ihn mit einer Mauer, sodass sie ihre Pfade nicht mehr findet“ (Hos 2,8). Sie wird ihre Liebhaber weiterhin suchen, aber nicht mehr finden (Hos 2,9). Wir begegnen hier einem biblischen Motiv, mit dem sich viele Menschen heute schwertun. Das Gottesvolk wird von einer Not 157

heimgesucht. Sie kommt von Gott. Doch Gott hat die Not nicht geschickt, weil er sein Volk hasst, sondern weil er es liebt. In der Not bricht eine Lebensform zusammen, die auf Dauer nicht trägt. Wege werden versperrt, die in den Abgrund führen. Was bisher vertraut und selbstverständlich war, geht verloren: „Ich werde ihren Weinstock und ihren Feigenbaum verwüsten“, spricht Jhwh (Hos 2,14). Der damit verbundene Schmerz wird nicht verdrängt und nicht geleugnet. Doch er ist nicht das Ende der Geschichte. Wenn Israel die Anhaftungen an die trügerischen Gaben der falschen Götter zerschlagen worden sind, wenn es gleichsam wieder aus dem Kulturland mit seinem überreichen Angebot hinaus- und in die Wüste hineingeführt wird, dann wird es wieder leer, um den wahren Gott und seine Gaben empfangen zu können: „Darum will ich selbst sie verlocken. Ich werde sie in die Wüste führen und ihr zu Herzen reden. Von dort aus werde ich ihr ihre Weinberge wiedergeben. Das Achor-Tal werde ich für sie zum Tor der Hoffnung machen. Dort wird sie mir antworten wie in den Tagen ihrer Jugend, wie am Tag, als sie aus dem Land Ägypten heraufzog“ (Hos 2,16f).

Micha: Jerusalem wird zu einem Trümmerhaufen Nach der Eroberung des Nordreiches durch die Assyrer im ­Jahre 722 v. Chr. setzte eine Fluchtbewegung in den Süden ein. Viele der Flüchtlinge fanden in Jerusalem Zuflucht. Unter ihnen waren wahrscheinlich auch Tradenten der Prophetie Hoseas. Hosea war der einzige der sogenannten Schriftpropheten, der aus dem Nordreich Israel stammte. Mit der Eroberung und der Umwandlung des Nordreiches in eine assyrische Provinz, der Deportation seiner Eliten nach Assyrien und der Flucht vieler seiner Bewohner nach Juda brach der theologische Diskurs im Gebiet des ehemaligen Nordreiches weitgehend zusammen. Theologische und religiöse Themen gelangten nach Juda und wirkten dort weiter. Die Forderung nach der Alleinverehrung Jhwhs in kritischer Auseinandersetzung mit dem Baal-Kult, die theologische Erschließung der Beziehung zwischen Israel und Jhwh im Bild einer Ehe, die auf Erwählung aus Liebe gründet und in der Gestalt eines Bundes auf Dauer und Ausschließlichkeit hin angelegt ist, der kritische Blick zurück in die Ge158

schichte des Gottesvolkes, insbesondere seine Staatswerdung, waren Themen, die im Umkreis Hoseas entstanden waren und im 7. Jh. in Juda weiterwirkten. Wie sah es zu dieser Zeit in Jerusalem aus? Dort hatte man zunächst andere Sorgen. Wie ein Damoklesschwert hing das Schicksal des Nordreiches auch über Juda. Sollte es Jerusalem ebenso ergehen wie Samaria? Der Expansionsdrang der Assyrer war noch keineswegs beendet. Die assyrische Armee drang im Jahre 701 v. Chr. weiter nach Süden vor und eroberte zahlreiche Städte Judas. Ein gewisser Micha aus Moreschet-Gat, einem kleinen Ort im Hügelland zwischen Küstenregion und judäischem Bergland, erlebte die Katastrophe und war erschüttert: „Darüber muss ich klagen und jammern, barfuß und nackt gehe ich umher. Ich erhebe Klage wie die Schakale, Trauerklage wie die Strauße“ (Mi 1,8). Der Prophet sieht das Unheil auch auf Jerusalem herabkommen. Wie Samaria so wird es auch Jerusalem ergehen. Seine Botschaft gipfelt in der ungeheuerlichen Ankündigung: „Jerusalem wird zu einem Trümmerhaufen, der Tempelberg zu einer überwucherten Höhe“ (Mi 3,12). Michas Botschaft blieb nicht unwidersprochen. Er hatte Gegner, auch unter den Propheten. Diese beriefen sich auf Jhwh und traten ihrem Kollegen mit den Worten entgegen: „Ist nicht der Herr in unserer Mitte? Kein Unheil kann über uns kommen!“ (Mi 3,11). Damit ist ein Thema gesetzt, das die politischen und theologischen Auseinandersetzungen in Jerusalem in den folgenden Jahren bestimmen sollte. War Jhwh nicht gegenwärtig in seinem Tempel auf dem Zion? Hatte er nicht der davidischen Dynastie ewigen Bestand zugesagt? „Dein Haus und dein Königtum werden vor dir auf ewig bestehen bleiben; dein Thron wird auf ewig Bestand haben“, so lautete die Verheißung, die der Prophet Natan König David in göttlichem Auftrag einst überbracht hatte, als der Herr ihm Ruhe verschafft hatte vor allen seinen Feinden (2 Sam 7,16). Der Zusammenbruch des Nordreiches war aus judäischer Perspektive gut nachvollziehbar. Schließlich war der Staat auf Sand gebaut, genauer: auf „goldenen Kälbern“, die Jerobeam, sein erster König, hatte errichten lassen. Mit der Verwerfung Sauls, der aus dem Stamm Benjamin stammte, hatte sich das Desaster bereits angekündigt. Da er nicht auf das Wort des Propheten Samuel gehört, sondern sich darüber hinweggesetzt 159

hatte, musste Jhwh seine Erwählung widerrufen. Mit David hat sich der Herr einen Mann nach „seinem Herzen erwählt“ und ihn zum Hirten seines Volkes gemacht. Und nun treten im Gottesvolk von Jhwh berufene Propheten auf, die diesem Königtum den Untergang verkünden? Wird die Gottesstadt wanken, da sich Könige gegen sie erheben? Wird der Gott-mit-uns (Immanuel) zu einer Enttäuschung?

160

VIII. Rettung Jerusalems (701 v. Chr.)

Jesaja „Die Verkündigung Jesajas ist das gewaltigste theologische Phänomen des ganzen Alten Testaments“, schreibt der bedeutende Alttestamentler Gerhard von Rad (Theologie des Alten Testaments. Bd. II. Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 8 1984, 154). Zusammen mit den Psalmen gehört Jesaja zu den im Neuen Testament am häufigsten zitierten alttestamentlichen Büchern. Der Kirchenlehrer Hieronymus nennt Jesaja „mehr einen Evangelisten als einen Propheten“. Als Augustinus sich auf den Empfang der Taufe vorbereitete, fragte er Ambrosius, den Bischof von Mailand, welches Buch der Heiligen Schrift er ihm in besonderer Weise zur Taufvorbereitung empfehlen könne. Dieser verwies ihn auf den Propheten Jesaja, „weil er so deutlich wie kein anderer das Evangelium und die Berufung der Heiden vorausverkündet habe“ (Augustinus, Bekenntnisse IX, 5, 13). Jesaja wirkte in den Jahren zwischen 734 und 701 v. Chr. Es war die Zeit der aggressiven assyrischen Expansion. Große Teile des Landes wurden von den assyrischen Truppen besetzt und verwüstet. Mit knapper Not konnte sich Jerusalem noch einmal der drohenden Gefahr entziehen. Die Botschaft Jesajas lässt sich als eine intensive theologische Auseinandersetzung mit der assyrischen Krise verstehen. Das Buch weist eine längere Entstehungsgeschichte auf, die sich von etwa 700 bis 300 v. Chr. erstreckt hat. Am Anfang der Überlieferung stehen die Worte Jesajas aus der Zeit zwischen 734 bis 701 v. Chr. Sie sind vor allem in den Kapiteln 6–8 verarbeitet worden, finden sich aber auch in anderen Abschnitten im ersten Teil des Buches (Jes 1–39). Es ist nicht auszuschließen, dass Jesaja die schriftliche Fixierung seiner Botschaft selbst in Gang gesetzt und sie einem Kreis von Schülern anvertraut hat (vgl. Jes 8,16–18). 161

Die Kapitel 40–55 dürften in den Jahren nach 550 v. Chr. entstanden sein, gegen Ende des babylonischen Exils und in der Zeit danach. Bedeutende Texte aus diesem Teil, vom Aufruf „Tröstet, tröstet mein Volk“ über die „Stimme eines Rufers in der Wüste“ bis zu den Liedern vom Gottesknecht, wurden als Prophezeiungen auf Jesus Christus verstanden. Lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass sich dahinter eine große, namentlich nicht bekannte prophetische Persönlichkeit verbirgt. Man gab ihr den Kunstnamen „Deuterojesaja“ („zweiter Jesaja“). Inzwischen rechnet man jedoch auch bei diesem Teil des Buches mit einer längeren Entstehungsgeschichte, die sich bis in die Schlusskapitel Jes 56–66 hin erstreckt. Im Unterschied zu Jesaja, der aus Jerusalem stammte und guten Kontakt zu den führenden Kreisen der Hauptstadt hatte, kamen die Propheten Amos und Micha aus kleinen Landstädten in der Provinz. Die Themen und die Sprache ihrer Botschaft waren ländlich geprägt. Sie verstanden sich als Anwälte der Bauern und der kleinen Leute und klagten die Ungerechtigkeiten an, die den Verarmten und Bedrängten der Gesellschaft von den Mächtigen und Reichen angetan wurden. Auch Jesaja vertritt diese Anliegen. Er scheint von Amos beeinflusst zu sein. Doch thematisch geht seine Botschaft deutlich über Amos und Micha hinaus. Er ist von Haus aus Jerusalemer, und von daher wundert es nicht, dass er sich theologisch und politisch intensiv mit dem davidischen Königtum auseinandersetzte. Das judäische Königtum schien an einem toten Punkt angelangt zu sein. Haben die mit ihm einhergehenden politischen und theologischen Erwartungen angesichts der weitaus mächtigeren Reiche der Assyrer, der Ägypter und der Babylonier noch eine Zukunft? Oder bedarf das Königtum einer grundlegenden Transformation in der Gestalt eines neuen Herrschers, der „aus dem Baumstumpf Isais wächst“, auf dem der „Geist des Herrn ruht, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn“ (Jes 11,1)? Jerusalem und das Haus David waren auf das Äußerste bedroht. In dieser dramatischen Krise fragt der Herr: „Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“ (Jes 6,8). Jesaja ist bereit, sich dieser Krise zu stellen: „Hier bin ich, sende mich!“, war seine Antwort.

162

Jesajas Berufung Ohne eine unmittelbare Erfahrung Gottes bleibt die Botschaft der Propheten unverständlich. Das gilt insbesondere für die drei großen Propheten: Jesaja, Jeremia und Ezechiel. Wer prophetisch redet, ist noch lange kein Prophet, damals nicht und heute auch nicht. Jemand kann sich eine prophetische Redeweise aneignen und in der Öffentlichkeit wie ein Prophet auftreten, ohne dass er wirklich ein Prophet ist. Das Prophetengesetz des Deuteronomiums warnt vor solchen Leuten: Es handelt sich um Propheten, die sich anmaßen, im Namen Gottes zu sprechen. In Wahrheit jedoch hat Gott gar nicht zu ihnen gesprochen. Sie reden „aus ihrem eigenen Herzen“. Die Septuaginta nennt sie Pseudopropheten. Mögen sie Aufsehen erregen und durch ihre Auftritte in der Öffentlichkeit ihr Ansehen steigern, so soll man ihr Gerede nicht weiter beachten. „Du sollst dich dadurch nicht aus der Fassung bringen lassen“ (Dtn 18,22). In den ersten fünf Kapiteln des Jesajabuches wird eine Botschaft verkündet, die fassungslos macht: „Israel hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht“ (Jes 1,3). „Jerusalem ist gestürzt und Juda gefallen; denn ihre Worte und Taten richten sich gegen den Herrn“ (Jes 3,8). „Darum ist der Zorn des Herrn gegen sein Volk entbrannt; er hat seine Hand gegen es ausgestreckt und es geschlagen“ (Jes 5,25). Darf jemand so reden? Ja, Jesaja darf es, denn Gott selbst hat ihn dazu beauftragt. Wie es zu dieser Beauftragung kam, erzählt einer der bekanntesten Texte des Alten Testaments: „Im Todesjahr des Königs Usija [das ist das Jahr 735 v. Chr.] sah ich den Herrn auf einem hohen und erhabenen Thron sitzen und die Säume seines Gewandes füllten den Tempel aus. Serafim standen über ihm. Sechs Flügel hatte jeder: Mit zwei Flügeln bedeckte er sein Gesicht, mit zwei bedeckte er seine Füße und mit zwei flog er. Und einer rief dem anderen zu und sagte: ‚Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen. Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit‘. Und es erbebten die Türzapfen in den Schwellen vor der Stimme des Rufenden und das Haus füllte sich mit Rauch. Da sagte ich: ‚Weh mir, ich bin verloren. Denn ein Mann unreiner Lippen bin ich und mitten in einem Volk unreiner Lippen wohne ich, denn den König, den Herrn der Heerscharen, haben meine Augen gesehen“ (Jes 6,1–5).

163

Der Prophet ist Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen Verblendung. Das meint das Wort vom „Volk unreiner Lippen“. Die Umwertung aller Werte beginnt gewöhnlich mit der Sprache. Erst wenn sich die neuen Sprachregelungen durchgesetzt haben, kann man ungeniert das Böse tun, denn – nach der neuen Sprachregelung – ist es ja gar nicht mehr das Böse, sondern das Gute. Jesaja hat diesen Mechanismus durchschaut: „Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen, die das Bittere süß und das Süße bitter machen“ (Jes 5,20). Das Gefährliche daran ist, dass die Umwertung über die Sprache erfolgt und von der sogenannten intellektuellen Elite, von denen, „die sich selbst für klug halten“, durchgesetzt wird. Deshalb fügt der Prophet sogleich hinzu: „Weh denen, die in ihren eigenen Augen weise sind und sich selbst für klug halten“ (Jes 5,21). Das Tragische daran ist, dass Jesaja selbst Teil dieser kollektiven Verblendung ist: „Weh mir, ich bin verloren. Denn ein Mann unreiner Lippen bin ich und mitten in einem Volk unreiner Lippen wohne ich“ (Jes 6,5). Deshalb bedarf der Prophet der Reinigung, bevor er im Namen Gottes sprechen darf: „Da flog einer der Serafim zu mir und in seiner Hand war eine glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte. Er berührte damit meinen Mund und sagte: ‚Siehe, dies hat deine Lippen berührt, so ist deine Schuld gewichen und deine Sünde gesühnt‘“ (Jes 6,6f). Was hier in fokussierter Form geschieht, nennt die Mystik die via purgativa, den Weg der Reinigung. Ohne diese Reinigung bleibt alles Reden von Gott verschattet.

Jesajas Vision Vom ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt stammt das Wort: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Mit diesem Bonmot bringt der nüchterne Hanseat die Erfahrung zum Ausdruck, dass Visionen nur allzu oft den Blick auf die Realitäten dieser Welt verstellen und zu verheerenden politischen Fehlentscheidungen führen. Auch Theologen und Verantwortliche in der Kirche sind vor dieser Gefahr nicht gefeit. Die großen Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel hatten Visionen. Ihre Visionen haben jedoch den Blick für die politischen 164

Machtverhältnisse ihrer Zeit nicht getrübt, sondern geschärft, wie das Buch der Sprichwörter in einem grundsätzlichen Sinne festhält: „Ohne prophetische Offenbarung verwildert das Volk; selig ist es, wenn es die Unterweisung bewahrt“ (Spr 29,18). Der Zusammenhang zwischen authentischer prophetischer Vision und realistischer politischer Option ist in der Theologie in den letzten Jahren ein wenig in Vergessenheit geraten. In den Gottesdiensten hören wir oft nur kleine Auszüge aus den Büchern der Propheten. Es sind im Grunde Gesprächsfetzen, die wir kaum verstehen, weil wir das Gespräch nicht kennen, aus dem sie stammen. Deshalb besteht eine wichtige Aufgabe der Bibelwissenschaft darin, die zeitgenössischen Diskurse zu rekonstruieren, die von Propheten maßgeblich mitgeprägt wurden. Der Zusammenhang zwischen prophetischer Vision und politischer Option wird im ersten Teil des Jesajabuches geradezu paradigmatisch vor Augen geführt. Das 6. Kapitel handelt von der Berufung Jesajas. Sie besteht aus einer Vision (Jes 6,1–7) und einer Audition (Jes 6,8–11). Der Prophet sieht (videre) etwas und er hört (audire) etwas. Im unmittelbaren Anschluss daran erzählt das 7. Kapitel von der Begegnung des Propheten mit dem judäischen König Ahas in einer dramatischen Stunde der Geschichte Judas und des davidischen Königtums. Die Abfolge der beiden Erzählungen ist grundlegend für die Verhältnisbestimmung von Prophetie und Politik. Was sieht und hört der Prophet? Sechsflügelige Serafim rufen einander zu: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen. Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit“ (Jes 6,3). Auch wenn nicht ausdrücklich gesagt, so kommt in diesem Dreimalheilig (Trishagion) zum Ausdruck, dass Jhwh nicht nur der Gott Judas und der davidischen Dynastie ist, sondern der Gott der ganzen Welt. Wenn die ganze Erde von seiner Herrlichkeit erfüllt ist, dann gibt es für andere (göttliche) Herrlichkeiten keinen Platz mehr. Eine erste Konsequenz dieser geistigen Schau ist die Erkenntnis, dass Jhwh der Herr der Geschichte aller Völker ist. Konkret kann das bedeuten, dass Assur, der Erzfeind Israels und Judas, ein Knüppel in der Hand Gottes ist (Jes 10,15), mit dem er sein Volk schlägt: „Darum ist der Zorn des Herrn gegen sein Volk entbrannt; er hat seine Hand gegen es ausgestreckt und es geschlagen“ (Jes 5,25). Der für Israel tödliche und 165

für Juda verheerende Vormarsch der Assyrer in der zweiten Hälfte des 8. Jh. war nicht Folge eines undurchschaubaren Schicksals und ebenso wenig Ausfluss eines irrationalen göttlichen Zornes, auch wenn einige in Jerusalem das damals so sahen. Gottes Zorn gegen sein Volk ist Folge gravierender politischer Fehlentscheidungen in der Führungselite Jerusalems; zu viele haben sich blenden lassen und nicht auf die Stimme der Propheten gehört. Durch die Vision eröffnet sich dem Propheten ein die einzelnen Ereignisse übergreifender Horizont. Das ist die Folge des universalen Monotheismus, der in der Vision Jesajas deutlich zum Ausdruck kommt. Alles Geschehen in der Welt wird im Lichte dieses einen Gottes gesehen. Damit hat sich ein fundamentaler Wandel vollzogen. Jetzt geht es nicht mehr um die Frage, welcher Gott stärker oder im Recht ist, sondern jetzt bewegt sich diese Auseinandersetzung im Raum der einen Gotteswirklichkeit, modern gesprochen: im Rahmen eines Rationalitätskonzeptes. Dann allerdings stellt sich die Frage: Was kann vernünftigerweise der Wille dieses Gottes sein? Wer hat davon gehört? Wer hat den Durchblick?

Ruhe bewahren! Wir befinden uns am Vorabend der syrisch-efraimitischen Krise im Jahre 734 v. Chr. Seit einigen Jahren stöhnt der gesamte Vordere Orient unter dem Expansionsdruck der Assyrer. Die Kleinstaaten der Levante versuchen, sich durch geschicktes Koalieren dagegen zu stemmen. Auch das Nordreich Israel ist mit von der Partie. Mit dem Aramäerkönig Rezin von Damaskus geht Pekach, der König Israels, eine antiassyrische Koalition ein. Juda will sich diesem riskanten Unternehmen nicht anschließen. Wer den Aufstand gegen eine Weltmacht wagt, geht ein hohes politisches Risiko ein. Oft ist es klüger, sich ruhig zu verhalten. Zeugt es nicht von politischer Weitsicht, sich den Assyrern zu unterwerfen und mit ihnen zu kooperieren, um seine Dynastie zu retten und das Land vor Krieg und Verwüstung zu bewahren? In dieser prekären Lage ist guter Rat teuer. Aram und Israel planen einen Feldzug gegen Jerusalem, um Juda in eine antiassyrische Koalition zu zwingen. Dazu muss König Ahas abgesetzt und durch einen Marionettenkönig („Sohn des Tabeal“) 166

ersetzt werden. Das wäre wahrscheinlich das Ende der davidischen Dynastie gewesen, denn Usurpatoren zögerten in der Regel nicht, die Nachkommen der gestürzten Dynastie auszurotten. Da ist es nur allzu verständlich, dass „das Herz des Königs und das Herz seines Volkes zitterte, wie Bäume des Waldes im Wind zittern“, als die Nachricht davon in Jerusalem eintraf (Jes 7,2). In dieser bedrohlichen Lage wird Jesaja von Jhwh beauftragt, König Ahas „am Ende der Wasserleitung des oberen Teiches, zur Straße am Walkerfeld“ (Jes 7,3) entgegenzutreten. Dorthin hatte sich der König begeben, um die Wasserversorgung und die Verteidigungsanlagen der Stadt angesichts des zu erwartenden Angriffs zu sichern. Was soll der Prophet dem König im Auftrag des Herrn in dieser dramatischen Krise ausrichten? „So spricht Gott, der Herr: Das kommt nicht zustande, das wird nicht geschehen“ (Jes 7,7). Die Botschaft Jesajas entspricht der Sache nach einem Heilsorakel. Es ist allerdings mit einer an den König gerichteten Warnung verbunden: „Hüte dich und verhalte dich still! Fürchte dich nicht und dein Herz sei nicht verzagt wegen dieser beiden rauchenden Holzscheitstummel!“ (Jes 7,4). Jesaja warnt den König vor falschen politischen Entscheidungen. Zieht man 2 Kön 16,7 als Hintergrundinformation heran, dann hat der judäische König den Assyrerkönig Tiglat-Pileser gebeten, gegen Aram und Israel vorzugehen, um den von ihnen geplanten Angriff gegen Jerusalem zu vereiteln. Unter dieser Voraussetzung wäre das Wort Jesajas eine an Ahas gerichtete Warnung, die Hilfe der Assyrer in Anspruch zu nehmen, denn damit käme er vom Regen in die Traufe. Das Orakel beruht auf einer realistischen Einschätzung der politischen Machtverhältnisse. Von Aram und Efraim, so die Botschaft, geht keine Gefahr aus; deren Könige sind nur noch „verglühende Holzscheitstummel“. Die eigentliche Gefahr droht von den Assyrern. Tatsächlich fiel Damaskus im Jahre 732 und Samaria im Jahre 722 der assyrischen Expansion zum Opfer. In den folgenden Jahren wurde auch Juda von den assyrischen Truppen verwüstet und Jerusalem belagert. Man kann eine frühe Phase der Verkündigung Jesajas als den Versuch verstehen, diese Katastrophe zu verhindern. Der Prophet kritisiert nicht die von Ahas unternommenen Anstrengungen, die Wasserversorgung Jerusalems angesichts eines zu erwartenden Angriffs zu sichern. Es geht nicht darum, die Hände in 167

den Schoß zu legen, sondern darum, aus einer Haltung des Gottvertrauens zu einer realistischen Einschätzung und einem der Lage angemessenen Handeln zu gelangen. In diesem Sinn ist das berühmte Wort Jesajas zu verstehen: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ (Jes 7,9). Im Hintergrund steht die dem davidischen Königtum gegeben Verheißung, auf ewig „festzustehen“: „Dein Haus und dein Königtum werden vor dir auf ewig bestehen bleiben; dein Thron wird auf ewig Bestand haben“ (2 Sam 7,16). Allerdings kann diese Verheißung durch politisches Vabanque verspielt werden. Davor warnt der Prophet den König.

Immanuel Ein göttlicher Zuspruch hilft nicht, wenn er nicht angenommen wird. Angesichts der Bedrohung Jerusalems hatte der Prophet Jesaja dem „zitternden König“ die rettende Nähe Gottes zugesagt und ihn und sein Haus zum Vertrauen aufgerufen: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ (Jes 7,9). Im zweiten Teil der Erzählung (Jes 7,10–17) fordert Gott König Ahas auf, seinem Vertrauen auf Jhwh in einer konkreten Handlung sichtbaren Ausdruck zu verleihen: „Der Herr sprach weiter zu Ahas und sagte: Erbitte dir ein Zeichen vom Herrn, deinem Gott, tief zur Unterwelt oder hoch nach oben hin!“ (Jes 7,11). Ahas weigert sich, dieser Aufforderung nachzukommen. Seine Begründung ist scheinheilig: „Ich werde um nichts bitten und den Herrn nicht versuchen“ (Jes 7,12). Die Begründung erweckt den Anschein, als würde die Weigerung des Königs aus Achtung vor der Souveränität Gottes erfolgen. Denn in Dtn 6,16 heißt es: „Ihr sollt den Herrn, euren Gott, nicht auf die Probe stellen!“ Doch Gott deckt auf, dass sich hinter dem frommen Schein ein weniger frommes Sein verbirgt. Für den König ist in der konkreten Gefahr die göttliche Dimension der Wirklichkeit irrelevant. Der König will Gott aus dem Geschehen heraushalten und autonom entscheiden. Für Jesaja ist dies ein Zeichen des Unglaubens. Zuvor hatte der Prophet vor dem Unglauben gewarnt (Jes 7,4–9), jetzt zeigt sich, dass seine Warnung nicht unberechtigt war. Im Rückblick erweist sich die Angst im Hause Davids (Jes 7,2) als Zeichen mangelnden Vertrauens. Gott aus der Geschichte her168

auszuhalten, wird nicht möglich sein. Jhwh wird von sich aus ein Zeichen geben, das Zeichen des Immanuel. Es ist ein unerbetenes Zeichen göttlicher Gegenwart: „Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau hat empfangen, sie gebiert einen Sohn und wird ihm den Namen Immanuel geben. […] Denn noch bevor das Kind versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen, wird das Land verlassen sein, vor dessen beiden Königen dich das Grauen packt. Der Herr wird Tage kommen lassen über dich, über dein Volk und über das Haus deines Vaters, wie sie nicht gekommen sind seit dem Tag, an dem Efraim sich von Juda abwandte – nämlich den König von Assur!“ (Jes 7,14–17). Da das Angebot eines Zeichens göttlicher Nähe vom Hause Davids abgelehnt wurde, wird es zu einem unheimlichen Zeichen. In den Assyrern kommt Gott seinem Volk nahe: „Weil dieses Volk die ruhig fließenden Wasser von Schiloach verachtet und Freude hat an Rezin und dem Sohn Remaljas, darum, siehe, lässt der Herr die gewaltigen und großen Wasser des Eufrat, den König von Assur und seine ganze Macht, über sie emporsteigen. […] Er wird über Juda dahinfahren, es überfluten und überschwemmen, bis zum Hals wird er reichen. Und seine ausgespannten Flügel füllen die Breite deines Landes, o Immanuel!“ (Jes 8,6.8). Heil und Unheil stehen in der Botschaft Jesajas in einer inneren Spannung. Sie ergibt sich aus der Reaktion der Angesprochenen auf die Zuwendung Gottes. Gott ist ein Gott der Gegenwart, ein „Gott-mit-uns“ (Immanuel), doch wie sich die Gegenwart Gottes auswirkt, hängt von der Reaktion der Angesprochenen ab. Wird der „Gott-mit-uns“ abgelehnt, dann verkehrt sich seine Gegenwart in einen „Gott-gegen-uns“. Gott kommt, wie es in der theologischen Fachsprache heißt, „sub contrario“. König Ahas steht für den Unglauben des Hauses David in den Tagen der syrischefraimitischen Krise der Jahre 734–732 v. Chr. Sein Konterpart ist sein Sohn und Nachfolger König Hiskija. Wahrscheinlich verweist das Zeichen des Immanuel im Kontext des Jesajabuches auf ihn, wenngleich nicht alle mit dem Zeichen verbundenen Verheißungen mit ihm in Erfüllung gehen. Hiskija wendet sich in der Krise des Jahres 701 voll Vertrauen an Gott und nimmt die Beistandszusage aus dem Munde des Propheten vertrauensvoll an. Jerusalem wird gerettet (vgl. Jes 36–38). 169

Trügerische Hoffnungen Völlig überraschend starb im Jahre 705 der Assyrerkönig Sargon II. Die Kleinstaaten der Levante schöpften neue Hoffnung. Ist der Zeitpunkt gekommen, einen Aufstand zu wagen? In Jerusalem plädierte eine einflussreiche Gruppe dafür. König Hiskija machte sich nach anfänglichem Zögern diese Position zu eigen, stellte die Tributzahlungen an Assur ein und trat an die Spitze einer antiassyrischen Koalition von Kleinstaaten. Dabei hoffte er auf militärische Unterstützung von Seiten Ägyptens. Jesaja sprach sich entschieden gegen diese Option aus. Was sind seine Argumente? Seine Warnung vor einem Abfall von Assyrien ist in erster Linie realpolitisch motiviert. Ein Aufstand wird scheitern. Er wird die Assyrer zur militärischen Invasion provozieren. Große Teile des Landes werden verwüstet, die Existenz des Staates steht auf dem Spiel. Um das zu erkennen, bedarf es keiner außergewöhnlichen Offenbarung. Es reicht der gesunde Menschenverstand eines Bauern. Das Gleichnis von der erfahrungsbasierten Arbeit des Bauern (Jes 28,23–29) will im vorliegenden Zusammenhang sagen, dass es in Fragen der Bündnispolitik vor allem um den Gebrauch des gesunden Menschenverstandes geht. Gott unterweist den Bauern nicht durch außergewöhnliche prophetische Visionen und Auditionen, sondern schlicht und ergreifend durch die natürliche Ordnung der Dinge: „So unterweist ihn, belehrt ihn zur rechten Ordnung sein Gott“ (Jes 28,26). Die politische und gesellschaftliche Elite, namentlich Priester und Propheten, dagegen sind verwirrt und erliegen illusorischen Wahnvorstellungen: „Priester und Propheten schwanken vom Bier, sind benommen vom Wein. Sie taumeln vom Bier, sie schwanken bei ihren Visionen, sie torkeln beim Entscheid“ (Jes 28,7). Die Erfahrung zeigt, dass auf Ägypten in Krisensituationen kein Verlass ist. Zudem ist seine militärische Macht zu schwach, um der assyrischen Armee zu widerstehen. Jesaja warnt vor einem solchen Bündnis. Der Vormarsch der Assyrer kann damit nicht gestoppt werden: „Die Geißel, die überschwemmende Flut, von ihr werdet ihr zermalmt“ (Jes 28,18). Die von vielen auf Ägypten gesetzten Hoffnungen nehmen pseudoreligiöse Züge an und treten in Konkurrenz zum Vertrauen auf den Heiligen Israels: „Wehe denen, die nach Ägypten um Hilfe hinabziehen, sich auf Pferde stützen! Sie 170

haben auf Wagen vertraut, weil es viele, und auf Reiter, weil sie sehr stark waren. Doch auf den Heiligen Israels haben sie nicht geschaut und den Herrn haben sie nicht befragt! […] Denn die Ägypter sind Menschen und nicht Gott und ihre Pferde sind Fleisch und nicht Geist!“ (Jes 31,1.3). So steht neben der erfahrungsbasierten politisch-pragmatischen Kritik eine theologische Grundsatzkritik. Was allein von Jhwh zu erwarten ist, wird von Ägypten erwartet. Der Pharao tritt an die Stelle Jhwhs: „Die sich auf den Weg hinunter nach Ägypten machen – meinen Mund haben sie nicht befragt –, um sich zu bergen im Schutz des Pharao und Zuflucht zu suchen im Schatten Ägyptens zur Schmach. […] Ägypten ist nichtig, nutzlos ist ihre Hilfe“ (Jes 30,2–7). Grundlage für das vom Propheten eingeforderte Vertrauen ist der von Jhwh in Zion gelegte „Grundstein“: „Siehe, ich habe in Zion einen Grundstein, einen harten und kostbaren Eckstein gelegt, ein fest gegründetes Fundament: Wer glaubt, treibt nicht zur Eile“ (Jes 28,16; vgl. 7,9). Jesajas Devise lautet: „Durch Umkehr und Ruhe werdet ihr gerettet, im Stillhalten und Vertrauen liegt eure Kraft“ (Jes 30,15). Das schließt die politische Vernunft nicht aus, sondern ein. Jesaja warnt die Verantwortlichen in Juda, die politischen Fehlentscheidungen zu wiederholen, die wenige Jahre zuvor (722 v. Chr.) dem Nordreich zum Verhängnis wurden (Jes 28,1–4). Damals hatte sich König Hoschea an einem antiassyrischen Aufstand beteiligt und dafür mit dem Untergang des Staates und der Besetzung des Landes einen hohen Preis gezahlt.

Glaube und Aberglaube Der assyrische König Sanherib (705–681 v. Chr.) war im Jahre 701 v. Chr. gegen die abtrünnigen Kleinstaaten der Levante gezogen. Dazu gehörte auch Juda. Nachdem er fast alle befestigten Städte des Landes eingenommen hatte, schickte er vom belagerten Lachisch, einer bedeutenden Stadt in der Schefela, einen seiner Generäle nach Jerusalem, um König Hiskija zur Kapitulation aufzufordern. Die Nationalreligiösen in Jerusalem hatten Hiskija im Jahre 705 zum Abfall von Assur überredet. Ihr Argument: Jhwh wird seine Stadt beschützen. Hier setzt nun der assyrische General an und lässt Hiskija ausrichten: „Auf wen hast du vertraut, dass du dich gegen mich 171

aufgelehnt hast? Siehe, du hast auf Ägypten vertraut, dieses geknickte Schilfrohr, das jedem, der sich darauf stützt, in die Hand sticht und sie durchbohrt. Denn so ist der Pharao, der König von Ägypten, für alle, die auf ihn vertrauen. Wenn du aber zu mir sagst: Auf den Herrn, unseren Gott, haben wir vertraut. – Ist nicht er es, dessen Kulthöhen und Altäre Hiskija beseitigt hat? […] Und nun, bin ich denn ohne den Herrn gegen dieses Land heraufgezogen, um es zu verwüsten? Der Herr hat zu mir gesagt: Zieh hinauf gegen dieses Land und verwüste es!“ (Jes 36,4–7.10). Der assyrische General bringt jene Argumente vor, mit denen in Jerusalem die Gegner der Nationalreligiösen argumentierten. Zu ihnen gehörte auch Jesaja. Ihrer Überzeugung nach wird der Aufstand scheitern, von Ägypten ist keine Hilfe zu erwarten. Assur ist ein Stock des göttlichen Zornes und ein Knüppel in der Hand Jhwhs (Jes 10,5). Sich mit den Assyrern zu arrangieren, wird das Beste für das Land sein. Waren Jesaja und seine Schüler Parteigänger der Assyrer? Im Munde des assyrischen Generals hört sich das so an: „Hiskija soll euch nicht verleiten, auf Jhwh zu vertrauen, indem er sagt: Jhwh wird uns sicher retten, diese Stadt wird dem König von Assur nicht in die Hände fallen. Hört nicht auf Hiskija! Denn so spricht der König von Assur: Schließt mit mir Frieden, euch zum Segen, und kommt zu mir heraus und esst – jeder von seinem Weinstock und jeder von seinem Feigenbaum, und trinkt – jeder das Wasser seiner Zisterne […]. Hiskija verführe euch nicht, wenn er sagt: Jhwh wird uns retten. Hat denn einer von den Göttern der Nationen sein Land vor dem König von Assur gerettet?“ (Jes 36,14–18). Die Beamten Hiskijas berichten dem König von der Kapitulationsforderung des assyrischen Generals. „Als König Hiskija das hörte, zerriss er seine Kleider, hüllte sich in Sacktuch und ging in das Haus des Herrn“ (Jes 37,1). Gleichzeitig schickte er eine Gesandtschaft zum Propheten Jesaja mit der Bitte, in der Not für den noch übrig gebliebenen Rest des Volkes zu beten. König Hiskija wird hier als Anti-Ahas gezeichnet. Während sein Vater Ahas in der syrisch-efraimitischen Krise der Jahre 734–732 angesichts eines bevorstehenden Angriffs auf Jerusalem nichts von Jhwh und seinem Propheten wissen wollte (siehe weiter oben die Abschnitte „Ruhe bewahren!“ und „Immanuel“), verhält sich sein Sohn und Nachfolger Hiskija gut 172

dreißig Jahre später vorbildlich. Ist er der angekündigte Immanuel (vgl. Jes 7,14), der Sohn der jungen Frau, in dem sich Jhwh als ein „Gott-mit-uns“ erweist? Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, sondern in einem jahrhundertlangen Prozess geistiger Auseinandersetzung entstanden. Tiefgreifende Lernprozesse mussten durchgemacht werden. Wie sind Katastrophen zu deuten? Was zeigt sich in ihnen? Das Jahr 701 spielte dabei eine Schlüsselrolle. Verschiedene Gruppen versuchten, es in ihrem Sinne zu deuten. Wir werden versuchen, diesen Konflikt der Interpretationen zu rekonstruieren, um zu verstehen, was im Sinne der Bibel Glaube und was Aberglaube ist.

Fakten und ihre Deutung Das Jahr 701 v. Chr. spielt für die Entstehung des biblischen Ein-GottGlaubens eine bedeutende Rolle. Was war geschehen? König Hiskija hatte im Jahre 705 die Tributzahlungen an Assur eingestellt und sich an die Spitze einer antiassyrischen Koalition gestellt. Jesaja hatte dringend davon abgeraten (Jes 20,1–6), doch die Nationalreligiösen konnten sich durchsetzen. Die Situation schien günstig, denn nach dem plötzlichen Tod des Assyrerkönigs Sargon II. (722–705) hatte sein Nachfolger Sanherib (705–681) alle Hände voll zu tun, seine Herrschaft zu festigen. Doch eine harte Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Der Assyrerkönig startete im Jahre 701 eine Strafexpedition in die südliche Levante. Wie Dominosteine brach der antiassyrische Aufstand in sich zusammen. 46 befestigte Städte Judas wurden von der assyrischen Armee eingenommen. Jetzt musste nur noch die Hauptstadt erobert werden. Von Lachisch aus schickte die assyrische Heeresführung einen General nach Jerusalem, der König Hiskija Kapitulationsforderungen unterbreitete. In dieser schwierigen Lage war guter Rat teuer. Wird Gott seine Stadt retten? Das Jesajabuch erzählt von einem Wunder: „Da ging der Engel des Herrn hinaus und erschlug im Lager der Assyrer hundertfünfundachtzigtausend Mann. Als man früh am Morgen aufstand, siehe, sie alle waren Leichen, Tote. Da brach Sanherib, der König von Assur, auf und kehrte in sein Land zurück und blieb in Ninive“ (Jes 37,36f ). 173

Hatten die Nationalreligiösen also Recht behalten? War ihr Vertrauen auf Jhwh berechtigt? Beschützt der Herr seine Stadt, wenn sie von Feinden angegriffen wird, wie die Zionstheologie verheißt: „Eines Stromes Arme erfreuen die Gottesstadt, des Höchsten heilige Wohnung. Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken. Gott hilft ihr, wenn der Morgen anbricht. […] Mit uns ist der Herr der Heerscharen, der Gott Jakobs ist unsere Burg“ (Ps 46,5–8). Martin Luther hat auf der Grundlage von Ps 46 das Kirchenlied „Ein feste Burg ist unser Gott“ gedichtet. Es kann historisch als gesichert gelten, dass Jerusalem im Jahre 701 von den Assyrern nicht erobert wurde. Große Teile des Landes wurden verwüstet. Doch Jerusalem blieb verschont. Warum sind die Assyrer abgezogen? Im 2. Buch der Könige 18,13–16 hört sich die Sache weitaus nüchterner an: „Im vierzehnten Jahr des Königs Hiskija [das ist das Jahr 701] zog Sanherib, der König von Assur, gegen alle befestigten Städte Judas und nahm sie ein. Hiskija aber, der König von Juda, schickte Boten an den König von Assur nach Lachisch und ließ ihm sagen: Ich habe gefehlt. Lass ab von mir! Alles, was du mir auferlegst, will ich tragen. Der König von Assur verlangte von Hiskija, dem König von Juda, dreihundert Talente Silber und dreißig Talente Gold. Hiskija lieferte alles Geld ab, das sich im Haus des Herrn und in den Schatzkammern des königlichen Palastes befand.“ Nach dieser Überlieferung hat sich Hiskija in aussichtsloser Lage den Assyrern im letzten Moment unterworfen und einen enorm hohen Tribut gezahlt. Er ist in die Vasallität zurückgekehrt und hat eingesehen, dass er politisch falsch lag: „Ich habe gefehlt“. Liest man beide Versionen zusammen, wird man sagen müssen: Gott handelt durch Zweitursachen. Ohne politische Vernunft kann Gott seine Stadt nicht retten. Doch ein Wunder kann auch zu einer Falle werden. Gut hundert Jahre später beriefen sich die Nationalreligiösen erneut auf die „wunderbare“ Rettung Jerusalems im Jahre 701 und weigerten sich, mit den Babyloniern zu kooperieren. Diesmal trat der Prophet Jeremia auf und warnte mit drastischen Worten vor der politischen Fehleinschätzung. Diesmal hatte Jhwh kein Erbarmen mit seiner Stadt. Jerusalem wurde im Jahre 587 von den Babyloniern erobert, der Tempel wurde zerstört, große Teile der Bevölkerung nach Babel ins Exil 174

geführt. Jetzt war die Not groß: „Weh, wie einsam sitzt da die einst so volkreiche Stadt! Einer Witwe wurde gleich die Große unter den Völkern“ (Klagelieder 1,1).

Glaube und Vernunft Die Zeit der politischen Abenteuer war vorerst vorbei. Mit der Unterwerfung unter die Oberherrschaft der Assyrer hatte König Hiskija (725–697 v. Chr.) im letzten Augenblick sich und Jerusalem gerettet. Doch der Preis war hoch. Große Teile des Landes waren verwüstet. Für die Nationalreligiösen war die Rettung Jerusalems ein Wunder. Ihr Gott hatte gezeigt, dass er allen anderen Göttern und politischen Mächten überlegen ist. König Hiskija war ihr Held. Er hatte es gewagt, den Assyrern zu widerstehen. Sein Gebet wurde erhört: „Nun aber, Herr, unser Gott, rette uns aus seiner [des assyrischen Königs] Hand, damit alle Reiche der Erde erkennen, dass du, Herr, Gott bist, du allein!“ (2 Kön 19,19). Dass Hiskija am Ende mit hohen Tributzahlungen klein beigeben und sich erneut unterwerfen musste, wird in diesen Kreisen mit Stillschweigen übergangen. Nachfolger Hiskijas war sein Sohn Manasse (696–641 v. Chr.). Er schien aus den Fehlern seines Vaters gelernt zu haben und betrieb eine den politischen Realitäten angemessene Politik. Er arrangierte sich mit den Assyrern. Das bescherte dem Land eine fünfzigjährige Friedenszeit. Auch wirtschaftlich konnte sich das Land einigermaßen erholen. Historiker bescheinigen ihm eine kluge und erfolgreiche Politik. Doch den Frommen im Land passte die Richtung nicht. Von allen Königen Judas bekommt Manasse die schlechtesten Noten: „Er tat, was böse war in den Augen des Herrn, und ahmte die Gräuel der Völker nach, die der Herr vor den Israeliten vertrieben hatte. Er baute die Kulthöhen wieder auf, die sein Vater Hiskija zerstört hatte“ (2 Kön 21,2f). Eine lange Liste an Vergehen wird aufgeführt. Am Ende ist Manasse der Hauptschuldige für den Untergang Judas. „Der Zorn des Herrn war über Juda entbrannt wegen all der Kränkungen, die Manasse ihm zugefügt hatte“ (2 Kön 23,26). Wir stoßen hier auf das Problem von Glaube und Vernunft. Die vernünftige, auf Ausgleich und Frieden bedachte Politik Manasses war den Frommen ein Dorn im Auge, die waghalsigen politischen 175

Manöver seines Vaters Hiskija, der den Aufstand gegen Assur gewagt hatte, werden als Ausdruck tiefen Gottvertrauens gefeiert. Deshalb gehört Hiskija zu den wenigen Königen im Alten Testament, die mit hohem Lob versehen werden: „Genau wie sein Vater David tat er, was dem Herrn gefiel. […] Er setzte sein Vertrauen auf den Herrn, den Gott Israels. Unter allen Königen Judas, die nach ihm kamen oder vor ihm lebten, war keiner wie er. Er hing dem Herrn an, ohne von ihm abzuweichen, und bewahrte die Gebote, die der Herr dem Mose gegeben hatte. Daher war der Herr mit ihm; in allem, was er unternahm, hatte er Erfolg. So fiel er vom König von Assur ab und war ihm nicht länger untertan“ (2 Kön 18,3–7). Man kann die Geschichte Israels als einen langen Lernprozess verstehen. Dieser ist auch im Neuen Testament noch nicht abgeschlossen. Eines der Themen, mit denen sich Israel und die Kirche im Laufe ihrer Geschichte immer wieder auseinandersetzen mussten und müssen, ist die Frage nach dem rechten Verhältnis von Religion und Politik, von Glaube und Vernunft. Was waren die Bedenken der Nationalreligiösen? Haben nicht auch sie eine Gefahr erkannt, die es ernst zu nehmen galt? Darf man um des lieben Friedens will mit den Mächtigen dieser Welt kooperieren? Oder muss man kämpfen und auf die Hilfe Gottes vertrauen, so wie David es getan hat, als er den hoch überlegenen, bis an die Zähne bewaffneten Philister Goliath „im Namen des Herrn der Heerscharen, des Gottes der Schlachtreihen Israels“ (1 Sam 17,45) besiegte? Kann der Glaube Berge versetzen (vgl. Mt 17,20) und Feinde besiegen? Oder ist es klüger, auf den Rat Jesu zu hören, der empfiehlt, die Erfolgsaussichten eines geplanten Unternehmens nüchtern abzuwägen: „Wenn ein König gegen den anderen in den Krieg zieht, setzt er sich dann nicht zuerst hin und überlegt, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit zwanzigtausend gegen ihn anrückt? Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und bittet um Frieden“ (Lk 14,31f).

176

Religion und Kultur Mit der „Rettung Jerusalems“ im Jahre 701 v. Chr. war die unmittelbare Gefahr des staatlichen Zusammenbruchs gebannt. Im Unterschied zu seinem Vater Hiskija unternahm König Manasse keinerlei Versuche mehr, gegen die Weltmacht Assyrien zu rebellieren. Kein König in Juda regierte so lange wie er, ganze 55 Jahre lang, von 696 bis 642 v. Chr. Während das Nordreich Israel unter der Expansion der Assyrer als Staat zusammenbrach, konnte sich Juda als assyrischer Vasall behaupten. Nun drohen einer Religion nicht nur Gefahren von außen. Die Erfahrung zeigt, dass das friedliche Angebot einer kulturellen Alternative oft eine weitaus größere Herausforderung für eine Religion darstellt als eine Verfolgung von außen. Eine Religion, die direkt verfolgt wird, setzt oft Kräfte des Widerstands frei und kann gestärkt aus der Auseinandersetzung hervorgehen: „Wir werden doch mehr, je öfter ihr uns niedermäht. Ein Same ist das Blut der Christen“, schrieb der frühchristliche Schriftsteller Tertullian (ca. 160–220 n. Chr.). Ein attraktives zivilreligiöses Alternativangebot, das friedlich und „modern“ daherkommt und keine Verbindlichkeit einfordert, kann eine Religion weitaus stärker verunsichern und schwächen als ein plumper Angriff von außen. Die Nationalreligiösen in Juda hatten erkannt, dass die Behauptung nationaler Eigenstaatlichkeit eine wichtige Stütze für die Religion darstellt. Mit dem „Wunder von 701“ war dieses Ziel erst einmal erreicht. Doch konnte das auf Dauer genügen? Bedurfte es nicht einer gründlichen spirituellen und theologischen Bearbeitung der religiösen Traditionsbestände, um sich für den Fall zu rüsten, dass der Staat als Stütze der Religion kollabiert? Waren das nicht die Lehren, die aus dem Zusammenbruch des Nordreiches Israel im Jahre 722 und dem Beinahe-Zusammenbruch Judas von 701 zu ziehen ­waren? Juda bekam die Chance, sich auf dieses Szenario vorzubereiten. Es wurde nicht wie das Nordreich in wenigen Jahren hinweggefegt, sondern lebte fast ein Jahrhundert lang, etwa von 734 bis 622 v. Chr., unter der politischen und kulturellen Dominanz der Assyrer. Hier konnte und musste der Jhwh-Glaube lernen, sich unter kulturellem Druck zu behaupten. 177

In der Forschung ist umstritten, ob die Assyrer in den von ihnen eroberten Gebieten die Bevölkerung zur Verehrung assyrischer Gottheiten zwangen. In den assyrischen Provinzen mag das vereinzelt vorgekommen sein. Einen flächendeckenden Zwang zur Verehrung assyrischer Gottheiten hat es jedoch mit Sicherheit nicht gegeben. So etwas war der Antike ohnehin fremd. Damit aber war die Gefahr nicht gebannt. Die militärische, politische und ökonomische Überlegenheit der Assyrer machte Eindruck. Kultur und Religion der Sieger stießen auf Interesse und Nachahmung. Die Anwesenheit zahlreicher assyrischer und aramäischer Soldaten, Beamter und Händler machten die Bewohner Judas mit neuen religiösen Vorstellungen und Praktiken bekannt. Noch gegen Ende des 7. Jh. beklagt der Prophet Zefanja, dass viele in der Oberschicht Judas „fremdländische Kleider“ trugen (Zef 1,8). Damit dürfte die Übernahme der assyrischen Kleidermode gemeint sein. Kleidung war – damals wie heute – nicht etwas rein Äußerliches, sondern Ausdruck einer inneren Haltung, eines Bekenntnisses. In den von Assyrern eroberten und beherrschten Gebieten entstanden Ansätze eines religiösen Pluralismus. Die Handelskontakte weiteten sich dank der assyrischen Wirtschaftspolitik aus. Damit geriet der Jhwh-Glaube unter Druck. Den kulturell aufgeschlossenen Judäern boten sich Alternativen. Einige Forscher sprechen von der assyrischen Krise der israelitischen Religion, andere von einem Kulturschock. Tatsächlich kann die Forschung zeigen, dass sich das religiöse Symbolsystem im Palästina des 7. Jh. v. Chr. veränderte. Die über Jahrhunderte hin gewachsene ägyptische Dominanz ging zugunsten eines assyrisch-aramäischen Einflusses zurück. Wird es den Verantwortlichen in Juda gelingen, mit dieser neuartigen Herausforderung klarzukommen?

178

IX. Juda unter der Herrschaft Assurs (7. Jh. v. Chr.)

Das Bild der Aschera Die assyrische Vorherrschaft über Palästina, die sich etwa über ein Jahrhundert von 734 bis 622 v. Chr. erstreckte, hat auch in der Religionsgeschichte des Landes ihre Spuren hinterlassen. Folgt man dem deuteronomistischen Geschichtswerk, so dürften sich vor allem unter der Regierungszeit König Manasses (696–641 v. Chr.) gravierende Veränderungen im religiösen Symbolsystem Judas vollzogen haben. Vor allem er wird dafür verantwortlich gemacht und von der biblischen Geschichtsschreibung schwer getadelt: „Er tat, was böse war in den Augen des Herrn, und ahmte die Gräuel der Völker nach, die der Herr vor den Israeliten vertrieben hatte. Er baute die Kulthöhen wieder auf, die sein Vater Hiskija zerstört hatte, errichtete Altäre für den Baal, machte eine Aschera, wie sie schon Ahab, der König von Israel, gemacht hatte, warf sich vor dem ganzen Heer des Himmels nieder und diente ihm. Auch baute er Altäre im Haus des Herrn, obwohl der Herr gesagt hatte: Auf Jerusalem will ich meinen Namen legen. In den beiden Höfen des Tempels baute er Altäre für das ganze Heer des Himmels. Er ließ seinen Sohn durch das Feuer gehen, trieb Zauberei und Wahrsagerei, bestellte Totenbeschwörer und Zeichendeuter. So tat er vieles, was böse war in den Augen des Herrn und ihn erzürnte. Er brachte auch das Bild der Aschera, das er gemacht hatte, in das Haus, von dem der Herr zu David und dessen Sohn Salomo gesagt hatte: Auf dieses Haus und auf Jerusalem, das ich aus allen Stämmen Israels auserwählt habe, will ich meinen Namen auf ewig legen“ (2 Kön 21,2–7). Was ist dran an den schweren Vorwürfen, die hier erhoben werden? Die archäologische und exegetische Forschung gelangt zu einem differenzierten Urteil. Bei einigen der aufgezählten Maßnahmen dürfte es sich um übertriebene Pauschalvorwürfe ohne 179

Anhaltspunkte in der Realität handeln. Andere Vorwürfe hingegen scheinen zuzutreffen. Sie erstrecken sich vor allem auf drei Bereiche: die Aufstellung eines Bildes der Aschera im Tempel, der Kult der Himmelskönigin und ein mit verschiedenen mantischen Praktiken einhergehender Feuerritus. Die auf Kooperation mit den Assyrern angelegte Regierung Manasses dürfte günstige Bedingungen für eine Rezeption assyrisch-aramäischer Kulte und religiöser Anschauungen in breiten Kreisen der Bevölkerung und vor allem auch in den Spitzen der Gesellschaft geschaffen haben. Erst gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. setzte mit dem Deuteronomium eine tiefgreifende Reform ein, die sich anschickte, mit diesen als fremd empfundenen religiösen Praktiken endgültig zu brechen. Was hat man sich nun unter den oben genannten Vorwürfen genauer vorzustellen? Die Göttin Aschera haben wir bereits in einem früheren Abschnitt vorgestellt (siehe unter VI. Die Reichsteilung: Israel und Juda [926 v. Chr.] den Abschnitt: „Aschera – eine Göttin?). Sie war keine Unbekannte in Israel. Sie begegnet uns im Alten Testament sowohl als Göttin als auch in der Gestalt eines stilisierten Baumes, der die Göttin repräsentiert. Es ist möglich, dass es im Jerusalemer Tempelbezirk von früher Zeit an einen solchen stilisierten Aschera-Baum gegeben hat. Was sich unter König Manasse änderte, war, dass nun ein Bild der Aschera im Tempelgebäude selbst aufgestellt wurde. Es dürfte sich um ein anthropomorphes Kultbild gehandelt haben, das vor dem Allerheiligsten oder in der Vorhalle des Tempels aufgestellt wurde und das die Göttin Aschera repräsentierte (vgl. 1 Kön 15,13). Der Errichtung eines Kultbildes der Aschera im Tempel entsprechen zahlreiche Funde von kleinen Säulenfiguren einer Göttin, die man bei Ausgrabungen in den Häusern Jerusalems und Judas aus dem 7. Jh. v. Chr. gefunden hat. Die Figuren betonen die Brüste der Göttin, ein Zeichen des Segens und der Fruchtbarkeit. Erneut stoßen wir auf die Frage, welche Rolle weibliche Gottheiten und deren Symbole in der Religionsgeschichte Israels und Judas spielten und mit welchen Strategien sich der Glaube an den einen Gott dieser Herausforderung annahm. Lässt sich der „Segen von Brust und Schoß“ (Gen 49,25) auf Jhwh umleiten?

180

Der bestirnte Himmel über mir Neben der Aufstellung eines Kultbildes der Aschera im Tempel zu Jerusalem kam es unter dem Einfluss assyrisch-aramäischer Herrschaft zu weiteren religionspolitischen Neuerungen. Bereits König Ahas (742–725), der sich als erster den Assyrern unterworfen hatte, ließ nach dem Modell eines in Damaskus stehenden Altares im Jerusalemer Tempelbezirk einen ebensolchen erbauen. Er selbst opferte auf diesem Altar, nachdem er sich zuvor mit dem Assyrerkönig Tiglat-Pileser III. in Damaskus getroffen hatte (2 Kön 16,10–16). Diese und andere kultische Neuerungen führte er ein „mit Rücksicht auf den König von Assur“ (1 Kön 16,18). Gut vierzig Jahre später ging König Manasse (696–641) einen bedeutenden Schritt weiter. „Er baute in beiden Höfen des Tempels Altäre für das ganze Heer des Himmels“ (2 Kön 21,5). Mit der Bezeichnung „Heer des Himmels“ sind in erster Linie die Sterne gemeint (Jer 33,22). Gelegentlich können auch Sonne und Mond mitgemeint sein (Dtn 17,3; Jer 8,2). Im Buch des Propheten Zefanja (Zef 1,4) wird denen, „die sich auf den Dächern vor dem Heer des Himmels niederwerfen“, das Gericht Gottes angedroht. Ähnlich klagt der Prophet Jeremia an: „Die Häuser Jerusalems und die Häuser der Könige von Juda sollen unrein werden wie der Ort des Tofet, alle Häuser, auf deren Dächern man dem ganzen Heer des Himmels Rauchopfer und anderen Göttern Trankopfer dargebracht hat“ (Jer 19,13). Anhand dieser und ähnlicher Texte lässt sich erkennen, dass im 7. Jh. v. Chr. die kultische Verehrung von Gestirngottheiten in Juda und Jerusalem Verbreitung fand. Darauf deutet auch der archäologische Befund hin. Eine Reihe von Siegelamuletten aus dieser Zeit, die in Palästina gefunden wurden, zeigen den von Sternen umgebenen Neumond. Der Mond wird auf einigen dieser Fundstücke aufgerichtet auf einer Stange dargestellt, flankiert von einem Verehrer. Die Verehrung des Mondgottes hatte ihr Zentrum in der nordsyrischen Stadt Haran. Seit dem 1. Jahrtausend v. Chr. breitete sich der Kult dieses Gottes in der Levante aus. Auf internationaler Ebene war der Mondgott Garant für die Einhaltung von Verträgen, die Beachtung von Grenzen und die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung. Auf der Ebene der persönlichen 181

und familiären Frömmigkeit wurden mit dem Neumond Wachstum und Fruchtbarkeit verbunden – Traditionen, die auch in den säkularen Gesellschaften mit dem sich „erneuernden Mond“ in Verbindung gebracht werden. Die antike Wahrnehmung der Welt war eine zutiefst religiöse. In immer neuen Varianten können wir das beobachten. Gab über lange Zeit ein von der Sonne beherrschtes religiöses Symbolsystem in Palästina die Richtung vor, so scheint im 7. Jh. v. Chr. unter assyrischaramäischem Einfluss von den nächtlichen Gestirnen eine tiefe Faszination auf breite Kreise der Bevölkerung ausgegangen zu sein. Es waren göttliche Mächte, die in geheimnisvoller Weise das Leben auf der Erde lenkten und denen Respekt und Verehrung entgegenzubringen waren. Die große Herausforderung, vor die sich der Jhwh-Glaube in Juda gestellt sah, war die Frage, wie sich dieser zutiefst religiöse Weltbezug in den Glauben an den einen Gott integrieren ließ. Muss er verworfen und bekämpft werden? Sind Kompromisse möglich? Der hl. Augustinus fragt in seinen Bekenntnissen: „Was heißt es, wenn ich liebe meinen Gott?“ Mit dieser berühmten Frage wendet er sich an alle Werke der Schöpfung und gelangt dabei auch zu den Gestirnen: „Ich fragte den Himmel, Sonne, Mond und Sterne: (und sie sagten mir) auch wir sind nicht der Gott, den du suchst“ (Confessiones X, 9). Diese Antwort konnte der Kirchenlehrer nur vernehmen, weil er die Schule der alttestamentlichen Aufklärung durchlaufen hatte. In einem der jüngsten Texte des Buches Deuteronomium heißt es: „Wenn du die Augen zum Himmel erhebst und das ganze Heer des Himmels siehst, die Sonne, den Mond und die Sterne, dann lass dich nicht verführen! Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen“ (Dtn 4,19).

Die Himmelskönigin Unter assyrisch-aramäischem Einfluss gewann im 7. Jh. v. Chr. die Verehrung von Gestirngottheiten in Juda an Einfluss. König Manasse, so lesen wir im zweiten Buch der Könige, „baute in den beiden Höfen des Tempels Altäre für das ganze Heer des Himmels“ (21,5). Unter den Gestirngottheiten spielte eine Himmelskönigin eine be182

sondere Rolle. Sie scheint in der familiären Frömmigkeit beliebt gewesen zu sein. Die ganze Familie war an ihrem Kult beteiligt. In einem an den Propheten Jeremia gerichtete Wort beklagt Jhwh: „Siehst du nicht, was sie in den Städten Judas und auf den Straßen Jerusalems treiben? Die Kinder sammeln Holz, die Väter zünden das Feuer an und die Frauen kneten den Teig, um Opferkuchen für die Himmelskönigin zu backen. Anderen Göttern spendet man Trankopfer, um mir wehzutun. Aber tun sie wirklich mir weh – Spruch des Herrn – und nicht vielmehr sich selbst, zu ihrer eigenen Schande?“ (Jer 7,17–19). Die Verehrerinnen der Himmelskönigin sahen das ganz anders und widersprachen dem Propheten. Gerade die Abkehr von der Verehrung der Himmelskönigin, so ihre Sicht, habe zu der gegenwärtigen Not geführt: „Wir werden der Himmelskönigin weiterhin Räucheropfer darbringen und wir werden ihr Trankopfer ausgießen, wie wir, unsere Väter, unsere Könige und unsere Großen in den Städten Judas und in den Straßen Jerusalems es getan haben. Damals hatten wir Brot genug; es ging uns gut und wir haben kein Unheil gesehen. Seit wir aber aufgehört haben, der Himmelskönigin Räucheropfer darzubringen und ihr Trankopfer auszugießen, fehlt es uns an allem und wir kommen durch Schwert und Hunger um“ (Jer 44,17f). Auf Stempelsiegel der damaligen Zeit findet man eine weibliche Gottheit im Sternenkranz und vor ihr stehend Verehrer vor einem Räucheraltar. Bei der Himmelskönigin dürfte es sich um die Göttin Ischtar handeln; später mag sie Züge der Aschera angenommen haben. In hellenistischer Zeit wird sie mit der Göttin Isis identifiziert. Mag die Verehrung der Himmelsgöttin im 7. Jh. in Juda noch verbreitet gewesen sein, so wird sie in den folgenden Jahrhunderten, da sich der strenge Ein-Gott-Glaube immer mehr durchsetzte, aus dem religiösen Symbolsystem des Judentums verdrängt. Die himmlische Frau aus der Offenbarung des Johannes steht in der Tradition der Himmelskönigin: „Eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt“ (Off b 12,1). Im Hohelied wird die Geliebte über die Erde erhoben und in eine himmlisch-göttliche Aura getaucht: „Wer ist sie, die herabblickt wie die Morgenröte, schön wie die Weiße [Mond], rein wie die Glut [Sonne]?“ (Hld 6,9f). Die katholische Marienfrömmigkeit greift diese Motive auf. Das Marienlied: „Sagt 183

an, wer ist doch diese“ (Gotteslob Nr. 531) kombiniert den Hochzeitszug aus Hld 3,6–11 mit der vom Himmel herabblickenden Morgenröte aus Hld 6,10 und liest beide Texte im Lichte von Off b 12,1: „Sagt an, wer ist doch diese, die auf am Himmel geht, die überm Paradiese als Morgenröte steht? Sie kommt hervor von ferne, es schmückt sie Mond und Sterne, die Braut von Nazareth (im Gotteslob von 1975 [Nr. 588] heißt es noch entsprechend Hld 6,10: „geziert mit Mond und Sternen, im Sonnenglanz erhöht“). Sie ist die edle Rose, ganz schön und auserwählt, die Magd, die makellose, die sich der Herr vermählt.“ Maria ist Himmelskönigin (regina caeli), aber keine Göttin, sie wird verehrt, nicht angebetet. Dank ihrer Bereitschaft, sich dem Wort Gottes vorbehaltlos zu öffnen, konnte das göttliche Wort (logos) Fleisch annehmen und mitten unter den Menschen Wohnung nehmen (Joh 1,14). Durch eine Frau – so der christliche Glaube – ist Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, zur Welt gekommen, weshalb Maria mit dem Konzil von Ephesus (431 n. Chr.) als Gottesgebärerin (theotokos) verehrt, nicht jedoch angebetet wird. Mit dieser wichtigen Unterscheidung wurde in einem dialektischen Prozess von Verwerfung, Reinigung und erneuter Aneignung die mit dem Jhwh-Glauben ursprünglich nicht zu vereinbarende Himmelskönigin in den christlichen Glaubensschatz aufgenommen und zugleich der Glaube an den Einen Gott gewahrt.

Assurs Untergang Noch in der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. konnte die Weltmacht Assur bedeutende militärische und politische Erfolge verbuchen. König Assurbanipal (669–630 v. Chr.) drang tief ins Innere Ägyptens ein und eroberte im Jahre 664 v. Chr. die sagenumwobene Stadt Theben in Oberägypten – ein Ereignis, das in der damaligen Welt großen Eindruck hinterließ. Doch wenige Jahrzehnte später setzte überraschend schnell der Niedergang des assyrischen Großreiches ein. Der Prophet Nahum hat es kommen sehen: „Ein Mann zieht hinauf gegen dich, der dich zerschmettern wird“ (Nah 2,2). Zwar hatte es in den verschiedenen Provinzen des Reiches immer wieder Aufstände gegeben, doch sie 184

konnten niedergeschlagen werden. Diesmal jedoch gelang es den Babyloniern im Jahre 626 v. Chr. die assyrische Oberherrschaft abzuschütteln. In der Folge kam es zu innerassyrischen Machtkämpfen. In wenigen Jahren brach das einst mächtige Weltreich in sich zusammen. Im Jahre 612 wurde die Hauptstadt Ninive von den verbündeten Medern und Babyloniern erobert. Viele in Jerusalem atmeten auf. Das verhasste Assur war geschlagen: „Seht auf den Bergen die Schritte des Freudenboten! Er verkündet Frieden! Juda, feiere deine Feste, erfülle deine Gelübde! Denn der Unheilstifter durchstreift dein Land nicht mehr; er ist völlig vernichtet“, lesen wir beim Propheten Nahum (Nah 2,1). Doch die Freude über den Untergang Assurs sollte nicht lange währen. Erneut erlebte der Vordere Orient eine tiefgreifende politische Umwälzung. Zwei aufstrebende Großmächte rangen um die militärische und politische Vorherrschaft: Ägypten und Babylon – und zwischen beiden das kleine Juda, das gerade eine hundertjährige assyrische Fremdherrschaft abgeschüttelt hatte. Die politischen und religiösen Eliten in Jerusalem mussten sich neu sortieren. In der Hauptstadt kam es zu heftigen politischen und theologischen Auseinandersetzungen. Wohin sollte man sich orientieren? Nach Westen (Ägypten), nach Osten (Babylon)? Mit wem sollte man kooperieren? Propheten traten auf und stritten miteinander in aller Öffentlichkeit. Einer von ihnen war Jeremia. Die Jahre zwischen 630 und 587 v. Chr. wurden für die Geschichte des Judentums zur Sattelzeit. Unter König Joschija (639–609 v. Chr.) kam es zu einer groß angelegten Reform. Grundlage der Reformbewegung war das Buch Deuteronomium. Es wird häufig als die „Mitte des Alten Testaments“ bezeichnet. Wir werden uns noch eingehend damit ­beschäftigen. Politisch und militärisch schien zunächst Ägypten die Oberhand zu gewinnen. Doch mit der Schlacht bei Karkemisch im Jahre 605 v. Chr. wendete sich das Blatt. Die Macht Ägyptens war gebrochen, die Babylonier setzten sich durch und traten das Erbe Assurs an. Die politische Führung Judas hatte auf die falsche Karte gesetzt. Der Prophet Jeremia hatte davor gewarnt. Einige Jahre später bereiteten die Babylonier dem Staat Juda ein Ende (587 v. Chr.). Damit war die staatliche Epoche des Gottesvolkes bis auf weiteres beendet. 185

Doch zunächst galt es, die langen Jahre assyrischer Fremdherrschaft politisch und theologisch aufzuarbeiten. Existenz und Selbstverständnis des assyrischen Staates beruhten auf Gewalt und Expansion. Legitimiert wurde das imperiale Ethos vom Staatsgott Assur. Ihm war der König als oberster Heerführer und Priester unterstellt. So war die Erleichterung bei den ausgebeuteten Völkern groß, als das „Knallen von Peitschen und das Gedröhn rasselnder Räder“ (Nah 3,2) ein Ende nahm: „Weh der Stadt voll Blutschuld; sie ist nichts als Lüge. Voll von Raffgier ist sie, vom Rauben lässt sie nicht ab. […] Verwüstet ist Ninive. Wer hat Mitleid mit ihr?“, lesen wir im Buch des Propheten Nahum (Nah 3,1.7). Die geschichtlichen Ereignisse, so der Prophet, haben durchaus etwas mit dem Gott Israels zu tun. Jhwh ist nicht nur lieb in dem Sinne, dass er nichts tut. Ohne den Zorn würde die göttliche Barmherzigkeit zu einer Komplizenschaft mit den Verbrechern. Alles wäre gleich-gültig und die Gerechtigkeit bliebe auf der Strecke: „Ein eifernder Gott, der Vergeltung übt, ist der Herr. Vergeltung übt der Herr und ist voll Zorn. Der Herr übt Rache an seinen Gegnern und hält fest am Zorn gegen seine Feinde. Der Herr ist langmütig und groß an Kraft, doch ganz sicher lässt der Herr nicht ungestraft“ (Nah 1,2f).

186

X. Das Deuteronomium und die konservative Reform (622 v. Chr.)

Joschija Im Jahre 640 v. Chr. kam es in Jerusalem zu einem Putsch. Gegen König Amon „zettelten seine Diener eine Verschwörung an und töteten ihn in seinem Haus“ (2 Kön 21,23). Über die Gründe der Verschwörung ist nichts Näheres bekannt. Amon regierte nur kurze Zeit, maximal zwei Jahre von 641 bis 640 v. Chr. Möglicherweise wollten die Putschisten einen Dynastiewechsel herbeiführen. Doch ihr Vorhaben wurde vom „Volk des Landes“ vereitelt: „Das Volk des Landes erschlug alle, die sich gegen König Amon verschworen hatten, und machte seinen Sohn Joschija zum König an seiner Stelle“ (2 Kön 21,23–24). Joschija war erst acht Jahre alt, als er König wurde. Es ist zu vermuten, dass die Repräsentanten jener Gruppe, die ihn zum König gemacht hatten, über viele Jahre die Macht in Händen hielten und die Richtlinien der Politik bestimmten. Auch nach dem plötzlichen Tod Joschijas im Jahre 609 trat das „Volk des Landes“ erneut auf den Plan und regelte seine Nachfolge. Joschija (639–609) war einer der bedeutendsten Könige in der Geschichte Judas. Mit ihm verbindet sich ein einzigartiges Reformprojekt, das wie kaum ein zweites die weitere Geschichte Jerusalems und Judas sowie des Judentums prägen sollte. Im achtzehnten Jahr seine Regierung, im Jahre 622 v. Chr., als der König fünfundzwanzig Jahre alt war, wurde bei Renovierungsarbeiten im Tempel ein Buch gefunden. Führende Personen aus dem Umkreis des Tempels und der Staatskanzlei waren daran beteiligt. Der Hohepriester Hilkija übergibt das gefundene Buch dem Staatsschreiber Schafan, dieser meldet es dem König und liest ihm daraus vor. Daraufhin zerreißt der König seine Kleider und erteilt den Auftrag, „wegen dieses Buches den Herrn zu befragen“, denn er befürchtet, dass der „Zorn des Herrn heftig gegen uns entbrannt ist, weil unsere Väter auf die 187

Worte dieses Buches nicht gehört und weil sie nicht getan haben, was in ihm niedergeschrieben ist“ (2 Kön 22,8–13). Auf Anfrage bestätigt die Prophetin Hulda die Befürchtung des Königs: „So spricht der Herr: Ich bringe Unheil über diesen Ort und seine Bewohner, alle Drohungen des Buches, das der König von Juda gelesen hat. Denn sie haben mich verlassen, anderen Göttern geopfert und mich durch alle Werke ihrer Hände erzürnt. Darum ist mein Zorn gegen diesen Ort entbrannt und er wird nicht erlöschen“ (2 Kön 22,16f). Der König geht „mit allen Männern Judas und allen Einwohnern Jerusalems, den Priestern und Propheten und allem Volk“ zum Tempel und schließt „vor dem Herrn einen Bund“ folgenden Inhalts: „Er wolle dem Herrn folgen, seine Gebote, Bundeszeugnisse und Satzungen von ganzem Herzen und ganzer Seele bewahren und die Worte des Bundes einhalten, die in diesem Buch niedergeschrieben sind. Das ganze Volk trat dem Bund bei“ (2 Kön 23,3). Anschließend setzte der König eine groß angelegte Kultreform in Gang (2 Kön 23,4–20). Sie bestand aus einer Kultreinigung und einer Kultzentralisation: Der König befahl, „alle Gegenstände aus dem Tempel des Herrn hinauszuschaffen, die für den Baal, die Aschera und das ganze Heer des Himmels angefertigt worden waren. […] Auch setzte er die Götzenpriester ab, die von den Königen von Juda bestellt worden waren und die auf den Kulthöhen, in den Städten Judas und in der Umgebung Jerusalems Opfer verbrannt sowie dem Baal, der Sonne, dem Mond, den Wandelsternen und dem ganzen Heer des Himmels geopfert hatten. […] Er holte alle Priester aus den Städten Judas weg und machte die Kulthöhen von Geba bis Beerscheba, auf denen die Priester geopfert hatten, unrein“ (2 Kön 23,4–14). Abgeschlossen wurden die Maßnahmen mit der öffentlichen Feier des Pessach in Jerusalem, „wie es seit den Tagen der Richter […] und in der ganzen Zeit der Könige von Israel und Juda nicht mehr gefeiert worden war“ (2 Kön 23,22). Die vom König durchgeführten Reformen, insbesondere die Reinigung und Zentralisation des Kultes, stimmen mit zentralen Forderungen des Deuteronomiums überein. Deshalb wird in der Forschung mit guten Gründen angenommen, dass es sich bei dem im Tempel gefundenen Buch um eine ältere Fassung des Deuteronomiums handelt.

188

Staatsgrundgesetz Das Buch Deuteronomium ist die theologische Antwort auf die Identitätskrise Judas gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. Der Verlust staatlicher Eigenständigkeit und der kulturelle und religiöse Druck einer überlegenen Weltmacht hatten zu einem schweren Plausibilitätsverlust des Jhwh-Glaubens geführt. Das Buch Deuteronomium kann als der Versuch verstanden werden, die vielfältigen religiösen Überlieferungen Israels zu sammeln, sie auf ihre zugrunde liegende Mitte hin zu durchdenken und sie zu einer in sich stimmigen und attraktiven Lebensform zu entfalten, die alle Bereiche des persönlichen, familiären, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens durchdringt. Mit dem Zusammenbruch der assyrischen Herrschaft gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. bot sich unter der Regierung König Joschijas (639–609) die Chance, das Buch in einer ersten, grundlegenden Fassung zum Programm einer „konstruktiven Restauration“ und zum Grundgesetz des Staates Juda zu machen. In seiner im Jahre 622 v. Chr. in Kraft gesetzten Form handelt es sich beim Deuteronomium um ein Staatsgrundgesetz. Es setzt die auch heute noch geltenden drei grundlegenden Prinzipien der Staatlichkeit voraus: Staatsgebiet – Staatsvolk – Staatsgewalt. Dtn 12,1 gibt als Geltungsbereich des Gesetzes das verheißene Land an: „Das sind die Gesetze und Rechtsentscheide, die ihr bewahren und die ihr halten sollt in dem Land, das der Herr, der Gott deiner Väter, dir gegeben hat, damit du es in Besitz nimmst. Sie sollen so lange gelten, wie ihr in dem Land leben werdet.“ Anhand exemplarischer Fälle wird die Volkszugehörigkeit geregelt. Ammoniter und Moabiter dürfen nicht in die „Versammlung des Herrn“ aufgenommen werden. Mit ihnen hat Israel schlechte Erfahrungen gemacht, „denn sie sind euch nicht mit Brot und Wasser auf dem Weg entgegengekommen, als ihr aus Ägypten zogt“ (Dtn 23,2–9). Auch die Staatsgewalt wird geregelt. Das Deuteronomium entwirft einen gewaltenteilig angelegten Verfassungsentwurf mit den Ämtern Richter, König, Priester und Prophet (Dtn 16,18–18,22). Verglichen mit altorientalischen Gesetzen aus jener Zeit handelt es sich beim Deuteronomium um ein beeindruckendes, humanes und zugleich realitätsbezogenes Staatsgrundgesetzt. Es ist nicht übertrieben, wenn Mose im Prolog 189

zum Gesetzeswerk vor dem Volk bekennt: „Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung in den Augen der Völker. Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennenlernen, müssen sie sagen: In der Tat, diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk. Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie der Herr, unser Gott, uns nahe ist, wo immer wir ihn anrufen? Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsentscheide, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?“ (Dtn 4,6–8). Wird das Ethos des Neuen Testaments dem des Alten Testaments als überlegen gegenübergestellt, wird gewöhnlich außer Acht gelassen, dass das Neue Testament kein Staatsgesetz kennt. Jesus hat keinen Staat gegründet, musste sich also mit staatlichen Angelegenheiten wie Steuern, Kriegsdienst, Grenzverschiebungen und vielem anderen nicht beschäftigen. Daraus könnte das Missverständnis entstehen, das Evangelium würde staatliche Gewalt als widergöttlich verwerfen. Dagegen hat Paulus klargestellt: „Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalt unter. Denn es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt“ (Röm 13,1). Dabei setzt er selbstverständlich voraus, dass sich die staatliche Gewalt an das Recht zu halten hat: „Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten“ (Röm 13,3). Um das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit geht es auch im Deuteronomium. Der König steht nicht über, sondern unter dem Gesetz. Er soll sich eine Abschrift von „diesem Gesetz“ (Tora) machen und es „mit sich führen und darin lesen, damit er lernt, den Herrn, seinen Gott, zu fürchten, alle Worte dieser Weisung und diese Gesetze zu bewahren, sie zu halten und sein Herz nicht über seine Brüder zu erheben und von dem Gebot weder rechts noch links abzuweichen, damit er lange als König in Israels Mitte lebt, er und seine Nachkommen“ (Dtn 17,19f).

Konservative Reform Die mit dem Deuteronomium einhergehende Reform wird gewöhnlich als eine konstruktive Restauration oder eine konservative Reform beschrieben. Die Begriffe Restauration und konservativ haben in einigen gesellschaftlichen Milieus und in Teilen der Geschichtsschrei190

bung keinen guten Klang. Zudem könnte man die Bezeichnung als in sich widersprüchlich erachten und sagen: Ein Programm ist entweder konservativ oder reformorientiert. Das Anliegen des Deuteronomiums wird mit der Bezeichnung konservative Reform jedoch treffend wiedergegeben. Dessen Kerngedanke lautet: Das bereits Bekannte ist noch nicht wirklich verstanden. Die Offenbarung am Horeb bedarf keiner Ergänzung, sie muss erst einmal wirklich gehört, verstanden und angeeignet werden. Die Krise des Jhwh-Glaubens ist nicht durch Einführung neuer Elemente zu beheben. Im Gegenteil! Die unter assyrischem Kulturdruck eingedrungenen Anpassungen an die Moden und Plausibilitäten einer als überlegen empfundenen Kultur sind in den Augen des Deuteronomiums ein Irrweg. Zu meinen, man müsse von den Religionen der Landesbewohner und der benachbarten Völker lernen, neben Jhwh also auch noch anderen Göttern wie Baal oder Aschera Anerkennung und Wertschätzung entgegenbringen, diese Haltung ist in der Sicht des Deuteronomiums der eigentliche Grund für die Krise Israels. Deshalb die Warnung vor dem Einzug in das verheißene Land: „Nimm dich in Acht! Erkundige dich nicht nach ihren Göttern und frag nicht: ‚Wie haben denn diese Völker ihren Göttern gedient? Ich will das Gleiche tun wie sie.‘ Wenn du dem Herrn, deinem Gott dienst, sollst du nicht das Gleiche tun wie sie“ (Dtn 12,30). Es kommt vielmehr darauf an, zum eigenen Ursprung zurückzukehren. Deshalb führt das Deuteronomium seine Leser und Hörer an den Horeb zurück, an den Gottesberg in der Wüste, dort, wo Jhwh mit Israel einen Bund geschlossen hat. Das gegenwärtige Israel des 7. Jahrhunderts v. Chr. hat noch gar nicht verstanden, was damals wirklich geschah und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Hören heißt noch nicht: wirklich verstehen, sehen heißt noch nicht: wirklich erkennen. „Mose rief ganz Israel zusammen und sagte zu den Israeliten: Ihr habt alles gesehen, was der Herr in Ägypten vor euren Augen mit dem Pharao, mit seinem ganzen Hof und seinem ganzen Land getan hat. Mit eigenen Augen hast du jene schweren Prüfungen, die großen Zeichen und Wunder gesehen. Aber einen Verstand, der wirklich erkennt, Augen, die wirklich sehen, und Ohren, die wirklich hören, hat der Herr euch bis zum heutigen Tag nicht gegeben“ (Dtn 29,1–3). 191

In der vorliegenden Gestalt stellt das Deuteronomium Moses Abschiedsrede dar, sein Testament. Das Volk ist nach einer vierzigjährigen Wüstenwanderung im Lande Moab, jenseits des Jordan, angekommen. Es ist der 1. 11. im Jahre 40 nach dem Auszug aus Ägypten – so die literarische Konstruktion. Es ist zugleich Moses Todestag. Mose nutzt diesen letzten Tag in seinem Leben und hält eine Reihe von Reden. Er blickt zurück auf den Weg vom Horeb bis in das Land Moab, auf die lange Zeit der Wüstenwanderung bis zum „heutigen Tag“, da Israel an der Schwelle des verheißenen Landes steht. Jetzt beginnt eine neue Phase in der Geschichte des Volkes. Das Volk muss einen Fluss überschreiten, den Jordan, und soll das Land in Besitz nehmen, das Jhwh den Vätern verheißen hat. Erst mit dem Einzug in das Land und dem Bau des Tempels kommt die Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens an ihr Ziel. Doch das Leben im Land steckt voller Gefahren. Angesichts der Größe und kulturellen Überlegenheit der Landesbewohner droht Israel in Angst und Schrecken zu erstarren und alles Selbstbewusstsein zu verlieren. Mehr noch, es besteht die Gefahr, dass die wunderbaren Ereignisse am Horeb in Vergessenheit geraten und Israel nicht mehr weiß, wem es sich und die Gaben des Landes zu verdanken hat. Es steht in der Gefahr, einen Bund mit den Bewohnern des Landes zu schließen und dabei den Bund mit Jhwh zu vergessen (Ex 34,12). Mose sieht diese Gefahren kommen und beschwört das Volk unmittelbar vor dem Einzug in das verheißene Land, die bisherige Geschichte mit seinem Gott nicht zu vergessen: „Nehmt euch in Acht! Vergesst nicht den Bund, den der Herr, euer Gott, mit euch geschlossen hat!“ (Dtn 4,23).

Höre, Israel! „Höre Israel! Jhwh, unser Gott, Jhwh ist einzig.“ Mit diesem Bekenntnis zum einen und einzigen Gott Israels wird die älteste Fassung des Deuteronomiums aus der Zeit König Joschijas (639–609) programmatisch eröffnet. In Verbindung mit dem folgenden Hauptgebot der Gottesliebe bildet der Text ein theologisches Kernstück der Tora: „Darum sollst du Jhwh, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5). Bis heute bildet dieser Text das Grundbekenntnis des Judentums. Dreimal am 192

Tag rezitiert jeder fromme Jude das Sch ema‘ Jisrael, wie der Text auf Hebräisch genannt wird. Auch im Christentum hat das Bekenntnis nichts von seiner Gültigkeit verloren. Auf die Frage eines Schriftgelehrten nach dem wichtigsten Gebot antwortet Jesus mit dem „Höre, Israel!“ Und er fügt als zweites Gebot ebenfalls aus der Tora hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“ (Lev 19,18; Mk 12,28–31). Das „Höre, Israel!“ lässt unterschiedliche Deutungen zu. Es kann in einem monojahwistischen, in einem monolatrischen und in einem monotheistischen Sinn verstanden werden. Im monojahwistischen Verständnis zielt es auf die Einheit Jhwhs und richtet sich gegen die Annahme einer Vielzahl unterschiedlicher lokaler Jhwh-Manifestationen. Diese Deutung hat aufgrund epigraphischer Funde in den letzten Jahren an Auftrieb gewonnen. Die Inschriften von Kuntillet Adschrud aus dem nördlichen Sinai sprechen von einem „Jhwh von Samaria“ und einem „Jhwh von Teman“. Ihm wird Aschera als Partnerin oder personale Wirkgröße an die Seite gestellt, wenn es in einer Segensformel heißt: „Ich segne euch von Jhwh von Samaria und von seiner Aschera“. Gegenüber diesen und ähnlichen Annahmen von „vielen Jhwhs“ betont das Bekenntnis die Einheit dieses Gottes. Vom Hauptgebot des Dekalogs her gelesen (Dtn 5,10: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“) bekommt das Bekenntnis einen monolatrischen Sinn. Diese Deutung wird insbesondere durch die Fortsetzung mit dem Gebot der Gottesliebe nahegelegt: „Darum sollst du Jhwh, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5). Das Prädikat ächad im Sinne von einzig, einzigartig ist ein Topos der Liebessprache (vgl. Hld 6,8f: „Einzig ist meine Taube, meine Makellose, die Einzige ihrer Mutter, strahlend rein für jene, die sie gebar“). Weil Jhwh von den vielen bekannten Göttern allein der Gott Israels ist – „Jhwh, unser Gott“ – soll Israel allein Jhwh als seinen Gott lieben und keinen anderen. In diesem Verständnis hebt das Bekenntnis die Einzigkeit und Einzigartigkeit Jhwhs hervor. Die Einzigkeit beschränkt sich dabei nicht wie in vergleichbaren Aussagen polytheistischer Religionen auf die Hervorhebung Jhwhs, sondern ist auf Ausschließlichkeit hin ausgerichtet: Mag es auch andere Götter geben, so sind sie für Israel bedeutungslos. Wird dieses Verständnis konsequent zu Ende ge193

dacht, gelangt man drittens zu einem monotheistischen Verständnis. Ein solches wird durch die Vorschaltung von Dtn 4 nahegelegt. Im Rahmen einer geschichtstheologischen Reflexion gelangt Dtn 4,1–40 zu einem reflektierten und expliziten Monotheismus: „Jhwh ist der Gott, kein anderer ist außer ihm“ (Dtn 4,36). Jhwh hat sich mit der Herausführung aus Ägypten zu Israel in ein besonderes, alle anderen Völker ausschließendes Verhältnis gesetzt: „Euch aber hat Jhwh genommen und aus dem Schmelzofen, aus Ägypten, herausgeführt, damit ihr sein Volk, sein Erbbesitz werdet“ (Dtn 4,20). Aufgrund dieser Erfahrung soll Israel erkennen und begreifen: „Jhwh ist der Gott im Himmel droben und auf der Erde unten, keiner sonst“ (Dtn 4,39). Die alle anderen Götter ausschließende Zugehörigkeit Israels zu Jhwh soll in äußerlich sichtbaren Zeichen zum Ausdruck gebracht werden. Das Auswendiglernen und Rezitieren „dieser Worte“ zielt auf Verinnerlichung und Aneignung: „Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du wieder aufstehst“ (Dtn 6,6–9).

Das Hauptgebot Jesus und der Schriftgelehrte sind sich einig: Es gibt ein Gebot, das den ersten Platz einnimmt, das Hauptgebot (Mk 12,28–31). Die Idee, unter den Geboten eine Rangordnung zu erstellen, stammt nicht von Jesus. Sie findet sich bereits im Alten Testament. Im Buch Deuteronomium werden alle Einzelgebote unter das Hauptgebot der Gottesliebe gestellt. Mit dem Bekenntnis zu Jhwh, dem einen und einzigen Gott Israels, und der Forderung, ihn zu lieben „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,4–5) wird das Ur-Deuteronomium mit seinen Einzelgesetzen eingeleitet. Einen einzigen Gott ohne Vorbehalt und mit ganzer Hingabe zu lieben – das ist eine Revolution in der altorientalischen Religionsgeschichte. Doch auch sie ist nicht vom Himmel gefallen. Ihre Wurzeln reichen tief in die Geschichte des Alten Orients hinein. Seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. war es im Vorderen Orient üblich, die Beziehungen zwischen Staaten durch Verträge zu regeln. Diese „moderne“ 194

Errungenschaft wurde besonders von den Assyrern im 8. und 7. Jh. v. Chr. als Instrument politischer Herrschaft erfolgreich und öffentlichkeitswirksam eingesetzt. Im Jahre 1955 n. Chr. wurden auf dem Tell von Nimrud im Irak mehr als 350 Fragmente von Tontafeln gefunden, die den Text eines Vertrages des Assyrerkönigs Asarhaddon (681–669) enthielten, mit dem dieser die Loyalität seiner Untertanen und Vasallen gegenüber seinem Sohn und designierten Nachfolger Assurbanipal (669–631) sichern wollte. Der Vertrag forderte eine unbedingte Loyalität von Seiten der abhängigen Staaten. Im Falle der Nichtbeachtung wurde ihnen in Form von Verfluchungen schweres Unheil angedroht. Das in mehreren Exemplaren keilschriftlich überlieferte Vertragswerk stammt aus dem Jahre 672 v. Chr. Zwischen diesem Vertrag und den Bestimmungen zur Anstiftung eines Abfalls von Jhwh im Deuteronomium (Dtn 13,1–12) sowie den Fluchandrohungen im Falle der Nichtbefolgung des Gesetzes in Dtn 28,20–44 gibt es bis in den Wortlaut hinein Übereinstimmungen. Dies lässt sich nur so erklären, dass den Autoren des Deuteronomiums im 7. Jh. v. Chr. in Jerusalem ein Exemplar eines solchen Vertrages zugänglich war. Damit lüftet sich das Geheimnis des im Tempel zu Jerusalem gefundenen Buches (siehe den Abschnitt „Joschija“). Die in Keilschrift verfassten und mit Abbildungen der Götter versehenen Vasallenverträge wurden wie Götterbilder verehrt: „Fern sei es, dass ihr die Tafel dieser Eidesverpflichtung, die mit dem Siegel Assurs, des Königs der Götter, gesiegelt und vor euer Angesicht hingelegt ist, nicht wie euren Gott bewahrt“, heißt es in einem solchen Vertrag. Das Vertragswerk wurde in zwei Tafeln ausgefertigt und im Tempel der „Vertragspartner“, des Großkönigs und des Vasallenkönigs, auf bewahrt. Der judäische König Manasse (696–642) muss eine derartige Verpflichtung eingegangen sein. Im Jerusalemer Tempel dürfte das Exemplar eines solchen Vertrages gestanden haben. Unter der geistigen Elite des Hofes und des Tempels scheint sich unter der assyrischen Oberherrschaft Widerstand geregt zu haben. Sie arbeitete im Untergrund einen Gegenentwurf aus. Der Kerngedanke ihres Projektes bestand darin, die aus den assyrischen Vasallitätsverpflichtungen bekannten Forderungen unbedingter Loyalität gegenüber dem assyrischen König und dem Reichsgott Assur auf 195

Jhwh zu übertragen. Diese Umkehrung der Bundestheologie steht hinter dem deuteronomischen Liebesgebot. „Das deuteronomische Liebesgebot wurde also aus der politischen Sphäre auf die religiöse Beziehung übertragen […] Auch das Pathos der vorbehaltlosen Ganzheit ‚von ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzer Kraft‘ kommt aus diesem Bereich politischer Loyalität“, schreibt der Alttestamentler Georg Braulik (Das Buch Deuteronomium, in: Zenger / Frevel [Hg.], Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 92016, 174). Als die assyrische Herrschaft zusammenbrach, schlug im Jahre 622 v. Chr. unter dem judäischen König Joschija die Stunde dieses einzigartigen Reformprojekts, das im Rahmen einer konstruktiven Restauration die Beziehung zwischen Israel und Jhwh auf eine neue Grundlage stellen sollte. Im Tempel zu Jerusalem war nicht mehr der assyrische Vasallenvertrag anzutreffen, sondern es wurde dort ein „altes“ Buch „gefunden“, das von einem Bund zwischen Jhwh und Israel spricht.

Monotheismus und Gewalt Mit der theologischen Umbuchung der unbedingten Loyalitätsforderung vom assyrischen König auf Jhwh bekommt der Glaube Israels eine antitotalitäre Ausrichtung. Damit steht allerdings die heikle Frage im Raum, ob mit der Übertragung dieser Denkform, die auf die Dekonstruktion totalitärer politisch-religiöser Herrschaft und ihrer Geltungsansprüche zielt, der Jhwh-Glaube nicht selbst totalitäre Züge annimmt. Liegt im Gebot vorbehaltloser Gottesliebe (Dtn 6,5) nicht der Ursprung jener Intoleranz, die dem biblischen Monotheismus vielfach vorgeworfen wird? Ist der biblische Monotheismus, wie der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann gesagt hat, intrinsisch, das heißt: aus seiner inneren Logik heraus gewalttätig? Tatsächlich finden wir im Deuteronomium Gesetze, die diesen Verdacht zu bestätigen scheinen. Es handelt sich um Gesetze, die fast wortgleich in den assyrischen Vasallenverträgen anzutreffen sind. So wie der assyrische Großkönig es nicht dulden kann, wenn die von ihm beherrschten Völker Pläne schmieden, um von ihm abzufallen, so kann es auch Jhwh, der Gott Israels, nicht dulden, wenn Israel zu anderen Göttern abfällt. Geheime Anstiftungen zum Abfall 196

müssen aufgedeckt, bestraft und im Keim erstickt werden. Hier darf selbst auf die engsten Familienangehörigen keine Rücksicht genommen werden. In Deuteronomium 13,7–12 heißt es: „Wenn dein Bruder, der dieselbe Mutter hat wie du, oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau, mit der du schläfst, oder dein Freund, den du liebst wie dich selbst, dich heimlich verführen will und sagt: Gehen wir und dienen wir anderen Götter, die du nicht kanntest, weder du noch deine Vorfahren – aus den Göttern der Völker, die euch umgeben, dir nah, dir fern, überall, zwischen dem einen Ende der Erde und dem anderen Ende der Erde –, dann sollst du nicht nachgeben und nicht auf ihn hören. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihm aufsteigen lassen, sollst keine Nachsicht für ihn kennen und die Sache nicht vertuschen, sondern du sollst ihn umbringen. Wenn er hingerichtet wird, sollst du als erster deine Hand gegen ihn erheben, dann erst das ganze Volk. Du sollst ihn steinigen und er soll sterben, denn er hat versucht, dich vom Herrn, deinem Gott, abzubringen, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten und nicht noch einmal einen solchen Frevel in deiner Mitte begehen.“

Das Gesetz ist kein Einzelfall. Hier geht es um Anstiftung zum Abfall von Jhwh im Familien- und Freundeskreis. Das gleiche Verfahren ist vorgesehen, wenn Propheten und Traumseher öffentlich zum Abfall von Jhwh aufrufen. Als Begründung wird ausdrücklich auf das Gebot der Gottesliebe verwiesen: „Wenn in deiner Mitte ein Prophet oder ein Traumseher auftritt und dir ein Zeichen oder Wunder ankündigt, wobei er sagt: Folgen wir anderen Göttern nach, die du bisher nicht kanntest, und verpflichten wir uns, ihnen zu dienen!, und wenn das Zeichen und Wunder, das er dir angekündigt hatte, eintrifft, dann sollst du nicht auf die Worte dieses Propheten oder Traumsehers hören; denn der Herr, euer Gott, prüft euch, um zu erkennen, ob ihr das Volk seid, das den Herrn, seinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele liebt. Ihr sollt dem Herrn, eurem Gott, nachfolgen, ihn sollt ihr fürchten, seine Gebote sollt ihr bewahren, auf seine Stimme sollt ihr hören, ihm sollt ihr dienen, an ihm sollt ihr euch festhalten. Der Prophet oder Traumseher aber soll mit dem Tod bestraft werden“ (Dtn 13,2–6).

Stoßen wir hier auf die dunkle Seite des biblischen Monotheismus? Wenn es im Buch Exodus heißt: „Jhwh, Eifersüchtiger ist sein Name, ein eifersüchtiger Gott ist er“ (Ex 34,14), müssen dann nicht 197

auch diejenigen, die ihm nachfolgen, zu Eiferern werden? War nicht auch Paulus ursprünglich ein solcher Eiferer, ein Zelot, wie er im Galaterbrief selbst bekennt, der die Kirche maßlos verfolgte und zu vernichten trachtete (Gal 1,14f) und der mit der Steinigung des Stephanus einverstanden war (Apg 8,1)? – Eine Antwort darauf erfolgt unter dem Abschnitt „Rettung“ (S. 217ff).

Liturgiereform Das Deuteronomium hat eine umfassende Liturgiereform durchgeführt. Sie hat die Geschichte des Judentums maßgeblich geprägt, ohne sie kann auch der christliche Gottesdienst nicht verstanden werden. Die Reform wurde von zwei Anliegen geleitet: der Reinigung des Kultes von Elementen, die mit dem Jhwh-Glauben als unvereinbar angesehen wurden, und der Zentralisation des Kultes im Tempel zu Jerusalem, kurzum: Es ging um Kultreinheit und ­Kulteinheit. Von großer Bedeutung für die Geschichte Jerusalems wurde das Gebot zur Zentralisation des Opferkultes. Mit diesem Gebot wird der älteste Teil des deuteronomischen Gesetzes (Dtn 12–26) eingeleitet. Darin heißt es: „Nimm dich in Acht! Verbrenn deine Brandopfertiere nicht an irgendeiner Stätte, die dir gerade vor die Augen kommt, sondern nur an der Stätte, die der Herr im Gebiet eines deiner Stämme erwählen wird!“ (Dtn 12,13f). Mit der „Stätte, die der Herr im Gebiet eines deiner Stämme erwählen wird,“ dürfte von Anfang an der Tempel zu Jerusalem gemeint sein. Da nun aber das Schlachten von Tieren als gravierender Eingriff in die Lebensordnung bisher immer mit einem Opfer verbunden war, musste die Zentralisation des Opferkultes zur Freigabe der profanen Schlachtung führen. Denn andernfalls wäre es einer Familie, die in einiger Entfernung vom zentralen Heiligtum lebte, nicht mehr möglich gewesen, Fleisch zu essen. Deshalb wird im Anschluss an die älteste Fassung des Gesetzes zur Zentralisation des Opfers das Zugeständnis gemacht: „Doch darfst du immer, wenn du möchtest, und überall in deinen Stadtbereichen schlachten und Fleisch essen, soweit der Segen reicht, den dir der Herr, dein Gott, geschenkt hat“ (Dtn 12,15). Bei diesen Schlachtungen handelt es sich also nicht mehr um ein Opfer; kultische Reinheit ist nicht mehr erforderlich: „Jeder, der Reine wie der 198

Unreine, darf davon essen“ (Dtn 12,15). Lediglich das Bluttabu ist dabei zu beachten. Darin hat sich ein Wissen bewahrt, dass alles Leben, auch das tierische, letztlich Gott gehört. Da Blut deshalb nicht getrunken werden darf und auch nicht mehr auf den Altar gegossen werden kann, weil es einen solchen nach der Reform im Umkreis der Wohnorte nicht mehr gibt, muss es „wie Wasser auf die Erde geschüttet werden“ (Dtn 12,13). Die Freigabe der profanen Schlachtung aufgrund der Zentralisation des Opferkultes führte zu einem Prozess der Entsakralisierung der Lebenswelt. Damit wird eine Entwicklung von weltgeschichtlicher Bedeutung eingeleitet. Eine kultisch-religiöse Überformung der Lebenswelt wird zurückgedrängt, die Welt wird ein wenig weltlicher. In der Frühzeit Israels wurde an vielen Orten im Land geopfert. Solange es das unter Salomo erbaute zentrale Heiligtum in Jerusalem noch nicht gab, ist nach der Theorie des Deuteronomiums kultische Jhwh-Verehrung an verschiedenen Orten erlaubt: „Zu jener Zeit opferte das Volk auf den Kulthöhen, weil dem Namen des Herrn noch kein Haus gebaut war“ (1 Kön 3,2). Damals dürfte Israel viele der im Land bestehenden kanaanäischen Kultstätten übernommen und ähnliche gegründet haben. Dabei drangen religiöse Vorstellungen und Praktiken in den Jhwh-Glauben ein, die der Prophet Hosea kritisiert hatte. Jetzt galt es, sich davon endgültig zu lösen. So wird das Gebot der Kultzentralisation (Dtn 12,13–19) folgerichtig von der Aufforderung zur Vernichtung fremder Kultstätten (Dtn 12,2f) und dem Verbot kanaanäischer Kultbräuche (Dtn 12,29–31) gerahmt. Die Reform König Joschijas im Jahre 622 v. Chr. dürfte wesentliche Teile dieser Forderungen umgesetzt haben. Bei den kanaanäischen Heiligtümern kam es auf numinose Lage und sakrale Ausstattung an. Im Deuteronomium findet eine Verlagerung von heiligen Orten zum heiligen Volk statt: „Denn du bist ein Volk, das dem Herrn, deinem Gott, heilig ist“ (Dtn 7,6). Im Kern wurde damit eine Entwicklung eingeleitet, die in der Spätantike zum Ende des Opferkultes führte. Mit der Deutung des Todes Jesu als eines einmaligen und endgültigen Opfertodes „am Ende der Zeiten“ wird diese historische Entwicklung maßgeblich mit beeinflusst und theologisch gedeutet (Hebr 9,1–10,18). Paulus fordert die an Christus Glaubenden auf, sich selbst „als lebendiges und heiliges Opfer“ Gott 199

hinzugeben und auf diese Weise einen vernünftigen, einen „geistigen Gottesdienst“ (logike latreia) zu praktizieren (Röm 12,1).

Der Festkalender Im Rahmen der deuteronomischen Liturgiereform wurden auch die Feste neu geordnet. Sie werden im Rahmen der Kultzentralisation zu Wallfahrtsfesten für ganz Israel (Dtn 16,16f). Bei der Neuausrichtung lässt sich eine Tendenz der Ablösung vom Zyklus des agrarischen Jahres hin zu einer Ausrichtung auf die Ereignisse der Heilsgeschichte beobachten. Typisch für das Deuteronomium ist die soziale Akzentuierung der Feste. Eröffnet wird der Reigen der Feste durch das Pascha am Neumond des Monats Abib, dem ersten Monat des altisraelitischen Jahres (Dtn 16,1–8). Die Feier verbindet das alte Fest der ungesäuerten Brote, das Mazzotfest (Ex 34,18.25), mit dem zum Opfer ausgebauten apotropäischen Blutritus der Exodusnacht (Ex 12,21–23) zu einem siebentägigen Fest im Gedenken an den Auszug aus Ägypten. Das siebentägige Essen ungesäuerter Brote erinnert sowohl an den hastigen Auf bruch aus Ägypten (Ex 12,1; 13,1–7) als auch an die Zeit der Wüstenwanderung, da ungesäuertes Fladenbrot gewöhnlich das Brot des Unterwegsseins war. Nur das Pascha selbst soll „am Abend, bei Sonnenuntergang, zu der Stunde, in der du aus Ägypten gezogen bist“ (Dtn 16,6), am zentralen Heiligtum gefeiert werden, „an der Stätte, die der Herr erwählen wird, indem er dort seinen Namen wohnen lässt“ (Dtn 16,2). Das Pascha ist streng genommen kein Fest, sondern eine Feier des Gedenkens an das Leid des Volkes in Ägypten, weshalb im Unterschied zum Wochen- und Laubhüttenfest auch nicht gesagt wird, dass Israel an diesem Tag fröhlich sein soll: „Sieben Tage lang sollst du ungesäuertes Brot essen, die Speise der Bedrängnis, denn in Hast bist du aus Ägypten gezogen, damit du dein ganzes Leben lang des Tages gedenkst, an dem du aus Ägypten gezogen bist“ (Dtn 16,3). Am anderen Morgen „darfst du wieder zu deinen Zelten zurückkehren“ (Dtn 16,7). In dieser Zeit darf sieben Tage lang nichts Gesäuertes gegessen werden. Damit wandelt sich auf dem Heimweg die „Speise der Bedrängnis“ zum Brot des Unterwegsseins in das Land der Verheißung. 200

Sieben Wochen nach Beginn der Weizenernte, also am 50. Tag (daher die Bezeichnung Pentekoste, Pfingsten), wird das Wochenfest gefeiert (Dtn 16,9–12). Das Fest wird als Familienfest am Zentralheiligtum in Freude und Dankbarkeit begangen, bei dem die Armen ausdrücklich miteingeschlossen werden: „Du sollst vor dem Herrn, deinem Gott, fröhlich sein, du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, auch die Leviten, die in deinen Stadtbereichen Wohnrecht haben, und die Fremden, Waisen und Witwen, die in deiner Mitte leben. Du sollst fröhlich sein an der Stätte, die der Herr, dein Gott, erwählen wird, indem er dort seinen Namen wohnen lässt. Denk daran: Du bist in Ägypten Sklave gewesen! Daher sollst du diese Gesetze bewahren und sie halten“ (Dtn 16,11f). Das Erntefest schlechthin ist das Laubhüttenfest im Herbst am Ende des bäuerlichen Jahres (16,13–15). Sein Name erinnert wahrscheinlich an die Gewohnheit, während der Traubenlese in den Weinbergen in Hütten zu wohnen (vgl. Ri 21,19–21; Jes 1,8). Später wurde der Brauch heilsgeschichtlich gedeutet: „Sieben Tage sollt ihr in Hütten wohnen. Alle Einheimischen in Israel sollen in Hütten wohnen, damit eure kommenden Generationen wissen, dass ich die Israeliten in Hütten wohnen ließ, als ich sie aus Ägypten herausführte“ (Lev 23,42f). Auch dieses Fest wurde sieben Tage lang in der Großfamilie gefeiert und schloss abhängige Arbeitskräfte wie Sklave und Sklavin sowie sozial weniger abgesicherte Personen wie Fremde, Waisen und Witwen mit ein. Die Feste Israels antworten auf die zwei grundlegenden Weisen, in denen Gott in seinem Volk wirkt. Pascha und anschließendes Mazzotfest antworten auf das rettende Handeln Gottes in der Geschichte, Wochen- und Laubhüttenfest auf das segnende Handeln Gottes in der Schöpfung. Nach christlichem Verständnis hat sich das Pascha im Opfertod Jesu am Kreuz erfüllt (vgl. Ex 12,46; Joh 19,36) und ist zum Osterfest geworden, das mit „den ungesäuerten Broten der Aufrichtigkeit und Wahrheit“ zu feiern ist. Das Wochenfest wird in der späteren jüdischen Tradition mit der Gabe der Tora am Sinai in Verbindung gebracht; ihm entspricht fünfzig Tage nach Ostern in der christlichen Tradition das Pfingstfest, bei dem die im Gebet versammelte Kirche mit der Gabe des Heiligen Geistes beschenkt wird (Apg 2,1–4). 201

Gewaltenteilung Wie kaum eine andere Schrift der Bibel hat sich das Deuteronomium mit der Frage nach der Herrschaft im Gottesvolk befasst. Der Verfassungsentwurf des Deuteronomiums entwirft einen gewaltenteilig organisierten Rechtsstaat. Darin werden vier Gewalten unterschieden: die des Richters, des Königs, des Priesters und des Propheten. In dieser Reihenfolge lässt sich hinsichtlich der Einsetzung eine Steigerung göttlichen Einflusses beobachten: Die Richter werden vom Volk eingesetzt, der König wird von Jhwh erwählt und vom Volk eingesetzt, die Priester aus dem Stamm Levi sind von Jhwh erwählt und die Propheten werden je neu von Jhwh berufen. Alle vier Ämter sind auf die Tora hin ausgerichtet. In der Tora geht es um Recht und Gerechtigkeit. Der jüdische Bibelwissenschaftler Bernard M. Levinson hat darauf hingewiesen, dass der Beitrag des Deuteronomiums zum modernen politischen Denken und zu den Ursprüngen der westlichen Staatstheorien häufig übersehen wird. Die Ämtergesetze des Deuteronomiums bilden nach Levinson den „ersten Entwurf für eine rechtsstaatliche Verfassung. Die Juristen, die diese Gesetze entworfen haben, „richteten zwei Eckpfeiler westlicher Gesetzestradition auf: die klare Aufteilung der politischen Gewalten in getrennte Machtbereiche und die Unterordnung jedes Zweiges unter die Autorität des Gesetzes. Darüber hinaus versuchten diese visionären Denker, das Rechtsprinzip zu gewährleisten, indem sie eine unabhängige Judikative etablierten. Dieser sorgfältig durchdachte Plan ist entworfen worden, um sicherzustellen, dass nicht ein einzelner Zweig der Regierung oder eine einzelne religiöse Institution über die alleinige Macht verfügt. Vielmehr werden alle Kräfte zueinander in Beziehung gesetzt. Noch wichtiger ist allerdings, dass sie sämtlich der einen wahren Autorität unterstellt sind: dem Gesetz von Dewarim [Deuteronomium]“ (Levinson, Einführung, 694f). Im deuteronomischen Verfassungsentwurf lässt sich die Tendenz beobachten, die früher vorhandene Machtkonzentration beim König und bei der Priesterschaft zugunsten der Rechtsprechung und der Prophetie abzubauen. Der Verfassungsentwurf ist vor allem aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Königtums zu verstehen. Machtmissbrauch, Missstände in der Rechtspre202

chung und der verführerische Einfluss falscher Prophetie sollen abgestellt werden. Aufgewertet wird das Gesetz, die Tora, an das sich die Rechtsprechung zu halten hat und anhand dessen die wahre Prophetie von der falschen zu unterscheiden ist. Der Verfassungsentwurf des Deuteronomiums ist für einen Staat gedacht. Es handelt sich um eine Staatsverfassung, für die das Amt des Königs vorgesehen ist. Zugleich ist aber für jene Zeit Sorge getragen, in der das Gottesvolk kein Staat mehr sein wird. Denn das Amt des Königs ist fakultativ. Dies deutet darauf hin, dass der Verfassungsentwurf in seiner Endgestalt aus der Zeit des Exils stammt. Beim Amt des Richters heißt es: „Richter und Listenführer sollst du in allen Stadtbereichen einsetzen“ (Dtn 16,18). Das Amt des Königs hingegen ist an die freie Entscheidung Israels gebunden: „Wenn du in das Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt, hineingezogen bist, es in Besitz genommen hast, in ihm wohnst und dann sagst: Ich will einen König über mich einsetzen wie alle Völker in meiner Nachbarschaft, dann darfst du einen König über dich einsetzen, doch nur einen, den der Herr, dein Gott, erwählt“ (Dtn 17,14f). Der wahrscheinlich in der Zeit des Exils konzipierte Verfassungsentwurf konnte nie verwirklicht werden. „Die neue Verfassung“, so Bernard M. Levinson, „hätte das judäische Gemeinwesen völlig neu strukturiert. Rein pragmatisch betrachtet ist dieser utopische Freiheitswille tragisch gescheitert. Historisch bestand schlicht keine Möglichkeit, ihn umzusetzen. Bei der Rückkehr aus dem Exil, als Juda unter persischer Herrschaft wieder eine gewisse politische Autonomie erlangte, machten interne Konflikte über die Führung des Staates und den Kult zwischen den Rückkehrern und denen, die während des Exils im Land geblieben waren, jenen Versuch zunichte“ (Levinson, Einführung, 695).

Das Königtum Das Königtum ist das einzige fakultative Amt im Verfassungsentwurf des Deuteronomiums (17,14–20). Das Gesetz zieht die Konsequenzen aus einer vierhundertjährigen Erfahrung mit der Monarchie. Bezugstexte sind vor allem die königskritischen Erzählungen von der Einführung des Königtums in Israel im ersten Buch Samuel (1 Sam 7–12). Rechtsprechung und Führung des Heeres im Krieg 203

waren die traditionellen Aufgaben des Königs. Beide werden ihm im Deuteronomium genommen. Für die Rechtsprechung sind Richter zuständig (Dtn 16,18–20), für die Führung des Volksheeres Listenführer (Dtn 20,1–9). Eigentlich bräuchte Israel also keinen König. Die Einführung des Königtums wird an den Willen des Volkes, modern gesprochen: an die Volkssouveränität gebunden: „Wenn du in das Land kommst […] und sagst: Ich will einen König über mich einsetzten wie alle anderen Völker in meiner Nachbarschaft, dann darfst du einen König über dich einsetzen, doch nur einen, den der Herr, dein Gott, auswählt. Nur aus der Mitte deiner Brüder darfst du einen König über dich einsetzen. Einen Ausländer darfst du nicht über dich einsetzen, weil er nicht dein Bruder ist“ (Dtn 17,14). Die Erwählung, so ist zu ergänzen, erfolgt durch den Propheten. Sie dürfte nur für den Anfang der Dynastie gelten, denn Dtn 17,20 setzt voraus, dass die Königswürde erblich ist. Ob das Gesetz innerhalb der dynastischen Erbfolge mit einer dem Volk zustehenden Wahlmöglichkeit unter den Söhnen des Königs rechnet, bleibt offen. Auszuschließen ist sie nicht. Die Einsetzung Joschijas und seines Nachfolgers Joahas erfolgte nach diesem Prinzip durch die „Bürger des Landes“ (2 Kön 21,24; 23,30): Sie entscheiden, wer innerhalb der von Jhwh erwählten Dynastie König wird. Eingesetzt wird der König vom Volk, konkret von den Ältesten. Beides trifft für David und die von ihm begründete Dynastie zu (1 Sam 16; 2 Sam 5,1–5), nicht jedoch für die Könige des Nordreiches (1 Kön 12) und schon gar nicht für das Gewalt-Königtum eines Abimelech (Ri 9). In 1 Sam 8,11–17 wird – allerdings in warnendem Tonfall – von den „Rechten des Königs“ gesprochen. Davon ist in Dtn 17,14–20 keine Rede mehr. Die königliche Macht wird deutlich begrenzt: nicht zu viele Pferde, nicht zu viele Frauen, nicht zu viel Silber und Gold! „Er soll das Volk nicht nach Ägypten zurückbringen, um mehr Pferde zu bekommen“ (Dtn 17,18). Königliche Machtund Prachtentfaltung, so der Tenor des Gesetzes, sind unerwünscht. Stattdessen wird der König auf die Tora verpflichtet. Gegenüber allen anderen Israeliten steht ihm das Privileg zu, sich eine – damals sehr teure! – Abschrift (Septuaginta: Deutero – nomion) der Tora anfertigen zu lassen, die er sein Leben lang mit sich führen und in der er lesen soll, „damit er lernt, den Herrn, seinen Gott, zu fürchten, alle Worte dieser Weisung und diese Gesetze zu bewahren, sie zu halten, 204

sein Herz nicht über seine Brüder zu erheben und von dem Gebot weder rechts noch links abzuweichen, damit er lange als König in Israels Mitte lebt, er und seine Nachkommen“ (Dtn 17,19f). Der König ist also an eine ihm vorgegeben schriftliche Verfassung gebunden. Er soll sie täglich vor Augen haben, sie rezitieren und meditieren „bei Tag und bei Nacht“ (vgl. Ps 1) und „weder rechts noch links“ davon abweichen. Die Ämtergesetze des Deuteronomiums sehen demnach eine fakultative konstitutionelle Monarchie vor. Der König ist weder an der Gesetzgebung noch an der Rechtsprechung noch am Militär beteiligt. Als „Musterisraelit“ (Norbert Lohfink) repräsentiert er Israel gegenüber den anderen Völkern nach außen. Israel darf also einen König „über sich“ einsetzen, „wie es bei allen anderen Völkern der Fall ist“, doch dieser König muss ganz anders sein als die Könige der anderen Völker, und er herrscht nicht „über Israel“, sondern lebt „in seiner Mitte“ und „darf sein Herz nicht über seine Brüder erheben“. Dieser ganz andere König der Juden, vor dem die Könige dieser Welt erschrecken (Mt 2,3), so bekennt der christliche Glaube, ist tatsächlich in die Welt gekommen, „um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen“ (Joh 18,37).

Die Prophetie Das wichtigste Amt im Verfassungsentwurf des Deuteronomiums ist das der Prophetie (Dtn 18,9–22). Werden Macht und Rolle des Königtums deutlich eingeschränkt, so wird die Rolle der Prophetie aufgewertet und präzisiert. Bei beiden Ämtern sah sich das Deuteronomium vor die Herausforderung gestellt, fremde Einflüsse auf den Jhwh-Glauben abzuwehren. Das altorientalische Königtum stand in Spannung zum Ethos der Brüderlichkeit; es musste, wenn es denn in Israel nicht zu umgehen war, deutlich beschnitten werden. Die Prophetie gehört zum Kern religiöser Praxis, geht es in ihr doch um den Kontakt mit dem Göttlichen. Hier hatten die Religionen Kanaans und der benachbarten Länder ein reiches Erbe vorzuweisen. Die konstruktive Restauration des Deuteronomiums sah sich dabei vor die Herausforderung gestellt, das berechtigte Anliegen, mit der Gottheit in Kontakt zu kommen, aufzugreifen und zu bewahren, es aber zugleich so zu gestalten, dass es mit dem Jhwh-Glauben in 205

Einklang zu bringen war. Gelöst wurde die Herausforderung durch die Stiftung der Prophetie. Sie wird auf das Engste mit der Tora verbunden. Durch den Propheten Mose hat Jhwh seinem Volk in der Tora seinen Willen geoffenbart und damit zugleich die Zusage verbunden, in der Nachfolge Moses je neu Propheten zu erwecken, die den Willen Gottes verkünden und auslegen. Im Unterschied zum Königtum, das erst in einer späteren Zeit in die Geschichte Israels eingetreten ist, wird die Prophetie in der Ursprungsgeschichte Israels verankert, da das Volk als hörende Versammlung am Horeb unmittelbar vor seinem Gott stand. Die Prophetie ist die Verstetigung dieses Ursprungsereignisses. Nach der Mitteilung des Dekalogs wird in Ex 20,19 erzählt, wie das Volk mit der Bitte an Mose herantrat, alles weitere Sprechen Gottes zu vermitteln: „Sie sagten zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören! Gott soll nicht mit uns reden, sonst sterben wir.“ Eine unmittelbare Begegnung zwischen Gott und dem Volk wird als lebensgefährlich erachtet. Mose wird gebeten, die Rolle des Mittlers zu übernehmen (vgl. Dtn 5,23–33). Mit der Einsetzung der Prophetie hat Gott der Bitte des Volkes entsprochen. Jeder wahre Prophet steht somit in der Nachfolge Moses, des „größten aller Propheten in Israel“ (Dtn 34,10). So kann Mose dem Volk verkünden: „Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte, unter deinen Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören. Der Herr wird ihn als Erfüllung von allem erstehen lassen, worum du am Horeb, am Tag der Versammlung, den Herrn, deinen Gott, gebeten hast, als du sagtest: Ich kann die donnernde Stimme des Herrn, meines Gottes, nicht noch einmal hören und dieses große Feuer nicht noch einmal sehen, ohne dass ich sterbe. Damals sagte der Herr zu mir: Was sie von dir verlangen, ist recht. Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen. Ich will ihm meine Worte in den Mund legen und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm gebiete“ (Dtn 18,15–18). Die Gabe der Prophetie ist die Antwort des Jhwh-Glaubens auf das reichhaltige religiöse Angebot der „Völker des Landes“, in das Israel hineinziehen wird. Deren magische Praktiken werden als „Gräuel“ qualifiziert und verworfen. Als inhaltliches Kriterium werden der Alleinverehrungsanspruch Jhwhs und die Menschenwürde ange206

führt: „Es soll bei dir keinen geben, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt, keinen, der Losorakel befragt, Wolken deutet, aus dem Becher weissagt, zaubert, Gebetsbeschwörungen hersagt oder Totengeister befragt, keinen Hellseher, keinen, der Verstorbene um Rat fragt“ (Dtn 18,10f). Israel soll ganz bei seinem Gott bleiben (Dtn 18,13). Die der Prophetie eigene Gottunmittelbarkeit wird nach Auskunft des Propheten Joël (Joël 3,1) in kommenden Tagen auf alle Glieder des Gottesvolkes ausgedehnt: „Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben und eure jungen Männer haben Visionen.“ Der im Gebet in Jerusalem versammelten Gemeinde wurde diese Erfahrung zuteil. Petrus erklärt den erstaunten Bewohnern der Stadt im Rückgriff auf den Propheten Joël „was jetzt geschieht“ (Apg 2,16).

Segen und Fluch Das Deuteronomium greift auf das seinerzeit moderne Modell eines vertragsrechtlichen Bundes zurück und stellt damit die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk auf eine rechtlich verbindliche Grundlage. Wir können diesen Prozess als eine Rationalisierung des Gottesbildes verstehen, und zwar in dem Sinne, dass die Gottheit jetzt nicht mehr als eine unberechenbare Macht vor Augen steht, die jederzeit zuschlagen und sich auf diese Weise Respekt verschaffen kann. Der Gott des Bundes erweist sich als ein Gott, der sich an seine Zusagen hält, auf den man sich verlassen kann. Er ist ein Gott der Treue. Mit dem theologischen Konzept des Bundes macht die Religion Israels einen bedeutenden Schritt in Richtung einer Verbindung von Glaube und Vernunft. Diese Entwicklung entsprach den damaligen kulturellen Standards. Denn auch die Regelung internationaler Beziehungen durch Verträge stellt einen bedeutenden Schritt auf dem Weg der Zivilisation dar. Die Interessen und Machtansprüche der Staaten werden durch gegenseitige verbindliche Abmachungen geregelt; niemand soll sich mehr vor den Gewaltausbrüchen der Nachbarn fürchten, sondern mit ihnen auf der Grundlage vertraglicher Abmachungen friedlich zusammenleben zum Wohlergehen aller. Bis in unsere Tage hinein ist die Vertragspolitik eines der wichtigsten Instrumente der Friedenssicherung. 207

Doch was geschieht, wenn einer der Vertragspartner die eingegangenen Verpflichtungen nicht einhält? Dann gibt es ein Vertragsverletzungsverfahren und wenn dabei am Ende feststeht, dass eine der Parteien den Vertrag tatsächlich verletzt hat, folgt eine Strafe. Genau dieses Modell liegt auch dem Bund zwischen Gott und seinem Volk zugrunde. Die Strafen, die damals verhängt wurden, waren grausam. Vergessen wir allerdings nicht, dass die Androhung grausamer Strafen darauf ausgerichtet war, Vertragsverletzungen zu verhindern und auf diese Weise Frieden und Wohlstand, oder zumindest doch ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte (Balance of Power) zu bewahren. In der Antike erfolgte die Androhung von Strafen in Form von Flüchen. Auch das Deuteronomium übernimmt diese Redeform und orientiert sich dabei weitgehend an dem, was damals üblich war. Den Maßstab setzten, wie wir gesehen haben, die assyrischen Vasallenverträge (sie weiter oben den Abschnitt „Das Hauptgebot“). Deren Schlussteil besteht aus einer langen Liste grausamer Flüche. Auch am Ende des Deuteronomiums begegnen wir einer solchen Liste von Fluchandrohungen für den Fall, dass Israel die Gott gegenüber eingegangenen Verpflichtungen nicht einhält: „Wenn du nicht auf die Stimme des Herrn, deines Gottes hörst, indem du nicht alle seine Gebote und Satzungen, auf die ich dich heute verpflichte, bewahrst und sie nicht hältst, werden alle diese Verfluchungen über dich kommen und dich erreichen: Verflucht bist du in der Stadt, verflucht bist du auf dem Land. Verflucht ist dein Korb und dein Backtrog. Verflucht ist die Frucht deines Leibes und die Frucht deines Ackers, der Wurf deiner Rinder und der Zuwachs an Lämmern und Zicklein. Verflucht bist du, wenn du heimkehrst, verflucht bist du, wenn du ausziehst. […] Der Herr heftet die Pest an dich, bis er dich ausgemerzt hat aus dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen“ (Dtn 28,15–21).

Diese Flüche sind nicht Zeichen eines primitiven Gottesbildes, sondern stehen auf der Höhe eines seinerzeit hochmodernen Rationalitätskonzeptes. Faktisch beschreiben sie jene Katastrophen, die ganze Länder zugrunde richten, wenn diese den Weg des Friedens verlassen. Allerdings hat Israel im Unterschied zu den Gepflogenheiten assyrischer Vertragskultur den Fluchandrohungen Segensverheißungen vorangestellt: 208

„Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst, indem du alle seine Gebote, auf die ich dich heute verpflichte, bewahrst und sie hältst, wird dich der Herr, dein Gott, über alle Völker der Erde erheben. Alle diese Segnungen werden über dich kommen und dich erreichen, wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes hörst: Gesegnet bist du in der Stadt, gesegnet bist du auf dem Land. Gesegnet ist die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Ackers und die Frucht deines Viehs, der Wurf deiner Lämmer und der Zuwachs an Lämmern und Zicklein. Gesegnet ist dein Korb und dein Backtrog. Gesegnet bist du, wenn du heimkehrst, gesegnet bist du, wenn du ausziehst. Der Herr stößt die Feinde, die sich gegen dich erheben, nieder und liefert sie dir aus, auf sieben Straßen fliehen sie vor dir. Der Herr befiehlt seinem Segen, an deiner Seite zu sein: in deinen Speichern und bei allem, was deine Hände schaffen. Der Herr segnet dich in dem Land, das er, dein Gott, dir gibt“ (Dtn 28,1–8).

Herzensbeschneidung Unmittelbar vor dem Einzug in das verheißene Land stellt Mose Israel vor die Alternative von Leben und Tod: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben“ (Dtn 30,19f). Der Bund, den der Herr am Horeb (Sinai) mit Israel geschlossen und dem Israel zugestimmt hat (Ex 24), wird angesichts des Wechsels in der Führung des Gottesvolkes von Mose zu Josua im Lande Moab unmittelbar vor dem Einzug in das verheißene Land bestätigt. Beim Moabbund handelt es sich also gegenüber dem Horebbund nicht um einen neuen Bund, sondern um eine Bundesbestätigung. Dabei werden Israel für die Einhaltung der Bundesverpflichtungen reicher Segen, für deren Missachtung jedoch grausame Flüche angedroht. Wie verlief nun die Geschichte Israels im Land der Verheißung? Gegen Ende des 7. Jh. v. Chr. sieht der Prophet Jeremia eine große Gefahr heraufziehen: „Vom Norden droht Unheil und großes Verderben“ (Jer 6,1). In dieser Stunde der Gefahr versuchte König Joschija im Jahre 622 v. Chr. auf der Grundlage des Deuteronomiums mit einem groß angelegten Reformprogramm das Ruder herumzureißen. Doch es war bereits zu spät. Joschija wurde im Jahre 609 209

vom ägyptischen König Necho getötet. Wenige Jahre später traten die Babylonier die Nachfolge der Assyrer an, eroberten Jerusalem, zerstörten den Tempel und beendeten die gut vierhundertjährige Geschichte der davidischen Dynastie und des Staates Juda. Damit war nicht der verheißene Segen, sondern der angedrohte Fluch eingetreten. Das Land wurde verwüstet, seine Bewohner vertrieben. War damit der Bund gebrochen und die Geschichte Israels mit seinem Gott beendet? „Warum hat der Herr diesem Land so etwas angetan? Warum entbrannte dieser gewaltige Zorn? Und man wird antworten: Weil sie den Bund verlassen haben, den der Herr, der Gott ihrer Väter, mit ihnen geschlossen hatte, als er sie aus Ägypten führte, weil sie angefangen haben, anderen Göttern zu dienen und sich vor ihnen niederzuwerfen, Göttern, die sie vorher nicht einmal gekannt hatten und die er ihnen nicht zugewiesen hatte. Deshalb entbrannte der Zorn des Herrn gegen dieses Land. Deshalb brachte der Herr den ganzen Fluch, der in dieser Urkunde aufgezeichnet ist, über das Land, riss sie mit glühendem Zorn und großem Unwillen aus ihrem Land heraus und warf sie in ein anderes Land, in dem sie heute noch sind“ (Dtn 29,23–27). Angesichts dieser historischen Katastrophe setzte in der geistigen Elite Judas eine große Nachdenklichkeit ein. Musste angesichts der geschichtlichen Ereignisse die Bundestheologie nicht noch einmal neu durchdacht werden? Ist Israel von sich aus überhaupt in der Lage, Gott zu lieben und seine Gebote zu erfüllen? Hat das Volk mit der emphatischen Zustimmung am Sinai: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun“ (Ex 24,7) seine eigenen Möglichkeiten überschätzt? Tatsächlich wurde die vertragsrechtliche Bundestheologie in der exilischen und nachexilischen Zeit neu konzipiert. Späte Redaktionen des Deuteronomiums lassen bereits Mose diese Entwicklung voraussehen: „Wenn alle diese Worte über dich gekommen sind, der Segen und der Fluch, die ich dir vorgelegt habe, dann wirst du sie dir zu Herzen nehmen mitten unter den Völkern, unter die der Herr, dein Gott, dich versprengt hat, und zum Herrn, deinem Gott, zurückkehren und auf seine Stimme hören in allem, wozu ich dich heute verpflichte, du und deine Kinder, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele, und der Herr, dein Gott, wird dein Schicksal wenden. Er wird sich deiner erbarmen, sich dir zukehren und dich aus al210

len Völkern zusammenführen, unter die der Herr, dein Gott, dich verstreut hat“ (Dtn 30,2f). Wenn das geschieht, kommt es zu etwas Neuem: „Der Herr, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden. Dann wirst du den Herrn, deinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben können, damit du Leben hast“ (Dtn 30,6). Israel ist also von sich aus gar nicht in der Lage, den Herrn, seinen Gott „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ zu lieben, wie es Dtn 6,5 gefordert hatte. Zuvor bedarf es einer Herzensbeschneidung, damit Israel seinen Gott „mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben kann“ (Dtn 30,6). Wir stehen hier am Beginn einer theologischen Einsicht, die sich tief in die Offenbarungsgeschichte eingeschrieben hat; sie wird uns in der Theologie der exilischen und nachexilischen Zeit bis in das Neue Testament hinein begleiten.

Ein neues Herz Mit der Katastrophe des Exils geriet die vertragsrechtliche Bundestheologie in eine Krise. Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk musste neu gedacht werden. An die Stelle des Vertragsbundes trat der Gnadenbund. Jetzt wird der Bund nicht mehr am Sinai auf der Grundlage der Gesetze geschlossen, sondern er wird in die Zeit der Väter vorverlegt und von Gott „gegeben“ und „aufgerichtet“ als eine berit olam, ein ewiger Bund. Gott sagt zu Abraham: „Ich richte meinen Bund auf zwischen mir und dir und mit deinen Nachkommen nach dir, Generation um Generation, einen ewigen Bund: Für dich und deine Nachkommen nach dir werde ich Gott sein“ (Gen 17,7). Der Text dürfte etwa im 6. oder 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein. Er wird zur sogenannten Priesterschrift gerechnet, einer der Quellen, aus der sich der Pentateuch zusammensetzt, die fünf Bücher Mose. Die priesterschriftliche Bundestheologie verlegt den Bund Gottes in die Vätergeschichte und versteht ihn als eine göttliche Gabe, die von Gott nicht zurückgenommen wird. Zwar können Einzelne aus dem Bund herausfallen, er kann aber im eigentlichen Sinne nicht mehr gebrochen werden, da er nicht mehr an die Voraussetzung des Gesetzesgehorsams gebunden ist. Von Gott her gesehen ist er reine Gnade. 211

Wird damit der Gehorsam gegenüber den göttlichen Gesetzen, den das Deuteronomium so entschieden eingefordert hatte, hinfällig? War die sich am Modell eines Vertrages orientierende Bundeskonzeption des Deuteronomiums ein theologischer Irrweg? Mit einem solchen Urteil würde man es sich zu leicht machen und der biblischen Literatur nicht gerecht werden. Viele Bücher der Bibel sind über einen längeren Zeitraum hin entstanden. In der Forschung sprechen wir von Traditionsliteratur. Eines ihrer Merkmale besteht darin, dass ein vorgegebener Text nicht verworfen, sondern fortgeschrieben und im Prozess des Fortschreibens modifiziert und neu akzentuiert wird. Einerseits stellt dieses Phänomen die Leser der Bibel vor große Herausforderungen, weil dabei leicht der Eindruck entsteht, alles sei recht kompliziert und bisweilen sogar widersprüchlich. Auf der anderen Seite ist das Phänomen der Fortschreibung faszinierend, weil man dabei den biblischen Autoren beim theologischen Nachdenken gleichsam über die Schultern schauen kann. Der Vorgang erinnert an den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, für den wahres Denken eine Bewegung in Gang setzt, die unversöhnlich scheinende Gegensätze miteinander in Einklang bringt. In diesem Sinne ist auch die Lehre von der Einheit der Schrift zu verstehen; nicht so, dass es sich um einen konturenlosen Einheitsbrei handelt, sondern so, dass die unterschiedlichen Stimmen, bisweilen auch in Form von These und Gegenthese, in einer höheren Einheit, einer Synthese, aufgehoben werden. Welche Denkbewegung vollzieht das Deuteronomium, um aus den Engführungen der vertragsrechtlichen Bundeskonzeption herauszukommen? Es geht einen Schritt zurück und fragt nach den Voraussetzungen des Gebotsgehorsams. Im Scheitern am Gesetz erkennt Israel, dass es zunächst einer Beschneidung des Herzens bedarf, damit es in der Lage ist, Gott „mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele zu lieben“ (Dtn 6,5; 30,2f). Die Beschneidung des Herzens wird von Gott vorgenommen. Der erste und grundlegende religiöse Akt wäre dann die Bereitschaft, sich von Gott behandeln zu lassen. Wie ein Patient, der spürt, dass er der Heilung bedarf und sich einem Arzt anvertraut, so muss sich Israel eingestehen, dass sein Herz verhärtet ist (vgl. Mk 10,5). Nur Gott kann diese Verhärtung lösen. Einige Propheten sprechen in diesem Zusammenhang 212

von einer Herztransplantation. Das Herz aus Stein muss dem Menschen genommen und durch ein Herz aus Fleisch ersetzt werden: „Ich beseitige das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch“ (Ez 36,26). Ein solches Herz aus Fleisch ist empfänglich und kann die Gebote von innen her annehmen. Von einer rein äußeren Gebotsbelehrung kommt es zu einer im Inneren des Herzens vollzogenen Einsicht und Annahme der göttlichen Gebote – von einer extrinsischen zu einer intrinsischen Motivation. Im Buch des Propheten Jeremia ist dies der neue Bund: „Siehe, Tage kommen – Spruch des Herrn –, da schließe ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund. Er ist nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe an dem Tag, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des Herrn. Sondern so wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des Herrn: Ich habe meine Weisung in ihre Mitte gegeben und werde sie auf ihr Herz schreiben. Ich werde ihnen Gott sein und sie werden mir Volk sein. Keiner wird mehr den anderen belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, denn sie alle, vom Kleinsten bis zum Größten, werden mich erkennen – Spruch des Herrn. Denn ich vergebe ihre Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr“ (Jer 31,31–40). Was hier in einem anschaulichen Bild zum Ausdruck kommt, ist im tatsächlichen Leben ein langwieriger und herausfordernder Prozess. Es bedarf des Vertrauens und der Hingabe, damit Gott sein Werk am Herzen des Menschen vollbringen kann.

Joschijas Tod Aus der Bibel und anderen Quellen sind wir über die letzten Jahre des Staates Juda gut informiert. Es lohnt sich, die Ereignisse in Grundzügen zu rekapitulieren, weil sie uns zeigen, wie der biblische Glaube einerseits zutiefst auf geschichtliche Ereignisse bezogen ist, er anderseits aber auch über sie hinausgeht, indem er Licht in das Dunkel der Geschichte bringt und das, was geschehen ist, zu verstehen sucht.

213

In überraschend kurzer Zeit war die Weltmacht Assur gegen Ende des 7. Jh. v. Chr. in sich zusammengebrochen (siehe den Abschnitt „Assurs Untergang“). König Joschija von Juda und seine Berater hatten darin offensichtlich die Chance zu einer nationalreligiösen Erneuerungsbewegung erkannt. Doch das einzigartige Reformprojekt, das der König im Jahre 622 v. Chr. auf der Grundlage des Deuteronomiums in Kraft setzte, konnte das bevorstehende Unheil nicht mehr abwenden. In der Bibel findet sich die nüchterne Notiz, dass Joschija im Jahre 609 v. Chr. vom ägyptischen Pharao Necho II. bei der Stadt Megiddo getötet wurde. Wie konnte es dazu kommen? Offensichtlich wollte Ägypten an seine alte Größe anknüpfen und das Erbe der Assyrer in Palästina antreten. Möglicherweise hat Pharao Necho II. (610–595) den judäischen König Joschija aufgrund einer tatsächlichen oder vermeintlichen antiägyptischen Haltung in sein Feldlager nach Megiddo einbestellt und ihn als abgefallenen Vasallen hinrichten lassen, womit dieser offensichtlich nicht gerechnet hatte. Für die biblische Geschichtsschreibung war der schmachvolle Tod Joschijas ein theologisches Problem. Denn, so lesen wir im 2. Buch der Könige (2 Kön 23,25), „es gab vor ihm keinen König, der so mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all seinen Kräften zum Herrn umkehrte und so getreu die Weisung (Tora) des Mose befolgte, und auch nach ihm war keiner wie er.“ Hatte nicht das Deuteronomium im Falle des Gebotsgehorsams reichen Segen versprochen, wenn es in Dtn 28,7 heißt: „Der Herr stößt die Feinde, die sich gegen dich erheben, nieder und liefert sie dir aus“? Sollte ausgerechnet einer der frömmsten Könige Judas, der alle Tage seines Lebens treu die Weisung des Herrn befolgt hat, vom göttlichen Fluch getroffen sein? „Wenn du nicht auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst“, dann „stößt dich der Herr nieder und liefert dich deinen Feinden aus“ (Dtn 28,15.25). Die irritierenden geschichtlichen Erfahrungen führten, wie wir noch sehen werden, zu einem langanhaltenden Ringen um ein vertieftes Verständnis der Geschichte. Vielen Gläubigen erging es in dieser Zeit wie dem Beter des 73. Psalms: „Ich dachte nach, um all dies zu begreifen, eine Qual war es in meinen Augen“ (Ps 73,16). Mit dem Tod Joschijas dürfte das von ihm angestoßene Reformprojekt bis auf weiteres beendet worden sein. Die Bürger des Lan214

des salbten seinen Sohn Joahas zum König über Juda. Doch dieser sollte nur drei Monate regieren. Pharao Necho nahm ihn gefangen, brachte ihn nach Ägypten und setzte Eljakim, einen weiteren Sohn Joschijas, als König in Jerusalem ein und änderte dessen Namen in Jojakim (609–598). Juda wurde Vasall Ägyptens. Doch schon bald sollten sich die Machtverhältnisse zugunsten der Babylonier verschieben. Die Entscheidung fiel im Jahre 605 v. Chr. in der Schlacht von Karkemisch, einer im Norden Syriens gelegenen Stadt. Unter ihrem Kronprinzen Nebukadnezzar besiegten die Babylonier das ägyptische Heer. Daraufhin zogen sich die Ägypter aus Syrien-Palästina in ihr Land zurück. Babylon trat das Erbe Assurs an. Unter König Jojakim wurde Juda im Jahre 604 v. Chr. Vasall der Babylonier. Die folgenden zwei Jahrzehnte sollten zu Schicksalsjahren des Staates Juda werden. Es waren Jahre eines dramatischen Ringens um die Zukunft Jerusalems, der davidischen Dynastie, des Tempels und der Bewohner des Landes. Es kam zu Erschütterungen mit schwerwiegenden Folgen. Um die Struktur des biblischen Glaubens zu verstehen, müssen wir uns mit den Ereignissen dieser Jahre befassen, denn sie haben tiefe Spuren in den Seelen und im Bewusstsein der Betroffenen, in ihrem Glauben und in ihrer Theologie hinterlassen.

Widerstand oder Ergebung? Nach dem gewaltsamen Tod des judäischen Königs Joschija im Jahre 609 v. Chr. brachen für Juda und Jerusalem unruhige Zeiten an. Die in der Hauptstadt heiß diskutierte Frage war: Wird es möglich sein, eine von den rivalisierenden Großmächten Ägypten und Babylon unabhängige und selbstbestimmte Politik zu betreiben? Oder wäre es klüger, sich mit einer der beiden Mächte zu arrangieren, um das Überleben des Staates Juda – wenn auch in Abhängigkeit – zu sichern? Diese Frage war von theologischem Gewicht. Die altorientalischen Religionen waren politische Religionen. Staat und Religion waren auf das Engste miteinander verknüpft. In Jerusalem war es nicht anders. In der berühmten Natanweissagung hatte der Herr David und seiner Dynastie einen ewigen Bestand verheißen: „Dein Thron wird auf ewig Bestand haben“ (2 Sam 7,16). König Joschija hatte auf der 215

Grundlage des Deuteronomiums eine umfassende Reform von Staat und Gesellschaft in Angriff genommen. Nun war der König tot – eines der ersten Opfer der neuen Konfrontation von Ost und West. Geht ein Staat zugrunde, verschwindet in der Regel auch die daran gebundene Religion. So war es bei den Ägyptern, den Assyrern, den Babyloniern und vielen anderen Staaten und Völkern des Alten Orients. Sollte der Jhwh-Glaube das gleiche Schicksal erleiden? Fällt mit dem Staat Juda und mit der ihn tragenden davidischen Dynastie auch der Jhwh-Glaube in sich zusammen? Können König und Volk angesichts eines heraufziehenden „Feindes aus dem Norden“ (Jer 4,6) weiterhin auf Gott und seine Verheißungen vertrauen? Kann der König auch in der gegenwärtigen Krise das für ihn und seine Nachkommen komponierte Danklied singen? „Gott hat mich mit Kraft umgürtet. […] Er lehrte meine Hände zu kämpfen, meine Arme, den ehernen Bogen zu spannen. […] Ich verfolge meine Feinde und hole sie ein, ich kehre nicht um, bis sie vernichtet sind. Ich schlage sie nieder; sie können nicht mehr aufstehen, sie fallen und liegen unter meinen Füßen“ (Ps 18,33–39). Oder sollte es ganz anders kommen? Sollte der Herr die David und seinen Nachkommen gegebene Verheißung einfach fallen lassen? Tief erschüttert klagt der Beter nach der Katastrophe von 587 v. Chr. den Herrn an: „Du aber hast verstoßen, verworfen, mit Zorn überschüttet deinen Gesalbten. Du hast den Bund mit deinem Knecht zerbrochen, seine Krone entweiht, sie zu Boden geworfen“ (Ps 89,39f). Auf dem Spiel standen also nicht nur der Staat und die davidische Dynastie, sondern auch Gott selbst und seine Verheißungen. Es gab im Wesentlichen zwei Parteien, die einander gegenüberstanden. Die eine, nennen wir sie die nationalreligiöse, plädierte für einen antibabylonischen Kurs und für die Verteidigung von Stadt und Staat notfalls mit ägyptischer Hilfe. Dafür musste man kämpfen und bereit sein, ein Risiko einzugehen und auf die Hilfe Gottes zu vertrauen. So wie der Herr vor hundert Jahren unter dem frommen König Hiskija die Stadt Jerusalem vor dem Ansturm der Assyrer gerettet hat (siehe den Abschnitt „Fakten und ihre Deutung“), so wird er sie auch dieses Mal vor den Babyloniern retten, so die Hoffnung dieser Gruppe. Der Prophet Jeremia hielt diese Option für naiv. Er kam zu einer gänzlich anderen Einschätzung der politischen Lage. 216

Die Expansion der Babylonier, so Jeremia, wird nicht mehr zu stoppen sein. Das „Volk vom Nordland“ (Jer 6,22) wird kommen. Die Bewohner Jerusalems und Judas werden im Land bleiben können, wenn sie bereit sind, „das Joch Babels zu tragen“. Wenn sie sich dem jedoch widersetzen, werden sie aus ihrem Land vertrieben werden. Jeremias Position fand Unterstützung, allerdings nur von wenigen. Die nationalreligiöse Partei war stärker und konnte sich letztlich durchsetzen. Vor allem in der Tempelpriesterschaft und im Königtum hatte sie starken Rückhalt. Politisch setzten sich die Hardliner durch. Doch was die Folgen anbetraf, so sollte Jeremia Recht behalten: Juda wurde von seinem Ackerboden weg in die Verbannung ­geführt.

Rettung War der Staat noch zu retten? Wie rettet Gott sein Volk? Diese Frage begleitet die Geschichte der Heiligen Schrift von ihren Anfängen an. Von seinem Ursprung her war Jhwh ein Gott der Rettung aus Feindesnot: „Sie schrien zum Herrn in ihrer Bedrängnis und er rettete sie aus ihren Nöten“ (Ps 107,19). Angesichts einer schweren Krise des Gottesvolkes entwirft das Buch Deuteronomium im 7. Jahrhundert v. Chr. ein beeindruckendes theologisches Programm. Es zieht die Konsequenzen aus langjähriger Erfahrung mit Missständen und Fehlentwicklungen und stellt die Weichen für die Zukunft. Doch es sollte, wie wir noch sehen werden, anders kommen, als die hinter dem Programm stehenden Gelehrten gehofft hatten. Der Staat war nicht mehr zu retten. Eines der Kernanliegen des Deuteronomiums ist die Forderung nach unbedingtem Gottvertrauen. Keinem anderen gebührt vorbehaltlose Liebe als Jhwh allein. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5). Das Hauptgebot alleiniger Jhwh-Verehrung steht im Zentrum des Buches. Das Deuteronomium wurde damit zum entscheidenden Wegbereiter des strengen Monotheismus. Historisch gesehen war es sehr wahrscheinlich so, dass die Forderung unbedingter Gottesliebe eine Umkehrung der vom Assyrerkönig von seinen Vasallen geforderten absoluten Loyalität war. Die Bundestheologie 217

des Deuteronomiums stellt in ihrer ältesten Form eine subversive Umbuchung der assyrischen Loyalitätsforderungen dar. Damit bekommt der Jhwh-Glaube eine antitotalitäre Ausrichtung. Offengelassen hatten wir die Frage, ob damit nicht der Jhwh-Glaube selbst totalitäre Züge annimmt (siehe oben den Abschnitt „Monotheismus und Gewalt“). Begegnen wir hier dem Ursprung der in jüngster Zeit vielfach erhobenen Anklage, die monotheistischen Religionen seien aus sich heraus intolerant und gewaltanfällig, da sie neben dem einen Gott und seiner Wahrheit keine anderen Götter mit ihren Wahrheiten akzeptieren können? Eine der Grundregeln der Schriftauslegung lautet: Text im Kontext. Wir dürfen niemals ein Buch, einen Text oder gar einen Satz aus der Heiligen Schrift herausnehmen und auf der Grundlage dieses Textes und ohne Berücksichtigung aller übrigen Texte der Heiligen Schrift unseren Glauben und unsere Theologie begründen. Andernfalls entstehen Häresien und Absurditäten. Das Wort „Häresie“ kommt vom griechischen haireomai und heißt übersetzt: „Ich wähle aus“. Was ich dabei auswähle, ist nicht falsch, aber es ist nur ein (kleiner) Teil der biblischen Wahrheit und wenn sie für das Ganze ausgegeben wird, gerät alles in eine gefährliche Schieflage. Deshalb haben vor allem die Kirchenväter mit Nachdruck darauf hingewiesen, immer die Einheit der Schrift (unitas scripturae) im Blick zu behalten. Auch das Zweite Vatikanische Konzil hat die Ausleger der Heiligen Schrift ermahnt, „sorgfältig auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift zu achten“ (Dei Verbum 12). Wie lässt sich unter Beachtung dieser Regel der strenge Monotheismus in rechter Weise verstehen? Wie lässt sich die mit dem Bekenntnis zu dem einen Gott verbundene Hoffnung, dass er der alleinige Retter und Erlöser ist, vor dem Anspruch der Vernunft begründen? Dazu gibt uns das Buch Judit aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. eine anschauliche Unterweisung. König Nebukadnezzar verlangt von allen Völkern der Erde, ihn als Gott zu verehren. Ein Volk nach dem anderen kapituliert, nur die Juden halten dagegen. Der Glaube an den einen Gott erweist sich als Garant der Freiheit: „Wir kennen keinen anderen Gott als ihn [scil. Jhwh] allein“, sagt Judit (Jud 8,20). Daraufhin beschließt Holofernes, der Feldherr Nebukadnezzars, an den widerspenstigen Juden ein Strafgericht zu vollziehen. In der von den 218

Assyrern belagerten Stadt Betulia „herrschte tiefe Niedergeschlagenheit“ (Jdt 7,32). Die Ältesten der Stadt fassen nun den Beschluss, fünf Tage allein auf Gott zu vertrauen: „Wir wollen noch fünf Tage aushalten. In dieser Zeit wird der Herr, unser Gott, uns sein Erbarmen wieder zuwenden; er wird uns nicht für immer verlassen. Sollten aber diese Tage vergehen, ohne dass uns geholfen wird, dann will ich tun, was ihr gefordert habt“ – nämlich zu kapitulieren und den Forderungen Nebukadnezzars nachzukommen, sagt der Hohepriester Usija zum aufgebrachten Volk (Jdt 7,30f). Fünf Tage wollen die Bewohner der Stadt Betulia abwarten, in der Hoffnung, dass Gott sie aus ihrer Not befreien wird. In dieser scheinbar ausweglosen Lage tritt eine Witwe namens Judit auf den Plan. In einer ausführlichen Rede macht sie den Ältesten der Stadt klar, dass man so nicht von Gott denken kann: Ihm ein Ultimatum von fünf Tagen zu stellen und selbst nichts zu tun und, wenn dann nichts passiert, zu kapitulieren – wer so von Gott denkt, hat nichts verstanden. Im Stil einer prophetischen Scheltrede hält sie den Ältesten der Stadt eine Standpauke: „Wer seid ihr denn, dass ihr am heutigen Tag Gott auf die Probe stellt und euch vor allen Leuten an die Stelle Gottes setzt? Ihr wollt den Herrn, den Allmächtigen, auf die Probe stellen und kommt doch ewig zu keiner Erkenntnis. Nicht einmal die Tiefe des Menschenherzens könnt ihr ergründen und die Gedanken seines Geistes erfassen. Wie wollt ihr dann Gott erforschen, der das alles geschaffen hat? Wie wollt ihr seine Gedanken erkennen und seine Ansichten verstehen? Nein, meine Brüder, reizt den Herrn, unseren Gott, nicht zum Zorn! Auch wenn er nicht gewillt ist, uns in diesen fünf Tagen Hilfe zu schaffen, so hat doch er zu bestimmen, zu welcher Zeit er uns helfen oder uns vor den Augen unserer Feinde vernichten will. Versucht nicht, die Entscheidungen des Herrn, unseres Gottes, zu erzwingen; denn Gott ist nicht wie ein Mensch, dem man drohen kann, und nicht wie ein Menschenkind, das man beeinflussen kann. Darum wollen wir die Rettung von ihm erwarten und ihn um Hilfe anrufen. Er wird unser Flehen erhören, wenn es seinem Willen entspricht. Denn eines gab es bei uns nicht und gibt es auch heute nicht: Es gibt weder einen Stamm noch eine Familie, weder ein Gebiet noch eine Stadt, die von Menschen gemachte Götter anbeten, wie es in früherer Zeit geschah. Damals wurden unsere Väter dem Schwert und der Plünderung preisgegeben und mussten vor den Augen unserer Feinde schwere Niederlagen erleiden. Wir aber kennen keinen anderen Gott als ihn allein.

219

Daher dürfen wir hoffen, dass er uns und unser Volk nicht im Stich lassen wird“ (Jud 8,12–20).

Und nun schreitet Judit zur Tat. Für sie ist klar, dass man göttliches und menschliches Handeln nicht nebeneinanderstellen kann: Fünf Tage auf Gott warten und nichts tun und dann die Flinte ins Korn werfen – wer so denkt, denkt zu gering von Gott und vom Menschen. Es fällt auf, dass die Ältesten der Stadt gar nicht zu Gott beten. Sie jammern, aber sie beten nicht. Judit hingegen vertraut sich in einem langen Gebet vorbehaltlos ihrem Gott an und zugleich weiß sie, dass das Gebet das eigene Tun nicht ersetzt: „Schenke mir, der Witwe, die Kraft zu der Tat, die ich plane!“ (Jud 9,9). Sie begibt sich, wie eine Braut geschmückt, in das Lager der Assyrer und schlägt Holofernes mit dessen eigenem Schwert den Kopf ab. Im Lager der Assyrer bricht Panik aus, alle ergreifen die Flucht. So rettet Gott sein Volk „durch die Hand einer Frau“ (Jud 16,5). Eine Trennung von göttlichem und menschlichem Handeln, wie es die Ältesten der Stadt Betulia vorgeschlagen haben, weist Judit als Ausdruck mangelnden Gottvertrauens zurück. In moderner Begrifflichkeit gesagt repräsentiert Judit in Wort und Tat die Synthese von Theonomie und Autonomie. Sie vertraut sich in ihrem Gebet ganz dem Willen und den Verheißungen Gottes an und handelt zugleich aus diesem Wissen heraus ohne ausdrückliche Beauftragung unter Einsatz ihrer natürlichen Fähigkeiten in souveräner Eigenständigkeit. Diese Haltung wurde in der Geschichte christlicher Spiritualität vor allem von Ignatius von Loyola (1491–1556) eingefordert und pointiert in das Wort gefasst: „Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg der Dinge ganz von dir, nicht von Gott abhinge; dann aber wende alle Mühe so an, als ob Gott alles ganz und du nichts tun würdest.“ Der biblische Monotheismus macht Menschen nicht schwach, sondern stark. Zugleich entlarvt er vermeintliche Stärke als Schwäche: „Deine Macht stützt sich nicht auf die große Zahl, deine Herrschaft braucht keine starken Männer, sondern du bist der Gott der Schwachen und der Helfer der Geringen; du bist der Beistand der Armen, der Beschützer der Verachteten und der Retter der Hoffnungslosen“ (Jdt 9,11). Holofernes, bis an die Zähne bewaffnet, ist ein willenloser Empfänger der Befehle seines vermeintlich göttlichen Herrn: „Du 220

aber wag es nicht, auch nur einen einzigen Befehl deines Herrn zu übertreten! Erfülle, was ich dir befohlen habe; führ es unverzüglich aus!“, gibt ihm Nebukadnezzar zu verstehen (Jdt 2,13). Judit hingegen wendet sich in ihrem Gebet voll Vertrauen an Gott und handelt aus diesem Vertrauen heraus eigenständig und souverän. Die Anerkennung des wahren Gottes ermöglicht Freiheit und Selbstbestimmung, während die Unterwerfung unter falsche Götter in die Fremdbestimmung und den Untergang führt. Das Buch Judit wird im Neuen Testament nirgends zitiert. In den liturgischen Leseordnungen kommt es nur am Rande vor. Dennoch haben viele Kirchenväter richtig erkannt, dass Judit als eine Präfiguration Mariens verstanden werden kann. In beiden Fällen kommt Gott durch eine Frau seinem Volk rettend entgegen, darum werden beide „mehr gesegnet als alle anderen Frauen auf Erden“ (Jdt 13,18; vgl. Lk 1,42.48; an beiden Stellen wird Ri 5,24 zitiert). Gott handelt an der Schöpfung durch die Schöpfung. Durch eine Frau kommt Gott zur Welt, um sein Volk aus der Macht des Todes zu retten (Gal 4,4; Mt 1,21; Lk 1,71): „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren, welcher ist Christus, der Herr“ (Lk 2,11).

221

XI. Untergang des Staates Juda (587 v. Chr.)

Jeremia In keinem der alttestamentlichen Prophetenbücher wird so ausführlich und anschaulich von Ereignissen im Leben des Propheten erzählt wie im Buch Jeremia. Bote und Botschaft sind in einzigartiger Weise miteinander verbunden. In ihnen verdichten sich die dramatischen Ereignisse der letzten Jahre des Staates Juda. Jeremia stammte aus einer Priesterfamilie in Anatot, einem kleinen Ort wenige Kilometer nördlich von Jerusalem. Es könnte sein, dass er als junger Mann mit den Reformen des Königs Joschija (639– 609) große Hoffnungen verband und sie mit einer an das ehemalige Nordreich gerichteten Botschaft voller Zuversicht unterstützte: „Kehr um, Jungfrau Israel, kehr zurück in diese deine Städte! Wie lange noch willst du dich sträuben, du abtrünnige Tochter? Denn der Herr erschafft Neues im Land: Die Frau wird den Mann umgeben“ (Jer 31,21f). Doch in der Forschung ist umstritten, ob mit einer Frühzeitverkündigung des Propheten in den Jahren um 622 v. Chr. zu rechnen ist. Als einigermaßen sicher kann gelten, dass Jeremia in den Jahren ab 609 oder 605 v. Chr. in Jerusalem auftrat. Dem Land und der Stadt standen schwere Jahre bevor. Jeremia sieht großes Unheil heraufziehen. Krieg stand vor der Tür. Der Prophet warnt die Bewohner: „Meldet es in Juda, lasst es hören in Jerusalem. Stoßt ins Horn und ruft laut: Sammelt euch, hinein in die festen Städte. Flüchtet zum Zion! Bleibt nicht stehen! Der Löwe hat sich aus dem Dickicht erhoben, der Würger ist los! Er hat seinen Ort verlassen, um dein Land zu verwüsten“ (Jer 4,5–7). Doch die Bewohner Jerusalems schlagen die Warnungen des Propheten in den Wind und sagen: „Es ist nicht so! Kein Unheil kommt über uns, weder Schwert noch Hunger werden wir sehen“ (Jer 5,12). Zeitgeschichtlicher Hintergrund seiner Warnungen ist der Aufstieg Babylons. Spätestens mit 222

dem Sieg des babylonischen Kronprinzen Nebukadnezzar über die Ägypter im Jahre 605 v. Chr. in der Schlacht bei Karkemisch dürfte klar sein, wer das Rennen um die Vorherrschaft in Syrien-Palästina machen sollte. Ägypten war geschlagen, Babylon sah seine Stunde kommen. Doch in Jerusalem war man noch recht unbesorgt. Der Prophet klagt: „Wie kannst du dich in Purpur kleiden, mit Goldschmuck dich zieren, dir mit Schminke die Augen weiten? Umsonst machst du dich schön“ (Jer 4,30). Worte halfen offensichtlich nicht mehr weiter. Der Prophet entschließt sich zu einer spektakulären Aktion. Er kauft eine Wasserkaraffe, nimmt sich Zeugen aus der weltlichen und geistlichen Führungselite der Hauptstadt mit, begibt sich zum Eingang des Scherbentors im Südosten der Stadtmauer und zerschmettert den Krug mit den Worten: „So spricht der Herr der Heerscharen, der Gott Israels: Ebenso zerbreche ich dieses Volk und diese Stadt, wie man Töpfergeschirr zerbricht, sodass es nicht wiederhergestellt werden kann“ (Jer 19,11). Damit hatte der Prophet an ein Tabu gerührt. Die Priesterschaft war alarmiert. War Jerusalem nicht dank der Gegenwart des Herrn in seinem Heiligtum vor feindlicher Zerstörung geschützt? Hatte man nicht seit dem überraschenden Abzug der Assyrer im Jahre 701 eine fast hundertjährige Friedenszeit erlebt? Und jetzt tritt da einer auf, der einen „dampfenden Kessel sieht, dessen Rand sich von Norden her neigt,“ und dem Gott erklärt, dass sich „von Norden her Unheil über alle Bewohner des Landes ergießt“ (Jer 1,14). Die Bewohner seiner Heimatstadt versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen: „Du darfst nicht als Prophet im Namen des Herrn auftreten, wenn du nicht durch unsere Hand sterben willst“ (Jer 11,21). Nach dem spektakulären Zerschmettern des Töpfergeschirrs greift der Priester Paschhur, der die Oberaufsicht im Tempelareal innehatte, ein und lässt Jeremia festnehmen (Jer 20,1–6). Jeremia wird geschlagen und für eine Nacht in den Block gespannt. Am anderen Morgen darf er wieder gehen. Doch der Prophet lässt sich nicht einschüchtern. Ihm war klar, dass er mit Widerstand zu rechnen hat. Gott hatte ihn darauf vorbereitet: „Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir, um dich zu retten“ (Jer 1,7f). 223

Prophet gegen Prophet Jeremias Sicht war nicht unumstritten. Er hatte Gegner, auch unter den Propheten. In keinem Buch des Alten Testaments wird so häufig von Auseinandersetzungen mit falschen Propheten erzählt wie im Buch Jeremia. Nicht nur König und Volk versagen in der Krise von Staat und Gesellschaft, sondern auch Propheten und Priester, die genuinen Stützen des religiösen Symbolsystems, kommen zu Fall: „Sogar Prophet und Priester sind ruchlose Frevler, selbst in meinem Haus stoße ich auf ihre Bosheit – Spruch des Herrn“ (Jer 23,11). Jeremia klagt eine Verblendung an, welche die gesamte Gesellschaft ergriffen hat: „Sie alle, von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten, sind nur auf Gewinn aus; vom Propheten bis zum Priester betrügen sie alle“ (Jer 6,13). Propheten und Priester verharmlosen ihre Verbrechen: „Den Schaden meines Volkes möchten sie leichthin heilen, indem sie sagen Frieden! Frieden! – Aber da ist kein Friede“ (Jer 6,14). Die falschen Propheten prophezeien nicht mehr im Namen anderer Götter, wie es noch bei den Propheten Baals zur Zeit Elijas der Fall war, sondern im Namen Jhwhs. Sie berufen sich auf ein Wort des Herrn, das sie allerdings gar nicht empfangen haben: „So spricht der Herr der Heerscharen: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch prophezeien! Sie betören euch nur; sie verkünden Visionen, die aus dem eigenen Herzen stammen, nicht aus dem Mund des Herrn“ (Jer 23,16). Wir stoßen hier auf das Phänomen, dass sich ein professioneller Repräsentant einer Religion vertrauter religiöser Redeformen bedient, diese jedoch nicht aus einem tatsächlichen Kontakt mit der Gottheit hervorgegangen sind. Was er verkündet, ist ausgedacht, nicht empfangen. Inhaltlich werden vor allem zwei Vorwürfe erhoben: Zum einen wird der Lebenswandel dieser Propheten gebrandmarkt: „Zwar habe ich bei Samarias Propheten Anstößiges gesehen: Sie prophezeiten im Namen des Baal und verführten mein Volk Israel. Aber bei den Propheten Jerusalems sah ich Grauenhaftes: Sie brechen die Ehe, gehen mit Lügen um und bestärken die Bösen, sodass keiner umkehrt von seiner Bosheit. Für mich sind sie alle wie Sodom und die in Jerusalem wohnen, sind für mich wie Gomorra. Darum – so spricht der Herr der Heerscharen gegen die Propheten: Ich gebe ihnen Wermut 224

zu essen und Giftwasser zu trinken; denn von den Propheten Jerusalems ist Gottlosigkeit ausgegangen ins ganze Land“ (Jer 23,13–15). Zum anderen wird ihnen vorgeworfen, eine falsche Heilssicherheit zu propagieren: „Immerzu sagen sie denen, die mich verachten: Der Herr hat geredet: Das Heil (Schalom) ist euch sicher! Jedem, der der Verstocktheit seines Herzens folgt, versprechen sie: Kein Unheil kommt über euch. – Doch wer hat an der Ratsversammlung des Herrn teilgenommen, dass er sah und sein Wort hörte? Wer achtet auf sein Wort und hört es?“ (Jer 23,17f). Mit seiner nachdrücklichen Aufforderung, „Nebukadnezzar, dem König von Babel, zu dienen“ (Jer 27,8), konnte sich Jeremia nicht durchsetzen. Zu stark waren die Gegenkräfte, die falschen „Propheten, Wahrsager, Träumer, Zeichendeuter und Zauberer“, die die Losung ausgaben: „Ihr werdet dem König von Babel nicht untertan sein!“ (Jer 27,9). Während einer Konferenz von Botschaftern benachbarter Kleinstaaten in Jerusalem kam es zu einer öffentlichen Demonstration. Jeremia ging mit einem Joch auf dem Rücken durch die Stadt und rief aus: „Wenn ein Volk oder Reich ihm, Nebukadnezzar, dem König von Babel nicht dienen und seinen Nacken nicht unter das Joch des Königs von Babel beugen will, so werde ich dieses Volk mit Schwert, Hunger und Pest heimsuchen – Spruch des Herrn“ (Jer 27,8). Ein Prophet namens Hananja trat Jeremia entgegen und zerbrach das Joch mit den Worten: „So spricht der Herr: Ebenso zerbreche ich binnen zwei Jahren das Joch Nebukadnezzars, des Königs von Babel, vom Nacken aller Völker“ (Jer 28,10f). Hananja und seine Anhänger sollten sich täuschen. Jeremias Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Seine Gegner hielten ihn für verrückt und verlangten seine Überwachung (Jer 29,26f). Doch er sollte Recht behalten.

Politische Vernunft Mit seiner probabylonischen Option plädiert Jeremia im Rahmen der Güterabwägung für das kleinere Übel. Großes Unheil ließe sich verhindern, wenn Juda seinen Widerstand aufgäbe und bereit wäre, das Joch Babels zu tragen: „Wenn ein Volk oder Reich ihm, Nebukadnezzar, dem König von Babel, nicht dienen und seinen Nacken 225

nicht unter das Joch des Königs von Babel beugen will, so werde ich dieses Volk mit Schwert, Hunger und Pest heimsuchen – Spruch des Herrn –, bis ich es aufgerieben habe durch seine Hand. […] Das Volk aber, das seinen Nacken unter das Joch des Königs von Babel beugt und ihm dient, lasse ich auf seinem Ackerboden – Spruch des Herrn –; es kann ihn bebauen und auf ihm wohnen“ (Jer 27,8.11). Der Prophet war mit den diplomatischen Gepflogenheiten des Vorderen Orients vertraut, er schätzte die politischen und militärischen Kräfteverhältnisse richtig ein und hatte erkannt, dass die historisch gewordene Verbindung von Staat und Religion nicht zum Kern des Glaubens gehört. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Fremdgötterverehrung? Es fällt auf, dass die politischen Auseinandersetzungen, in die der Prophet verwickelt war, vor allem im zweiten Teil des Buches zur Sprache kommen. Der erste Teil ist geprägt von Worten, die in sehr grundsätzlicher Weise über die Schuld des Volkes und seiner Führer sprechen. Die Bewohner Judas sind anderen Göttern nachgelaufen: „Dem Herrn, deinem Gott, hast du die Treue gebrochen und du bist deine Wege zu den fremden Göttern gelaufen unter jeden üppigen Baum, auf meine Stimme aber hast du nicht gehört – Spruch des Herrn“ (Jer 3,13). Der Verstoß gegen das Hauptgebot wäre nach diesem Modell der Grund für das zu erwartende Unheil: „Dann werde ich mein Urteil über sie sprechen für alles Böse, weil sie mich verlassen, anderen Göttern geopfert und das Werk ihrer eigenen Hände angebetet haben“ (Jer 1,16). Doch worin genau besteht das Unheil? Der Prophet gelangt zu der Gewissheit, dass die Expansion der Babylonier nicht aufzuhalten ist. Die vernünftige und dem Willen Gottes entsprechende Entscheidung bestünde darin, sich den Babyloniern zu unterwerfen, konkret: ihre Oberherrschaft anzuerkennen und Vasall der Babylonier zu werden. So ließe sich großes Leid verhindern. Auch die Herrschaft der Babylonier wird vorübergehen (Jer 27,7). Wer jedoch meint, sich der fremden Herrschaft erfolgreich widersetzen zu können, wird eine Katastrophe erleben. Leider ist mit dieser Uneinsichtigkeit unter den Verantwortlichen in Juda zu rechnen. Der Grund dafür ist ihre fehlende Gotteserkenntnis. Sie trübt den Sinn für das politisch Richtige und für das von Gott Gewollte. Die Uneinsichtigkeit zeigt sich vor 226

allem darin, dass dem Wort des Propheten nicht geglaubt wird. Nicht die Unterwerfung unter die Herrschaft Babylons wäre als Strafe Gottes zu verstehen, sondern die Zerstörung von Stadt und Tempel, die Deportation und alle damit einhergehenden Folgen: „So spricht der Herr: Siehe, ich bereite Unheil gegen euch vor und fasse einen Plan gegen euch. Kehrt doch um, ein jeder von seinem bösen Weg, und bessert euer Verhalten und euer Tun! Aber sie werden sagen: Vergebliche Mühe! Wir wollen unseren eigenen Plänen folgen und jeder von uns will nach der Verstocktheit seines bösen Herzens handeln“ (Jer 18,11f). Göttliches und menschliches Handeln greifen ineinander. Der Erkenntnis Gottes kommt handlungsleitende Bedeutung zu. Die Kernstörung ist das gestörte Verhältnis des Volkes und seiner verantwortlichen Leiter zu Gott. Sie äußert sich in der direkten oder indirekten Hinwendung zu anderen Göttern. Aus dieser Kernstörung folgen unheilvolle Fehlentscheidungen. Der verfehlte Gottesbezug äußert sich in einem verfehlten Weltbezug. Die Eroberung Jerusalems ist insofern eine Strafe Gottes als die fehlende Gotteserkenntnis zu schwerwiegenden politischen Fehlentscheidungen führt. Das Volk und seine politische und religiöse Führungselite haben sich das Unheil selbst zugezogen. In der Person Jeremias gehen prophetische Botschaft und politische Vernunft eine Verbindung ein, die für die weitere Geschichte des Glaubens Maßstäbe setzen sollte.

Im Feuer verbrannt Nachdem sich im Ringen um die Vorherrschaft die Kräfteverhältnisse wieder zugunsten Babylons verschoben hatten, wurde Juda unter König Jojakim im Jahre 604 v. Chr. Vasall der Babylonier. In einer kurzen Phase babylonischer Schwäche ließ sich der judäische König im Jahre 601 v. Chr. zu einem riskanten politischen Manöver hinreißen. Er stellte die Tributzahlungen an Babylon ein. Die Babylonier hatten gerade an der Grenze zu Ägypten eine schwere Niederlage erlitten. In Jerusalem kam die Hoffnung auf, sich mit Hilfe der Ägypter vom babylonischen Joch befreien zu können. Erneut ergreift Jeremia das Wort. Doch ihm waren die Hände gebunden. Ihm war verboten worden, den Tempelplatz zu betreten und in der Öffentlich227

keit seine Stimme zu erheben. In dieser Stunde höchster Gefahr beauftragte er seinen Sekretär Baruch, für ihn einzuspringen und seine auf einer Rolle niedergeschriebenen Worte auf dem Tempelplatz laut vorzulesen. Während eines öffentlich ausgerufenen Fastens, als fast das ganze Volk in Jerusalem versammelt war, las Baruch aus der Rolle die Worte Jeremias vor. Als man aus dem Umkreis des Königs davon hörte, war man alarmiert. Dem König wurde der Vorfall gemeldet. Man nahm Baruch die Schriftrolle ab und brachte sie zum König. Dieser saß gerade mit seinem Kabinett im Winterpalast. Es war kalt und auf dem Kohlenbecken brannte das Feuer. Spalte für Spalte las der Regierungssprecher Jehudi dem König und der versammelten Beamtenschaft aus der Rolle vor. „Und es geschah: Sooft Jehudi drei oder vier Spalten gelesen hatte, schnitt sie der König mit dem Schreibermesser ab und warf sie in das Feuer auf dem Kohlenbecken, bis die ganze Rolle im Feuer auf dem Kohlenbecken verbrannt war. Weder der König noch alle seine Diener, die alle diese Worte hörten, erschraken und sie zerrissen auch nicht ihre Kleider. Selbst als Elnatan, Delaja und Gemarja den König drängten, die Rolle nicht zu verbrennen, hörte er nicht auf sie. Vielmehr befahl der König, […] den Schreiber Baruch und den Propheten Jeremia festzunehmen; aber der Herr hielt sie verborgen“ (Jer 36,23–26). König Jojakim wird hier als Kontrastfigur zu seinem Vater Joschija (639–609) gezeichnet. Während Joschija seinerzeit seine Kleider zerriss und zusammen mit dem ganzen Volk zum Herrn umkehrte, als ihm die Worte des im Tempel gefundenen Buches vorgelesen wurden (siehe den Abschnitt „Joschija“), erschraken wenige Jahre später sein Sohn Jojakim und die um ihn versammelten Beamten nicht; sie zerrissen ihre Kleider nicht, sondern ließen das durch den Propheten an sie ergangene Wort Gottes im Feuer verbrennen. Doch kann man Gottes Wort verbrennen? Im Buch des Propheten Jesaja lesen wir: „Das Wort, das meinen Mund verlässt, kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe“ (Jes 55,11). Jojakim und seine Berater sollten sich täuschen. Das Wort Gottes lässt sich nicht verbrennen, auch wenn die Bücher, in denen es geschrieben steht, verbrannt werden. Gott beauftragt erneut seinen Propheten, über Jojakim ein Wort des Gerichts zu sprechen: „So 228

spricht der Herr: Du hast diese Rolle verbrannt und gesagt: Warum hast du darauf geschrieben, der König von Babel werde bestimmt kommen, dieses Land verheeren und Mensch und Vieh darin vernichten? Darum – so spricht der Herr über Jojakim, den König von Juda: Er wird keinen Nachkommen mehr haben, der auf dem Thron Davids sitzt, und sein Leichnam soll hinausgeworfen werden in die Hitze des Tages und die Kälte der Nacht. Ich suche ihn, seine Nachkommen und seine Diener heim für ihre Schuld. Ich bringe über sie, über die Einwohner Jerusalems und die Leute von Juda all das Unheil, das ich ihnen angekündigt habe. Sie aber haben nicht gehört“ (Jer 36,31). Es wird nicht mehr lange dauern, da werden diese Worte eintreffen. Der Tempel, der Palast des Königs und die Häuser der Vornehmen in Jerusalem werden im Feuern verbrannt (Jer 52,13). „Ist nicht mein Wort wie Feuer – Spruch des Herrn – und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?“ (Jer 23,29).

Eroberung Jerusalems Es dauerte nicht lange, da hatte Nebukadnezzar seine militärische Niederlage gegen Ägypten verwunden und seine Truppen neu organisiert. Im Jahre 597 v. Chr. brach der babylonische König zu einer Strafaktion gegen Jerusalem auf. Während der Belagerung der Stadt starb der judäische König Jojakim, der den Aufstand gegen Babylon zu verantworten hatte. Nachfolger wurde sein Sohn Jojachin (596 v. Chr.). Um dem Ende von Staat und Königtum zu entgehen, kapitulierte er im letzten Moment vor der feindlichen Übermacht (2 Kön 24,11f). Er wurde gefangengenommen und zusammen mit einem Teil der Bevölkerung – darunter auch der Prophet Ezechiel – ins babylonische Exil verschleppt. An seiner Stelle setzte Nebukadnezzar Mattanja, einen dritten Sohn Joschijas, als König „nach seinem Herzen“ ein und änderte seinen Namen in Zidkija (596–586). Dieser sollte der letzte König der davidischen Dynastie sein. Er beging den gleichen Fehler wie Jojakim. In einer kurzen Phase erneuter Schwäche Babylons und einem vorübergehenden Erstarken Ägyptens stellte er die Tributzahlungen ein. Es kam die Hoffnung auf, mit Hilfe der Ägypter die babylonische Herrschaft abzuschüt229

teln. Jeremia hatte vor dieser politischen Fehleinschätzung eindringlich gewarnt: „Siehe, das Heer des Pharao, das aufgebrochen ist, um euch Hilfe zu bringen, wird in sein Land Ägypten zurückkehren. Dann werden die Chaldäer [das sind die Babylonier] zurückkehren, gegen diese Stadt kämpfen, sie erobern und im Feuer verbrennen“ (Jer 37,7f). Man warf dem Propheten „Wehrkraftzersetzung“ (Jer 38,4) und Kollaboration mit den Babyloniern (Jer 37,12) vor und warf ihn ins Gefängnis. Die babylonischen Truppen rückten heran und belagerten die Stadt. Jeremia gibt Zidkija den dringenden Rat, zu kapitulieren: „Wenn du wirklich hinausgehst zu den Heerführern des Königs von Babel, dann ist dein Leben gerettet, diese Stadt wird nicht im Feuer verbrannt und du bleibst am Leben, du und dein Haus. Gehst du aber nicht hinaus zu den Heerführern des Königs von Babel, dann wird diese Stadt den Chaldäern ausgeliefert. Sie werden sie im Feuer verbrennen und du selbst wirst ihrer Hand nicht entrinnen“ (Jer 38,17f). Nach einem Jahr der Belagerung bricht in Jerusalem eine Hungersnot aus. Den babylonischen Truppen gelingt es, im Juli 587 v. Chr. Breschen in die Mauern zu schlagen und in die Stadt einzudringen. König Zidkija ergreift in der Nacht die Flucht, wird aber von den babylonischen Truppen bei Jericho gestellt und zu Nebukadnezzar nach Ribla in Syrien gebracht. Vor seinen Augen werden seine Söhne getötet, anschließend wird er selbst geblendet und in die Gefangenschaft nach Babylon verschleppt, wo sich seine Spur verliert. Erst einen Monat nach dem Verhör und der Gefangennahme Zidkijas ergeht an den babylonischen General Nebusaradan der Befehl, die Mauern der Stadt, den Tempel, den Königspalast und die Häuser der Wohlhabenden zu zerstören. Mit dieser keineswegs spontanen, sondern wohlüberlegten Strafaktion sollten die vor allem in der Tempelaristokratie, der Priesterschaft und einem Teil der Beamtenschaft anzutreffenden antibabylonischen Kräfte hart bestraft und ihr Widerstand ein für alle Mal gebrochen werden. Über den internen Parteienstreit in Jerusalem waren die Babylonier bestens informiert. Der babylonische Befehlshaber lässt Jeremia aus dem Wachhof befreien und gewährt ihm freies Geleit. Kein anderes Buch des Alten Testaments beschäftigt sich so intensiv mit dem nationalen Niedergang wie Jeremia. Es war in der Tat 230

eine Zeit des „Ausreißens, des Niederreißens, des Vernichtens und Zerstörens“ (Jer 1,10). Jeremia hebt die Schuld der Verantwortlichen und das Ausmaß des Verlustes hervor. Dennoch ist auch das nach ihm benannte Buch nicht ohne Hoffnung: „Siehe, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn –, da schließe ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund“ (Jer 31,31). Damit wird ein Prozess geistlicher Verwandlung eingeleitet, eine „spiritual metamorphosis“, wie der jüdische Exeget Moshe Weinfeld schreibt, der die weitere Geschichte des Gottesvolkes prägen sollte. Nach dem Zusammenbruch wird es eine Zeit des „Auf bauens und des Einpflanzens“ geben (Jer 1,10).

An den Strömen von Babel Nach langen und schweren Kämpfen war Jerusalem im Sommer des Jahre 587 v. Chr. gefallen. Große Teile der Stadt lagen in Trümmern, der Tempel war im Feuer verbrannt: „Der Feind hat im Heiligtum alles verwüstet. […] Sie sagten in ihrem Herzen: Wir schlagen alles zusammen!“ (Ps 74,3.8). In Klageliedern brechen sich Schmerz und Trostlosigkeit Bahn: „Weh, wie einsam sitzt da die einst so volkreiche Stadt! Einer Witwe wurde gleich die Große unter den Völkern. […] Niemand ist da, sie zu trösten, unter all denen, die sie liebten. Untreu sind all ihre Freunde, sie sind ihr zu Feinden geworden. […] Ihre Kinder zogen fort, gefangen, vor dem Bedränger“ (Klg 1,1–5). Aus der jüngeren Traumaforschung wissen wir, dass nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Gruppen, Institutionen und Völker aufgrund schwerer Gewalterfahrungen traumatisiert sein können. Ein Trauma beschränkt sich gewöhnlich nicht auf die unmittelbar von der Gewalt Betroffenen, sondern wird an nachfolgende Generationen weitergegeben. Wir sprechen von transgenerationellen Traumata. Traumata hinterlassen Spuren im psychischen Leben der Individuen ebenso wie im kollektiven Gedächtnis eines Volkes. Die extremen Erfahrungen von Gewalt und Vertreibung haben tiefe Spuren in der Geschichte des Judentums hinterlassen. Menschen und Institutionen können an Traumatisierungen zerbrechen. Es kann aber auch sein, dass traumatische Erschütterungen verarbeitet und in die eigene Lebensgeschichte integriert werden. Dann entsteht 231

eine neue Identität, bisweilen auch eine besondere Resilienz. Ein großer Teil der alttestamentlichen Literatur spiegelt unterschiedliche Phasen in der Verarbeitung traumatischer Erschütterungen wider. Wie uns aus jüngeren Forschungen zu sexuellem Missbrauch bewusst geworden ist, reagiert das Umfeld traumatisierter Personen oft hilflos, mit Unverständnis, Verharmlosung oder Verdrängung auf das Unvorstellbare, das Menschen erlebt haben. Ähnliches können wir im Umgang mit alttestamentlichen Texten beobachten. Immer wieder ist der Vorwurf zu hören, das Gottesbild des Alten Testaments sei voller Gewalt und für Christen unannehmbar. Derartige Urteile beruhen in den meisten Fällen auf Unkenntnis und mangelndem Einfühlungsvermögen. Es wird dabei vergessen, dass im Hintergrund vieler alttestamentlicher Texte dramatische Gewalterfahrungen stehen. Das Unvorstellbare, das Menschen einander antun können, wird in der Bibel nicht verdrängt und abgespalten, sondern in einem geschützten, empathisch konfigurierten Raum ausgesprochen und angeschaut. Ein erschütterndes Beispiel dafür ist Psalm 137: „An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land. Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder, unsere Peiniger forderten Jubel: ‚Singt uns Lieder vom Zion!‘ Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde? […] Gedenke, Herr, den Söhnen Edoms den Tag Jerusalems, die sagten: Reißt nieder, bis auf den Grund reißt es nieder! Tochter Babel, du Zerstörerin! Selig, wer dir vergilt deine Taten, die du uns getan hast! Selig, wer deine Kinder [Nachkommen] packt und sie am Felsen zerschmettert.“ Ein solcher Text hat es nicht verdient, von Unbetroffenen gemaßregelt zu werden, sondern in Empathie und Solidarität mit den Leidenden gelesen und gebetet zu werden. Allerdings bleibt der Beter des Psalms nicht beim Wunsch nach Vergeltung stehen. Eine Fixierung auf die Gewalterfahrung findet nicht statt. Das Gebet schreitet voran. Auf den Wunsch nach Vergeltung in Psalm 137 antwortet David im Psalm 138, dass er sehr wohl im Exil angesichts der falschen Götter Gott loben und danken kann: „Ich will dir danken mit meinem ganzen Herzen, vor Göttern will ich dir singen und spielen. Ich will mich niederwerfen zu deinem heiligen Tempel hin, will dei232

nem Namen danken für deine Huld und Treue. […] Muss ich auch gehen inmitten der Drangsal, du erhältst mich am Leben trotz der Wut meiner Feinde. Du streckst deine Hand aus, deine Rechte hilft mir.“ Das Unannehmbare anzunehmen, zu durchleiden, aber auch selbstkritisch zu durchdenken und sich neu auszurichten – in dieser Spannung vollzieht sich die Verarbeitung der Katastrophe in den Büchern des Alten Testaments aus der Zeit des Exils und den folgenden Jahrzehnten.

Wer kann dich heilen? Weh, wie einsam sitzt da die einst so volkreiche Stadt! Einer Witwe wurde gleich die Große unter den Völkern. Die Fürstin über die Länder ist zur Fron erniedrigt. Sie weint und weint des Nachts, Tränen auf ihren Wangen. Niemand ist da, sie zu trösten, unter all denen, die sie liebten. Untreu sind all ihre Freunde, sie sind ihr zu Feinden geworden. In die Verbannung zog Juda aus Elend und harter Knechtschaft. Nun weilt sie unter den Völkern und findet nicht Ruhe. All ihre Verfolger holten sie ein, mitten in der Bedrängnis. Die Wege nach Zion trauern, niemand pilgert zum Fest, verödet sind all ihre Tore. Ihre Bedränger sind an der Macht, ihre Feinde im Glück (Klagelieder 1,1–5).

Das Unvorstellbare war eingetroffen: „Gefallen ist, steht nicht mehr auf, die Jungfrau Israel. Sie liegt zerschmettert am Boden, niemand richtet sie auf“ (Amos 5,2). Eine erste elementare Reaktion auf die Katastrophe ist die Klage: „Meine Augen ermatten vor Tränen, mein Inneres glüht, meine Leber ist zu Boden geschüttet wegen des Zusammenbruchs der Tochter, meines Volkes, da Kind und Säugling verschmachten auf dem Schoß ihrer Mütter“ (Klgl 2,11f). Die Klage will zunächst nicht verstehen, sondern das nicht zu Verstehende zum Ausdruck bringen: „Wie einen Bach lass fließen die Tränen Tag und Nacht!“ (Klgl 2,18). Die Klagelieder des Alten Testaments legen ein erschütterndes Zeugnis von den Auswirkungen der Katastrophe ab, die Jerusalem und Juda getroffen hat. Von den fünf Klageliedern dürfte das zweite kurz nach dem Fall Jerusalems im Jahre 586 v. Chr. entstanden sein, das erste etwa um das Jahr 550 v. Chr., die Klagelieder vier und fünf zwischen den Jahren 520 und 500 v. Chr. 233

In der Tradition werden sie Jeremia zugesprochen. Auch wenn das in einem streng historischen Sinn wohl nicht zutreffend sein dürfte, weisen sie doch enge Verbindungen zum Buch des Propheten auf. Zwar hatte Jeremia mit Nachdruck politische Fehleinschätzungen und religiöse Fehlhaltungen angeklagt und zur Umkehr aufgerufen, doch war auch er angesichts des Zusammenbruchs zutiefst erschüttert: „Wegen des Zusammenbruchs der Tochter, meines Volkes, bin ich zerbrochen, traurig bin ich, Entsetzen hat mich gepackt“ (Jer 8,21). Gott selbst ruft zur Klage auf: „So spricht der Herr, der Heerscharen: Begreift es! Ruft die Klagefrauen, sie sollen kommen! […] Ach, wie sind wir misshandelt, in große Schande gestürzt! Wir mussten die Heimat verlassen, unsre Wohnungen hat man zerstört“ (Jer 9,16–18). Die Klagelieder gehören zum Kanon der Heiligen Schrift. Damit wird ihnen eine Bedeutung zuerkannt, die über die historischen Umstände ihrer Entstehung hinausreicht. Sie bringen eine Erfahrung zum Ausdruck, die bleibend zum biblisch bezeugten Gott gehört. In der jüdischen Tradition werden sie jedes Jahr am 9. Ab (etwa Juli / August) zum Gedenken an die Zerstörung des Tempels rezitiert. In der christlichen Liturgie werden sie in den Trauermetten der Karwoche gesungen („Düstere Mette“). So hält die Liturgie eine Wirklichkeit des Glaubens fest, die nur allzu leicht „im Kreis der Lustigen“ (Jer 15,17) verdrängt wird. Geht es in den Klageliedern zunächst nicht darum, die Katastrophe zu verstehen und nach Schuldigen zu suchen, sondern den unbegreiflichen Schmerz zum Ausdruck zu bringen, so zeigt die Erfahrung doch, dass tiefe emotionale Erschütterungen nicht selten die Voraussetzung dafür sind, dass neue, bisher verdrängte Einsichten wachsen und reifen können. Schmerzlich gewonnene Einsichten graben sich tief in das Bewusstsein und die Seele der vom Leid Getroffenen und ihrer Nachfahren ein, sodass sie nicht mehr vergessen werden. Konnten die warnenden Worte der Propheten das Unheil nicht verhindern, so setzte mit der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels, mit dem Ende des davidischen Königtums und der Deportation großer Teile der Bevölkerung ein weit in die Vergangenheit zurückreichender und lang anhaltender Prozess der Gewissenserforschung und des Nachdenkens ein. Das kollektive Gedächtnis 234

des Volkes wurde von Grund auf neu konfiguriert. Dabei konnte die Frage nach der Schuld auf Dauer nicht zum Verstummen gebracht werden.

Gottes Zorn Sowohl einem Einzelnen als auch einer Gemeinschaft ist nach einem Zusammenbruch ein echter Neuanfang nur möglich, wenn eine tiefgreifende Aufarbeitung der bisherigen Geschichte in Angriff genommen wird. Dazu gehören sowohl die Wahrnehmung der Verwundungen und des Unrechts, die eine Person oder Gemeinschaft erlitten, als auch das Eingeständnis und Bekenntnis der Schuld, die sie auf sich geladen haben. Was nicht angeschaut und angenommen wird, kann nicht verwandelt werden. Die fünf Klagelieder des Alten Testaments sind ein erster und wegweisender Versuch, die Katastrophe des Zusammenbruchs der Tochter Zion (Klgl 2,13) zu verarbeiten. Nach Ansicht der Forschung sind die Lieder mit Ausnahme des dritten im Zeitraum von 587 v. Chr. bis etwa 500 v. Chr. in Jerusalem oder seiner unmittelbaren Umgebung entstanden. Es handelt sich um poetisch hochstehende literarische Kunstwerke. Dass sie in dem von Krieg und Vertreibung heimgesuchten Land verfasst worden sein sollen, mag verwundern. In der Tat war das Land Juda nach dem Untergang des Staates nicht gänzlich unbewohnt. In den drei großen Deportationswellen der Jahre 597, 587 und 582 v. Chr. wurden etwa 25 % der Bevölkerung nach Babylon deportiert, vor allem aus den Kreisen der politischen und religiösen Führungsschicht sowie der Facharbeiter. Bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 80.000 dürfte die Zahl der Deportierten bei etwa 20.000 Personen gelegen haben. Weitere 20.000 Judäer dürften durch die Kriegswirren umgekommen oder in die benachbarten Länder geflohen sein, so dass man mit einer zwar stark dezimierten, aber immerhin doch noch etwa 40.000 Personen zählenden Bevölkerung zu rechnen hat, die im Lande Juda verblieben ist. Es waren also keineswegs alle Judäer im babylonischen Exil. Den Prozess der Verarbeitung der Katastrophe im Lande Juda bezeugen die Klagelieder. Das älteste, wohl wenige Jahre nach der Katastrophe von 587 v. Chr. entstandene Lied bringt vor allem Schmerz 235

und Unverständnis zum Ausdruck. Die Tochter Zion weiß sich vom göttlichen Zorn getroffen: „Schonungslos hat der Herr vernichtet alle Fluren Jakobs, niedergerissen in seinem Grimm die Bollwerke der Tochter Juda, zu Boden gestreckt, entweiht das Königtum und seine Fürsten. Abgehauen hat er in Zornesglut jedes Horn in Israel. […] In glühendem Zorn verwarf er König und Priester. Seinen Altar hat der Herr verschmäht, verworfen sein Heiligtum, ausgeliefert in die Hand des Feindes die Mauern von Zions Palästen“ (Klgl 2,2–7). Eine tiefe Enttäuschung über Jhwh und sein Verhalten bricht sich Bahn: „Herr, sieh doch und schau: Wem hast du solches angetan? Dürfen Frauen ihre Leibesfrucht essen, die sorgsam gehegten Kinder? Dürfen im Heiligtum des Herrn Priester und Prophet erschlagen werden? Am Boden liegen in den Gassen Kind und Greis. Meine Mädchen und jungen Männer fielen unter dem Schwert. Du hast sie erschlagen am Tag deines Zorns, schonungslos geschlachtet“ (Klgl 2,20f). Einige Exegeten meinen, hier komme jene nationalreligiöse Partei zu Wort, die im Vertrauen auf Gott bis zum letzten Atemzug gegen die babylonische Invasion gekämpft habe und nun zutiefst von Gott enttäuscht sei und ihm den Vorwurf mache, er sei schuld am Untergang seines Volkes. Das zweite Klagelied, so sagt man, bezeuge den Zusammenbruch der Zionstheologie, die fest davon ausgegangen war, dass der Herr den Zion, „die Krone der Schönheit“ (Klgl 2,15), vor dem Ansturm der Feinde beschütze (Ps 48). Doch nun hat der Herr ganz anders gehandelt; er hat angesichts des Feindes seine schützende Hand zurückgezogen (Klgl 2,3), mehr noch: Er selbst ist „wie ein Feind geworden, hat Israel vernichtet“ (Klgl 2,5). Bei allem Unverständnis über Gott und sein Handeln kommt jedoch schon in diesem Lied, wenngleich sehr verhalten, die eigene Schuld in den Blick. Die Tochter Zion hat auf die falschen Berater gehört: „Deine Propheten schauten dir Lug und Trug. Deine Schuld haben sie nicht aufgedeckt, um dein Schicksal zu wenden“ (Klgl 2,14). Damit dürften jene prophetischen Gegner Jeremias wie beispielsweise Hananja gemeint sein (Jer 28,1–17), die zu optimistisch in die Zukunft geschaut und die politischen Kräfteverhältnisse sowie die geistige Verfassung des Volkes falsch eingeschätzt und so ein rechtzeitiges Umsteuern verhindert haben, da sie ihren eigenen Träumen und nicht den Gedanken Gottes gefolgt sind (Jer 23,32). 236

Ein Weg durch das Leid Das dritte der Klagelieder steht in der Mitte der Komposition und versucht, auf die in den übrigen vier Liedern aufgeworfenen Fragen eine Antwort zu geben. In diesem jüngsten der Lieder, in dem bereits ein gewisser Abstand zur Katastrophe von 587 v. Chr. erkennbar wird, ist nicht mehr die Klage das alles beherrschende Thema. Reflexion und Belehrung treten hinzu. Das deutet sich – gemäß dem damaligen kulturellen Code – bereits im ersten Vers durch die Einführung einer männlichen Figur an: „Ich bin der Mann, der Leid erlebt hat durch die Rute seines Grimms“ (Klgl 3,1). Neben die Leidensfrau Zion der übrigen Lieder tritt nun der Schmerzensmann. Er spricht offen aus, dass auch sein Gebet nicht geholfen hat: „Wenn ich auch schrie und flehte, er [Gott] versperrte den Weg meinem Gebet“ (Klgl 3,8). Er gesteht ein, dass er an nichts anderes mehr denken konnte als an die Not, die ihn getroffen hatte: „An meine Not und Unrast denken ist Wermut und Gift. Immer denkt meine Seele daran und ist betrübt in mir“ (Klgl 3,19f). Doch dann wird ihm klar, dass eine Fixierung auf das Erlittene nicht weiterführt. Er muss sich neu ausrichten. Dabei wird er von der Hoffnung getragen, dass „der Herr nicht für immer verwirft“ (Klgl 3,31). Damit sind wir bereits im mittleren Teil des Liedes (Klgl 3,22–39), einer weisheitlichen Belehrung über das rechte Verhalten im Leid, angekommen. Die Zeit des göttlichen Zornes ist begrenzt: „Das will ich mir zu Herzen nehmen, darauf darf ich harren: Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende […] Mein Anteil ist der Herr, sagt meine Seele, darum harre ich auf ihn“ (Klgl 3,21–24). Das Böse ist eine Realität in der Schöpfung: „Geht nicht hervor aus des Höchsten Mund das Gute wie auch das Böse?“ (Klgl 3,38). Mit dem Bösen, das aus des Höchsten Mund hervorgeht, kann hier nicht das sittlich Böse, die Sünde, gemeint sein, sondern das Unheil, das eine Folge der Sünde ist. Folgerichtig ruft der leidgeprüfte Mann im dritten Teil des Liedes (Klgl 3,40–66) seine Gemeinschaft zur kritischen Besinnung und zur Umkehr auf: „Prüfen wir unsre Wege, erforschen wir sie und kehren wir um zum Herrn! Erheben wir unser Herz samt den Händen zu Gott im Himmel! Wir haben gesündigt und uns widersetzt“ (Klgl 3,40–42). Die hier formulierten Einsichten gehören 237

in einen breiten Strom theologischer Reflexion aus exilischer und nachexilischer Zeit, die um eine tiefe Schuldverstrickung Israels weiß. Der göttliche Zorn scheint also nicht unbegründet zu sein, so unverständlich er dem Leidenden auch erscheinen mag. Gott selbst leidet darunter: „Denn nicht freudigen Herzens plagt und betrübt er [Gott] die Menschenkinder“ (Klgl 3,33). Es scheint so etwas wie eine Kernstörung im Verhältnis des Menschen zu Gott zu geben, von der auch Israel nicht ausgenommen ist. Die biblische Urgeschichte weiß davon zu erzählen (Gen 2–4). Der leidgeprüfte Mann erkennt, dass Sünde und Unheil eine Realität in der Welt sind, auf die sich jeder Mensch einzustellen hat. Im Anschluss an Klage und Notschilderung gibt er konkrete Anweisungen, wie damit umzugehen ist, wenn Widerstand und Verdrängung nutzlos erscheinen: „Gut ist der Herr zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht. Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn. Gut ist es für den Mann, ein Joch zu tragen in der Jugend. Er sitze einsam und schweige, wenn der Herr es ihm auflegt. Er beuge in den Staub seinen Mund; vielleicht ist noch Hoffnung. Er biete die Wange dem, der ihn schlägt, und lasse sich sättigen mit Schmach. Denn nicht für immer verwirft der Herr“ (Klgl 3,25–31). Damit wird der Unterschied zwischen Tätern und Opfern nicht verwischt. Das vom Feind erlittene Unrecht schreit zum Himmel und verlangt eine Antwort: „Vergilt ihnen, Herr, nach dem Tun ihrer Hände!“ (Klg 3,64). So macht „der Mann, der Leid erlebt hat“, eine Entwicklung durch, von der Klage und Notschilderung über die weisheitliche Belehrung, wie mit der Übermacht des Bösen in der Welt zu leben ist, bis hin zum Gebet und zu der an Gott gerichteten Bitte, die rechte Ordnung wieder herzustellen.

Ohne König? Fast fünfhundert Jahre lang war die Religion Israels eng mit dem Staat verbunden. Staat, das heißt im Alten Orient zunächst und vor allem: Königtum. Die Alternative zum Königtum war in der Antike nicht wie für die meisten modernen Gesellschaften die Demokratie, sondern eine nicht-staatlich organisierte Gesellschaft, in der es keinen zentralen Erzwingungsstab, also keinen König, gab. Wenn 238

wir die Bücher der Geschichte (Josua bis 2 Könige) und vor allem die Psalmen lesen, wird uns vor Augen geführt, dass das Königtum eine bedeutende Rolle im Glauben des Alten Testaments spielt. Gott selbst, so heißt es im 2. Psalm, habe seinen König eingesetzt auf Zion, seinem heiligen Berg. Zur Bestätigung zitiert der König aus seiner Ernennungsurkunde die Worte, die Gott ihm zugesprochen hat: „Mein Sohn bist du. Ich selbst habe dich heute gezeugt“ (Ps 2,7). Die Völker und ihre Könige werden aufgefordert, doch endlich Vernunft anzunehmen, ihren Aufstand gegen „den Herrn und seinen Gesalbten“ aufzugeben und sich ihrer Herrschaft zu unterwerfen: „Dient dem Herrn in Furcht, jubelt ihm zu mit Beben, küsst den Sohn!“ (Ps 2,11). Gott herrscht durch seinen König nach innen und nach außen. In Personalunion mit seinem Gesalbten schlägt er die Feinde nieder (Ps 18) und sorgt innerhalb seines Volkes für Recht und Gerechtigkeit (Ps 72). Und nun ist die von Gott selbst begründete Institution zusammengebrochen. Damit scheint Jhwh sich selbst zu widersprechen. Das dritte Psalmenbuch (Ps 73–89) ist das dunkelste der fünf Bücher der Psalmen. Sein Thema ist die Zerstörung des Tempels (Ps 74) und der Untergang der davidischen Dynastie. Ausführlich erzählt Ps 89 von der göttlichen Erwählung Davids: „Ich habe einen Bund geschlossen mit meinem Erwählten und David, meinem Knecht, geschworen: Auf ewig gebe ich deinem Haus festen Bestand und von Geschlecht zu Geschlecht gründe ich deinen Thron“ (Ps 89,4f). Doch was ist jetzt geschehen? „Du hast verstoßen, verworfen, mit Zorn überschüttet deinen Gesalbten. Du hast den Bund mit deinem Knecht zerbrochen, seine Krone entweiht, sie zu Boden geworfen. […] Du hast ein Ende gemacht seinem Glanz und seinen Thron zu Boden geworfen“ (Ps 89,39f.45). Mit dem Ende des davidischen Königtums im Jahre 586 v. Chr. setzte in Israel eine tief gehende Reflexion über die Theologie des Königtums ein. Kann das Gottesvolk in der Welt ohne einen König überleben? Droht den Bewohnern Judas mit dem Untergang ihres Staates und der Verschleppung ihres Königs das gleiche Schicksal wie den Bewohnern des bereits im Jahre 722 v. Chr. untergegangenen Nordstaates Israel? Wird Gott seinem Volk einen neuen König erwecken (vgl. Ps 132)? Oder hat Israel bereits einen König, nämlich 239

Jhwh, sodass im Rückblick betrachtet die Geschichte des Königtums Folge einer schwerwiegenden Fehlentscheidung war? Hatte der Prophet Samuel nicht von Anfang an die Israeliten davor gewarnt, einen König über sich einzusetzen? Steht der irdische König nicht in Konkurrenz zu Jhwh, dem wahren König Israels? „Mich haben sie verworfen. Ich soll nicht mehr ihr König sein“ – mit diesen Worten hatte der Herr durch Samuel das Volk vor dem folgenreichen Schritt gewarnt (1 Sam 8,7). Wir stehen hier am Beginn einer tiefgreifenden Reflexion über das Verhältnis von irdischer und göttlicher Herrschaft. Mit dem Übergang vom dritten zum vierten Psalmenbuch findet eine theologisch bedeutende Weichenstellung statt. Nach dem Scheitern des irdischen Königtums (Ps 89) besinnt sich Israel auf das Königtum Gottes. Ps 90, mit dem das vierte Psalmenbuch eingeleitet wird, geht – in der Überschrift – auf Mose zurück, in die Zeit, da Israel noch keinen irdischen König hatte. Die Jhwh-König-Psalmen stehen im Zentrum des vierten Psalmenbuches: „Jhwh ist König, bekleidet mit Hoheit; Jhwh hat sich bekleidet und mit Macht umgürtet. Ja, der Erdkreis ist fest gegründet, nie wird er wanken. Dein Thron steht fest von Anbeginn, du bist seit Ewigkeit“ (Ps 93,1f). Doch ist damit die Königstheologie ad acta gelegt? Was ist das für ein König, dessen Kommen der Prophet Sacharja der Tochter Zion ankündigt: „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir“ (Sach 9,9)?

Vidi aquam Das Exil brachte tiefgreifende Veränderungen in der Religion Israels mit sich. Doch all das geschah nicht von allein, sondern musste durchlitten, durchlebt und durchdacht werden. Nach den Deportationen des 6. Jh. v. Chr. entstand unter den in Babylon lebenden Juden ein geistiges Zentrum, das für die weitere Geschichte des Judentums von großer Bedeutung werden sollte. Vermutlich waren die theologischen Impulse, die aus der Exilsgemeinde kamen, stärker als diejenigen aus den Kreisen der im Land Verbliebenen. Wie sollte es weitergehen, da mit der Katastrophe von 587 v. Chr. die tragenden Säulen der bisherigen religiösen Identität eingestürzt waren? Dass 240

die Verbindung von Staat und Religion weitgehend aufgelöst wurde, haben wir bereits dargelegt. Doch wie steht es um den Opferkult? Der Jerusalemer Tempel lag in Schutt und Asche, die Exilanten kamen zu Wortgottesdiensten zusammen, im Land wurden Klagegottesdienste abgehalten. War bereits die Zeit gekommen, da Israel für immer auf den Tempel und den damit verbundenen Opferkult verzichten konnte? Eine Kritik an Fehlformen des Opfers gab es schon länger und schließlich hatte auch Jeremia in der Zeit der babylonischen Krise in drei großen Tempelreden scharf gegen Auswüchse der Tempel- und Opfertheologie gewettert. Gab es Alternativen? Konnte eine Heilige Schrift zum primären Medium der Vergegenwärtigung göttlicher Gegenwart werden und einen zukünftigen Opferkult im Heiligtum überflüssig machen? So musste auch dieses Thema gründlich durchgearbeitet werden. Einer, der das getan hat, war der Priesterprophet Ezechiel. Er gehörte zu denen, die bereits im Jahre 596 v. Chr. nach Babylon deportiert wurden. Im fünften Jahr nach seiner Verschleppung, in seinem 30. Lebensjahr, wurde er an einem Eufratkanal zwischen Babylon und Nippur zum Propheten berufen. In dem unter seinem Namen überlieferten Buch wird uns eine Vision vom neuen Tempel vor Augen gestellt. Nachdem in Ez 8 erzählt wurde, wie die Herrlichkeit des Herrn den Tempel in Richtung Osten verlassen hatte und das Heiligtum damit schutzlos den Feinden preisgegeben wurde, sieht der Prophet nun in einer Vision, wie die „Herrlichkeit des Gottes Israels“ von Osten her wieder in den Tempel einzieht. Dabei hört er eine Stimme, die zu ihm spricht: „Menschensohn, das ist der Ort, wo meine Füße ruhen; hier will ich für immer mitten unter den Israeliten wohnen“ (Ez 43,6). Erneut wird der Tempel zum Ort der Gegenwart Gottes in seinem Volk. Der Prophet sieht, wie unter der Schwelle am Eingang des Tempels eine Quelle hervorströmt und nach Osten fließt. Sie wächst zu einem großen Strom an, der das ganze Land bewässert und das Salzwasser des Toten Meeres in Süßwasser verwandelt. Das aus dem Tempel hervorströmende Wasser des Lebens verwandelt das von Tod und Gewalt gezeichnete Land in einen fruchtbaren Paradiesgarten. Wohin dieses Wasser kommt, „da werden sie gesund, wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben“ (Ez 47,9). 241

Mit dem Kommen Jesu stand erneut die Frage im Raum: Wo ist der Ort, da Gottes Thron steht und an dem er „für immer unter den Israeliten wohnen“ will (Ez 43,6)? Wie Ezechiel so kündigt auch Jesus nach der Zerstörung einen neuen Tempel an: „Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. […] Er aber meinte den Tempel seines Leibes“ (Joh 2,19.21). Bei der Kreuzigung Jesu stieß einer der Soldaten seine Lanze in die Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus (Joh 19,34). Dieses geheimnisvolle Wort der Schrift spielt sehr wahrscheinlich an die Tempelvision Ezechiels an. Aus dem Leib Jesu gehen Ströme lebendigen Wassers hervor (Joh 7,38; Ez 47,1–12; Sach 14,8). So hat die Kirche im Lichte der prophetischen Verheißung Leben und Sterben Jesu verstanden, wenn sie beim sonntäglichen Taufgedächtnis zwischen Ostern und Pfingsten die aus dem Ezechielbuch stammende Antiphon singt: „Vidi aquam egredientem de templo, a latere dextro, alleluia; et omnes, ad quos pervenit aqua ista, salvi facti sunt et dicent: alleluia, alleluia. – Ich sah Wasser ausgehen vom Tempel, von dessen rechter Seite, Halleluja. Und alle, zu denen das Wasser kam, wurden gerettet und sie werden rufen: Halleluja, Halleluja.“

Bilderverbot Den im babylonischen Exil lebenden Juden wurden einige Besonderheiten ihrer Religion mehr und mehr bewusst. Dazu gehörten der Ein-Gott-Glaube und das Bilderverbot. Juden glauben an einen einzigen Gott und dieser Gott kann und darf bildlich nicht dargestellt werden. In der Deuteronomium-Fassung des Dekalogs bilden das Fremdgötter- und das Bilderverbot ein einziges Gebot (Dtn 5,6–10). Beide Gebote sind nicht erst im Exil entstanden. Bereits Propheten wie Hosea, Jesaja und Jeremia, die im 8. und 7. Jh. auftraten, sowie die älteste Fassung des Buches Deuteronomium lassen keinen Zweifel daran, dass Jhwh der eine und einzige Gott Israels war. Dieses grundlegende Bekenntnis Israels wurde in der Begegnung mit der babylonischen Kultur geschärft und geistig tiefer durchdrungen. Ein solches Phänomen können wir auch heute beobachten. Wer aus einer mehr oder weniger geschlossenen katholischen Lebenswelt in eine säkulare Kultur übersiedelt, wird seinen Glauben entweder 242

durch Assimilation verlieren oder durch geistige Durchdringung und bewusste Neuaneignung vertiefen. Ein Großteil der jüdischen Gemeinschaft in Babylonien ist den zweiten Weg gegangen. Eine Verfolgung oder Unterdrückung der jüdischen Religion gab es in Babylon nicht. Doch die babylonische Religion übte eine faszinierende Wirkung aus. Besonders beeindruckend waren die großen Feste mit Umzügen und Prozessionen. Während die Juden in der prekären Lage waren, einen Gott zu verehren, den sie nicht sehen und niemandem zeigen konnten, hatte die babylonische Kultur mehr zu bieten: Beim babylonischen Neujahrsfest wurde die Statue Marduks, des Hauptgottes von Babylon, auf der großen Prozessionsstraße aus ihrem Tempel durch das prächtige Ischtar-Tor in ein Festhaus außerhalb der Stadt geführt – ein beeindruckendes Fest, das den Bewohnern der Stadt die Gewissheit gab, dass der „Gott aller Götter“ in der Gestalt seines Bildes leibhaftig mitten unter ihnen wohnte und seiner Stadt und ihren Bewohnern Schutz vor allen Gefahren gewährte. Die Juden im Exil nahmen die Herausforderung an. Sie versuchten, die kognitive Dissonanz zur dominanten Kultur dahingehend aufzuheben, dass sie die Götterbilder der babylonischen Religion als „Machwerke von Menschenhand“ entlarvten. Dabei griffen sie zur Methode der Dekonstruktion, indem sie sehr präzise die Herstellung eines Gottesbildes beschrieben. Die nüchterne und mit ironischen Details gespickte Beschreibung will sagen: Ein Gottesbild ist nicht mehr als das, was es in seiner puren Materialität ist. Es stellt nichts und niemanden dar. Sein Verweischarakter führt ins Nichts. Die Götter, auf die es verweist, gibt es gar nicht. Im mittleren Teil des Jesajabuches sind uns einige Beispiele dieser Götterbilderkritik aus jener Zeit überliefert. Dort heißt es: „Der Schmied macht ein Beil und arbeitet in der Glut, formt es mit Hämmern und bearbeitet es mit kräftigem Arm. Dabei wird er hungrig und hat keine Kraft mehr. Trinkt er kein Wasser, so ermattet er. Der Schnitzer spannt die Messschnur, er entwirft das Bild mit dem Stift und schnitzt es mit den Messern; er umreißt es mit dem Zirkel und macht die Gestalt eines Mannes, das prächtige Bild eines Menschen; in einem Haus soll es wohnen. […] Man pflanzt einen Lorbeerbaum, den der Regen groß werden lässt. […] Man schnitzt daraus einen Gott und wirft sich nieder

243

vor ihm; man macht ein Götterbild und fällt vor ihm auf die Knie. Einen Teil des Holzes verbrennt man im Feuer, darüber isst man das Fleisch; man brät einen Braten und sättigt sich. […] Aus dem Rest des Holzes aber macht man sich einen Gott, sein Götterbild, vor das man sich beugt und niederwirft, zu dem man betet und sagt: Rette mich, du bist doch mein Gott! Unwissend sind sie und ohne Verstand; denn ihre Augen sind verklebt, sie sehen nichts und ihr Herz hat keine Einsicht“ (Jes 44,12–18).

Der Text lässt erkennen, dass man die eigenen Reihen stärken will. Die von einer Welt religiöser Bilder ausgehende Faszination muss entzaubert werden. Streckenweise wird sie geradezu lächerlich gemacht. Doch reicht die Kritik? Waren die mit den Götterbildern verbundenen Theologien nicht weitaus differenzierter als es die Polemik im Jesajabuch erkennen lässt?

Vom Bild zur Schrift Der Religionsphilosoph Eckhard Nordhofen hat eine beeindruckende Theorie zur Entstehung des biblischen Monotheismus vorgelegt (Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus, Freiburg i. Br. 2018). Genau genommen geht es ihm nicht in erster Linie um die Frage, wie der Monotheismus entstanden ist, sondern um die Frage, warum er sich in Israel halten und von dort ausgehend weltgeschichtliche Bedeutung erlangen konnte. Denn monotheistische Tendenzen und Konzepte gab es auch in anderen Kulturen, etwa beim ägyptischen Pharao Echnaton (siehe den Abschnitt „Echnaton – eine monotheistische Revolution in Ägypten“) oder in der Aufklärung griechischer Philosophen. Doch deren Monotheismus konnte keine Breitenwirkung entfalten, er blieb einer intellektuellen Elite vorbehalten und im Falle Echnatons sogar eine kurze Episode. Das Volk verehrte weiterhin die Götter in der Gestalt ihrer Bilder, in Griechenland ebenso wie in Rom trotz aller Kritik ihrer aufgeklärten Philosophen. Allein dem Judentum ist es gelungen, dem bildlosen Monotheismus weltgeschichtliche Bedeutung zu verleihen. Wie war das möglich? Die Antwort Nordhofens lautet: Weil die Juden nicht bei der Kritik der Götterbilder stehengeblieben sind, sondern eine Alternative angeboten haben. An die Stelle heiliger Bilder tritt bei den Juden eine heilige Schrift. Die geniale Idee dabei ist, dass das 244

Medium der Alphabetschrift dem Monotheismus kongenial entspricht, während das Gottesbild in der Gefahr steht, mit dem, was es darstellt, verwechselt zu werden. Wie ist das zu verstehen? Eine Gottesstatue in einem Tempel vergegenwärtigt die Gottheit, die sie darstellt. Die gebildeten Theologen der polytheistischen Religionen wussten natürlich, dass das Gottesbild nicht mit dem Gott, den es darstellt, identisch ist. Eine Gottesstatue ist kein Gott, sondern repräsentiert ihn. Die Herstellung von Götterbildern war ein religiöser Akt. Im Rahmen ihrer Einweihung gab es ein sogenanntes Mundöffnungsritual, bei dem die Statue „belebt“ und „beseelt“ wurde und so die Gottheit in die Statue einzog und Wohnung in ihr nahm. Eine Gottesstatue vergegenwärtigt also einen Abwesenden, einen Gott, dessen Hauptwohnsitz im Himmel ist. Vermittels ihres Bildes kann der Mensch mit der Gottheit in Kontakt treten, zu ihr beten. Ein Beter, der vor einer Gottesstatue betet, betet also streng genommen nicht die Statue an, sondern die Gottheit, die durch die Statue vergegenwärtigt wird. In Prozessionen konnten die Götter in der Gestalt ihrer Statuen aus ihren Tempeln geholt und feierlich durch die Stadt getragen und dem Volk gezeigt werden. Was war nun aus jüdischer Sicht so anstößig an den Götterbildern? „Du sollst dir kein Abbild (Kultbild) machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde“, heißt es im Bilderverbot des Dekalogs (Ex 20,4). Warum weigerten sich die Juden, ihren Gott Jhwh bildlich darzustellen und aller Welt zu zeigen? Die theologische Antwort lautet: Weil bei den Götterbildern die Gefahr besteht, dass die Spannung von Anwesenheit und Abwesenheit zugunsten der Anwesenheit einseitig aufgelöst und Gott zu einem Teil dieser Welt gemacht wird. Diese Gefahr ist bei der Vergegenwärtigung Gottes durch ein Schriftzeichen im Rahmen der Alphabetschrift weitaus geringer. Wenn jemand das Bild oder gar die rundplastische Darstellung eines roten Apfels vor sich sieht, läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. Das Apfelbild sieht dem realen Apfel so ähnlich, dass die Gefahr besteht, dass man reinbeißt und sich die Zähne demoliert. Wenn jemand aber nur das Wort „Apfel“ liest, besteht diese Gefahr kaum. So ist es auch mit dem Tetragramm, dem Gottesnamen Jhwh. Das Wort verweist auf Gott, der im Himmel thront (Koh 5,1). Israel hat am Horeb keine 245

Gestalt gesehen, sondern nur eine Stimme gehört (Dtn 4,12). Der Gottesname vergegenwärtigt diesen Gott auf eine Weise, die seine Verborgenheit nicht überspielt: „Wahrhaftig, du bist ein verborgener Gott, Israels Gott, der rettet“ (Jes 45,15). Die Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Entzug Gottes wird durch das Medium einer Heiligen Schrift weitaus stärker gewahrt als durch das Medium heiliger Bilder. Doch wie ist das Christentum mit der biblischen Vorgabe des Bilderverbotes umgegangen? Ist es in den alten Bilderkult zurückgefallen, wie einige meinen?

Sichtbar erschienen Mit der Verbreitung des Christentums in die griechisch-römische Welt, die zutiefst von einer Kultur der Bilder geprägt war, stand die Frage nach einer bildlichen Darstellung Gottes erneut zur Diskussion. Das junge Christentum hat sich zunächst streng an das alttestamentliche Bilderverbot gehalten. Die Synode von Elvira in Spanien aus dem Jahre 306 n. Chr. formuliert in Kanon 36: „Bilder soll es in der Kirche nicht geben, damit nicht, was verehrt und angebetet wird, auf Wänden gemalt erscheint.“ Hier klingt sehr deutlich in Sprache und Motivik das alttestamentliche Bilderverbot an. Doch hatte sich nicht inzwischen die Sachlage gegenüber dem Alten Testament verändert? Denn der eine Gott – so die christliche Auffassung – war in der Welt sichtbar und leibhaftig erschienen. Gott ist unsichtbar. Doch in Jesus Christus wird dieser Gott sichtbar. „Christus ist das Bild (eikon) des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15; 2 Kor 4,4). Konnte man also nicht doch Gott bildlich darstellen, im Bild seines Bildes Christus? Im 4. Jahrhundert n. Chr. bat Konstantia, die Tochter des christlich gewordenen Kaisers Konstantin I. (306–337 n. Chr.), in einem Brief Bischof Eusebius von Cäsarea (ca. 264–340 n. Chr.), er möge ihr doch ein Christusbild schicken. Der Bischof wies das Ansinnen der Kaisertochter schroff zurück: „Welches Bild Christi suchst Du? Das Bild seiner göttlichen Gestalt oder das Bild seiner Knechtsgestalt?“ In dieser Alternative begegnen wir im Kern jenem Argument, das von den Kritikern religiöser Bilder immer wieder vorgebracht wurde. Die göttliche Gestalt Christi kann bildlich nicht dargestellt werden, 246

so der Bischof. Und seine leibliche Gestalt ist ganz von der Herrlichkeit des göttlichen Lebens durchdrungen. Sehr wahrscheinlich kann man der Antwort des Bischofs keine generelle Ablehnung christlicher Kunst entnehmen. Symbolische und allegorische Christusdarstellungen sind damit nicht ausgeschlossen. Offensichtlich geht es um die Frage, ob es ein Bild gibt, das Christus so, wie er war, darstellt. Wollte die Bittstellerin ein Bild Christi vor der Verklärung und Auferstehung, also ein Bild des „irdischen Jesus“, musste sie sich entgegenhalten lassen, dass wir uns nach dem Gebot Gottes „keine Gestalt von irgendetwas im Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde“ (Dtn 5,8) machen dürfen und dass Paulus gelehrt hat, dass wir jetzt Christus nicht mehr dem Fleische nach kennen, selbst wenn wir ihn früher so gekannt haben (1 Kor 13,15). Ausdrücklich bittet der Bischof die Kaiserin, kein öffentliches Ärgernis zu erregen. Es „solle nicht durch derlei Bilder der Eindruck entstehen, die Christen würden nach der Art der Götzenanbeter ihren Gott im Bilde herumtragen.“ Noch zwei Jahrhunderte später fragte eine andere Christin: „Wie kann ich ihn denn verehren, wenn er nicht sichtbar ist und ich ihn nicht kenne?“ Hier artikuliert sich der Wunsch des antiken Menschen nach einer Religion mit Bildern. Wie sollte die Kirche darauf reagieren? Sollte sie dem Bedürfnis aus pastoralen Gründen nachkommen? Bischof Epiphanius von Salamis (gest. 403 n. Chr.) spricht die Warnung aus: „Stellt Bilder auf, und ihr werdet sehen, die Bräuche der Heiden tun den Rest.“ Doch die geschichtliche Entwicklung nahm einen anderen Lauf. Mit der Inkulturation des Christentums in die griechisch-römische Kultur drang der dort selbstverständliche Bilderkult nach und nach in die christliche Volksfrömmigkeit ein. Zu einer theologischen Klärung dieses Prozesses kam es aber erst im sogenannten Bilderstreit, der über ein Jahrhundert das byzantinische Reich erschüttern sollte. Der Streit verlief theologisch äußerst komplex und war zudem mit politischen Motiven vermischt. Er lässt sich in zwei Phasen einteilen: in eine erste Phase von 726 bis 787 n. Chr. mit dem Verbot der Bilder durch den byzantinischen Kaiser im Jahre 726 und der Synode von Hiereia im Jahre 754, welche die Abschaffung der Bilder bestätigte, und der Revision dieses Beschlusses auf dem Siebten Ökumeni247

schen Konzil von Nizäa im Jahre 787 mit der Wiedereinführung der Bilderverehrung durch Kaiserin Irene und Patriarch Tarasios; und in eine zweite Phase von 815 bis 843 n. Chr., in der es zur theologisch bis heute gültigen Klärung der Bilderfrage kam.

Argumente der Bildergegner Dass Gott-Vater bildlich nicht dargestellt werden darf, war für die Alte Kirche selbstverständlich. Eine bildliche Darstellung von GottVater setzte erst im Mittelalter ein, und zwar ab dem 11. Jahrhundert n. Chr. in der Kirche des Westens, eine nicht unproblematische Entwicklung. Im Bilderstreit ging es nicht um die bildliche Darstellung von Gott-Vater, sondern um die bildliche Darstellung Christi. Der Grundgedanke dabei lautete: Gott ist unsichtbar und kann bildlich nicht dargestellt werden. Doch in Christus ist dieser Gott sichtbar geworden: „Wer mich sieht, sieht den Vater“, sagt Jesus im Johannesevangelium (Joh 14,9). „Christus ist das Bild des unsichtbaren Gottes“, heißt es im Kolosserbrief (Kol 1,15). Also kann Gott bildlich dargestellt werden, aber nur im Bild seines Bildes Christus. Die ersten bildlichen Darstellungen Christi stammen aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Sie greifen antike Motive auf, wie etwa das Bild des Jünglings, der auf seinen Schultern ein Schaf trägt; das Bild konnte auf Jesus Christus, den guten Hirten, übertragen werden. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts bildete sich allmählich die Christus-Ikone heraus, in der Christus in anthropomorpher Gestalt dargestellt, dabei aber zugleich seine Göttlichkeit betont wurde. Doch schon bald kamen schwerwiegende Bedenken gegen eine bildliche Darstellung Christi auf. Die Gegner der Bilder („Ikonoklasten“) argumentierten folgendermaßen: (1) Die Person (prosopon) Christi besteht aus zwei Naturen, der menschlichen und der göttlichen. Diese beiden Naturen kommen in der einen Person Christi zusammen, und zwar unvermischt und ungetrennt. (2) Die göttliche Natur kann nicht umschrieben werden (perigraphein), das heißt: Sie kann nicht gemalt werden. (3) Wenn der Maler die Person Christi malt, kann er nur die menschliche Natur Christi malen, da die göttliche Natur nicht „umschrieben“, das heißt: nicht gemalt werden kann. Nun kann aber in Christus die menschliche Natur nicht von 248

der göttlichen Natur getrennt werden. Folglich tut der Künstler, der eine Christusikone malt, etwas, was er eigentlich gar nicht tun kann: Er trennt die menschliche Natur von der göttlichen Natur in Christus ab. Sein Bild ist eine Fälschung, eine Häresie. Der Streit brach im Jahre 726 vollends aus, als Kaiser Leo III. (714– 741 n. Chr.) das berühmte Christusbild über dem Haupteingang des Kaiserpalastes in Konstantinopel gewaltsam entfernen und durch ein Kreuz ersetzen ließ. Das Kreuz, natürlich ohne Corpus, war kein Problem. Die Ikonoklasten verstanden sich als Reformer im Geiste der biblischen Propheten, die den Götzendienst, der ihrer Ansicht nach in die Kirche Einzug gehalten hatte, mit Stumpf und Stiel ausrotten wollten. Inzwischen hatte der bilderfeindliche Islam seinen Siegeszug angetreten und die Kaiser konnten sich die militärischen Erfolge dieser neuen Religion nur als Strafe Gottes erklären – dafür, dass die Christen mit dem Verstoß gegen das Bilderverbot ihrer eigenen Heiligen Schrift untreu geworden seien. Doch allein politisch lässt sich der Streit nicht verstehen. Vielmehr ging es um die grundlegende Frage, wie die in der Bibel bezeugte Offenbarung Gottes zu verstehen und zu denken sei. Im Hintergrund der Argumentation der Bildergegner steht das alttestamentliche Bilderverbot, das hier in Verbindung mit der neuplatonischen Tradition der Bildlosigkeit Gottes eine besondere Zuspitzung erfährt. Man dürfe nichts anbeten, was von Menschenhand gemacht sei, so sagten sie. Die Verteidiger der Bilder hingegen waren schockiert, dass man es wagte, die Verehrung der heiligen Bilder mit dem Götzendienst zu vergleichen. Allerdings konnten sie sich nicht darauf berufen, dass der Künstler auf den Bildern lediglich die menschliche Natur Christi darstelle. Denn die menschliche Natur Christi kann von der göttlichen nicht getrennt werden, und die göttliche kann nicht dargestellt werden. Diese Argumentation war zunächst durchschlagend. Sie wurde auf dem Konzil von 754 von den anwesenden 338 Bischöfen gebilligt. Zwar korrigierten die Bischöfe die theologische Argumentation Kaiser Konstantins V. (741–775 n. Chr.) behutsam, dennoch folgten sie den kaiserlichen Vorgaben. Die Verehrung von Bildern wurde verboten.

249

Argumente der Bilderverehrer Wenden wir uns nun den Argumenten derer zu, die die Herstellung und Verehrung religiöser Bilder verteidigten. Ihnen ging es um das rechte Verständnis der gottmenschlichen Person Jesu Christi. Im Rahmen des Bilderstreites kam es zu einem grundlegend neuen Verständnis der menschlichen Person. Diese neue Sicht ist nur vor dem Hintergrund der christlichen Offenbarung zu begreifen. In der griechischen Philosophie besteht die Tendenz, das Allgemein-Wesenhafte dem Konkret-Einmaligen überzuordnen. Das Besondere ist immer die mehr oder weniger mangelhafte Eingrenzung („Umschreibung“) eines allgemeinen Wesens. Das Wesen ist das Eigentliche, darauf kommt es an. Der einzelne individuelle Mensch ist lediglich die unvollkommene, eingegrenzte Form des allgemeinen menschlichen Wesens. Das christliche Denken führte hier zu einem tiefgreifenden Umwandlungsprozess, der alle Bereiche der Kultur umfasste, das Kunstverständnis ebenso wie das Verständnis der Geschichte. Das Besondere des Einzelnen erschien jetzt als das, worauf es ankommt. In Bezug auf das Bild Christi heißt das: Der Künstler malt weder eine menschliche noch eine göttliche Natur, er malt eine geschichtlich einmalige Person. Die Bildergegner dachten im Horizont einer platonischen UrbildAbbild-Lehre und einer damit verbundenen Stufenontologie. BildSein bedeutet für sie immer ein Weniger-Sein. Jedes Bild ist immer nur das unvollkommene Abbild eines vollkommenen Urbildes. Ein vollkommenes Bild gibt es nicht. Die Aussage aus Kol 1,15: „Christus ist das Bild (eikon) des unsichtbaren Gottes“ verstanden sie in einem untergeordneten Sinn: „Christus ist nur das Bild des unsichtbaren Gottes.“ In reiner und höchster, bildloser Jenseitigkeit steht Gott, ihm nachgeordnet ist der Logos als „Bild des unsichtbaren Gottes“, dann folgt die Seele Christi als abgeschwächtes Bild des Logos und dann der irdische Leib als noch schwächeres Bild der Seele, und ganz am Ende kommt die Christusikone, die nur noch ein ganz schwaches Echo des Urbildes aller Bilder sein kann. Wer sich mit diesem Bild beschäftigt, der bleibt beim Unwichtigsten hängen. Das Bild ist im Rahmen dieser Metaphysik immer ein defizienter Modus jener Wirklichkeit, auf die es verweist. 250

Die Befürworter der Bilder konzipierten demgegenüber den Begriff eines vollkommenen Bildes, eines Bildes, das seinem Urbild wesensgleich ist. Der Begriff eines vollkommenen Bildes, der den Rahmen der platonischen Philosophie sprengt, wurde im Kontext der Christologie entwickelt. Vor allem der große alexandrinische Theologe Athanasius (295–373 n. Chr.) war maßgeblich daran beteiligt. In der Auseinandersetzung mit Arius (ca. 260–336 n. Chr.) entwickelte er den Begriff eines vollkommenen Bildes, eines Bildes, in dem nichts von der Vollkommenheit des Urbildes fehlt. Ein solches Bild ist Christus. Gott hat ein Bild seiner selbst, das ihm in allem an Würde und Wesen gleich ist: Christus. Die Aussage von Kol 1,15: „Christus ist das Bild des unsichtbaren Gottes“ liest Athanasius im Lichte von Joh 10,30: „Ich und der Vater sind eins“ und Joh 16,15: „Alles, was der Vater hat, ist mein.“ Was folgt daraus für die Ikone Christi? Die Befürworter der Bilder konnten nun sagen: Auf der Ikone Christi sehen wir weder eine göttliche noch eine menschliche Natur, sondern wir sehen eine Person, und zwar die gottmenschliche Person Jesu. Nicht eine göttliche oder menschliche Natur ist Bild, sondern eine Person. Der Sohn ist Bild des Vaters. Auch in seiner Menschwerdung erweist sich Christus als das Bild des Vaters. Zwar sind Menschwerdung und Erniedrigung auch eine Verhüllung der Gottheit, doch zeigt gerade diese äußerste Erniedrigung die Größe der göttlichen Liebe, der sie entspringt. Deshalb gilt Joh 14,9: „Wer mich sieht, sieht den Vater“ auch von der Menschheit des Logos. So ist der Sohn gerade auch in der Erniedrigung seiner Knechtsgestalt „das Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15). Diese besondere Betonung der Menschheit Christi hat Konsequenzen für die Frage des Christusbildes. Die Überzeugung, dass alles an Christus einem Subjekt zuzusprechen ist, wird die Grundlage der Ikonentheologie.

Menschwerdung des Wortes Gottes Der eigentliche Grund dafür, dass die christliche Theologie die bildliche Darstellung Christi verteidigt hat, war nicht der Druck zur Inkulturation in die griechisch-römische Kultur, sondern lag in der Lehre von der Inkarnation, der Menschwerdung des Wortes Gottes. 251

Der Patriarch Germanos (715–730 n. Chr.), der als erster auf den beginnenden Bildersturm reagierte, hatte sogleich auf den springenden Punkt hingewiesen: Wer die Ikonen verwirft, verwirft die Menschwerdung Gottes. „Nach Christus ist die Situation zutiefst anders als unter dem Gesetz. Als Gott am Horeb zu seinem Volk sprach, sah dieses keinerlei Gestalt; jetzt aber hat Gott sich im Fleisch geoffenbart, sodass der Glaube nicht mehr nur vom Hören kommt, sondern auch durch den Gesichtssinn den Herzen derer eingeprägt wird, die Christus betrachten: die Menschwerdung hat also alles verwandelt; Gott hat von nun an einen sichtbaren Ausdruck, und diesen ‚Ausdruck seines heiligen Fleisches‘ können wir betrachten“ (zitiert nach Christoph Schönborn, Die Christus-Ikone, Wien 1998, 175). Doch leider wurde die Menschwerdung Gottes nur allzu oft als Vermenschlichung Gottes missverstanden. Gott wird dann als eine zweite Gestalt neben Christus bildlich dargestellt. Der Unterschied zwischen Vater und Sohn wird in diesen Bildern dadurch hervorgehoben, dass Gottvater als weißhaariger alter Mann, der Sohn als jugendlicher Jüngling erscheint. Der Theologe und Spezialist für christliche Ikonographie François Bœsflug vermutet, dass eine derartige Vermenschlichung Gottes „zu einem Glaubwürdigkeitsverlust des Gottesglaubens in Europa beigetragen hat“ (Der Gott der Maler und Bildhauer. Die Inkarnation des Unsichtbaren, Freiburg i. Br. 2013, 53). Die Kritik von jüdischer und islamischer Seite an derartigen Bildern ist durchaus nachvollziehbar. Bœsflug sieht den Grund für diese und ähnliche Fehlentwicklungen in der Missachtung der Lehre vom Christomorphismus. Mit dem Begriff ist gemeint, „sich an das Bild des Mensch gewordenen Gottes zu halten“ (ebd. 36). Das Zweite Konzil von Nizäa (787 n. Chr.), das den Bilderstreit endgültig beigelegt hat, begrenzte die Gruppe der erlaubten Bilder auf Christus, die Jungfrau Maria, die Heiligen und die Engel. Gottvater, der Heilige Geist oder gar die Trinität werden nicht zu den erlaubten Bildern gerechnet. Diese Regel wurde vor allem in der Kirche des Westens nicht immer beachtet. Erst das Zweite Vatikanische Konzil hat sie im Rückgriff auf die Kirchenväter wieder in Erinnerung gerufen. Entsprechend findet sich in dem von Papst Johannes Paul II. im Jahre 1992 promulgierten Katechismus der Katholischen Kirche – von einer kleinen Ausnahme abgesehen – keine 252

menschengestaltige Darstellung von Gottvater, etwa im Unterschied zu dem von den deutschen Bischöfen im Jahre 1955 für die Bistümer Deutschlands herausgegebenen „grünen Katechismus“, in dem sich im 14. Kapitel unter der Überschrift „Gott ist die Liebe“ das Bild des Gnadenstuhls mit Gottvater und Gottsohn – in je analoger menschlicher Gestalt dargestellt – findet, ein Bild, mit dem ganze Generationen von Christen aufgewachsen sind. Nur insofern die christliche Kunst die Regel des Christomorphismus beachtet, bleibt das alttestamentliche Bilderverbot unangetastet. Johannes von Damaskus hat diesen Gedanken um 730 n. Chr. so ausgedrückt: „Solange Gott unsichtbar ist, kann man von ihm kein Bild machen, das wäre absurd; wenn Gott aber sichtbar ist, dann ist ein Bild des sichtbar gewordenen Gottes möglich. Das ist sinnvoll und bestätigt die Wahrheit seiner Inkarnation. Durch die Inkarnation kann das Unsichtbare dargestellt werden.“ Wer die Ikone grundsätzlich verwirft, leugnet das Geheimnis der Menschwerdung. Abt Theodor von Studion (759–826 n. Chr.) fasst das Paradox der Menschwerdung in die Worte: „Der Unsichtbare wird sichtbar.“ So kommt es in der Bildertheologie zu einer Synthese von Hören und Schauen: „Präge Christus … deinem Herzen ein, wo er (bereits) wohnt; ob du über ihn in einem Buch liest oder ihn auf einem Bild siehst, er möge dein Denken erleuchten, indem du ihn auf den beiden Wegen der Sinneswahrnehmung zweifach erkennst. So wirst du mit den Augen sehen, was du durch das Wort gelernt hast“ (zitiert nach Christoph Schönborn, Die Christus-Ikone, Wien 1998, 222).

253

XII. Heimkehr und Sammlung

Heimkehr Die Krise des Exils im 6. Jahrhundert v. Chr. führte in Israel zu tiefgreifenden theologischen Reflexionen. Zentrale Themen und Institutionen des Glaubens mussten neu durchdacht, vertieft und zum Teil auch aufgegeben werden. Das Gottesvolk musste lernen, sich unter der politischen Herrschaft fremder Mächte zu behaupten. Doch damit war die Frage nach der theologischen Bedeutung des Landes noch nicht erledigt. Ist die Abraham gegebene Verheißung: „Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land“ (Gen 15,18) mit der Vertreibung hinfällig geworden? Nach dem Exil hat es immer Gruppen gegeben, die ins Land zurückgekehrt sind. Im Buch Jesaja ruft der Prophet die im babylonischen Exil lebenden Judäer auf, das Land der Chaldäer zu verlassen und zum Zion heimzukehren: „Zieht aus Babel aus, flieht aus Chaldäa!“ (Jes 48,20). In späten Texten des Jesajabuches werden der Untergang Babels, die Befreiung aus dem Exil und der Wiederaufbau Jerusalems als eine siegreiche Rettungstat Jhwhs hymnisch besungen. Ihr kommt im Hinblick auf die Welt der Völker eine universale Bedeutung zu. Dass in den ältesten Zeugnissen mit dem Gott Jhwh verbundene Motiv der Rettung aus Feindesmacht (Dtn 33,2; Ri 5,4f; Hab 3,3; siehe dazu unter „IV. Frühgeschichte Israels: Die Herkunft Jhwhs“ den Abschnitt „Die Herkunft Jhwhs“) lebt in dieser Zeit in neuem Glanz wieder auf: „Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Heil verheißt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König. Horch, deine Wächter erheben die Stimme, sie beginnen alle zu jubeln. Denn sie sehen mit eigenen Augen, wie der Herr nach Zion zurückkehrt. Brecht in Jubel aus, jauchzt zusammen, ihr Trümmer Jerusalems! Denn der Herr hat sein Volk getröstet, er hat Jerusalem erlöst. Der Herr hat seinen heiligen Arm vor den Augen 254

aller Nationen entblößt und alle Enden werden das Heil unseres Gottes sehen“ (Jes 52,7–10). Nach Esra 1,1–4 erfüllt sich in der vom Perserkönig Kyros erlaubten Rückkehr ein Wort des Propheten Jeremia: „Ja, so spricht der Herr: Wenn siebzig Jahre für Babel vorüber sind, dann werde ich euch heimsuchen, mein Heilswort an euch erfüllen, um euch an diesen Ort zurückzuführen“ (Jer 29,10; vgl. 25,11f). Gleichwohl hat es seit dem Exil immer Juden gegeben, die weiterhin unter den Völkern lebten. Demnach steht die Erfüllung der prophetische Verheißung, „keinen von ihnen in der Fremde zurückzulassen“ (Ez 39,28), noch aus. Die Rückkehr ganz Israels in das Land der Verheißung rückt damit in eine noch offene Zukunft. Unmittelbar vor seinem Tod schaut Tobit in eine Zeit, da Jerusalem wieder aufgebaut sein wird „aus Saphir und Smaragd, seine Mauern aus Edelstein, seine Türme und Wälle aus reinem Gold“ (Tob 13,17). Die Zeit des Exils ist für Tobit nicht mehr nur die Zeit, da Israel vom Herrn gezüchtigt wurde wegen all seiner Sünden (Tob 13,5), sondern auch die Zeit, da Israel Zeugnis ablegt vom wahren Gott „vor allen Völkern“ im „Land der Verbannung“ (Tob 13,3.8). Diese Sicht auf eine noch ausstehende Landnahme im Sinne der Sammlung und Heimkehr Israels prägt die Theologie des Landes, wie sie von der Endgestalt des Pentateuch her zu verstehen ist. Zwischen der (älteren) Verheißung einer (erstmaligen) Landnahme, wie sie an die Väter im Buch Genesis ergangen ist, und den Erzählungen von der (erstmaligen) Erfüllung dieser Verheißung im Buch Josua gab es möglicherweise einmal einen ursprünglichen literarischen Zusammenhang. Theologisch bedeutsam ist jedoch, dass dieser Zusammenhang durch die Redaktion des Pentateuch aufgesprengt wurde. Die jüdische Leseordnung der Tora endet im Buch Deuteronomium mit dem Blick auf das Land der Verheißung (Dtn 34,1–4) und hebt anschließend erneut mit der Schöpfungserzählung im Buch Genesis an. Die Gabe des Landes wird somit im „Basis-Mythos“ Israels in eine noch ausstehende Zukunft gerückt. Die einmal erfolgte Landnahme unter Josua war nicht von Dauer. Die eigentliche und bleibende Landnahme Israels steht noch aus (vgl. Ez 37,20– 28; Am 9,13–15). Damit ist die Tora unmittelbar auf die Sammlung Israels und die Heimkehr in das Land der Verheißung ausgerichtet 255

(vgl. 2 Chr 36,22f). Diese werden als ein von Gott in Gang gesetztes Geschehen verstanden, bei dem Israel keine Gewalt anwenden wird – ganz im Sinne der Bergpredigt: „Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben“ (Mt 5,5).

Opfer Tief in der Religionsgeschichte der Menschheit verankert ist der Opferkult. „In den traditionellen Religionen ist das Opfer die heilige Handlung schlechthin“ (Bernd Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, Neukirchen-Vluyn 32003, 285). Über ein Jahrtausend lang gehörte der am Tempel zu Jerusalem vollzogene Opferkult zum Kern der Religion Israels. Die dort dargebrachten Opfer waren nach Art und Anlass verschieden. Ihnen gemeinsam ist das Bemühen, mit der Gottheit in Kontakt zu kommen, sie gnädig zu stimmen, eine bleibende Gemeinschaft mit ihr und untereinander herzustellen. Geopfert wurde in der frühen Königszeit in Israel nicht nur am Staatsheiligtum in Jerusalem, sondern im Rahmen der Familienfrömmigkeit auch an den lokalen Kultstätten im Land. Die Kultreform unter König Joschija konzentrierte im Jahre 622 v. Chr. den Opferkult auf den Tempel in Jerusalem. Die im Land verteilten Kultstätten wurden abgeschafft. Mit der Zerstörung des Tempels im Jahre 586 v. Chr. brach eine der bis dahin tragenden Säulen der Jhwh-Religion in sich zusammen. In der tempellosen Zeit des Exils konnten keine Tieropfer mehr dargebracht werden. An die Stelle des Opfergottesdienstes trat der Wortgottesdienst, das Opfer der Lippen: „Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde! Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie geben, an Brandopfern hast du kein Gefallen. Schlachtopfer für Gott ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen“ (Ps 51,17–19). An kritischen Stimmen zum Opferkult hatte es in Israel nie gefehlt: „An Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern“, heißt es beim Propheten Hosea (Hos 6,6). Die Vorstellung, er bedürfe des Opfers, weist Gott weit von sich: „Hätte ich Hunger, ich brauchte es dir nicht zu sagen, denn mein ist der Erdkreis und seine ganze Fülle. Soll ich denn das Fleisch von Stieren essen und das Blut von Böcken trinken?“ (Ps 50,12f). 256

Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher opferkritischer Stimmen ist es überraschend, dass nach der Zerstörung des Salomonischen Tempels gegen Ende des Exils im Jahre 515 v. Chr. der Tempel zu Jerusalem neu errichtet und der Opfergottesdienst wieder aufgenommen wurde. Eine treibende Kraft beim Wiederauf bau des Tempels war der Prophet Haggai. Er vertrat die Ansicht, ohne den vom Tempel ausgehenden göttlichen Segen sei alles Arbeiten und Mühen vergeblich: „Überlegt doch, wie es euch geht! Ihr sät viel und erntet wenig; ihr esst und werdet nicht satt; […] ihr zieht Kleider an, aber sie halten nicht warm, wer etwas verdient, verdient es für einen löcherigen Beutel. So spricht der Herr der Heerscharen: Überlegt also, wie es euch geht! Geht ins Gebirge, schafft Holz herbei und baut den Tempel wieder auf! Das würde mir gefallen und mich ehren, spricht der Herr“ (Hag 1,5–8). Weil das Haus des Herrn in Trümmern liegt, so der Prophet, „hält der Himmel den Tau zurück und die Erde ihren Ertrag“ (Hag 1,10). Im Jahre 520 v. Chr. wurden die Arbeiten zum Wiederauf bau des Tempels in Angriff genommen, fünf Jahre später konnte das „Haus des Herrn“ feierlich eingeweiht werden: „Die Israeliten, die Priester, die Leviten und die Übrigen, die heimgekehrt waren, feierten voll Freude die Einweihung dieses Gotteshauses“ (Esra 6,16). Zielte die Opferkritik der Propheten vor dem Exil vor allem auf die Spannung von Kult und Ethos – „An Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern“ (Hos 6,6) –, so nimmt der Prophet Maleachi in spät-nachexilischer Zeit einen anderen Aspekt des Opferkultes kritisch unter die Lupe. Er kritisiert im Namen Gottes die am Tempel tätigen Priester mit folgenden Worten: „Ihr bringt auf meinem Altar verunreinigte Speise dar. Ihr aber sagt: Wodurch haben wir dich mit Unreinem entehrt? Dadurch, dass ihr sagt: Der Tisch des Herrn, der kann gering geachtet werden. Wenn ihr ein blindes Tier als Schlachtopfer darbringt, sei das nicht schlecht! Und wenn ihr ein lahmes und krankes Tier darbringt, sei das nicht schlecht!“ (Mal 1,7f). Das Opfer ist eine Gabe, die der Gottheit dargebracht wird. Eine Gabe ist die symbolische Vorwegnahme, die Darstellung und zugleich der Vollzug eines Austausches zwischen dem Geber und dem Empfänger der Gabe. Auf diese Weise wird Gemeinschaft gestiftet. Wer eingeladen wird, bringt ein Geschenk mit. Bei der Ver257

abschiedung wird eine Gegeneinladung ausgesprochen. Kommt sie nie zustande, ist die Kommunikation abgebrochen. Die Reziprozität von Gabe und Gegengabe ist eine anthropologische Konstante; sie strukturiert die soziale Ordnung und stiftet Zusammenhalt. Ist das mitgebrachte Geschenk sichtlich verdorben, kommt es zu einer Störung oder gar zum Abbruch der Kommunikation. Primärer „Sitz im Leben“ eines solchen Austausches ist im Alten Orient die Audienz bei einem Höhergestellten. Daran erinnert Maleachi, wenn er die Priester ironisch dazu auffordert, doch einmal einem Statthalter ein „lahmes und krankes Tier“ als Gabe mitzubringen: Ob er daran wohl Gefallen hätte und sie freundlich ansähe? (Mal 1,8). Wer Gott unreine Gaben darbringt, findet keine Gemeinschaft mit ihm. Einen solchen Besucher lehnt Gott ab: „Ich habe kein Gefallen an euch, spricht der Herr der Heerscharen, und ich mag keine Gabe aus eurer Hand“ (Mal 1,10). „Es ist also klar, dass die Priester durch ihr Verhalten, das sie dem Statthalter gegenüber nie wagen würden, die Kommunikation mit Jhwh von ihrer Seite aus abbrechen. Sie machen es unmöglich, dass Gott sich ihnen und damit den Anliegen der Männer und Frauen, ja des ganzen Volkes, zuwendet, für die die Priester die Opfer darbringen“ (Rainer Kessler, Maleachi, HThK AT, Freiburg i. Br. 2011, 145f). Mit einem kühnen Wort deutet der Prophet an, dass sich die (heidnischen) Völker in dieser Hinsicht besser verhalten als Israel, denn sie bringen (dem ihnen noch unbekannten) Gott eine reine Opfergabe dar: „Ja, vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang steht mein Name groß da bei den Völkern und an jedem Ort wird meinem Namen ein Rauchopfer dargebracht und eine reine Opfergabe“ (Mal 1,11). Das Wort hat Eingang in das dritte eucharistische Hochgebet des katholischen Messkanons gefunden: „Bis ans Ende der Zeiten versammelst du dir ein Volk, damit deinem Namen das reine Opfer dargebracht werde vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang.“ Im Wort des Propheten Maleachi sahen die Kirchenväter das Opfer Christi angekündigt, in dem alle bisherigen Opfer aufgehoben und vollendet wurden. Warum? Weil Jesus nicht nur etwas, sondern sich selbst seinem Vater vorbehaltlos hingegeben hat: „Nicht mit dem Blut von Böcken und jungen Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut ist er ein für alle Mal in das Heiligtum hineingegangen und so hat er eine ewige 258

Erlösung bewirkt“, sagt der Hebräerbrief (Hebr 9,12). Jesus hat nicht nur etwas, sondern alles gegeben und damit den alttestamentlichen Opferkult vollendet. Er hat „sich selbst als makelloses Opfer Gott dargebracht“ (Hebr 9,14). Im Lichte der vorexilischen Gerichtsprophetie und des deuteronomistischen Geschichtswerkes mit seinem „Blick zurück im Zorn“ (Norbert Lohfink) rückte nach dem Verlust von Tempel, Land und Königtum in der exilischen und nachexilischen Zeit das Thema der Schuld und die Frage nach Möglichkeiten der Vergebung in das Zentrum der theologischen Reflexion. Die durch eigene Schuld verursachte Katastrophe führte zu einer gesteigerten Sensibilität gegenüber den Verstrickungen in die zerstörerische Macht der Sünde. Auch die Theologie des Heiligtums und des Opfers wurde maßgeblich davon geprägt. Das Sühnopfer trat in das Zentrum der nachexilischen Kultordnung, der große Versöhnungstag ( jom kippur) wurde zum höchsten Feiertag. Die Vorschriften dazu finden sich in der Mitte der Tora (Lev 16–17).

Tempel Noch ein halbes Jahrtausend lang sollte der im Jahre 515 v. Chr. neu errichtete (zweite) Tempel in Jerusalem das religiöse und geistige Zentrum des Judentums bilden. Nach der Geburt Jesu bringen seine Eltern im Tempel zu Jerusalem „ihr Opfer dar, wie es das Gesetz des Herrn vorschreibt: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben“ (Lk 2,24). Das Lukasevangelium durchschreitet einen Weg vom Opfer zum Gebet: Es beginnt mit dem im Tempel dargebrachten Rauchopfer des Priesters Zacharias (Lk 1,5–10) und endet nach der Himmelfahrt Jesu mit den zum Lobpreis im Tempel versammelten Jüngern; sie haben im Tempelareal gebetet, nicht geopfert: „Und es geschah, während er sie segnete, verließ er sie und wurde zum Himmel emporgehoben. Sie aber fielen vor ihm nieder. Dann kehrten sie in großer Freude nach Jerusalem zurück. Und sie waren immer im Tempel und priesen Gott“ (Lk 24,51–53). Nach der endgültigen Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. durch die Römer und die Einstellung des Opferkultes war die damit verbundene Theologie jedoch keineswegs am Ende. Im Gegenteil! 259

Sie entfaltete eine äußerst fruchtbar Wirkungsgeschichte, sowohl im Judentum als auch im Christentum. Im Judentum werden Tora und Psalter als spiritueller Tempel und ihr Studium als Gottesdienst angesehen. Wesentliche Elemente und Motive des Tempels und des Opferkultes wurden auf die Synagoge und ihren Gottesdienst übertragen. In der christlichen Rezeption werden Tempelvorstellungen in vielfältiger Weise fortgeschrieben. Bei der Tempelreinigung im Johannesevangelium überträgt Jesus die Tempelvorstellung auf seinen Leib. Er ist der wahre Ort der Gegenwart Gottes auf Erden, von dem Versöhnung und Heil ausgehen und der letztlich nicht mehr zerstört werden kann. Im Anschluss an die Tempelreinigung „ergriffen die Juden das Wort und sagten zu ihm: Welches Zeichen lässt du uns sehen, dass du dies tun darfst? Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? Er aber meinte den Tempel seines Leibes. Als er von den Toten auferweckt war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte“ (Joh 2,18–22). Der Tod Jesu wird nach Überlieferung der Evangelisten vom Zerreißen des Vorhangs vor dem Allerheiligsten begleitet (Mt 27,51; Mk 15,38; Lk 23,45). Das Allerheiligste durfte nur der Hohepriester einmal im Jahr, am großen Versöhnungstag, betreten. Dieser Hohepriester ist in der Deutung des Hebräerbriefes nun Jesus (Hebr 3,1; 4,14–16), der „ein für alle Mal in das Heiligtum hineingegangen ist und so eine ewige Erlösung bewirkt hat, nicht mit dem Blut von Böcken und jungen Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut“ (Hebr 9,12). „Ein solcher Hohepriester ziemte sich in der Tat für uns: einer, der heilig ist, frei vom Bösen, makellos, abgesondert von den Sündern und erhöht über die Himmel; einer, der es nicht Tag für Tag nötig hat, wie die Hohepriester zuerst für die eigenen Sünden Opfer darzubringen und dann für die Sünden des Volkes; denn das hat er ein für alle Mal getan, als er sich selbst dargebracht hat“ (Hebr 7,26f). Paulus überträgt das Bild des Tempels auf die christliche Gemeinde: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zer260

stören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr“ (1 Kor 3,16f). War in der Tora das Wohnen Gottes in der Mitte seines Volkes an das Offenbarungszelt gebunden (Lev 26,11f), so im Neuen Testament an die Gegenwart Christi in der Mitte der Gemeinde: „Wie verträgt sich der Tempel Gottes mit Götzenbildern? Wir sind doch der Tempel des lebendigen Gottes; denn Gott hat gesprochen: Ich will unter ihnen wohnen und mit ihnen gehen. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein“ (2 Kor 6,16; vgl. Lev 26,11f). Damit dies möglich ist, bedarf es der Reinigung: „Zieht darum weg aus ihrer Mitte und sondert euch ab, spricht der Herr, und fasst nichts Unreines an! Dann will ich euch aufnehmen und euer Vater sein und ihr sollt meine Söhne und Töchter sein, spricht der Herr, der Herrscher über das All. […] Reinigen wir uns also von aller Unreinheit des Leibes und des Geistes und streben wir in Gottesfurcht nach vollkommener Heiligung“ (2 Kor 6,17–7,1; vgl. Jes 52,11). Im ersten Brief an die Korinther überträgt Paulus das Motiv des Tempels und der Reinigung auf jeden einzelnen Christen: „Meidet die Unzucht! Jede Sünde, die der Mensch tut, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?“ (1 Kor 6,19). In der christlichen Mystik wird dieser Gedanke fortgeschrieben und auf die Seele eines jeden übertragen. Der Opfergottesdienst wird zu einer geistigen Übung, die jeder praktizieren kann und soll. Gott will in der Seele des Menschen wohnen, doch wenn diese mit Gedanken, Vorstellungen, (Götter-)Bildern und Leidenschaften besetzt ist, kann der Geist Gottes nicht einziehen. In einer der jüngsten Schriften des Alten Testaments, dem auf Griechisch verfassten Buch der Weisheit, wird dieser Zusammenhang so dargestellt: „Verkehrte Gedanken trennen von Gott. […] In eine Seele, die Böses wirkt, kehrt die Weisheit nicht ein noch wohnt sie in einem Leib, der sich der Sünde hingibt. Denn der Heilige Geist, der Lehrmeister, flieht vor der Falschheit, er entfernt sich von unverständigen Gedanken und wird verscheucht, wenn Unrecht naht“ (Weish 1,3–5). So wie in der Vision des Propheten Ezechiel die Herrlichkeit des Herrn den mit Götterbildern und Götzendienst verunreinigten Tempel verlässt (Ez 10), so kann Gott in einer mit (Götter-)Bildern besetzten Seele nicht 261

Wohnung nehmen. Sie muss zunächst leer werden, sie bedarf, wie der Tempel zu Jerusalem, der Reinigung. In der christlichen Mystik wird die in allen Evangelien überlieferte Erzählung von der Tempelreinigung Jesu auf die Seele übertragen und in der Tradition des alttestamentlichen Bilderverbotes ausgelegt. Dieser Weg der Reinigung (via purgativa) stellt die erste und grundlegende Phase des spirituellen Weges dar, der am Ende zur unio mystica, zur Vereinigung der Seele mit Gott führt. Es ist ein Weg der Hingabe, des Opfers – nicht etwas geben, sondern sich selbst. Gott nimmt die Opfergabe an, verwandelt sie und gibt Anteil an seinem eigenen Leben. Das eigene Ich wird im Feuer der göttlichen Liebe verbrannt und als wahres Selbst aus Gott neu geboren: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ – so hat Paulus diese Verwandlung an sich erfahren (Gal 2,20). Meister Eckhart (1260–1328) spricht von der Gottesgeburt in der Seele. Ähnlich wie der Opferdienst am Tempel zu Jerusalem, so vollzieht sich die spirituelle Praxis, wenn sie nicht ins Leere laufen soll, nach gewissen Regeln. Der Dominikaner und bedeutende Lehrer des geistlichen Lebens Johannes Tauler (1300–1361) beschreibt den Weg der Reinigung (in der Predigt aus dem Evangelium des heiligen Lukas am zehnten Sonntag nach Pfingsten, da „unser Herr über Jerusalem weinte und die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel jagte“ – Übersetzung im Anschluss an Johannes Tauler, Predigten, Bd. II, hg. von Georg Hofmann, 357–359) so: Der Mensch lasse die Bilder der Dinge ganz und gar fahren, und mache und halte seinen Tempel leer. Denn wäre der Tempel entleert, und wären die Bilder draußen, so könntest du ein Gotteshaus werden, nicht eher, was du auch tust. Und so hättest du den Frieden und die Freude deines Herzens, und dich störte nichts mehr von dem, was dich jetzt ständig stört und dich leiden lässt.

Das Ende des Tempels und des dort vollzogenen Opferkultes hat letztlich dazu geführt, dass die ihnen zugrundeliegende Theologie zur vollen Entfaltung kommen konnte. Damit wurde der ursprüngliche Gegensatz von Opfer und Seelsorge im Kern überwunden.

262

Seelsorge Um die Zeitenwende setzte in den Religionen der Spätantike ein tiefgreifender Umbruch ein. Er lässt sich beschreiben als ein Weg von der Kultreligion zur Seelsorgereligion. Die Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. durch die Römer mag als ein äußeres Zeichen für diesen sich über einen längeren Zeitraum hin erstreckenden Prozess angesehen werden. Das Judentum musste sich innerhalb kurzer Zeit als eine Religion ohne Blut und Opfer neu erfinden. Die Entstehung des Christentums erfolgte im Spannungsfeld dieses tiefgreifenden Transformationsprozesses in der Spätantike. Einige Exegeten meinen, das Christentum sei von seinem jesuanischen Ursprung her eine anti-kultische Bewegung und folglich eine frühe Ausprägung des neuen Typs der Seelsorgereligion gewesen, bevor es im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. im Rahmen einer problematischen Resakralisierung mit der Einführung priesterlicher Amtsträger in den alten Typ der Kultreligion zurückgefallen sei – eine Deutung, die allerdings nicht unwidersprochen geblieben ist. Wenn in der katholischen Kirche der Priester als Seelsorger bezeichnet wird, so handelt es sich um die Zusammenführung zweier Tätigkeiten, die – aus religionsgeschichtlicher Perspektive betrachtet – ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Der Religionswissenschaftler Guy G. Stroumsa drückt diesen Sachverhalt so aus: „Von seinem Wesen her steht der geistliche Lehrer im Widerspruch zum Priester, dem religiösen Funktionär, der für die tägliche Verrichtung der Kulthandlungen zuständig ist und nicht dafür, sich um einige besorgte Seelen zu kümmern und ihnen in ständigem und persönlichem Umgang in ihrer Suche nach dem individuellen Heil beizustehen“ (Das Ende des Opferkults. Die religiöse Mutation der Spätantike, Berlin 2012, 156). Nimmt man nun allerdings die im vorangehenden Abschnitt („Tempel“) skizzierte Transformation des Opferkultes, wie sie in der christlichen Religion vollzogen wurde, ernst, dann löst sich der ursprüngliche Gegensatz von Opferkult und Seelsorge auf. Seelsorge wird zu einer Lebenskunst, die – mit dem Propheten Maleachi gesprochen – an jedem Ort und in jedem Volk in rechter Weise („rein“) vollzogen werden kann. Wenn dabei der Einwand aufkommt: „Es hat keinen Sinn, Gott zu dienen. Was 263

haben wir davon, wenn wir auf seine Anordnungen achten und vor dem Herrn der Heerscharen in Trauergewändern umhergehen? Darum preisen wir die Überheblichen glücklich, denn die Frevler haben Erfolg; sie stellen Gott auf die Probe und kommen doch straflos davon“ (Mal 3,14f) – wenn dieser Einwand kommt, dann ist Geduld gefragt: Denn der Tag wird kommen, so der Prophet, „an dem ihr wieder den Unterschied sehen werdet zwischen dem Gerechten und dem Frevler, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der ihm nicht dient. Denn seht, der Tag kommt, er brennt wie ein Ofen: Da werden alle Überheblichen und alle Frevler zu Spreu und der Tag, der kommt, wird sie verbrennen, spricht der Herr der Heerscharen. Weder Wurzel noch Zweig wird dann bleiben. Für euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen und ihre Flügel bringen Heilung“ (Mal 3,18–20). Der Weg der Heilung und Erlösung führt durch das „Tal des Todesschattens“ (Ps 23,4), das „Tal der Dürre“ (Ps 84,7). Wer ihn geht und auf Gott vertraut, so der Psalmist, wird nicht enttäuscht werden, denn „lieber an der Schwelle stehen im Haus meines Gottes als wohnen in den Zelten der Frevler. Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild. […] Herr der Heerscharen, selig der Mensch, der auf dich sein Vertrauen setzt!“ (Ps 84,11–13).

Sammlung Schauen wir nun zurück auf den langen Weg, den der biblisch bezeugte Glaube gegangen ist, so können wir ihn beschreiben als einen Weg der Sammlung, als einen Weg aus dem Vielerlei zur Fülle des Einen: von den vielen Göttern zu dem einen Gott, von den vielen Völkern der Erde zu dem einen Volk, das Gott erwählt hat, von den vielen Heiligtümern im Land, zu dem einen Heiligtum, an dem Gott seinen Namen wohnen lässt, von den vielen Worten zu dem einen Wort, dem Verbum abbreviatum, das alle Worte in sich zusammenfasst und Fleisch geworden ist und „unter uns gewohnt hat“ (Joh 1,14). Die Sammlung Israels aus der Zerstreuung unter die Völker, in die es aufgrund seiner Abkehr von dem einen, wahren Gott „geworfen“ wurde, steht als das große Hoffnungsbild am Ende der

264

alttestamentlichen Glaubensgeschichte: „Er sammelt die Versprengten Israels, er heilt, die gebrochenen Herzens sind, er verbindet ihre Wunden“ (Ps 147,2f). Mag es auch Widerstand geben, so ist diese Bewegung doch nicht aufzuhalten; sie greift über in die Sammlung der Völker (Gen 12,1–3; Apg 9,15). Das Paradox der biblischen Botschaft besteht darin, dass die Eingrenzung zur Entgrenzung führt. Die Sammlung des Bewusstseins auf die eine göttliche Wirklichkeit setzt eine Dynamik frei, die zu einem Durchbruch führt, in dem die Fülle der Wirklichkeit erkannt wird, in der Gott „alles in allem ist“. Was zunächst als Verlust erscheint, erweist sich in Wahrheit als Gewinn. Aus der verwirrenden Vielfalt des antiken Polytheismus mit seinen einander widerstreitenden regionalen und politischen Partikularismen und Interessen, wo „Nation gegen Nation das Schwert erhebt“, erstrahlt das Licht der einen Wahrheit, das den Weg zum wahren Leben in der Gemeinschaft mit Gott und untereinander weist: „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“ (Ps 119,105). Alle Völker, so der Prophet, sind eingeladen, diesen Weg zu gehen: „In kommenden Tagen wird es geschehen: Der Berg des Hauses des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen Völker. Viele Nationen gehen und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn, zum Haus des Gottes Jakobs. Er unterweise uns in seinen Wegen, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn von Zion geht Weisung (Tora) aus und das Wort des Herrn von Jerusalem. Er wird Recht schaffen zwischen vielen Völkern und mächtige Nationen zurechtweisen bis in die Ferne. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht mehr das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg. Und ein jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand schreckt ihn auf. Ja, der Mund des Herrn der Heerscharen hat gesprochen.

265

Auch wenn alle Völker ihren Weg gehen, ein jedes im Namen seines Gottes, so gehen wir schon jetzt im Namen des Herrn, unseres Gottes, für immer und ewig“ (Mi 4,1–5; vgl. Jes 2,1–5).

Literaturverzeichnis Albertz, Rainer, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Teil 1 und 2, Göttingen 1992. Assmann, Jan, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1989. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Benedikt XVI. siehe: Joseph Ratzinger. Berges, Ulrich, Jesaja 40–48 (HThK AT), Freiburg i. Br. 2008. Berges, Ulrich, Jesaja 49–54 (HThK AT), Freiburg i. Br. 2015. Berges, Ulrich, Jesaja 55–66 (HThK AT), Freiburg i. Br. 2022. Berlejung, Angelika / Frevel, Christian (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006. Bauer, Johannes B., Bibeltheologisches Wörterbuch, vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, herausgegeben in Gemeinschaft mit Johannes Marböck und Karl M. Woschitz von Johannes B. Bauer, Graz 1994. Böhler, Dieter, Psalmen (HThK AT), Freiburg i. Br. 2021. Bœsflug, François, Der Gott der Maler und Bildhauer. Die Inkarnation des Unsichtbaren, Freiburg i. Br. 2013. Braulik, Georg, Die Ablehnung der Göttin Aschera in Israel. War sie erst deuteronomistisch, diente sie der Unterdrückung der Frauen?, in: Marie-Theres Wacker / Erich Zenger (Hg.), Der eine Gott und die Göttin. Gottesvorstellungen des biblischen Israel im Horizont feministischer Theologie (QD 135), Freiburg i. Br. 1991, 106–136 (wiederabgedruckt in: Braulik, Georg, Studien zum Buch Deuteronomium [SBAB 24], Stuttgart 1997, 81–118). Braulik, Georg, Das Buch Deuteronomium, in: Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament. Neunte, aktualisierte Auflage herausgegeben von Christian Frevel, Stuttgart 2016, 152–182. Denzinger, Heinrich, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Lateinisch – Deutsch. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 371991. Dietrich, Walter (Hg.), Die Welt der Hebräischen Bibel. Umfeld – Inhalte – Grundthemen, Stuttgart 22021. Dietrich, Walter / Klopfenstein, Martin A. (Hg.), Ein Gott allein? Jhwh-Verehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der israelitischen und altorientalischen Religionsgeschichte (OBO 139), Freiburg (Schweiz) – Göttingen 1993. Dohmen, Christoph, Exodus 1–18 (HThK AT), Freiburg i. Br. 22021. Dohmen, Christoph, Exodus 19–40 (HThK AT), Freiburg i. Br. 32022. Fieger, Michael / Krispenz, Jutta / Lanckau, Jörg (Hg.), Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013. Fischer, Georg, Jeremia 1 – 25 (HThK AT), Freiburg i. Br. 2005.

267

Fischer, Georg, Jeremia 26–26 (HThK AT), Freiburg i. Br. 2005. Frevel, Christian, Geschichte Israels, Stuttgart 22018. Görg, Manfred / Lang, Bernhard (Hg.), Neues Bibel-Lexikon. 3 Bände, Düsseldorf 1991–2001. Hälbig, Klaus W., Die Hochzeit am Kreuz. Eine Hinführung zur Mitte, München 2007. Hälbig, Klaus W., Die Krönung der Braut. Gottes Vermählung mit der Welt in Maria, Sankt Ottilien 2014. Hoping, Helmut, Jesus aus Galiläa – Messias und Gottes Sohn, Freiburg i. Br. 2019. Hornung, Erik, Der Eine und die Vielen. Altägyptische Götterwelt, Darmstadt 7 2011. Irsigler, Hubert, Gottesbilder des Alten Testaments. Von Israels Anfängen bis zum Ende der exilischen Epoche. 2 Bände, Freiburg i. Br. 2021. Janowski, Bernd, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 32009. Janowski, Bernd, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfrage – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019. Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], in: Ders., Werke in sechs Bänden, Bd. VI, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 72011. Keel, Othmar (Hg.), Monotheismus im Alten Israel und seiner Umwelt (BB 14), Fribourg 1980. Keel, Othmar, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus. 2 Bände, Göttingen 2007. Keel, Othmar, Jerusalem und der eine Gott. Eine Religionsgeschichte, Göttingen 2011. Keel, Othmar / Uehlinger, Christoph, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg i. Br. 1992, 5 2001, Fribourg 62010. Kessler, Rainer, Maleachi (HThK AT), Freiburg i. Br. 2011. Kogler, Franz (Hg.), Herders Neues Bibellexikon, Freiburg i. Br. 2008. Lang, Bernhard (Hg.), Der einzige Gott. Die Geburt des biblischen Monotheismus, München 1981. Lauster, Jörg, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, Darmstadt 32015. Lauster, Jörg, Der Heilige Geist. Eine Biographie, München 2021. Levinson, Bernard M., Einführung in das Buch Dewarim / Deuteronomium, in: Die Tora. Die Fünf Bücher Mose und die Prophetenlesungen (hebräischdeutsch) in der Übersetzung von Rabbiner Ludwig Philippson revidiert und herausgegeben von Walter Homolka, Hanna Liss und Rüdiger Liwak unter Mitarbeit von Susanne Gräber, Daniel Vorpahl und Zofia Helena Stein, Freiburg i. Br. 32021, 682–696. Lohfink, Norbert, Unsere großen Wörter. Das Alte Testament zu Themen dieser Jahre, Freiburg i. Br. 1977. Lohfink, Norbert, Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension, Freiburg i. Br. 1987.

268

Lohfink, Norbert, Landeroberung und Heimkehr. Hermeneutisches zum heutigen Umgang mit dem Josuabuch, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 12 (1997), Neukirchen-Vluyn 1998, 3–24. Lohfink, Norbert, Im Schatten deiner Flügel. Große Bibeltexte neu erschlossen, Freiburg i. Br. 1999. Lommel, Pim van, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Ostfildern 32023. Lubac, Henri de, Katholizismus als Gemeinschaft, Einsiedeln – Köln 1943. Maier, Bernhard, Die Ordnung des Himmels. Eine Geschichte der Religionen von der Steinzeit bis heute, München 2018. Menke, Karl-Heinz, Jesus ist Gott der Sohn. Denkformen und Brennpunkte der Christologie, Regensburg 32012. Menke, Karl-Heinz, Inkarnation. Das Ende aller Wege Gottes, Regensburg 2021. Nordhofen, Eckhard, Corpora. Die Anarchische Kraft des Monotheismus, Freiburg i. Br. 2018. Oster, Stefan, Person und Transsubstantiation. Mensch-Sein, Kirche-Sein und Eucharistie – eine ontologische Zusammenschau, Freiburg i. Br. 2010. Otto, Eckart, Deuteronomium 1,1–4,43 (2012); 4,44–11,32 (2012); 12,1–23,15 (2016); 23,16–34,12 (2017) (HThK AT), Freiburg i. Br. 2012–2017. Rad, Gerhard von, Theologie des Alten Testaments. Bd. I. Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 1960, 81982. Bd. II. Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 1960, 81984. Ratzinger, Joseph, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura (1959), in: JRGS 2, 419–646. Ratzinger, Joseph, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis, München 1968, Neuausgabe 2000 (JRGS 4, 29–322). Ratzinger, Joseph / Benedikt XVI., Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg 42005 (JRGS 3/1, 295–523). Ratzinger, Joseph / Benedikt XVI., Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg i. Br. 2006 (JRGS 11, 29–194). Römer, Thomas, Die Erfindung Gottes. Eine Reise zu den Quellen des Monotheismus, Darmstadt 2018. Rothe, Daniel, „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ Metaphorik und religiöses Erleben im 21. Jahrhundert (MThS II, 84), St. Ottilien 2022. Schäfer, Peter, Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017. Schnelle, Udo, Paulus. Leben und Denken, Berlin – Boston 22014. Schnelle, Udo, Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr. Die Entstehung einer Weltreligion, Göttingen 22016. Schönborn, Christoph, Die Christus-Ikone. Eine theologische Hinführung, Wien 1998. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Metaphorisch wahr – Offenheit und Eindeutigkeit alttestamentlicher Gottesrede, in: Günter Kruck / Claudia Sticher (Hg.), „Deine Bilder stehn vor mir wie Namen.“ Zur Rede von Zorn und Erbarmen Gottes in der Heiligen Schrift, Mainz 2005, 115–124. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Josua 6 und die Gewalt, in: Ed Noort (Hg.), The Book of Joshua (BETL 250), Leuven u. a. 2012, 433–471.

269

Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Das Hohelied der Liebe, Freiburg i. Br. 2015. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Martyrium der Gewaltlosigkeit. Gibt es ein „Makkabäer-Syndrom“?, in: Jan-Heiner Tück (Hg.), Sterben für Gott – Töten für Gott? Religion, Martyrium und Gewalt, Freiburg i. Br. 2015, 148–189. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Gott als Mutter?, in: IKaZ 44/1 (2015) 3–21. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Christlicher Glaube in einem säkularen Zeitalter, in: Thomas Möllenbeck / Ludger Schulte (Hg.), Spiritualität. Auf der Suche nach ihrem Ort in der Theologie, Münster 2017, 69–112. Schwienhorst-Schönberger, Vom Staatsvolk zum Gottesvolk. Alttestamentliche Perspektiven, in: Alexander Dietz / Jan Dochhorn / Axel Bernd Kunze / Ludger Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung des Staates in der Theologie, Leipzig 2020, 67–101. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Art. Land, in: Michel Fieger / Jutta Krispenz / Jörg Lanckau (Hg.), Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013, 299– 305. Stroumsa, Guy G., Das Ende des Opferkults. Die religiöse Mutation der Spätantike, Berlin 2012. Tauler, Johannes, Predigten. 2 Bände. Übertragen und herausgegeben von Georg Hofmann, Einführung von Alois M. Haas, Einsiedeln – Freiburg 42007. Taylor, Charles, A Secular Age, Cambridge – London, 2007 (Übersetzung: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2012). Tilly, Michael / Zwickel, Wolfgang, Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentum, Darmstadt 22015. Tück, Jan-Heiner (Hg.), Monotheismus unter Gewaltverdacht. Zum Gespräch mit Jan Assmann, Freiburg i. Br. 2015. Tück, Jan-Heiner (Hg.), Sterben für Gott – Töten für Gott? Religion, Martiyrium und Gewalt, Freiburg i. Br. 2015. Uehlinger, Christoph, Art. Götterbild, in: Manfred Görg / Bernhard Lang (Hg.), Neues Bibel-Lexikon. Bd. I, Zürich 1991, 871–892. Uehlinger, Christoph: siehe unter Keel, Othmar. Veyne, Paul, Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht, München 2011. Vieweger, Dieter, Geschichte der biblischen Welt. Die südliche Levante vom Beginn der Besiedlung bis zur römischen Zeit. 3 Bände, Gütersloh 2019. Voderholzer, Rudolf, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn. Der Beitrag Henri de Lubacs zur Erforschung von Geschichte und Systematik christlicher Bibelhermeneutik, Einsiedeln – Freiburg i. Br. 1998. Voderholzer, Rudolf, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013. Wacker, Marie-Theres / Zenger, Erich (Hg.), Der eine Gott und die Göttin. Gottesvorstellungen des biblischen Israel im Horizont feministischer Theologie (QD 135), Freiburg i. Br. 1991. Weinfeld, Moshe, Deuteronomy and the Deuteronomic School, Oxford 1972. Winkler, Heinrich August, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009. Wolke des Nichtwissens und Brief persönlicher Führung. Anleitung zur Meditation. Neu übertragen und herausgegeben von Willi Massa, Freiburg i. Br. 22003.

270

Zeilinger, Anton, Einsteins Spuk. Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik, München 92007. Zenger, Erich u. a., Einleitung in das Alte Testament. Neunte, aktualisierte Auflage herausgegeben von Christian Frevel, Stuttgart 2016.