Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Systematischer TheologieDas Apostolische Glaubensbekenntnis fasst in seinem erst
479 62 5MB
German Pages 600 [644] Year 2020
Table of contents :
Cover
Impressum
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Zur Einführung
Was sollen wir mit den Bekenntnissen der Kirche anfangen?
Eine kurze Einführung in das Credo-Projekt
Vom Werden des Apostolikums
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse im religionsgeschichtlichen Horizont
I. »Ich glaube an Gott Vater …«
Von urgründiger Liebe
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes im frühen Christentum
»Godfather«?
Das religiöse Vaterbild aus systematisch-theologischer Sicht
Reflexionen und Impulse zur Diskussion
Jan Quenstedt
Weiterführende Fragen
II. »… Allmächtigen …«
Von der Bosheit des Menschen
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das?
Reflexionen und Impulse zur Diskussion
Eike Christian Herzig
Weiterführende Fragen
III. »… Schöpfer Himmels und der Erden …«
Von Schöpfung und Naturprozessen
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung im Kontext der Schriften Israels und antiker jüdischer Literatur
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer
Reflexionen und Impulse zur Diskussion
IV. »Ich glaube an den Heiligen Geist …«
Von der Neuschöpfung des Menschen
Leben im Glauben – Leben im Geist
Biblisch-theologische Aspekte der Geistesgegenwart Gottes
Christliches Leben im Geist
Reflexionen und Impulse zur Diskussion
V. »… ein heilige christliche Kirche, die Gemeine der Heiligen …«
Von der Verkündigung der Wahrheit im Auftrag des Geistes
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist
Die Kirche – Sozialform versöhnten Lebens
Reflexionen und Impulse zur Diskussion
VI. »… Vergebung der Sünden …«
Von der Befreiung zum Leben
»Deine Sünden sind vergeben« (Lk 7,48)
Die Vergebung der Sünden im Neuen Testament unter besonderer Berücksichtigung des lukanischen Doppelwerks und des Matthäusevangeliums
Vergebung der Sünden – Befreiung zum Leben
Reflexionen und Impulse zur Diskussion
VII. »… Auferstehung des Fleisches, und ein ewiges Leben«
Vom Tod als Transitus
Physischer Tod, metaphorischer Tod und die lebenstransformierende Kraft Gottes
Der letzte Feind
Was die christliche Gemeinde vom Tode bekennt
Reflexionen und Impulse zur Diskussion
Zur Aktualität des Bekennens
Was wir glauben sollen
Reflexionen zum Gebrauch des Apostolikums
Biogramme der Autorinnen und Autoren
Stellenregister
Personenregister
Sachregister
utb 0000 5268
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld
Die Rede von Gott Vater und Gott Heiligem Geist als Glaubensaussage Der erste und der dritte Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik herausgegeben von Anne Käfer, Jörg Frey und Jens Herzer unter Mitarbeit von Eike Christian Herzig
Mohr Siebeck
Anne Käfer ist Professorin für Systematische Theologie und Direktorin des Seminars für Reformierte Theologie an der Universität Münster. Jörg Frey ist Professor für Neutestamentliche Wissenschaft mit Schwerpunkt Antikes Judentum und Hermeneutik an der Universität Zürich. Jens Herzer ist Professor für Neues Testament an der Universität Leipzig. Eike Christian Herzig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Reformierte Theologie und am Institut für ökumenische Theologie an der Westfälischen Universität Münster.
ISBN 978-3-8252-5268-7 (UTB Band 5268) Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www. utb-shop.de. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2020 Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von pagina in Tübingen gesetzt und von Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Coverabbildung: Retabel aus der Göttinger Barfüßerkirche, Detail: Die Apostel Petrus, Johannes und Jakobus d. Ä. von der ersten Wandlung, um 1424. Landesmuseum Hannover, Ursula Bonhorst. Printed in Germany.
Vorwort Das interdisziplinäre Gespräch über die Aussagen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, das wir 2015 in Leipzig begannen, haben wir 2018 auf einer Tagung in Münster fortgesetzt. Thema waren diesmal der erste und der dritte Artikel des Apostolikums. Renommierte Kolleginnen und Kollegen aus den bibelwissenschaftlichen Fächern, aus den Bereichen der Kirchengeschichte und der Systematischen Theologie haben sich überaus ertragreich dem Austausch gestellt. Engagierte Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler haben auf die im Band abgedruckten Paarvorträge respondiert und sie ausdrücklich aufeinander bezogen. Ihnen allen sei sehr herzlich für ihre Beiträge gedankt. Ein herzlicher Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Seminar für Reformierte Theologie (Münster), die zum Gelingen der Tagung beitrugen und die die Satzvorlage dieses Bandes sowie die Register erstellten. Insbesondere Herrn Eike Herzig, Herrn Bastian König, Frau Jana Neuenhöfer, Frau Johanna Baumann, Frau Victoria Lakebrink, Herrn Lennart Luhmann sowie auf Leipziger Seite Frau Sylvia Kolbe, Frau Nicole Oesterreich und Herrn Carlo Simon Christiansen danken wir sehr. Die Finanzierung der Tagung haben maßgeblich die Westfälische Wilhelms-Universität Münster sowie die Universität Zürich übernommen. Die Drucklegung wurde möglich durch finanzielle Unterstützung der Universität Zürich, der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Bei Frau Elena Müller, Rebekka Zech und Herrn Tobias Stäbler vom Verlag Mohr Siebeck bedanken wir uns für die professionelle und freundliche Zusammenarbeit. Münster, Leipzig, Zürich, Erntedank 2019 Anne Käfer Jens Herzer Jörg Frey
Inhaltsverzeichnis Vorwort ���������������������������������������� V Zur Einführung Jens Herzer Was sollen wir mit den Bekenntnissen der Kirche anfangen? �� 3 Eine kurze Einführung in das Credo-Projekt Peter Gemeinhardt Vom Werden des Apostolikums ���������������������� 15 Reinhard Achenbach Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse im religionsgeschichtlichen Horizont �������������������� 59 I. »Ich glaube an Gott Vater …«. Von urgründiger Liebe Christiane Zimmermann Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes im frühen Christentum ������������������������������ 89 Malte Dominik Krüger »Godfather«? ���������������������������������� 115 Das religiöse Vaterbild aus systematisch-theologischer Sicht Reflexionen und Impulse zur Diskussion �������������� 139 Jan Quenstedt Weiterführende Fragen ��������������������������� 151 II. »… Allmächtigen …«. Von der Bosheit des Menschen Markus Witte Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen. Fünf Thesen aus der Perspektive des Alten Testaments ������������������������������� 155
VIII Inhaltsverzeichnis Michael Moxter Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? ��������������������������������� 177 Reflexionen und Impulse zur Diskussion �������������� 195 Eike Christian Herzig Weiterführende Fragen ��������������������������� 207 III. »… Schöpfer Himmels und der Erden …«. Von Schöpfung und Naturprozessen Lutz Doering Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung im Kontext der Schriften Israels und antiker jüdischer Literatur ��������������������� 211 Christopher Zarnow Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer. Phänomenologische Annäherungen und theologische Deutungen ����������� 239 Christiane Nagel Reflexionen und Impulse zur Diskussion �������������� 267 IV. »Ich glaube an den Heiligen Geist …«. Von der Neuschöpfung des Menschen Jens Herzer Leben im Glauben – Leben im Geist ����������������� 283 Biblisch-theologische Aspekte der Geistesgegenwart Gottes Martin Laube Christliches Leben im Geist. Überlegungen zur Pneumatologie ������������������������������ 321 Nadine Ueberschaer Reflexionen und Impulse zur Diskussion �������������� 345
Inhaltsverzeichnis IX
V. »… ein heilige christliche Kirche, die Gemeine der Heiligen …«. Von der Verkündigung der Wahrheit im Auftrag des Geistes Markus Öhler Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist �������� 357 Hans-Peter Grosshans Die Kirche – Sozialform versöhnten Lebens ������������ 385 Carsten Baumgart Reflexionen und Impulse zur Diskussion �������������� 411 VI. »… Vergebung der Sünden …«. Von der Befreiung zum Leben Matthias Konradt »Deine Sünden sind vergeben« (Lk 7,48) �������������� 425 Die Vergebung der Sünden im Neuen Testament unter besonderer Berücksichtigung des lukanischen Doppelwerks und des Matthäusevangeliums Christine Schliesser Vergebung der Sünden – Befreiung zum Leben ���������� 455 Sabine Joy Ihben-Bahl Reflexionen und Impulse zur Diskussion �������������� 479 VII. »… Auferstehung des Fleisches, und ein ewiges Leben«. Vom Tod als Transitus Christina Hoegen-Rohls Physischer Tod, metaphorischer Tod und die lebenstransformierende Kraft Gottes. Befunde und Thesen zu Tod, Auferstehung und ewigem Leben im Neuen Testament ����������������������������� 495
X Inhaltsverzeichnis Henning Theissen Der letzte Feind �������������������������������� 523 Was die christliche Gemeinde vom Tode bekennt Michael R. Jost Reflexionen und Impulse zur Diskussion �������������� 537 Zur Aktualität des Bekennens Michael Beintker Was wir glauben sollen. Von der Zeitgemäßheit alter Bekenntnisse ����������������������������������� 551 Jörg Frey / Anne Käfer Reflexionen zum Gebrauch des Apostolikums ���������� 567 Biogramme der Autorinnen und Autoren ��������������� 579 Register Stellenregister ���������������������������������� 584 Personenregister �������������������������������� 613 Sachregister ����������������������������������� 627
Zur Einführung
Was sollen wir mit den Bekenntnissen der Kirche anfangen? Eine kurze Einführung in das Credo-Projekt Jens Herzer
Obwohl die ursprüngliche Idee eine andere war, machte der 2018 erschienene Band zum zweiten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses1 und vor allem die konkrete interdisziplinäre Arbeit auf der Tagung recht schnell deutlich, dass es dabei nicht bleiben kann. Nicht nur, dass die Interpretation des zweiten Artikels notwendig die Frage nach dem Zusammenhang mit dem ersten und dritten Artikel aufwirft und damit auch der Anspruch einer vollständigen Behandlung des Credos im Raum stand, wie sie nun mit den beiden Bänden in kompakter Weise vorliegt. Es war vielmehr auch der nachdrückliche Wunsch der Beteiligten nach einem fortgesetzten (und erweiterten) interdisziplinären Gespräch, der zur Konzeption einer Folgetagung führte, die in noch breiterem Umfang verschiedene theologische Disziplinen an dem Gespräch über eine der wichtigsten Bekenntnisgrundlagen der christlichen Tradition beteiligen sollte. Anfangs ging es eigentlich zunächst um die Frage nach der Bedeutung der Christologie und damit des spezifisch Christlichen des Gottesglaubens angesichts der Macht des faktischen religiösen Pluralismus in Europa und der Probleme einer Verhältnisbestimmung des christlichen Glaubens zu anderen religiösen Überzeugungen, die nicht nur selbst einen exklusiven Anspruch stellen, sondern dadurch auch in deutlicher Spannung, mitunter sogar in offener und gewalttätiger Feindschaft zum Christusglauben stehen. Umso wichtiger wird natürlich die trinitarische Form des Bekenntnisses, innerhalb derer der christologische Artikel eingebettet ist in das Bekenntnis zum allmächtigen Vater und Schöpfergott und das Bekenntnis zum Wirken des Heiligen Geistes. Dass diese beiden Artikel aufgrund ihrer über 1 Vgl. J. Herzer / A. Käfer / J. Frey (Hg.), Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik (UTB 4903), Tübingen 2018.
4 Jens Herzer das spezifisch Christliche hinausweisenden Dimension für den interreligiösen Dialog eine besondere Bedeutung haben, liegt auf der Hand. Gleichzeitig ist aber auch deutlich, dass unter den Voraussetzungen unserer Lebensbedingungen kaum eine der traditionellen Bekenntnisaussagen aus sich selbst heraus evident ist, auch nicht im Kontext eines ernsthaften christlichen Glaubensvollzuges. Angesichts der medialen Herausforderungen unserer Zeit und den damit verbundenen Veränderungen von Sprach-, Denk- und Diskursstrukturen ist es keineswegs selbstverständlich und gehört deshalb immer wieder zu den strittigen Aspekten des kirchlichen Lebens, wenn alte Bekenntnisse als verbindlicher Teil einer gottesdienstlichen Agende gesprochen werden sollen, deren Inhalte nicht mehr verstanden oder nicht mehr geglaubt werden.2 Hier bestehen deutliche Diskrepanzen zwischen einem scheinbar selbstverständlichen Evidenzbewusstsein in der verfassten Kirche und auch in der akademischen Theologie einerseits, die beide von der Beschäftigung mit diesen Fragen gewissermaßen leben, und dem ebenso realen Evidenzverlust andererseits, der selbst in den Gemeinden in Bezug auf das Verständnis von traditionellen Bekenntnisinhalten und rituellen Vollzügen unverkennbar ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso mehr geboten, diese Fragestellungen sowohl grundsätzlich als auch im Detail in Bezug auf die konkreten Bekenntnisaussagen zu thematisieren und diese respektvoll und sachbezogen, aber eben auch ohne Umschweife und ohne falsch verstandene Loyalität zu alten Traditionen zu problematisieren. Das ist nur in einem interdisziplinären Diskurs überhaupt möglich und sinnvoll. Dieser Diskurs soll so viele Disziplinen wie möglich einbeziehen, auch wenn dieses Ideal in der konkreten Pragmatik einer Tagungsplanung nicht immer befriedigend umgesetzt werden kann. Es bleiben stets Wünsche und Fragen offen, manche Bereiche können nicht bedient werden. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass mit Konferenzen wie denen in Leipzig 2015 und Münster 2018 ein Weg beschritten wird, der Mut und Lust macht, darauf weiter unterwegs zu bleiben. In der Struktur entspricht der vorliegende Band seinem Vorgänger. Die einzelnen Bekenntnisaussagen des ersten und dritten Artikels werden jeweils aus bibelwissenschaftlicher und systematisch-theo2 Vgl. dazu auch R. Leonhardt, Die Bedeutung von Bekenntnissen in Theologie und Kirche zwischen Anspruch der Tradition und aktuellen Herausforderungen, in: Herzer / Käfer / Frey, Die Rede von Jesus Christus (s. Anm. 1), 55 – 82.
Was sollen wir mit den Bekenntnissen der Kirche anfangen? 5
logischer Perspektive behandelt, wobei jeder Autor und jede Autorin natürlich frei war, innerhalb der thematischen Vorgaben ihre bzw. seine eigenen Akzente zu setzen. Doch gerade das macht die interdisziplinäre Lektüre so interessant, auch und vor allem dort, wo man scheinbar »nicht zusammenkommt«. Solche inhaltlichen Überhänge und Dissonanzen regen weiteres Gespräch und weitere Auseinandersetzung an. Zu diesem Zweck haben wir wieder Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen gebeten, jeweils ein Vortragspaar in einer substantiellen Response kritisch zu reflektieren und aufeinander zu beziehen. Diese Beiträge sind in ausgearbeiteter Form als »Reflexionen und Impulse zur Diskussion« in diesem Band beigefügt und bringen frischen theologischen Wind in die Debatte um die Inhalte des Bekenntnisses. Wir sind ausgesprochen dankbar für den akademischen Mut und die Bereitschaft unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sich damit gleichsam »in die Höhle des Löwen« zu begeben und selbstbewusst, engagiert und scharfsinnig ihre kritische Sicht vorzutragen. Eingeführt wird der Band durch zwei themenübergreifende Beiträge. Ebenso informativ wie kurzweilig beschreibt zunächst Peter Gemeinhardt das »Werden des Apostolikums« von den Anfängen des Bekenntnisses in der apostolischen Verkündigung, über die frührömischen Bekenntnisfragen und die Bekenntnisformeln der frühen Kirche bis hin zur Endgestalt des Apostolikums als »entfaltete Summe des Christusgeschehens« (22). Mit dieser spannenden Wegbeschreibung wird schnell deutlich, wie komplex und verzweigt die Geschichte des Credos im Kontext der Geschichte des Taufsakraments ist und wie problembehaftet der Versuch, sich davon ein angemessenes Bild zu machen. Entsprechend offen ist der aktuelle Diskurs darüber in der Forschung. Das Apostolikum wird konsequent als Zeugnis »am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter« (20) interpretiert und nicht als Ergebnis einer Dekadenzgeschichte verstanden, sondern gleichsam als »Konjunkturen des Apostolischen« (56). Vorformen dieses Bekenntnisses, insbesondere die des sog. »Romanum«, machen die regionale Vielfalt von konkurrierenden Bekenntnistraditionen deutlich, wobei das Attribut »apostolisch« keineswegs exklusiv für eine Überlieferung reserviert war. Erklärtes Ziel des Beitrages ist es aufzuzeigen, »was Dichtung und was Wahrheit des Apostolischen am Apostolikum ist« (23). Als zweiten Akkord des Auftaktes schlägt Reinhard Achenbach un ter dem Titel »Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse im religions-
6 Jens Herzer geschichtlichen Horizont« einen weiten und beeindruckenden Bogen in die Religionsgeschichte des Alten Orients. Er führt damit bereits in jenen Kontext hinein, der für den ersten Artikel über den Vaterund Schöpfergott von Bedeutung ist. Insbesondere Schöpfungsmythen erweisen sich in altorientalischen Texten als Bestandteile weisheitlicher Lehre durch »Erzählungen, die die Wirklichkeit erschließen, und die in einer für den Menschen transzendenten Erschlossenheit des Wirklichkeitsbezugs ihren Ursprung erkennen« (60) lassen. Der Gottesbegriff wird in diesen Erzählungen in seiner Bedeutung für die Erschließung von Wirklichkeit konkret in der Verehrung Gottes zur Geltung gebracht, die zugleich das Gottesbekenntnis einschließt und damit gemeinschaftsstiftende Kraft entfaltet. Exemplarisch wird dies anhand der Debatten um die Ursprünge des Jahwismus gezeigt, wobei Achenbach hervorhebt, dass bereits im Pentateuch selbst eine bemerkenswerte und komplexe Theorie über die »Geschichte der Gotteserkenntnis Israels (als) Teil einer universalen Erkenntnisgeschichte« (72) entwickelt wird. Die Auslegung des ersten Artikels eröffnet Christiane Zimmermann mit einem Beitrag über die Vater-Metaphorik als Ausdruck des Wesens Gottes. Sie zeichnet darin die biblischen Linien bis zu den apostolischen Vätern nach und legt dabei großen Wert auf die Tatsache, dass die christliche Vateranrede tief in der alttestamentlich-jüdischen Tradition verankert ist. Für die christliche Adaption sei wesentlich »die Verbindung von ekklesiologischer und christologisch-hoheitlicher Referenz der Vaterschaft Gottes« (96). Die Sohnschaft Christi korreliert mit der Kindschaft der Glaubenden, bezogen auf denselben Vater. Zugleich geht dies einher mit einer »kreatorisch-kosmologischen Referenz der Vater-Metapher« (99). Dadurch werde nicht zuletzt deutlich, warum im Apostolikum die Vateranrede an den Anfang gestellt wird. Aus systematisch-theologischer Perspektive beschreibt und erörtert Malte Krüger in Anknüpfung an den englischen Begriff des »Godfather« aus dem gleichnamigen Film von Francis F. Coppola die multiperspektivische Krise des religiösen Vaterbildes als Beispiel für die Notwendigkeit eines programmatischen Neuansatzes evangelischer Theologie. Insofern Religion »im menschlichen Bildvermögen und seiner Einbildungskraft fundiert« (125) sei und also als eine Projektion des Menschen zu gelten habe, stehen die Begriffe Imagination und Phantasie für eine neue »bildhermeneutische Theologie«, die kulturanthropologisch zu begründen sei (133).
Was sollen wir mit den Bekenntnissen der Kirche anfangen? 7
Das Attribut der Allmacht Gottes erschließt Markus Witte aus alttestamentlicher Sicht mit einem spezifischen Blick auf das Judentum der hellenistischen Zeit. Dessen theologische Perspektiven insbesondere auf das Wesen Gottes angesichts einschlägiger Krisenerfahrungen sind auch für das Neue Testament außerordentlich bedeutsam geworden. Dabei spielen Fragen nach der Herrschaft Gottes, seiner Gerechtigkeit und Güte eine besondere Rolle, insofern sich darin seine Allmacht in einer sehr konkreten Weise für den Glauben manifestiert. »Der Glaube an den Allmächtigen«, so die abschließende These, »ist Ausdruck eines monotheistischen, dynamischen und personalen und partizipatorischen Gottesverständnisses« (172). Die systematisch-theologische Herausforderung durch die Frage nach der Allmacht Gottes ist für Michael Moxter maßgeblich von politischer Natur: »Pointiert das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer die Einzigkeit seiner Herrschaft, so kann es zur Kritik bestimmter Herrschaftsformen ermuntern und eine Art Sperrklinkeneffekt für imperiale Selbstinszenierungen auslösen« (180). Zugleich müsse man sich aber auch der Gefahr eines solchen Gottesbildes, das von einer potentia absoluta bestimmt werde, bewusst sein. Es komme daher darauf an, wie bzw. wovon der Begriff von Macht verstanden wird. Mit dem schöpfungstheologischen Aspekt des ersten Artikels beschäftigen sich Lutz Doering und Christopher Zarnow. Lutz Doering kommt es in seiner detailreichen Studie insbesondere darauf an, das Bekenntnis zu Gott als Schöpfer anhand neutestamentlicher Schöpfungsaussagen im Kontext der alttestamentlich-jüdischen Tradition zu verstehen und »die kosmologischen, heilsgeschichtlichen, identitätspolitisch-sozialen, ethischen, christologischen und eschatologischen Implikationen des Bekenntnisses vor Augen« zu stellen (237). Christopher Zarnow geht von der Beobachtung aus, es genüge »nicht mehr, die Aufgabe der systematischen Theologie als kritische Reflexion positiv irgendwie gegebener Glaubensbestände zu bestimmen«. Vielmehr sei von der Dogmatik regelrecht »Aufbauarbeit am Symbol zu leisten«, um noch zeitgemäß sagen zu können, was es bedeutet (239). So schreitet Zarnow buchstäblich einen weiten und spannend beschriebenen Horizont ab, der von einer Bestandsaufnahme des »blauen Planeten« Erde in den Himmel und von dort mit neuen Perspektiven zurück zur Welt als Schöpfung und damit zur Erschließung des Symbolgehalts des Bekenntnisses zu Gott als Schöpfer Himmels und der Erden führt, der zugleich der das Geschöpf »persönlich angehende[.] Gott« ist (264).
8 Jens Herzer Auch der dritte Artikel des Apostolikums birgt seine eigenen Herausforderungen. Dass damit, wie der Untertitel des dritten Hauptteils aussagt, im Kern »Von der Neuschöpfung des Menschen« die Rede sein muss, gibt bereits einen wichtigen zu entfaltenden Grundgedanken dieses Artikels wieder. Ein Unterschied zum ersten und zweiten Credoartikel besteht darin, dass die erste Bekenntniszeile über den »Glauben an den Heiligen Geist« nicht ohne Weiteres durch die anderen Aussagen des Artikels entfaltet wird. Diese stehen zunächst syntaktisch in einem offeneren, komplementären Verhältnis zur Aussage über den Glauben an den Geist. Gleichzeitig sind natürlich Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben konkreter Ausdruck des schöpferischen Wirkens des Geistes Gottes. In einem ersten Diskursgang erörtert mein eigener Beitrag zunächst das Verhältnis von Glauben und Geist, und zwar unter der Maßgabe, dass die Rede vom Heiligen Geist stets unter den Bedingungen menschlicher Existenz und menschlicher Erfahrung geschieht und daher die anthropologische Frage nach dem Selbst und dem Bewusstsein des Menschen zentral ist. Die neutestamentliche Überlieferung wird auf diese Aspekte hin vorgestellt und interpretiert und ein personhaftes Verständnis des Geistes im Sinne der klassischen Trinitätslehre kritisch hinterfragt. Das Ziel ist eine Antwort auf die Frage, was konkret vom neutestamentlichen Befund her mit dem »Glauben an den Heiligen Geist« bekannt wird. In systematisch-theologischer Hinsicht stellt Martin Laube sehr grundsätzliche Überlegungen zur Pneumatologie zur Diskussion. Er geht dabei von der Feststellung aus, dass die Lehre vom Heiligen Geist ein »ungelöstes Dauerproblem der Dogmatik« darstelle (322). Eine forschungsgeschichtliche Orientierung erhellt diese Problematik und mündet in bemerkenswerte Anregungen unter den Aspekten der Sozialität, der Medialität und der Kreativität des Geistes. Gerade im Blick auf seine Wirkungen im religiösen Kommunikations- und Sinnbildungsprozess des Glaubens erweise sich der Geist als »das geschichtliche Traditionsprinzip des Christentums« (344). Für die ekklesiologische Aussage des dritten Artikels erläutert Markus Öhler facettenreich die neutestamentlichen Zeugnisse für das Verständnis der Gemeinde als ecclesia und zugleich als »Gemeinschaft der Heiligen«. Dies geschieht unter der Maßgabe, dass der Geist das bestimmende Moment des dritten Artikels sei. Der Fokus liegt auf der paulinischen Ekklesiologie, wobei dem Epheserbrief in mancher
Was sollen wir mit den Bekenntnissen der Kirche anfangen? 9
Hinsicht eine Sonderstellung zukommt. Doch auch die Linien anderer Traditionsbereiche des Neuen Testaments werden anschaulich ausgezogen. Hans-Peter Großhans fragt – von reformatorischer Ekklesiologie speziell lutherischer Prägung ausgehend – sehr grundsätzlich, was die Kirche sei. Wichtig ist ihm dabei vor allem die Frage nach der Katholizität und Heiligkeit der Kirche als Leib Christi, die er »im Geheimnis Jesu Christi, in Jesus Christus als dem Sakrament« begründet sieht (392). Besonders interessant erscheint die These, dass die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen »ihre Heiligkeit in einem dreifachen Diakonat« unter den Aspekten der Wahrheit, der Liebe und der Hoffnung realisiere (393). Freiheit sei die besondere Ambition und Herausforderung der sich evangelisch nennenden Kirche, die der Wahrheit des Evangeliums verpflichtet sei. Matthias Konradt behandelt das »weite Feld« der Vorstellung von der Vergebung der Sünden, zweifellos ein zentrales Thema neutestamentlicher Theologie insgesamt, wie es die kurze und eher unscheinbare Zeile im Bekenntnis kaum anzudeuten vermag. Konradt konzentriert sich auf das lukanische Doppelwerk und das Matthäusevangelium (allerdings nicht ohne einen informativen und erhellenden Blick auf die übrige neutestamentliche Überlieferung zu werfen), die jeweils unterschiedliche Konzeptionen bieten, wobei sich hier in je besonderer Weise ekklesiologische und ethische Dimensionen verbinden. Lukas habe die Vergebung der Sünden zum Leitmotiv seines Doppelwerkes in Bezug auf das Wirken Jesu, der Apostel und des Geistes gemacht. Auch bei Matthäus ist dieses Motiv programmatisches »Zentrum der Sendung Jesu« (450, mit U. Luz), aber er fasst es doch mit seiner spezifischen Verankerung der Sündenvergebung im Kontext der Gemeinde anders als Lukas. Einen besonderen Blick auf den dogmatischen Topos der Sündenvergebung wirft Christine Schliesser. Ausgehend von der ekklesiologischen Verankerung im Glaubensbekenntnis als Taufbekenntnis und unter Voraussetzung von CA VII geht es ihr neben begrifflicher Klärung (etwa in der Unterscheidung von Sünde und Schuld) und theologischer Durchdringung vor allem um die empirische Bewährung dessen, was Vergebung der Sünden bedeutet. Sündenvergebung sei in der Lebenswirklichkeit zu verorten; vorgeführt und »auf die Spitze getrieben« (455) wird dies an einem ebenso bemerkenswerten wie erschütternden Fallbeispiel der jüngeren Geschichte Ruandas nach dem Völkermord der Hutu an den Tutsi und der schwierigen Frage nach Möglichkeiten von Vergebung und Versöhnung.
10 Jens Herzer Die eschatologische Aussage des Credos »Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben« erörtern Christina Hoegen-Rohls und Henning Theißen. Nach einer informativen Problematisierung begrifflicher Aspekte, die sich aus den sprachlichen Veränderungen des Credos in seiner neueren Fassung ergeben, erschließt und interpretiert Christina Hoegen-Rohls auf profunde Weise die komplexen neutestamentlichen Befunde zum Thema »Tod« sowie zu den Topoi »Auferstehung des Fleisches« und »ewiges Leben«. Ihr geht es dabei insbesondere um eine Problematisierung und Differenzierung der Vorstellung vom Tod als Transitus aus biblischer Perspektive sowie um die Frage, wie sich die Aussage von der Auferstehung und ewigem Leben im Kontext des dritten Artikels verankern lassen. Besonderes Gewicht liegt dabei auf der johanneischen Vorstellung vom »ewigen Leben«. Aus dogmatischer Sicht legt Henning Theißen dar, »(w)as die christliche Gemeinde vom Tode bekennt«. Theißen nimmt einen Faden des exegetischen Beitrags auf und geht von der provozierenden These aus, dass der Tod kein Transitus sei. »Wäre er es, so wäre […] die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten vergeblich« (523 f.). Vielmehr sei in Bezug auf den Tod systematisch einzuholen, dass dieser nach 1 Kor 15,26 als »letzter Feind« und damit als »Siegel unserer Endlichkeit« (523) verstanden werde. Theißen versteht es, in einer geradezu spannend zu lesenden Darstellung biblische Befunde mit dem dogmatisch notwendig zu Denkenden so zu verbinden, dass nicht nur ein plausibles Verstehen der eschatologischen Aussagen des Credos möglich wird, sondern auch die existentielle Einsicht, dass es tatsächlich Hoffnung geben kann. Eine grundlegende systematisch-theologische Reflexion von Michael Beintker unter dem Thema »Was wir glauben sollen. Von der Zeitgemäßheit alter Bekenntnisse« schließt die thematischen Beiträge des Bandes ab. Angesichts der Erfahrung, dass Bekenntnistraditionen in der Praxis des Glaubens eine durchaus ambivalente Rolle spielen, bietet Beintker damit eine wichtige Richtungsweisung für den Umgang mit Bekenntnissen. Zugespitzt und mit einem Augenzwinkern formuliert er: »In den christlichen Kirchen glauben wenige viel und viele wenig« (553). Doch das »Was« des Glaubens stehe stets unter der Maßgabe, »Wem« geglaubt werden könne im Sinne eines Vertrauensaktes, der »das Zentrum und die tragende Achse des Glaubens« sei (555). Von hier aus erschließe sich konsequent die Bedeutung der expliziten Glaubenssätze des Bekenntnisses. Zugleich macht Beintker deutlich, wie sehr Glaube und Theologie in unserer Zeit herausge-
Was sollen wir mit den Bekenntnissen der Kirche anfangen? 11
fordert sind, die alten und allzu dichten Formulierungen mit dem anzureichern, was als theologisch in einer konkret zeitbezogen Weise geboten ist und zugleich als Bekenntnisinhalt intersubjektiv – im Sinne der communio sanctorum – diskutabel bleiben muss. Dies gilt auch und gerade im Hinblick auf »bestimmte Unverträglichkeiten mit den Aussagen des Glaubensbekenntnisses, vor denen man nicht einfach die Augen verschließen darf« (563). Am Schluss des Bandes nehmen Anne Käfer und Jörg Frey diese von Beintker aufgeworfene Problematik in der Sache auf und blicken aus der Perspektive der Herausgeber noch einmal zurück auf das Gesamtprojekt. Mit einem exemplarischen und sehr anschaulichen Bezug auf eine recht komplexe Bekenntnissituation im Schweizer Kontext thematisiert Jörg Frey die Schwierigkeiten, mit denen sich Menschen heute im konkreten Umgang mit dem Bekenntnis konfrontiert sehen. Er stellt dabei die Verantwortung der Kirchen und ihrer ordinierten Theologinnen und Theologen heraus, mit »hermeneutischem Sachverstand« dazu beizutragen, dass das Bekenntnis in seiner für den Glauben integrativen Funktion vor dem Hintergrund gegenwärtiger Wirklichkeitserfahrung und -deutung verstehbar werde und darin die Freiheit des Evangeliums zur Geltung komme. Anne Käfer unterlegt diesen »Nutzen des Apostolikums« für das Glaubensleben mit systematischen Überlegungen unter der Perspektive des Taufgeschehens als einer Sünde und Tod überwindenden Wirklichkeit, die das Leben der Glaubenden nachhaltig bestimmen soll. Daher ist das Apostolikum gerade als Taufbekenntnis3 auf die Verkündigung des Evangeliums als interpretierendes Geschehen angewiesen und kann – eingebunden in dieses Interpretationsgeschehen – zu einer Lektüre biblischer Texte anleiten, »die das Evangelium nicht mit lebensbeschränkenden Forderungen verwechselt, sondern als befreiend erlebt« (578). Auch wenn in den beiden Konferenzen nicht alle denkbaren Aspekte behandelt werden konnten, so liegt nun mit den beiden »Credo-Bänden« eine durchaus ambitionierte, facettenreiche und vor allem konsequent interdisziplinäre Gesamtdeutung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses vor, das wohl schon aufgrund seines verbreiteten Gebrauchs das bekannteste und wichtigste Bekenntnis der Kirche sein dürfte. Die beiden Bände bringen sehr unterschiedliche Perspektiven auf die einzelnen Topoi miteinander in ein mitunter 3
Vgl. dazu den Beitrag von Peter Gemeinhardt in diesem Band.
12 Jens Herzer recht kontroverses Gespräch und ermöglichen hoffentlich in einer breiten Rezeption eine neue Weise der Annäherung an alte Inhalte. Das gilt auch und wohl vor allem für diejenigen, die als Studierende der Theologie auf ihrem Weg ins Pfarramt auf die Bekenntnisse der Kirche ordiniert oder als Religionslehrerinnen und Religionslehrer mit der Vocatio durch die Landeskirchen doch zumindest auf diese Bekenntnisse vor ihrem Gewissen verpflichtet werden. Wer, wenn nicht sie, müsste sprachfähig werden, um darüber in den jeweiligen Berufsfeldern zeitgemäß Auskunft geben zu können! Und zwar so, dass Menschen in den Bekenntnissen nicht (nur) verstaubte Inhalte sehen, die man eben irgendwie glauben müsse, um Christ oder Christin sein zu können. Vielmehr geht es darum zu entdecken, welchen weiten Raum des Glaubens und des theologischen Denkens Bekenntnisse eröffnen, welche Möglichkeiten und Ermutigungen, den je eigenen Glauben zu formulieren und bewusst mit dem »Glauben der Alten« in einen kritischen und innovativen Dialog zu bringen. Die von Anne Käfer und Jörg Frey formulierten und jedem thematischen Teil vorangestellten Leittexte sowie die sich an die Themenbeiträge anschließenden Fragen zu weiterführender theologischer Arbeit sollen insbesondere Studierenden der Theologie Anregungen geben, den Weg eigener Entdeckungen mit dem Bekenntnis zu beschreiten. Schließen möchte ich mit einer persönlichen Bemerkung. Als ich selbst mich vor mehr als dreißig Jahren auf das erste theologische Examen vorbereitete, ist mir ein Satz aus einer Vorlesung zu den lutherischen Bekenntnisschriften besonders in Erinnerung geblieben, dessen Bedeutung mir zwar zunächst verschlossen blieb, der aber für mein theologisches Arbeiten wie für meine Glaubensweise dann zunehmend wichtig geworden ist: Bekenntnisse seien dazu da, sich selbst überflüssig zu machen.4 In jemandem, der »Theologie durch-
4 Vgl. dazu E. Jüngel, Bekenntnis und Bekennen (1968), in: ders., Ganz werden. Theologische Erörterungen V, Tübingen 2003, 76 – 88, 88: »Bekenntnisse sind also kein Besitz für immer. Sie sind für die jeweilige Zeit und gehören zum täglichen Brot. Sie sind dem wahr machenden Worte Gottes folgsame menschliche Worte, die nichts anderes wollen können, als andere menschliche Worte zu derselben Folgsamkeit gegenüber dem Worte Gottes zu ermuntern und zu verpflichten. Sie sind also gerade im Gebrauch dazu da, sich selber überflüssig zu machen. Aber eben dazu sind sie da. Und je besser ein Bekenntnis sich selbst überflüssig und Gottes wahr machendes Wort allein notwendig macht, desto bleibender ist seine Bedeutung.«
Was sollen wir mit den Bekenntnissen der Kirche anfangen? 13
aus studiert, mit heißem Bemühn«5, regt sich natürlich sofort der Widerspruch: Bekenntnisse sind doch schließlich die Grundlage des Glaubens und der Kirche, auf die man ordiniert wird und damit eine bleibende Verbindlichkeit erlangen. Warum um alles in der Welt sollten sie sich selbst überflüssig machen? Vielleicht helfen ja die Beiträge der beiden »Credo-Bände«, gerade diese Dimension des Bekenntnisses zu entdecken und sie als Herausforderung anzunehmen. In seinem Beitrag zu diesem Band spricht Michael Beintker etwas ganz Ähnliches an, wenn er im Hinblick auf Theologinnen und Theologen von der lebenslangen Aufgabe des Glaubens spricht, nämlich zu lernen, was es mit dem Bekenntnis und den darin formulierten Verheißungen auf sich hat: »Die Beschäftigung mit dem Glaubensbekenntnis ist nicht das Privileg von Theologinnen und Theologen, aber gerade Theologinnen und Theologen sollten sich auf diesen lebenslangen Lernprozess einstellen. Weil sie durch ihr Studium und ihre Profession über gewisse Erkenntnisvorsprünge verfügen und ihnen beachtliche Theoriestrategien zur Verfügung stehen, können sie schneller übersehen, dass auch sie Lernende bleiben und mit dem Entdecken und Verstehenwollen nicht aufhören dürfen« (566). Ehe die Lektüre der Beiträge begonnen wird, sei noch auf vier Abkürzungen hingewiesen, die vielleicht nicht allen Lesenden so geläufig sind wie den Autorinnen und Autoren. Diese verweisen vielfach auf Artikel aus den beiden großen theologischen Lexika TRE (Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977 – 2004) und RGG (Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1998 – 2007). Die Abkürzungen BSLK und BSELK weisen auf zwei unterschiedliche Ausgaben der lutherischen Bekenntnisschriften hin, die beide in Göttingen erschienen. Die ältere Edition trägt den Titel »Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche« (BSLK) und stammt aus dem Jahr 1930. 2014 wurde eine vollständige Neuedition unter dem Titel »Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche« (BSELK; hg. v. I. Dingel) publiziert.
5 J. W. von Goethe, Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil, hg. v. K.-M. Guth, Berlin 2015, 16. Aus hier nicht zu erörternden Gründen setzt Goethe in diesem berühmten Text des Gelehrten Faust bekanntlich ein »und leider auch« vor die Theologie, das hier bewusst nicht mit zitiert wird, weil das Theologiestudium natürlich alles andere als eine bedauerliche Veranstaltung ist, sondern eines der interessantesten und anregendsten studiorum, die man sich vorstellen kann.
Vom Werden des Apostolikums Peter Gemeinhardt
1. Die apostolische Schöpfung des Credos – Dichtung und Wahrheit Das Faltblatt mit dem Programm der Tagung, auf der dieser Text vorgetragen wurde, zeigte einige der zwölf Apostel mit Büchern, auf deren Seiten einzelne Zeilen des Apostolikums zu lesen sind. Die Bilder stammen von einem 1424 geschaffenen Altar aus der Kirche des Barfüßerklosters in Göttingen.1 Zwar steht die Kirche seit fast zweihundert Jahren nicht mehr, der Altar befindet sich im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover. Er leitet aber die hier zu verfolgende Fragestellung auf kongeniale Weise ein: Setzt er doch eine, ja die Vorstellung des abendländischen Mittelalters vom Werden des Apostolikums ins Bild. Und dieses beginnt, wie mancher vielleicht überrascht zur Kenntnis nehmen wird, mit dem Pfingstwunder: »Danach ›kehrten‹ die Jünger des Herrn ›nach Jerusalem zurück‹ und ›hielten einmütig fest am Gebet‹ (Apg 1,12.14) bis zum zehnten Tag, welcher Pfingsten ist und der Fünfzigste genannt wird, einem Sonntag; und an diesem Tag zur dritten Stunde ›geschah plötzlich vom Himmel ein Geräusch wie das eines gewaltigen herbeikommenden Windes und erfüllte das ganze Haus, in dem‹ die Apostel ›saßen. Und es erschienen unter ihnen zerteilte Zungen wie von Feuer, und dieses saß auf jedem einzelnen von ihnen, und alle wurden sie erfüllt vom Heiligen Geist und begannen in anderen Zungen zu sprechen, wie ihnen der Heilige Geist zu reden eingab‹ (Apg 2,2 – 4), und sie stellten ein Symbol zusammen, nämlich dieses: Petrus sagte: ›Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde.‹ – Johannes: ›Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn.‹ – Jakobus: ›Empfangen aus dem Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria.‹ – Andreas: ›Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben.‹ – Philippus sagte: ›Er stieg hi1 Zur Entstehungsgeschichte und zum Bildprogramm des Altars vgl. C.P. Warncke, Der sogenannte Barfüßer-Altar, in: T. Noll / C.-P. Warncke (Hg.), Kunst und Frömmigkeit in Göttingen. Die Altarbilder des späten Mittelalters, München 2012, 109 – 119 mit Tafel 20 – 34 (114 – 116). Die Apostel sind auf der »zweiten Wandlung« dargestellt, d. h. der Festtagsseite, die nur zu besonderen Anlässen sichtbar gemacht wurde, vermutlich zum Weihefest der Franziskaner am Tag vor Trinitatis und dann in der ganzen Trinitatisoktav (a. a. O., 116). Farbabbildungen der vier Flügel finden sich im selben Band auf den Tafeln 26 – 29. S. auch die Abbildung auf der folgenden Seite.
16 Peter Gemeinhardt
Vom Werden des Apostolikums 17 nab in die Unterwelt.‹ – Thomas: ›Am dritten Tage erstand er von den Toten auf.‹ – Bartholomäus: ›Er stieg hinauf zum Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters.‹ – Matthäus: ›Von dort wird er kommen, um die Lebenden und die Toten zu richten.‹ – Wiederum Jakobus, (Sohn) des Alphäus: ›Ich glaube an den Heiligen Geist.‹ – Simon Zelotes: ›Die heilige katholische Kirche.‹ – Judas, (Sohn) des Jakobus: ›die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünden.‹ – Ebenso Thomas: ›die Auferstehung des Fleisches, das ewige Leben. Amen.‹ «2
Wie unschwer zu erkennen ist, tritt in dieser Erzählung das Apostolikum an die Stelle, die in der Apostelgeschichte die Pfingstpredigt des Petrus (Apg 2,14 – 36) einnimmt. Statt eines individuellen folgt ein kollektiver Sprechakt: Nicht einer spricht für alle, vielmehr sind alle Apostel namentlich und mit einem jeweils präzise benannten Beitrag an der Verkündigung des Evangeliums beteiligt. Genauer gesagt nehmen sie teil an der Verfertigung des »Symbols«, d. h. des »Leitfadens« oder der »Richtschnur« für diese Verkündigung, das zugleich auch als 2 Pirmin von Reichenau, Scarapsus 10 (MGH.QG 25, 30,4 – 33,3 Hauswald = Kinzig II, § 376): »Tunc ipsi discipuli domini ›reversi sunt Hierusolimam‹, et ›erant perseverantes unanimiter in oratione‹ usque ad decimum diem, quod est pentecosten et dicitur quinquagesimus, dies dominicus; et in ipsa die, hora tertia, ›factus est repente de caelo sonus tanquam advenientis spiritus vehementis et implevit totam domum, ubi erant sedentes‹ apostoli. ›Et apparuerant illis dispertitae linguae tamquam ignis, sedetque super singulos eorum, [et] repleti sunt omnes spiritum sanctum et coeperunt loqui aliis linguis, prout spiritus sanctus dabat eloqui illis‹ et composuerunt symbolum, hoc est: Petrus dixit: Credo in deum, patrem omnipotentem, creatorem caeli et terrae. Iohannes [ait]: Et in Iesum Christum, filium eius unicum, dominum nostrum. Iacobus [dixit]: Qui conceptus est de spiritu sancto, natus ex Maria virgine. Andreas [ait]: Passus sub Pontio Pilato, crucifixus, mortuus et sepultus. Filippus dixit: Descendit ad inferna. Thomas [ait]: Tertia die resurrexit a mortuis. Bartholomaeus [dixit]: Ascendit ad caelos; sedit ad dexteram dei, patris omnipotentis. Matheus [ait]: Inde venturus iudicare vivos et mortuos. Item Iacobus Alfei [dixit]: Credo in spiritum sanctum. Simon Zelothis [ait]: Sanctam ecclesiam catholicam. Iudas Iacobi [dixit]: Sanctorum communionem, remissionem peccatorum. Item Thomas [ait]: Carnis resurrectionem, vitam aeternam. Amen.« – Ich notiere hier und im Folgenden neben der jeweils verwendeten Edition auch (wo es um der Auffindbarkeit willen sinnvoll ist) die Nummer in der Clavis Patrum Latinorum (CPL) sowie in allen Fällen den Band und Paragraphen in der Ausgabe von W. Kinzig (ed./trans.), Faith in Formulae. A Collection of Early Christian Creeds and Creed-related Texts, 4 vols. (OECT), Oxford 2017, wo zu jedem Text ggf. weitere Editionen sowie relevante Untersuchungen verzeichnet sind – dies kann und muss hier nicht wiederholt werden. Die Abkürzungen der patristischen Quellenschriften folgen dem Lexikon der antiken christlichen Literatur, hg. v. S. Döpp / W. Geerlings, Freiburg i. Br. u. a. 32002.
18 Peter Gemeinhardt »Passwort« verstanden werden konnte, das den Taufbewerbern den Weg zum Empfang des Sakraments eröffnet – wir kommen auf diese Praxis weiter unten zu sprechen. Hier sei zunächst festgehalten: Das Apostolikum, wie wir es bis heute kennen und im Gottesdienst der evangelischen und katholischen Kirchen gebrauchen, ist ein Gemeinschaftswerk aller zwölf Apostel. Wirklich aller? Wer genau hinsieht, bemerkt, dass einer, nämlich Thomas, zwei Redebeiträge liefert. Es treten also nur elf Sprecher auf, obwohl doch dem Narrativ der Apostelgeschichte zufolge ein neuer zwölfter Apostel, Matthias, bereits vor dem Pfingstereignis ausgelost worden war (Apg 1,15 – 26) und sich an der geistbewegten Formulierung des Symbols hätte beteiligen können, ja sollen. Hat der Verfasser der Erzählung diesen Ergänzungsspieler übersehen oder bewusst übergangen? Oder gibt es einen inhaltlichen Grund dafür, dass ausgerechnet Thomas eine so prominente Rolle einnimmt? Schon Ferdinand Kattenbusch vermutete, Pirmin lege nicht zufällig beide Erwähnungen der resurrectio – die bereits erfolgte Christi und die noch erwartete der Gläubigen – dem Auferstehungszweifler Thomas in den Mund.3 Das ist eine ansprechende Vermutung, die freilich in der Quelle keinen ausdrücklichen Anhalt findet. Auch wenn man andere mittelalterliche Texte einbezieht, in denen eine solche zwölfteilige Formulierung des Apostolikums zu finden ist, wird die Sache nicht eindeutiger: Manche gewähren ebenfalls Thomas einen doppelten Auftritt, andere nicht; dort kommt, wie zu erwarten wäre, Matthias zu Wort. Darüber hinaus lässt sich die jeweilige Reihenfolge der apostolischen Wortmeldungen nur in einigen Fällen auf die im Neuen Testament bezeugten (schon hier voneinander abweichenden) Apostellisten (Mt 10,1 – 4 parr Mk 3,13 – 19 und Lk 6,12 – 16; Apg 1,13 f.26) zurückführen; andere Texte, so auch der eingangs erwähnte Göttinger Barfüßeraltar, ordnen die Redebeiträge der Apostel ohne erkennbaren biblischen Bezug an.4 Halten wir also als ein weiteres 3 F. Kattenbusch, Das Apostolische Symbol. Seine Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche Stellung im Kultus und in der Theologie der Kirche. Ein Beitrag zur Symbolik und Dogmengeschichte, Bd. 2: Verbreitung und Bedeutung des Taufsymbols, Leipzig 1900 (ND Hildesheim 1962), 770. 4 Die Anordnung der Apostel ist in den ältesten Zeugen für die Legende durchaus unterschiedlich. Auf Apg 1,13 f. – aber noch ohne Matthias, stattdessen mit einer zweiten Wortmeldung des Thomas – geht neben Pirmins Text auch das Bekenntnis in der Collectio Gallica Vetus (Kinzig II, § 373) zurück. Der Liste in Mt 10,1 – 4 mit der aus Apg 1,26 entnommenen Ergänzung von
Vom Werden des Apostolikums 19
vorläufiges Ergebnis fest: »Die« Geschichte von »der« gemeinsamen Formulierung des Glaubensbekenntnisses für die individuell zu leistende, aber kollektiv zu verantwortende Mission gibt es nicht. Dieser Befund lässt sich generalisieren: »Das« Werden »des« Apostolikums, von dem dieser Beitrag handeln soll, ist nicht mit knappen und eindeutigen Strichen zu beschreiben. Denn das Apostolikum war über Jahrhunderte im Werden. Der oben zitierte Text stammt von Pirmin, der im späten Merowingerreich das Kloster Hornbach am Rande der Vogesen gründete und dort bis zu seinem Tod 753 wirkte. Pirmins Scarapsus gilt oft als erster Zeuge für das Apostolikum, genauer: für dessen textus receptus, also für denjenigen Text, der als »Normtext« für die abendländischen Kirchen gelten kann, insofern er im Ordo Romanus aus dem Jahr 1568 und in den 1580 kodifizierten lutherischen Bekenntnisschriften zu finden ist.5 Das trifft cum grano salis auch zu, wenn man über einige marginale Abweichungen hinwegsieht6 und wenn man die Frage der möglichen Priorität anderer Kandidaten mangels eindeutiger Indizien für eine Entscheidung auf sich beruhen lässt: Praktisch buchstabenidentische Textfassungen finden wir in einem ohne Kontext überlieferten Text des Credos, in einem Sakramentar aus der sogenannten Collectio Gallica Vetus (dazu sogleich) Matthias folgen z. B. ein anonymer Traktat über die Trinität (CPL 1762; Kinzig II, § 364; dazu s. u.) sowie zwei Bekenntnisse, die in Cod. Sangall. 40 und Cod. Paris, BNF 2796 überliefert sind (Kinzig II, § 379a und b). Apg 1,13 f. mit Matthias wird im Missale von Bobbio und in Ps.-Augustin, serm. 241 (Kinzig II, § 375 und 386) rezipiert, während Ps.-Augustin, serm. 240 (Kinzig II, § 383) zwar Matthias, ansonsten aber eine leicht veränderte Anordnung aufweist. Den Befund hat, wenn ich recht sehe, bisher nur Kattenbusch, Das Apostolische Symbol, Bd. 2 (s. Anm. 3), 769 – 772, diskutiert. 5 Melchior Hittorp, De divinis catholicae Ecclesiae officiis et ministeriis, Köln 1568, 73; BSELK 42 f. Das Kürzel »T« für den »Textus receptus« geht auf F. Kattenbusch, Das Apostolische Symbol. Seine Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche Stellung im Kultus und in der Theologie der Kirche. Ein Beitrag zur Symbolik und Dogmengeschichte, Bd. 1: Die Grundgestalt des Taufsymbols, Leipzig 1894 (ND Hildesheim 1962), 189 zurück, ebenso die Sigle »R« für das »altrömische Symbol« (»Romanum«; a. a. O., 60). In Ermangelung eines treffenderen Begriffs (und im Wissen darum, dass in der neutestamentlichen Textforschung ebenfalls lange von einem »Textus receptus« gesprochen wurde, der mit einem Glaubensbekenntnis natürlich überhaupt nichts zu tun hat) verwende ich die eingeführte Sigle »T« für den seit dem 9. Jahrhundert unifizierten Text des Apostolikums. 6 In den neuzeitlichen Ausgaben von T steht sedet statt sedit, est hinter venturus und et nach carnis resurrectionem, anders als bei Pirmin und den im Folgenden genannten ältesten Textzeugen.
20 Peter Gemeinhardt und in zwei pseudaugustinischen Predigten, von denen eine sogar auf das 6. Jahrhundert zurückgehen mag.7 Wie dem auch sei: »Der« Text »des« Apostolikums ist erst am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter bezeugt, und er war nur einer von zahlreichen Texten, die unter dem Label »apostolisch« kursierten. So hat der Textbestand des Bekenntnisses, das wir bis heute als »Apostolisches Glaubensbekenntnis« liturgisch verwenden, zwar ein stolzes Alter von immerhin über 1200 Jahren, aber er reicht in keinem Fall volle 2000 Jahre, also in die Zeit der Apostel, zurück – und, wie wir sehen werden, auch nicht in die Zeit der Apostelschüler oder -enkel. Die bisherigen Bemerkungen sollten deutlich gemacht haben, dass die Frage nach dem »Werden des Apostolikums« von der Existenz einzelner Textzeugen ausgehen muss, die teils unmittelbar durch die handschriftliche Überlieferung, teils in indirekter Bezeugung in späteren literarischen oder liturgischen Kontexten zugänglich sind. Wir müssen also beachten, was in welcher Zeit und in welchem geographischen Raum »wurde« und wo sich Ähnlichkeiten, ja Konvergenzen ergeben. Um bei den bisher genannten Texten zu bleiben: Diese werden in der Forschung übereinstimmend in Gallien verortet; daher kam Pirmin, und dort entstand auch das bereits erwähnte, in der Collectio Gallica Vetus erhaltene Sakramentar, in das vielleicht schon in der Mitte des 7. Jahrhunderts der Textus receptus des Apostolikums eingefügt wurde. Auch hier spricht nicht Matthias, sondern Thomas den letzten Satz.8 John N. D. Kelly hat vor fast einem halben Jahrhundert mit Blick auf das mehrfache frühe Auftreten dieses Textes die These vertreten, dass das Apostolikum in seiner später universal gültigen Form im Laufe des 7. Jahrhunderts in Südwestgallien entstanden sei; im Zuge der Reformmaßnahmen in der Zeit Karls des Großen sei es im Frankenreich als Taufbekenntnis quasi kanonisiert und im 10. Jahrhundert auf fränkischen Druck dann auch – »endlich!«, so
7 Anonymus, Symbolum Apostolorum (CPL 1758; s. VII – VIII; Kinzig II, § 280); Ps.-Augustin, serm. 242,2 (s. VI – VII; Kinzig II, § 276c); Ps.-Augustin, serm. 240,1 (s. VIII; Kinzig II, § 383). Im zuletzt genannten Text wird jeder Satz des Apostolikums sogleich vom selben apostolischen Redner kurz ausgelegt. 8 H. Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich. Die Collectio Vetus Gallica, die älteste systematische Kanonessammlung des fränkischen Gallien. Studien und Edition (BGQMA 1), Berlin u. a. 1975, 359,60 – 360,70 (= Kinzig II, § 373; ca. 650 – 700).
Vom Werden des Apostolikums 21
mag man zwischen den Zeilen lesen – in Rom übernommen worden.9 Ob der Überlieferungsbefund eine so eindeutige Lokalisierung zulässt, ist allerdings fraglich. Es bieten sich auch andere Kandidaten an: Den ersten Text, der der später normativen Fassung erkennbar ähnelt und der in der Forschung klassischerweise als »Romanum« bezeichnet wird, findet man schon im 4. Jahrhundert, allerdings ausgerechnet in einem im Jahr 341 nach Rom gerichteten Brief und obendrein in griechischer Sprache. Ob mit dieser Schrift etwas Neues nach Rom kam oder im Gegenteil etwas Römisches durch einen in Rom um Hilfe nachsuchenden Kleinasiaten zitiert wurde, ist Thema einer angeregten Forschungskontroverse in jüngerer Zeit und wird unten eingehender diskutiert werden. In den Jahrhunderten zwischen diesem ersten Auftreten des Romanums und der textlichen Stabilisierung des Apostolikums bieten die Quellen eine regionale Vielfalt von mehr oder weniger voneinander abweichenden Texten des Glaubensbekenntnisses, das den Aposteln zugeschrieben wird. Liuwe Westra hat vorgeschlagen, diese Varianten als konkrete regionale »Typen« zu verstehen.10 Das erklärt manches, aber nicht alles. Mögen auch, wie schon Kelly betonte, die Zeugen für den späteren Textus receptus überwiegend aus Gallien stammen, so trifft dies für den ersten bekannten Zeugen der Zuweisung einzelner Sätze an die Zwölf nicht zu: Es handelt sich um eine anonyme Schrift aus dem 5. oder 6. Jahrhundert, die weder in Rom noch in Gallien, sondern in Norditalien entstand. Unter dem Titel »Über den Glauben an die Trinität, auf welche Weise man ihn auslegt«11 beginnt dieser Text mit einer Einleitung, die wörtlich mit den ersten Sätzen des Athanasianums übereinstimmt,12 lässt dann das »apostolische« Credo folgen und schließt mit einer Reflexion der Tri9 J. N. D. Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen 31972 (ND 1993), 411.418.423. Kattenbusch, Symbol, Bd. 2 (s. Anm. 3), 790 – 794, plädiert vorsichtig für einen burgundischen Ursprung. 10 Zuerst formuliert in L. H. Westra, A Never Tested Hypothesis: Regional Variants of the Apostles’ Creed, in: Bijdr. 56 (1995), 369 – 386; Bijdr. 57 (1996), 62 – 82, ausgearbeitet dann in seiner grundlegenden Untersuchung (L. H. Westra, The Apostles’ Creed. Origin, History, and Some Early Commentaries [IPM 43], Turnhout 2002). 11 Anonymus, De fide trinitatis quomodo exponitur (CPL 1762); A. E. Burn, Neue Texte zur Geschichte des apostolischen Symbols, in: ZKG 21 (1901), 128 – 137; Westra, Apostles’ Creed (s. Anm. 10), 522 f. = Kinzig II, § 364); zur zeitlichen und räumlichen Verortung vgl. a. a. O., 387 – 392. 12 Zu diesem Bekenntnis (Kinzig III, § 434a) vgl. V. H. Drecoll, Das
22 Peter Gemeinhardt nität, die stark an das Nizäno-Konstantinopolitanum erinnert und in knapper Form das entfaltet, was man als lateinischen Neunizänismus bezeichnen kann.13 Diese Zusammenstellung erinnert an das Nebenund Miteinander der tria symbola Apostolikum, Athanasianum und Nizänum in den lutherischen Bekenntnisschriften, nur dass hier alle drei Zugänge zum Glauben in einen textlichen Zusammenhang gebracht werden. Für das frühe Mittelalter ergibt sich damit ein wichtiger Hinweis: Auf unterschiedliche Weise entstandene Texte werden zusammen gelesen und ergeben ein de facto nicht spannungsfreies, aber offenbar als kohärent wahrgenommenes Ensemble, und zwar insgesamt mit apostolischer Autorisierung. Wir müssen also nicht nur zwischen verschiedenen Textvarianten und -formen des werdenden Apostolikums unterscheiden, sondern auch die Einbettung dieser Texte in ihre Kontexte bedenken, denn ein apostolisches Pedigrée wurde offensichtlich auch weiteren Texten zugeschrieben. Damit dürften hinreichend Warnschilder aufgestellt sein, um endlich in medias res gehen zu können. Im Folgenden will ich dem Werden des Apostolikums in drei Schritten nachspüren: Ein erster Gang führt uns vom apostolischen Kerygma zur Entstehung als apostolisch deklarierter Glaubensbekenntnisse (Abschnitt 2.). Sodann kommen frühe Formen des späteren »Apostolikums«, insbesondere das jüngst wieder diskutierte »Romanum« in den Blick; es ist dabei zu fragen, ab wann wir mit welchen Gattungen rechnen können und wo »Römisches« und »Apostolisches« zusammenfinden (Abschnitt 3.). Schließlich muss untersucht werden, was dem Glaubensbekenntnis vom frühchristlichen Kerygma bis zum »fertigen« Apostolikum an Glaubensgehalten zugewachsen ist – das ist vor allem eine entfaltete Summe des Christusgeschehens, aber auch die communio sanctorum (Abschnitt 4.). Ich stütze mich bei alledem auf neuere Forschungen zu den Glaubensbekenntnissen aus dem zurückliegenden Vierteljahrhundert, insbesondere aber auf die 2017 erschienene, umfassende Quellensammlung »Faith in Formulae« von Wolfram Kinzig und auf dessen Symbolum Quicumque als Kompilation augustinischer Tradition, in: ZAC 11 (2007), 30 – 56. 13 C. Markschies, Was ist lateinischer »Neunizänismus«? Ein Vorschlag für eine Antwort, in: ZAC 1 (1997), 73 – 95; wieder in: ders., Alta Trinità Beata. Gesammelte Studien zur altkirchlichen Trinitätstheologie, Tübingen 2000, 238 – 264; P. Gemeinhardt, Lateinischer Neunizänismus bei Augustin, in: ZKG 110 (1999), 149 – 169.
Vom Werden des Apostolikums 23
weitere Arbeiten, denen nicht nur die Erschließung und Einordnung bisher unbeachteten Materials, sondern auch neue Erkenntnisse und Hypothesen zum Thema zu verdanken sind.14 Doch stellt gerade die erwähnte Quellensammlung die Komplexität der Überlieferungs- und Interpretationsgeschichte vor Augen und macht en passant deutlich: Über das Apostolikum und seine zahlreichen Verwandten ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es kann naturgemäß auch im begrenzten Rahmen dieses Beitrags nicht gesprochen werden. Was Dichtung und was Wahrheit des Apostolischen am Apostolikum ist, hoffe ich freilich aufzeigen zu können; damit den Rahmen für die weiteren Beiträge im vorliegenden Band abzustecken, ist das Ziel meines Beitrags, weshalb dessen Einsichten in der Schlussbemerkung (5.) noch einmal pointiert zusammengefasst werden.15
2. Vom apostolischen Kerygma zu apostolischen Glaubensbekenntnissen 2.1. Das eine Symbolum und die vielen Apostel Die Vorstellung, die auf dem Göttinger Barfüßeraltar dokumentiert ist, dass die zwölf Apostel je einen Satz zum authentischen Bekenntnis des christlichen Glaubens beisteuerten, begegnet – wie gesagt – erst am Ausgang der Spätantike. Der Gedanke einer gemeinsamen Verantwortung der Apostel für den von ihnen zu verkündigenden Glauben und seine Formulierung ist jedoch erheblich älter. Das Missionsnarrativ der Apostelgeschichte wurde seit dem 2. Jahrhundert 14
Kinzig, Faith (s. Anm. 2). Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte seit der bahnbrechenden, freilich in vielerlei Hinsicht überholten Untersuchung von Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9) ist nicht intendiert. Eine solche bietet, allerdings auf die Verteidigung der eigenen Position zum »markellischen« Ursprung des Romanums (s. u.) ausgerichtet und insofern in teilweise apologetischem Duktus, M. Vinzent, Der Ursprung des Apostolikums im Urteil der kritischen Forschung (FKDG 89), Göttingen 2006. Ebenso bleiben moderne systematisch-theologische Auslegungen des Credos (etwa von Karl Barth oder Wolfhart Pannenberg) außer Betracht, da historische Fragestellungen in diesen Publikationen keine Rolle spielen. Der seltene Fall einer symbolgeschichtlich informierten theologischen Interpretation der einzelnen Artikel des Apostolikums für ein heutiges (US-amerikanisches) Publikum ist mit P. Ashwin-Siejkowski, The Apostles’ Creed. The Apostles’ Creed and Its Early Christian Context, London u. a. 2009 gegeben. 15
24 Peter Gemeinhardt einerseits im Blick auf das individuelle Geschick der ersten Jünger Jesu fortgeschrieben – das Ergebnis ist das Corpus der sogenannten apokryphen Apostelakten.16 Doch gilt schon dem 1. Clemensbrief (verfasst um das Jahr 100 n. Chr.) auch die kollektive Tätigkeit der Apostel als fundamental für die Ausbreitung des Evangeliums: »(Die Apostel) wurden durch die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus mit Gewißheit erfüllt und durch das Wort Gottes in Treue gefestigt, zogen dann mit der Fülle des Heiligen Geistes aus und verkündeten die frohe Botschaft vom Kommen des Gottesreichs.«17
Ein Dreivierteljahrhundert später stellt Irenaeus von Lyon († nach 190 n. Chr.) fest, die christliche Wahrheit sei nirgendwo anders als in der Kirche zu finden, »denn die Apostel haben in ihr wie in einem großen Vorratsraum alles in größter Vollständigkeit zusammengetragen, was zur Wahrheit gehört, so daß jeder, der will, aus ihr den Trunk des Lebens nehmen kann (vgl. Offb 22,17).«18 Tertullian († nach 215) beschreibt, wie Christus seine zwölf Jünger als »Lehrer für die Heiden bestimmte«,19 und postuliert (wie bereits Irenaeus), dass die rechte christliche Lehre in den von den Aposteln selbst gegründeten Gemeinden zu finden sei, da die Wahrheit das sei, »was die Gemeinden von den Aposteln, die Apostel von Christus, Christus von Gott empfingen.«20 Wir beobachten hier jenen Prozess der Formierung kirchlicher Identität, den Georg Kretschmar vor dreißig 16 Aus der reichen Literatur vgl. insbesondere die konzise Einführung von H.-J. Klauck, Apokryphe Apostelakten, Stuttgart 2005. Die Texte sind zugänglich in W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61997. 17 1 Clem 42,3 (FC 15, 166,11 – 19 Schneider = Kinzig II, § 348): πληροφορηθέντες διὰ τῆς ἀναστάσεως τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ πιστωθέντες ἐν τῷ λόγῳ τοῦ θεοῦ μετὰ πλροφορίας πνεύματος ἁγίου ἐξῆλθον εὐαγγελιζόμενοι τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ μέλλειν ἔρχεσθαι. Übers. a. a. O., 167. 18 Irenaeus von Lyon, haer. 3,4,1 (FC 8 / 3, 38,7 – 9 Brox = Kinzig II, § 349b): »cum apostoli quasi in depositorium dives plenissime in eam contulerint omnia quae sint veritatis, uti omnes quicumque velit sumat ex ea potum vitae.« Übers. a. a. O., 39. 19 Tertullian, praescr. 20,2 (FC 42, 266,10 f. Schleyer = Kinzig II, § 350b1): »destinatos nationibus magistros«. Vgl. auch Tertullian, adv. Marc. 2,2,1 (FC 63 / 3, 502,15 f. Lukas): Die unmittelbaren und späteren Schüler der Apostel würden sich vergebens bemühen, »si non adsistat illi auctoritas magistrorum, immo Christi, quae magistros apostolos fecit«. 20 Tertullian, praescr. 21,4 (FC 42, 268,19 f. Schleyer = Kinzig I, § 111b3): »quod ecclesiae ab apostolis, apostoli a Christo, Christus a Deo accepit«. Übers. a. a. O., 269.
Vom Werden des Apostolikums 25
Jahren treffend als »Sammlung um das apostolische Evangelium« bezeichnet hat,21 den man in moderner Diktion aber auch als Institutionalisierung beschreiben könnte, als Entwicklung von Formen und Medien der Gewährleistung von Dauerhaftigkeit im Wandel.22 In einer Phase der Herausbildung trennscharfer Unterscheidungen von »Orthodoxie« und »Häresie« – was voraussetzt, dass solche Differenzbestimmungen material und kategorial eben noch nicht fixiert waren – diente die Berufung auf »das Apostolische« als Kriterium,23 und zwar gerade nicht aufgrund der individuellen, sondern der kollektiven Verkündigung der Apostel. Die rechten Jünger Jesu konnten in Bezug auf den ihnen von Christus anvertrauten Glauben auf keinen Fall uneins gewesen sein! Die Frage ist nun, in welcher Form der apostolische Glaube zugänglich war, den die Apostel den Gemeinden hinterlassen hatten. Für spätere Generationen galt diese Frage längst als geklärt. Ambrosius von Mailand († 397) leitete seine Explanatio Symboli ad initiandos, eine Darlegung des bei der Taufe zu bekennenden Glaubens, die um 390 geschrieben wurde, mit einer Bezugnahme auf die Gestalt dieses Glaubens ein: »Die heiligen Apostel kamen also zusammen und verfertigten eine kurze Zusammenfassung des Glaubens, damit wir in knapper Form die folgerichtige Anordnung des ganzen Glaubens erfassen sollen. Kürze tut nämlich not, damit dieser stets im Gedächtnis und in lebhafter Erinnerung gehalten werden möge.«24
21 G. Kretschmar, Die »Selbstdefinition« der Kirche im 2. Jahrhundert als Sammlung um das apostolische Evangelium, in: J. Schreiner / K. Wittstadt (Hg.), Communio Sanctorum. Einheit der Christen – Einheit der Kirche (Festschrift P.-W. Scheele), Würzburg 1988, 105 – 131. 22 Zur Rede von Institutionen und Institutionalisierungen im Blick auf das spätantike Christentum vgl. P. Gemeinhardt, Was ist Kirche in der Spätantike? Einheit und Vielfalt – Anspruch und Wirklichkeit, in: ders. (Hg.), Was ist Kirche in der Spätantike? (SPA 14), Leuven 2017, 1 – 34 (24 – 28), mit Bezug zu gegenwärtigen Entwürfen der Kirchentheorie sowie ders., »Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen«. Institutionen religiöser Bildung in interdisziplinärer Perspektive, in: ders./I. Tanaseanu-Döbler (Hg.), »Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen«. Institutionen religiöser Bildung in historischer Perspektive (SERAPHIM 1), Tübingen 2018, 1 – 24 (5 – 13), im Gespräch mit soziologischer und historiographischer Theoriebildung. 23 Vgl. zu diesem Phänomen auch Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 13. 24 Ambrosius, expl. symb. 2 (CSEL 73, 3,9 – 4,12 Faller = Kinzig II, § 351a): »Sancti ergo apostoli in unum convenientes breviarium fidei fece-
26 Peter Gemeinhardt Wenige Zeilen später spricht Ambrosius ausdrücklich von einem symbolum – einem »Erkennungszeichen« für Christen, mit dem die Katechumenen, an die er seine Predigt richtete, vertraut gemacht werden sollten.25 Zutreffend leitet Ambrosius den Begriff symbolum aus dem Griechischen ab, bestimmt seine Bedeutung im Lateinischen aber irrigerweise als collatio, dessen Etymologie nicht zu σύμβολον, sondern zu συμβολή führt.26 Auch Rufin von Aquileia († 411 / 12) referiert die fälschliche Ableitung, bietet daneben als Alternative jedoch die zutreffenden Synonyme indicium und signum.27 Der Begriff symbolum, den später auch Pirmin verwendet, begegnet im Christentum seit Tertullian, jedoch erst seit dem späten 4. Jahrhundert mit Bezug auf einen fixierten Text.28 So definiert der jüngere Zeitgenosse des Ambrosius, Niketas von Remesiana († ca. 414), symbolum wie folgt: »Ein symbolum ist ein Medium der Erinnerung an den Glauben und ein heiliges Bekenntnis, welches gemeinschaftlich von allen gehalten und gelernt wird.«29
Hier und ebenso bei etwa zeitgleich wirkenden Theologen wie Rufin oder Augustin († 430), aber schon bei Ambrosius sind die symbola, die Katechumenen erklärt werden, Glaubensbekenntnisse im Sinne feststehender Texte, die dem uns bekannten Apostolikum mehr oder weniger ähneln. Auf die Textgestalt(en) kommen wir noch zu sprechen. Hier sei zunächst darauf hingewiesen, dass die Autorisierung durch alle Apostel, die schon im frühen Christentum zu beobachten ist, bei Ambrosius noch durch die Präzisierung als zwölf Apostel erweitert wird: »Da es nun also zwölf Apostel sind, gibt es auch zwölf einzelne Sätze«30 – die dann auch zitiert werden, aber ohne sie in dierunt, ut breviter fidei totius seriem conpraehendamus. Brevitas necessaria est, ut semper memoria et recordatione teneatur.« 25 Ambrosius, expl. symb. 2 (CSEL 73, 3,2 – 6 Faller = Kinzig I, § 15a1). 26 So Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 59. 27 Rufin, symb. 2 (CChr.SL 20, 134,15 – 19 Simonetti = Kinzig I, § 18). 28 Zur Begriffsgeschichte vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 57 – 65; zahlreiche Quellentexte bei Kinzig I, §§ 8 – 80. 29 Niketas von Remesiana, instr. 2 frg. 5 (A. E. Burn [ed.], Niceta of Remesiana: His Life and Works, Cambridge 1905, 8,15 – 17 = Kinzig I, § 14): »Symbolum est commonitorium fidei et sancta confessio, quae communiter ab omnibus tenetur et discitur.« 30 Ambrosius, expl. symb. 8 (CSEL 73, 10,1 f. Faller = Kinzig I, § 15a2 =): »Ergo quemadmodum duodecim apostoli, et duodecim sententiae.« Vgl. Leo I., ep. 4b(31) an Kaiserin Pulcheria (12,80 – 84 Silva-Tarouca = ACO II 4, 14,30 – 15,2 Schwartz = Kinzig II, § 360a): »siquidem ipsa catholici symboli brevis et perfecta confessio, quae XII apostolorum totidem est signata sen-
Vom Werden des Apostolikums 27
sem Text ausdrücklich mit Namen zu verbinden. Umgekehrt zählen die zwischen 375 und 400 n. Chr. in Antiochien aus teils viel älterem Material kompilierten Apostolischen Konstitutionen namentlich alle zwölf Apostel (nach Mt 10,1 – 4 und Apg 1,26) auf, referieren aber ohne eine konkrete Aufteilung in Bekenntnissätze »die katholische Lehre als Stütze für euch, denen die Aufsicht über die ganze (Kirche) anvertraut ist.«31 Eine ähnliche Transformation ist im 4. Jahrhundert in frühchristlichen Kirchenordnungen zu verzeichnen: So wurden Textteile aus der um 100 n. Chr. verfassten Didache in mindestens zwei Fällen auf elf (!) Apostel aufgeteilt.32 Es lag offensichtlich nahe, auch das dem Apostelkollektiv zugeschriebene symbolum des Glaubens zu (re-)individualisieren.
2.2. Der eine Glaube und die Vielgestalt von Credotexten Daneben ist noch eine weitere Autorisierungsstrategie in der lateinischsprachigen Christenheit zu erkennen: der Bezug auf die Kirche von Rom. Ambrosius stellt diesen Bezug dort her, wo er über die Unveränderlichkeit des symbolum spricht: So wie die Johannesapokalypse verbietet, ihrem Text etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen (Offb 22,18 f.), »wie sollten wir das Bekenntnis, das wir als überliefert und erstellt von den Aposteln empfangen haben, besudeln?« Das sei ferne! Denn, so Ambrosius weiter, »das ist das Bekenntnis, das die römische Kirche bewahrt, wo der erste unter den Aposteln, Petrus, saß und die (allen) gemeinsame Äußerung übermittelte.«33 In einem Brief tentiis, tam instructa sit munitione caelesti, ut omnes haereticorum opiniones solo ipsius possint gladio detruncari.« 31 Const. App. 6,14,1 (SC 329, 338,8 – 10 Metzger = Kinzig I, § 182b): ἐγράψαμεν ὑμῖν τὴν καθολικὴν ταύτην διδασκαλίαν εἱς ἐπιστηρισμὸν ὑμῶν τῶν τὴν καθόλου ἐπισκοπὴν πεπιστευμένων. 32 In der sog. Apostolischen Kirchenordnung (can. IV – XIV) ist der Zwei-Wege-Traktat aus Did 1,1 – 4,8.13 (ohne die sectio evangelica und am Ende ergänzt aus Barn 21,2.4.6 und 19,11; Text: Th. Schermann, Die allgemeine Kirchenordnung, frühchristliche Liturgien und kirchliche Überlieferung, Bd. 1: Die allgemeine Kirchenordnung des zweiten Jahrhunderts [SGKA.E 3,1], Paderborn 1914, 15 – 23) aufgenommen, ebenso in deren Epitome (Kap. 1 – 11; Text: Th. Schermann, Eine Elfapostelmoral oder die X-Rezension der »beiden Wege« [VKHSM II,2], München 1903, 16 – 18). Vgl. K. Niederwimmer, Die Didache (KAV 1), Göttingen 1989, 51 – 54. 33 Ambrosius, expl. symb. 7 (CSEL 73, 10,14 – 16 Faller = Kinzig I, § 15a2): »Si unius apostoli scripturis nihil est detrahendum, nihil addendum, quemadmodum nos symbolum, quod accepimus ab apostolis traditum atque
28 Peter Gemeinhardt an Siricius von Rom erwähnt Ambrosius um 390 ausdrücklich »das apostolische Glaubensbekenntnis, welches die römische Kirche stets unbefleckt hütet und bewahrt.«34 Rom als »petrinischer« Bischofssitz ist demnach der Ort, wo die normative Formulierung des Glaubens zwar nicht produziert, aber zuverlässig tradiert wird. Woran man das sachlich festmachte, verdeutlicht Rufin in seinem um 404 verfassten Kommentar zum Symbolum, nämlich an dessen in Rom bewahrter Unversehrtheit: »In verschiedenen Kirchen finden sich einige Zusätze zum Wortlaut (des Bekenntnisses der Apostel). In der römischen Kirche jedoch nicht, ein Umstand, den ich daher ableite, dass keine einzige Irrlehre dort ihren Ursprung genommen hat; zudem, weil dort die alte Sitte besteht, dass diejenigen, welche das Sakrament der Taufe empfangen wollen, öffentlich, d. h. in Gegenwart des gläubigen Volkes das Symbolum laut hersagen; die Beifügung aber auch nur eines einzigen Wortes hören zu müssen, hätten die, welche schon früher den Glauben angenommen, nicht ertragen. An andern Orten aber – soweit ich sehe – scheinen in Rücksicht auf gewisse Häretiker einige Zusätze gemacht worden zu sein und zwar solche, durch welche man den Sinn einer neuen Lehre gänzlich auszuschließen glaubte. Wir indes werden jenem Wortlaut folgen, den wir in der Kirche von Aquileia bei der Taufe empfangen haben.«35
Rom ist – so könnte man pointiert sagen – der Ort, an dem Orthodoxie durch Orthopraxie bewahrt wird, nämlich durch die richtige Praxis des Umgangs mit dem rechten Glauben. Die Berechtigung dieses Anspruchs mag hier auf sich beruhen; die Berufung auf das »von den Aposteln überlieferte Glaubensbekenntnis« wird jedenfalls im 5. Jahrhundert bei römischen Päpsten zur stehenden Redewencompositum, conmaculabimus? […] Hoc autem est symbolum, quod Romana ecclesia tenet, ubi primus apostolorum Petrus sedit et communem sententiam eo detulit.« 34 Ambrosius, ep. extr. coll. 15 (CSEL 82, 305,53 – 55 Zelzer = Kinzig II, § 351b): »credatur symbolo apostolorum, quod ecclesia Romana intemeratum semper custodit et servat.« 35 Rufin, symb. 3 (CChr.SL 20, 135,4 – 136,17 Simonetti): »Verum priusquam incipiam de ipsis sermonum uirtutibus disputare, illud non inportune commonendum puto, quod in diuersis ecclesiis aliqua in his uerbis inueniuntur adiecta. In ecclesia tamen urbis romae hoc non deprehenditur factum: pro eo arbitror quod neque haeresis ulla illic sumpsit exordium, et mos inibi seruatur antiquus, eos qui gratiam baptismi suscepturi sunt, publice, id est fidelium populo audiente symbolum reddere; et utique adiectionem unius saltim sermonis eorum, qui praecesserunt in fide, non admittit auditus. In ceteris autem locis, quantum intellegi datur, propter nonnullos haereticos addita quaedam uidentur, per quae nouellae doctrinae sensus crederetur excludi. Nos tamen illum ordinem sequemur, quem in aquileiensi ecclesia per lauacri gratiam suscepimus.« Übers. angelehnt an H. Brüll, BKV1 13, 23 f.
Vom Werden des Apostolikums 29
dung. Wichtiger ist im vorliegenden Zusammenhang, dass Rufin ausdrücklich auf den Umstand hinweist, dass das eine Bekenntnis der Apostel je vor Ort in unterschiedlichen Textfassungen existiert, sodass zwar – knapp gesagt – der Glaube der Römer vorbildlich sein mochte, der Text es aber nicht ohne Weiteres war. Das macht ein Vergleich zwischen den aus Rufins Kommentar zu rekonstruierenden, in Aquileia bzw. Rom in Gebrauch befindlichen Texten des Credos deutlich:37 36
Credo von Aquileia (A)
Romanum (R)
Credo in deo, patre omnipotente, invisibile et impassibile, et in Iesu Christo, unico filio eius, domino nostro, qui natus est de spiritu sancto ex Maria virgine, crucifixus sub Pontio Pilato et sepultus, descendit in inferna; tertia die resurrexit; ascendit in caelos; sedet ad dexteram patris; inde venturus iudicare vivos et mortuos; et in spiritu sancto, sanctam ecclesiam, remissionem peccatorum, carnis resurrectionem.
Credo in deo, patre omnipotente, et in Iesu Christo, unico filio eius, domino nostro, qui natus est de spiritu sancto ex Maria virgine, crucifixus sub Pontio Pilato et sepultus, tertia die resurrexit; ascendit in caelos; sedet ad dexteram patris; inde venturus iudicare vivos et mortuos; et in spiritu sancto, sanctam ecclesiam, remissionem peccatorum, carnis resurrectionem.
Die Abweichungen sind nicht sehr zahlreich, aber inhaltlich signifikant, so insbesondere der Hinabstieg in die Unterwelt. Rufins eigener Erklärung zufolge müsste in Aquileia eine diesbezügliche Häresie vorgelegen haben, auf die mit der Einfügung des Halbsatzes descendit in inferna geantwortet worden wäre. Für die hier verfolgte Fragestellung ist weniger wichtig, inwiefern dies zutrifft – Rufin selbst »konnte nicht viel Licht über die Interpolation der Klausel verbreiten«38 – , 36 Vgl. Coelestin I., ep. ad Nestorium 8; Sixtus III., ep. ad Cyrillum 3 (FC 58 / 3, 760,17 f.; 890,8 f. Sieben); dazu Westra, Apostles’ Creed (s. Anm. 10), 35 Anm. 59. 37 Beide Texte werden von Rufin nicht im Zusammenhang zitiert, können jedoch aus seiner Expositio symboli rekonstruiert werden (hier zitiert nach Kinzig II, § 254b); vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 105. 38 Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 372. Der descensus begegnet als Bestandteil eines Glaubensbekenntnisses interessanterweise nicht zuerst im Westen, wo er später als Bestandteil von lateinischen Credotexten Karriere machen sollte, sondern in einem griechischen homöischen Text aus dem Osten,
30 Peter Gemeinhardt sondern was daraus für die Herausbildung des Textes des Apostolikums zu lernen ist. Das führt uns zur Frage, wie sich apostolischer Glaube und apostolisches Glaubensbekenntnis zueinander verhalten, konkret: was es zu bedeuten hat, dass das Credo von Aquileia dem Apostolikum textlich tatsächlich nähersteht als das Romanum – und zu welchem Zeitpunkt wir letzteres überhaupt als Vergleichsgröße nachweisen können.
3. Vom »markellischen« Romanum (zurück) zu den frührömischen Tauffragen 3.1. Markell von Ankyra als Urheber des Romanums? Eine rezente Debatte Rufin ist einer der ältesten Zeugen für das Romanum, und er ist zudem der erste, der die Vielfalt der Bekenntnisse in der westlichen Kirche ausdrücklich reflektiert.39 In der zitierten Passage nimmt er dem sogenannten »datierten Bekenntnis« bzw. der »4. Sirmischen Formel« (359): σταυρωθέντα καὶ ἀποθανόντα καὶ εἰς τὰ καταχθόνια κατελθόντα καὶ τὰ ἐκεῖσε οἰκονομήσαντα, ὃν πυλωροὶ ᾅδου ἰδόντες ἔφριξαν (Hiob 38,17[LXX]); zit. in Athanasius, De synodis 8,5 (AW II, 235,33 – 236,2 Opitz = AW III / 4, Dok. 57.2,4; 422,25 – 28 Brennecke u. a. = Kinzig I, § 157). Vgl. R. Gounelle, La descente du Christ aux enfers: Institutionnalisation d’une croyance (CEAug.A 162), Paris 2000, 278 – 283. Fast identische Formulierungen, teilweise mit demselben Hiob-Zitat, finden sich zeitnah in zwei weiteren homöischen Bekenntnissen (bzw. »theologischen Erklärungen«, so die Herausgeber der neuesten Edition) aus dem Jahr 359: Das eine stammt von einer Synode in Nike – zitiert in Theodoret von Kyros, Historia ecclesiastica II 21,4 (GCS N. F. 5, 145,15 f. Parmentier / Hansen = AW III / 4, Dok. 59.9; 472,24 – 26 Brennecke u. a. = Kinzig II, § 159): ἀποθανόντα καὶ ταφέντα καὶ εἰς τὰ καταχθόνια κατελθόντα, ὃν αὐτὸς ὁ ᾅδης ἐτρόμασε – , das andere von einer Synode in Konstantinopel; zitiert in Athanasius, De synodis 30,5 (AW II, 259,5 f. Opitz = AW III / 4, Dok. 62.5; 551,14 – 17 Brennecke u. a. = Kinzig II, § 160): ἀποθανόντα καὶ ταφέντα καὶ εἰς τὰ καταχθόνια κατεληλυθέναι, ὅντινα καὶ αὐτὸς ὁ ᾅδης ἔπτηξεν. Das zuletzt genannte Bekenntnis trat für zwanzig Jahre als Reichsdogma an die Stelle des Nizänums. 39 Keine der beiden Formeln wird in der Expositio symboli im Zusammenhang zitiert; sie müssen daher aus im Text verstreuten Zitaten rekonstruiert werden (eine Synopse bietet Kinzig II, § 254b). Im 4. Jahrhundert gilt das aber auch für andere Formeln, so etwa für die viel beachteten Taufkatechesen des Kyrill von Jerusalem, aus denen das den Vorträgen zugrundeliegende Bekenntnis mit großer Sicherheit entnommen werden kann (Kinzig I, § 147), wobei aber einige Sätze ungenannt bleiben, die postuliert werden können, da sie in den Taufkatechesen der Sache nach vorausgesetzt sind.
Vom Werden des Apostolikums 31
darüber hinaus Bezug auf die Riten der traditio und redditio symboli: Vor der Taufe, entweder noch im Zusammenhang des katechetischen Unterrichts oder bereits während des liturgischen Ritus, mussten die Täuflinge das Bekenntnis »zurückgeben«, d. h. auswendig rezitieren, das ihnen der Bischof oder Katechet zuvor »übergeben«, nämlich vorgesprochen und ausgelegt hatte.40 Um das Jahr 400 war das in Aquileia, Rom, Mailand und Hippo ein fest etablierter Usus. Diese Praxis verband sich mit der »Arkandisziplin«, mit der rein mündlichen Weitergabe des Glaubens, damit dieser nicht von unberufenen Ohren mitgehört und dadurch profaniert würde. Schon vor den ersten ausdrücklichen Zeugnissen aus dem Westen des Reiches ist dieser Brauch auch in Jerusalem nachzuweisen: Dort bezeugt die Pilgerin Egeria für die 380er Jahre die traditio und redditio symboli,41 ebenso Bischof Kyrill († 387) in seinen 351 gehaltenen Tauf- und den vermutlich späteren Mystagogischen Katechesen.42 Um die Mitte des 4. Jahrhunderts ist aber auch in Rom bereits der Ritus und damit die Verwendung eines Glaubensbekenntnisses nachweisbar, sofern man der allerdings erst um 400 verfassten Darstellung in Augustins Confessiones in dieser Hinsicht Glauben schenken darf: »(Das Glaubensbekenntnis) pflegt von denen, die (als Täuflinge) hintreten zu deiner Gnade, in Rom in festgesetztem Wortlaut, der dem Gedächtnis eingeprägt worden ist, von erhöhtem Ort im Angesicht des Volkes abgelegt zu werden.«43
Welcher Text wurde bei diesem öffentlichen Akt verwendet? Augustin selbst bietet keine eingehenderen Informationen und zitiert das Be40 Dazu Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 38; vgl. zum Folgenden das ganze Kapitel »Die Bekenntnisse und die Taufe« (a. a. O., 36 – 65). 41 Egeria, itin. 46 (FC 202, 270 – 275 Röwekamp). 42 Traditio: Kyrill von Jerusalem, catech. 5,12 (I 148 – 150 Reischl / Rupp); zum Memorieren vgl. bes. catech. 18,21 (II 324 Reischl / Rupp): ἡ δὲ τῆς πίστεως ἐπαγγελία πάλιν ὑμῖν ὑφ’ ἡμῶν ῥηθεῖσα μετὰ σπουδῆς πάσης ἐπὶ λέξεως αὐτῆς ὑφ’ ὑμῶν ἀπαγγελλέσθω τε καὶ μνημονευέσθω. Redditio: Kyrill von Jerusalem, catech. myst. 2,9 (FC 7, 106,14 – 18 Röwekamp). Davon zu unterscheiden sind die Tauffragen, die jeweils individuell zu beantworten waren und mit dem Ruf: »Bekennt das heilvolle Bekenntnis« (ὡμολογεῖτε τὴν σωτήριον ὁμολογίαν) unmittelbar vor dem Untertauchen im Wasser eingeleitet wurden (catech. myst. 20,4; a. a. O., 114,16 – 19). 43 Augustin, conf. 8,2,5 (CChr.SL 27, 116,55 – 58 Verheijen): »denique ut uentum est ad horam profitendae fidei, quae uerbis certis conceptis retentis que memoriter de loco eminentiore in conspectu populi fidelis romae reddi solet ab eis, qui accessuri sunt ad gratiam tuam.« Übers.: Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse, übers. von Josef Bernhart, Frankfurt 1987, 371.
32 Peter Gemeinhardt kenntnis auch nicht. Nach Rufin wäre es das von ihm selbst bezeugte Romanum. Doch schreibt auch er ein halbes Jahrhundert nach der Zeit, in der Augustins Bericht von der Taufe des Marius Victorinus spielt, in dessen Zusammenhang Augustin den katechetischen Brauch erwähnt.44 Es gibt freilich noch eine frühere Textform des Romanums, die in der Forschung seit jeher eine große Rolle gespielt hat, und dies seit mehr als dreihundertfünfzig Jahren. Schon im Jahr 1647 identifizierte der Erzbischof von Armagh, James Ussher,45 als ältesten Zeugen für das Romanum einen 341 auf Griechisch verfassten Brief des Markell von Ankyra († 374) an Bischof Julius von Rom († 352).46 Markell, in den auf das Konzil von Nizäa folgenden Auseinandersetzungen kirchenpolitisch ins Abseits geraten und seines Bischofsamtes enthoben, suchte Rehabilitation mithilfe römischer Autorität.47 Eine Synode behandelte seine Causa im Frühjahr 341. Julius schrieb den in Antiochien versammelten Gegnern Markells, dieser habe, »als er von uns gebeten wurde, über seinen Glauben zu sprechen, mit einer solchen Freimütigkeit geantwortet, daß wir erkannten, daß er nichts außerhalb der Wahrheit bekannte.«48 Markell selbst verfasste im Anschluss an die Synode eine theologische Darlegung, die er dem Synodalbrief beizulegen bat.49 Vieles spricht dafür, dass er in diesem Schriftstück zusammenfasste, was er bereits auf der Synode vorgetragen hatte, um seine Ortho44 Zu den Unsicherheiten in Bezug auf den verwendeten Text vgl. Vinzent, Ursprung (s. Anm. 15), 363 – 365. 45 J. Ussher, De Romanae ecclesiae symbolo apostolico vetere, aliisque fidei formulis, tum ab occidentalibus, tum ab orientalibus, in prima catechesi et baptismo proponi solitis, diatriba, London 1647. Vgl. dazu Vinzent, Ursprung (s. Anm. 15), 54 – 56. 46 Dok. 41.7 (AW III / 3, 154,1 – 156,15 Brennecke u. a.) = Epiphanius, haer. 72,2,6 – 3,4 (GCS Epiph. III, 257,21 – 259,1 Holl / Dummer = SVigChr 39, 126,8 – 128,23 Vinzent = Kinzig II, § 253). 47 Zum kirchenpolitischen Umfeld vgl. M. Vinzent, Die Entstehung des Römischen Glaubensbekenntnisses, in: W. Kinzig / C. Markschies / M. Vinzent, Tauffragen und Bekenntnis. Studien zur sogenannten »Traditio apostolica«, zu den »Interrogationes de fide« und zum »Römischen Glaubensbekenntnis« (AKG 74), Berlin u. a. 1999, 185 – 409 (200 – 202). 48 Dok. 41.8 (AW III / 3, 170,23 – 27 Brennecke u. a.) = Athanasius, apol. sec. 32,1 (AW II, 110,21 – 23 Opitz): ὅμως δὲ ἀπαιτούμενος παρ’ ἡμῶν εἰπεῖν περὶ τῆς πίστεως οὕτως μετὰ παρρησίας ἀπεκρίνατο δι’ ἑαυτοῦ ὡς ἐπιγνῶναι μὲν ἡμᾶς ὅτι μηδὲν ἔξωθεν τῆς ἀληθείας ὁμολογεῖ (Übers. AW III / 3, 170). 49 Die Herausgeber von AW III / 3 halten es »für wenig wahrscheinlich, daß Markell diesen Brief noch vor der römischen Synode schrieb« und plädieren für eine Datierung auf das Frühjahr 341 (a. a. O., 152).
Vom Werden des Apostolikums 33
doxie zu untermauern. Und hierin findet sich ein Abschnitt, der dem von Rufin bezeugten Romanum und dem späteren Apostolikum frappierend ähnelt:51 50
Romanum (R) Credo in deo, patre omnipotente, et in Iesu Christo, unico filio eius, domino nostro, qui natus est de spiritu sancto ex Maria virgine, crucifixus sub Pontio Pilato et sepultus, tertia die resurrexit; ascendit in caelos; sedet ad dexteram patris; inde venturus iudicare vivos et mortuos; et in spiritu sancto, sanctam ecclesiam, remissionem peccatorum, carnis resurrectionem.
Romanum nach Markell (griechisch) Πιστεύω οὖν εἰς θεὸν παντοκράτορα καὶ εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν, τὸν υἱὸν αὐτοῦ τὸν μονογενῆ, τὸν κύριον ἡμῶν, τὸν γεννηθέντα ἐκ πνεύματος ἁγίου καὶ Μαρίας τῆς παρθένου, τὸν ἐπὶ Ποντίου Πιλάτου σταυρωθέντα καὶ ταφέντα καὶ τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναστάντα ἐκ τῶν νεκρῶν, ἀναβάντα εἰς τοὺς οὐρανοὺς καὶ καθήμενον ἐν δεξιᾷ τοῦ πατρός, ὅθεν ἔρχεται κρίνειν ζῶντας καὶ νεκρούς· καὶ εἰς τὸ ἅγιον πνεῦμα, ἁγίαν ἐκκλησίαν, ἄφεσιν ἁμαρτιῶν, σαρκὸς ἀνάστασιν, ζωὴν αἰώνιον.
Dieser Text ist für die Frage nach dem Werden des Apostolikums von größtem Interesse, weil es sich um den ältesten erhaltenen Bekenntnistext aus dem Westen des Römischen Reiches handelt. Zwar war bereits von der Synode von Nizäa (325) ein Glaubensbekenntnis formuliert worden, dem in den 340er und besonders in den 350er Jahren eine ganze Reihe ähnlich gebauter Formeln folgen sollte. Solche deklaratorischen Texte, die der Sicherung des Glaubens in einer knappen Formel dienten, waren im Westen aber offenbar weder gebräuchlich noch überhaupt bekannt: Noch 359 informierte Hilarius von Poitiers († 367) gallische, germanische und britische Bischöfe über die Existenz und Notwendigkeit solcher Glaubensbekenntnisse,
50 So Vinzent, Entstehung (s. Anm. 47), 209 – 219 und U. Heil, Markell von Ancyra und das Romanum, in: A. von Stockhausen / H. C. Brennecke (Hg.), Von Arius zum Athanasianum. Studien zur Edition der »Athanasius Werke« (TU 164), Berlin u. a. 2010, 85 – 103 (99). 51 Das Romanum wird nach der Rekonstruktion bei Kinzig II, § 254b geboten, der bei Markell bezeugte Text nach Dok. 41.7 (AW III / 3, 154,31 – 155,9 Brennecke u. a. = Kinzig II, § 253).
34 Peter Gemeinhardt die diesen bislang noch gar nicht untergekommen seien.52 In Rom gab es zu diesem Zeitpunkt immerhin schon eins – aber was für einen Text haben wir da vor uns? Die Frage, die sich nun stellt, ist letztlich die nach der Henne und dem Ei: Zitierte Markell um der Anerkennung seines rechten Glaubens willen ein Bekenntnis, das die römischen Synodalen als ihr eigenes erkennen würden? Das ist die klassische These, die von Ussher bis Kelly vertreten und in der neueren Diskussion von Westra bekräftigt worden ist.53 Der Brief und das darin enthaltene Bekenntnis wurden auf Griechisch verfasst, damit beides den Adressaten im Osten zugänglich wäre. Der griechischsprachige Markell hätte dann ein lateinisches Bekenntnis selbst übersetzt (oder übersetzen lassen) oder auf einen Text zurückgegriffen, der aus der Zeit stammt, als die Liturgiesprache in Rom noch das Griechische war, also vermutlich aus dem 3. Jahrhundert oder gar noch früher. Oder übernahm die römische Gemeinde für den katechetischen Gebrauch ein Credo, das Markell ad hoc formuliert und der Synode vorgelegt hatte? Das ist die These, die Markus Vinzent 1999 vorstellte und die gut ein Jahrzehnt lang die Diskussion über die Entstehung des Romanums bzw. des Apostolikums befeuert hat.54 Dann wäre zu überlegen, wann und von wem ein von Markell selbst auf Griechisch formuliertes Bekenntnis ins Lateinische übersetzt worden wäre, um in die römische Taufunterweisung integriert zu werden. Was die Übersetzungen in die eine oder andere Richtung anbelangt, gibt es m. W. keine plausiblen Hypothesen. Gestritten wurde aber engagiert über die Vinzent’sche These eines markellischen Ursprungs des Apostolikums. Verhielte es sich so, wäre das nicht zuletzt durch den Umstand bemerkenswert, dass das meistgebrauchte Bekenntnis im Westen, das Apostolikum, von einem Theologen stammt, 52 Hilarius von Poitiers, syn. 63 (PL 10, 523BC = Kinzig I, § 151d1): »Sed inter haec, o beatos vos in domino et gloriosos, qui perfectam atque apostolicam fidem conscientiae professione retinentes, conscriptas fides hucusque nescitis! Non enim eguistis littera, qui spiritu abundabatis. Neque officium manus ad scribendum desiderastis, qui quod corde a vobis credebatur, ore ad salutem profitebamini. Nec necessarium habuistis episcopi legere quod regenerati neophyti tenebatis. Sed necessitas consuetudinem intulit exponi fides et expositis subscribere. Ubi enim sensus conscientiae periclitatur, illic littera postulatur. Nec sanc scribi impedit, quod salutare est confiteri.« 53 Summarisch dazu Westra, Apostles’ Creed (s. Anm. 10), 33 – 37. 54 Vgl. Vinzent, Entstehung (s. Anm. 47), sowie dessen Auseinandersetzung mit seinen Kritikern (ders., Ursprung [s. Anm. 15], 312 – 395).
Vom Werden des Apostolikums 35
dessen Vorstellung einer eschatologischen Wiederzusammenfassung der heilsgeschichtlich entfalteten Trias zur uranfänglichen Monas im 381 abgefassten Nizäno-Konstantinopolitanum mit scharfem Widerspruch bedacht wird.55 Das mag auf sich beruhen. Wichtiger für die hier verfolgte Fragestellung ist, dass Vinzent nicht als erster beobachtet, aber die weitestgehenden Schlüsse daraus gezogen hat, dass das Romanum unstrittig erstmals bei Markell zu finden ist und vor dem Jahr 341 als Text keine unmittelbare Vorgeschichte hat – jedenfalls keine, die in der heute zugänglichen Überlieferung Spuren hinterlassen hätte. Dann bestünde konsequenterweise das Apostolische am Apostolikum nicht in einer personalen Traditionskette, sondern in der kreativen und letztlich sehr erfolgreichen Zuschreibung neuerer Lehrbildungen an die Apostel. Es gäbe dreihundert Jahre nach dem Ausschwärmen der Apostel über den Erdkreis also durchaus ein Werden des Apostolikums, das aber nicht zuerst in Rom und nicht als Romanum, sondern gewissermaßen als »Markellum« das Licht der Welt erblickt und dann in Rom Karriere gemacht hätte.56 Diese These hat nur zum Teil Anklang gefunden; die Diskussion ist mittlerweile wieder abgeebbt.57 Uta Heil hat in Auseinandersetzung 55 Vinzent, Entstehung (s. Anm. 47), 409 = ders., Ursprung (s. Anm. 15), 317 beendet seine Argumentation mit der Bemerkung, dass »die westliche Kirche das Bekenntnisstück eines Bischofs des Ostens bewahrt [hat], das dieser in seinem westlichen römischen Exil niedergeschrieben hat. Für den Westen ergibt sich daraus die Ironie der Liturgie- und Dogmengeschichte, dass die Gläubigen in katholischen wie in der Regel auch in evangelischen Gottesdiensten am Sonntag und in der Tauffeier das Bekenntnis desjenigen Theologen bekennen, der für sie an den hohen Feiertagen im Gottesdienst durch das Bekenntnis des Nizäno-Konstantinopolitanum als Häretiker vor ihnen steht. Denn in diesem Bekenntnis wird gegen Markell mit dessen eigenen Worten bekannt, dass Christi Reich ›ohne Ende sei‹.« 56 In gewisser Spannung zu dieser Argumentation steht die von M. Vinzent, From Zephyrinus to Damasus – What did Roman Bishops believe?, in: StPatr 63 (2013), 273 – 286, vorgetragene These, die römischen Bischöfe von Zephyrin und Calixt (frühes 3. Jahrhundert) bis zu Damasus (366 – 384) seien durch eine starke monarchianische (und gewissermaßen »altnizänische«) Traditionslinie verbunden gewesen, die für Markells Theologie empfänglich gewesen und von dieser beeinflusst worden sei. Das würde aber wahrscheinlich machen, dass das von Markell zitierte Credo ebenso traditionell wäre! 57 Eine knappe Bestandsaufnahme bietet L. H. Westra, Apostles’ Creed I. Christianity, in: EBR 2 (2009), 498 – 500 (500). Manche anfänglichen Befürworter, so z. B. Wolfram Kinzig, sind von der radikalen Gestalt der Vinzent’schen These wieder abgerückt; vgl. die Retractatio in W. Kinzig, Christus im Credo. Überlegungen zu Herkunft und Alter des Christussummariums im Apostolikum, in: ders., Neue Texte und Studien zu den antiken und
36 Peter Gemeinhardt mit Vinzent die Vermutung vorgetragen, dass möglicherweise die römische Synode, die sich mit Markells Orthodoxie befasste, selbst ein Bekenntnis formulierte und ihm vorlegte, das dann dieser übernahm (und nicht andersherum).58 Träfe dies zu, trüge »diese Passage aus Markells Brief doch zu Recht den Namen Romanum«.59 Wenn freilich auf dieser Synode »die Theologie Markells verhandelt wurde«, erklärt dies m. E. – gegen die These Uta Heils – gerade nicht, »warum in diesem Text die im Osten heftig umstrittenen Begriffe und Thesen kaum vorkommen«. Ihr zufolge sei »traditionelles Material«, teils aus frühchristlichen regulae fidei, und Informationen aus der Frühphase des trinitarischen Streites (von Alexander von Alexandrien übermittelt) verarbeitet worden. Dass der meinungsstarke und literarisch produktive Markell als Protagonist der jetzt laufenden Debatte, der eindeutig die Sympathien der römischen Synode genoss, keinen Einfluss auf die inhaltliche Präzisierung gehabt hätte, erscheint jedenfalls erklärungsbedürftig, zumal die verwendete Gattung des Bekenntnisses im Westen offensichtlich neu war. Man hätte daher auch, wenn man Uta Heil folgt, eher mit einem neuen Romanum als einem traditionellen Text zu rechnen.
frühmittelalterlichen Glaubensbekenntnissen (AKG 132), Berlin u. a. 2017, 269 – 291 (274), wobei der Verfasser darauf hinweist, dass die gemeinsame Formulierung des neuen Ansatzes (W. Kinzig / M. Vinzent, Recent Research on the Origin of the Creed, in: JThS N. S. 50 [1999], 535 – 559) in Hinsicht auf die mögliche Rezeption altrömischer Tauffragen durch Markell »bewusst unscharf« formuliert worden sei (so auch bei Vinzent, Entstehung [s. Anm. 47], 407 = ders., Ursprung [s. Anm. 15], 316). Ich selbst habe meine in der Besprechung des Bandes von 1999 mit einigen Kautelen formulierte Zustimmung zu Vinzents Grundthese (P. Gemeinhardt: W. Kinzig / C. Markschies / M. Vinzent [s. Anm. 47], in: ZKG 112 (2001), 104 – 107 [106 f.]) auch in der Rezension zu Vinzents Buch über das Apostolikum (P. Gemeinhardt: M. Vinzent, Der Ursprung des Apostolikums im Urteil der kritischen Forschung [FKDG 89], Göttingen 2006, in: ZKG 119 [2008], 101 – 104) aufrechterhalten. In jedem Fall ist ihm darin zuzustimmen, dass seine Theorie zwar durch die Auffindung eines einzigen vormarkellischen Zeugen des Romanum hinfällig wäre – »doch diesen gilt es noch zu finden. Und fände man ihn, würde man immer noch zu erklären haben, warum das Zeugnis für die Zeit vor Markell singulär ist, nach Markell jedoch die Quellen reichlich zu fließen beginnen« (Vinzent, Ursprung [s. Anm. 15], 375). 58 Heil, Markell (s. Anm. 50), 99 f. 59 Dieses und die folgenden Zitate: a. a. O., 100.
Vom Werden des Apostolikums 37
3.2. (Fast) zurück zu den Aposteln: Die frührömischen Tauffragen Bei alledem ist unbestritten, dass ein in Rom genutzter Bekenntnistext vor dem 4. Jahrhundert nicht zu identifizieren ist – wenn man nicht aus dem Brauch der Taufkatechese automatisch auf ein dieser zugrundeliegendes Bekenntnis schließen will, was reine Spekulation wäre. Der vielleicht ernüchternde Befund passt freilich zu der weiter ausgreifenden These, dass überhaupt erst die Reichssynoden des 4. Jahrhunderts deklaratorische Bekenntnisse formuliert hätten. Das betonte nicht erst Markus Vinzent, sondern schon lange zuvor Hans von Campenhausen, und Adolf Martin Ritter ist ihm darin mit guten Gründen und weitgehender Zustimmung der Zunft gefolgt.60 Das Nizänum (oder das in seiner Authentizität freilich notorisch umstrittene und zudem nur in späterer syrischer Übersetzung erhaltene Credo der Synode von Antiochien 324 / 25) wäre dann das erste Bekenntnis seiner Art.61 Hingegen handelt es sich bei dem von Euseb von Caesarea († ca. 340) auf dem Konzil von Nizäa vorgelegten Bekenntnis entgegen einer lange vorherrschenden Ansicht62 nicht um das in seiner Heimatgemeinde übliche Taufbekenntnis, sondern um ein frühes Exemplar der sogenannten »Theologenbekenntnisse«, wie es im selben Zeitraum z. B. auch Arius und ihm folgende alexandrinische Kleriker verfassten.63 Wie aber konnte man in der älteren Forschung auf den – teils auch noch in der gegenwärtigen Literatur nachwirkenden – Gedanken kommen, dass es schon länger das Romanum und damit eine Vorstufe 60 Vgl. H. Freiherr von Campenhausen, Das Bekenntnis im Urchristentum, in: ZNW 63 (1972), 210 – 253; wieder in: ders., Urchristliches und Altkirchliches. Vorträge und Aufsätze, Tübingen 1979, 217 – 272; so auch A. M. Ritter, Glaubensbekenntnis(se) V. Alte Kirche, TRE 13 (1984), 399 – 412; anders aber noch D. Z. Flanagin, Creeds V. Christianity, in: EBR 5 (2012), 1022 – 1024 (1023). 61 Zur jüngsten Debatte über die Synode von Antiochien vgl. H. C. Brennecke / U. Heil, Nach hundert Jahren: Zur Diskussion um die Synode von Antiochien 325. Eine Antwort auf Holger Strutwolf, in: ZKG 123 (2012), 95 – 113. 62 So noch Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 181 f.213. 63 Zu Euseb vgl. H. Freiherr von Campenhausen, Das Bekenntnis Eusebs von Caesarea (Nicaea 325), in: ZNW 67 (1976), 123 – 139; wieder in: ders., Urchristliches und Altkirchliches (s. Anm. 60), 278 – 299. Sein Bekenntnis findet sich in der einschlägigen Edition als Dok. 24 = Urk. 22 (AW III / 1, 42 – 47 Opitz), die theologische Erklärung des Arius als Dok. 1 = Urk 6 (a. a. O., 12 f.).
38 Peter Gemeinhardt des Apostolikums gegeben habe, wenn dies doch textlich nicht nachweisbar ist? Dafür lassen sich drei Gründe nennen, denen neuerdings einhellig widersprochen wird: a) Die Unterscheidung von Glaubensregeln und deklaratorischen Bekenntnissen wurde nicht hinreichend beachtet.64 Es gibt durchaus konfessorische Kontinuität seit dem frühen Christentum, nur liegt diese offensichtlich nicht in der Existenz und Nutzung von textlich fixierten Bekenntnissen zu antihäretischen, katechetischen oder liturgischen Zwecken, sondern in dem flexiblen Instrument der regula fidei, das etwa bei Irenaeus von Lyon oder Tertullian belegt ist. Deklaratorische Bekenntnistexte sind vor dem 4. Jahrhundert nicht belegt, weder in Rom noch anderswo. b) Freilich hat man seit der Entdeckung der Traditio apostolica und deren Zuschreibung an Hippolyt von Rom († ca. 235) gemeint, einen direkten Blick in die Praxis der römischen Kirche werfen und aus der Nähe des (postulierten) Taufbekenntnisses dieses Textes mit dem Romanum und einigen Texten bei Tertullian eine römische Bekenntnistradition rekonstruieren zu können.65 Die Möglichkeit, aus der nicht im Original erhaltenen und wohl fälschlich Hippolyt zugewiesenen Traditio apostolica Schlussfolgerungen über römische Riten im frühen 3. Jahrhundert ziehen zu können, ist mittlerweile allerdings nachhaltig erschüttert.66 Gerade die Tauffragen scheinen das Gepräge der trinitätstheologischen 64
Vgl. Ritter, Glaubensbekenntnis(se) (s. Anm. 60), 402. Vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 116 – 121, mit Bezug auf Tertullian, virg. vel. 1,4 f. (SC 424, 130,17 – 26 Schulz-Flügel / Mattei = Kinzig I, § 111c) und Prax. 2,1 f. (FC 34, 102,6 – 104,10 Sieben = Kinzig I, § 111e1); zu ergänzen wäre praescr. 13,1 – 6 (FC 42, 256,1 – 19 Schleyer = Kinzig I, § 111b1). Eine Synopse der tertullianischen regulae fidei bietet Ritter, Glaubensbekenntnis(se) (s. Anm. 60), 404. – Kinzig, Christus im Credo (s. Anm. 57), erwägt neuerdings, von den tertullianischen Belegstellen auf die Existenz eines (in Nordafrika zu verortenden) Christussummariums zu schließen, das dem entsprechenden Passus in dem bei Markell bezeugten Romanum bereits sehr ähnlich gewesen sei; dieses Summarium sei zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt mit den trinitarischen Tauffragen zu einem interrogatorischen oder deklaratorischen Bekenntnis verbunden worden (vgl. bes. a. a. O., 287 – 289). Diese These hat einiges für sich. Für eine genauere Datierung des Romanums in den knapp anderthalb Jahrhunderten zwischen Tertullian und Markell ist damit freilich nichts Konkretes gewonnen. 66 Dazu ausführlich C. Markschies, Wer schrieb die sogenannte Traditio Apostolica? Neue Beobachtungen und Hypothesen zu einer kaum lösbaren Frage aus der altkirchlichen Literaturgeschichte, in: Kinzig / Markschies / Vin65
Vom Werden des Apostolikums 39
Debatten der Zeit nach Markell zu tragen. Würde man daher die lateinische Übersetzung der Traditio apostolica auswerten, die in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts entstand, hätte man es mit einem zeitlich nach Markells Brief zu verortenden Text zu tun,67 nicht mit einer älteren oder gar apostolischen Tradition. c) Schließlich ist die Forschung über weite Strecken davon ausgegangen, dass auch schon in vorkonstantinischer Zeit die Taufunterweisung anhand eines fixierten Bekenntnisses vorgenommen worden sei, obwohl dafür ein klarer Beleg aus der Zeit vor Kyrill von Jerusalem, Augustin und anderen fehlt.68 Weithin üblich waren hingegen Tauffragen, meist in trinitarischer Gestalt, und blieben es auch im 4. Jahrhundert und weit darüber hinaus.69 Nicht deklaratorische, wohl aber interrogatorische Bekenntnisse hat es also im Christentum lange vor den Konzilien der Reichskirche gegeben! Auf Tauffragen weist möglicherweise schon der »westliche« Einschub in der Perikope über die Taufe des Kämmerers aus Äthiopien hin (Apg 8,37), der ins 2. Jahrhundert gehört;70 sicher ist der Bezug auf Tauffragen bei Cyprian von Karthago, d. h. in der Mitte des
zent, Tauffragen (s. Anm. 47), 1 – 74. Näheres zu den Tauffragen findet sich unten bei Anm. 75. 67 So auch schon Markschies, Traditio Apostolica (s. Anm. 66), 73 und Kinzig, Tauffragen (s. Anm. 57), 94. 68 So Ritter, Glaubensbekenntnis(se) (s. Anm. 60), 407. Nüchtern stellt er a. a. O., 406 fest: »Wenn wir also (mit Ausnahme evtl. des Einschubs Act 8,37) aus den beiden ersten Jh. keinen einzigen unzweideutigen Beleg für den liturgischen Brauch eines Bekenntnisses im Zusammenhang der Taufe besitzen, dann wahrscheinlich deshalb, weil es einen solchen Brauch nicht gegeben hat.« Hingegen stand noch für Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 125 unzweifelhaft fest, »daß hinter R, irgendwo im Dunkel des 2. Jahrhunderts, ein einfaches trinitarisches Bekenntnis steht, das in die Form von Fragen an den Katechumenen gegossen war und seinerseits auf den Taufbefehl zurückgeht, wie er im Matthäus-Evangelium formuliert war.« Entsprechend postulierte er, die Einführung der Arkandisziplin (die zwei Generationen vor Kyrill von Jerusalem, d. h. in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts erfolgt sei) habe »das direkte Zitieren von Taufbekenntnissen unter eine regelrechte Zensur gestellt« – darum seien keine Quellen für R erhalten (a. a. O., 170). 69 Vgl. die umfangreiche Materialsammlung bei Kinzig, Tauffragen (s. Anm. 57), 116 – 183. Im Neudruck dieses Aufsatzes (Kinzig, Neue Texte [s. Anm. 57], 237 – 267) wurde der Anhang ausgelassen, da er mittlerweile in die Quellensammlung »Faith in Formulae« eingegangen war. 70 Der terminus ad quem ergibt sich aus dem Zitat dieser Variante in Irenaeus von Lyon, haer. 3,12,8 (FC 8 / 3, 140,22 – 141,1 Brox).
40 Peter Gemeinhardt 3. Jahrhunderts.71 Und dieser Brauch, der zunächst ein rein »westliches« Phänomen gewesen zu sein scheint, führt uns sehr wohl auf römische Spuren. Es ist eine bemerkenswerte Ironie der Forschungsgeschichte, dass von Harnack und Kattenbusch bis Lietzmann und Kelly die in der Traditio apostolica und anderen Texten überlieferten Tauffragen, die es offensichtlich gab, immer wieder zur Rekonstruktion von etwas anderem benutzt worden sind, was es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gab – ein deklaratorisches Bekenntnis, das in der Katechese oder Taufliturgie Verwendung gefunden hätte.72 Dagegen hat Wolfram Kinzig gezeigt, dass die Tauffragen für sich genommen Interesse verdienen, wenn es um eine römische Traditionslinie geht. Dieses Set von Fragen ist im Sacramentarium Gelasianum Vetus, der ältesten erhaltenen römischen Agende aus dem 7. Jahrhundert,73 überliefert und wird hier den Tauffragen aus der Traditio apostolica gegenübergestellt:
71 Cyprian von Karthago, ep. 69,7,1 – 8,1 (CChr.SL 3C, 480,148 – 481, 164 Diercks = Kinzig I, § 92a): »Quod si aliquis illud opponit ut dicat eandem Nouatianum legem tenere quam catholica ecclesia teneat, eodem symbolo quo et nos baptizare, eundem nosse Deum patrem, eundem filium Christum, eundem spiritum sanctum, ac propter hoc usurpare eum potestatem baptizandi posse quod uideatur interrogatione baptismi a nobis non discrepare, sciat quisque hoc opponendum putat primum non esse unam nobis et schismaticis symboli legem neque eandem interrogationem. Nam cum dicunt ›credis in remissionem peccatorum et uitam aeternam per sanctam ecclesiam?‹ mentiuntur interrogatione, quando non habeant ecclesiam. Tunc deinde uoce sua ipsi confitentur remissionem peccatorum non dari nisi per sanctam ecclesiam posse, quam non habentes ostendunt remitti illic peccata non posse. Quod uero eundem quem et nos Deum patrem, eundem filium Christum, eundem spiritum sanctum nosse dicuntur, nec hoc adiuuare tales potest.« 72 Den Unterschied zwischen interrogatorischen und deklaratorischen Formeln zu negieren, weil die Tauffragen »zusammengesetzt« doch wieder »ein deklaratorisches Glaubensbekenntnis« und schon im Akt des Beantwortens eine »proklamatorische Glaubensformel« (= Glaubensregel) ergeben (G. Riedl, Hermeneutische Grundstrukturen frühchristlicher Bekenntnisbildung [TBT 123], Berlin u. a. 2004, 187), würde bedeuten, Differenzierungen wieder aufzugeben, die erst mühsam erreicht worden waren. 73 Trad. ap. 21,14 – 18 (TU 75, 131,1 – 10 Tidner = Kinzig I, § 89b) nach Cod. Verona, Biblioteca Capitolare LV (53); Sacramentarium Gelasianum Vetus 449.608 (Liber Sacramentorum Romanae Ecclesiae ordinis anni circuli [Cod. Vat. reg. lat. 316 / Paris, Bibl. Nat. 7193, 41 / 56], hg. v. L. C. Mohlberg / L. Eizenhöfer / P. Siffrin [RED.F IV], Rom 1960, 74,3 – 13; 95,28 – 96,7 = Kinzig IV, § 675c.f).
Vom Werden des Apostolikums 41 Traditio apostolica (lat.)
Sacramentarium Gelasianum Vetus
[Credis in deum, patrem omnipotentem?]74 Credis in Christum Iesum, filium dei,
Credis in deum, patrem omnipotentem? Credis et in Iesum Christum, filium eius unicum, dominum nostrum, natum
qui natus est de spiritu sancto ex Maria virgine et crucifixus sub Pontio Pilato et mortuus est et sepultus et resurrexit die tertia et ascendit in caelis et sedit ad dexteram patris venturus iudicare vivos et mortuos? Credis in spiritu sancto et sanctam ecclesiam et carnis resurrectionem?
et passum?
Credis et in spiritum sanctum, sancta ecclesia, remissionem peccatorum, carnis resurrectionem?
Auf den ersten Blick erkennbar ist, dass der zweite – christologische – Artikel im Sacramentarium Gelasianum Vetus viel weniger entfaltet ist als in der Traditio apostolica und im oben zitierten Romanum (markellischer oder rufinischer Provenienz). Während die Fragen nach Gott, Geist, Kirche, Sündenvergebung und Auferstehung im »Altgelasianum« und im Romanum praktisch identisch sind und lediglich in Bezug auf die Sündenvergebung ein Unterschied zur Traditio apostolica festzustellen ist, beschränken sich die christologischen Prädikate hier auf Jesus Christus als eingeborenen Sohn Gottes und unseren Herrn sowie auf seine Geburt und Passion. Der Modus dieser Geburt – in der Traditio apostolica und im Romanum durch den doppelten Verweis auf Geist und Jungfrau markiert – und der Verlauf der 74 Das Palimpsest aus Verona (s. vorherige Anmerkung) ist ausgerechnet an dieser Stelle lückenhaft. Die Rekonstruktion stützt sich auf das syrisch, äthiopisch und arabisch überlieferte Testamentum Domini Nostri Iesu Christi (hg. v. I. E. Rahmani, Mainz 1899, 128 = Kinzig IV, § 615a). Da der erste Artikel in den frühchristlichen und spätantiken Tauffragen durchgehend in der oben zitierten Form bezeugt ist, besteht aller Grund zu der Annahme, dass er auch in der lateinischen Traditio apostolica so gelautet hat (und entsprechend im Griechischen πιστεύεις εἰς θεὸν παντοκράτορα;). Zur Textüberlieferung und zu den modernen Rekonstruktionsversuchen der Traditio apostolica vgl. summarisch W. Geerlings, Einleitung zur Traditio apostolica, in: Didache. Zwölf-Apostel-Lehre. Traditio apostolica. Apostolische Überlieferung, übers. und eingel. v. G. Schöllgen / W. Geerlings (FC 1), Freiburg i. Br. u. a. 1991, 143 – 208 (149 – 156), zum Testamentum Domini bes. 154.
42 Peter Gemeinhardt Passion sowie deren Folgeereignisse werden dagegen nicht erwähnt. Handelt es sich eingedenk der oben erwähnten Datierung des Sakramentars in das 7. Jahrhundert um eine spätere Modifikation, um eine parallele Fassung oder – gegen den ersten Anschein – gar um eine ältere, im Romanum erweiterte Form des christologischen Artikels? Die Dinge liegen in der Tat kompliziert. Wie Wolfram Kinzig gezeigt hat,75 existieren von der Spätantike bis zur Reformationszeit zahlreiche Formen der Tauffragen, sowohl mit einem kurzen zweiten Artikel (natum et passum) als auch mit erweiterten christologischen Prädikaten. Ein Zeitpunkt oder ein sachlicher Anlass, an bzw. aus dem dieser Artikel gekürzt worden wäre, lässt sich nicht dingfest machen. Um zu erklären, warum die Tauffragen im ersten und dritten Artikel des Sacramentarium Gelasianum Vetus mit dem Romanum identisch sind, der zweite Artikel aber sehr viel knapper ist, argumentiert Kinzig, dass die in dem frühmittelalterlichen Sakramentar tradierten Tauffragen älter sein müssen als das Romanum. Sie gehen mindestens auf das 3. Jahrhundert zurück, wo, wie erwähnt, Cyprian die Verwendung von Tauffragen in Rom bezeugt.76 Den sachlichen Anlass zu Textveränderungen im Sinne eines ausführlicheren Christussummariums wie im Romanum findet Kinzig nun in der Diskussion um »monarchianische« Theologen in Rom wie Noët, Calixt und vor allem Praxeas: Diese bestimmten um das Jahr 200 den theologischen Diskurs in Rom, indem sie in antignostischer Absicht die Einheit Gottes, d. h. seine μοναρχία, in den Vordergrund stellten.77 Dagegen argumentierte Tertullian, dass die Akzentuierung der Einheit nicht auf Kosten der Dreiheit, d. h. der Unterscheidung von Vater, Sohn und Geist gehen dürfe, und untermauerte dies in verschiedenen Traktaten mit Summarien des Christusgeschehens, die dem im Romanum auffallend ähneln.78 Das Resultat dieser Diskussion war offensichtlich, dass die schlichte Beschreibung des irdischen Wirkens Christi mit natum et passum nicht mehr hinreichend präzise erschien, sondern 75
Kinzig, Tauffragen (s. Anm. 57), 75 – 78. Soweit a. a. O., 85 – 91; die im Folgenden als Argument herangezogene antimonarchianische Stoßrichtung und der Verweis auf Tertullian werden in diesem Beitrag nur knapp gestreift. 77 Ausführlich hierzu R. M. Hübner, Der paradox Eine. Antignostischer Monarchianismus im zweiten Jahrhundert (SVigChr 50). Mit einem Beitrag v. M. Vinzent (SVigChr 50), Leiden u. a. 1999. 78 Das Vorstehende fasst die Argumentation in Kinzig, Neue Texte (s. Anm. 57), 281 – 289, zusammen, ohne die für die These angeführten Belege einzeln zu diskutieren. 76
Vom Werden des Apostolikums 43
dass es ausführlicherer Bemerkungen sowohl zu seinem Kommen in die Welt als auch zu den Stationen seines Leidens und Sterbens einschließlich dessen Umkehrung durch Auferstehung und Himmelfahrt bedurfte, um einerseits das Heilshandeln Christi zureichend zu bestimmen und andererseits dem Eindruck zu wehren, das alles habe der eine, transzendente, leidenslose Gott getan, ja erlitten. Die christologische Taufunterweisung hatte, wenn man so sagen darf, ihre Unschuld verloren; und dass mit der Erweiterung des zweiten Artikels noch keineswegs eine definitive Antwort gegeben war, sondern man vielmehr die Büchse der Pandora überhaupt erst geöffnet hatte, zeigen die anhaltenden trinitätstheologischen und christologischen Debatten des 4. bis 7. Jahrhunderts. Für die hier behandelte Fragestellung ist Kinzigs m. E. sehr plausible These weiterführend, dass die Tauffragen des »Altgelasianums« sogar als Quellen für das 2. Jahrhundert gelten und damit das »missing link« zwischen frühen konfessorischen Formeln im Neuen Testament sowie bei den Apologeten und der späteren Produktion von Bekenntnissen darstellen könnten.79 Wann freilich die Tauffragen um einen erweiterten zweiten Artikel ergänzt wurden, ob dies vor der Entstehung des Romanums geschah oder ob hier eine Rückwirkung des werdenden Apostolikums auf die Tauffragen, die oft einen längeren christologischen Teil besitzen, zu veranschlagen ist, wie sich das über Jahrhunderte hinweg in Rom in Gebrauch befindliche Altgelasianum präzise zu den Tauffragen der Traditio apostolica und zur Verwendung des Nizäno-Konstantinopolitanums in der römischen Taufliturgie seit dem 6. Jahrhundert80 verhält, während sich ansonsten im Abendland überall Formen des Apostolikums durchsetzten – das sind Fragen, die noch einer befriedigenden Antwort harren. Festzuhalten ist, dass das 79 M. E. überzeugend widerlegt Kinzig, Tauffragen (s. Anm. 57), 86 Anm. 302, die ältere Ansicht, dass die kurze Form der Tauffragen nicht die ursprüngliche, sondern eine gekürzte Form des Romanums sei (so Kelly, Glaubensbekenntnisse [s. Anm. 9], 342 und 419; ebenso F. E. Vokes, Apostolisches Glaubensbekenntnis I. Alte Kirche und Mittelalter, TRE 3 [1978], 528 – 554 [539]). Vorerst eine (ansprechende) Vermutung muss bleiben, dass die trinitarische Taufformel nach Mt 28,19 f. schon bald »in Frageform gekleidet« worden sei (a. a. O., 95) und dass in einem weiteren Schritt »der Zusatz natum et passum eingefügt wurde, als in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts in Rom die Sitte aufkam, an Ostern zu taufen, um dadurch den Zusammenhang zwischen Taufe und Kreuzesgeschehen hervorzuheben« (a. a. O., 105). 80 Dazu P. Gemeinhardt, Die Filioque-Kontroverse zwischen Ost- und Westkirche im Frühmittelalter (AKG 82), Berlin u. a. 2002, 49 – 51.
44 Peter Gemeinhardt Werden des Apostolikums als Bekenntnistext von seiner Vorgeschichte in Form von Tauffragen zu unterscheiden ist, bei starker Kontinuität im ersten, leichtem Wachstum im dritten und erheblichen Zuwächsen im zweiten Artikel.
4. Vom Altgelasianum zum »Textus receptus« des Apostolikums 4.1. Lehrbekenntnisse und katechetisch gebrauchte Bekenntnisse Nachdem wir das Werden des Apostolischen Glaubensbekenntnisses von neutestamentlichen Zeugnissen bis zu den ersten Textzeugen des Romanums (2.) und von diesem zurück zu den Tauffragen des Altgelasianums (3.) verfolgt haben, bleibt nun noch, diesen Weg ein weiteres Mal abzuschreiten, diesmal wieder in korrekter chronologischer Richtung. Es ist unstrittig, dass sich die Herausbildung bündiger Formeln des christlichen Glaubens biblischen Vorbildern verdankt. Dazu gehört insbesondere 1 Kor 8,6 (»So haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn«), sozusagen ein Archetyp des zweigliedrigen Bekenntnisses zu Gott dem Vater und Christus dem Herrn, das im 2. Jahrhundert freilich schon regelmäßig mit triadisch strukturierten Formeln verbunden wird, in denen die Wirkung des Taufbefehls in Mt 28,19 f. zutage tritt.81 Offenbar erfuhr die trinitarische Grundstruktur schon bald eine christologische Erweiterung; die Tauffragen des Sacramentarium Gelasianum Vetus, die, wie gesehen, wohl bis ins 2. Jahrhundert zurückgehen, bieten mit natum et passum eine Kurzform der Christologie, die angesichts der nun aufbrechenden Fragen über das Verhältnis von Gott Vater und Sohn bzw. von Gott und Mensch in Christus als nicht mehr suffizient erschien. Das bedeutet einerseits, dass wir zwar nicht das Apostolikum als Bekenntnistext, wohl aber den in charakteristischer Weise ausgebauten christologischen Teil im Werden beobachten kön81 Das ist besonders deutlich in den vielen konzisen Formeln bei Irenaeus von Lyon, insb. epid. 6 (FC 8 / 1, 36; Brox [deutsche Übersetzung aus dem Armenischen]); haer. 1,10,1 (a. a. O., 198,1 – 200,4 Brox [griechisch]); 3,4,2; 16,6 (FC 8 / 3, 40,2 – 11; 200,9 – 18 Brox [jeweils lateinisch]); 4,33,7 (FC 8 / 4, 262,8 – 15 Brox [lateinisch mit griechischer Fassung im Apparat]); vgl. dazu Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 81 – 85.
Vom Werden des Apostolikums 45
nen, wie er sowohl zur konzisen Bekräftigung des Christusglaubens bei der Taufe als auch in antihäretischer Absicht in Glaubensregeln formuliert wurde.82 Beides ist freilich zu unterscheiden: Von den Glaubensregeln führt kein direkter Weg zur Taufunterweisung anhand von Bekenntnissen, wie es seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts üblich wurde, sondern allenfalls zu »Privatsymbolen« oder, wie man zutreffender sagen könnte, zu »Theologenbekenntnissen« – diese finden wir zuerst im 3. Jahrhundert bei Heraclides in seiner Disputation mit Origenes,83 dann bei Arius († 336) und bei Markell von Ankyra. Ob dieser das Romanum selbst ad hoc formulierte, muss aus den oben genannten Gründen offenbleiben; doch selbst wenn er einen bereits vorliegenden Text zitiert, bleibt der Befund, dass weder Markell noch Julius von Rom ausdrücklich sagen, dass es sich um ein in der römischen Gemeinde seit jeher bekanntes und gebrauchtes Bekenntnis handelt. Der »Sitz im Leben« dieses Textes bleibt unklar, was für Uta Heils Hypothese einer anlassbezogenen Formulierung nicht durch Markell, sondern durch die römische Synode spricht. Hinzu kommt, dass, wie gesehen, die Tauffragen der Traditio apostolica keineswegs sicheren Aufschluss über die Frühgeschichte des Romanums geben und dass die Herausbildung dogmatisch-polemischer deklaratorischer Bekenntnisse sich generell der neuen Situation der werdenden Reichskirche verdankt. Man darf daher mit Kelly und Ritter das Konzil von Nizäa als Ort einer symbolgeschichtlichen »großen Revolution«84 ansehen. Dann wäre aber auch die Einführung von Bekenntnissen in die vorösterliche Taufunterweisung, die wir erstmals 351 in Jerusalem dokumentiert finden, nicht ein Ergebnis der antihäretischen Diskussionen der vorkonstantinischen Zeit, sondern stünde im Zusammenhang der Institutionalisierung des Katechumenats in
82 Vgl. W. Kinzig, From the Letter to the Spirit to the Letter. The Faith as Written Creed, in: ders., Neue Texte (s. Anm. 57), 293 – 310 (303): »It may help to imagine creeds as made up of homological ›building blocks‹ that were created during the first three centuries.« Er identifiziert dafür fünf »Sitze im Leben«: Kult, Mission, Konversion, Recht und Theologie. 83 Origenes, dial. 1 f. (SC 67, 52,6 – 54,15; 56,7 – 13 Scherer = Kinzig I, 120a.b). Das Bekenntnis des Gregor Thaumaturgus, das in der Vita Gregorii des Gregor von Nyssa überliefert ist (GNO X / 1, 17,24 – 19,5 Heil = Kinzig I, § 117) ist in seiner Authentizität umstritten. 84 Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 205; zustimmend zitiert bei Ritter, Glaubensbekenntnis(se) (s. Anm. 60), 411 (unter der Überschrift »Nizäa als Wende«).
46 Peter Gemeinhardt der Spätantike.85 Die Taufunterweisung erfuhr offenbar um die Jahrhundertmitte an mehreren Orten eine vergleichbare Strukturierung, die uns vor allem durch katechetische Predigten, später dann auch durch die diesen zugrundeliegenden Bekenntnissen zugänglich ist. Dieser Usus verdankte sich den veränderten katechetischen Bedürfnissen angesichts steigender Zahlen von Taufbewerbern, aber auch theologischer Debatten in den Gemeinden: Im Kontext der beschleunigten Debatte über trinitätstheologische Fragen war positiv wie negativ eine klarer fassbare Eindeutigkeit der Glaubensinhalte gefragt. Doch geht es nicht darum, diese Entwicklung als Indikator einer schweren Krise zu beschreiben, wie es schon manche Zeitgenossen taten. Das würde der Virtuosität nicht gerecht, mit der Bischöfe und Katecheten der veränderten Situation begegneten. Zweifellos stellte der wachsende Zustrom von Taufbewerbern und am Christentum Interessierten in die Gemeinden eine Herausforderung für das katechetische Handeln dar. Die erhaltenen Predigtreihen aus Jerusalem (Kyrill), Antiochien (Johannes Chrysostomus), Mopsuestia (Theodor), Hippo (Augustin) oder Ravenna (Petrus Chrysologus) machen allerdings nicht den Eindruck der Schnellabfertigung! Der Trend der Zeit, dogmatische Positionen in Form deklaratorischer Bekenntnisse zu formulieren, hatte also in der Katechese eine signifikante und nachhaltige Parallelentwicklung – die innerhalb der neuen Gattung »Bekenntnis« zu einem Typ sui generis führte. Denn man muss die Lehrbekenntnisse, die sich nach dem von Vinzent so genannten »antilogisch-traditionellen Baukastenmodell« aufeinander beziehen und voneinander abgrenzen,86 von katechetisch genutzten Bekenntnissen unterscheiden. Jene geraten teils überaus ausführlich und sind geprägt vom Streben nach möglichst präziser theologischer Terminologie (bisweilen auch von deren Vermeidung, wie die homöischen Bekenntnisse der späten 350er Jahre, die dann aber in anderer Weise ihren Punkt so genau wie möglich zu markieren trachten). Diese hingegen folgen sämtlich der Grundstruktur der Tauffragen und nehmen die immer differenzierteren christologischen Bestimmungen gerade nicht auf – schon das Nizänum, später dann das Nizäno-Konstantinopolitanum unterscheiden sich insofern signifikant von den 85 Dazu jetzt P. Gemeinhardt / T. Georges, Vom philosophischen Schulbetrieb zum kirchlichen Katechumenat: Institutionalisierungen religiöser Bildung im spätantiken Christentum, in: Gemeinhardt / Tanaseanu-Döbler, Paradies (s. Anm. 22), 153 – 175. 86 Vinzent, Entstehung (s. Anm. 47), 235 – 240.
Vom Werden des Apostolikums 47
Bekenntnissen, aus denen sich das Apostolikum entwickelt. Das heißt nicht, dass es hier nicht um dogmatische Korrektheit ginge. Nicht nur das Einschärfen der Verbindlichkeit der Entscheidung für den Empfang der Taufe und das christliche Leben, sondern auch die Einweisung in den orthodoxen Glauben, ist bereits in den Katechesen Kyrills von Jerusalem zu beobachten, die, wie gesagt, erstmals die Verwendung eines lokalen Glaubensbekenntnisses dokumentieren. Zwar findet später im Osten, wie die Katechesen Theodors von Mopsuestia († 428) zeigen, auch das Nizänum als katechetisches Bekenntnis Verwendung; hingegen bleibt es im Westen für traditio und redditio symboli bei einer Vielfalt lokaler Bekenntnisse, die weitgehend dem Romanum entsprechen, im Detail allerdings Besonderheiten aufweisen, die sich einer einfachen Erklärung entziehen.87 Das 4. Jahrhundert erlebte insofern nicht nur dogmengeschichtlich, sondern auch bildungsgeschichtlich eine Revolution, und dies an vielen Orten gleichzeitig. Während die kirchengeschichtliche Forschung lange versucht hat, Bekenntnisse zu finden, wo es keine gibt, hat sie sich davon abhalten lassen, zu untersuchen, anhand welcher Gattungen und Texte zu welchem Zeitpunkt an konkreten Orten die Unterweisung von taufwilligen Christen tatsächlich vonstattenging. Bevor in karolingischer Zeit eine forcierte Durchsetzung des Apostolikums als Normbekenntnis erfolgte, herrschte – um es pointiert auszudrücken – eine gesteigerte Pluralität von apostolischen Glaubensbekenntnissen.
87 Während Kelly konstatierte, dass alle anderen Bekenntnisse des Westens im 4. bis 6. Jahrhundert Zusätze zum Romanum hätten, aber keine signifikanten Auslassungen und die Richtung der Tradition daher deutlich sei (Kelly, Glaubensbekenntnisse [s. Anm. 9], 179 f.), stellt Westra diese unilineare Sicht infrage: Einerseits seien bei Bekenntnissen, die zeitlich nach dem Romanum lägen, Varianten gegenüber diesem zu verzeichnen, die auf eine frühere Verzweigung der Genealogie hindeuteten (Westra, Apostles’ Creed [s. Anm. 10], 63 – 65) unter Rekurs auf eine wenig rezipierte Beobachtung von P. Smulders, Some Riddles in the Apostles’ Creed, in: Bijdr. 31 [1970] 234 – 260; andererseits wiesen die Überschneidungen zwischen dem Romanum und der Traditio apostolica auf einen gemeinsamen, in vorkonstantinischer Zeit zu suchenden »Urtext« hin, den Westra »Proto-R« nennt (Westra, Apostles’ Creed [s. Anm. 10], 65 – 68). Ich bin gegenüber diesem Postulat aus bereits oben genannten Gründen skeptisch.
48 Peter Gemeinhardt 4.2. Pneumatologische und ekklesiologische Zugewinne Dem inhaltlichen Aspekt dieser Pluralität soll ein letzter Gedankengang gewidmet sein. Vorausgeschickt sei, dass die Abweichungen unter den Texten nicht immer theologisch sinntragend waren, weshalb es im Folgenden nicht darum gehen kann, sämtliche Unterschiede zwischen den bisher diskutierten und noch vielen anderen Textfassungen zu behandeln. Ich beschränke mich auf einen Vergleich zwischen dem Romanum und dem Apostolikum:88 Romanum (R)
Apostolikum (T)
Credo in deo, patre omnipotente,
Credo in deum, patrem omnipotentem, creatorem caeli et terrae. Et in Iesum Christum filium eius unicum, dominum nostrum. Qui conceptus est de spiritu sancto natus ex Maria virgine. Passus sub Pontio Pilato crucifixus, mortuus et sepultus. Descendit ad inferna. Tertia die resurrexit a mortuis. Ascendit ad caelos; sedit ad dexteram dei, patris omnipotentis. Inde venturus iudicare vivos et mortuos. Credo in spiritum sanctum. Sanctam ecclesiam catholicam. Sanctorum communionem, remissionem peccatorum. Carnis resurrectionem, vitam aeternam.
et in Iesu Christo unico filio eius, domino nostro, qui natus est de spiritu sancto ex Maria virgine, crucifixus sub Pontio Pilato et sepultus, tertia die resurrexit; ascendit in caelos; sedet ad dexteram patris; inde venturus iudicare vivos et mortuos; et in spiritu sancto, sanctam ecclesiam, remissionem peccatorum, carnis resurrectionem.
Da der vorliegende Band dem ersten und dritten Artikel des Apostolikums gewidmet ist und es schon einen weiteren Band zum zweiten Artikel gibt,89 konzentriere ich mich auf den ersten und den dritten Artikel. Entsprechend werden die Unterschiede im christologischen 88 Kinzig II, § 254b und 376 (Näheres s. o. Anm. 37 und 2). Die Zuweisung der einzelnen Sätze des Apostolikums an die Apostel wurde ausgelassen. 89 J. Herzer / A. Käfer / J. Frey (Hg.), Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik (UTB 4903), Tübingen 2018.
Vom Werden des Apostolikums 49
Abschnitt übergangen, einschließlich des – wie gesehen – erstmals bei Rufin als Glaubensartikel bezeugten descensus ad inferna.90 Blicken wir auf den ersten Artikel des Apostolikums, so bildet die Schöpfertätigkeit Gottes (creatorem caeli et terrae) einen Überschuss gegenüber dem Romanum, womit freilich nur aufgegriffen wurde, was in östlichen Bekenntnissen seit jeher präsent war, allen voran das Nizänum und das Nizäno-Konstantinopolitanum, und was auch in der westlichen Theologie in der Spätantike keinen Diskussionsgegenstand bildete.91 Präziser wäre zu sagen, dass im Nizänum vom »Schöpfer aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge« (πάντων ὁρατῶν τε καὶ ἀοράτων ποιητήν) die Rede ist, während »Himmel und Erde« erst das Bekenntnis von 381 benennt. Eine vergleichbare Varianzbreite von Aussagen ergeben die lateinischen Texte ausweislich des von Kinzig gesammelten Materials: So bietet Caesarius von Arles († 542) in einer als Expositio vel Traditio Symboli überlieferten Predigt einen dem Apostolikum schon weitgehend entsprechenden Bekenntnistext mit creatorem caeli et terrae,92 allerdings ohne in der Erklärung darauf einzugehen. Hingegen spricht eine noch ins 5. Jahrhundert zu datierende, also vergleichsweise frühe anonyme Expositio de fide catholica von Gott dem Vater als invisibilem visibilium et invisibilium conditorem.93 In Credotexten aus dem 4. und 5. Jahrhundert fehlt der Passus ansonsten überwiegend, wie die Bekenntnistexte, die aus der Explanatio symboli des Ambrosius von Mailand oder aus den Predigten der Bischöfe von Ravenna und Rom, Petrus Chrysologus († 458) 90 Zum descensus ad inferna (bzw. ad inferos) vgl. in dem soeben erwähnten Band M. Frenschkowski, Hinabgestiegen in das Reich der Toten. Jenseitsmythen, Christologie und der Weg der Seele, in: Herzer / Käfer / Frey, Rede (s. Anm. 89), 255 – 286 (mit reichem religionsgeschichtlichen Material). Eine ausführliche Untersuchung des descensus in Glaubensbekenntnissen im Blick auf deren Grundstruktur mythischen Erzählens einschließlich der vorausgehenden Traditionsgeschichte bietet demnächst P. Gemeinhardt, Sphärenwechsel im Christusmythos. Höllen- und Himmelfahrt Christi als mythische Strukturmomente in spätantiken christlichen Glaubensbekenntnissen und ihren Kontexten, in: A. Zgoll / C. Zgoll (Hg.), Mythische Sphärenwechsel (MythoS 2), Berlin u. a. 2020, 539 – 622. 91 Vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 366 f., der die Annahme zurückweist, der als dualistisch, ja manichäisch angesehene Priscillianismus habe mit dieser Klausel bekämpft werden sollen, die vielmehr »ganz zufällig und unbeabsichtigt in das Bekenntnis eingedrungen« sei (a. a. O., 368). 92 Caesarius von Arles, sermo 9,1 (CChr.SL 103, 47 Morin = Kinzig II, § 271a). 93 Anonymus, Expositio de fide catholica (CPL 505; Westra, Apostles’ Creed [s. Anm. 10], 312 = Kinzig II, § 265).
50 Peter Gemeinhardt und Leo I. († 461), rekonstruiert werden können, belegen.94 Kellys Beobachtung: »Lange Zeit scheint die westliche Tradition zwischen conditorem und creatorem geschwankt zu haben«,95 ist so nicht aufrechtzuerhalten, da tatsächlich nur wenige Textzeugen für conditorem zu finden sind.96 Wo der Schöpfer überhaupt erwähnt wird, steht fast durchweg creatorem, wobei dieses Prädikat erst in karolingischer Zeit endgültig als Textbestandteil durchgesetzt worden zu sein scheint. Als Problem erschienen solche Zusätze offenbar nicht, selbst wenn es sich nicht um kleine Änderungen, sondern um dogmatisch relevante Varianten handelte97 – und darum handelt es sich bei den ekklesiologischen Präzisierungen catholicam und vor allem sanctorum communionem. Beide Wendungen erscheinen zuerst im Bekenntnis des Niketas von Remesiana (um 370 / 375),98 etwas später auch in einem pseudo-hieronymianischen Bekenntnis, der sogenannten Fides Hieronymi.99 Das Prädikat »katholisch« reflektiert, was die seit jeher als »allumfassend« betrachtete Kirche im 4. Jahrhundert tatsächlich auch quantitativ, geographisch und politisch wurde. Es ist kein Zufall, 94 Kinzig II, §§ 255, 256, 259. Die Belege, die eine Durchsicht der lateinischen, dem Apostolikum nahestehenden Texte (Kinzig II, §§ 253 – 347) ergab, werden im Folgenden nicht vollständig aufgezählt. 95 Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 367. 96 Darunter eine weitere anonyme Auslegung des Credos, die mit der in Anm. 93 genannten eng verwandt ist (Kinzig II, § 273), sowie zwei pseudambrosianische Schriften (a. a. O., §§ 310 und 323). 97 Westra, Apostles’ Creed (s. Anm. 10), 92 – 95. 98 Niketas von Remesiana, symb. 1 – 10 (Burn [Hg.], Niceta [s. Anm. 29], 38 – 49 = Kinzig II, § 324); vgl. P. Gemeinhardt, Die Kirche und ihre Heiligen. Studien zu Ekklesiologie und Hagiographie in der Spätantike (STAC 90), Tübingen 2014, 83 – 86. Nach Westra, Apostles’ Creed (s. Anm. 10), 215 gehörte sanctorum communionem nicht zum Text des von Niketas ausgelegten Bekenntnisses (anders Kinzig und Gamber; ebenso Kelly, Glaubensbekenntnisse [s. Anm. 9], 174). Vinzent, Ursprung (s. Anm. 15), 365 – 370, bestreitet wiederum gegen Westra die Möglichkeit, Niketas als Zeugen für das Apostolikum als Text heranzuziehen, und stellt darüber hinaus die Zuschreibung der Instructiones an Niketas überhaupt infrage (einschließlich ihrer herkömmlichen Datierung auf das letzte Drittel des 4. Jahrhunderts), allerdings ohne durchschlagende Begründung. 99 Fides Hieronymi (CChr.SL 69, 275,1 – 17 Bulhart = Kinzig III, § 484). Dieser Text ist gelegentlich für die sanctorum communio als erste Quelle namhaft gemacht worden (z. B. H. Kruse, »Gemeinschaft der Heiligen«. Herkunft und Bedeutung des Glaubensartikels, in: VigChr47 [1993], 246 – 259 [257], aber mit problematischer Begründung). Hieronymus als Verfasser ist auf jeden Fall wenig wahrscheinlich; ob es Gregor von Elvira war, wie alternativ vermutet worden ist, mag hier auf sich beruhen.
Vom Werden des Apostolikums 51
dass die »heilige katholische Kirche« erstmals in einem lateinischen Bekenntnistext bei Niketas begegnet, einem Bischof aus Dakien, der quasi auf der sich verfestigenden Grenze zwischen Ost und West lebte und diese literarisch überbrückte, auf jeden Fall aber die Taufkatechesen Kyrills von Jerusalem kannte und nutzte,100 beschrieb letzterer doch die Katholizität der Kirche knapp und pointiert: »Die Kirche heißt katholisch, weil sie auf dem ganzen Erdkreis, von dem einen Ende bis zum anderen, ausgebreitet ist, weil sie allgemein und ohne Unterlaß all das lehrt, was der Mensch von dem Sichtbaren und Unsichtbaren, von dem Himmlischen und Irdischen wissen muß […].«101
Die »katholische« Kirche ist also nicht nur der Raum, in dem Christen auf aller Welt miteinander leben, sie vermittelt auch die notwendige und d. h. orthodoxe Lehre – womit implizit Bischöfe, Katecheten und andere ekklesiale Lehrer die Katholizität sowohl vermitteln als auch verkörpern. Was daraus resultiert, ist – mit einem weiteren Begriff, der seit dem späten 4. Jahrhundert in die Bekenntnistradition hineingelangt – die »Gemeinschaft der Heiligen«. Der Begriff sanctorum communionem spricht dabei gleich mehrere Dimensionen an: die Gemeinschaft am Heiligen, d. h. an den eucharistischen Elementen; das Bewusstsein, dass die »katholische« Gemeinschaft Zeit und Raum übersteigt und auch die Verstorbenen einbezieht; schließlich die Vorstellung der Gemeinschaft von und mit »besonderen«, später »kanonisierten« Heiligen.102 Es ist deutlich, dass die Textgeschichte des Apostolikums Wandlungen der kirchlichen Praxis und des Kirchenund Frömmigkeitsverständnisses reflektiert. Zugleich implizierte die Polyvalenz eines Begriffs wie sanctorum communio Deutungsoffenheit: Mit der Präzisierung des Bekenntnistextes war die Frage, was an der Kirche und wer in der Kirche heilig sei, nicht beantwortet, sondern allererst gestellt. Die Ambiguität des Bekenntnistextes in Bezug auf lebende und tote, normale und besondere Heilige bringt Niketas von Remesiana in seiner Auslegung des Credos differenziert zu Ausdruck: 100 Zur Kyrill-Rezeption durch Niketas vgl. C. A. Cvetković, ›Sancta ecclesia catholica‹ and ›Communio sanctorum‹: Nicetas of Remesiana and the Unity of the Christian Church, in: Gemeinhardt (Hg.), Was ist Kirche (s. Anm. 22), 101 – 116. 101 Kyrill von Jerusalem, catech. 18,23 (II 324 Reischl / Rupp): Καθολικὴ μὲν οὖν καλεῖται διὰ τὸ κατὰ πάσης εἶναι τῆς οἰκουμένης ἀπὸ περάτων γῆς ἕως περάτων, καὶ διὰ τὸ διδάσκειν καθολικῶς καὶ ἀνελλιπῶς ἅπαντα τὰ εἰς γνῶσιν ἀνθρώπων ἐλθεῖν ὀφείλοντα δόγματα, περί τε ὁρατῶν καὶ ἀοράτων πραγμάτων, ἐπουρανίων τε καὶ ἐπιγείων […] (Übers. Ph. Haeuser, BKV 41, 351 f.). 102 Dazu vgl. Gemeinhardt, Kirche (s. Anm. 98), 81 – 90.
52 Peter Gemeinhardt »Nach dem Bekenntnis zur seligen Trinität sollst du nun bekennen, dass du eine heilige katholische Kirche glaubst. Was ist aber die Kirche anderes als die Versammlung aller Heiligen? Denn von Anbeginn der Welt an sind alle, die [Heilige] waren, sind oder sein werden – seien es die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob, seien es die Propheten, Apostel und Märtyrer, seien es die übrigen Gerechten – , eine Kirche, weil sie durch einen Glauben und durch eine Lebensführung geheiligt, mit einem Geist bezeichnet, zu einem Leib gemacht sind. Als das Haupt dieses Leibes wird uns Christus gezeigt, wie geschrieben steht [Eph 1,22; 5,23; Kol 1,18]. Um es noch deutlicher zu sagen: Auch die Engel, auch die übernatürlichen Gewalten und Mächte sind in dieser einen Kirche zu einem Bund vereinigt, wie der Apostel uns lehrt [Kol 1,20], weil in Christus alles versöhnt ist, nicht nur was auf Erden, sondern auch was im Himmel ist. Also glaube, dass du in [sc. nur als Glied] dieser Kirche der Gemeinschaft der Heiligen folgen wirst. Wisse, dass es eine katholische Kirche ist, die auf dem ganzen Erdkreis gegründet ist – die Gemeinschaft mit ihr sollst du unerschütterlich bewahren. Es gibt auch gewisse Pseudo-Kirchen, aber mit diesen sollst du nichts gemein haben (ich meine diejenigen der Manichäer, Kataphryger [sc. Montanisten], Marcioniten und all der anderen Häretiker und Schismatiker), weil sie aufgehört haben, zu jener heiligen Kirche zu gehören, insofern sie – von dämonischen Lehren verführt – anders glauben und anders handeln, als es Christus, der Herr, befohlen hat und als es die Apostel überliefert haben.«103
Die Traditions- und Interpretationsgeschichte der communio sanctorum im Westen ist lang und verwickelt;104 sie kann hier nicht nachgezeichnet werden. Festgehalten sei aber, dass am Anfang dieser Geschichte nicht die exklusive Perspektive der besonderen – später dann 103 Niketas von Remesiana, symb. 10 (Burn [ed.], Niceta [s. Anm. 29], 48,1 – 49,3): »Post confessionem beatae Trinitatis iam profiteris te credere sanctam ecclesiam catholicam. Ecclesia quid est aliud, quam sanctorum omnium congregatio? Ab exordio enim saeculi siue patriarchae Abraham et Isaac et Jacob, siue prophetae, siue apostoli, siue martyres, siue ceteri iusti, qui fuerunt, qui sunt, qui erunt, una ecclesia sunt, quia una fide et conuersatione sanctificati, uno Spiritu signati, unum corpus effecti sunt; cujus corporis caput Christus esse perhibetur et scriptum est. Adhuc amplius dico. Etiam angeli, etiam uirtutes et potestates supernae in hac una confoederantur ecclesia, apostolo nos docente, quia ›in Christo reconciliata sint omnia, non solum quae in terra sunt, uerum etiam quae in caelo‹. Ergo in hac una ecclesia credis te communionem consecuturum esse sanctorum. Scito unam hanc esse ecclesiam catholicam in omni orbe terrae constitutam; cuius communionem debes firmiter retinere. Sunt quidem et aliae pseudoecclesiae, sed nihil tibi commune cum illis, ut puta Manichaeorum, Cataphrigarum, Marcionistarum, uel ceterorum haereticorum siue schismaticorum, quia iam desinunt esse ecclesiae istae sanctae, siquidem daemoniacis deceptae doctrinis aliter credunt, aliter agunt, quam Christus Dominus mandauit, quam apostoli tradiderunt.« 104 Hierzu mit zahlreichen Belegen Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 381 – 390.
Vom Werden des Apostolikums 53
kanonisierten – Heiligen stand, sondern eine Hoffnungsperspektive für alle Christen, die in der Zweideutigkeit der Jetztzeit lebten. Sogar ein Theologe wie Augustin, der zu Beginn seiner kirchlichen Karriere dem Heiligenkult und dem damit verbundenen Wunderglauben sehr skeptisch gegenüberstand, entfaltete am Ende von De civitate dei ein solches Panorama einer über Zeiten und Räume hinweg verbundenen Kirche: »In der Offenbarung [20,4] heißt es: ›Und die Seelen derer, die um des Zeugnisses von Jesus willen und um des Wortes Gottes willen getötet sind […] herrschten mit Jesus tausend Jahre.‹ Gemeint sind die Seelen der Märtyrer, denen ihre Leiber noch nicht zurückgegeben wurden. Denn die Seelen der verstorbenen Frommen sind nicht etwa von der Kirche getrennt, die schon jetzt das Reich Christi bildet. Denn sonst würde ihrer nicht am Altar in der Gemeinschaft am Leib Christi gedacht werden […] Nur die Seelen der Märtyrer aber erwähnt Johannes hier, weil diese Toten, die bis zum Tode für die Wahrheit stritten, vornehmlich zum Herrschen berufen sind. Doch vom Teil aufs Ganze schließend müssen wir dies so verstehen, dass auch die übrigen Toten zur Kirche gehören, die das Reich Christi ist.«105
Dazu passt, dass ganz am Ende des dritten Artikels noch eine weitere Änderung gegenüber dem lateinischen Romanum erscheint: vitam aeternam (während Markells griechische Fassung des Romanums bereits ζωὴν αἰώνιον bietet). Nach Kelly sollte diese Ergänzung dem Eindruck entgegenwirken, »die Auferstehung der Gläubigen folge eher dem Beispiel des Lazarus als dem Christi«;106 es sollte demnach die Furcht ausgeräumt werden, nach der Auferstehung sei mit einem weiteren physischen Tod zu rechnen. In der Tat wandte sich Augustin gegen solche Vorstellungen und betonte, dass die Auferstehung des Fleisches derjenigen Christi gleiche und zu ewigem Leben führe (wenn auch durch das Endgericht hindurch).107 Daneben ist aber 105 Augustin, civ. 20,9 (CChr.SL 48, 717,67 – 74; 718,87 – 91 Dombart / Kalb): »et animae, inquit, occisorum propter testimonium iesu et propter uerbum dei; subauditur quod postea dicturus est: regnauerunt cum iesu mille annis; animae scilicet martyrum nondum sibi corporibus suis redditis. neque enim piorum animae mortuorum separantur ab ecclesia, quae nunc etiam est regnum christi. alioquin nec ad altare dei fieret eorum memoria in communicatione corporis christi […] sed ideo tantummodo martyrum animas commemorauit, quia ipsi praecipue regnant mortui, qui usque ad mortem pro ueritate certarunt. sed a parte totum etiam ceteros mortuos intellegimus pertinentes ad ecclesiam, quod est regnum Christi.« Augustinus, Vom Gottesstaat, übers. v. W. Thimme München 31991, Bd. 2, 611. 106 Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 380. 107 Vgl. Augustin, ench. 23,84 (CChr.SL 46, 95,1 – 8 Evans): »iam uero de resurrectione carnis, non sicut quidam reuixerunt iterumque sunt mortui, sed
54 Peter Gemeinhardt schon bei Kyrill von Jerusalem zu beobachten, dass die Klausel καὶ εἰς ζωὴν αἰώνιον nicht nur den andauernden Realitätsgehalt der Auferstehung begründete, sondern sich darüber hinaus auf das Reich Gottes richtet, in dem die Auferstandenen verweilen würden: »Der Vater ist wirklich und wahrhaftig das Leben […] Das ewige Leben aber hat er in seiner Menschenfreundlichkeit uns Menschen untrüglich verheißen.«108 Auch Niketas von Remesiana verstand diesen letzten Satz des Bekenntnisses als exklusive Verheißung ewigen Lebens für Christen, die auf Erden keusch gelebt hatten.109 Die entscheidende Frage scheint demnach nicht zu sein, warum dieser Satz im Apostolikum steht, sondern warum er im Romanum fehlt – denn er begegnet in der großen Mehrheit der überlieferten Bekenntnistexte, und zwar in allen Epochen und Regionen. Das Romanum und die Traditio apostolica belegen also einen Sonderweg. Dass ausgerechnet der römischen Gemeinde das ewige Leben nicht so wichtig erschienen sei, wäre allerdings eine überzogene Schlussfolgerung. Hingewiesen sei zum Schluss noch auf eine Variante, die das ewige Leben ausdrücklich an die Kirche zurückbindet: Augustin und einige seiner nordafrikanischen Zeitgenossen verwendeten offenbar das Credo mit dem abschließenden Satz vitam aeternam per sanctam ecclesiam.110 Diese Wendung findet sich auch bereits bei Cyprian von in aeternam uitam sicut Christi ipsius caro resurrexit, quemadmodum possim breuiter disputare, et omnibus quaestionibus quae de hac re moueri assolent satisfacere, non inuenio. resurrecturam tamen carnem omnium quicumque nati sunt hominum atque nascentur, et mortui sunt atque morientur, nullo modo dubitare debet christianus.« Ähnlich stellt sermo 214,12 (P. Verbraken, Le Sermon CCXIV de saint Augustin pour la tradition du symbole, in: RBen 72 [1962], 7 – 21 [21,250 f.] = Kinzig II, § 316 f.) fest: »Sed nec de ista carne mortali, quod resurrectura sit in saeculi fine, dubitare debemus.« 108 Kyrill von Jerusalem, catech. 18,29 (II 332 Reischl / Rupp): Ἡ μὲν οὖν ὄντως ζωὴ καὶ ἀληθῶς ἐστιν ὁ πατήρ […] διὰ δὲ τὴν ἐκείνου φιλανθρωπίαν καὶ ἡμῖν τοῖς ἀνθρώποις τὰ τῆς αἰωνίου ζωῆς ἀψευδῶς ἐπήγγελται (Übers. Ph. Haeuser, BKV 41, 355). 109 Niketas von Remesiana, symb. 12 (Burn [Hg.], Niceta [s. Anm. 29], 51 = Kinzig II, § 324): »Vivent enim cum Christo in caelo, qui vixerunt secundum praecepta Christi et iustitias in hoc mundo.« Vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 381. 110 So das rekonstruierte Credo nach Augustin, sermo 215 (P. Verbraken, Les Sermons CCXV et LVI de saint Augustin: De symbolo et De oratione dominica, in: RBen 68 [1958], 5 – 40 [24 f.] = Kinzig II, § 316g); ebenso Quodvultdeus, sermo 112,1 (CChr.SL 60, 332,1 f. Braun = Kinzig II, § 317a) und das aus mehreren Texten des Fulgentius von Ruspe sowie aus einem pseudofulgentianischen Sermo de symbolo (CPL 846) zu rekonstruierende Credo
Vom Werden des Apostolikums 55
Karthago († 258) in einer Auseinandersetzung mit der um Novatian gescharten Gruppe von Konfessoren in Rom, die offenbar die Tauffrage »Glaubst du an die Vergebung der Sünden und an das ewige Leben durch die heilige Kirche?« verwendeten – woraufhin Cyprian ergänzte: »Sie lügen bei der Befragung, denn sie haben die Kirche gar nicht!«111 Ewiges Leben konnte es nach Cyprians Ansicht nur durch die richtige Kirche geben, von der sich die Novatianer schuldhaft getrennt hatten. Diese Argumentation setzt freilich die Heiligkeit der Kirche voraus, die unter irdischen Bedingungen – wie nicht zuletzt Augustin selbst in seiner großen Schrift De civitate dei argumentiert hat – stets im Zweideutigen verbleibt und nur als geglaubte den Weg zum ewigen Leben bereiten kann. Dieses differenziertere Verständnis der »heiligen Kirche« dann auch liegt dem entstehenden Apostolikum sachlich zugrunde.
5. Fazit: Das vielfältige Werden des einen Glaubensbekenntnisses Mit dem 4. und den folgenden Jahrhunderten sei, wie in der Forschung (nicht nur) zu Glaubensbekenntnissen verschiedentlich beklagt worden ist, eine »Zeit liturgischer Starrheit und Uniformität« angebrochen.112 Auch über den Katechumenat, in dessen Zentrum die Belehrung über den christlichen Glauben stand, wurde noch vor nicht allzu langer Zeit geschrieben, dieser sei »als Institution in der Kirche des Römischen Reiches schon lange vor der Amtszeit des Ambrosius als Bischof von Mailand verfallen« gewesen.113 Ambrosius und seine Zeitgenossen in der zweiten Hälfte des 4. und in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts wären demnach lediglich Sachwalter einer einst blühenden, jetzt aber vom Massenansturm der Taufwilligen (Kinzig II, § 319 und 320). In der Sache ist der Gedanke verbreitet, vgl. nur Kyrill von Jerusalem, catech. 18,28 (II 330 Reischl / Rupp): Ἐν ταύτῃ τῇ ἁγίᾳ καθολικῇ ἐκκλησίᾳ διδασκόμενοί τε καὶ ἀναστρεφόμενοι καλῶς τὴν τῶν οὐρανῶν βασιλείαν ἕξομεν καὶ ζωὴν αἰώνιον κληρονομήσομεν. 111 Cyprian, ep. 69,7,2 (CChr.SL 3C, 480,155 – 158 Diercks): »Nam cum dicunt ›credis in remissionem peccatorum et uitam aeternam per sanctam ecclesiam?‹ mentiuntur interrogatione, quando non habeant ecclesiam.« 112 Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 121, hier pars pro toto zitiert. 113 J. Schmitz, Einleitung, in: Ambrosius von Mailand, De sacramentis. De mysteriis. Über die Sakramente. Über die Mysterien, hg. v. J. Schmitz (FC 3), Freiburg i. Br. u. a. 1990, 7 – 73 (16).
56 Peter Gemeinhardt erdrückten Praxis der Glaubensunterweisung gewesen – und das Romanum und andere Texte wären entsprechend eine Notmaßnahme, um eine Basisration an Glaubenswissen unters Volk zu bringen, wie gut oder schlecht dies auch verstanden worden wäre. Das Bemühen der Apostel, gemäß dem Auftrag ihres auferstandenen Herrn »alle Welt zu Jüngern zu machen«, wäre dann gewissermaßen am eigenen Erfolg gescheitert – und das Apostolikum müsste als Symptom dieses Pyrrhussieges der apostolischen Mission gelten. Wie die letzten Abschnitte gezeigt haben, kann und muss das Werden des Apostolikums aber keineswegs als Inbegriff einer Dekadenzgeschichte beschrieben werden (und auch die Urteile über die Taufunterweisung in der Reichskirche fallen in neuerer Zeit differenzierterer aus, als das obige Zitat suggeriert). Vielmehr gab es gerade in dem Bereich, der für den vorliegenden Band von Interesse ist, weniger einen dramatischen Niedergang als signifikante Transformationen. Das bedeutet nicht, die eine »goldene Zeit« – die Märtyrerkirche der vorkonstantinischen Jahrhunderte mit ihrem spontanen Bekenntnis »Ich bin Christ, ich bin Christin!« – durch eine andere – die triumphierende Reichskirche mit ihren elaborierten Glaubensformeln – zu ersetzen. Vielmehr könnte man von Konjunkturen des Apostolischen sprechen, und hier ist das 2. Jahrhundert mit den apokryphen Apostelakten, der apostolischen Sukzession und den frühen Glaubensregeln ebenso eine Epoche sui generis wie die Reichskirche mit ihrem Bestreben, das apostolische Erbe theologisch eindeutig, katechetisch nutzbar und frömmigkeitspraktisch anwendbar zu formulieren. Dazu bedurfte es ganz offensichtlich mehrerer Anläufe: Bis das Werden »des« Apostolikums zur Einheitlichkeit eines Textus receptus gediehen war, sollte es Jahrhunderte dauern, und diesem Prozess eignet eine spezifische Unübersichtlichkeit, die ich zumindest andeuten wollte. Umgekehrt haben die Ausführungen zu den Unterschieden zwischen den einzelnen Bekenntnistexten aber auch gezeigt, dass im 4. Jahrhundert der Grundbestand unstrittig war und in der Folgezeit in allen Regionen stabil blieb – das Apostolikum führt unhinterfragt mit, was zu früheren Zeiten unter Inanspruchnahme des Apostolischen ausgehandelt und festgestellt worden war, z. B. dass von einem Gott und von Jesus Christus als dem einen Erlöser zu sprechen sei. All dies ist bei der Herausbildung von deklaratorischen und katechetisch genutzten Bekenntnissen schon vorausgesetzt. In dem Moment, als das Apostolische in Textform gefasst wurde, stand es inhaltlich schon weitgehend fest – bemerkenswerterweise haben
Vom Werden des Apostolikums 57
die trinitätstheologischen Diskussionen im Westen in der Tradition katechetischer (und später liturgischer) Bekenntnisse keine Spuren hinterlassen, und das Athanasianum, in dem das greifbar ist, hat für die kirchliche Praxis nur geringe Bedeutung gewonnen. Das Nizäno-Konstantinopolitanum stellt diesbezüglich einen Sonderfall dar, denn trotz (oder wegen?) des Teilartikels über Einziggeborenheit, Präexistenz und Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater wurde es in Byzanz, aber auch im Westen zu einem liturgisch verwendeten Bekenntnis (und in Rom für Jahrhunderte zum Taufbekenntnis). Aber das ist eine andere Geschichte.114 Die Entwicklung im Westen war, wie beschrieben, von einer Vielfalt von Bekenntnistexten geprägt. Auch hier war es aber nicht so, dass sich das Apostolikum (um Karl Barths Diktum über den biblischen Kanon abzuwandeln) der Kirche »imponiert« hätte, vielmehr wurde der uns vertraute Text erst durch reformfreudige karolingische Könige reichsweit bis nach Rom eingeführt. Dem apostolischen Charakter der zahlreichen in Gebrauch befindlichen Bekenntnistexte tat das grundsätzlich keinen Abbruch. Es war gerade die Vielfalt von Varianten und Traditionen, die mit der Berufung auf den apostolischen Ursprung, ja auf die von allen Aposteln stammende Formulierung des einen Glaubensbekenntnisses eingehegt werden sollte. Was herauskam, war – zumindest für einige Jahrhunderte – gesteigerte, verwirrende, aber im historischen Rückblick auch ermutigende Pluralität. »Das« Apostolikum war lange im Werden, und dieses Werden war von theologischer Folgerichtigkeit wie von Kontingenzen geprägt. Es ist erstaunlich, welche Karriere ein Bekenntnis machte, das mit den Aposteln selbst nur vermittelt zu tun hatte – es war eben nicht »ein Symbol, welches nur etwa zwei Menschenalter von der apostolischen Zeit entfernt liegt und direct oder indirect die Wurzel aller Symbole der Christenheit geworden ist«, wie Harnack meinte.115 Über die Inhalte des Apostolikums und ihre Deutung wird in dem vorliegenden Band vor allem das Gespräch zwischen exegetischer und systematisch-theologischer Wissenschaft geführt. Der Beitrag eines 114 Dazu Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 9), 39 – 352; R. Staats, Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel. Historische und theologische Grundlagen, Darmstadt 1996, 180 – 189. 115 A. Harnack, Das Apostolische Glaubensbekenntnis. Ein geschichtlicher Bericht nebst einem Nachwort, Berlin 21892, 18; ähnlich H. Lietzmann, Symbolstudien (1922 – 1927), in: ders., Kleine Schriften, Bd. 3: Studien zur Liturgie- und Symbolgeschichte. Zur Wissenschaftsgeschichte (TU 74), Berlin 1962, 189 – 281 (281).
58 Peter Gemeinhardt Kirchengeschichtlers konnte dabei nur darin bestehen, ein Stückchen historische Aufklärung beizusteuern. Insofern aber in Gottesdiensten und bei anderen Gelegenheiten der Glaube in Verbundenheit mit der communio sanctorum bekannt wird, die nicht nur gegenwärtige Räume, sondern auch vergangene und – so hoffen wir – künftige Zeiten umfasst, ist die Besinnung auf die geschichtliche Entstehung des Credos und die dabei obwaltenden Kontingenzen weit mehr als nur der Rahmen für das »Eigentliche«. Historische Tiefenschärfe in die Betrachtung einzubeziehen, dürfte vielmehr unmittelbar dazu beitragen, diesen grundlegenden Baustein unserer konfessionellen und ökumenischen Tradition in evangelischer Freiheit wahrzunehmen, zu schätzen und bewusst im Munde zu führen.
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse im religionsgeschichtlichen Horizont Reinhard Achenbach
1. Theologie im Horizont der Religionsgeschichte Die alttestamentlich jüdische und damit auch die christliche Jhwh-Gottes-Verehrung hat ihren historischen Ursprung in der Religionsgeschichte des Alten Orients. Daran haben auch die symbolischen und metaphorischen Zuschreibungen an Wesen und Wandel der Gottheit des Abend- und des Morgenlandes ihren Anteil. Der Gedanke einer die Religionsgeschichte umgreifenden Wirklichkeit, die den Aspekt des Metaphysischen mit einschließt,1 wird in der alttestamentlichen Gedankenwelt nicht abstrakt systematisch erfasst, wie auch ein Geschichtsgedanke nicht abstrakt gefasst wird. Anstelle dessen tritt im biblischen Hebräisch die Benennung von Vorgängen und Erzählungen als devarîm: Beide sind allein in der Gestalt eines Narrativs zu haben.2 Die systematische Erfassung solcher Narration erfolgt einerseits in den Sinnstrukturen der Natur, die von dem Göttlichen wortlos Rechenschaft geben (Ps 19,2 – 5).3 Diese wird als 1 Grundlegend zur Verhältnisbestimmung von Religionsgeschichte und Theologie sind die Überlegungen von W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte (1962), in: ders., Grundfragen Systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 31979, 252 – 295; ders., Systematische Theologie Bd. I, Göttingen 1988, Kap. 3: Die Wirklichkeit Gottes und der Götter in der Erfahrung der Religionen, 133 – 206. 2 E. Herms, Gottes Wirklichkeit (1987), in: ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 318 – 342, zieht daraus den theologischen Schluss (341 f.): »Nun ist Gott aber der Grund der Wirklichkeit nur in diesem die Wirklichkeit begründenden Erschließungsgeschehen. Es gehört also zum Wesen des Grundes der Wirklichkeit als solchem hinzu. In der Sprache der klassischen biblischen Metapher heißt das: Gott ist als Grund aller Wirklichkeit seinem Wesen nach, also in sich selber, der schöpferisch Redende. Als dieser aber manifestiert und offenbart er sich nur im Vollzug seines schöpferischen Redens, dessen Inhalt jedoch niemals der Redende solcher selber ist, sondern immer nur die durch den Redeakt erschlossene Wirklichkeit, also das im Redeakt geäußerte Wort. Nur in seinen schöpferischen Äußerungen ist also der schöpferisch Redende für uns offenbar.« 3 Ps 19,2–5: »2 Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes, und das Firmament verkündet das Werk seiner Hände. 3 Ein Tag sagt es dem andern, und eine Nacht tut es der anderen kund, 4 ohne Sprache, ohne Worte, mit
60 Reinhard Achenbach Schöpfung aus einem göttlichen Reden verstanden. Der Gedanke der Erfassung von Wirklichkeit durch Narration stammt seinerseits aus der Tradition weisheitlicher Erziehung in Gestalt mündlicher und schriftlicher Lehren: Die väterlichen oder mütterlichen Reden nehmen Gestalt an durch Schriftgelehrte, sopherîm. Es sind also die Erzählungen, die die Wirklichkeit erschließen, und die in einer für den Menschen transzendenten Erschlossenheit des Wirklichkeitsbezugs ihren Ursprung erkennen.4 Diese Identifikation wirkt sich im religiösen Bewusstsein bis heute aus, wenn nämlich in der Narration selbst die referenzielle Unterscheidung von Textebene und Sachebene changiert. Unterscheidet man aber zwischen dem Vorgang und der Erzählung, so bleibt doch das, was vom Vorgang erfassbar wird, wiederum lediglich der Stoff des Erzählten, der gleichwohl nun der historisch kritischen Betrachtung genauso unterliegt wie die Narration selbst. Dennoch gibt es bekanntlich im Alten Testament eine Narration, die zwischen allgemeinmenschlichen religiösen Vorstellungsgehalten von der Welt des Göttlichen und der spezifischen Erfassung derselben in der Epoche der Ursprünge der Religion Israels unterscheidet. Somit wird innerhalb der religiösen Narration selbst eine Erzählung von den Ursprüngen der Religion in einem allgemeinen humanen Sinne möglich in Gestalt der Elohîm-Theologie des Pentateuch. Hinzu kommt, dass der – auch für das Bewusstsein der jüdischen Weisheit – infinite Charakter der vorfindlichen Wirklichkeit und der dahinterstehenden Gottheit (Prov 8; Hi 28)5 auch für den Prozess weisheitlich-gedankunhörbarer Stimme, 5 in alle Länder hinaus geht ihr Maß, bis zum Ende der Welt ihre Rede.« 4 Die Formulierung stammt von Herms, Offenbarung (s. Anm. 2), 168 – 220 (180). 5 Prov 8,22–31: »22 Jhwh hat mich geschaffen am Anfang seines Wegs, vor seinen anderen Werken, vor aller Zeit, 23 in fernster Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, in den Urzeiten der Erde […] 30 da stand ich als Werkmeisterin ihm zur Seite und war seine Freude Tag für Tag, spielte vor ihm allezeit. 31 Ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Freude an den Menschen.« – (Weisheit ist hier Metapher für ein prähistorisches Prinzip, aus welchem die Schöpfungsordnung auf spielerische Weise hervorgebracht wird, was die Vielfalt, Unendlichkeit und Kontingenz einschließt.) Hi 28,12–28 besingt die Unergründlichkeit der Weisheit: »12 Die Weisheit, wo ist sie zu finden, und wo ist der Ort der Erkenntnis? 13 Kein Mensch kennt ihren Wert, und im Lande der Lebenden ist sie nicht zu finden. […] 21 Den Augen aller Lebenden ist sie verborgen […] 22 Abgrund und Tod sprechen: Die Kunde von ihr kam uns zu Ohren. 23 Gott weiß den Weg zu ihr, und er kennt ihren Ort, 24 denn er schaut bis zu den Enden der Erde, er sieht alles, was unter dem Himmel ist. 25 Als er dem Wind sein Gewicht gab und das Maß des Wassers
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 61
licher Erschließung bedeutet, dass dieser zwangsläufig infinit sein muss. Der Pluralität der im Universum zu erfassenden Phänomene, die das »Spiel der Weisheit vor Gott« hervorgebracht hat, entspricht darum selbst im Horizont der alttestamentlichen Schriftensammlung eine Pluralität der Narrationen, die nun ihrerseits das Universale nur dadurch abbilden kann, dass sie sich selbst im Horizont der Gegenwart, des Angesichts Gottes expliziert und so sich selbst und die Welt versteht und deutet, also in demütiger Ehrfurcht wie in lustvoller Abbildhaftigkeit, und dass dabei die Erfassung von normativen Aussagen allein auf der Grundlage nur einer Aussage in einer Perspektive überhaupt nicht möglich ist. Vielmehr erschließt sich die Wirklichkeit des Besprochenen stetig neu in einem Diskursverfahren komplementärer Denkungsarten, das Widersprüchliches nicht nur aushält, sondern geradezu als notwendig zur Erfassung der Wirklichkeit und »wahrer«, d. h. Bestand habender Aussagen (hebr. ’æmæt), empfindet. Es ist dies ein Denken, das seinerseits infinit ist und darum ja in der jüdischen Tradition auch in der haggadischen und halachischen Auslegungsliteratur mündet, die schon in den Spätschriften der Bibel ihren Anfang nimmt. Da diesem Denken der Gottesbegriff und der Gottesname selbst ja schon in letzthinniger Weise nicht fasslich erscheint, verbleibt es in Bezug auf seinen Gegenstand immer in einer spannungsvollen Korrelation von Interiorität und Exteriorität, Benennung und Umschreibung, Metapher und Symbol, und verweist somit stets auf den Umstand, dass der Mensch von der Wahrheit ergriffen sein kann, ohne doch dabei die Grenzen des Aussagbaren und des Unsäglichen je vollkommen zu erreichen. Die Illusion, hieraus eine systematische Theologie gewinnen zu wollen, die nicht im Moment ihrer Fixierung schon immer auch in sich überholt sein muss, lässt sich vor diesem Gegenstand nicht halten. Wie aber innerhalb eines solchermaßen gearteten Prozesses dennoch Orientierung, ja tiefste Überzeugung einer Orthopraxie entsteht, wie Identität, ist die Frage. Die Antwort besteht eigentümlicherweise darin, dass in dem aus ökonomischer Pragmatik und religiöser Überzeugung gewonnenen Kanon selbst die Spannung zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Gottesnähe und Gottesferne, zwischen Gotbestimmte, 26 als er dem Regen eine Grenze schuf und Blitz und Donner einen Weg, 27 da hat er sie gesehen und ermessen, er hat sie gefestigt und ergründet. 28 Zum Menschen aber sprach er: Siehe, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und Böses meiden, das ist Erkenntnis.«
62 Reinhard Achenbach teswirklichkeit und Negation derselben, zwischen Inklusivität und Exklusivität integriert ist. Die von Friedhelm Hartenstein in seinem Aufsatz über »The Beginnings of Yhwh and ›Longing for the Origin‹ «6 beklagte Spannung zwischen religionsgeschichtlichen und theologischen Aussagen hat hier ihren Ort. Die Frage ist also, welche Faktoren bei der Generierung der biblischen Narration und der darin zutage tretenden Gottesbekenntnisse eine Rolle gespielt haben.
2. Gottesverehrung und Gottesbekenntnis Der Begriff der Gottesverehrung umfasst auch im Blick auf die Geschichte des Alten Israel die Vielfalt und Vielgestaltigkeit von Gottesvorstellungen und religiösen Praktiken, mit der sich in unterschiedlichen sozialen Kontexten die Gottesbeziehung der Menschen Ausdruck und Form gibt. In ihr bleiben Elemente der Mythen wie der heilsgeschichtlichen Narrationen einer ständig neuen Aktualisierung und Transformierung unterworfen. Gottesbekenntnisse bilden indes Kern und Fokus einer identitätsbildenden Darstellung eines Vorstellungskomplexes, der von der sie initiierenden und explizierenden formbildenden Generation Schriftgelehrter in einer bestimmten historischen Auseinandersetzung formuliert und verschriftet wird, und, seine gemeinschaftsstiftende Deutungskraft vorausgesetzt, fortan als weithin durch die Religionsgemeinschaft anerkannte normative Gestalt erhält. Die Phasen der Ausbildung solcher Gestalten können annäherungsweise benannt und beschrieben werden. Gleichwohl nimmt bekanntlich die Religionspraxis, also die Gottesverehrung selbst, auf diese Gestalten keineswegs überall und zu allen Zeiten gleichermaßen Bezug, sodass immer ein Hiatus zwischen formulierter und erzählter Religion und gelebter und praktizierter Religion besteht. Da nun aber der diskursive Charakter der schriftgelehrten Fortschreibungsarbeit an dem Fluss der Auseinandersetzungen um beides immer Anteil hat, ergibt sich aus dem alttestamentlichen Schrifttum auch schon aus formalen Gründen keine gedanklich geschlossene religiöse und philosophische Systematik und Lehre, sondern vielmehr eine Sammlung von anerkannten Leit6 F. Hartenstein, The Beginnings of YHWH and ›Longing for the Origin‹: A historico-hermeneutical query, in: J. van Oorschot / M. Witte (Hg.), The Origins of Yahwism (BZAW 484), Berlin / New York 2017, 283 – 308 (= van Oorschot / Witte, Origins).
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 63
texten,7 die ihrerseits nach stets neuer Deutung verlangen, welche wiederum auch nur auf diskursive Weise und strittig gewonnen werden kann. Die Einheit dieses Diskursfeldes ist durch den Gegenstand bestimmt und durch die Übereinkunft der gemeinsamen Orientierung auf diesen Gegenstand. Dass Jhwh der Gott Israels ist, muss darum immer wieder neu erkannt werden, so wie die andere Seite, dass und in welcher Hinsicht die Gemeinschaft der im Diskurs Stehenden das Volk des Gottes Israels sind. Es steht im Zeichen der Verschmelzung der alttestamentlichen Bundesformel und der Erkenntnisformel, wie sie die Priesterschrift in Ex 6,7 formuliert: »Und ich nehme euch an als mein Volk und ich werde euer Gott sein, und ihr sollt erkennen, dass ich Jhwh, euer Gott, bin, der euch herausführt aus der Fron Ägyptens.«8 Hinzu kommt die Heterogenität der Gottesaussagen selbst. Die Zuschreibungen bestimmter Wirkmächtigkeiten und Eigenschaften an eine Gottheit, die mit dem Epitheton des »Vaters« verbunden sind, hat es in unterschiedlichsten Gestalten in den Religionen des Alten Orients gegeben, also auch in der alttestamentlichen Religion. Religionsphänomenologisch gibt es keine differencia specifica der Jhwh-Religion gegenüber den nicht-jahwistischen Religionen. Gleich7 Der Prozess dieser Anerkennung war bekanntlich langwierig, er reichte von der Zeit des Zweiten Tempels bis in die Spätantike, wobei jedem Teil der Sammlung unterschiedliches Gewicht von jeweils wechselnden unterschiedlichen Tradentenkreisen zugemessen wurde. Hinzu kommen die vielfältigen Veränderungen im Laufe der Schriftgelehrtenkulturen selbst und schließlich die Textgeschichte. Vgl. hierzu K. van der Toorn, Scribal Culture and the Making of the Hebrew Bible, Cambridge Mass./London 2007; E. Otto, Die Geschichte der spätbiblischen und frühjüdischen Schriftgelehrsamkeit, in: ders., Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Gesammelte Studien (BZAR 8), Wiesbaden 2008, 564 – 602; D. M. Carr, The Formation of the Hebrew Bible. A New Reconstruction, Oxford / New York 2011; ders., Schrift und Erinnerungskultur: Die Entstehung der Bibel und der antiken Literatur im Rahmen der Schreiberausbildung (AThANT 107), Zürich 2015; A. de Pury, Der Kanon des Alten Testaments, in: T. Römer / J.-D. Macchi / C. Nihan (Hg.), Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der Hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, Zürich 2013, 3 – 24; A. Schenker, Die Textgeschichte des Alten Testaments, in: T. Römer / J.-D. Macchi / C. Nihan, a. a. O., 25 – 33. 8 Die insbesondere in der Priesterschrift und im Kreis der Ezechieltradition beheimatete Erkenntnisformel gilt Israel (Ex 16,6.12; 29,46; 31,13 u. ö.; Jes 43,10; 49,23; Ez 5,13; 6,10), aber auch Ägypten und der Welt der Völker (Ex 7,5.17; 8,6.18; 9,14; 11,17; 14,4.18; Ex 18,16; Jes 55,5; Ez 29,6; 34,30; 36,23; 36,36).
64 Reinhard Achenbach wohl war es im Überlebenskampf der Stammesgesellschaften der Levante im Verlauf der Geschichte des 1. Jahrtausends v. Chr. notwendig für Israel, um die Identität des Volkes zu wahren, eine mosaische Unterscheidung zu formulieren, was zu der durchaus sehr spezifischen Ausprägung der israelitischen Religion geführt hat.9 Diese hat die Phasen ihrer Ausbildung in einem Narrativ ausgeprägt, der die eigene Religionsgeschichte als gestufte Offenbarungsgeschichte beschreibt, was dazu geführt hat, dass die Tradenda aus diesen Phasen jeweils in neuer differenzierter Rahmung und Neudeutung integriert werden konnten und keinesfalls alle abgestoßen werden mussten. Es ist auch nicht möglich, mythische Elemente der religiösen Metaphorik als eine frühe, unausgeprägte Entwicklungsstufe späterer systematisch-philosophischer Konzeptionen auszugrenzen. Auch unter den Bedingungen eines ausgeprägten monotheistischen Gottesbildes bleiben die Elemente des Mythischen als offensichtlich notwendige symbolische Formen religiöser Aussage erhalten und werden nur teilweise retuschiert oder umgedeutet. Die Theologie wird also dazu tendieren, die Leitgedanken der konzeptionellen Formen der Gottesbekenntnisse zur Orientierung aufzunehmen und dabei die wechselhaften Impulse integrativer und exklusiver Prozesse in unterschiedlichem Gewicht zu verarbeiten. Für eine Theologie, die konsequent aus der Perspektive kontextueller Herausforderungen arbeitet, sind dabei integrative Prozesse meist interessanter als für eine Theologie, die nach Leitsätzen gemeinschaftsstiftender Narrative sucht. Keine Form der Theologie ist dabei frei davon, selbst Teil einer Religionsgeschichte zu sein und an deren Dynamiken mitzuwirken. Theologie ist selbst Teil einer bestimmten Form der Religionskultur, insofern aber diese von ihr auch reflektiert werden muss, bildet Theologie selbst auch eine reflexive kritische Systematik gegenüber der Religionskultur aus, an der sie gestaltenden Anteil hat. Dies war schon eine Eigentümlichkeit der alttestamentlichen Schriftgelehrtheit und bestimmt insofern die normativen Texte, die 9 Der Aufweis der Verwandtschaft und Gleichartigkeit der israelitischen Jhwh-Religion mit den Religionen Kanaans erklärt zwar den Deutungsraum, in dem sich die spezifische Geschichte des Alten Israel ereignet und in dem es sich selbst verstanden hat, er dispensiert aber eben gerade nicht von der Erklärung der konkreten Ausprägung und Wirklichkeit der altisraelitischen Religion als solcher, vgl. Hartenstein, Beginnings (s. Anm. 6), 305 f., vs. H. Pfeiffer, Jahwes Kommen von Süden. Jdc 5; Hab 3; Dtn 33 und Ps 68 in ihrem literaturund theologiegeschichtlichen Umfeld (FRLANT 211), Göttingen 2005, 13.
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 65
den Ausgangspunkt im Diskursgeschehen der jüdischen und christlichen Religionskulturen und Theologien bilden. Traditionsgeschichtlich sind an den Narrativen, die sie uns vermitteln, unterschiedlichste Ursprungselemente altorientalischer und israelitischer Gottesverehrung erkennbar, dennoch versuchen die Schriftgelehrten in immer neuen Anläufen, diese Elemente in eine einheitliche, sinnstiftende Erzählung zu gießen, die ihrerseits mit Mitteln der Mythenbildung operiert, um aus dieser hinwiederum Gottesbekenntnisse zu formen, die der Identitätsstiftung in ihrer jeweiligen Entstehungszeit dienen und in Verbindung von Ritus und Bekenntnis soziale und religiöse Integration ermöglichen. Dabei verarbeiten die Narrative historische und religiöse Erfahrungen in metaphorischen Gestalten und ermöglichen so die Generierung einer geschichtsbezogenen Verantwortung von theologischer Rede. Die Technik, die die Schriftgelehrten dabei anwenden, ist sowohl mit Hinsicht auf die einzelnen Elemente der heterogenen Gottesaussagen als auch mit Hinsicht auf die heterogenen Ausformungen ihrer Narrative die der komplementären Lesung, gleichsam der narrativen Gestalt eines Diskurses, in welchem harmonisierbare und widersprüchliche Elemente in ein narratologisches Verweissystem gebracht werden, aus welchem dann die Rezipienten ihrerseits anwendungsbezogene Auslegungen gewinnen können.10 Wie auf diese Weise Religionsgeschichte und Theologie in ein diskursives Dienstverhältnis zueinander treten, möchte ich anhand des Beispiels der Diskussionen um die Ursprünge des Jahwismus veranschaulichen. Dazu soll zunächst die Vielfalt der gegenwärtigen Theorien über den Ursprung des Jahwismus (1) dargestellt werden. Sodann ist zu zeigen, dass der Pentateuch selbst eine Theorie von den Ursprüngen und der Entfaltung des Jhwh-Glaubens bietet, dabei allerdings die Form einer Narration über die stufenweise Selbsterschließung Gottes (2) ausbildet. Schließlich ist zu zeigen, wie sich spätere Schriftgelehrte in ihrer 10 Als Beispiel sei auf das Buch Ruth verwiesen. Zwar lehnt das priesterliche Qahal-Gesetz in Dtn 23,4 die Aufnahme von Moabitern und ihren Nachkommen in die Gemeinde strikt ab, gleichwohl wird die Moabiterin infolge der Diskussion um die Frage der Fürsorge für Witwen als fremde Schwiegertochter mit Hilfe des Instituts der Leviratsehe (Dtn 25,5 – 10) integriert und zur Stammmutter Davids. Die Erzählung birgt ihrerseits zahllose Auslegungsprobleme, diskutiert man sie im Verhältnis zur Tora, woraus sich weitere rechtshermeneutische Debatten bis in die Gegenwart ergeben haben, vgl. I. Fischer, Rut (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 22005, 223 – 266; E. Otto, Deuteronomium 12 – 34. Zweiter Teilbd.: 23,16 – 34,12 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2017, 1849 – 1855.
66 Reinhard Achenbach Bearbeitung des Stoffes (3) zu dieser Theorie verhalten haben und wie sowohl hinsichtlich einer Protologie der Menschheitsgeschichte als auch hinsichtlich einer Eschatologie eine universale Offenheit der kanonischen Texte entsteht. In einem Ausblick sollen dann einige Folgen für das Verhältnis von historischer und theologischer Exegese bedacht werden.
3. Theorien über die Ursprünge der Jhwh-Religion und der Rede von Gott als Vater: Mythos, Metaphorik und Narration Wie immer eine christliche Theologie die metazeitliche und metasubjektive Wahrheit ihres Gottesgedankens begründet, sie muss sich darüber Rechenschaft geben, dass die der historischen Forschung zugänglichen Hinweise auf die Ursprünge des Jhwh-Glaubens nur annäherungsweise Rückschlüsse auf die hierin beteiligten Prozesse der Generierung und Ausformung der Jhwh-Religion zulassen und dass zweitens diese Religion menschheitsgeschichtlich eine ausgesprochen junge Gestalt repräsentiert. Das gilt nicht nur angesichts der Ausprägung der altorientalischen ägyptischen, sumerischen und mesopotamischen Hochkulturen und ihrer Religionen, sondern schon angesichts der monumentalen Zeugnisse neolithischer Kultanlagen aus dem 10. Jahrtausend v. Chr., beispielsweise vom Göbekli Tepe, die machtvoll zur Geltung bringen, dass die israelitische Religion zunächst einmal ein Spätling in der antiken Religionsgeschichte war. Sie muss also einen Weg finden zu plausibilisieren, dass sich in einer relativ spezifischen Religionsgeschichte eine Erfahrung manifestiert, die mit Hinsicht auf Ewiges und Infinites zu gültigen Aussagen führt. Der von Jürgen van Oorschot und Markus Witte edierte Sammelband über »The Origins of Yahwism«11 bietet einen höchst instruktiven Einblick in die gegenwärtige Diskussion. Das bisher älteste Zeugnis einer Namensform YHW findet sich auf Inschriften in einem nubischen Amun-Tempel von Soleb aus der Zeit Amenhoteps III (ca. 1386 – 1349 v. Chr) und in einem Tempel in Amarah-West aus der Zeit Ramses II. (ca. 1279 – 1213) sowie in weiteren Namenlisten aus Medinet Habu aus der Zeit Ramses III (ca. 1221 – 1156). In diesen wird der Name in einer Reihe mit anderen lokalen Namen in Verbindung mit dem Beduinenstamm der Shasu aufgeführt, sodass er 11
Van Oorschot / Witte, Origins (s. Anm. 6).
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 67
zunächst einmal in einem lokalen Konnex zu verstehen ist. Neben den »Yahu-Shasu« gibt es noch »Se’îr-Shasu«, »Laban-Shasu« etc.12 In welcher Beziehung diese lokalen Bezeichnungen zu einer Gottheit YHW stehen, lässt sich aus dem Material nicht erkennen. Gleichwohl wird es von einer Reihe von Exegeten als ein Indiz zur Unterstützung der Annahme angesehen, dass es eine solche Gottheit im Gebiet südlich des Negev und des Seïr im 13. und 12. Jahrhundert gegeben hat, dass somit das Narrativ von der Begegnung einiger aus Ägypten entwichener Hebräer im 12. Jahrhundert mit dieser Gottheit möglicherweise hier einen Anhalt hat.13 Das Etymon Jhwh wird meist von einem verbalen Ursprung hergeleitet und als Gottesname i. S. eines Wettergottes oder auch eines Berggottes deutbar ist (»Er weht«).14 Allerdings sind die ältesten Schichten der literarischen Überlieferungen, die von der wundersamen Errettung der Hebräer am Schilfmeer erzählen (Ex 14,21b)15 als auch der literarische Kern der Erzählung von einer Theophanie des Wettergottes am Gottesberg
12 Zum Material vgl. F. Adrom / M. Müller, The Tetragrammaton in Egyptian Sources – Facts and Fiction, in: van Oorschot / Witte, Origins (s. Anm. 6), 93 – 114. 13 Für einen Ursprung der Jhwh-Verehrung im Süden votiert M. Leuenberger, Yhwh’s Provenance from the South: A New Evaluation of the Arguments pro and contra, in: van Oorschot / Witte, Origins (s. Anm. 6), 157 – 180. 14 Die Debatte um das Etymon ist infinit, vgl. W. G. Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, hg. v. H. Donner, 182013, 446 – 448; J. Tropper, The Divine Name ›Yahwa‹, in: van Oorschot / Witte, Origins (s. Anm. 6), 1 – 22, vertritt neuerdings die Ansicht, dass vor dem Hintergrund analoger neubabylonischer Namensformen auch eine nominale Herkunft (I-a-o) denkbar ist. 15 Das Mirjamlied Ex 15,21 deutet das Geschehen schon vor dem Hintergrund einer Verschmelzung der Jhwh-Gestalt mit der eines Kriegsgottes. Dies wird sodann im Moselied auf dem Hintergrund einer gewachsenen Tradition der Jerusalemer Psalmdichtung dahingehend erweitert, dass der Wettergott (Ex 15,8.10) als Kriegsgott erscheint (Ex 15,3 – 7. 9. 12.14 – 16), der – unvergleichlich unter den Göttern – das Königtum in seinem Tempel auf dem Gottesberg anstrebt (15,11.17 – 18). Das hohe Alter des Miriamliedes wird vielfach angenommen, auch wenn dies aufgrund der zahlreichen Überlagerungen der Einbindung in die Exoduserzählung unsicher ist, vgl. E. A. Knauf, Midian. Untersuchungen zur Geschichte Palästinas und Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. (ADPV), Wiesbaden 1988, 142 – 146; U. Rapp, Mirjam (WiBiLex), Stuttgart 2007 (https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/27817/, zuletzt abgerufen am 27. 09. 2019); R. Albertz, Exodus, Bd. I: Ex 1 – 18 (ZBK.AT 2.1), Zürich 2012, 253 – 255.
68 Reinhard Achenbach (Ex 19,16) nur noch annäherungsweise zu erahnen,16 ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang des Etymons mit dementsprechenden Urerfahrungen von Rettung und Gottesbegegnung ist denkbar, die literarische Gestalt, in welcher dieser Konnex hergestellt wird, kann nur annäherungsweise in der vorexilischen Königszeit datiert werden. Dass Jhwh der Gott der im ostjordanischen Gebiet ansässigen Israeliten war, bezeugt die moabitische Meschastele für die Mitte des 9. Jahrhunderts.17 Älteste Stufen der Psalmen lassen hingegen Jhwh in Analogie zu nordwestsemitischen Wettergottheiten des sog. Baal-Hadad-Typos als einen ebensolchen Wettergott erscheinen (vgl. Ps 29,3 – 5*.7 – 9; 18,8 – 16*; 77,17 – 20; 65,10 – 14), der analog dem Baal im siegreichen Kampf gegen die Chaosmächte den Thron über Götter und Menschen erringt (Ps 24,7 – 10) und sodann auch als Königs- und Kriegsgottheit verehrt wird (Ps 29,1 – 2.9 – 10; Ps 93,1 – 5*), dessen Züge und Eigenschaften dem von Kanaanäeren verehrten Göttervater El gleichen.18 Die Zuschreibung und Amalgamierung von Motiven des El-Mythos und des Baal-Mythos an die Jhwh-Gestalt sowie die ikonographische Assoziierung Jhwhs mit Cherubenthron, Stier, Götterberg (Zaphon, Sinai, Zion), Regentschaft im göttlichen Thronrat, die Rede von Jhwh als dem Gott der Zebaot, die analoge Prädizierung Jhwhs als ‘Elyôn, ausgestattet mit einem feurig leuchtenden Kavôd-Lichtglanz, ja, möglicherweise auch die Übernahme von ursprünglich an Baal oder El gerichteten Gebetstexten in den JhwhKult,19 all das zeigt allerdings, dass die Jhwh-Religion ihre charakteristische Ausprägung, wie sie in den ältesten literarischen Schichten des Alten Testaments zutage tritt, erst im Kulturraum der Königreiche 16 Die Motive der Erscheinung der Gottheit in einem feurigen Lichtglanz (Ex 19,17) haben nichts mit vulkanischen Assoziationen zu tun, sondern verbinden die Wetter- und Berggottmotivik mit der Kabôd-Tradition, die einerseits in kanaanäischen, andererseits in mesopotamischen Traditionen ebenfalls beheimatet ist. Sie hat auch an anderer Stelle ihren Niederschlag gefunden, etwa in der Verbindung aus Theophaniemotivik und Königsideologie, vgl. Ps 18,8 – 16.17 – 20.33 – 40. 17 Text s. bei H. Donner / W. Röllig, Kanaanäische und aramäische Inschriften (KAI 181), Wiesbaden 31971. 18 R. Müller, The Origins of YHWH in Light of the Earliest Psalms, in: van Oorschot / Witte, Origins (s. Anm. 6), 207 – 238; ders., Jahwe als Wettergott. Studien zur althebräischen Kultlyrik anhand ausgewählter Psalmen (BZAW 387), Berlin 2008. 19 R. S. Salo, Die judäische Königsideologie im Kontext der Nachbarkulturen. Untersuchungen zu den Königspsalmen 2,18,20,21,45 und 72 (ORA 25), Tübingen 2017, 54 – 96.
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 69
Israel und Juda und mit zunehmender Ausprägung einer israelitischen und judäischen Stadtkultur erhalten hat.20 Mit der Überformung lokaler Traditionen und ihrer ursprünglich kanaanäischen Kulte kommt es zur Adaptation weiterer mythologischer Motivgruppen. So hat etwa Othmar Keel die umfängliche Prägung der Jerusalemer Tempel- und Lokaltradition durch solare Motivik aufgezeigt, die Glyptik bezeugt etwa die Übernahme der Symbolik der geflügelten Uräusschlangen, der Serafim, als deren Herr die Gottheit Jhwh gilt. Die Ausprägung einer Präsenzsymbolik durch die sphingischen Mischwesen des Cherubenthrones ist Anzeichen für eine umfängliche Ausprägung der mit dem Jhwh-Kult verknüpften Bildwelt, in deren vor-deuteronomistischen Gestalt die rettende Göttin Aschera Jhwh zur Seite getreten ist.21 Kosmische Tempelideologie und göttliche Herrschaftslegitimation führen zu einer Anreicherung des mit Jhwh verknüpften mehrfach konnotierten Metaphern-Repertoires, auf das die hymnischen und narrativen Deutungstexte in immer neuen Varianten zugreifen. Das gilt natürlich auch für das Motiv der göttlichen Vaterschaft, das in der Königsideologie Ägyptens am stärksten ausgeprägt ist, aber auch im hethitischen, sumerischen, babylonischen, assyrischen, ugaritischen und ptolemäischen und seleukidischen Kulturraum unterschiedliche Ausformungen erfährt.22 Wie in Ugarit El so gilt auch 20 Dies hat bekanntlich zu der These geführt, dass auch die Jhwh-Religion selbst ihren Ursprung im kanaanäischen Norden der südlichen Levante gehabt habe, so Pfeiffer, Jahwes Kommen (s. Anm. 9); ders., The Origins of YHWH and its Attestation, in: van Oorschot / Witte, Origins (s. Anm. 6), 115 – 144; M. Köckert, Wandlungen Gottes im antiken Israel, in: BThZ 22 (2005), 3 – 36; dagegen J. Jeremias, Three Theses on the Early History of Israel, in: van Oorschot / Witte, Origins (s. Anm. 6), 145 – 156. 21 A. Berlejung, The Origins and Beginnings of the Worship of YHWH: The Iconographic Evidence, in: van Oorschot / Witte, Origins (s. Anm. 6), 67 – 92. 22 A. M. Böckler, Unser Vater, in: P. van Hecke (Hg.), Metaphor in the Hebrew Bible (BEThL CLXXXVII), Leuven 2005, 249 – 262; zur Vater- und Mutter-Metaphorik in altorientalischen Götterbeschreibungen vgl. auch H.W. Jüngling, »Was anders ist Gott für den Menschen, wenn nicht sein Vater und seine Mutter?« Zu einer Doppelmetapher der religiösen Sprache, in: W. Dietrich / M. A. Klopfenstein (Hg.), Ein Gott allein? Jhwh-Verehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der israelitischen und altorientalischen Religionsgeschichte (OBO 139), Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1994, 365 – 386. Jhwh werden auch Züge des Mütterlichen zugeschrieben: Gott bildet den Menschen im Mutterschoß und unterstützt Geburt und Säuglingsfürsorge (Hi 10,8 – 12; Ps 22,10; 71,5 f.; 139,13 – 16; Jes 49,1; Jer 1,5; 2 Makk 7,22 f.; vgl. H. Vorländer, Mein Gott [AOAT 23], 1975), er tritt Israel auch
70 Reinhard Achenbach im judäischen Jerusalem Jhwh, der ja die Position des El Israels einnimmt, als Vater von Göttersöhnen (Ps 82,6; Gen 6,1 – 4) und Vater des Königs.23 Im Kontext der Orakel zur Herrschaftslegitimation und Inthronisation spielt das Motiv eine wichtige Rolle (2 Sam 7,14 – 15; Ps 89,27 f.31 – 34; 1 Chr 17,13; 22,10; 28,6 f.). In Ps 2,7 haben sich über Jahrhunderte hinweg vermutlich aus frühester Zeit Anklänge an Einflüsse eines kanaanäisch-ägyptisch geprägten Königsprotokolls erhalten, die in dem aus makkabäischer Zeit stammenden Psalm 110,3 noch um solare Motive erweitert sind.24 Die Deutung und Legitimierung neuer Herrschaftssituationen und damit der Neukonstituierung gesellschaftlicher, politischer und kultureller Konstellationen bedarf jeweils auch einer Neuformierung des mythologischen Repertoires im Sinne einer Reaffirmation und Transformation der religiösen Erfahrung und der mit ihr verbundenen Einsichten. Das führt zu einer Reihe jeweils neuer, programmatischer Königspsalmen, die dann – viel später – sogar zur Strukturierung der Psalmensammlung herangezogen werden können. Ein Motiv der Königsideologie ist die göttliche Auffindung und väterlich-mütterliche Adoption eines Herrschers. Schon Sargon I., der Begründer des altassyrischen Reiches, nennt die Gottheit Enlil seinen Vater,25 Gudea von Lagasch betet zur Göttin Gatumdu mit den Worten (Gudea Cyl. A IIII,6 – 7): »Für den, der keine Mutter hat, bist du die Mutter, für den, der keinen Vater hat, bist du der in Aspekten des Mütterlichen gegenüber (Jes 42,14; 46,3 f.; 49,15; 66,13; Hos 1,3 f.). B. Lang, Mutter des Königs (NBL II), Zürich / Düsseldorf 1995, 858 – 859. 23 Die Götter gelten als Kinder des Götterpaares El und Aschera (vgl. M. Dietrich / O. Loretz / J. Sanmartín, Die keilalphabetischen Texte aus Ugarit, Ras Ibn Hani und anderen Orten, Dritte, erweiterte Auflage, Münster 2013 = KTU3, 1.4 Z. IV,51 f.; 1.10, Z.I,3; 1.23; 1.40 Z. 25‘.33’f.41’f.; 1.62, Z. 7; 1.65, Z. 1 – 3; König Kirtu im Kirtu-Epos gilt als bn il – Sohn Els, KTU3 1.16 Z. I,20), vgl. Salo, Königsideologie (s. Anm. 19), 320; zum weiteren religionsgeschichtlichen Hintergrund des Motivs a. a. O., 311 – 324; A. Böckler, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2000, 49 – 52. 24 Ps 2,7: »Ich will von der Bestimmung Jhwhs berichten. Er hat zu mir gesprochen: ›Mein Sohn bist du, ich, ja ich habe dich heute gezeugt.‹ « Ps 110,3 (vgl. Salo, Königsideologie [s. Anm. 19], 307 – 313 [312]): »Mit dir sind Gaben am Tag deiner Macht. Auf heiligen Bergen, aus dem Schoß der Morgenröte, habe ich dich wie Tau gezeugt.« 25 MLVS (= Mededeelingen uit de Leidsche verzameling van spijkerschrift-inscripties, Amsterdam 1933 – 1936) I,12 no. 16b,3 – 4).
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 71
Vater.«26 In der sumerischen Gebetsliteratur wird der Himmelsgott Anu als abu shamê – himmlischer Vater – angeredet, in einem Shu-íl-lá Gebet an den Mondgott Sin heißt es: »Barmherziger, gnädiger Vater, in dessen Hand erfasst ist das Leben der Gesamtheit der Erde.«27 Götter, Menschen, Könige und sozial Schutzbedürftige verehren in den Hochgöttern väterliche und mütterliche Aspekte und suchen bei ihnen Lebenskraft und Hilfe. In einem Hymnus des Assurbanipal an Ishtar von Arbela bekennt dieser etwa: »Ich kannte weder einen Vater noch eine Mutter, im Schoß meiner Göttinnen wuchs ich auf und die großen Götter erzogen mich wie einen Säugling.« (SAA 3,3 Z. 4. 13 f.; V. 14 – 16).28 Die Analogien der Auffindungsmythe Sargons und Moses sind hinlänglich aufgezeigt worden.29 Bekannt ist das Motiv der Suche nach einem Herrscher durch Marduk im Kyroszylinder und durch Jhwh im Kyrosorakel (Jes 45,1 – 7).30 In den Spruchsammlungen, die die Grundlage des Hoseabuches gebildet haben, wird – nach dem Verlust des Königtums von Ephraim – das Motiv der Erwählung des Sohnes auf Ephraim selbst übertragen: »Als Israel ein Knabe war, da liebte ich ihn und rief meinen Sohn aus Ägypten […]« (Hos 11,1). Von hierher findet es Eingang in die weitere Deutung der Geschichte Israels als erwähltes Volk, so in Verbindung mit der Einführung des Glaubensmotivs in Dtn 1,31 – 32, als Gegenstand der Gotteserkenntnis (Dtn 8,2 – 6). Sodann findet es Eingang in die redaktionelle Ausformung der nachexilischen Exoduserzählung im Motiv der Rettung des »Erstgeborenen Jhwhs« (Ex 4,22) und als Teil der Geschichtsreflexion in der schriftgelehrten Ausgestaltung der Prophetie (Jer [2,27]; 3,4. 14. 19.27; 31,9; Jes 63,8 – 9.16; 64,7; Mal 1,6; 2,10; 3,17). Im Horizont der Gebetsfrömmigkeit tritt Jhwh in den Blick als Schutzmacht der personae miserae: »Vater der Waisen, Richter der Witwen ist Elohîm in seiner heiligen Wohnung!« (Ps 68,6a). 26 Textausgabe vgl. F. Thureau-Dangin, Les cylindres de Goudéa. Transcription, traduction, commentaire, grammaire et lexique, Paris 1905; vgl. Böckler, Gott als Vater (s. Anm. 23), 51 – 52. 27 A. a. O., 52. 28 SAA III (= A. Livingstone, State Archives of Assyria, Volume III: Court Poetry and Literary Miscellanea, Helsinki 1989), 3 Z.1.13 f.; v. 14 – 16; vgl. dazu Salo, Königsideologie (s. Anm. 19), 320. 29 M. Gerhards, Die Aussetzungsgeschichte des Mose. Literar- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu einem Schlüsseltext des nichtpriesterschriftlichen Tetrateuch (WMANT 109), Neukirchen-Vluyn 2006. 30 R. Achenbach, Das Kyros-Orakel in Jesaja 44,24 – 45,7 im Lichte altorientalischer Parallelen, in: ZAR 11 (2005), 155 – 194.
72 Reinhard Achenbach Der Gedanke der Vaterschaft Gottes wird zudem verschmolzen mit der Vorstellung einer Erschaffung des Einzelnen durch die providenziell wissende väterliche Gottheit im Dunkel der Erde, im Uterus der Frau (Ps 139,13 – 16): In dem Prophetengedicht des Mose Dtn 32,6 ist darum Jhwh Israels Vater und Schöpfer, der gleichwohl seine abtrünnigen Söhne und Töchter im Zorne verwirft (Dtn 32,19), doch sodann die Macht der fremden Götter bricht und sich als einziger, lebendig machender ewiger Gott erweist (Dtn 32,39 – 40), indem er Israel errettet. Mose blickt hier über das Ende des Exils hinaus in eine alles weitere Prophezeien umspannende eschatologische Zukunft, in der Israel als Mitte und Exemplum der Völkerwelt die Universalität des Wirkens des Gottes Israels veranschaulicht. So vermag an die Stelle des Königs den Ps 47,7 als Elohîm bezeichnet, von Gott selbst gesalbt und gesegnet, der Mensch in seiner Gottesebenbildlichkeit und Gottesnähe treten (Ps 8,6 f.). Nicht das metaphorische mythische Repertoire der genannten Texte steht in einer differencia specifica zu den Gottesvorstellungen der Umwelt, sondern die je und dann aktualisierte und kontextualisierte Anordnung desselben im kulturellen, sozialpsychologischen, religiösen, metaphysischen und theologischen Deutungsraum Israels.31
4. Die Narration von einer Geschichte der Selbsterweise Jhwhs im Horizont des Monotheismus und der Universalität der Religionsgeschichte Dass die Geschichte der Gotteserkenntnis Israels Teil einer universalen Erkenntnisgeschichte war, wurde infolge der Auslöschung der israelitischen und judäischen Königreiche durch imperiale Großmächte und ihre Weltherrschaftsrhetorik den israelitischen Gelehrten bewusst. Die schlichte Behauptung, nicht Assur, nicht Marduk, nicht Ahura-Mazda, sondern Jhwh, der Gott Jakobs und Israels, sei der Lenker der Weltreiche und ihrer Geschichte, genügte nicht. Auch die Behauptung, diese Gottheit sei nicht nur der Befreier des Exodus, sondern auch Schöpfer der Welt, vermochte die Herausforderung des Alleinverehrungsanspruchs nicht zu bewältigen. Wollte man aber die 31 Vgl. hierzu U. Barth, Theoriedimensionen des Religionsbegriffs. Die Binnenrelevanz der sogenannten Außenperspektiven, in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 29 – 87.
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 73
These der Ausschließlichkeit der Gotthaftigkeit und Gottheit Jhwhs, also einen strikten monotheistischen Gedanken, bewähren, musste man das deuteronomistische Konzept einer auf Israel ausgerichteten Theologie des Bundes, des Bundesbruches und der Bundeserneuerung gleichfalls erweitern und überbieten. Die Eintragung des monotheistischen Deutungsschemas in das Deuteronomium in Dtn 4,5 – 8.39 und 32,39 – 40.4332 war nur möglich auf der Basis einer Einbeziehung der Geschichte Israels, wie sie die Deuteronomisten entworfen hatten, in eine Universalgeschichte. Und diese bot die Priesterschrift, indem sie die Ursprungsgeschichten Israels in Gestalt der Erzväter- und der Exoduserzählung mit dem kosmischen Mythos der Urgeschichte verband und auf die Einrichtung eines Ortes der Einwohnung der Gottheit inmitten Israels ausrichtete.33 Dabei bot sie als Integrationsmodell die Konzeption einer gestuften Offenbarungsgeschichte an. In ihm sind mythische, sagen- und legendenhafte Elemente mit historischen Erinnerungskernen zu einer religiös bestimmten Narration einer Heilsgeschichte verschmolzen, die man als narrative Theologie beschreiben kann. Die Schöpfung galt als Werk Gottes Elohîm, dessen Ebenbild der Mensch ist. Gerecht und vollkommen kann der Mensch (Noah, Gen 6,9) sein, weil ihm das was als »gut« gilt mit der Erschaffung des Lichts den Maßstab des Lebensspendenden und -bewahrenden 32 Das Schema‘ Israel (Dtn 6,4 – 5) stellt im Ursprung ein monolatrisches Programm dar, das im Gefolge der dtr Theologie und des ersten Gebotes des Dekalogs henotheistisch verstanden wird. Erst durch die Vorschaltung von Dtn 4 wird es monotheistisch interpretierbar. Allerdings ist dieser Vorgang nicht synchron mit Dtn 6 erfolgt (so N. MacDonald, Deuteronomy and the Meaning of »Monotheism« [FAT II / 1], Tübingen 2003), sondern im Zusammenhang mit der Fortschreibung des Deuteronomiums im Rahmen des Pentateuchs (vgl. E. Otto, Deuteronomium 4. Die Pentateuchredaktion im Deuteronomiumsrahmen, in: T. Veijola [Hg.], Das Deuteronomium und seine Querbeziehungen [SESJ 62], Göttingen / Helsinki 1996, 196 – 222; ders., Monotheismus im Deuteronomium oder wieviel Aufklärung es in der Alttestamentlichen Wissenschaft geben soll. Zu einem Buch von Nathan MacDonald, in: ZAR 9 [2003], 251 – 257). 33 Grundlegend hierzu K. Schmid, Erzväter und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels innerhalb der Geschichtsbücher des Alten Testaments (WMANT 81), Neukirchen-Vluyn 1999; zur Bestimmung des Umfangs der priesterschriftlichen Passagen in der Genesis vgl. E. Blum, Noch einmal. Das literargeschichtliche Profil der P-Überlieferung, in: F. Hartenstein / K. Schmid (Hg.), Abschied von der Priesterschrift? (VWGTh 40), Leipzig 2015, 32 – 64; in der Exoduserzählung vgl. T. Römer, Von Moses Berufung zur Spaltung des Meers. Überlegungen zur priesterschriftlichen Version der Exoduserzählung, in: Hartenstein / Schmid, Abschied, 134 – 160.
74 Reinhard Achenbach Elements vorgibt, an dem er sich orientiert. »Gut« ist in diesem Sinne die gesamte erschaffene Natur. Dem entspricht eine allgemeine Gotteserkenntnis, der Gedanke, dass die Menschheit insgesamt auf Elohîm ausgerichtet ist. Die Urkatastrophe der Sintflut führt zu einer neuerlichen Manifestation Elohîms, indem er vor Noah als dem Ahnvater des neuen Menschengeschlechts einen Bund mit Mensch, Tier und Erde eingeht, in welchem er den Bestand der Schöpfung zusagt und die Menschheit zur Achtung des Lebens verpflichtet. Aus dem Menschengeschlecht geht sodann Abraham hervor, dem die Gottheit sich neu als El Schaddaj erschließt. Im abrahamitischen Völkerkreis wird es die Nachkommenschaft Isaaks und Jakobs sein, in deren Mitte die Gottheit sich erst gegenüber Mose als Jhwh erschließt mit den Worten »Ich bin Jhwh« (Ex 6,2 – 8!), der Gott der Väter, der sein Volk als Jhwh-Volk aus der ägyptischen Sklaverei erlöst und so innerhalb der Menschheit einen Orientierungspunkt setzt: Ägypter wie Israeliten sollen Jhwhs Gottheit in ihrem Wesen (seinem Kavôd) durch die Erlösung erkennen (Ex 14,18). Ziel des Erlösungswerkes ist die Einwohnung Jhwhs als Gott Israels in dessen Mitte (Ex 29,46). Unter den Bedingungen des monotheistischen Glaubens kann die Religionsgeschichte nur als eine Geschichte sukzessiver Selbsterschließung der Gottheit verstanden werden, in deren Mittelpunkt die durch diese Gottheit Israel und den Völkern ermöglichte Gotteserkenntnis den Weg in eine versöhnte Zukunft ermöglicht. Wie das urzeitliche Gericht der Sintflut stehen auch die künftigen Völkergerichte unter dem Vorzeichen des noachitischen Bundes, wonach nicht die Vernichtung der Welt und der Menschheit, sondern vielmehr ein universaler Schöpfungsfriede die eschatologische Perspektive aller Geschichte ist. Dabei differenziert die Priesterschrift zwischen der Perspektive der Textrezipienten, für welche die Identität des El Schaddaj mit Jhwh nunmehr feststeht, und dem Narrativ von den Offenbarungsempfängern, denen diese Identität erst von Mose her zugänglich geworden sein soll. Die Schriftgelehrten des Zweiten Tempels nutzten dieses Narrativ, um es einerseits mit dem deuteronomistischen zu verbinden.34 Die deuteronomistische Bundestheologie orientierte sich am Gedanken der Verpflichtung Israels auf das Gesetz, das die Grundlage für seine Identität und seine Existenz als Volk Jhwhs bot und ihm zugleich den Maßstab für die Verheißungen Jhwhs als des Gottes Israels 34 E. Otto, Die nachpriesterschriftliche Pentateuchredaktion im Buch Exodus, in: M. Vervenne (Hg.), Studies in the Book of Exodus. Redaction – Reception – Interpretation (BEThL CXXVI), Leuven 1996, 61 – 112 (108).
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 75
gab. Der Gedanke des Scheiterns des Bundes und des Zornesgerichts des eifernden Gottes wurde hier durch den Gedanken der Neubegründung des Bundes aus der Selbstüberwindung Gottes begründet, der die Präponderanz seines gnädigen Wesens zur Grundlage jeglicher Bundeserneuerung machte. Anstelle des dekalogischen »ein eifernder Gott, der da heimsucht […]« steht in der Erzählung vom neuen Bund am Sinai die Gnadenformel an erster Stelle: »Jhwh ein gnädiger und barmherziger Gott, geduldig und voll großer Gnade und Wahrheit« (Ex 32,6). Als conditio humana einer Erneuerung Israels galt, dass Israel das Volk des neuen Bundes war. Durch die Verbindung mit dem priesterschriftlichen Bundesgedanken wird die Existenz Israels ins Zeichen des Erzvaters und seine vorläufige Stellung im »Land der Fremdlingschaft« (Gen 17,8; Ex 6,4), das fremder Herrschaft unterstand, gerückt: Auch im Status einer nichtsouveränen Kultus- und Rechtsgemeinde in der persischen Provinz Jehud hat Israel Anteil an der bleibenden Bundesverheißung Abrahams, die wiederum im Horizont des bleibenden Bundes Gottes mit der Welt steht. Die kombinatorische Narration wird zur Grundlage eines normativen religiösen Narrativs, Theologie vollzieht und bildet sich in komplementärer Lesung divergenter Narrationen. Die Aneignung solcher Theologie geschieht über die Identifikation im Ritual und im Narrativ: Auf die Frage des Kindes nach dem Sinn der Gesetze soll der Israelit antworten: »Wir waren Sklaven […] uns hat Jhwh herausgeführt« (Dtn 6,21). Jede künftige Generation eignet sich auf diese Weise die Heilsgeschichte gleichsam persönlich an und schreibt die Geschichte des eigenen Scheiterns und Neubeginnens auf diese Weise im Lichte des religiösen Narrativs fort. Dies impliziert freilich, dass die Universalgeschichte nicht ohne die mosaische Unterscheidung des ersten Gebotes verstanden werden kann. Hier findet eine grundlegende Distinktion statt, die aller Integration eine Grenze setzt – die allerdings sowohl mit Hinsicht auf die Vorstellungen über den Ursprung der Menschheitsgeschichte als auch hinsichtlich der Eschatologie unter dem Vorbehalt des Gedankens einer Universalität des Ethos und eines Gottesgedankens steht. Das Phänomen der Religion ist den Schriftgelehrten nicht vorstellbar in einem abstrakten, vom Gottesgedanken selbst losgelösten Sinne, wohl aber hinsichtlich einer mehr oder weniger bestimmten Ausformung. Noah kann gerecht und vollkommen sein, indem er »mit Gott wandelt« (Gen 6,9), also in der schlichten Ausrichtung seiner Existenz auf Elohîm, ohne dass er die Mosaische Tora kennt. Henoch kann gar in die himm-
76 Reinhard Achenbach lische Gemeinschaft entrückt werden. Hiob kann in der Urzeit mit der Theodizee ringen und alle Formen einer Lehre vom Tun-Ergehen-Zusammenhang zurückweisen, seine Gerechtigkeit erlangt er allein auf einer vor-mosaischen Auseinandersetzung mit dem Schöpfergott. Eine weitere Besonderheit sahen die Schriftgelehrten im Wesen der Gottheit selbst. Geht man davon aus, dass die Verbindung der im Rahmen der klassischen Urkundenhypothese sogenannten »jahwistischen« und »elohistischen« Erzählungen mit der Priesterschrift nicht blind geschehen ist, sondern dass den nachexilischen Gelehrten die These eine Offenbarung des Jhwh-Namens an Mose vorgegeben war und von ihnen akzeptiert wurde, so stellt sich die Frage, in welchem Sinne dann die Erzählungen zu verstehen sind, die mehr oder weniger explizit vom Wirken Jhwhs bzw. Elohîms an den Erzeltern und den Nichtisraeliten erzählen bzw. in welchem Sinne sie die Rede vom Umgang der Erzeltern mit Jhwh bzw. Elohîm verstehen. Eine wichtige Beobachtung in diesem Zusammenhang ist, dass in den nicht-priesterschriftlichen Passagen zwar erzählt wird, dass Jhwh zu den Erzvätern redet, dass aber – im Unterschied zur priesterschriftlichen Darstellung, nach der er sich mit den Worten »Ich bin El Schaddaj« zu erkennen gibt (Gen 17,1b; 35,11; vgl. Gen 28,3 f.; 48,3) – in den anderen Texten in der frühen redaktionellen Stufe der Zusammenführung der Stoffe eine Selbstvorstellungsformel mit Nennung des Jhwh-Namens fehlt (vgl. Gen 12,1 – 3.7; 13,14 – 17; 15,2*.7[LXX!].18 – 21; 18,13 f.; 22,16; 26,2.24; 31,3)!35 Am deutlichsten ist dies in der Moseerzählung der Fall. In der nicht-priesterschriftlichen Berufungserzählung Ex 3 gibt sich Jhwh zunächst als »Gott deines Vaters«36 und als »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« zu erkennen. Auf die Frage, was sein Name sei, verweigert die Gottheit die Auskunft und verweist auf die Souveränität ihrer Existenz: »Ich bin, der ich bin!« Damit bleibt die Spannung der Erzählung bis Ex 6 erhalten: Erst sub contrario in Ägypten erfährt Mose den Gottesnamen. Das war einem späteren Schriftgelehrten so unerträglich, dass er in Ex 3,15 erklärend nach35 Zum Nachweis vgl. R. Achenbach, The Post-Priestly Elohîm-Theology in the Book of Genesis, in: S. Graetz / A. Graupner / J. Lanckau (Hg.), Ein Freund des Wortes (Festschrift U. Rüterswörden), Neukirchen-Vluyn / Göttingen 2019, 1 – 21. 15,7 MT entspricht sekundärer Korrektur, Gen 28,13 ist Teil einer jahwistischen Bearbeitung der Bethel-Erzählung. 36 Mose erfährt in der Erzählung den Namen seines Vaters übrigens nicht. Nur priesterliche Ergänzer geben dem Leser einen Hinweis auf die levitische Genealogie. Das knüpft an das Motiv der gottunmittelbaren Führergestalt an, die wir aus der Königsideologie kennen.
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 77
getragen hat: »Und dann sprach Elohim nochmals zu Mose und sagte: ›So sollst du zu den Israeliten sagen: Jhwh, der Gott eurer Väter, […] hat mich gesandt.‹ « Damit nimmt er aber nur vorweg, dass der Name erst in Ägypten offenbar werden soll, und liefert gleichsam eine explizite göttliche Erklärung für das, was nach seiner Sicht in Ex 3,14 impliziert ist.37 Eine Korrektur des Bildes, das durch die Komposition aus Erzählungen der Priestergrundschrift mit den vor-exilischen Väter- und Exoduserzählungen entstanden ist, bildet der Eintrag in Gen 4,26b, der feststellt, dass man schon in der Urzeit begonnen habe, »den Namen Jhwh anzurufen«. Versteht man diese Wendung explizit, so steht sie im Widerspruch zu Ex 6,2 – 8, und man muss annehmen, dass der Eintrag eine Gegenposition gegen P in die Urgeschichte einfügt und eine synchrone Lesung des Pentateuch nicht beabsichtigt.38 Eine solche Gedankenlosigkeit ist den ansonsten durchaus reflektiert handelnden Schriftgelehrten nicht zu unterstellen. Die Alternative zu dieser Position besteht nun allerdings in der Annahme, dass die Wendung eine implizite Deutung der Formel repräsentiert. Das würde bedeuten, dass der Verfasser festhalten will, dass die Gottesverehrung in der Urzeit ihre Wurzeln hat, und dass sie sich auch unter dem Vorzeichen eines allgemeinen Gottesgedankens und des Monotheismus nur an den einen Gott Jhwh gerichtet hat, gerade auch dann, wenn man die Vorstellung einer urzeitlichen Gerechtigkeit des Menschen für möglich hält. Das fügt sich zu der Beobachtung, dass die Wendung in der weiteren Erzählung des Pentateuch nur noch für Abraham (Gen 12,8; 13,4; 21,33) und Isaak (Gen 26,25) ausgesagt wird.39 In Gen 28,11 – 12.17 – 19.20 – 21a.22a 37 Zu einer eingehenden Analyse der Redaktionsgeschichte und Theologie des Textes vgl. R. Achenbach, »Ich bin, der ich bin!« (Exodus 3,14). Zum Wandel der Gottesvorstellungen in der Geschichte Israels und zur theologischen Bedeutung seiner Kanonisierung im Pentateuch, in: I. Kottsieper / R. Schmitt / J. Wöhrle (Hg.), Berührungspunkte. Studien zur Sozial- und Religionsgeschichte Israels und seiner Umwelt (Festschrift für R. Albertz zu seinem 65. Geburtstag; AOAT 350), Münster 2008, 73 – 95. 38 Die alternative Perspektive, die davon ausgeht, dass P gleichsam ergänzen den nicht-P Text fortschreibt, führt in das gleiche Dilemma. Unwahrscheinlich ist hingegen die Annahme, die Schriftgelehrten hätten sich bei der Komposition beider Positionen einfach nichts gedacht. 39 C. Levin, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen 1993, schreibt Gen 4,26; 12,8 einem jahwistischen Redaktor zu, welcher seine älteren Quellen in exilischer Zeit zusammenfasst. Gen 21,33; 22,14; 26,25 weist er den nach-exilischen Fortschreibungen zu. Infolge der Bestreitung der Rekonstruktion einer Jahwistischen Quellenschrift durch R. Rendtorff, E. Blum u. a.,
78 Reinhard Achenbach wird von der Entdeckung einer heiligen Städte Elohîms erzählt und von dem Gelübde, ein Haus für Elohîm zu errichten; analog zu der Ergänzung von Ex 3,14 in 3,15 wird auch in Gen 28,13 – 16 die Offenbarungserzählung durch eine Jhwh-Theologie korrigiert und vereindeutigt. Diese Deutung fließt auch in das Gebet Jakobs Gen 32,10 ein. Jakob nennt aber den Ort, an dem Elohîm zu ihm redet, Bet-El (Gen 35,15). Hagar hat zwar das Wort Jhwhs empfangen, nennt seinen Namen aber El-Roi – Gott, der mich sieht (Gen 16,13). Nur von Abraham heißt es Gen 22,14, er nenne den Ort seines Opfers für den Erstgeborenen »Jhwh sieht«, gleichsam in prophetischer Voraussicht auf den erwählten Ort auf dem Berg Jhwhs selbst, obschon dieser ihm seinen Namen nicht offenbart hat. Der Berg wird in 2 Chr 3,1 mit dem Tempelberg assoziiert. In der Melchisedek-Legende (Gen 14,18 – 20) wird diese prophetische Rolle des Abraham geradezu mystifiziert. Weitere Spolien dieser jahwistischen Bearbeitung des Pentateuchs finden sich in Gen 29 – 31. Auch den Erzmüttern ist in den Fortschreibungen der Geburtssagen über die Stammväter Israels solches prophetische Wissen um den Gottesnamen zugeschrieben worden (Gen 29,32. 33. 35; 30,24), und auch von ihrem Vater Laban wird erzählt, er habe den Namen Jhwhs ausgesprochen, wenn er bekennt, dass er um Jakobs willen Segen empfangen habe und Jakob selbst gesegnet sei (Gen 30,27.30; 31,49). Überhaupt wird erst an dem Segen auf den Erzvätern für Fremde das Wirken Gottes als ein Wirken Jhwhs sichtbar (Gen 39,3. 5. 21). Die in der neueren exegetischen Diskussion vertretene Ansicht, die ältesten Schichten der narrativen Überlieferung des Penateuch beruhten auf der Quelle eines »Elohisten«,40 ist also dadurch bedingt, dass die nachexilischen Schriftgelehrten bei dem Einbau der vor-exilischen Erzählungen in die Priesterschrift diese im Sinne einer universalen Elohîm-Theologie bearbeiteten. Die Texte, die daran anschließend die Gottheit des Uranfangs mit Jhwh explizit identifizieren, führen auf die Selbstvorstellung Jhwhs an Mose (Ex 6,2, P) und Israel (Ex 20,2, Dtr) hin, nehmen sie aber nicht vorweg! Besonders anschauhaben in Auseinandersetzung mit seiner Analyse zahlreiche Exegeten diese Hypothese aufgegeben (vgl. J. C. Gertz / K. Schmid / M. Witte [Hg.], Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuchs in der jüngsten Diskussion [BZAW 315], Berlin / New York 2002; T. B. Dozeman / K. Schmid [Hg.], A Farewell to the Yahwist? The Composition of the Pentateuch in Recent European Interpretation [SBL Symposium Series 34], Atlanta GA 2006). 40 J. S. Baden, J, E, and the Redaction of the Pentateuch [FAT 68], Tübingen 2009.
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 79
lich wird die Vorstellung einer allgemeinen Gotteserkenntnis nach der Elohîm-Theologie41 in der Josefsnovelle. Das göttliche Wirken erschließt sich sogar dem Pharao, vermittelt durch den einsichtigen Josef, in welchem der Pharao die Ruach Elohîm erkennt, also das Wirken des göttlichen Geistes (Gen 41,38), während sich die Frau des Potiphar der Gottesfurcht gegenüber verschlossen zeigt, als Josef sie auf die große Sünde wider Gott hinweist (Gen 39,9).42 Im Gegensatz zu dem relativ exklusivistischen Israelglauben der Deuteronomisten und dem gestuften und konzentrischen Offenbarungsgedanken der Priesterschrift ergibt sich aus der Hinzufügung der alten Väter- und Exoduserzählungen eine Elohîm-Theologie, auf deren Basis eine Integration Fremder anschaulich wird. Da redet der Engel Gottes zu der ehemals in Ägypten versklavten arabischen Stammmutter Hagar und verheißt ihrem Sohn Ismael eine große Zukunft auch gegenüber seinen abrahamitischen Brüdern.43 Da empfängt der Philister Abimelech im Traum göttliche Botschaften, ja, da wird ihm durch Abrahams Fürbitte gar Jhwhs Segen zuteil.44 Da entdecken die Väter in den alten Orakelstätten von Bet-El, Sichem, Pnu-El und Mamre Ort, die in tiefer Verbundenheit zu Jhwh stehen, und an denen sich die Himmelswesen und fremdartigen dämonischen Gestalten in den Kreis der Jhwh dienenden Wesen einfinden, da werden aus diesen Orten gar heilige Stätten, an denen Jhwh sich erschließt und näher erfahren und erkennen lässt.45 Da gewährt der Priester Midians dem Mose Schutz, verschwägert sich mit ihm und erkennt am Ende das Befreiungswirken Elohîms als Wirken des Gottes Jhwh an, wonach 41 R. Achenbach, How to speak about GOD with Non-Israelites. Some Observations about the Use of Names for God by Israelites and Pagans in the Pentateuch, in: F. Giuntoli / K. Schmid (Hg.), The Post-Priestly Pentateuch. New Perspectives on its Redactional Development and Theological Profiles (Festschrift J.-L. Ska, FAT 101), Tübingen 2015, 35 – 52. 42 Dazu J. Ebach, Genesis 37 – 50 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2007, 180: »In dieser Hinsicht spricht Josef wie ein Ägypter (oder allgemeiner: wie ein antiker Mensch). In den unterschiedlichen Namen der Gottheiten kann sich jeweils dieselbe manifestieren und in all den einzelnen Manifestationen der Göttinnen und Götter manifestiert sich ›Gott‹ […]. Josef argumentiert mithin auf der Ebene allgemeiner religiöser […] Moral wie auf der Grundlage der Israel gegebenen Gebote. Er ist […] an dieser Stelle Israelsohn und Ägypter, wenn nicht ›Weltbürger‹, zugleich.« Ebach verweist für seine Interpretation auch auf J. Assmann, Altägyptische Monotheismen, in: Welt und Umwelt der Bibel 11 (1999), 20 – 24. 43 Gen 16,10 – 12; 21,17 – 18. 44 Gen 20,6 – 7.17 – 18. 45 Gen 12,6 – 8; 13,18; 18,1 f.; 28,10 – 22; 32,23 – 32; 35,1 – 15.
80 Reinhard Achenbach er gemeinsam mit den Israeliten am Gottesberg ein Opferfest feiert.46 Da folgen Fremde der Exodusschar und treten mit ihr in den Bund des Mose ein.47 Kurzum: Vermittelt über die Elohîm-Theologie wird eine Integration der nicht erwählten Völker in die israelitische Kultusgemeinde ermöglicht. Im Mosesegen heißt es schließlich: »2 Jhwh kommt vom Sinai und leuchtet ihnen auf vom Seir, er strahlt auf vom Gebirge Paran und kam von Meribat Kadesch, von seiner Rechten ein Feuer der Dat.48 3a Er liebt die Völker, […] 5 Er wurde König in Jeschurun,49 als die Häupter des Volkes sich versammelten […] 19 Völker laden sie ein auf den Berg, dort bringen sie rechte Opfer dar.« (Dtn 33,2–19)
Zugleich reflektiert der Pentateuch in seiner Endgestalt auch die Bedingungen der Existenz des Jhwh-Volkes in der Fremdlingschaft, d. h. im Raum von Völkerschaften, deren Religion sich von der eigenen unterscheiden. Der midianitische Schwiegervater des Mose gibt seine Religion nicht auf, Zippora wird mit Mose verheiratet und dieser lebt als fremder Schutzbürger unter dem arabischen Gastrecht, so wie einst die Brüder Josefs unter ägyptischem Gastrecht. Darum erlaubt das Qahalgesetz in Dtn 23,8 die Aufnahme von Ägyptern in den Qahal. Gegenüber den Edomitern, deren Vorfahr sich von der Isaaksippe entfernt hat, wiegt das Band der Bruderschaft stärker und ermöglicht darum ebenfalls eine problemlose Integration. Dass in der achämenidischen Epoche durch internationale Regeln des Gastrechts und des Respekts vor der Religion des anderen man sich den Gesetzen und Sitten des schutzgewährenden Aufenthaltsortes anpasste, war nicht nur für die Völker des Perserreiches Regel und geltende Rechtsordnung, es war auch unter den Bedingungen der israelitischen Religion selbstverständlich. Niemand wäre umgekehrt allerdings dann auf die Idee gekommen, dass der Fremde seine ursprüngliche religiöse Bindung verleugnen müsste oder dass er sich der Religion des Gastgebers in der Kultpraxis vollkommen fügen musste.50 46
Ex 2,15 – 22; 4,24 – 26; 18,1 – 12.13 – 27. Ex 12,38 (48 – 50); Num 11,29 – 33; 11,4; 12,1; Dtn 29,9 – 14. 48 Die Dichtung nimmt hier persische Symbolik auf. Dat bedeutet unumstößlich universal geltendes Gesetz. 49 Symbolname für die israelitische Kultusgemeinde, die sich als die »Aufrechten« am Gesetz Gottes orientiert. 50 Erst die durch priesterliche Überarbeitung eingefügte Forderung der Beschneidung führt zu einem Distinktionsmerkmal mit exklusivierender Wirkung, vgl. Ex 12,48 – 50; vgl. R. Albertz, From Aliens to Proselytes. Non-Priestly and Priestly Legislation Concerning Strangers, in: R. Achenbach / R. Albertz / J. Wöhrle (Hg.), The Foreigner and the Law. Perspectives 47
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 81
Mit der Achämenidenzeit assoziieren die Narrationen des Nehemiabuches die Benennung des Gottes Israels als Jhwh Elohej ha-schamajim – Himmelsgott51 – (Neh 1,4; 9,6), der im Angesicht des heidnischen Königs lediglich Elohej ha-schamajim angeredet wird (Neh 2,4.20). In der Chronik wird in radikaler Abrogation das Bekenntnis formuliert: »Alle Götter der Völker sind Elilim, Jhwh aber hat den Himmel gemacht!« (1 Chr 16,26). Dieses Bekenntnis soll auch die Völker erfassen: Jhwh ist König (1 Chr 16,31; 29,11), der Himmel kann ihn nicht fassen (2 Chr 2,5). Wenn anders die Verehrung anderer Gottheiten durch die Völker nicht zu verleugnen ist, gilt doch die alte Unvergleichlichkeitsformel: »Jhwh, Gott Israels, kein Gott ist dir gleich, nicht im Himmel und nicht auf der Erde« (2 Chr 6,14). So lobt denn auch der Phönizier Churam den Gott Israels (2 Chr 2,11). Kyros bekennt, dass Jhwh, der Himmelsgott, ihn erwählt hat (Esr 1,2; 2 Chr 36,23). Im Tempelweihgebet betet Salomo, »Du allein kennst das Herz aller Menschen« (2 Chr 6,30), und er bittet ihn, die Gebete auch der fremden Völker zu erhören, die sich an ihn wenden (2 Chr 6,33). Im 3. Jahrhundert ist man in Jerusalem der festen Überzeugung, dass Jhwh über alle Königtümer und Nationen herrscht (2 Chr 20,6). Die Elohîm-Theologie ist demnach ein Zeugnis der geistigen und religiösen Bewältigung des Umstands, dass die monotheistisch ausgerichteten Israeliten sowohl in der Diaspora als auch in den Provinzen Jehud und Samaria in einem multikulturellen und einem religiös vielfältigen Umfeld leben mussten. Gerade dies ermöglichte und erzwang die geschärfte Reflexion der eigenen religiösen Deutungskultur. Es ermöglichte aber auch das Aushalten großer Spannungen und Kontraste. Neben der Josua-Schriftrolle, die die vollständige Erfüllung der Landverheißung und Landnahme behauptete, konnte eine Richter-Schriftrolle liegen, die das schiere Gegenteil vertrat. Neben dem Deuteronomium mit seiner religiösen Theorie von einer Bannweihe des verheißenen Landes hält sich hartnäckig die Sage davon, dass die erste Kanaanäerin, welche den Israeliten Schutz gewährte, eine Prostituierte war, die sich und ihrer Familie das Überleben sicherte, from the Hebrew Bible and the Ancient Near East (BZAR 16), Wiesbaden 2011, 53 – 70. 51 Hierzu H. Niehr, Der höchste Gott. Alttestamentlicher JHWH-Glaube im Kontext syrisch-kanaanäischer Religion des 1. Jahrtausends v. Chr. (BZAW 190), Berlin 1990, 43 – 49; L. L. Grabbe, A History of the Jews and Judaism in the Second Temple Period, Volume 1: Yehud: A History of the Persian Province of Judah (LSTS 47), London 2004, 240 – 243.
82 Reinhard Achenbach indem sie sich zu Jhwh bekannte. Eines der markantesten Beispiele eines Nebeneinanders von exklusiver und inklusiver Religionstheologie bietet die Erzählung von Naeman, dem nach seiner Bekehrung zu Jhwh erlaubt wird in Damaskus Jhwh Opfer darzubringen und gleichwohl mit seinem aramäischen Dienstherrn den Tempel des Gottes Rimmon zu besuchen (2 Kön 5,17 – 19).52 Die »Endlosschleife« der schriftgelehrten Deutungskultur ergibt sich demnach dadurch, dass in der Schriftensammlung des Tanakh für widersprüchliche und kontingente Sachverhalte Beispiele existieren, die eine theologische Bearbeitung nach mehreren Aspekten erzwingen und auch die Erörterung kontroverser Positionen einschließen.53 Im schon zitierten prophetischen Lied des Mose kann es heißen: »37 Wo sind ihre Götter, der Fels, der ihre Zuflucht war, 38 die das Fett ihrer Opfer aßen, den Wein ihres Trankopfers tranken! Sie mögen sich aufmachen und euch helfen, sie mögen ein Schirm sein über euch. 39 Seht nun, dass ich, ich es bin, und dass es keinen Gott gibt neben mir. Ich töte und ich mache lebendig, ich habe zerschlagen, ich werde auch heilen.« (Dtn 32,37–39)
52 Hierzu V. Haarmann, JHWH-Verehrer der Völker. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott Israels in alttestamentlichen Überlieferungen (AThANT 91), Zürich 2008, 132 – 167. 53 A. Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012, hat in seinem Kapitel über »Koexistenz konfligierender Normenpaare. Religiöse Paradoxien« (a. a. O., 371 – 376) die Diskrepanz zwischen der Schöpfungserzählung der Priesterschrift (Gen 1,1 – 3,4a) und der in sie sekundär eingefügten weisheitlichen Lehrerzählung von Schöpfung und Sündenfall (Gen 2,4b – 3,24) vor dem Theodizee-Diskurs daher folgendermaßen interpretiert: »Es ist aber gerade die ›harte Fügung‹ von Schöpfungsgeschichte und Sündenfall, die dem Buch Genesis seine immense kulturelle Reichweite verliehen hat. Ein stimmig in sich geschlossener Monotheismus des guten Gottes hätte keinerlei Handhabe für menschliches Leid bieten können; dualistische oder polytheistische religiöse Konzepte dagegen hätten nicht die transformierende Kraft entwickelt, die besonders dem Christentum innewohnt. Die Kopräsenz beider Erzählungen bewirkt eine unendliche Oszillation, die das Böse zugleich in der Welt und doch von der Allmacht Gottes umschlossen, das heißt schon überwunden oder doch überwindbar sein lässt und die in der Mitte der beiden Pole den Nährgrund für eine Anthropologie menschlicher Freiheit bietet: die Freiheit, das göttliche Gebot zu übertreten.« Biblisch-theologisch müsste man hinzufügen: Vor dem im Mythos beschriebenen Dilemma der Überforderung und des Scheiterns des Menschen durch einen permanenten Zwang zur ethischen Entscheidung bewahrt ihn allerdings die zeitliche Begrenzung seiner irdischen Existenz.
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 83
Und zugleich von der primordialen Ordnung der Welt: »Als das Erbland zuteilte der Höchste den Völkern, als er die Söhne Adams voneinander unterschied, setzte er fest die Gebiete der Völkerschaften nach der Zahl der Söhne Gottes.« (Dtn 32,8)54
Elemente der Assimilation und der Dissimilation, der Attraktion und der Abstoßung religiöser Deutungskonzepte aus dem Umfeld der Religionen, mit denen Israel in Kontakt stand, sind zu beobachten. Der Grad der Verwerfung konnte in höchstem Maße rigoristisch sein und die Theoreme von Bann und Bannweihe begründen, von Ikonoklasmus und Synkretismusverbot, die Abgrenzung gegenüber den Unreinen und Unbeschnittenen konnte gänzlich rigoristisch vollzogen werden und die Frommen in Isolation und Verarmung führen. Die außerbiblischen Dokumente der Lebenspraxis in neubabylonischer Zeit sowohl aus Mesopotamien wie aus Elephantine zeigen aber auch, wie es gelang, sich mit der Existenz heterogener Religionskulturen zu arrangieren. Gerade die späten Schichten des Jesajabuches offenbaren eine große Bereitschaft zur Öffnung der Kultusgemeinde für Menschen aus kulturell heterogenen Bindungen. Selbst den Eunuchen wird hier Yad wa-Schem im Bethaus für alle Völker gewährt (Jes 56,4 – 7). Aber auch hier gibt es dann wieder Gegentendenzen aus Kreisen frommer Charedîm, die das Gericht Gottes fürchten angesichts von Praktiken aus dem Einfluss des griechischen Kulturkreises wie etwa dem Hantieren mit Schweineblut und Hunden (Jes 66,2 – 5) in heiligen Hainen und Gräberfeldern (Jes 65,3 – 6) oder von anderen, in der Golah erworbenen Praktiken (Esr 9,4). Der Streit um die Frage des Synkretismus spaltet das nachexilische Israel. Die Aufnahme des Synkretismusverbotes in Dtn 12,2 – 7 führt zu einer Scheidung zwischen der Kultusgemeinde in Samaria und Jehud, die Errichtung eines zweiten Heiligtums neben dem Jerusalemer Tempel auf dem Garizim führte dazu, dass es fortan zwei Linien gab, die das Erbe der israelitischen Religion verwalteten und zwei grundsätzliche Fassungen des Pentateuch. Weitere Spaltungen sind nach dem Fall des zweiten Tempels erfolgt, deren gewichtigste wohl die Trennung von Kirche und Synagoge war. Die in Weisheit, Prophetie und Tora in unterschiedlichen Gattungen gesammelten und schließlich kodifizierten Narrative sind kanonisch nur in einem diskursiven Sinne. Sie stehen zugleich in einem 54 4QDeutj, G: liest aggelon theou, MT bildet ein tiqqûn sopherîm, vgl. Samaritanus u. a. hierzu I. Himbaza, Dt 32,8, une correction tardive des scribes. Essai d’interprétation et de datation, in: Biblica 83 (2002), 527 – 548.
84 Reinhard Achenbach Gegenüber zu der infiniten Möglichkeit weisheitlicher und religiöser Welterschließung in Gestalt der erforschenden Lehre und der religiösen Unterweisung, die im Spannungsfeld zwischen dem Zeugnis des Universums (Ps 19) und der Universalität der Tora möglich ist. Darum rechnet das Judentum mit dem Phänomen des Wiedererscheinens des Propheten (Mal 3,23 – 24), um die bis dahin entstandenen Widersprüche zwischen »Vätern und Söhnen« miteinander auszugleichen. Einheit und Maß religiöser Erkenntnis und Aussagemöglichkeit wird dabei aus der Mitte der Religion selbst gewonnen, aus der Selbsterschließung dessen, der da sagt »Ich bin, der ich bin«. An ihm ist Sagbares und Nichtsagbares zu messen. Er ist der archimedische, Orientierung verleihende Punkt aller weiteren Erzählung, und zwar in seiner Relation zu Israel und zur Welt. Die sich hieraus erschließenden Gesetze dienen der Wahrung der Freiheit, denn es ist der Gott des Exodus aus der Sklaverei. Daraus resultiert einerseits die Ausformung von Schriften als Explikation dieser Tora und zur geistigen Orientierung. Neben diese Schriften tritt gleichwohl der Gedanke einer Verinnerlichung »von ganzem Herzen«, also durch das religiöse Bewusstsein. Dieses wird von Dtn 18,18 und Jer 1,9 eingefasst in ein Bild der Prophetie, wonach die Gottheit dem Propheten ihr Wort in den Mund legt und somit neben die Verschriftung die Oralität der Toraerteilung tritt, auf welche wiederum deren neuerliche Verschriftung folgen kann usw. Ein zweiter Gedanke besteht im Prozess der Aneignung durch Lehre (Dtn 6,6 – 9.20 – 25) und also der Ausprägung eines an der Tora geschulten religiösen Bewusstseins (hebr. lebab), in welchem dann gleichsam eine spirituelle Neuverschriftung der Bundesgebote stattfindet, vgl. Jer 31,33: »Denn dies wird der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen werde nach jenen Tagen (Orakel Jhwhs): Ich werde meine Tora in ihr Inneres geben und auf ihre Herzen werde ich sie schreiben, so werde ich ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein.« Dieser Gedanke wird in der nach-exilischen schriftgelehrten Prophetie des Ezechielbuches bekanntlich dahingehend fortgeschrieben, dass zu der Bewusstseinsorientierung des Herzens auch der Prozess der geistigen Erneuerung hinzutritt, also eine Erneuerung von Herz (lebab) und Geist (ruach),55 sowohl im Kreise besonders Erwählter (Num 11; Josua, Dtn 55 Ez 36,26 f.: »26 Und ich werde euch ein neues Herz geben und in euer Inneres lege ich einen neuen Geist. Und ich entferne das steinerne Herz aus eurem Leib und gebe euch ein Herz aus Fleisch. 27 Und meinen Geist werde ich in euer Inneres legen, und ich werde bewirken, dass ihr nach meinen Satzungen lebt und meine Rechtssätze haltet und nach ihnen handelt.«
Gottesverehrung und Gottesbekenntnisse 85
34,9), als auch als einer Bewegung, die die gesamte Religionsgemeinde erfasst (Ez 36), ja, die sich über die Gesamtheit aller Glaubenden erstreckt (Joel 3). Gleichwohl findet dieser spirituelle Prozess in der verschrifteten Form der Mosetora immer wieder seinen Anhaltspunkt und muss mit ihr komplementär zusammengedacht werden. So wird die Transformation theologischer Konzeptionen ermöglicht und gleichzeitig deren Identitätskern gesichert. Das gilt natürlich auch für das Neue Testament, insofern nach dessen Überlieferung Jesus selbst in diesen Prozess eintritt, sei es durch seine prophetische, seine rabbinische oder seine messianische Orientierung auf das Königreich Gottes. Evangelien und Apostolische Schriften und Apokalypsen transformieren also die Religion der Hebräischen Bibel in eine neue Form der christlichen Religionskultur, ohne dabei den Urgrund ihrer Religion verlassen zu können, es sei denn um den Preis der Selbstaufgabe.56 So deutet – um nur ein Beispiel zu nennen – Mk 12,26 – 27 die theologische Grundlage des Auferstehungsglaubens unter Verweis auf Ex 3,15: »Was aber die Toten betrifft, wenn sie auferweckt werden, habt ihr nicht gelesen im Buch des Mose in der Geschichte vom Dornbusch, wie Gott zu ihm gesagt hat: Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? Er ist nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden.« Und es folgt der Verweis auf das Hauptgebot der Gottesliebe und der Nächstenliebe nach der Tora (Dtn 6,4 – 5 und Lev 19,18). Von Exodus 3,14 her erschließt sich somit die Mitte der Schrift sowohl in der Perspektive der Hebräischen Bibel selbst als auch in der kanonischen Einheit Alten und Neuen Testaments.
56 Wenn die Kirche mit dem Neuen Testament also auch die Hebräische Bibel als die Schriften des Alten Testaments kanonisch übernimmt, geht es gerade nicht um eine Enteignung der Jüdischen Religion, sondern um eine Aneignung ihres durch Jesus von Nazareth neu in seiner universalen Perspektive eröffneten Glaubens an den Gott Israels. Dieser, den Jesus »Vater« nennt, ist kein anderer als der, von dem die Hebräische Bibel selbst bekennt: »Du bist doch unser Vater! Abraham hat nichts von uns gewusst, und Israel kennt uns nicht. Du, Jhwh, bist unser Vater, Unser-Erlöser-seit-uralten-Zeiten ist dein Name.« (Jes 63,16) Zur Debatte hierüber vgl. N. Slenczka, Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017; M. Witte / J. C. Gertz (Hg.), Hermeneutik des Alten Testaments (VWGTh 47), Leipzig 2017.
I. »Ich glaube an Gott Vater …« Von urgründiger Liebe Das Bekenntnis des christlichen Glaubens beginnt mit dem Bekenntnis zu Gott dem »Vater«. Damit wird nicht nur irgendeine allgemeine Rede von Gott aufgenommen, sondern ein biblisches Bild davon, wie Gott sich in Jesus Christus und dessen Geschichte erwiesen und geoffenbart hat, nämlich als ein zugewandter Gott, dem seine Geschöpfe nicht gleichgültig sind und der über alle Brüche hinweg seine Treue erweist. Mit der Aussage »Ich glaube« bringt der Bekennende also zum Ausdruck: Ich weiß mich durch Christus von der Sünde befreit und durch den Heiligen Geist in die Gemeinschaft der Glaubenden gestellt. Was im zweiten und im dritten Glaubensartikel beschrieben ist, ist der Erkenntnis Gottes als des Vaters vorausgesetzt. Aus der biblischen Tradition steht hier die ganze Beziehungsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel und der Menschheit im Hintergrund, in der Gott in vielfältigen anthropomorphen Metaphern als Vater (Ex 4,22; Jer 31,30; Jes 64,7 – 8) und Mutter (Jes 49,15; 66,13) erkannt und bekannt wurde. In der Verkündigung und Geschichte Jesu Christi wurde manifest, dass sich Gottes »Vatersein« in Unterscheidung von allen menschlichen Vorstellungen durch eine urgründige und uneingeschränkte Liebe auszeichnet und dass darin letztlich Gottes Wesen besteht (1 Joh 4,16), das alle Ambivalenzen im Gottesbild (die Annahme eines zornigen oder verborgenen Gottes im Gegensatz zu einem gnädigen Gott) überwindet.
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes im frühen Christentum Christiane Zimmermann
Einführung »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.« Das Apostolische Glaubensbekenntnis beginnt mit dem Bekenntnis zu Gott. »Gott« ist zunächst nicht mehr als eine Gattungsbezeichnung, die noch nichts spezifisch Christliches an sich hat. Das Bekenntnis kennzeichnet diesen »Gott« dann sogleich mit einer dreigliedrigen Apposition, die Gott in seinen für die Bekenner wichtigsten Wesenszügen metaphorisch beschreibt: Er ist der Vater, er ist der Allmächtige und er ist der Schöpfer des Himmels und der Erde. Die metaphorischen Appositionen, die Gott mit Bildern darstellen, die den Betenden vertraut sind und besondere Konnotationen aufrufen,1 gipfeln im Schöpfertum Gottes, in dem zugleich seine anderen Wesenszüge, seine Vaterschaft und seine Allmacht begründet zu sein scheinen: Der Schöpfer hat die Macht über das von ihm Geschaffene und er tritt zum Geschaffenen in eine besondere Beziehung, für deren Beschreibung die Vater-Metapher offenbar zutreffend war. Mit der Vater-Bezeichnung Gottes rekurriert das Apostolikum auf die schon für das früheste Christentum zentrale Vorstellung Gottes als Vater. Bereits in einem der ersten christlichen Bekenntnistexte, den Paulus in 1 Kor 8,6 überliefert, ist die Trias des Apostolikums, nämlich die Verbindung von Vaterschaft, Herrschaft und Schöpfertum erkennbar. Der Vers betont, dass es für die Christen und Christinnen im Unterschied zur paganen Welt nur einen einzigen Gott und einen einzigen Herrn gibt: Gott, den Vater, aus dem alles ist, und Jesus Christus, den Herrn, durch den alles ist:
1 Zur Metapherntheorie vgl. R. Zimmermann, Metapher. II. Neutestamentlich, in: O. Wischmeyer (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe, Methoden, Theorien, Konzepte, Berlin 2009, 377 f.
90 Christiane Zimmermann ἀλλ’ ἡμῖν εἷς θεὸς ὁ πατὴρ ἐξ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς εἰς αὐτόν, καὶ εἷς κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς δι’ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς δι’ αὐτοῦ.
Für uns aber gibt es einen einzigen Gott, den Vater, aus dem alles ist und wir auf ihn hin und einen einzigen Herrn, Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.
Zwar ist hier der Aspekt der Macht durch die κύριος-Bezeichnung mit Jesus Christus verbunden, jedoch hat dieser die κύριος-Würde nach frühchristlicher Vorstellung (Phil 2,9 – 11) von Gott übertragen bekommen und wird sie Gott nach 1 Kor 15,28 auch wieder zurückgeben bzw. sie mit Gott teilen. Das Schöpfertum Gottes wird in dem an die Vatermetapher angeschlossenen Relativsatz »aus dem alles ist« ebenfalls klar artikuliert und um den Gedanken der Schöpfungsmittlerschaft Jesu (»durch den alles ist«) ergänzt. Klar erkennbar ist auch in diesem frühen Bekenntnistext die zentrale Vorstellung Gottes als Vater; die Apposition »der Vater« entspricht hier der Stellung des Eigennamens »Jesus Christus« im zweiten Teil des Verses. Durch diese Stellung deutet sich bereits ein Übergang von einer reinen Vatermetapher in einen eigennamen-ähnlichen Gebrauch der Vater-Bezeichnung an. In diesem Bekenntnis stellt sich nun ebenso wie im Apostolikum eine grundsätzliche Frage, und zwar die der Referenz der Vater-Bezeichnung. Wessen Vater ist Gott? Und was konnotiert die Vater-Bezeichnung für die frühen Christinnen und Christen? Im Folgenden sollen nun zunächst die verschiedenen Referenzen von »Vater« im antiken Judentum und frühen Christentum behandelt werden (1.). In einem weiteren Schritt soll die Frage beantwortet werden, welche spezifischen Konnotationen der Vaterschaft Gottes in den biblischen Schriften erkennbar sind (2.), bevor auf die weitere Institutionalisierung der Vater-Bezeichnung in den ersten christlichen Jahrhunderten kurz eingegangen werden soll (3.), um abschließend einen Blick auf die Funktion der Vater-Bezeichnung im Apostolikum zu werfen (4.).
1. Die Referenz der Vater-Metapher oder: Wessen Vater ist Gott? »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.« Zunächst liegt es nahe, die Vater-Anrede in dieser Glaubens-Aussage des Apostolikums auf Gott als Vater
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 91
des bekennenden Subjekts zu beziehen, im Sinne von »ich glaube an Gott, meinen Vater«. Dabei ist die metaphorische Dimension dieser Vater-Bezeichnung vorausgesetzt. Die Vater-Bezeichnung kann sich jedoch auch auf Gott als Vater Christi beziehen, also christologisch referieren. Dies wird durch die spätere Einspielung des Bekenntnisses zum eingeborenen Sohn Gottes im zweiten Artikel des Textes des Apostolikums nahegelegt (»ich glaube an Gott, den Vater […] und an seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn«). Schließlich könnte jedoch auch eine schöpfungstheologische Verwendung der Vater-Metapher im Blick sein, wie sie im gerade bereits zitierten Text aus 1 Kor 8,6 erkennbar wurde (»Gott, der Vater, aus dem alles ist […]«). Gott ist hier der Vater der Schöpfung, aber auch Vater im Sinne der kontinuierlichen Fokussierung der Glaubenden auf ihn als Lebensspender und -erhalter (»und wir auf ihn hin«). Die kreatorische Referenz der Vater-Bezeichnung scheint allerdings aus Gründen der Synonymik für das Apostolikum nicht primär im Blick zu sein, da die einleitende Appositionskette mit dem expliziten Bekenntnis zu Gott als Schöpfer endet, auch wenn dieses Schöpfertum mit der Vater-Bezeichnung korrelierbar ist.
1.1 Gott als Vater der Glaubenden: Die ekklesiologische2 Referenz der Vater-Metapher Aller Wahrscheinlichkeit nach sprach bereits Jesus von Gott als Vater: Das Vater-Gebet in der Version von Lk 11,2 – 4, in dem Jesus seine Nachfolger und Nachfolgerinnen lehrt, Gott als Vater anzusprechen (ὅταν προσεύχησθε λέγετε· Πάτερ, ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου), spiegelt 2 Das Lexem »ekklesiologisch« dient im Folgenden der Beschreibung der Mitglieder einer antiken glaubenden Gemeinschaft, jüdisch, pagan oder christlich, auch wenn ἐκκλησία in den frühchristlichen Texten vor allem die christliche Gemeinschaft benennt. Ihren Ursprung hat die christliche Bezeichnung ἐκκλησία vermutlich in der Jerusalemer Urgemeinde und deren Selbstbezeichnung qehal el, die im apokalyptischen Judentum das endzeitliche Aufgebot Gottes bezeichnete und möglicherweise bereits in Jerusalem mit ἐκκλησία τοῦ θεοῦ übertragen wurde. Vgl. A. Du Toit, Paulus Oecumenicus. Interculturality in the Shaping of Paul’s Theology, in: NTS 55 (2009), 121 – 143 (133 f.); H.-U. Weidemann, Ekklesia, Polis und Synagoge. Überlegungen im Anschluss an Erik Peterson, in: E. Peterson, Ekklesia. Studien zum altchristlichen Kirchenbegriff, hg. v. B. Nichtweiß / H.-U. Weidemann, Würzburg 2010, 152 – 195 (181). Ἐκκλησία war jedoch auch der allgemeine griechische Terminus für die Versammlung der stimmberechtigten und freien Männer mit öffentlich-rechtlichem, aber auch kultischem Charakter. Vgl. dazu Peterson, Ekklesia, 18 f.
92 Christiane Zimmermann vermutlich authentische Jesus-Rede wider, ebenso wie die Anrufung Gottes als »Vater« im Gebet in Gethsemani (Mk 14,36 parr.), wo sich die Vateranrede im markinischen Text auch in ihrer aramäischen Form, aber in griechischer Umschrift findet (αββα). Auch Paulus zitiert diese aramäische Form in Gal 4,6 und Röm 8,15 und memoriert damit vermutlich die authentische Gebetsanrede Gottes durch Jesus. Mit dieser abba-Anrede wendet sich der glaubende Jude Jesus als Mitglied des Gottesvolkes an seinen Gott als »Vater« und lehrt auch seine Nachfolger und Nachfolgerinnen ebensolches zu tun. Die im vergangenen Jahrhundert von Joachim Jeremias vertretene, breit rezipierte These, dass die jesuanische Anrede Gottes als abba kindersprachlich und für das »Empfinden der Zeitgenossen Jesu unehrerbietig, ja undenkbar« erschienen sei3 und damit das ganz besondere Verhältnis Jesu zu Gott formuliere, hat inzwischen vor allem durch die Arbeiten von Angelika Strotmann und Georg Schelbert eine gründliche Revision erfahren.4 Jesus war nicht der erste Jude, der Gott als »Vater« ansprach. Gott wurde im Judentum zur Zeit Jesu durchaus auch sonst »Vater« genannt, wenngleich die Belege nicht besonders zahlreich sind. Auch in den Religionen des Alten Orients5 und im griechisch-römischen Glauben war die Vater-Bezeichnung für Götter verbreitet;6 in der Selbstdarstellung der römischen Kaiser war sie über deren Anspruch, pater patriae, Vater des Vaterlandes, respektive des römischen Weltreiches zu sein, ebenfalls präsent.7 Der Jude Jesus rekurrierte daher mit der abba-Vater-Anrede auf eine
3 J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 41988, 67 – 73. 4 G. Schelbert, Abba Vater. Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Midrasch- und Haggada-Werken in Auseinandersetzung mit den Thesen von Joachim Jeremias (NTOA 81), Göttingen 2011; A. Strotmann, »Mein Vater bist du!« (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Texten (FTS 39), Frankfurt 1991. 5 Vgl. dazu den Beitrag von R. Achenbach in diesem Band sowie A. von Lieven, Father of the Fathers, Mother of the Mothers. God as Father (and Mother) in Ancient Egypt, in: F. Albrecht / R. Feldmeier (Hg.), The Divine Father. Religious and Philosophical Concepts of Divine Parenthood in Antiquity, Themes in Biblical Narrative 18, Leiden 2014, 17 – 36. 6 Vgl. dazu C. Zimmermann, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont (AGJU 69), Leiden 2007, 64 – 70. 7 A. a. O., 70 – 73.
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 93
im Judentum seiner Zeit stetig populärer werdende Metapher mit großem interreligiösen Potential.
1.1.1 Gott als Vater der Glaubenden im antiken Judentum Die atl. Schriften verwenden die Vater-Bezeichnung noch selten (ca. 17-mal): Der Gott-Vater ist hier vor allem der Vater seines Bundesvolkes, das er für sich erwählt hat.8 Wie das Bundesvolk vom göttlichen Vater Vergebung für seine Sünden erhoffen kann, so erwartet der göttliche Vater von seinen erwählten Kindern gleichermaßen Gehorsam. In hellenistischer Zeit gewinnt die Vater-Bezeichnung an Popularität.9 Zwar kann der göttliche Vater auch strafen,10 aber nun dominiert der Aspekt des väterlichen Erbarmens und von Seiten der Glaubenden das Vertrauen auf die Gebetserhörung durch den sich sorgenden, schützenden und seine Kinder rettenden Vater-Gott die Verwendung der Metaphorik.11 Gott ist seinem Volk nah geworden, die Glaubenden können mit großer Zuversicht auf die Rettung durch den Vater in schwieriger Lage vertrauen.12 Dies ist auch das Konnotationsspektrum, in dem die jesuanische Vater-Anrede Gottes zu verorten ist.13 Zugleich beinhaltet die Vater-Metapher bereits im antiken Judentum einen deutlich integrativen Aspekt: Für Proselyten, die durch ihren Glaubenswechsel möglicherweise in Konflikt mit ihren Familien kamen, konnte Gott als »neuer Vater« gelten. So versteht sich die 8 A. a. O., 48 – 52; R. Feldmeier / H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre (TOBITH 1), Tübingen 22017, 52 – 66; H. Spieckermann, The »Father« of the Old Testament and Its History, in: Albrecht / Feldmeier, The Divine Father (s. Anm. 5), 71 – 84. 9 Zimmermann, Namen (s. Anm. 6), 52 – 64; Strotmann, Mein Vater (s. Anm. 4); vgl. ebenso J. van Ruiten, Divine Sonship in the Book of Jubilees, in: Albrecht / Feldmeier, The Divine Father (s. Anm. 5), 85 – 105; L. Doering, God as Father in Texts from Qumran, in: a. a. O., 107 – 135; R. Hayward, God as Father in the Pentateuchal Targumim, in: a. a. O., 137 – 164; M. Popović, God the Father in Flavius Josephus, in: a. a. O., 181 – 197. 10 Vgl. etwa Tob 13,2 – 5 (BA). 11 Strotmann, Mein Vater (s. Anm. 4), 376. 12 Strotmann zählt als weitere Aspekte auf: Erziehung, Erbarmen, Vergebung, Treue, Verlässlichkeit, Fürsorge, Verantwortung, Liebe, Güte, Zuwendung, Nähe, Schutz, Hilfe, Rettung, machtvolles Eingreifen, absolute Schöpfermacht, Anteilgabe an Gottes Macht, Herrlichkeit und Erkenntnis (Strotmann, Mein Vater [s. Anm. 4], 360 – 362). 13 Vgl. dazu auch E. Lohse, Das Vaterunser. Im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen, Tübingen 2008.
94 Christiane Zimmermann Ägypterin Aseneth durch ihre Hinwendung zum Judentum als »verwaist« und sieht Jhwh als »Vater der Verwaisten und Verfolgten«, auf dessen Rettung und Schutz sie vertrauen kann (JosAs 11,13; 12,8.13).
1.1.2 Gott als Vater der Glaubenden im frühen Christentum14 Im frühen Christentum erfährt die Vater-Bezeichnung im Vergleich mit ihrer Verwendung im vorausgehenden und im zeitgenössischen Judentum nun allerdings eine bemerkenswerte Entwicklung. Mehr als 260-mal sprechen die im Neuen Testament zusammengeschlossenen Texte von Gott als »Vater«. Während sich in den frühjüdischen Gottesbezeichnungen vor allem die Vorstellung von Gott als »Herr« spiegelt und die Vater-Bezeichnung im Vergleich selten erscheint, wird Gott für die ersten Jesus-Nachfolger, die frühen Christinnen und Christen, zunehmend der »Vater«, und zwar der »Vater«, an den sie sich im Gebet vertrauensvoll und in Hoffnung auf Erfüllung ihrer Bitten wenden können, da Gott ihnen wie ein Vater wohlwollend gegenübersteht. Der himmlische »Vater« sollte jedoch grundsätzlich von irdischen »Vätern« unterschieden werden: Die Apposition »der in den Himmeln« im Matthäus-Evangelium sowie die Ablehnung der abba-Anrede für irdische Lehrer in Mt 23,9 weisen darauf hin, dass etwa die matthäische Gemeinde den göttlichen »Vater« als alleinige, auch den irdischen Vätern übergeordnete Autorität benennen wollte. Diese zunehmende Bevorzugung der Vater-Bezeichnung für Gott erklärt sich vor dem Hintergrund der bereits im zeitgenössischen Judentum ebenso wie im paganen Bereich zu beobachtenden wachsenden Popularität der Vater-Metaphorik für Gott bzw. Götter oder auch den deifizierten römischen Kaiser. Diese Bevorzugung erklärt sich jedoch vor allem durch die historische Verwendung der Bezeichnung durch Jesus, sein eigenes Gebet und durch die in Lk 11,2 erhaltene explizite Gebetsanweisung: »Wenn ihr betet, so sprecht: ›Vater, Dein Name werde geheiligt.‹ « Und diese Entwicklung erklärt sich vor dem Hintergrund der Überzeugung von der hoheitlichen Gottessohnschaft Jesu, mit der über die Aussage seiner Partizipation an der Vater-Re14 Vgl. dazu Zimmermann, Namen (s. Anm. 6), 74 – 166; F. Wilk, »Vater …«. Zur Bedeutung der Anrede Gottes als Vater in den Gebeten der Jesusüberlieferung, in: Albrecht / Feldmeier, The Divine Father (s. Anm. 5), 199 – 231; R. Wagner, Is God the Father of the Jews only, or also of Gentiles? The Peculiar Shape of Paul’s »Universalism«, in: Albrecht / Feldmeier, The Divine Father (s. Anm. 5), 233 – 254.
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 95
lation als Mitglied des auserwählten Bundesvolkes hinaus der Vorstellung von einer göttlichen Herkunft und göttlichen Qualität Jesu Ausdruck verliehen wird.
1.2 Gott als Vater des Gottessohnes: Die christologisch-hoheitliche Referenz der Vater-Metapher Neben der abba-Anrede Gottes in Mk 14,36 findet sich die Bezeichnung Gottes als Vater durch Jesus auch in einigen vermutlich alten Spruchtraditionen der Evangelien. Abgesehen von der Einleitung des Vater-Gebets in Lk 11,2 apostrophiert Jesus Gott als Vater, als Herrn des Himmels und der Erde, der den Unmündigen Offenbarung zuteilwerden ließ, in Lk 10,21: »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies Weisen und Klugen verborgen, Unmündigen (aber) offenbart hast. Ja, Vater, weil es dir so wohlgefallen hat.« Während die Vater-Anrede in diesem möglicherweise historischen Jesus-Logion noch absolut gehalten ist und ebenso wie Lk 11,2 als Vater-Anrede des glaubenden Juden Jesus verstanden werden kann, wird sie in Lk 10,22, also im sich anschließenden, vermutlich ursprünglich unabhängigen Spruch15 konkret auf die Beziehung zwischen Gott und Jesus hin ausgelegt: »Alles ist mir übergeben von meinem Vater. Und niemand weiß, wer der Sohn ist, als nur der Vater, noch, wer der Vater ist, als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.« Die von Jesus vermittelte Offenbarung erscheint hier als die des Wissens um die besondere, persönliche Beziehung zwischen Vater und Sohn. Die in Lk 10,21 absolut gehaltene Vater-Bezeichnung wird in diesem Vers durch die Verwendung des Possessivpronomens »mein« und das epistemologische Geheimnis zwischen Vater und Sohn auf eine exklusive Beziehung hin konkretisiert.16 Der Vers dokumentiert damit die allmähliche Etablierung der Gottessohnschaft Jesu im deklaratorischen und dann auch genealogischen Sinne im frühen Christentum, wie sie etwa die Tauf- und Geburtsgeschichten in den synoptischen Evangelien belegen und wie sie in der Anrede Gottes als »meinem Vater« zum Ausdruck kommt.17 Entsprechend findet sich bereits bei Paulus die 15 J. S. Kloppenborg, The Formation of Q. Trajectories in Ancient Wisdom Collections, Philadelphia 1987, 197 f. 16 Vgl. auch den Verweis auf den Menschensohn und »seinen« Vater in Mk 8,38. 17 Mk und die Logienquelle kennen die Bezeichnung »mein Vater« aus dem Munde Jesu noch nicht. Vgl. Zimmermann, Namen (s. Anm. 6), 111.
96 Christiane Zimmermann Eulogie Gottes als des »Vaters unseres Herrn Jesus Christus« (2 Kor 1,3; 11,31; als Doxologie in Röm 15,6; vgl. auch Eph 1,3). Der oder die Verfasser des Johannes-Evangeliums gestalten die Überzeugung vom besonderen Sohnschaftsverhältnis Jesu zum göttlichen Vater dann erzählerisch und theologisch weiter aus: Als μονογενής ist Jesus als inkarnierter Logos der einzige »leibliche« Sohn Gottes,18 der in Wesens- und Wirkeinheit mit dem Vater diesen irdisch offenbart und diese Einheit mit den Worten »Ich und der Vater sind eins« (ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσμεν, Joh 10,30) beschreibt. Der Sohn ist eins mit dem Vater, kommt von ihm und kehrt zu ihm zurück. Der Vater offenbart sich im inkarnierten Sohn, der den Vater als einziger »gesehen« hat und ihn der Welt exegisiert (Joh 1,18).
1.3 Die Verbindung von ekklesiologischer und christologisch-hoheitlicher Referenz der Vater-Metapher Wenngleich die Vorstellung von der Gottessohnschaft der Glaubenden durch ihre jüdische Tradition als prioritär zu denken ist, setzen die frühesten christlichen Schriften die hoheitliche Gottessohnschaft Jesu jedoch bereits ebenfalls voraus und bringen sie in einen Zusammenhang mit der Gottessohnschaft der Glaubenden. Es lässt sich also von frühester Zeit an bereits eine Verbindung von ekklesiologischer und christologisch-hoheitlicher Referenz der Vaterschaft Gottes erkennen. Bereits in den paulinischen Briefen basiert die Vaterschaft Gottes gegenüber den Glaubenden auf seiner Vaterschaft dem Gottessohn gegenüber. Paulus macht deutlich, dass die Anrede Gottes als abba nur durch die Sendung des Sohnes und die Aufnahme des Geistes geschehen kann. So heißt es in Gal 4,4 – 6: »(4) Als aber die Erfüllung der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter dem Gesetz, (5) damit er die unter dem Gesetz freikaufe, damit wir die Sohnschaft empfangen. (6) Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der ruft: ›abba, Vater‹.« Der Geist (Christi)19 ermöglicht die Partizipation am 18 Vgl. dazu C. Zimmermann, Gottes rekreatorisches Handeln bei Paulus und Johannes I. Das »Lebendigmachen« und das »aus Gott / von oben Gezeugtwerden«, in: V. Burz-Tropper (Hg.), Studien zum Gottesbild im Johannesevangelium, Tübingen 2019, 161 – 186. 19 Zur Textkritik dieser Stelle vgl. C. Zimmermann, Gott und seine Söhne. Das Gottesbild des Galaterbriefs (WMANT 135), Neukirchen-Vluyn 2013, 77 f.
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 97
Göttlichen, die sich in der Konstitution der Vater-Kind-Beziehung konkretisiert, die hier wie ein Rechtsakt als Empfang der Sohn- bzw. Kindschaft (υἱοθεσία) beschrieben wird. Die Glaubenden werden vom göttlichen Vater auf der Basis der Sendung des Sohnes wie bei einer Adoption als Kinder angenommen. Der Geist gibt ihnen die Stimme, Gott ebenso wie Jesus als abba-Vater anzurufen. Möglicherweise rekurriert Paulus hier bereits auf eine frühe Tradition des Vatergebets, in dem Jesus Gott explizit als Vater anspricht (Lk 11,2: »Vater«) und die Jünger und Jüngerinnen lehrt, dies ebenso zu tun (Mt 6,9: »Vater unser«).20 Ähnlich, aber doch radikaler formuliert dies der Verfasser des Johannes-Evangeliums. Auch hier erscheint Christus als Vermittler der Gotteskindschaft der Glaubenden, nun aber nicht mehr im Rahmen eines rechtlichen Aktes. Die programmatischen Eingangsverse des Evangeliums beschreiben zunächst, dass der von Gott kommende Christus-Logos einem Teil der Schöpfung, nämlich denjenigen Menschen, die ihn »aufgenommen haben«, »denen, die an seinen Namen glaubten«, die Bevollmächtigung gab, »Kinder Gottes zu werden« (τέκνα θεοῦ γενέσθαι, Joh 1,12). Diese werden nun weiterhin gekennzeichnet als »die, die nicht aus menschlichem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott gezeugt sind« (ἐκ θεοῦ ἐγεννήθησαν, Joh 1,13). In Joh 3 legt Jesus im Gespräch mit Nikodemus dar, wie dieses »aus Gott Gezeugtwerden« zu denken ist: als ein »von oben«/»von neuem« (Joh 3,3)21 bzw. »aus Wasser und Geist« (ἐξ ὕδατος καὶ πνεύματος, Joh 3,5) Gezeugtwerden. Auch hier wieder vermittelt der Geist die Kindschaft; das Wasser referiert vermutlich auf das Taufgeschehen als Aufnahme des neuen Kindes in die Familie Gottes.22 Das Johannes-Evangelium formuliert mit den Lexemen »aus Gott« bzw. »von oben / von neuem Gezeugtwerden« (Joh 3,3) den Neuanfang Gottes mit den Menschen in semantischer Radikalität, die das »grundlegende Anders-Sein«23 dieses Lebens unter dem Aspekt der Partizipation am Göttlichen und 20 Vgl. dazu M. Philonenko, Das Vaterunser. Vom Gebet Jesu zum Gebet der Jünger, Tübingen 2002, 112. 21 Zur Frage der zeitlichen oder lokalen Denotation von ἄνωθεν vgl. Zimmermann, Gottes rekreatorisches Handeln (s. Anm. 18), 178. 22 M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1 – 12 (RNT IV / 1), Regensburg 2009, 251. 23 U. U. Kaiser, Die Rede von »Wiedergeburt« im Neuen Testament. Ein metapherntheoretisch orientierter Neuansatz nach 100 Jahren Forschungsgeschichte, Tübingen 2018, 290 f.
98 Christiane Zimmermann damit an der Hoheit in den Blick nimmt.24 Bei Johannes wird die zuvor auf Jesus konzentrierte Aussage der göttlichen Herkunft also nun auch auf die Glaubenden übertragen:25 Sie sind als Kinder Gottes durch das »Gezeugtwerden« in eine genealogische Relation zu Gott als Vater gestellt und damit partizipieren sie zugleich an der Erhöhung. Die Gefahr einer Gleichstellung der Glaubenden mit dem einzig »leiblichen« Gottessohn, dem inkarniertern Christus-Logos,26 ist dennoch nicht gegeben: Dieser unterscheidet sich durch seine Präund Postexistenz bei Gott, seine Inkarnation und die im Evangelium ausgeführte Wesens- und Wirkeinheit mit dem Vater von den anderen Gotteskindern, die aber dennoch »aus Gott gezeugt« sind. Der Verfasser des 1. Petrusbriefs parallelisiert die Vaterschaft Gottes gegenüber Jesus und gegenüber den Glaubenden ebenfalls (1 Petr 1,3: »Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns entsprechend seiner großen Barmherzigkeit neugezeugt hat«) und verwendet für die Vaterschaft Gottes den Glaubenden gegenüber das der johanneischen Semantik vom »von oben / von neuem Gezeugt werden« (ἄνωθεν γεννάομαι) sehr nahestehende Lexem ἀναγεννάομαι (»neu gezeugtwerden«) für die Glaubenden (1,23; vgl. auch 1,3). Die Metaphorik des »von oben« bzw. »von neuem Gezeugtwerdens« wird hier noch weiter ausgestaltet, insofern hier die Glaubenden mit neugeborenen Kindern auch bzgl. ihrer Glaubensreife verglichen werden, die mit dem Wort Gottes wie mit »unverfälschter, geistiger Milch« (2,2) gefüttert werden. Das Bewusstsein der Verbundenheit mit Gott (und Christus) in der familia dei spiegelt sich nicht nur in der Tatsache, dass die Vater-Bezeichnung das Vater-Gebet epikletisch einleitet, sondern auch darin, dass die Rede von Gott als Vater der Christinnen und Christen ihren festen Platz im Eingang frühchristlicher Briefe gewinnt.27 Die 24
Vgl. Zimmermann, Gottes rekreatorisches Handeln (s. Anm. 18), 180. Deutlich wird diese Übertragung auch an der Verwendung von Lexemen des Stammes γεν-: μονογενής (Joh 1,18), γενέσθαι (Joh 1,12), γεννηθῆναι (Joh 1,13). 26 Zur Interpretation von μονογενής vgl. Zimmermann, Gottes rekreatorisches Handeln (s. Anm. 18), 174 f. 27 Vgl. Röm 1,7; 1 Kor 1,3; 2 Kor 1,2; Gal 1,3; Phil 1,2; Phlm 3; 1 Thess 1,1; 2 Thess 1,1 – 2; Eph 1,2 – 3; Kol 1,2; 1 Tim 1,2; 2 Tim 1,2; Tit 1,4; 1 Petr 1,2; 2 Joh 3; Jud 1. Vgl. auch die Präskripta der Ignatius-Briefe, sowie G. Schneider, Gott, der Vater Jesu Christi, in der Verkündigung Jesu und im urchristlichen Bekenntnis, in: ders., Jesusüberlieferung und Christologie. Neutestamentliche Aufsätze 1970 – 1990, Leiden 1992, 3 – 38 (34). 25
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 99
Benennung Gottes als Vater erfolgt praktisch in allen brieflichen salutationes, fließt aber auch in Eulogien und Danksagungen ein. So lobt der Verfasser des 1. Petrusbriefs Gott als Vater. Und so gilt auch der Dank für die Glaubensfestigkeit der Gemeinde, Gott-Vater in Kol 1,3 und 1,12 – 14: Der Verfasser dankt Gott-Vater, »der euch dazu bereitet hat, Anteil am Los der Heiligen im Licht zu haben. (13) Er hat uns aus der Macht der Finsternis gerettet und uns in das Reich des Sohnes seiner Liebe gestellt, (14) in dem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden.«
1.4 Gott als Vater der Schöpfung: Die kreatorisch-kosmologische Referenz der Vater-Metapher Blickt man auf die biblischen, also auf die jüdischen, jesuanischen und frühchristlichen Referenzen der Vater-Metapher, entdeckt man einige wenige Fälle, wie etwa 1 Kor 8,6, in denen die kreatorisch-kosmologische Referenz der Vater-Metapher im Fokus ist.28 So ist etwa für Philon Gott Vater im Sinne des Schöpfertums. Dabei rezipiert Philon die Vorstellung einer kosmologischen Vaterschaft Gottes aus der platonischen und stoischen Philosophie und verschmilzt sie mit der im zeitgenössischen Judentum dominierenden Vorstellung des sein Bundesvolk schützenden und umsorgenden Vaters. Während das Vater-Sein Gottes im herkömmlichen Sinn auf Israel als auserwähltes Volk konzentriert ist, gewinnt die Vater-Metapher durch die Integration der kosmologischen Perspektive einen universalen Aspekt hinzu: Als Schöpfer ist Gott zugleich Vater der gesamten Schöpfung, die ihn daher auch – unabhängig von ihrer religiösen Provenienz – als alleinigen Gott anerkennen kann. Diese Entwicklung gewinnt ihr Aussagepotential auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Deifizierung der römischen Kaiser, deren Anspruch es war, Vater des Vaterlandes respektive des römischen Weltreiches zu sein.29 Innerhalb der kanonischen frühchristlichen Schriften verwendet besonders der Epheserbrief die Vater-Metapher für Gott in kreatorisch-kosmologischer Perspektive.30 Wie Eph 4,6 deutlich macht, 28
Vgl. Zimmermann, Namen (s. Anm. 6), 60. A. a. O., 70 – 73. Zur kosmologischen Bedeutung der Vaterschaft in Eph und ihrem griechisch-römischen Hintergrund vgl. G. H. van Kooten, The Divine Father of the Universe from the Presocratics to Celsus. The Graeco-Roman Background of the »Father of All« in Paul’s Letter to the Ephesians, in: Albrecht / Feldmeier, 29 30
100 Christiane Zimmermann ist Gott nicht mehr nur »unser Vater« (1,2), sondern πατὴρ πάντων, ὁ ἐπὶ πάντων καὶ διὰ πάντων καὶ ἐν πᾶσιν. Das Genetivattribut πάντων ist einerseits abstrakt zu fassen »von allem«, andererseits – gerade mit Kenntnis der ursprünglichen Formulierung des Textes in 1 Kor 8,6 – personal »von allen«. Aus der in Anlehnung an stoische Formulierungen31 gewonnenen Beschreibung des einen Gottes und Vaters, »der über allem und durch alles und in allem ist«, wird nun extrahiert, dass Gott der Vater »von allen / m« ist. Der Schöpfergott wird hier zum kosmischen All-Vater. Die im Epheserbrief als »ein Leib« gedachte Kirche, deren Haupt Christus ist, setzt sich zusammen aus »allen«, deren Vater der Schöpfergott ist, der zugleich »über allem, durch alles und in allem ist«. Der Epheserbrief greift hier auf der Grundlage der Harmonisierung von Schöpfertum und kosmologischer Vaterschaft Gottes Formulierungen auf, die pantheistische Gedanken implizieren. Nach dem Vater (πατήρ) benennt sich nun nach Eph 3,14 f. jede πατριά im Himmel und auf Erden. Die Paronomasie von πατήρ und πατριά ist sicherlich nicht zufällig: Der Verfasser des Briefes hebt damit auf die Verbindung des Vaters und des sich vom Vater ableitenden Volksstammes (»Vaterstammes«) ab. Gott ist der Namensgeber für die einzelnen Völkergruppen des Himmels und der Erde. Zugleich wird damit die in einzelnen πατριαί vorgestellte Welt unter der Familienperspektive gesehen, wobei ebenfalls der Gedanke der kosmologischen Vaterschaft eine Rolle spielt. Der Verfasser des Epheserbriefs führt hier implizit die etymologische Begründung der kosmologischen Vaterschaft vor: Weil sich jede πατριά nach dem πατήρ benennt, muss sie folgerichtig auch von diesem abstammen.32 Der Vater ist der alles durchwaltende Schöpfergott, die von ihm geschaffene Welt strukturiert sich in einzelne πατριαί. Alle Glaubenden, egal welcher Provenienz, haben nun Zugang zum Vater. Nirgendwo wird der Gedanke der universalen Vaterschaft so deutlich wie im Epheserbrief, der durch die Verbindung von jüdischem Schöpfergedanken und der ursprünglich griechischen Vorstellung der kosmologischen Vaterschaft Gottes formuliert wird.33 The Divine Father (s. Anm. 5), 293 – 324. Zur Bezeichnung Gottes als »Vater der Lichter« in Jak 1,17 vgl. Zimmermann, Namen (s. Anm. 6), 149 – 151. 31 Zimmermann, Namen (s. Anm. 6), 550 – 551. 32 Im Präskript von IgnRöm ist in ähnlicher Weise von der Kirche in Rom als πατρώνυμος die Rede. 33 Vgl. jedoch auch die Metapher von Gott als »Vater der Lichter« in Jak 1,17, die ebenfalls auf Gottes kreatorisches Handeln referiert; s. dazu Zimmermann, Namen (s. Anm. 6), 149 – 151.
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 101
2. Konnotationen der Vater-Bezeichnung in den kanonischen Schriften des frühen Christentums Vor dem Hintergrund der dreifachen Referenzialität der Bezeichnung Gottes als Vater im frühen Christentum ist die Frage nach den Konnotationen dieser Vater-Bezeichnung zu stellen. Mit Joh 3,16 (»Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab«) ist die Liebe (ἀγάπη) Gottes als grundlegendes Kennzeichen, das aufs Engste mit der Vater-Bezeichnung harmoniert, im Blick. Gott liebt die Welt (Joh 3,16), Gott liebt den Sohn (Joh 3,35; 10,17; 15,9), Gott liebt die, die Jesus lieben (Joh 14,21.23; 16,27). Nach 2 Thess 2,16 ist Gott der Vater, »der uns liebt und ewigen Trost gibt«. Jedoch lassen sich auch noch weitere Konnotationen der Vater-Bezeichnung erheben. Die Pragmatik der Rede von Gott als Vater im frühen Christentum kann nur dann wirklich erschlossen werden, wenn man den Blick darauf lenkt, »was von der antiken Vatervorstellung jeweils konkret auf Gott übertragen wird«.34 »Vater« ist zunächst ein Relationsbegriff. Die Vater-Bezeichnung qualifiziert das Verhältnis des Menschen, und auch das der Schöpfung, zu Gott als ein exklusives, da jeder Mensch nur einen Vater hat, – auch wenn sich durch die metaphorische Verwendung nun ein breiteres Spektrum an möglichen »Vätern« ergibt; andererseits ist das Verhältnis Gottes zu den Menschen ein inklusives, insofern ein Vater mehrere Kinder haben kann: Der göttliche Vater kann göttliche und menschliche Kinder haben, ja er kann »Vater« auch anderer Lebewesen und der ganzen Schöpfung sein. Besonders relevant für das frühe Christentum ist jedoch die Vaterschaft Gottes Jesus und den Glaubenden gegenüber. Mit der Vater-Bezeichnung wird zugleich auf einen besonderen Status der dem Vater zuzuordnenden Kinder abgehoben, der in der Antike auch über Adoption erreicht werden konnte. Durch Texte wie Gal 4,6 (»Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der ruft: ›Abba, Vater‹.«) wird deutlich, wie wichtig im frühen Christentum der nun besonders betonte Status der Kindschaft für die Glaubenden wurde. Die Vater-Bezeichnung lässt dieses Bewusstsein der Glaubenden, Kinder Gottes zu sein, immer mitanklingen. Sie sollen versuchen, ihren Vater nachzuahmen (Mk 11,25; 34 C. Gerber, Das Gottesbild Jesu und die Bedeutung der Vatermetaphorik, in: J. Schröter / C. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 361 – 368 (366). Vgl. zum Folgenden a. a. O., 366 f.
102 Christiane Zimmermann Lk 6,36) und sie schulden ihm Gehorsam. Zugleich ist aus Gal 4,6 deutlich, dass der Zugang zur Gotteskindschaft nur über Christus und den Glauben an dessen eigene Gottessohnschaft erfolgen kann, der im Johannes-Evangelium im Glauben an die »Einheit« von Vater und göttlichem Sohn gesteigert hervortritt.35 Doch was evoziert die Verwendung der Vater-Bezeichnung neben der Hervorhebung dieser Relation und des damit verbundenen Status der Glaubenden? Die Jesusüberlieferung steht, wie gesagt, zunächst in der Tradition der frühjüdischen Verwendung der Vater-Metapher für Gott, in den Gebeten Jesu geht es um die Erwartung der Erhörung des Gebets durch den Vater, speziell um Schutz bzw. Rettung aus der Not (Mk 14,36). Die Kommunikation mit dem Vater ist jedem möglich, der Gott als Vater betrachtet; der Vater ist erreichbar, auch wenn er – wie bei Matthäus explizit – im Himmel lokalisiert ist (ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς / οὐράνιος, vgl. etwa Mt 5,16; 6,9.14). Und der Vater hat Interesse an der Errettung seiner Kinder. Er kann sie präsentisch, aber auch zukünftig vor Bösem bewahren (Mt 6,13). Er ist barmherzig (Lk 6,36; vgl. auch 2 Kor 1,3) und wird ihnen mehr noch als ein irdischer Vater »Gutes« geben (Mt 7,11 / Lk 11,13), sie aber auch im Alltag mit dem Nötigsten – wie dem täglichen Brot – versorgen (Mt 6,11 / Lk 11,3). Der Vater ist den Kindern an Wissen voraus (Mk 13,32; Mt 6,32 / Lk 12,30; Mt 6,4. 6. 18); er ist jedoch bereit, ihnen sein Wissen zu offenbaren (Lk 10,21 f./Mt 11,25 – 27). Der Vater hat dementsprechend einen besonderen Willen (Mt 6,10; 26,42), der a utoritative Geltung hat; darin ähnelt er jedem Herrn. Ihm ist alles möglich (Mk 10,27; 14,36), er ist vollkommen (Mt 5,48). Daher kann er seinen Kindern ihre Schuld vergeben (Mk 11,25; Mt 6,13 / Lk 11,4) und er tröstet sie (2 Thess 2,16). Andererseits sieht der Verfasser des Hebräerbriefs auch die Züchtigung der Söhne in Zusammenhang mit der göttlichen Vaterschaft. In Hebr 12,5 f. erinnert der Verfasser mittels des Zitates von Spr 3,11 f. an die Stellung Gottes den Söhnen gegenüber, die auch leidvolle erzieherische Maßnahmen impliziert: »Mein Sohn, achte die Erziehung seitens des Herrn nicht gering und lass dich nicht entmutigen, wenn du von ihm gestraft wirst. Denn wen der Herr liebt, den erzieht er, (und) er schlägt jeden Sohn, den er a nnimmt.« Die strafende erzieherische Maßnahme dient letztlich dazu, die Söhne auf dem rechten Weg zu halten: »Unsere fleischlichen Väter hatten wir als Erzieher und haben uns ihnen gefügt; werden wir uns da nicht 35
Zimmermann, Namen (s. Anm. 6), 115 – 127.
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 103
noch vielmehr dem Vater der Geister36 unterwerfen und (so) das Leben haben?«, (Hebr 12,9). Die Vater-Kind-Metaphorik ruft auch die Vorstellung der Nachahmung des väterlichen Verhaltens durch die Kinder auf. Entsprechend sieht Jak 1,27 die Christen in der Pflicht, die Liebe des göttlichen Vaters an den Schutzbedürftigen imitierend zu praktizieren: »Ein reiner und makelloser Dienst vor Gott, dem Vater, besteht darin: für Waisen und Witwen zu sorgen, wenn sie in Not sind, und sich vor jeder Befleckung durch die Welt zu bewahren.« So wie Gott der Vater auch der Waisen ist,37 haben die Christen diese Funktion des Vaters nun konkret bei den »Waisen und Witwen« zu übernehmen und somit die wohltäterische, fürsorgende Seite des göttlichen Vaters zu imitieren. Die lukanische Erzählung vom verlorenen Sohn (Lk 15,11 – 32) kann als metaphorisches Narrativ der Vaterschaft Gottes und ihrer Vorbildlichkeit gelesen werden. Der in der Parabel agierende Vater zeigt zahlreiche der eben ausgeführten Aspekte der göttlichen Vaterschaft. Dominiert wird die Erzählung allerdings von der Barmherzigkeit, Vergebungsbereitschaft und Liebe des Vaters, der Gott abbildet. Die Liebe dieses Vaters übertrifft alle menschlichen Maßstäbe und ist vorbildlich für die Glaubenden. Vor allem im Schrifttum der johanneischen Schule wird besonders der Aspekt der Liebe des göttlichen Vaters hervorgehoben. Die Gedankenstruktur liegt in einzelnen Elementen bereits bei Paulus vor, wird jedoch hier nun argumentativ in eine schlüssige Haltungs- und Handlungslinie gebracht, die den Vater, den Sohn und die glaubenden Kinder eint: Der Vater liebt die Welt und sendet daher seinen einzigen (inkarnierten) Sohn in die Welt und damit in den Tod (Joh 3,16).38 Insofern ist die Liebe in den johanneischen Schriften aufs Engste mit 36 Mit der Bezeichnung als »Vater der Geister« (τῷ πατρὶ τῶν πνευμάτων) wird Gott hier den irdischen »Vätern des Fleisches« (τοὺς μὲν τῆς σαρκὸς ἡμῶν πατέρας) gegenübergestellt. 37 Vgl. dazu bereits Dtn 10,18; Ps 67,6 (LXX); Sir 35,14. 38 Bereits in der paganen Antike wurde das Sterben von Menschen zugunsten anderer immer wieder damit verbunden, dass dieses Sterben aus Liebe motiviert sei (Alkestis). Dieses Liebesmotiv wird nun vom sterbenden Sohn auf den göttlichen Vater übertragen und die Liebe des Vaters damit als Ursache für das Sterben des Sohnes benannt. Vgl. C. Eschner, Gestorben und hingegeben »für« die Sünder. Die griechische Konzeption des Unheil abwendenden Sterbens und deren paulinische Aufnahme für die Deutung des Todes Jesu Christi, Bd. 1: Auslegungen der paulinischen Formulierungen, Bd. 2: Darstellung und Auswertung des griechischen Quellenbefundes (WMANT 122 / 1 – 2), Neukirchen-Vluyn 2010.
104 Christiane Zimmermann der Vater-Metapher verbunden. Doch ist im Sterben des Gottessohnes genauso auch dessen Liebe erkennbar (1 Joh 3,16). Und die Liebe des Vaters wird nun noch stärker als in der synoptischen Tradition zur ethischen Richtschnur für seine Kinder (1 Joh 3,11.16), ja die Liebe Gottes bleibt nur, wenn auch die Kinder Gottes (den Bruder / die Schwester) lieben (1 Joh 3,14.17). Die Vater-Metaphorik inkludiert daher über das Moment der puren imitatio hinaus zugleich auch einen ethischen und soteriologischen Aspekt für die Glaubenden, die als von »Gott gezeugt« verstanden werden (Joh 1,12 f.; 3,3). Auch in 1 Petr klingt die Vaterschaft Gottes den Glaubenden gegenüber mit der Semantik der »Zeugung« an (1 Petr 1,3), die jedoch noch weiter ausgestaltet wird: Die Aufnahme des verkündigten Wortes, vergleicht der Verfasser mit dem Trinken der ersten Milch durch »gerade Geborene« (1 Petr 2,2). Über diese Milch- oder Still-Metapher erhält das Gottesbild des 1 Petr mütterliche Züge, insofern das »lebendige und bleibende Wort« von Gott stammt (1 Petr 1,23) und zugleich in einer nur der Mutter gegebenen Weise auf die »neugeborenen« Glaubenden übertragen wird. Der Vater-Gott des 1 Petr nährt seine Kinder auf eine üblicherweise nur der Mutter mögliche Art. Ein besonderer Aspekt der frühchristlichen Verwendung der Vater-Metapher ist, dass sie das »Herr«-Sein Gottes abzulösen scheint. Zum einen zeigt sich das an der deutlichen Zunahme von Belegen für die Vater-Bezeichnung Gottes bereits innerhalb der kanonisierten Evangelien-Literatur. Zum anderen bittet das Vater-Gebet, das zahlreiche der eben genannten Aspekte der Vaterschaft Gottes enthält, in seinen Anfangsworten um das Kommen der Königsherrschaft Gottes, der βασιλεία θεοῦ, mit den Worten »Πάτερ, […] ἐλθέτω ἡ βασιλεία σου« (Lk 11,2 / Mt 6,9). Das Gebet bittet nicht Gott als König um das Kommen seiner Königsherrschaft, sondern es bittet Gott als Vater um das Kommen dieser Herrschaft. Die Macht des Vaters kennzeichnet die Herrschaft Gottes, die nicht durch die Machtstruktur von König und Untergebenen gekennzeichnet ist, sondern grundsätzlich der Existenz in einer Familie, nun der familia dei, ähnelt.39 Im frühen Christentum impliziert die Vater-Metaphorik also sehr viel mehr als nur die »Liebe« des Vaters, wenngleich diese sicherlich 39 Wenn Mt vom »Vater in den Himmeln« spricht, spitzt er die atl. Rede vom Gott / Herrn / König »in den Himmeln« ebenfalls auf den Aspekt der Regentschaft des Vaters hin zu (Zimmermann, Namen [s. Anm. 6], 103). Andererseits ist der Vater als einer »in den Himmeln« deutlich unterschieden vom irdischen Vater und für alle, unabhängig von ihrer Nationalität, ansprechbar.
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 105
nicht ohne Grund als zentraler Aspekt des Verhältnisses von Gott und Glaubenden zu sehen ist. Mit der Vater-Metaphorik formulieren die frühen Christinnen und Christen die entscheidende, neue, mit dem Christus-Erlebnis eingetretene Erkenntnis, dass Gott ein neues Verhältnis zu den Glaubenden eingerichtet hat, das sich vom vorausgehenden dahingehend unterscheidet, die genannten mit der Vater-Metaphorik verbundenen Aspekte in den Vordergrund zu stellen, wobei die Liebe des Vaters einen zentralen Stellenwert genießt. Die Liebe des Vaters zeigt sich ganz konkret in der Hingabe des Sohnes und in der Annahme der Glaubenden als Kinder. Bereits im frühen Christentum lässt sich die Institutionalisierung der Vater-Bezeichnung durch das Vater-Gebet40 und vermutlich auch durch die Verwendung der Vater-Bezeichnung in der Taufliturgie beobachten. Die Entwicklung der Metaphorik der Glaubenden als »von Gott Gezeugte« und »Neugeborene« ist vermutlich im Zusammenhang des Taufgeschehens zu verorten, das nach dem sog. Missionsund Taufbefehl in Mt 28,18 – 20 die Nennung des Vater-Namens implizierte (vgl. auch Gal 4,6). In Mt 28,19 beauftragt Jesus die Jünger: »Geht also und macht alle Völker zu Jüngern und Jüngerinnen, indem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Dieser Auftrag erscheint in keinem anderen Evangelium und verweist daher darauf, dass die mt Gemeinde den von ihr praktizierten Ritus der Taufe auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes offenbar an die Jesus-Vita anbinden wollte.41 Die Verwendung der Vater-Bezeichnung in den Eingängen der paulinischen und nach-paulinischen Briefe (Röm 1,7; 1 Kor 1,3; 2 Kor 1,2; Gal 1,1.4; Phil 1,2; 1 Thess 1,1; 2 Thess 1,1 – 2; Eph 1,2; Kol 1,2; 1 Tim 1,2; 2 Tim 1,2; Tit 1,4), auch in Verbindung mit Eulogien (vgl. etwa 2 Kor 1,3; Eph 1,3; 1 Petr 1,3; vgl. auch Jak 3,9), deutet ebenfalls auf einen sich früh verfestigenden Gebrauch der Vater-Be-
40 Möglicherweise referiert auch 1 Petr 1,17 auf die Epiklese Gottes als Vater im Vater-Gebet. 41 Zur Diskussion um die Echtheit der Verse vgl. K. M. Hartvigsen, Matthew 28:9 – 20 and Mark 16:9 – 20. Different Ways of Relating Baptism to the Joint Mission of God, John the Baptist, Jesus, and their Adherents, in: D. Hellholm u. a. (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity I (BZNW 176 / 1), Berlin 2011, 655 – 715 (657 – 659).
106 Christiane Zimmermann zeichnung Gottes in der Liturgie der Gemeinden hin, auf den in den Briefeingängen jeweils angespielt wird.42
3. Die Vater-Bezeichnung Gottes im frühchristlichen Ritus und in weiteren Schriften des frühen Christentums Die Etablierung der Vater-Bezeichnung in den frühen christlichen Gemeinden über Verkündigung, Vater-Gebet und Taufe legen auch weitere Texte aus den ersten Jahrhunderten nahe. So zeigt etwa die früheste erhaltene Kirchenordnung aus dem 2. Jahrhundert, die Didache, dass die Taufe auf den »Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes« im frühchristlichen Ritus Aufnahme gefunden hat.43 Hier heißt es in 7,1 – 3: »Betreffs der Taufe: Tauft folgendermaßen: Nachdem ihr vorher dies alles mitgeteilt habt, tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes in lebendigem Wasser! Wenn dir aber lebendiges Wasser nicht zur Verfügung steht, taufe in anderem Wasser! Wenn du es aber nicht in kaltem kannst, dann in warmem! Wenn dir aber beides nicht zur Verfügung steht, gieße dreimal Wasser auf den Kopf im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes (εἰς ὄνομα πατρὸς καὶ υἱοῦ καὶ ἁγίου πνεύματος).«44 Da auch weitere frühe christliche Texte diese trinitarische Formel belegen, lässt sich annehmen, dass die Taufe auf den Namen des Vaters (und des Sohnes und des Heiligen Geistes) – zumindest in Syrien, woher vermutlich auch das Mt-Evangelium stammt – bereits vor 100 n. Chr. verbreitet gewesen sein dürfte.45 Im 2. Jahrhundert wurde dann auch anderenorts trinitarisch getauft.46 Während des Taufaktes wurden also die Namen des Vaters, des Sohnes und 42
Vgl. auch den Dank an den Vater in Eph 5,20; Kol 1,3. Die Tauferzählungen der Apg belegen hingegen nur eine Taufe auf den Namen Jesu. Vgl. dazu L. Hartmann, »Auf den Namen des Herrn Jesus«. Die Taufe in den neutestamentlichen Schriften (SBS 148), Stuttgart 1992, 39 – 46. 44 Zitiert nach A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992. 45 So U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26 – 28) (EKK I / 4), Neukirchen-Vluyn 2002, 431. Vgl. IgnMagn 13,1: ἐν υἱῷ καὶ πατρὶ καὶ ἐν πνεύματι; Od Sal 23,22. 46 Vgl. A. Müller, Tauftheologie und Taufpraxis vom 2. bis zum 19. Jahrhundert, in: M. Öhler (Hg.), Taufe, Tübingen 2012, 83 – 135 (86); R. Staats, Das Taufbekenntnis in der frühen Kirche, in: D. Hellholm u. a. (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism II (BZNW 176 / 2), Berlin 2011, 1553 – 1584 (1557 – 1558). 43
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 107
des Heiligen Geistes über dem Täufling ausgerufen, der Täufling dem Vater als göttlichem Herrn und metaphorischem »Vater« zugeordnet und damit die Vater-Bezeichnung als die grundlegende Bezeichnung Gottes für das christliche Gottesverhältnis institutionalisiert.47 Abgesehen vom Taufritus, mit dem vermutlich auch ein Bekenntnis des Täuflings zum »Vater« verbunden war, etabliert sich die Vater-Metapher für Gott aber am intensivsten über das Gebet im Gedächtnis der Christen und Christinnen: Die nach Mt und Lk von Jesus angemahnte Verwendung des Vater-(unser-)Gebets in einer der Mt-Fassung sehr nahen Version lässt sich ebenfalls anhand der Didache belegen. Nach Did 8,2 – 3 sollten Christinnen und Christen das Gebet »Vater unser, der du bist im Himmel […]« dreimal am Tag beten. Aber auch andere Gebete der Didache verweisen auf Gott als Vater: Bei der Eucharistie, die am Herrentag gefeiert wurde (14,1), wird ebenfalls dem Vater gedankt: »Wir danken dir, unser Vater, für den heiligen Weinstock Davids, deines Knechtes […]. Wir danken dir, unser Vater, für das Leben, das du uns offenbart hast durch Jesus, deinen Knecht« (9,2 – 3). Und nach der Sättigung wird ein weiteres Mal gebetet: »Wir danken dir, heiliger Vater, für deinen heiligen Namen, den du in unseren Herzen hast Wohnung nehmen lassen« (10,2); auch im Dank für das Salböl erscheint die Vater-Anrede (10,8).48 Zur Institutionalisierung und zur Aufnahme der Vater-Metaphorik in das theologische Gedächtnis der Christen und Christinnen trug allerdings besonders das Vater-Gebet bei.49 Von den frühen Kirchenvätern wurde es auch aufgrund seines Inhalts sehr geschätzt, in dem etwa Tertullian eine »kurze Zusammenfassung des ganzen Evangeliums« sah,50 und für Cyprian war das Vater-Gebet ein »Kompendium der himmlischen Lehre«.51 Aber nicht nur im Rahmen von Bekenntnis- und Gebetstexten, auch in den apokryphen Evangelien und in weiteren apokryphen Schriften wird die Vater-Bezeichnung besonders innerhalb der Je47
Vgl. dazu auch Jak 2,7; Herm sim 8,6,4. Zu Kongruenzen und Divergenzen mit Mt vgl. K. Niederwimmer, Die Didache (KAV 1), Göttingen 21993, 170 – 172. 49 Vgl. dazu auch M. Brocke u. a. (Hg.), Das Vaterunser. Gemeinsames im Beten von Juden und Christen, Freiburg i. Br. 31990; M.-B. von Stritzky, Studien zur Überlieferung und Interpretation des Vaterunsers in der frühchristlichen Literatur (MBTh 57), 1989. 50 Tert., De oratione 1,6 (CSEL 20, 181, 18 f. Reifferscheid-Wissowa). 51 Cyp.dom.orat. 9 (CSEL 3 / 1, 94 Moreschini). 48
108 Christiane Zimmermann sus-Logien weitertradiert. In den apokryphen Evangelien, aber auch in der Epistula Apostolorum ist die Vater-Bezeichnung im Munde Jesu fest etabliert. Im Thomas-Evangelium ist »Vater« die häufigste Gottesbezeichnung. Die Glaubenden sind die »Erwählten des lebendigen Vaters« (EvThom 50).52 Jesus versteht sich als aus dem Vater hervorgekommen, »der (stets) mit sich eins ist« (61). Das Königreich wird nun explizit zum »Königreich des Vaters« (57; 76; 96 – 99; 113 – vgl. Mt 26,29). In anderen apokryphen Texten fehlt die Vater-Bezeichnung für Gott allerdings völlig, wie etwa im Protevangelium des Jakobus. Doch auch in weiteren Kindheitsevangelien wird sie kaum verwendet, was damit zusammenhängen dürfte, dass Joseph hier verstärkt als Vater erscheint, wenngleich er kaum als solcher bezeichnet wird. Des Weiteren finden sich hier nun Reflexionen über den Vater-Namen wie etwa im EvPhil 11a: »Die Namen, die den Weltmenschen mitgeteilt werden, verursachen eine große Irreführung. Denn sie wenden ihren Sinn weg vom Feststehenden (und) hin zu dem Nichtfeststehenden. So erfaßt, wer (den Namen) ›Gott‹ hört, nicht das Feststehende, sondern er erfaßt das Nichtfeststehende. Ebenso verhält es sich auch mit (den Namen) ›Vater‹, ›Sohn‹ ›Heiliger Geist‹.«53 Die Schriften der Apostolischen Väter belegen alle die Vater-Bezeichnung, jedoch auf sehr unterschiedliche Art und Weise:54 Der erste Clemens-Brief verwendet achtmal die Vater-Bezeichnung für Gott, wobei er den Vater jeweils durch Adjektive und Appositionen näher charakterisiert. Der Vater wird mit dem Schöpfer parallelisiert (1 Clem 19,2; 35,3; vgl. auch 61,2), er ist heilig (35,3), barmherzig (23,1; 29,1) und gut (56,16) und verteilt Wohltaten (19,2; 23,1). Auch als Erzieher ist er gut und voller Erbarmen (56,16). Durch die Nachahmung des Vaters wird der Glaubende vor dem Vater Gefallen finden (61,2). Der Vater ist der Vater vor allem in Bezug auf die Glaubenden, die sich zu ihm mit dem »Vater«-Ruf bekehren (8,3), die ihn als Vater anbeten (29,1). Nur in 7,4 wird er als Vater Christi benannt. Dennoch ist die herrscherliche Seite Gottes für 1 Clem sehr viel wichtiger; dies zeigt neben der Verwendung von δεσπότης auch 52 Zitiert nach H.-G. Bethge, Das Evangelium nach Thomas (Thomasevangelium [NHC II,2]), in: C. Markschies / J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I / 1, Tübingen 2012. 53 Zitiert nach H.-M. Schenke, Das Philippusevangelium (NHC II,3), in: Markschies / Schröter, Apokryphen (s. Anm. 52). 54 Die im Folgenden genannten Schriften werden zitiert nach Lindemann / Paulsen, Die Apostolischen Väter (s. Anm. 44).
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 109
die Ersetzung der Vater-Bezeichnung in der Gnaden- und Friedensformel im Briefpräskript durch παντοκράτωρ θεός. Insofern bestimmt auch die eigentlich herrscherliche Qualität Gottes seine Vaterschaft: Diese Vaterschaft gründet nicht in der Tatsache, dass er der Vater Jesu Christi ist, sondern darin, dass er der δεσπότης ist (56,16). »Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, wird zum Vater der ganzen Schöpfung, weil er der δεσπότης ist.«55 1 Clem lässt die Vater-Bezeichnung also vor dem Hintergrund eines stark herrscherlich bestimmten Gottesbilds zurücktreten. Die Ignatianen weisen hingegen eine kontinuierliche Institutionalisierung der Vater-Bezeichnung auf. Neben der Gattungsbezeichnung θεός ist πατήρ die häufigste Gottesbezeichnung der Briefe. Dabei erscheint in den Briefpräskripten und in den Schlussgrüßen die asyndetische Form θεὸς πατήρ wie bereits in den kanonischen Briefen. Meist ist hier jedoch nicht Gott als »unser Vater« thematisiert,56 sondern als Vater Jesu Christi.57 Hier findet sich nun auch die Bezeichnung Christi als »Sohn des Vaters« (υἱὸς τοῦ πατρός, IgnRöm Präskript). Im Briefkorpus bevorzugen die Ignatianen die absolute Form ὁ πατήρ; auch hier ist zumeist die Vaterschaft Gottes gegenüber Christus angesprochen. Dieser Vater ist der »höchste« und er ist treu (IgnRöm Präskript; IgnTrall 13,2). Die Vater-Sohn-Metapher dient nun als Vorbild des als »Einheit« (ἑνότης) beschriebenen Verhältnisses der Gemeinde zu ihren Vorgesetzten (IgnEph 4 – 5; vgl. IgnMagn 1,2; 3,1). Die »Einheit« von Vater und Sohn (vgl. auch IgnRöm 3,3: Der Sohn ist »im« Vater) soll in der »Einheit« von Bischof und Gemeinde ihr Spiegelbild finden. Die Vater-Metapher wird so auf den Bischof übertragen (IgnMagn 3,1; 6,2; IgnTrall 3,1), die Intimität des Vater-Sohn-Verhältnisses damit auch auf das Verhältnis von Glaubenden und Bischof projiziert, wobei auch Christus als Sohn nun vorbildlichen Charakter für die Glaubenden annimmt: Wie Christus seinen Vater nachgeahmt hat, soll nun die Gemeinde Christus bzw. den Bischof nachahmen (IgnPhld 7,1; IgnSm 8,1). Die Gemeinde wird als Bauwerk (IgnEph 9,1) bzw. Pflanzung (IgnTrall 11,1; IgnPhld 3,1) des Vaters verbildlicht. Die Kirche in Rom kann nun sogar als πατρώνυμος bezeichnet 55 G. Brunner, Die theologische Mitte des ersten Klemensbriefs. Ein Beitrag zur Hermeneutik frühchristlicher Texte (FTS 11), Frankfurt 1972, 126. 56 IgnEph inscr.; 9,1; IgnMagn 3,1; IgnTrall 11,1; IgnRöm 7,2; IgnPhld 3,1; IgnSm 13,1. 57 IgnEph 2,1; IgnMagn 3,1; IgnTrall inscr.; 9,2; IgnRöm inscr.; IgnPhld 7,2.
110 Christiane Zimmermann werden, d. h., sie ist Trägerin des Namens des Vaters (IgnRöm Präskript) oder die Gemeinde »Gottes, des Vaters« (IgnPhld Präskript; IgnSm Präskript). Auch in den Ignatianen lassen sich liturgische Elemente erkennen: IgnRöm 2,2 fordert die Glaubenden auf, dem Vater zu singen, und in 7,2 mag ein Taufbezug vorliegen, wenn es heißt: »[Es] ist lebendiges und redendes Wasser in mir, das innerlich zu mir sagt: Auf zum Vater!«58 Theologisch wertet die Vater-Bezeichnung daher vor allem Ignatius aus, der durch den Vergleich des Bischofs mit dem Vater die Vater-Sohn-Metaphorik (in Aufnahme paulinischer Gedanken) auf das Verhältnis der Gemeinde zu ihrem Vorgesetzten überträgt und durch den Gedanken der »Einheit« füllt. Während das Vater-Sohn-Verhältnis in den Briefen des Barnabas und Diognet zwar vorausgesetzt, jedoch nicht weiter thematisiert wird, rekurriert der zweite Clemens-Brief stark auf die Logientradition unter Bevorzugung der Texte, die – wie besonders das Mt-Evangelium – vom »Willen des Vaters« sprechen (2 Clem 8,5; 9,11; 10,1; 14,1). Im Gegensatz zu den toten Göttern ist der Vater nun der »Vater der Wahrheit«. Diese Bezeichnung dürfte der Rede vom »wahren Gott« im Unterschied zu den Götterbildern wie sie etwa in 1 Thess 1,9 vorliegt, entsprechen.59 Die Vater-Bezeichnung Gottes etabliert sich also sowohl durch den rituellen Gebrauch als auch durch die Schrifttradition bereits in den ersten christlichen Jahrhunderten konsequent und wird schließlich auch durch die trinitarischen Diskussionen weiter festgeschrieben. In Auseinandersetzung mit paganen Kritikern wird auch die Rede vom Vater als »Schöpfer« wichtiger, der etwa bei Irenäus wiederholt als πατὴρ τῶν ὅλων erscheint.60
58 Vgl. dazu A. Schindler, Gott als Vater in Theologie und Liturgie der christlichen Antike, in: H. Tellenbach u. a. (Hg.), Das Vaterbild im Abendland, Bd. 1: Rom, Frühes Christentum, Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart, Stuttgart 1978, 55 – 69 und 200 f. (57); Niederwimmer, Didache (s. Anm. 48), 161. 59 In der gnostischen Literatur findet sich diese Bezeichnung mehrfach. 60 Vgl. Iren., haer. 1,13,3; 1,15,3 (FC 8 / 1, 220,2; 244,21 Brox). Vgl. auch Theophilus, Ad Autolycum 1,4; 2,22 (PTS 44, 19,5 – 6; 70,3 Marcovich).
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 111
4. Die Funktion der Vater-Bezeichnung im Apostolikum »Ich glaube an Gott, den Vater […].« Das Apostolikum formuliert in strikter Konsequenz zur im frühen Christentum pointiert entwickelten Überzeugung, dass das entscheidende Verhältnis zwischen Gott und Glaubenden ein Vater-Kind-Verhältnis ist. Dabei ist auch für das Apostolikum nicht nur an die Liebe in diesem Vater-Kind-Verhältnis zu denken. Auch im Apostolikum dürften zahlreiche weitere Aspekte der Vater-Kind-Beziehung wie die Strenge und Autorität des Vaters, seine Fürsorge, seine Zuverlässigkeit, sein machtvolles Eintreten für seine Kinder und seine Vorbildlichkeit impliziert sein. Die Vater-Bezeichnung beinhaltet auch Konsequenzen für das Selbstbild der Gott als Vater bekennenden Glaubenden, die als Kinder ihren Vater imitieren, ja imitieren sollen. Die Vater-Bezeichnung impliziert allerdings auch immer die Vaterschaft Gottes Jesus gegenüber; denn die Rede vom Gottessohn lässt stets die Vater-Metapher mitanklingen. So klingt auch im Apostolikum spätestens mit seinem zweiten Artikel die christologische Referenz der Vaterschaft mit an. Die Verfasser des Apostolikums haben schlüssigerweise die bereits durch das frühe Christentum etablierte Vater-Metapher als diejenige an den Anfang des Credos gesetzt, die das Gottesbild entscheidend neu bestimmt hat. In ihr wird sowohl an die Sendung des Gottessohnes als grundlegende Neuzuwendung Gottes zu den Menschen erinnert als auch an das auf dieser Sendung basierende neue Gottesverhältnis der Glaubenden als Kinder des göttlichen Vaters. Als Vater ist Gott der Spender individuellen Lebens, insofern betont der Anfang des apostolischen Bekenntnisses den entscheidenden Aspekt der Gottesrelation für das glaubende Subjekt. Die Vater-Metapher korreliert mit ihrer kosmologischen Referenz jedoch auch mit dem Bekenntnis zu Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde, das die Trias zu Beginn des Apostolikums beendet. Als Vater ist Gott aber auch Vater des einziggeborenen Sohnes, wie es der zweite Artikel des Apostolikums impliziert. Doch die Vaterschaft Gottes harmoniert auch mit den weiteren Aussagen des Apostolikums: Der Heilige Geist ist der durch den Vater gesandte Geist, durch den die Glaubenden die Kindschaft empfangen. Als Vater ist Gott auch Vater der glaubenden Gemeinschaft, der ekklesia, der Kirche, die im Schlussteil des Apostolikums benannt wird. Als Vater ist Gott zudem Spender des präsentischen und eschatischen Lebens. Insofern bilden die Schlussworte
112 Christiane Zimmermann des Credos mit dem Bekenntnis zum Glauben an die Auferstehung und das ewige Leben eine stimmige Inklusion mit den ersten Worten des Apostolikums: Kein anderer wird Auferstehung und ewiges Leben geben als Gott Vater, der Lebensspender. Insofern bestimmt die Vater-Metapher nicht nur den Eingang des Apostolikums, sondern klingt als Leitmotiv konsequent bis zum Abschluss des Textes als die das christliche Gottesbild entscheidend prägende Metapher mit.
5. Schlussgedanken: Möglichkeiten und Grenzen der Vater-Metapher Gott kann nur metaphorisch beschrieben werden. Das antike Christentum fand in der auch im zeitgenössischen Judentum und in den paganen Religionen verwendeten Vater-Metapher Konnotationen, die bestimmt waren durch die patriarchalische Gesellschaftsstruktur der Zeit, den frühen Christinnen und Christen für ihr Gottesbild jedoch als besonders zutreffend erschienen. Das oben genannte Zitat aus dem Philippusevangelium (EvPhil 11a; s. 108) zeigt allerdings, dass man sich der Verwendung metaphorischer Sprache für Gott bereits in der Antike bewusst war. Auch Justin stellt in seiner zweiten Apologie in anderer Weise fest, dass »Vater, Gott, Schöpfer, Herr und Herrscher keine Namen« sind, sondern Bezeichnungen, die Gott aufgrund seiner »guten Taten und Werke« zugesprochen werden,61 die also auf menschlicher Heuristik beruhen und damit letztlich auch austauschbar sind. Auch Tertullian relativiert die Namensgebung in seiner Exegese des Vater-Gebets, indem er die »Mutter«, d. h. die Kirche, hinzufügt und diese letztlich zur Grundlage der Benennung von Vater und Sohn erklärt: »Wenn wir aber sagen: ›Vater‹, so erkennen wir damit zugleich auch die Gottheit an. Diese Anrede ist Ausdruck des Kindesverhältnisses und der Macht. Im Vater wird auch der Sohn angerufen, denn es heißt: ›Ich und der Vater sind eins‹. Nicht einmal die Mutter, die Kirche, wird übergangen. Im Sohne und im Vater wird ja die Mutter erkannt; in ihr findet die Benennung Vater und Sohn ihre Grundlage.«62 Einige antike christliche Denker waren sich also 61 Iust. 2 apol. 6,2: Τὸ δὲ πατὴρ καὶ θεὸς καὶ κτίστης καὶ κύριος καὶ δεσπότης οὐκ ὀνόματά ἐστιν, ἀλλ’ ἐκ τῶν εὐποιϊῶν καὶ τῶν ἔργων προσρήσεις (SC 507, 332,3 – 5 Murnier; PTS 38, 145,3 – 5 Marcovich). 62 Tert., De oratione 2,4 – 6: »dicendo autem patrem deum quoque cognominamus. appellatio ista et pietatis et potestatis est. item in patre filius
Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes 113
durchaus bereits der Metaphorizität der Vater-Anrede bewusst und interpretierten sie entsprechend. Heutige Glaubende assoziieren bei der Verwendung der Vater-Metapher andere, durch ihre eigenen individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen geprägte Konnotationen. Dazu gehört inzwischen auch die Infragestellung der mit der Vater-Metapher aufgerufenen »Geschlechtlichkeit«, die Gott einseitig als männlich fokussiert, bzw. der Wunsch, Gott auch als Mutter zu apostrophieren. Die nur auf der Ebene von Metaphern mögliche Rede über Gott lässt die Frage nach der Aktualität von Gottes-Metaphern berechtigt erscheinen. Die Diskussion um eine Bewahrung oder Nicht-Bewahrung der in traditionellen Gebets- und Bekenntnistexten wie dem Vaterunser und dem Apostolikum überlieferten Metaphern sollte sich jedoch jeweils der besonderen historischen Genese und der identitätsstiftenden Kraft dieser Texte von der Antike bis in die Moderne hinein bewusst sein.63
inuocatur. ego enim, inquit, et pater unum sumus. ne mater quidem ecclesia praeteritur. siquidem in filio et patre mater recognoscitur, de qua constat et patris et filii nomen« (CSEL 20, 182 2–7, Reifferscheid-Wissowa). 63 Für die sorgfältige formale Durchsicht des Textes sowie hilfreiche inhaltliche Kommentare und Anmerkungen danke ich herzlich meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Hi-Cheong Lee.
»Godfather«? Das religiöse Vaterbild aus systematisch-theologischer Sicht Malte Dominik Krüger
New York. Im Jahr 1945. Eine fröhliche Hochzeitsgesellschaft. Nur der Vater der Braut hält sich abseits. Sein Ort ist ein dunkles Büro. Von dort aus beobachtet er das Treiben, das er in Wahrheit steuert. Die Welt ist seine. Es ist Don Vito Corleone, »Godfather«. Es ist der »Pate«, wie die deutsche Übersetzung und auch der bekannte Filmtitel von Francis Ford Coppola im Deutschen lauten. In der Eingangsszene, die manche für die beste Szene halten, wird Don Vito von einem Bittsteller, der vor ihm steht, um Vergeltung an einem Dritten gebeten. Don Vito weist das ab, während er selbst hinter seinem Schreibtisch sitzend eine Katze krault, von der man nicht weiß, ob er ihr im nächsten Moment das Genick bricht. Der Bittsteller hätte zuvor, so sagt Don Vito, nie seine Freundschaft gewollt. Und vor allem: Er würde ihn, Don Vito, nie »Godfather« nennen. Der Bittsteller bietet an, jeden Betrag zu bezahlen, wenn Don Vito ihm Gerechtigkeit verschaffen würde. Dieser antwortet: Dies sei eine Forderung ohne Respekt. Und man versteht: Aufgrund dieser Respektlosigkeit wäre es wohl besser gewesen, wenn der Mann nie aufgetaucht wäre. Don Vito tritt dem Bittsteller entgegen. In dem Augenblick bricht der Bittsteller zusammen: »Be my friend, Godfather?« und senkt den Kopf. Don Vito hält ihm Hand und Ring entgegen. Der Mann darf sie küssen. Danach richtet ihn Don Vito auf. Der Bund ist besiegelt. Don Vito wird aus reiner Gnade die erbetene Vergeltung üben. Dafür wird der Bittsteller im Machtbereich Don Vitos zu agieren haben. Da der Bittsteller ein Bestatter ist, wird Don Vito für ihn Verwendung finden.1 1 Vgl. zur Bedeutung des dreiteiligen Epos in der Filmgeschichte und seiner Wirkung auf das kulturgeschichtliche Gedächtnis: N. Grob / B. Kiefer / I. Ritzer (Hg.), Mythos »Der Pate«. Francis Ford Coppolas Godfather-Trilogie und der Gangsterfilm, Berlin 2011. Grundsätzlich gilt für diesen Beitrag: Ist eine Aussage oder ein Beleg nicht unmittelbar am Ende durch eine Fußnote nachgewiesen, ist die Angabe der im Text nachfolgenden Fußnote darauf zu beziehen. Referenztexte werden mit dem Erscheinungsjahr der Erstauflage genannt; in den Anmerkungen findet sich der Hinweis auf die zitierte Ausgabe.
116 Malte Dominik Krüger Die Szene zeigt die Ambivalenz der religiösen Vatersymbolik wie unter dem Brennglas, auch wenn allen etymologischen (Dis-)Kontinuitäten zum Trotz semantisch ein Unterschied zwischen Gott-Vater und einem Mafia-Anführer hervorsticht. Da ist die Sehnsucht des Menschen nach einem bestimmenden Über-Ich, das auf persönliche Bitte die Welt zum persönlich Gerechten regelt. Da ist »Godfather«, der in seiner Souveränität nicht mit sich handeln lässt, insbesondere nicht auf der respektlosen Ebene der Augenhöhe. Da ist der Zusammenbruch des Bittenden, der sich demütig in sein Schicksal fügt, und genau dadurch – man denke an den lutherisch-paradoxen Übergang von dem Gesetz in das Evangelium – den heilvollen Umschwung realisiert. Und da ist der nunmehr anerkannte »Godfather«, der sich als gnädiger Vater erweist und mit dem Bittsteller asymmetrisch einen Bund schließt, der den Bittsteller nicht aus dem Machtraum des Bundes entlässt. Oder um es mit Formeln barthianisch inspirierter Bundeshermeneutik zu sagen: Der Zuspruch schließt den Anspruch ein. Zusammenfassend und provokativ kann man fragen: Ist das religiöse Vatersymbol wirklich kategorial von der Figur des paternalistischen Patriarchen einer Untergrundkultur zu unterscheiden? Der folgende Beitrag möchte dem nachgehen, indem erstens die Krise des religiösen Vaterbildes thematisiert wird, zweitens für einen programmatischen Neuansatz plädiert wird und drittens daraus die Folgen für das religiöse Vaterbild gezogen werden.2 2 Vgl. zum religiösen Vatersymbol systematisch-theologisch auch: H. Jaschke, Gott Vater? Wiederentdeckung eines zerstörten Symbols, Mainz 1997; R. Mugerauer, Symboltheorie und Religionskritik. Paul Tillich und die symbolische Rede von Gott aus theologischer, religionsphilosophischer und psychoanalytischer Perspektive, konkretisiert am Symbol »Vater« für Gott, Marburg 2003; H. Prader (Hg.), Gott-Vater. Referate der »Internationalen Theologischen Sommerakademie 2015« des Linzer Priesterkreises, Kisslegg-Immenried 2016. Vgl. zum religiösen Vatersymbol exegetisch: J. Jeremias, Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966; R. Hammerton-Kelly, God the Father. Theology and Patriarchy in the Teaching of Jesus, Philadelphia 1979; A. Böckler, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2002; F. Albrecht / R. Feldmeier (Hg.), The Divine Father. Religious and Philosophical Concepts of Divine Parenthood in Antiquity, Leiden 2014; F. Back, Gott als Vater der Jünger im Johannesevangelium (WUNT 2 / 336), Tübingen 2012; C. Zimmermann, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont (AJEC 69), Leiden 2007; E. Zingg, Das Reden von Gott als »Vater« im Johannesevangelium, Freiburg / Basel / Wien / Barcelona / Rom / New York 2006;
»Godfather«? 117
1. Die Krise des religiösen Vaterbildes Meines Erachtens sind vier Argumente einschlägig, was die Krise des religiösen Vaterbildes angeht. Das erste Argument ist religionskritisch und verweist auf den Projektionsverdacht. Gemeint ist in diesem Fall nicht so sehr Ludwig Feuerbach mit seiner Studie »Das Wesen des Christentums« (1841),3 die man gern mit dem Projektionsverdacht neuzeitlicher Religionskritik verbindet,4 oder Karl Marx mit seiner wiederum daran anknüpfenden Untersuchung »Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie« (1844),5 sondern Sigmund Freud. Letzterer hat in seinen Untersuchungen »Totem und Tabu« (1913),6 »Die Zukunft einer Illusion« (1927)7 und »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (1939)8 die Vatersehnsucht mit der Religionsentstehung
H. Spieckermann, Gottvater. Religionsgeschichte und Altes Testament, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2007, Berlin 2008, 401 – 406; R. Feldmeier, Gottvater. Religionsgeschichte und Neues Testament, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2007, Berlin 2008, 407 – 412; C. Gerber, Das Gottesbild Jesu und die Bedeutung der Vatermetaphorik, in: J. Schröter / C. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 361 – 368. 3 Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Stuttgart 1994. 4 Vgl. zur Sache, Diskussion und Problematisierung: K. Barth, Ludwig Feuerbach, in: ZZ 5 (1927), 11 – 40; H.-M. Barth, Glaube als Projektion. Zur Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach, in: NZSTh 12 (1970), 363 – 382; T. Holzmüller, Projektion – ein fragwürdiger Begriff in der Feuerbachrezeption? Die Projektionstheorie Hans-Martin Barths als Erklärungsmodell für Ludwig Feuerbachs Religionskritik, in: NZSTh 28 (1986), 77 – 100; U. Kern, Der andere Feuerbach. Sinnlichkeit, Konkretheit und Praxis als Qualität der »neuen Religion« Ludwig Feuerbachs, Münster 1998, 1 – 168 (63 – 91.156 – 168); F. Wagner, Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999, 120 – 166; M. Weinrich, Religion und Religionskritik. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 22012, 114 – 120; K. Huizing, Scham und Ehre. Eine theologische Ethik, Gütersloh 2016, 248 – 254. 5 Vgl. K. Marx, Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie, in: ders./F. Engels – Gesamtausgabe (MEGA) I 2, Berlin 1982, 170 – 183. Vgl. zur Diskussion: H. Gollwitzer, Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube, Hamburg 51974. 6 Vgl. S. Freud, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker, Frankfurt a. M. 1995. 7 Vgl. ders., Die Zukunft einer Illusion, in: ders., Studienausgabe IX. Fragen der Gesellschaft, Ürsprünge der Religion, Frankfurt a. M. 1974, 135 – 189. 8 Vgl. ders., Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften über die Religion, Frankfurt a. M. 1999.
118 Malte Dominik Krüger zusammengebracht.9 Demnach gibt es die dem Menschen von Kindheit innewohnende Sehnsucht nach dem gütigen Vater, der mit dem real erlebten und immer auch ambivalenten Vater nur bedingt zu tun hat. Dieser gütige Vater soll aufgrund seiner ihm eigenen Potenz das Menschenkind vor Ohnmacht schützen und Gerechtigkeit herstellen. Diese Vatersehnsucht führt nach Freud zur Religion, wie sie im jüdisch-christlichen Gottesbild zur Gestalt wird. Diese Projektion, so Freud, ist schädlich. Sie verhindert ein reifes Erwachsenwerden. Entsprechend ist die Kritik der religiösen Projektion der göttlichen Vatergestalt die Voraussetzung dafür, als erwachsener Mensch psychisch gesund leben zu können.10 Doch nicht erst Freud, sondern schon Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei« in dessen Roman »Siebenkäs« (1796 / 97) kennt den Verdacht: Bei Gottvater handelt es sich um eine bloße Einbildung.11 So berichtet Christus in dieser Rede, den Vater in den unendlichen Weiten des Weltalls gesucht und nicht gefunden zu haben. Auf die Frage nach seinem himmlischen Vater antwortete ihm nur der endlose Sturm.12 In der Vision des Schriftstellers fragen daraufhin die Toten die Jesus-Gestalt: »Jesus! Haben wir keinen Vater? – Und er antwortete mit strömenden Tränen: Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater«.13 Im Roman stellt sich dann diese Vorstellung als nächtlicher Alptraum heraus.14 Allerdings hilft diese träumerische 9 Vgl. dazu und zum Folgenden: J. Scharfenberg, Sigmund Freud und seine Religionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben, Göttingen 21970, bes. 135 – 154. Vgl. zur Diskussion: E. Wiesenhütter (Hg.), Freud und seine Kritiker, Darmstadt 1974; H. Will, Freuds Atheismus im Widerspruch. Freud, Weber und Wittgenstein im Konflikt zwischen säkularem Denken und Religion, Stuttgart 2014; E. Frick / A. Hamburger (Hg.), Freuds Religionskritik und der »Spiritual Turn«. Ein Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse, Stuttgart 2014. 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. J. Paul, Siebenkäs, Stuttgart 1986. 12 Vgl. a. a. O., 298 – 301. 13 A. a. O., 299. 14 Vgl. a. a. O., 301 f. Vgl. zur Sache und Diskussion: A. Ring, Jenseits von Kuhschnappel. Individualität und Religion in Jean Pauls Siebenkäs. Eine systemtheoretische Analyse, Würzburg 2005. Johann Wolfgang von Goethe spricht angesichts des Erdbebens in Lissabon im Jahr 1755 davon, dass im Himmel nicht ein »väterlicher« Gott (J. W. von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Goethes Werke, hg. v. G. v. Loeper, Weimar 1899, Bd. I / 26, 43), sondern ein »Dämon des Schreckens« (ebd.) sein müsse. Und schon von Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1781) sagt Heinrich Heine, dass sie Gottvater gleichsam geköpft habe. So habe Kant »den Him-
»Godfather«? 119
Auflösung nur bedingt angesichts des modernen Lebensgefühls vom Tod Gottes. Man braucht nicht nur an die im Gegenzug buchstäblich taghelle Diagnose in Friedrich Nietzsches Schrift »Die fröhliche Wissenschaft« (1882)15 zu denken, sondern kann ebenso auf die Gott-ist-tot-Theologie des 20. Jahrhunderts verweisen.16 Auch wenn man nicht ihrer Ansicht ist, bedarf es an diesem Punkt mehr als eines Hinweises, dass ihre Thematik ein unwirklicher Alptraum sein mag: Der religionskritische Projektionsverdacht muss m. E. theologisch eingeholt werden. Das zweite Argument ist feministisch-theologisch und verweist auf die Patriarchatskritik. Die feministische Theologie macht deutlich, dass viele Bibeltexte im Sinn eines unterdrückenden Patriarchats verfasst wurden.17 Entsprechend konnten Gottesbilder bestehende Gesellschaftsstrukturen befestigen, in denen männliche Führung weiblicher Dienstbarkeit entsprach, wie umgekehrt diese Gesellschaftsstrukturen wiederum den patriarchalen Gottesbildern eine hohe Plausibilität verliehen.18 Hierbei kann das religiöse Vatersymbol in den Mittelpunkt rücken, insofern es mit historischen Erfahrungen von infantilisierender Unfreiheit, psychischem Leid und physischer Ausbeutung einherging bzw. einhergeht.19 Dies würde sich erst ändern, wenn man Gott – und gemeint ist nicht Jesus, dessen integrative und befreiende Männlichkeit man feministisch würdigen kann – nicht mehr als Mann verstehen müsste, so die US-amerikanische Theologin Mary Daly in ihrem für die feministische Theologie wegweisenden Buch »Beyond God the Father« (1973).20 Auch die deutsche Theologin Do-
mel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte« (H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: ders., Schriften über Deutschland, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1968, 132; vgl. auch: a. a. O., 122). 15 Vgl. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Nietzsche Werke (KGA V / 2), Berlin 1973, 13 – 335 (158 – 160). 16 Vgl. P. David, Der Tod Gottes als Lebensgefühl der Moderne, Tübingen 2019 (im Erscheinen). 17 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Grenzen überschreiten. Der theoretische Anspruch feministischer Theologie, Münster 2004, 41 – 166. 18 Vgl. K. Lüthi, Gottes neue Eva. Wandlungen des Weiblichen, Stuttgart 1978, 199. 19 Vgl. M. Daly, Beyond God the Father. Toward a Philosophy of Women’s Liberation, Boston 1973, bes. 1 – 97. 20 Vgl. ebd.
120 Malte Dominik Krüger rothee Sölle distanzierte sich in ihrer Studie »Stellvertretung« (1965)21 von der traditionellen Allmachtvorstellung Gottes, sodass Bischöfin Margot Käßmann von der Theologie Sölles als Verabschiedung einer »Papa-wird’s-schon-richten-Theologie«22 sprach.23 Noch deutlicher haben dann die feministische Theologin Christa Mulack in ihrer Studie »Die Weiblichkeit Gottes« (1983)24 und die deutsche Psychologin Gerda Weiler »Ich brauche die Göttin« (1990)25 votiert. Zwar ist deren starken Thesen, dass sich hinter den Bibeltexten wesentlich Spuren weiblicher Kultgottheiten finden, teilweise auch deutlich widersprochen worden.26 Doch in moderater Form ist inzwischen auch auf der Ebene sonntäglicher Gemeindetheologie die Weiblichkeit des Heiligen Geistes und die Mütterlichkeit Gottes etabliert. Angesichts der m. W. beiden Standardargumente, von Gott als Vater sprechen zu müssen, ist das nicht ganz abwegig. Das erste Argument findet sich in Wolfhart Pannenbergs »Systematischer Theologie I« (1988) und besagt: Zwar sind die sozialgeschichtlich-patriarchalen Parameter des alten Israel zeitbedingt und Gott darf darauf nicht begrenzt werden. Doch das Vatersymbol ist kein austauschbares Gottesbild, weil es unaufhebbar mit der Jesus-Tradition zusammenhängt, und zwar für Pannenberg mit der Erwählung Israels.27 Anders würde es aussehen, 21 Vgl. D. Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem »Tode Gottes«, Stuttgart 1965, bes. 135 – 204. 22 M. Kässmann, Dorothee Sölle hat mit ihren Provokationen die Kirche vorangebracht, NDR am 28.04. 2003 (zitiert nach gaebler.info / oekumene / soelle.htm#ndr-1, zuletzt abgerufen am 02. 03. 2018). 23 Vgl. auch R. R. Ruether, The Feminist Liberation Theology of Dorothee Soelle, in: S. K. Pinnock (Hg.), The Theology of Dorothee Soelle, Harrisburg 2003, 205 – 220. 24 Vgl. C. Mulack, Die Weiblichkeit Gottes. Matriarchale Voraussetzungen des Gottesbildes, Stuttgart 1983. 25 Vgl. G. Weiler, Ich brauche die Göttin. Zur Kulturgeschichte eines Symbols, Königstein 1997. Auf Diskussionen angesichts der Äußerungen der damaligen deutschen Familienministerin Kristina Schröder um Weihnachten 2012, wonach Gott kein Mann ist, und der lutherischen Kirche in Schweden im Jahr 2017, wonach für Gott am besten geschlechtsneutrale Ausdrücke zu gebrauchen sind, sei nur verwiesen (vgl. T. Hummel, Welches Geschlecht hat Gott? Süddeutsche Zeitung am 25. 11. 2017, zitiert nach www.sueddeutsche. de/leben/kirche-welches-geschlecht-hat-gott-1.3765728, zuletzt abgerufen am 08. 03. 2018). 26 Vgl. S. Heine, Wiederbelebung der Göttinnen. Zur systematischen Kritik einer feministischen Theologie, Göttingen 1987. 27 Vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie I, Göttingen 1988, 283 – 286.
»Godfather«? 121
so Pannenberg, wenn das Vaterbild Gottes sich unserer Projektion verdanken würde. Pannenberg lehnt dies ab. Was wahrhaft Vater genannt zu werden verdient, zeigt sich in und an Gott – gerade angesichts des Verfalls patriarchaler Muster.28 Das klingt gut. Doch erstens darf sich das Vatersein Gottes nicht nur kontrastiv zum menschlichen Vatersein verhalten, wenn Anschlussplausibilitäten für dieses Bild greifen sollen. Und zweitens ist das Abtun der Projektionstheorie selbst problematisch, wie wir sahen.29 Das zweite Argument findet sich in Wilfried Härles »Dogmatik« (1995) und besagt: Zwar wird in der Bibel das Vaterbild über patriarchale Züge hinaus auf Züge weiblich konnotierten Zuwendung geöffnet. Doch das Vaterbild steht für eine Differenz zwischen Gott und Mensch ein, wie es das Mutterbild so nicht kann.30 In letzterem Fall wird Gott, so offenbar Härles Ansicht, zu stark im Modus der Vertrautheit und Immanenz gedacht. Dieses Argument ist zeitgebunden. Denn Härles Argument wird dann problematisch, wenn das normative Vaterbild einer Gesellschaft auch den fürsorglichen und gleichrangigen Partner im Blick hat. Das dritte Argument ist subjektivitätstheoretisch und verweist auf das Erfahrungsdefizit. Ausschlaggebend für diese Kritik ist die Beobachtung, dass trinitarischer Glaube und menschliche Erfahrung nur mittelbar miteinander zu tun haben. Damit ist nicht nur an Immanuel Kants Votum aus dem »Streit der Fakultäten« (1798) gedacht, wonach sich aus der Trinitätslehre nichts Praktisches ergibt.31 Es ist auch nicht nur Friedrich Schleiermachers »Glaubenslehre« (1830 / 31) und ihre distanzierende Verortung der Trinitätslehre gemeint, weil letztere nach Schleiermacher lediglich sekundär verknüpft, was als Erfahrung
28 Vgl. ebd. Das ist auch der Weg des »Katechismus der Katholischen Kirche« (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München / Wien / Leipzig / Freiburg / Linz 1993, [§ 239] 94 f.). Man könnte das sogar noch zuspitzen: Erst der kontrastive Verlust der gesellschaftlich codierten Genderrolle des normativen Vaters – es sei nur auf das Buch »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« (1963) des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich (vgl. A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1963) verwiesen – öffnet die Augen für die wahre Väterlichkeit Gottes. 29 Vgl. die Erörterung des ersten, religionskritischen Arguments in diesem Abschnitt. 30 Vgl. W. Härle, Dogmatik, Berlin / New York 22000, 399 f. 31 Vgl. I. Kant, Der Streit der Facultäten, A 50, in: Werke in 10 Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1975, 303.
122 Malte Dominik Krüger anderweitig schon feststeht.32 Vielmehr ist damit auch eine positionelle Zuspitzung angezeigt. Denn wird in der liberalen Theologie die Trinitätslehre im Anschluss an Kant und Schleiermacher zunehmend als triftige Einsicht verabschiedet, so entdeckt sie Karl Barth gegen diese liberale Theologie wieder.33 Das belebt die Rede von Gottvater. Sicher: Auch der liberale Theologe Adolf von Harnack konnte in seinen Vorlesungen »Das Wesen des Christentums« (1899 / 1900) das religiöse Vatersymbol für Gott gebrauchen.34 Doch dass die Rede von Gottvater insgesamt zum Zeichen des theologischen Liberalismus avanciert, wird man wohl kaum behaupten wollen. Anders steht es mit Barths Kerygmatheologie, die in der »Kirchlichen Dogmatik« I / 1 (1932) die Rede von Vater, Sohn und Geist so akzentuiert, dass sie als Ausdruck von Gottes souveräner Offenbarung »Gott offenbart sich als der Herr«35 dem Erfahrungsbewusstsein des neuzeitlichen Subjekts entgegentritt.36 Die auf Barth reagierende liberale Theologie hat die kantische Einsicht in die Unumgänglichkeit der menschlichen Subjektivität gegen die barthianisch inspirierte Renaissance der Trinitätslehre ins Feld geführt. Exemplarisch kann man die Kritik des Hallenser Systematikers Ulrich Barth in seinem Beitrag »Zur Barth-Deutung Eberhard Jüngels« (1984)37 nennen. Nach dieser Lesart führt Jüngels hermeneutisch-barthianische Trinitätskonzeption zu einem verheerenden »Metaphernrausch«38. Allenfalls haben Stimmen der liberalen Theologie – besonders der schon im Titel provokative Beitrag »Theologische Gleichschaltung« (1975) des Wiener Systematikers Falk Wagner39 – die barthianische Gottes- und Vaterrede 32 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830 / 31), hg. v. R. Schäfer, Berlin / New York 2008, §§ 170 – 172, 514 – 532. 33 Vgl. R. Kany, Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu »De trinitate«, Tübingen 2007, 371 – 373; R. Dvorak, Gott ist Liebe. Eine Studie zur Grundlegung der Trinitätslehre bei Eberhard Jüngel, Würzburg 1999, 11 – 15. 34 Vgl. A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899 / 1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, hg. v. C. D. Osthövener, Tübingen 32012, bes. 37 – 47.72 – 83. 35 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik I / 1, Zürich 81964, 323. 36 Vgl. a. a. O., 311 – 514. 37 Vgl. U. Barth, Zur Barth-Deutung Eberhard Jüngels, in: ThZ 40 (1984), 296 – 320.394 – 415. 38 A. a. O., 414. 39 Vgl. F. Wagner, Theologische Gleichschaltung. Zur Christologie bei
»Godfather«? 123
als eine Projektion der menschlichen Subjektivität diagnostiziert, die sich selbst nicht durchschaut.40 Das vierte Argument ist trinitätstheologisch und verweist auf einen Beziehungsmangel. Der Sache nach ist damit die Reaktion der Trinitätstheologie auf soeben genannte Probleme gemeint. Den Kern der Gedankenfigur findet man beispielhaft in Eberhard Jüngels »Gott als Geheimnis der Welt« (1977).41 Danach ist zwar von Gott-Vater zu reden, der – ganz traditionell – den grundlosen Grund in Gott bezeichnet: »Gott kommt von Gott«.42 Doch dieser Gott-Vater kann seinen dadurch zum Ausdruck kommenden Vorrang als erste Person in der Trinität nicht halten. Denn durch die Abhängigkeit der wechselseitigen Anerkennung von Sohn und Geist im Sinn des reziproken Gemeinschaftsmodells der Trinität hat der Vater keinen Vorrang mehr.43 Gern wird diese Wechselseitigkeit der innertrinitarischen Beziehungen als Liebe und Wesenseinheit Gottes gedeutet, deren Vorzug in einer relationalen, pneumatologischen Ontologie liegen soll.44 Letztere setzt man gern gegenüber einer statischeren Substanzontologie ab. Und: In der Regel wird dies als Lösung des Problems von Einheit und Dreiheit in Gott wahrgenommen – und gegen die ostkirchliche Lesart von der Wesenseinheit Gottes im Vater gewendet.45 Hinter diesem Modell, das den konfessionsübergreifenden Mainstream der westkirchlichen Trinitätslehre in der Spätmoderne darstellt, steht sachlich die Einsicht des Herr-Knecht-Kapitels aus Hegels »Phänomenologie des Geistes« (1807).46 Danach tendieren wesentliche Beziehungen aufgrund ihrer Wechselseitigkeit zur Symmetrie. Diese liebestheologische Entkernung von Gott-Vater hat freilich schon Kritik in Schellings später »Ur-
Karl Barth, in: ders., Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. J. Dierken / C. Polke, Tübingen 2014, 193 – 227. 40 Auch wenn Wagner hauptsächlich die Christologie im Blick hat, so trifft seine Kritik der Sache nach auch die Konstruktion der ersten Person Gottes in Barths »Kirchlicher Dogmatik« (vgl. dazu Wagner, a. a. O., 200 – 206). 41 Vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 4 1982. 42 A. a. O., 522. 43 Vgl. a. a. O., 505 – 543, z. B. bes. deutlich 508 f., Anm. 9. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. G. Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg / Basel / Wien 42001, 60 – 70.179 – 216. 46 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. H.-F. Wessels / H. Clairmont, Hamburg 1988, 127 – 136.
124 Malte Dominik Krüger fassung der Philosophie der Offenbarung« (1831 / 1832) gefunden.47 Nicht nur ist – verankert in der Heilsgeschichte und in der Verbindung von Wesens- und Offenbarungstrinität – mit Asymmetrien in Gott zu rechnen, wie auch dogmengeschichtlich die Trinitätslehre nicht immer die Keimzelle der Demokratie war.48 Vielmehr ist, so der späte Schelling, die Vorstellung eines in der völligen Transparenz wechselseitiger Beziehungen aufgehenden Gottes selbstwidersprüchlich. Denn hier ist kein Potential Gottes mehr denkbar, welches für die Kreativität und Zukunft steht. Das heißt bei Schelling nicht, dass die Alternative zur reinen Symmetrie balancierten Stillstands die reine Asymmetrie ungebremster Dynamiken ist. Vielmehr ist mit einem Spiel unterschiedlicher, tendenziell stärker asymmetrischer und tendenziell stärker symmetrischer Wechselseitigkeit zu rechnen. Sicher: Der Vater ist nur dadurch Vater, dass er einen Sohn hat; doch der Vater wird dadurch nicht unter der Hand zum Sohn seines daher vermeintlich völlig gleichgestellten Sohnes. Schelling nimmt daher in Gott selbst eine nie aufgehende Kreativität an, die er in der Freiheit des Vaters verortet und der sich auch Sohn und Geist verdanken sollen.49
2. Plädoyer für einen programmatischen Neuansatz Wie andernorts dargelegt50 plädiere ich für einen programmatischen Neuansatz evangelischer Theologie, für den ich – jenseits von konventioneller Praxisgläubigkeit und triumphalem Theorieanspruch – eine 47 Vgl. M. D. Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008, 140 – 146.200 – 218.287 – 312. 48 Vgl. a. a. O., 101 – 312 (287 – 312). 49 Vgl. ebd. 50 Vgl. ders., Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017; M. Gabriel / M. D. Krüger, Was ist Wirklichkeit? Neuer Realismus und Hermeneutische Theologie, Tübingen 2018; M. D. Krüger, Theologische Bildhermeneutik als konsequenter Protestantismus. Ein aktueller Deutungsvorschlag, in: M. Moxter (Hg.), Konstellationen und Transformationen reformatorischer Theologie, Leipzig 2018. Der hier oben im Text folgende, zweite Abschnitt (»Plädoyer für Neuansatz«) ist eine Überarbeitung, Kürzung und Erweiterung des Abschnitts »Entdeckungszusammenhang« meines Beitrags »Ist der Protestantismus eine denkende Religion?« in dem von Ernst-Joachim Waschke herausgegebenen Leucorea-Kongressband: E.-J. Waschke / K. Fitschen / M. Schröter / C. Spehr (Hg.), Kulturelle Wirkungen der Reformation / Cultural Impact of the Reformation. Kongressdokumentation Lutherstadt Wittenberg August 2017, Leipzig 2019.
»Godfather«? 125
diagnostische Rationalität beanspruche. Ihr geltungstheoretischer Ort ist das Exemplarische im Sinn dessen, was aufgrund seiner relativen Anschlussfähigkeit und Binnenstimmigkeit plausibel ist. Inhaltlich lautet meine These, die im Sinn der soeben genannten diagnostischen Rationalität nicht als exklusive Definition, sondern als anschlussfähige Beschreibung zu verstehen ist:51 Die Religion, auch die evangelische Religion, ist im menschlichen Bildvermögen und seiner Einbildungskraft fundiert. Letztere ist immer auch verkörpert, sozial vermittelt und zeigt sich in der menschheitsspezifischen Fähigkeit, mit äußeren und inneren Bildern umgehen zu können. Imagination und Phantasie, nachschaffende und poetische Einbildungskraft werden so als Mittel wahrgenommen, ein anschauliches Gottes-Bild – und nicht bloß einen abstrakten Gottesgedanken – zu realisieren. Insofern spreche ich von einer bildhermeneutischen Theologie. Dieser Ansatz versucht, neueste Entdeckungen der Anthropologie und Kulturwissenschaften aufzunehmen und konstruktiv-kritisch auf den Projektionsverdacht der neuzeitlichen Religionskritik zu reagieren. Religion ist dann letztlich Ambivalenzmanagement, ein Umgang mit den Mehrdeutigkeiten unseres Lebens. Vor allem wird es aber meines Erachtens so möglich, den zeitgenössischen Gegensatz zwischen liberaler Subjektivitätstheologie, die gern mit Paul Tillich sinntheoretisch auf den Symbolbegriff abzielt, und kerygmatischer Offenbarungstheologie, die gern mit Eberhard Jüngel sprachtheoretisch auf den Metaphernbegriff abzielt, in einem Bildbegriff zu vermitteln.52 51 Daher ist die Meinung der »Response«, mein Beitrag würde von einer »sehr grundsätzlichen Definition von Religion aus[gehen]« (J. Quenstedt, in diesem Band, 145), zumindest problematisch. Um basale Missverständnisse auszuschließen, seien nur zwei kurze Anmerkungen angebracht. Erstens geht es in meinem Beitrag um eine Beschreibung von Religion. Eine Beschreibung ist – schon logisch – gerade keine Definition im eigentlichen Sinn (vgl. z. B. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft [PhB 37a], Hamburg 1956, B 755 – 766). Zweitens wird diese Beschreibung formal nicht als Ausgangspunkt vorausgesetzt. Vielmehr wird sie hier eingangs vorgestellt, um sie dann im folgenden Abschnitt oben (»Plädoyer für einen programmatischen Neuansatz«) in ihrer anschlussfähigen Plausibilität zu erläutern. Folglich geht es, und das ist eine Pointe, um keine Voraussetzung einer gleichsam essentialistischen und dogmatisch gesetzten Religionsbeschreibung. Es liegt übrigens auch dann eine – freilich: im performativen Selbstwiderspruch befindliche – Beschreibung von Religion vor, wenn man meint, Religion überhaupt nicht beschreiben zu dürfen, zu können oder zu müssen: Auch die Beschreibung, dass Religion nicht beschrieben werden kann, ist eine Beschreibung. 52 Dieser vermittlungstheologische Versuch möchte eine ursprüngliche, gemeinsame Einsicht des Gegenwartsprotestantismus herausstellen,
126 Malte Dominik Krüger Danach ist das (äußere) Bild ein wahrnehmungsnahes Zeichen, das wesentlich auf die Einbildungskraft angewiesen ist, die sich dabei selbst durchstreicht und die religionsstiftenden Kategorien der Ganzheit und Kontrafaktizität aufweist. Freilich handelt es sich bei diesem vermittlungstheologischen Vorschlag formal um eine deutlich näher an der liberalen Theologie gelagerte Theorieoption. Material wird hingegen insbesondere die Tradition der von Rudolf Bultmann ausgehenden Hermeneutischen Theologie von Ernst Fuchs und Eberhard Jüngel aufgenommen, die eine christologische Gleichnishermeneutik im Blick hat. Im Folgenden sollen sieben Springpunkte hervorgehoben werden, die mir wesentlich erscheinen.53 Der erste Springpunkt betrifft die Anthropologie und kann sich konstruktiv-kritisch insbesondere auf die Studie »Origins of Human Communications« (2008) des US-amerikanischen Anthropologen Michael Tomasello beziehen:54 Der Mensch als Sprachwesen ist auf ein grundlegendes Bildverstehen angewiesen, das äußere Bilder, Symbole und Zeichen einschließt und eine öffentliche Kommunikation wie innere Einbildungskraft erfordert. Freilich darf letztere nicht gegen die Fähigkeit, mit äußeren Bildern umzugehen, ausgespielt werden, sondern ist vielmehr darin verankert. Diese Einsichten sind nicht als harter Speziesismus zu verstehen. Vielmehr lassen gerade die die in der mitunter notwendigen rabies theologorum verdeckt zu werden droht. Vgl. zu Symbol- und Metaphernbegriff: Krüger, Bild (s. Anm. 50), 23 – 25.94 – 141.538 – 541 (zur Situierung), 329 – 361 (zum Symbol- bzw. Zeichenbegriff), 455 – 468 (zum Bildbegriff inklusive seiner Verbindung zum Sprachvermögen bzw. zur Metaphorizität), 542 – 562 (Zusammenfassung). Vgl. grundsätzlich zur Orientierung über den Symbol- und Metaphernbegriff auch: M. Buntfuss, Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache, Berlin / New York 1997; M. Tomberg, Studien zur Bedeutung des Symbolbegriffs. Platon, Aristoteles, Kant, Schelling, Cassirer, Mead, Ricœur (Epistemata 300), Würzburg 2001; G. Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 52004; E. Rolf, Metapherntheorien. Typologie, Darstellung, Bibliographie, Berlin / New York 2005; F. Berndt / H. J. Drügh (Hg.), Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M. 2009; D. Mende, Metapher – Zwischen Metaphysik und Archäologie. Schelling, Heidegger, Derrida, Blumenberg, München 2013. 53 Aus sprachpragmatischen Gründen werden im Folgenden die Begriffe »Bildvermögen« und »Symbolvermögen« bzw. »Bild« und »Symbol« nicht streng voneinander abgesetzt (vgl. zur Unterscheidung zwischen Bild und Symbol bzw. Zeichen sowie zur Zugehörigkeit des Symbolischen bzw. Zeichenhaften zum Bildlichen Krüger, Bild [s. Anm. 50], 313 – 468). 54 Vgl. M. Tomasello, Origins of Human Communication, Cambridge Mass./London 2008.
»Godfather«? 127
Gesten von Affen erkennen, woraus sich das menschliche Bild- und Symbolvermögen und schließlich die menschliche Sprache entwickelt haben. Wichtig ist dabei: Öffentlichkeit und Wort- wie Symbol- bzw. Bildvermögen sind hier verbunden und können nicht gegeneinander ausgespielt werden.55 Nicht ohne Grund trägt die zustimmende Rezension von Jürgen Habermas zu Tomasellos Studie den schönen Titel »Es beginnt mit dem Zeigefinger«56. Der zweite Springpunkt betrifft die Zeitdiagnostik und kann sich konstruktiv-kritisch insbesondere auf den Beitrag »Die Wiederkehr der Bilder« (1994) des Baseler Kunsthistorikers Gottfried Boehm beziehen:57 Zwar gab es in den frühesten Zeiten der Menschheit schon Bilder. Doch heute sind fast alle Bereiche des Lebens von Bildern geprägt. Dies sind Bilder im Kopf und außerhalb des Kopfes. Virtualität und Einbildungskraft drängen in einem bisher unbekannten Maß nach vorn; und der sich wie eine zweite Membran um den Erdball legende Datenstrom der digitalen Medien hält ständig Bilder bereit. Inszenierung, Spektakel und Überwachung werden in diesem Zusammenhang häufig beklagt. Argumente werden durch Bilder ersetzt, Informationen visualisiert und vielfach dirigieren Bildschirme, die nicht zufällig so heißen, den öffentlichen und privaten Raum. Die auch so genannte »Bilderflut« lässt Sein und Schein ineinander übergehen. So gibt es insgesamt eine Wende zum Bild, einen »iconic turn« (Gottfried Boehm).58 Der dritte Springpunkt betrifft die Bildfrage und kann sich insbesondere konstruktiv-kritisch auf die einschlägige Studie »Symbolischer Pragmatismus« (1991) des Münsteraner Philosophen Ferdinand Fellmann beziehen:59 Äußere Bilder sind wahrnehmungsaffine Zeichen, die nicht nur auf die innere Einbildungskraft angewiesen sind, sondern auch auf deren Negationsvermögen. Damit ist eine Unterbrechung des animalischen Reiz-Reaktionsschemas verbunden, also der Kern von Freiheit. Wenn Menschen innere Wahrnehmungs55 Vgl. zur Sache, teilweise auch wörtlich Krüger, Bild (s. Anm. 50), 151 – 194. 56 Vgl. J. Habermas, Es beginnt mit dem Zeigefinger, in: Die Zeit 51 (2009), 45. 57 Vgl. G. Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 42006, 11 – 38. 58 Vgl. zur Sache und teilweise auch wörtlich Krüger, Bild (s. Anm. 50), 195 – 298. 59 Vgl. F. Fellmann, Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey, Reinbek bei Hamburg 1991.
128 Malte Dominik Krüger bilder in sich erzeugen, dann unterbrechen und vergegenständlichen sie den Strom ihres Wahrnehmungsgefühls. So bringen sie die Welt und ihre Faktizität auf Abstand, mit der sie dann ganz anders umgehen können. Mit inneren Bildern wird die Wirklichkeit gleichsam im Negativ festgehalten, nämlich im Inneren als etwas realisiert, was als Abwesendes da ist. Insofern ist auch das Bildvermögen nicht einfach das – wiederum komplex mit anderen Sinnen und Vermögen verknüpfte – Sehvermögen, sondern dessen negationstheoretische Realisierung im Gefühl. Entscheidend ist dabei: Die menschliche Einbildungskraft kann über diese inneren Bilder auch verfügen.60 Dabei darf man mit Edmund Husserls Göttinger Vorlesungen »Phantasie und Bildbewusstsein« (1904 / 05) grundsätzlich einen dreistelligen Bildbegriff in Rechnung stellen.61 Das ist dann m. E. folgendermaßen zu verstehen: Auf dem Bildträger – z. B. einer Leinwand – ist ein repräsentierendes Bildobjekt – z. B. das »Bild« bzw. der Eindruck des Prinzipalmarktes in Münster – gegeben, der auf das Bildsujet verweist, nämlich den realen Prinzipalmarkt. Wichtig ist es hierbei, dass Verhältnis von Bildträger und Bildobjekt als eine unbestimmte Negation zu verstehen, während das Verhältnis von Bildobjekt und Bildsujet im Sinn einer bestimmten Negation zu fassen ist. Der Prinzipalmarkt kann also auf einer Leinwand, aber auch auf anderem Material abgebildet werden. Doch seine Formen und Farben müssen erkennbar am realen Prinzipalmarkt teilhaben.62 Der vierte Springpunkt betrifft die Vermögenspsychologie und kann sich insbesondere konstruktiv-kritisch auf die anthropologische Studie »Können Tiere denken?« (2009) des Marburger Philosophen Reinhard Brandt beziehen:63 Anders als die unterscheidbaren, diskursiven Zeichen – wie die Buchstaben oder Ziffern – sind bildliche Elemente nicht relativ klar unterschieden, sondern verschwimmen ineinander. Sinn und Sinnlichkeit gehen hier fließend ineinander über. Das gilt von inneren Bildern und von äußeren Bildern, in denen sich unser Bildvermögen selbst anschaulich wird. Und das ist für den Aufbau der weiteren Vermögen wesentlich. Denn so sehr das kreative 60 Vgl. zur Sache, teilweise auch wörtlich Krüger, Bild (s. Anm. 50), 151 – 194.455 – 468. 61 Vgl. E. Husserl, Phantasie und Bildbewußtsein, Hamburg 2006, 21 f. 62 Vgl. zur Sache, teilweise auch wörtlich Krüger, Bild (s. Anm. 50), 455 – 468. 63 Vgl. R. Brandt, Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie, Frankfurt a. M. 2009.
»Godfather«? 129
Bildvermögen den Menschen von anderen Primaten unterscheiden mag, so wenig ruht es in sich. Vielmehr führt die bildtheoretische Einsicht der negationstheoretischen Einklammerung – im Sinn einer Präsenz des Abwesenden – über weitere Sublimierungen zur Ausbildung der menschlichen Sprache, wie sie sich im negationsfähigen Urteil »X ist Y« ausspricht. Diese sprachliche Diskursivität kann sich selbst in der Vernunft reflexiv werden. Dabei bleiben Sprach- und Vernunftvermögen immer auf das Bildvermögen angewiesen, das in ihnen durchscheint, wie umgekehrt das Bildvermögen auf dieselben angewiesen ist, wenn es über sich hinausdrängt. Insofern können diese drei Vermögen nicht gegeneinander ausgespielt werden.64 Der fünfte Springpunkt betrifft die Religionstheorie und kann sich insbesondere konstruktiv-kritisch auf die Studie »Ganzheit und Kontrafaktizität« (2014) des Hallenser Systematikers Jörg Dierken beziehen:65 Der Mensch kann nicht anders, als Grund und Grenze seines Lebens auch zu symbolisieren. Religion ist schon der Möglichkeit nach in demjenigen Sehvermögen angelegt, das sich in Bildern, Symbolen und Zeichen selbst sichtbar wird. Dies geschieht m. E. bei der Wahrnehmung des alltäglichen Horizontes.66 Er repräsentiert 64 Vgl. Krüger, Bild (s. Anm. 50), 151 – 194. Anders gesagt: Die Faktizität der Welt wird im Wahrnehmungsgefühl erschlossen, das im Bildvermögen kontrafaktisch und negationstheoretisch sublimiert wird, sodass daraus letztlich das Sprach- und das Vernunftvermögen (als Selbstreflexion des Sprachvermögens) entstehen können. Insofern sind menschliche Deutungs- und Handlungsmuster immer auch kontrafaktisch geprägt, d. h. sie weichen vom animalischen Reiz-Reaktionsschema ab. Dies bedeutet nun wiederum nicht, dass alles gleichermaßen plausibel ist, Fakenews zu tolerieren sind und es keine Unterschiede zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Texten gibt. Denn hier kommen die aus dem Bildvermögen und ihrem Umgang mit der Geschichte folgenden Kriterien der Referenz (relativer Einspruch der Quellen), Kommunikation (mögliche Weitergabe der Sachverhalte) und Normativität (Anerkennung der Gesprächspartner bzw. -quellen) ins Spiel. Dies führt nicht zur Beliebigkeit, sondern macht über den Bezug der Einbildungskraft auf die Person und das Geschick Jesu von Nazareth den spätmodernen Protestantismus als kritische Bildreligion plausibel, vgl. Krüger, Bild (s. Anm. 50), 471 – 537; ders., Pannenberg als Gedächtnistheoretiker. Ein Interpretationsvorschlag (auch) zu seiner Ekklesiologie, in: G. Wenz (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017, 181 – 202 (189 f.). 65 Vgl. H. Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M./Leipzig 1992. 66 Vgl. auch Friedrich Schleiermachers Rede vom »Universum«, das sich nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Anschauung der Natur erfahren lässt und hier für eine sich erschließende Ganzheit steht. So kann religiös das Bild einer allwirksamen und allgegenwärtigen Natur entstehen,
130 Malte Dominik Krüger in der normalen Wahrnehmung eine aktuelle Ganzheit, die zugleich sich selbst einklammert und übersteigt, wenn sie zur Frage führt: Und was kommt dann? So ist es nicht erst – wie bei Immanuel Kant – die Vernunft, die den Gottesgedanken benötigt, weil sie ihr theoretisches Bedürfnis weiter zu fragen, nicht abbrechen kann (Ganzheit), und dies praktisch mit einer Freiheitserfahrung zusammenbringt (Kontrafaktizität). Es ist vielmehr schon die im Bildvermögen sich zeigende Wahrnehmung des Horizontes, der eine Dimension des Und-so-weiter einschließlich ihres kontrafaktischen Selbstüberstieges eingeschrieben ist. Wenn man hierbei die Kategorien der Ganzheit und Kontrafaktizität bildtheoretisch näher betrachtet, sind sie m. E. im Sinn einer stufenden Sequenzierung über die Kategorien der Unterbrechung und der Distanzierung vermittelt.67 Der sechste Springpunkt betrifft die christliche Theologie und kann sich insbesondere auf Friedrich Schleiermachers »Reden« (1799)68 und auf Einsichten der Hermeneutischen Theologie beziehen: Wenn die Religion das menschliche Bildvermögen im Horizont des Unbedingten ist, dann wird dies im Christentum an und in sich selbst religiös realisiert, wenn die Stiftergestalt – definitiv mit Ostern, und zwar den Ostererscheinungen – zum sich selbst durchstreichenden Bild Gottes wird.69 Damit wird nicht nur das Bilderverbot aufgevgl. F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: Kritische Gesamtausgabe (KGA) I / 2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. G. Meckenstock, Berlin / New York 1984, 185 – 326 (223 – 227). 67 Vgl. zur Sache, teilweise auch wörtlich, Krüger, Bild (s. Anm. 50), 455 – 488. 68 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion (s. Anm. 66), bes. 293 – 326 (5. Rede). 69 Daher ist die Meinung der »Response«, in meinem Beitrag würde das neutestamentliche Zeugnis am entscheidenden Punkt übergangen (vgl. die erste Frage: Quenstedt, Reflexionen [s. Anm. 51], 145 – 147), zumindest problematisch. Gerade die schon genannte Hermeneutische Theologie von Ernst Fuchs und Eberhard Jüngel sieht sich mit der Einsicht, dass mit der Auferstehung aus demjenigen, der in Gleichnissen bzw. Bildern über Gott redet, selbst das Bild Gottes wird, dem Neuen Testament verpflichtet (vgl. zur basalen Orientierung über das Selbstverständnis der Hermeneutischen Theologie und ihr Schriftverständnis U. H. J. Körtner, Hermeneutische Theologie. Zugänge zur Interpretation des christlichen Glaubens und seiner Lebenspraxis, Neukirchen-Vluyn 2008, bes. 97 – 185; I. U. Dalferth / P. Bühler / A. Hunziker [Hg.], Hermeneutische Theologie – heute?, Tübingen 2013). Dass dieses Verständnis – wie fast jedes andere (auch: exegetische) Verständnis – in der Forschung in Frage gestellt werden kann, spricht im Sinn einer diagnostischen
»Godfather«? 131
nommen. Vielmehr verweisen auch die Sprachbilder (»Gleichnisse«) des vorösterlichen Jesus (im Einklang mit seinem entsprechenden Verhalten) und die (schriftlich-kanonischen wie sakramentalen) Erinnerungen des nachösterlichen Jesus darauf. Letztere sind aufgrund ihres szenischen Charakters als bildhaft anzusprechen. Die Schriftlehre wird so zu einem Umgang mit äußerer Bildlichkeit, wie die Rechtfertigungslehre zu einem Umgang mit innerer Bildlichkeit wird. Diese Deutung steht im Einklang mit einer bildtheoretischen Zuspitzung der protestantischen Grundsignaturen in der Moderne: So kann in der nachaufklärerischen Schriftlehre der Bildbegriff im Sinn des von Jesus hinterlassenen Eindrucks, dessen Wirksamkeit sich in der Rezeption der christlichen Bibel entfaltet, begriffen werden, wie in der nachaufklärerischen Rechtfertigungslehre die Einsicht in dessen kontrafaktisches Wirklichkeitsvertrauen einen hintergründigen Umgang mit dem Projektionsverdacht erlaubt.70 Dass es inzwischen arrivierte bildhermeneutische Deutungen der beiden Leitgestalten des
Rationalität dafür, dass es diskutabel ist. Solange, und sei es nur retrospektiv, theologisch legitim die Gleichnis- und Reich-Gottes-Verkündigung Jesu zusammengebracht werden können (vgl. R. Zimmermann, Gleichnisse und Parabeln, in: Jesus Handbuch, hg. v. J. Schröter / C. Jacobi, Tübingen 2017, 378 – 387), lässt sich diese Deutung der Hermeneutischen Theologie m. E. nicht en passant abtun. Ohnehin gilt: Dass Jesus mit Ostern aus christlicher Sicht definitiv zum menschlichen Gesicht Gottes wird, kann nicht nur die Hermeneutische Theologie herausstellen, wenn man die Ostererscheinungen im Sinn des genannten kulturwissenschaftlichen Bildbegriffes, der keineswegs einfach mit dem neutestamentlichen Bildbegriff gleichgesetzt werden darf und muss (!), negationstheoretisch entschlüsselt. Wie dargelegt unterläuft der oben dargestellte Bildbegriff den Dualismus von sichtbarer Wirklichkeit und bloßer Einbildung. Ebenso gilt: Als negationstheoretisches Bild Gottes ist der Gekreuzigte und Auferstandene nicht der himmlische Vater selbst, der nur indirekt (nämlich als Vater im Sohn) erscheint. Gerade dafür steht der Bildbegriff ein, wie auch die damit verbundene Gedankenfigur der Selbstunterscheidung Jesu vom Vater eine trinitätstheologisch geläufige Gedankenfigur ist (vgl. z. B. Pannenberg, Theologie I [s. Anm. 27], 326 – 355). Diesen Reflexionen kann und muss man nicht exegetisch mit einer (vorkritischen) Dicta probantia-Methode gerecht werden. So konkurriert auch nicht der Bildbegriff mit der Gottessohnschaft, sondern der Bildbegriff artikuliert letztere, und zwar reflexiv im Horizont der Gegenwart, vgl. zu dem komplexen Kontext und zur exegetischen Literatur auch: Krüger, Bild (s. Anm. 50), 489 – 514 (499 f., Anm. 25); vgl. auch die exegetische Einsicht: »Gott ist nicht in Bildern abbildbar, aber offenbar« (Gerber, Gottesbild [s. Anm. 2], 363). 70 Vgl. Krüger, Bild (s. Anm. 50), 3 – 55.489 – 541.
132 Malte Dominik Krüger Protestantismus, nämlich von Martin Luther und Friedrich Schleiermacher gibt, sei zumindest am Rand notiert.71 Der siebte Springpunkt betrifft die Selbstverortung dieses (in den vorangegangenen sechs Thesen skizzierten) Programms: Das Konzept einer Theologie der verkörperten Einbildungskraft im Anschluss an die Rede vom iconic turn hat keineswegs nur das Bild an der Wand – und dann womöglich auch nur das der europäischen »Hochkunst« – im Blick. Vielmehr zielt sein zeitdiagnostisch motivierter Bildbegriff auf das ab, was sich aufgrund seiner Verschränkung von Sinn und Sinnlichkeit dem bloß Begrifflichen entzieht. Es geht um einen sich paradigmatisch selbst einklammernden Begriff, eine fassbare Unfassbarkeit. Nicht zufällig rückte der Bildbegriff schon in das Zentrum von Fichtes Spätphilosophie.72 Traditionell geredet: Es geht in Sachen der Bildtheorie um eine docta ignorantia, allerdings in der unumgänglichen Medialität unseres Weltumgangs. Gott ist dann der ungegenständliche Fluchtpunkt unseres Lebens, der in dessen Wahrnehmung und Führung immer nur indirekt, gebrochen und aposteriorisch erscheint, wie der spätmoderne Protestantismus als kritische (!) Bildreligion verstanden werden kann, die eine Anwältin des Sprachvermögens im religiösen Horizont ist.73 Dass man hierbei das Bildvermögen auch – unter dem Stichwort »Bildung« – auf die 71 Vgl. zu Luther: U. Barth, Hermeneutik der Evangelien als Prolegomena zur Christologie, in: C. Danz / M. Murrmann-Kahl (Hg.), Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 22011, 275 – 305; J. A. Steiger, Die communicatio idiomatum als Achse und Motor der Theologie Luthers, in: NZSTh 38 (1996), 1 – 28; F. Hartenstein / M. Moxter (Hg.), Hermeneutik des Bilderverbots. Exegetische und systematisch-theologische Annäherungen, Leipzig 2016, 251 – 260.287 – 292.309 – 315; vgl. zu Schleiermacher: U. Frost, Einigung des geistigen Lebens. Zur Theorie religiöser und allgemeiner Bildung bei Friedrich Schleiermacher, Paderborn / München / Wien / Zürich 1991 (161 – 251); J. Kunstmann, Religion und Bildung. Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse, Gütersloh 2002 (178 – 198.229 – 344). 72 Vgl. klassisch J. Drechsler, Fichtes Lehre vom Bild, Stuttgart 1955. 73 Vgl. Krüger, Bild (s. Anm. 50), 429 – 541. Das widerspricht nicht der Beobachtung, dass der Protestantismus eine sich stark über das Singen identifizierende Religion ist: Bildtheoretisch kann das Singen als eine affektive Vertiefung (Gefühlsdimension des Gesangs) und zugleich kognitive Überbietung (Sprachlichkeit des Gesangs) des Bildvermögens bzw. der Einbildungskraft erscheinen. Darum bewegt nachvollziehbar der Gesang in der Regel ungleich stärker als die äußere Bildlichkeit den Protestantismus, vgl. ders., Musikalisch religiös. Der Hymnus als komplexe Verkörperung des Bildvermögens, in: T. Wabel / F. Höhne / T. Stamer (Hg.), Öffentliche Theologie zwischen Klang
»Godfather«? 133
Individualität und – unter dem Stichwort »Augen-Blick« – auf das Zeitbewusstsein beziehen kann, sei nur erwähnt.74
3. Folgen des Neuansatzes für das religiöse Vaterbild Das erste Argument gegen das religiöse Vatersymbol war religionskritisch und verwies auf den Projektionsverdacht. Aus der Sicht einer bildhermeneutischen Theologie kann man sagen: Dieses Argument ist im Recht – und widerlegt sich dadurch selbst. Religion ist eine Projektion des Menschen.75 Jedes auch so genannte Gottesbild – auch das und Sprache. Hymnen als eine Verkörperungsform von Religion, Leipzig 2017, 69 – 87. 74 Vgl. Krüger, Bild (s. Anm. 50), 465.476.482 f.557 – 559. Aufgrund des siebten Springpunktes ist die Meinung der »Response«, die bildhermeneutische Theologie sei als negative Theologie kaum lebensweltlich vermittelbar (vgl. die fünfte Frage von Quenstedt, Reflexionen [s. Anm. 51], 149 f.), m. E. schwer nachvollziehbar. In jeder Kommunikation muss man zwischen der thematisierten Wirklichkeit und der Thematisierung von Wirklichkeit unterscheiden, ohne diese Differenz je sprachlich ganz fixieren zu können. Genau um diese Unbestimmtheit geht es einer bildhermeneutischen Theologie, die diesen blinden Fleck unseres Lebens in der Einbildungskraft verankert. Insofern ist unser (auch: religiöses) Leben immer auch von Ambivalenzen bestimmt, die aber nicht lebensfeindlich sind, sondern zum Leben unaufhebbar dazugehören. Dies ist m. E. gerade nicht lebensfremd. Dass die vertretene Position dem vorkritischen Bedürfnis widerstreitet, welches die religiöse Sicherheit (als Werkgerechtigkeit, ob nun praktisch oder intellektuell) mit der Gewissheit (als Ambivalenz- bzw. Ambiguitätsmanagement, nämlich als Erfahrung bzw. Deutung von Erfahrungen) verwechselt, ist aus meiner Sicht kein Tadel. Und die Frage der »Response«, ob sich am lutherischen Verständnis von Bibel und Bekenntnis etwas ändern würde in einer bildhermeneutischen Theologie (vgl. die vierte Frage: Quenstedt, Reflexionen [s. Anm. 51], 148 f.), kann die Antwort finden: Nein, warum auch? Dass man bildhermeneutisch im Anschluss an den Titel eines theologischen Klassikers die Bibel als sprachliches Bilderbuch Gottes bezeichnen könnte (gemeint ist H. Thielicke, Das Bilderbuch Gottes. Reden über die Gleichnisse Jesu, Stuttgart 1957), ist so durchaus nachvollziehbar – und keine reductio ad absurdum (vgl. zur Problematisierung der Rede von der Bibel als einer »Bilderfibel«: Quenstedt, Reflexionen [s. Anm. 51], 149). 75 Vgl. Krüger, Bild (s. Anm. 50), 41 – 55.471 – 488.523 – 537. Vgl. dazu auch schon die Positionen Paul Tillichs, Hans-Martin Barths und Falk Wagners: P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel (1924), in: ders., Gesammelte Werke VIII, Stuttgart 1970, 85 – 100; H.-M. Barth, Glaube als Projektion. Zur Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach, in: NZSTh 12 (1970), 363 – 382; R. Dahnelt, Funktion und Gottesbegriff. Der Einfluss der Religionssoziologie
134 Malte Dominik Krüger des Vaters – ist ein Erzeugnis des Menschen. Doch dieses beruht auf dem Bildvermögen des Menschen. Der Mensch kann nicht anders, als Grund und Grenze seines Lebens immer wieder zu vergegenständlichen und sich zumindest in der Einbildungskraft vor Augen zu bringen. Diese Verbildlichung muss nicht ausdrücklich religiös werden. So sehr nur der Mensch die Möglichkeit zur Religion zu haben scheint, so wenig ist er offenkundig auf deren religiöse Verwirklichung verpflichtet. Doch diese Verwirklichung ist naheliegend76: Das Bildvermögen verrät aufgrund seiner Tendenz zur Ganzheit und Kontrafaktizität das Bedürfnis nach weiterer Orientierung. Genau dies erfolgt in der Symbolisierung von Religionen so, dass Sinn und Sinnlichkeit ursprünglich beieinander sind. Anders gesagt: Der Mensch produziert zwar sein Gottesbild selbst, aber darin zeigt sich eine unbedingte Dimension (»Gott«), die dem Menschen entzogen ist. Die Frage, die sich allerdings stellt, lautet: Muss der Mensch als Zwitterwesen von Natur und Kultur die Gottheit als Vater projizieren? auf die Theologie am Beispiel von Niklas Luhmann und Falk Wagner, Leipzig 2009, 161 – 236. 76 Der Mensch muss die seinem Bildvermögen eingeschriebene Anlage zur Religion nicht explizit religiös realisieren. So kann der Mensch die Unbedingtheitsdimension auch, mitunter unerkannt, in den Vermögen der Sprache oder Vernunft, die komplexer als das Bildvermögen sind, verorten – oder sogar in den Kulturgestalten wie Gesellschaft, Politik, Ökonomie etc. finden, die wiederum auf dem menschlichen Miteinander aufbauen. Dann ist »Gott« nicht ungegenständlicher Fluchtpunkt des menschlichen Bildvermögens, das sich in den Horizont des Unbedingten eingestellt sieht, sondern erscheint eher als Wort, als Vernunft (oder diese beide verbindend: als Logos), als Sozialität bzw. Liebe, als Macht von partizipatorischen Möglichkeiten oder zur Umgestaltung inhumaner Lebensverhältnisse; damit können sich u. U. auch instrumentalisierende Auffassungen verbinden. Diese sublimeren Gestalten sind vor dem Hintergrund einer bildtheoretischen Deutung, die das Bild-, Sprach- und Vernunftvermögen nicht prinzipiell scheidet, verständlich – und insofern gut nachvollziehbar, allerdings gerade darin immer auch an das Bildvermögen im Horizont des Unbedingten zurückgebunden. Das Besondere des bildtheoretischen Religionsverständnisses besteht offenbar darin, religiöse Selbstdeutungen immer wieder relativ direkt in den Horizont des Unbedingten kritisch einweisen zu können. Letzteres ist, wenn die Religion in sublimeren Vermögen oder Kulturgestalten erscheint, aufgrund der damit einhergehenden feineren und verschlungeneren Manifestationsverhältnisse offenbar schwierigerer möglich. Entscheidend ist aus der Sicht eines bildtheoretischen Religionsverständnisses: Das Unbedingte erscheint immer indirekt und integral für das Bewusstsein als Grund und Grenze desselben, sodass sich unmittelbare Gleichsetzungen von Endlichem und Unbedingtem verbieten (vgl. dazu, teilweise auch wörtlich: Krüger, Bild [s. Anm. 50], 483 – 488).
»Godfather«? 135
Das zweite Argument gegen das religiöse Vatersymbol war feministisch-theologisch und verwies auf die Patriarchatskritik. Aus der Sicht einer bildhermeneutischen Theologie kann man sagen: Dieses Argument ist nachvollziehbar; es kann zu einer theologischen Weiterarbeit am religiösen Vaterbild führen. Man mag das religiöse Vaterbild in seiner traditionalen Gestalt retten wollen, indem man sagt, dass keiner so sehr Vater ist wie Gott, weil sich in ihm zeigt, was wahrhaft Vaterschaft genannt zu werden verdient. Doch letztlich lässt sich das Bild vom himmlischen Vater nicht bloß kontrastiv von der gesellschaftlichen Wirklichkeit trennen. Zumindest eine innere Grenzdialektik der Umformung muss existieren, wenn die Rede vom Vater nachvollziehbar sein soll.77 Gerade in der Jesus-Tradition scheint ein Vaterbild Gottes gängig, das zwar die patriarchale Eigenheit Gottes unterläuft, aber darin nicht ganz den Anschluss an die Metapher des »normalen«, menschlichen Vaters verliert.78 Aufgrund dieser Überlegungen kann man meines Erachtens sagen: Gott ist als ungegenständlicher Fluchtpunkt unseres Lebens weder männlich noch weiblich im geschlechtlichen Sinn, sondern vereint Ganzheit und Kontrafaktizität. Entscheidend ist die Einsicht in den negationstheoretischen Charakter von Bildern. Auch wenn der Gott des Menschen nicht jenseits personaler Projektionen von Männern und Frauen ausgesagt werden kann, so geht er als ungegenständlicher Fluchtpunkt gerade darin nicht auf. So kommt nicht nur das Bilderverbot, Gott nicht zum Teil der Welt zu machen, zu seinem Recht. Vielmehr spricht unsere Problemgeschichte meines Erachtens auch dafür, das kulturgeschichtlich vorhandene Vaterbild der christlichen Religion nicht vorschnell – aus Gründen der political correctness oder dogmatical correctness – abzuschaffen, sondern weiter an ihm bildtheologisch zu arbeiten. Denn weder sollte man die Tatsache kulturgeschichtlich wirksamer Normativität unterschätzen noch die Faktizität abstrakt widersprechender Normativität überschätzen. Vielmehr ist es m. E. sinnvoll, an interne Dynamiken des vorhandenen Gottesbildes anzuknüpfen, um alternative Spielräume zu eröffnen. Material heißt dies: Im Fokus sollte die Betonung der Kontrafaktizität und Ganzheit stehen, also die Verbindung des persönlichen und überpersönlichen Charakters Gottes.79 Konkret bie77 Vgl. dazu im ersten Teil des Beitrags auch die Position Pannenbergs und deren Kritik. 78 Vgl. Feldmeier, Gottvater (s. Anm. 50), 407 – 410. 79 Vgl. dazu am Ende dieses Beitrags den Hinweis auf den »Himmel« als Ort dessen, der im Bild des »Vaters« formuliert wird. Der »Vater«, also das
136 Malte Dominik Krüger tet sich dafür die Vorstellung von dem »Vater im Himmel« an, insofern hier die persönliche (»Vater«) und überpersönliche (»Himmel«) Eigenart Gottes zusammenkommen.80
personale bzw. kontrafaktische Bild (Gottes), und der »Himmel«, also das ganzheitliche und überpersönliche Bild (Gottes), gehören dabei zusammen. So wird die Alternative zwischen einem gegenständlichen, vorkritischen Theismus und einem missverständlichen, diffusen Pantheismus unterlaufen. 80 Vgl. dazu auch alttestamentlich die relativ spät errungene Einsicht von der monotheistischen, bildlosen Transzendenz Jhwhs in der Verborgenheit des Himmels, die direkte Identifikation des jüdischen Gottes mit dem Himmel und das dadurch aufgenommene Präsenzkonzept des vorexilischen Jerusalemer Tempels mit seiner Verbindung von mentaler Hintergründigkeit und visuell-lichthaften Aspekten: Hartenstein / Moxter, Hermeneutik des Bilderverbots (s. Anm. 71), 73 – 182 (73 – 81.105.117 – 128). Vgl. dazu neutestamentlich die Vorstellung von dem »Vater in den Himmeln«, welche die monotheistisch inspirierte Identifikation von Jhwh und Himmel aufnimmt und die Distanz Gottvaters gegenüber der Welt hervorhebt. Insofern würde es m. E. dem reflexiven Niveau des biblischen Zeugnisses nicht gerecht, wenn man Gott-Vater einseitig als »notorische[n] Gesetzesbrecher« hervorhebt – und dieses »autoritär-paternalistische[s]« Gottesbild auch noch positiv würdigt (vgl. so Quenstedt, Reflexionen [s. Anm. 51], 148). Dass umgekehrt solche Vorstellungen biblisch teilweise angelegt sind, ist damit nicht bestritten und keineswegs verwunderlich: Eine Religion ist selten schon in ihren Anfängen einfach vollendet da, sondern in ihrer Problemgeschichte kann sich ihr Eigenprofil immer feiner herauskristallisieren. Außerdem wird man an dieses – nochmals: m. E. auch nicht zwingend aus der Bibel herauszulesende – Gottesbild vom patriarchalen »Gesetzesbrecher« zumindest drei fundamentale Fragen richten müssen. Was schützt erstens einen solchen, despotisch anmutenden »Gott« vor der Verwechselung mit seiner diabolischen Karikatur? Wie will man zweitens die theologische Basiseinsicht aufnehmen, dass man die Gottheit aufgrund einseitiger Vergegenständlichung in ihrer uneinholbaren Dynamik immer schon verfehlt hat? (vgl. zu dieser bekannten Überlegung und intrikateren Einsichten z. B. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt [s. Anm. 41], 55 – 137). Und was bedeutet drittens dieses Gottesbild, wenn man es gendertheoretisch reflektiert? Dass Quenstedt das autoritär-paternalistische »Gottes«-Bild vom Willkürherrscher als »sofakissentaugliche Definition von Liebe« (vgl. Quenstedt, Reflexionen [s. Anm. 51], 150) bestimmt, ist bemerkenswert. Um hier basale Missverständnisse auszuschließen, die den Ernst und die Kontrafaktizität von (gelebter!) Religion berühren, bedürfte es der (weiteren) Reflexion. Auch die faktische Tabuisierung des Projektionsverdachtes und der Ausfall der Auseinandersetzung mit diesem sind für die gelebte Religion m. E. nicht hilfreich. Vielleicht ist die beste, auf jeden Fall tatsächlich »sofakissentaugliche« Entgegnung auf die von Quenstedt empfohlene Frömmigkeit anthropomorphen und willkürhaften Zuschnitts die hinreißend ironische Erzählung von Robert Gernhardt »Das Buch Ewald« (vgl. R. Gernhardt, Kippfigur. Erzählungen, Frankfurt a. M. 22008, 9 – 25).
»Godfather«? 137
Das dritte Argument gegen das religiöse Vatersymbol war subjektivitätstheoretisch und verwies auf das Erfahrungsdefizit. Aus der Sicht einer bildhermeneutischen Theologie kann man sagen: Dieses Argument ist nachvollziehbar; es kann zu einer Reformulierung des religiösen Vaterbildes führen. Wenn die Rede von Gott-Vater nicht abstrakt im Sinn einer autoritären Offenbarungstheologie gegen das neuzeitliche Subjekt in Stellung gebracht werden soll, so legt sich eine vermögenspsychologische – und aufgrund der Verkörperung der Einbildungskraft immer auch sozial vermittelte – Lesart der Trinität nahe, wie es eine bildhermeneutische Theologie vorschlägt: Gott ist deswegen dreieinig, weil unser menschheitsspezifisches Bildbewusstsein in seiner negationstheoretischen Verfassung dreistellig ist. Bildträger des Gottesbildes, also der Heilige Geist, ist dann die Kirche bzw. deren Einbildungskraft. Und Bildobjekt ist Jesus Christus, der für das Bildsujet des Vaters steht, der nur durch Jesus Christus erkennbar ist, ohne in ihm aufzugehen.81 Wichtig ist hierbei die schon erwähnte Stufung im Negationsverhältnis82: Während das Negations- und Teilhabeverhältnis von Vater und Sohn so präzis ist, dass Unbestimmtheit ausgeschlossen ist, trifft dies auf das Negations- und Teilhabeverhältnis von Sohn und Geist so nicht zu. Hier greift eine Unbestimmtheit, die zur Selbstrelativierung der Kirche als Trägermedium des Gottesbildes führt. Das vierte Argument gegen das religiöse Vatersymbol war trinitätstheologisch und verwies auf den Beziehungsmangel. Aus der Sicht einer bildhermeneutischen Theologie kann man sagen: Dieses Argument ist teilweise berechtigt, aber gerade darin annehmbar. Wenn der dreieinige Gott die Projektion des menschlichen Bildbewusstseins im skizzierten Sinn von Bildträger (Geist), Bildobjekt (Sohn) und Bildsujet (Vater) ist, dann handelt es sich nicht um eine – wie oben skizziert – Trinitätslehre im Gefolge Hegels, die in der wechselseitigen Anerkennung gleich-gültiger und insofern »entkernter« Personen das Wesen Gottes als Liebe bestimmt. Vielmehr ist das negationsbestimmte Verhältnis von Bildträger bzw. Kirche und Bildobjekt bzw. Christus unbestimmter als das präzis negationsbestimmte Teilhabeverhältnis zwischen Bildobjekt bzw. Christus und Bildsujet bzw. Vater. Damit wird nicht nur im Anschluss an Schelling eine eher orthodoxe Lesart der Trinität »Der Vater durch den Sohn im Geist« bevorzugt, sondern es werden 81
Vgl. Krüger, Bild (s. Anm. 50), 526 f. Vgl. dazu den dritten Springpunkt im zweiten Teil.
82
138 Malte Dominik Krüger auch menschliches Bewusstsein, philosophischer Bildbegriff und theologische Trinität verklammert. Dass man dies grundsätzlich auch im lateinischen Bereich verstehen kann, darauf verweist schon Augustins »De trinitate« (400 – 417 / 28).83 Der Vater steht dann nach dem hier Dargelegten für die Perspektive von Ganzheit und Kontrafaktizität, die durch das Bild Jesu gebrochen in der Kraft des Geistes bzw. im Leben der Kirche erscheint. Der Vater selbst ist dann das bildlose Bild für eine geheimnisvolle Gegenständlichkeit, die für das schlechthin Ungegenständliche steht, für eine unfassbare Positivität, die schöpferisch ihre Negativität einschließt, für eine ins unaufhebbare Dunkel bzw. Licht gehüllte Dimension, die sich indirekt in der Perspektivität der Einbildungskraft als der blinde Fleck unseres Lebens zeigt. Das ist auch die Differenz zum anfangs genannten Film »Godfather«. Unsere Frage lautete: Ist das religiöse Vaterbild wirklich kategorial von der Figur des paternalistischen Patriarchen einer Untergrundkultur zu unterscheiden? Ich meine: Ja. Und theologisch scheint mir das ein Gewinn zu sein. Auch wenn das Christentum selbst einst eine Untergrundkultur war und teilweise immer noch counter-religion ist, so steht doch das Bild von Gott-Vater nicht für eine reale, gegenständliche Person, die in autoritär-paternalistischer Weise die Welt beherrscht und nach Gutdünken ihre Gesetze durchbrechen und Gnade schenken kann. Vielmehr bringt das religiöse Vaterbild des Christentums eine ungegenständliche Hintergründigkeit zur Sprache, aus der und von der wir stets leben, ohne ihrer habhaft werden zu können.84 Nicht ohne Grund, nämlich aus dem im Bilderverbot zum Ausdruck kommenden Motiv, ist die Horizontwahrnehmung des Himmels zum Ort dessen geworden, den wir im Bild des Vaters symbolisieren.
83 Vgl. Aurelius Augustinus, De trinitate. Lateinisch / Deutsch. Neu übers. und hg. v. J. Kreuzer (PhB 523), Hamburg 2001. 84 Darin zeigt sich das bleibende Wahrheitsmoment der lutherischen Rechtfertigungslehre.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion Jan Quenstedt
Am 14. Februar 1970 veröffentlichte die Los Angeles Times erstmals einen Comic-Strip der Zeichnerin Kim Casali.1 Unter dem Slogan »Liebe ist …« haben seither tausende Comics ihren Weg in Tageszeitungen, auf Kaffeebecher und andere Devotionalien gefunden. Als ein – um mit Krüger zu sprechen – »äußeres Bild« verstanden, versucht jeweils ein prägnanter Satz in Verbindung mit einem Comic zu definieren, was Liebe sei. »Liebe ist …« – Die tausendfache Fortsetzung dieses Satzes weist darauf hin, dass das Motiv der Liebe als »inneres Bild« vielfältige Konnotationen aufweist und auf keinen konkreten Begriff zu bringen ist. Auch vor dem Hintergrund der voranstehenden Vorträge wird deutlich, dass der theologische Gebrauch des Begriffes Unschärfen aufweist. Besonders deutlich wird dieser Umstand, wenn der Begriff »Liebe« in Verbindung mit dem Bekenntnis zu Gott dem Vater gebracht wird.
1. Zur Perspektive der Bibelwissenschaften Den Ausführungen von Zimmermann liegt die Einsicht zugrunde, dass in der Vater-Bezeichnung die zentrale christliche Gottesvorstellung begegne (vgl. 1 Kor 8,6). Dabei besitze die Rede von Gott-Vater mehrere Dimensionen, die sich anhand der Frage visualisieren ließ, wessen Vater Gott sei.2 Aus der besonderen Zuordnung der Gläubigen auf Gott hin resultiere eine grundlegende Andersartigkeit der Gläubigen, wie besonders anhand der johanneischen Metaphorik zum Ausdruck komme. Die Besonderheit dieser Relation werde dadurch verstärkt, dass das Verhältnis Mensch – Gott exklusiv zu denken sei, weil ein Mensch nur einen Vater besitzen kann. Die Verwendung der 1 Vgl. https://www.artfulaspreycartoons.co.uk/love-is/, zuletzt abgerufen am 25. 02. 2019. 2 Diese Mehrdimensionalität ist auch abgebildet in Frage 26 des Heidelberger Katechismus, die als Antwort auf die Frage, was zu glauben sei, wenn der erste Artikel des Apostolikums gesprochen werde antwortet: »Daß der ewige Vater unseres Herrn Jesus Christus […], um seines Sohnes Jesu Christi willen mein Gott und mein Vater ist.« Vgl. Der Heidelberger Katechismus, Gütersloh 31986, 24.
140 Jan Quenstedt Vater-Metapher sei insofern als Ausdruck dessen zu verstehen, dass vom Vater Gerechtigkeit und Zuwendung ebenso zu erwarten seien, wie zuverlässige Gebetserhörung und Hilfe. Jedoch darf in diesem Kontext nicht vergessen werden, dass Gott dennoch unverfügbar bleibt und »als solcher auch schmerzhaft verborgen sein«3 kann, er letztlich auch gegen seine vermeintliche Abwesenheit geglaubt werden muss. Insofern verweist die Vater-Metapher auch auf den Bereich der Vorsehungslehre, die jeweils explizit im Gespräch mit den biblischen Schriften entwickelt werden muss.4 Dieser Gedanke deutet schon auf die später zu noch zu explizierende Anfrage nach der Verbindung zwischen der Sünde und dem Vater-sein Gottes hin, insoweit die Vater-Metapher eine umfassende Fürsorge impliziert, die gerade vor dem Hintergrund von Kontingenzerfahrungen ihre Relevanz erweisen muss. Zimmermann verweist auf Joh 3,16, wo die Hilfe und Zuwendung Gott-Vaters besonders virulent in der Hingabe des eingeborenen Sohnes in den Tod deutlich werde – als Ausdruck von Souveränität und als Ausdruck einer Liebestat des Vaters für die Welt. Dass der Aspekt der Liebe nicht nur mit dem himmlischen Vater verbunden ist, sondern darüber hinaus auch einen ethischen Anspruch impliziere, werde besonders anhand der Erzählung vom verlorenen Sohn (Lk 15,11 – 31) deutlich. Im Sinne einer imitatio impliziere die Vater-Metapher einen ethischen Aspekt für die Glaubenden. Für die Formulierung des Apostolikums bedeuten diese Einsichten nach Zimmermann, dass das entscheidende Verhältnis zwischen Gott und Glaubenden als ein Vater-Kind-Verhältnis zu denken sei. Mit diesem Verhältnis werde auch eine Konsequenz für das Selbstbild der Glaubenden impliziert, die als Kinder ihren Vater zu imitieren hätten. Somit wäre der erste Artikel des Credos letztlich als Dual zu denken: Er erinnert gleichermaßen an die »Sendung des Gottessohnes als grundlegende Neuzuwendung Gottes zu den Menschen […] als auch an das auf dieser Sendung basierende neue Gottesverhältnis der Glaubenden als Kinder des göttlichen Vaters.«5 Mit dem Begriff des Vaters werde deutlich gemacht, dass Gott als Spender individuellen Lebens fungiere 3 R. Feldmeier / H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre (TOBITH 1), Tübingen 2011, 90. 4 Vgl. exemplarisch K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik (KD III / 3). Die Lehre von der Schöpfung, Zürich 1950, 51. 5 C. Zimmermann, Referenzen und Konnotationen der Vaterschaft Gottes im frühen Christentum, 111.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 141
und insofern mit der Metapher der »entscheidende […] Aspekt der Gottesrelation«6 benannt sei, welcher letztlich auch auf den Spender eschatologischen Lebens verweise. Insgesamt wird deutlich, dass die Rede von Gott-Vater als metaphorische Rede eine theologisch-integrative Funktion besitzt, insofern sie unter anderem sowohl ekklesiologische als auch christologische Kategorien auf einen Begriff bringt. Damit wird durch das Apostolikum bereits im ersten Artikel in nuce eine theologische Konzeption vermittelt, die zentrale Bereiche christlicher Glaubensvorstellungen tangiert. Zimmermann bringt es in dem bereits angesprochenen Satz auf den Punkt: In der Vater-Metapher »wird sowohl an die Sendung des Gottessohnes als grundlegende Neuzuwendung Gottes zu den Menschen erinnert als auch an das auf dieser Sendung basierende neue Gottesverhältnis der Glaubenden als Kinder des göttlichen Vaters.«7 Meine damit verbundene Frage geht noch einmal einen Schritt zurück und bezieht sich auf das »alte« Gottesverhältnis der Glaubenden. Für dieses alte Gottesverhältnis ist zu fragen, ob und in welcher Weise sich die hamartiologische Dimension auf die Vater-Metapher auswirkt. Sie ist zwar in der christologischen Dimension de facto impliziert; dennoch ist es unumgänglich, sie auch explizit in Bezug auf die Vater-Relation zu thematisieren und noch weiter zu entfalten: Insbesondere eine Lektüre von Röm 5,8 f. lässt fragen, inwieweit die menschliche Sündenverstrickung die Rede von Gott-Vater beeinflusst. Diese Frage ergibt sich bereits bei genauerer Reflexion des Umstands, dass die neutestamentlichen Schriften jeweils nachösterlich verfasst sind und ihre Rede von Gott-Vater Kreuz und Auferweckung Jesu und somit eine Reaktion auf die menschliche Sünde zur Voraussetzung haben. Zugespitzt formuliert stellt sich die Frage, ob sich die Liebe Gottes gerade erst durch die Hingabe des Gottessohnes in den Tod für die Sünder erweist und demnach erst die Sünde die vollumfängliche Ausprägung der göttlichen Liebe gegenüber den Menschen evoziert.8 Diese Frage ergibt sich vor dem Hintergrund einer Deutung, die die Gabe des Sohnes in den Tod durch Gott als »Ausdruck 6
Ebd. Ebd. 8 Vgl. vor diesem Hintergrund – mutatis mutandis – die Behauptung von Jüngel, »daß es ohne Jesu Tod zu einer christlichen Verkündigung, zu christlichem Vertrauen und Hoffen auf Gott und folglich zu einem genuin christlichen Verständnis des Wortes ›Gott‹ überhaupt nicht gekommen wäre.« (E. Jüngel, Tod [TdT 8], Stuttgart 31973, 121). 7
142 Jan Quenstedt seiner Eigenschaften der Gnade und Barmherzigkeit«9 versteht und damit Aspekte verbindet, die dem Vater-Sein Gottes eingeschrieben sind (vgl. Lk 6,36). Außerdem legt sich die Frage auch nahe, wenn die Sünde im Anschluss an Röm 5,12 – 21 als eine Macht mit Verhängnischarakter verstanden wird, die jeder menschlichen Existenz vorgängig ist.10 Wenn dem so ist, dann hat sich die Liebe Gottes als Vaterliebe, die sich nicht zuletzt in seiner schöpferischen Tätigkeit konkretisiert (vgl. 1 Kor 8,6),11 eo ipso auf die Sünde zu beziehen und gewinnt von ihr her eine besondere Gestalt.12 Kumulativ wird der vorgetragene Zusammenhang im Rahmen von 1 Kor 15,3b deutlich, in dessen Zusammenhang das Sterben Christi als ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν κατὰ τὰς γραφάς charakterisiert und der Bogen zwischen der Sendung des Gottessohnes und dem Sterben »für unsere Sünden« geschlagen wird.13 In den Bekenntnissen findet diese Kumulation ihren Ausdruck in dem Umstand, dass das jesuanische Wirken auf sein Sterben und Auferstehen enggeführt wird: »Die Bedeutung von Jesus ist in den Schriften des Neuen Testaments und den apostolischen Vätern nahezu ausschließlich auf seinen Tod am Kreuz zur Vergebung der Sünden und auf seine Auferstehung bezogen, die wiederum die Auferstehung und das ewige Leben der Gläubigen begründen. Diese monumentale Einseitigkeit der neutestamentlichen Überlieferung, die nicht nur für die Briefe, sondern auch für die Evangelien gilt, ist auch in den frühen christlichen Bekenntnisformulierungen bis hin zum Apostolikum
9 L. Bormann, Theologie des Neuen Testaments (UTB 4838), Göttingen 2017, 135. 10 Vgl. U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments (UTB 2917), Göttingen 22014, 263. 11 Vgl. den Aufsatz von Zimmermann, Referenzen (s. Anm. 5), 99 – 100. 12 Vgl. A. Käfer, Erlebte Auferstehung. Systematisch-theologische Reflexionen zum Bekenntnis der Auferstehung Christi, in: J. Herzer / A. Käfer / J. Frey (Hg.), Die Rede von Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik (UTB 4903), Tübingen 2018, 351 – 367 (367): »Die ewige Gegenwart der Liebe Gottes, die mit dem Erscheinen des auferstandenen Gekreuzigten offenbar wird, setzt dessen Kreuzestod und die Menschwerdung Gottes voraus.« Dementsprechend ist ihr eine hamartiologische Dimension eingeschrieben. 13 Dabei ist zugleich die Bedeutung von 1 Kor 15,3b – 5 festzuhalten, dass als urchristliches Traditionsstück bzw. Bekenntnis zu verstehen ist. Vgl. dazu C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996, 355 – 370.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 143
eindrücklich festgehalten worden.«14 In dieser Wahrnehmung und durch den Verweis auf »die Schriften« in 1 Kor 15,3b wird bereits innerbiblisch die Anfrage nach der Dignität der neutestamentlichen Belege gestellt, die späterhin eine Verhältnisbestimmung zu den davon abgeleiteten Bekenntnissen herausfordert. Demnach findet sich hier bereits in nuce die Problematik angelegt, die sich mit den Begriffen der norma normans und norma normata verbindet. Freilich ist bei den Überlegungen zur Liebe Gottes, seinem Vater-Sein und dem Sterben seines Sohnes »für unsere Sünden« immer auch die Aporie mitzudenken, dass die Sündenverfallenheit der Welt durch das Geschick Jesu nicht nur eine heilvolle Wendung erhält, sondern vielmehr in seiner Person eine Begrenzung erfährt, insoweit derjenige, der die Sünden der Welt auf sich nimmt, nach neutestamentlicher Überlieferung keine eigene Sünde zu tragen hat (vgl. 2 Kor 5,21; Gal 3,13; Hebr 4,15). Damit ist ein Differenzpunkt zwischen den Menschen im allgemeinen und Christus im speziellen gezogen, der es ermöglicht, die Frage nach der Verbindung zwischen der Liebe Gottes und der Sünde zu stellen, ohne sich auf Fragen des Seins Jesu kaprizieren zu müssen. Vor dem Hintergrund des neutestamentlichen Zeugnisses ist deswegen nun zugespitzt und konkret zu fragen: Was wäre die Liebe Gottes ohne die Sünde, die ihrerseits »ihrem Wesen nach stets Verfehlung der Liebe«15 ist, insofern der Mensch als Ebenbild Gottes »eine gelebte Veranschaulichung, eine Darstellung, ja eine Verwirklichungsform des Wesens Gottes«16 sei, dass die Liebe ist.17 Wird also nicht erst vor dem Hintergrund der Rede von der Sünde die »lebensbejahende Hoffnungsperspektive«18 der Vater-Metapher vollumfänglich deutlich?19
14 R. Deines, Der Tod des Gottessohnes und das ewige Leben der Menschen, in: Herzer / Käfer / Frey, Die Rede (s. Anm. 12), 183 – 210 (203 f.). 15 W. Härle, Dogmatik, Berlin 32007, 466. 16 A. a. O., 436. 17 Zum Begriff der Liebe vgl. a. a. O., 242 – 244. 18 A. Strotmann, Gott als Vater. Eine Metapher, in: KatBl 140 (2015) 1, 14 – 17 (16). 19 Vgl. Feldmeier / Spieckermann, Gott (s. Anm. 3), 129: »Als überströmende Güte, die den Menschen, mehr noch, die ganze Schöpfung ergreift (Röm 8,18 – 22), sie vom Verhängnis der Vergänglichkeit befreit und ›ewiges Leben‹ gewährt (Röm 5,21; 6,22 f.; Gal 6,8; vgl. 1 Tim 1,16; 6,12; Tit 3,7), ist die göttliche Liebe daher nicht Ausdruck eines Mangels, sondern im Gegenteil Inbegriff der Vollkommenheit Gottes als des himmlischen Vaters (Mt 5,48).«
144 Jan Quenstedt
2. Zur Perspektive der Systematischen Theologie Krüger beginnt seine Ausführungen mit der Wahrnehmung, dass eine »Krise des religiösen Vaterbildes«20 zu verzeichnen sei. Gestützt werde die Annahme21 einer Krise der Vater-Metapher durch vier Argumente: das religionskritische, das feministisch-theologische, das subjektivitätstheoretische und das trinitätstheologische Argument. In der Summe der genannten Anfragen sei insgesamt für einen Neuansatz in der evangelischen Theologie zu plädieren.22 Die These dieses Neuansatzes lautet: »Die Religion, auch die evangelische Religion, ist im menschlichen Bildvermögen und seiner Einbildungskraft fundiert.«23 Krüger spricht von einer bildhermeneutischen Theologie, die es vermag, ein anschauliches Gottes-Bild zu realisieren und vermittlungstheologisch verstanden werden könne. Vorauszusetzen sei dabei, dass »das (äußere) Bild [als] ein wahrnehmungsnahes Zeichen [verstanden werde], das wesentlich auf die Einbildungskraft angewiesen ist, die sich dabei selbst durchstreicht und die religionsstiftenden Kategorien der Ganzheit und Kontrafaktizität aufweis[e].«24 Grundlegend sei die Einsicht, dass ein Mensch als Sprachwesen auf ein grundlegendes Bilderverstehen angewiesen sei, das äußere Bilder und Zeichen einschließe und eine innere Einbildungskraft erfordere. Eingedenk der Offenheit von Bildern können diese auch den Grund und die Grenze menschlichen Lebens bildtheoretisch auffassen, was in Bezug auf die Wahrnehmung des alltäglichen Horizontes die Frage evoziere: »Und was kommt dann?«25 Wenn nun die »Religion das menschliche Bildvermögen im Horizont des Unbedingten«26 sei, dann geschehe im Christentum eine religiöse Realisation, insofern die Stiftergestalt – spätestens mit den Ostererscheinungen – zum Bild Gottes werde. Die biblische Überlieferung kann in 20 Vgl. den Beitrag von M. D. Krüger, »Godfather«? Das religiöse Vaterbild aus systematisch-theologischer Sicht, in diesem Band 117. 21 Die nachfolgend, auch andernorts vorgetragenen Anfragen bzw. Annahmen bringen Schneider-Flume gar zu der Frage: »Müssen wir Väter nicht abschaffen, anstatt sie zu legitimieren und zu sanktionieren?« G. Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik. Nachdenken über Gottes Geschichte (UTB 2564), Göttingen 22008, 149. 22 Vgl. dazu ausführlich M. D. Krüger, Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion (DoMo 18), Tübingen 2017. 23 Krüger, »Godfather«? (s. Anm. 20), 125. 24 A. a. O., 126. 25 A. a. O., 130. 26 Ebd.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 145
diesem Sinn als ein äußeres Bild verstanden werden, das zur Fibel des inneren Bildes wird. Letztlich mache diese Bildhermeneutik deutlich, dass Gott als ungegenständlicher Fluchtpunkt menschlichen Lebens zu denken sei, »der in dessen Wahrnehmung und Führung immer nur indirekt, gebrochen und aposteriorisch erscheint.«27 Somit zeige sich, dass Religion durchaus eine Projektion des Menschen sei, insofern sie auf dem Bildvermögen des Menschen beruhe, der gezwungenermaßen dies immer wieder gegenständlich symbolisiere. Das geschaffene Gottesbild beziehe sich somit auf eine Dimension des Unbedingten, die den Menschen in seinem religiösen Selbstverständnis übertreffe. Für die Frage nach der Vater-Metapher sei dementsprechend festzuhalten, dass die Gottesprädikate zu unterschiedlichen Akzentuierungen führen können, ohne eine davon zu verabsolutieren. In allen diesen Projektionen gehe Gott nicht auf, sondern verbleibt als ein ungegenständlicher Fluchtpunkt, in dem als Bild auch die subjektivitäts- und trinitätstheologischen Anfragen aufgehoben seien. Letztlich stünde der Vater dann für Ganzheit und Kontrafaktizität, für das schlechthin Ungegenständliche und eine unfassbare Positivität, dessen Rede und Symbolik eine »ungegenständliche Hintergründigkeit zur Sprache [bringe, JQ], aus der und von der wir stets leben, ohne ihrer habhaft werden zu können.«28 Im Sinne der Exemplarizität beschränken sich die Anfragen auf fünf Punkte, zu deren Vorbereitung erneut die Religionsdefinition von Krüger in Erinnerung zu rufen ist: »Die Religion, auch die evangelische Religion, ist im menschlichen Bildvermögen und seiner Einbildungskraft fundiert.«29 Um das hermeneutische Potential der Vater-Metaphorik zu erschließen, geht Krüger somit von einer sehr grundsätzlichen Definition von Religion aus. Die dezidiert theologische Fundierung seiner These und seiner Definition wird besonders am sechsten sog. Springpunkt deutlich und führt zur ersten Frage: (1) Krüger hält fest: »Wenn die Religion das menschliche Bildvermögen im Horizont des Unbedingten ist, dann wird dies im Christentum an und in sich selbst religiös realisiert, wenn die Stiftergestalt – definitiv mit Ostern, und zwar den Ostererscheinungen – zum sich selbst durchstreichenden Bild Gottes wird.«30 Inwiefern aber wird der Auferstandene zum sich selbst durchstreichenden Bild Gottes im Rah27
29 30 28
A. a. O., 132. A. a. O., 138. A. a. O., 125. A. a. O., 130.
146 Jan Quenstedt men der überlieferten Ostererscheinungen? Damit verbunden ist die Verständnisfrage, worauf der Begriff »Bild Gottes« abhebt? Auf eine Vorstellung im Sinne eines imaginären Bildes oder auf ein visuelles Bild? Gegen eine visuelle Identifikation spricht z. B. Lk 24 ebenso wie 1 Kor 15. Der Auferstandene wird nicht als Bild Gottes visualisiert, sondern als der, der er vor der Auferweckung war: Als Gekreuzigter, der nach der lukanischen Überlieferung sogar mit Haut und Haaren greifbar ist und dessen leibliche Auferstehung auch Paulus festhält.31 Selbst diejenigen Jünger, nämlich Petrus, Johannes und Jakobus, die aufgrund ihrer Anwesenheit bei der Verklärung auf dem Berg (Lk 9,28 f. parr.) auf der Erzählebene über ein – gegenüber den anderen Jüngern – erweitertes äußeres Bildrepertoire verfügen, dass sogar phonetische Erinnerungen über die Himmelsstimme birgt, die Jesus als ὁ υἱός μου ὁ ἐκλελεγμένος identifiziert, erkennen nachösterlich in Jesus kein Bild Gottes, sondern den Auferstandenen im Status seiner Gottessohnschaft.32 Auch die Selbstidentifikation des Auferstanden (Lk 24,39) wahrt die Kontinuität zwischen seiner vorösterlichen Person und seiner österlichen Gestalt, geht aber nicht über die Vorstellung der Gottessohnschaft hinaus. Selbst die Deutung der Himmelfahrt des Auferstandenen führt zu keiner Identifikation von Jesus als Bild Gottes, sondern sieht ihn sitzend zur Rechten Gottes seines Vaters (Apg 2,33 f.), der ihn mit dem Heiligen Geist ausstattete (Apg 2,33) und zum Herrn und Christus gemacht hat (Apg 2,36). Somit wird in diesem Geschehen die »unverbrüchliche Liebesgemeinschaft«33 zwischen Gott und Mensch visualisiert. Eine Charakterisierung Christi als Bild Gottes kann somit allenfalls als subjektive Deutungsleistung plausibilisiert werden, insofern die »(schriftlich-kanonischen wie sakramentalen) Erinnerungen«34 durch den Rezipienten entsprechend gedeutet und zu seinem »inneren« Bild werden, das in Tod und Auferstehung Jesu das Wirken Gottes an seinem Sohn und somit in ihm sein Bild erkennt. Der Beginn dieser Deutung Christi zum Bild Gottes ist bereits bei Paulus zu sehen, der anders als in den benannten 31 Zur Bedeutung der leiblichen Dimension der Auferstehung vgl. J. Frey, Biblisch-theologische Reflexionen zum Bekenntnis zur Auferstehung Jesu, in: Herzer / Käfer / Frey, Die Rede (s. Anm. 12), 325 – 349 (330 – 333). 32 Zur Begründung der Gottessohnschaft durch die Auferstehung vgl. Härle, Dogmatik (s. Anm. 15), 347 – 348. 33 Frey, Reflexionen (s. Anm. 12), 349. Vgl. zum systematisch-theologischen Gehalt des Begriffes fernerhin A. Käfer, Erlebte Auferstehung, in: Herzer / Käfer / Frey, Die Rede (s. Anm. 12), 351 – 367 (367). 34 Krüger, »Godfather«? (s. Anm. 20), 131.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 147
Ausführungen in 1 Kor 15 in 2 Kor 4,4 tatsächlich von Christus als Bild Gottes spricht, wie auch der Verfasser des Kolosserhymnus (Kol 1,15 – 20) von Christus als Bild Gottes spricht.35 Demgegenüber spricht der Philipperhymnus (Phil 2,5 – 11) aber wiederum von Christus als μορφῂ θεοῦ und nicht von Christus als εἰκὼν τοῦ θεοῦ (2 Kor 4,4).36 Daran anschließend ist zu fragen, welche neutestamentlichen Begründungszusammenhänge die »bildhermeneutische Theologie«37 für sich in Anspruch nehmen könnte und wie sie das vielfältige biblische Zeugnis in ihre Theoriebildung integriert. Damit ist bereits die zweite Frage vorbereitet: (2) Das Bild von Gott-Vater, das Krüger als »das bildlose Bild für eine geheimnisvolle Gegenständlichkeit, […] [als] eine ins unaufhebbare Dunkel bzw. Licht gehüllte Dimension«38 bezeichnet, steht einer Vielzahl von biblischen Perikopen gegenüber, die ein sehr konkretes, anthropomorphes Vater-Bild vermitteln, wie Zimmermann gezeigt hat.39 Wie lassen sich diese beiden Dimensionen zusammenbringen: Die »ungegenständliche Hintergründigkeit […] aus der und von der wir stets leben«40, wie Krüger formuliert, gegenüber biblisch überlieferten Vatergeschichten und konkreten menschlichen Erfahrungen? (3) Krüger formuliert: Das »Bild von Gott-Vater [steht] nicht für eine reale, gegenständliche Person, die in autoritär-paternalistischer Weise die Welt beherrscht und nach Gutdünken ihre Gesetze durchbrechen und Gnade schenken kann.«41 Demgegenüber bekennt sich das Apostolikum zur Allmacht des Vaters, von der im vorliegenden Band Markus Witte und Michael Moxter sprechen.42 Streng genommen wirkt Gott, selbst als eine personale Projektion menschlicher
35 Zugleich sind weiterhin die Selbstaussagen des johanneischen Jesus zu bedenken, vgl. u. a. Joh 10,10. 36 Dieser Umstand könnte als ein Indiz für die Beurteilung des Hymnus als von Paulus aufgenommenes Traditionsstück angeführt werden. Zur Frage nach der traditionsgeschichtlichen Verortung des Hymnus vgl. U. B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11 / I), Leipzig 1993, 90 – 113. 37 Krüger, »Godfather«? (s. Anm. 20), 137. 38 A. a. O., 138. 39 Vgl. Zimmermann, Referenzen (s. Anm. 5), 101 – 106. 40 Krüger, »Godfather«? (s. Anm. 20), 138. 41 Ebd. 42 Vgl. M. Witte, Vom Glauben an den Allmächtigen und der Bosheit des Menschen. Fünf Thesen aus der Perspektive des Alten Testaments, und M. Moxter »Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das?«, in diesem Band, 155 – 175 und 177 – 193.
148 Jan Quenstedt Einbildungskraft,43 im Licht der biblischen Überlieferungen als ein notorischer Gesetzesbrecher, insofern er sich auf die Menschen einlassend seine eigenen Gesetze missachtet und die Welt eben nicht an ihnen scheitern lässt (vgl. Röm 1,18 – 3,20), sondern dagegen seinen Sohn zur Erlösung sendet und Rechtfertigung wirkt (vgl. Röm 3,21 – 31).44 Gegen die menschliche Verfehlung der Gesetzeserfüllung, die sich aus der Sündenverfallenheit der Schöpfung ergibt, stellt Gott seine Gnade und erweist sich darin, überspitzt formuliert, als Autokrat, der in autoritär-paternalistischer Weise seine eigenen Gesetze zum Heil für die diesen Gesetzen Unterworfenen bricht. Zum Erweis dieses Gesetzesbruchs ist auf das Kreuz Christi zu verweisen, welches »für den christlichen Glauben das Zeichen dafür [ist], dass Gott bewusst darauf verzichtet, die Menschen mit Gewalt zur Ordnung zu rufen, dass er ihre Freiheit respektiert (auch die Freiheit zum Bösen), dass er vielmehr den Sieg seiner ›Allmacht‹ in der Ohnmacht seines Unterliegens erringt.«45 Kann die Theologie demnach – trotz aller berechtigten Anfragen – von der Rede von einem Gott-Vater mit autoritär-paternalistischen Zügen unter dem Vorzeichen der Liebe absehen? (4) Die vierte Frage ergibt sich aus den vorangegangenen Anfragen und bezieht sich auf die Bedeutung des Apostolikums vor dem Hintergrund der vorgetragenen Thesen zu einer bildhermeneutischen Theologie. Das Apostolikum kann, wie alle anderen Glaubensbekenntnisse auch, als eine systematische Reflexion biblisch-theologischer Sachverhalte verstanden werden, die als grundlegender Verstehensrahmen zugleich die Lektüre der Schrift normiert. Üblicherweise wird dabei zwischen norma normans (Schrift) und norma normata (Bekenntnis) differenziert.46 Die mit dieser Unterscheidung verbundenen Probleme hat Rochus Leonhardt auf der ersten Credo-Tagung zur Sprache gebracht.47 Insbesondere zu erwähnen ist der damit verbundene Gedanke einer Lehr- und Traditionskontinuität, die eine »sachliche Kontinuität der christlichen Lehre beansprucht, die von der Bibel über die altkirchlichen Bekenntnisse bis zu den Bekenntnistexten des 43
Vgl. Krüger, »Godfather«? (s. Anm. 20), 133 – 134. Vgl. Jüngel, Tod (s. Anm. 8), 144. 45 U. Kühn, Was Christen glauben. Das Glaubensbekenntnis erklärt, Leipzig 22004, 72. 46 Vgl. R. Leonhardt, Die Bedeutung von Bekenntnissen in Theologie und Kirche zwischen Anspruch der Tradition und aktuellen Herausforderungen, in: Herzer / Käfer / Frey, Die Rede (s. Anm. 12), 55 – 82 (58 – 59). 47 Vgl. ebd. 44
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 149
Reformationsjahrhunderts reicht.«48 Dass diese sachliche Kontinuität nicht in jedem Fall gegeben ist, wird bereits durch die kritischen-konstruktiven Anfragen der Vorträge von Zimmermann und Krüger an das Apostolikum deutlich. Somit steht in besonderer Weise die aktuelle Relevanz von Bekenntnisaussagen auf dem Prüfstand, wie auch eine Auseinandersetzung mit der Theorie von Krüger zeigen kann. Dafür ist zu fragen, welche Relevanz speziell dem Credo für die Entwicklung eines Gottesbildes zukommt, wenn das Gottesbild als »inneres Bild« verstanden wird, das sich aus der Rezeption und der möglichen Negation verschiedener äußerer Bilder ergibt. Wie sind die Schrift und das Apostolische Glaubensbekenntnis, das streng genommen ein abgeleitetes Bild darstellt, vor dem Hintergrund der Bildhermeneutik einander zugeordnet? Wenn die Lektüre der Schrift als äußeres Bild ein inneres Bild evoziert, kann dieses innere Bild dann durch ein abgeleitetes Bild in Form des Apostolikums eine Normierung erfahren? Oder ist dem Apostolikum insofern keine Relevanz mehr zuzumessen, als die Entwicklung religiöser Bilder und Einstellungen ohnehin auf dem je individuellen Repertoire äußerer Bilder basiert? Gleiches ist dann auch für die Schrift zu fragen: Braucht der christliche Glaube Bibel und Glaubensbekenntnisse als Bilderfibeln für ein Gottesbild, oder ist ein konkretes Gott-Vater-Bild gar nicht im Sinne der von Krüger entwickelten Bildhermeneutik? (5) Es ist eine Spannung zwischen den Aussagen von Krüger wahrnehmbar, dass der Vater »nach dem hier Dargelegten für die Perspektive von Ganzheit und Kontrafaktizität [steht], die durch das Bild Jesu gebrochen in der Kraft des Geistes bzw. im Leben der Kirche erscheint«49 und der Beschreibung von Gott-Vater als »ins unaufhebbare Dunkel bzw. Licht gehüllte Dimension«50 in unserer Einbildungskraft, die für das »schlechthin Ungegenständliche steht«51. Welche Möglichkeiten religiöser Kommunikation bestehen vor dem Hintergrund dieser Spannung? Wie lässt sich der »blinde Fleck unseres Lebens«52, der wohl nichts anderes als das »innere« Bild von Gott-Vater meinen kann, kommunizieren, ja plausibilisieren hin zu einem persönlichen Gottesbild? Oder lässt sich über Gott schlichtweg
48
A. a. O., 57. Vgl. Krüger, »Godfather«? (s. Anm. 20), 138. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. 49
150 Jan Quenstedt gar nichts mehr sagen, im stillen Wissen über den Auftrag zur Verkündigung und der Unmöglichkeit seiner Durchführung?53
3. Fazit Welche »sofakissentaugliche« Definition von Liebe würde Kim Casali im Anschluss an die vorliegenden Vorträge wohl formulieren? »Liebe ist …« – Letztlich würde auch dieser und jeder andere Definitionsversuch fehlschlagen: Trotz aller biblischen Bilder und Erzählungen, aller anthropomorphen Zuschreibungen und Vergleiche, bleibt Gott als Gott-Vater immer transzendent und einem konkreten menschlichen Zugriff entzogen. Für das Apostolikum ist dieses Defizit jedoch als Gewinn zu betrachten: Als Glaubensaussage verstanden besitzt das Gott-Vater-Bild eine universale und integrative Funktion, die die Rezipientinnen und Rezipienten an eine persönliche Lebenserfahrung verweist, jedoch nicht bei dieser individuellen Konnotation stehen bleibt, sondern den Vater-Begriff mit Gott verbindet. Durch diese Verbindung kann eine kritische Auseinandersetzung der bzw. des Gläubigen mit der Begrifflichkeit und mit diesem Bild evoziert werden, für die die weiteren Aussagen des ersten als auch die nachfolgenden Artikel des Apostolikums als Lese- und Verstehenshilfen verstanden werden können. Sie explizieren das Bild von Gott als Vater und verbinden es mit weiteren zentralen Topoi christlicher Theologie. In dieser Verbindung erweist sich der erste Artikel des Apostolikums mit der Rede von Gott-Vater als ein Schlüssel, der weitere Glaubensinhalte aufschließt und zugleich von diesen her Gestalt gewinnt. Insofern zeigt sich das Potenzial des ersten Artikels insbesondere im Dreiklang der Artikel des Apostolikums und fügt den anderen Artikeln die entscheidend theo-zentrische Fundierung hinzu, ohne die das Credo in seiner Gesamtheit dem biblischen Zeugnis nicht gerecht werden würde. Kurzum: Mit der Glaubensaussage des ersten Artikels, dass Gott der Vater sei, verbindet sich eine existenzielle Dimension, die die Rezipientinnen und Rezipienten zur Reflexion dieser Aussage anhält und dadurch die bleibende Aktualität der Metapher verbürgt, in dem Wissen um die Dialektik aller Reden über und aller Bilder von Gott. 53 Vgl. K. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: W. Härle (Hg.), Grundtexte der neueren evangelischen Theologie, Leipzig 2007, 102 – 119 (103).
Weiterführende Fragen 151
Weiterführende Fragen 1. Wie können wir der Schwierigkeit begegnen, dass die Erfahrungen einzelner Menschen mit Vaterfiguren einem vertrauensvollen Verhältnis zu Gott als Vater oft im Weg stehen? Welche Erzählungen und Texte aus der biblischen Tradition könnten aufschlussreich sein (vgl. etwa Lk 15,11 – 32)? Kann die Ergänzung durch mütterliche Metaphorik weiterhelfen? 2. Inwieweit kann oder muss von Gott in personaler Weise gesprochen werden? Und sind die biblischen Gottesbilder zu konkret, zu festlegend, unterliegen sie gar dem Bilderverbot? Oder sind sie sinnvolle Ausdrucksformen der in Christus ermöglichten Beziehung zu Gott als dem Erlöser und Schöpfer? 3. Was bedeutet es für den interreligiösen Austausch, dass ein christliches Bild Gottes (als des »Vaters«) erst und wesentlich in der Sendung Jesu Christi und in der durch ihn gewirkten Sündenvergebung wurzelt?
II. »… Allmächtigen …« Von der Bosheit des Menschen Die Rede von Gott als dem Allmächtigen knüpft an die Rede von Gott als liebendem Vater an. Dabei ergibt sich die Herausforderung, Gottes Macht im Verhältnis zu menschlichen Herrschaftsansprüchen und menschlichen Leiderfahrungen (Theodizeefrage) zu denken. Die Rede von Gott als dem Allmächtigen (griech.: παντοκράτωρ) begegnet erst in der Spätzeit des Alten Testaments (häufig in der Septuaginta, z. B. Jdt 16,17; 2 Makk 8,18), und zwar unter der Herrschaft scheinbar allmächtiger Weltreiche. Dabei dient diese Rede gerade nicht dazu, irdische Herrschaft zu legitimieren, sondern umgekehrt, menschliche Herrschaftsansprüche in ihre Grenzen zu weisen. In der Leiderfahrung (Hi 42,2 – 6) hält diese Rede die Unverfügbarkeit Gottes fest und ist zugleich Ausdruck des Vertrauens, dass Gott als der Vater und Schöpfer der Welt in Treue seinen Geschöpfen zugewandt ist. Im Neuen Testament wird Gott nur in der Apokalypse als Pantokrator bezeichnet; hier wird er beschrieben als der, der den Weltmächten entgegentritt, und seine weltweite Herrschaft wird erhofft. Von hier aus ist auch das ikonographisch wirksame Bild von Christus dem Pantokrator (in Apsiden spätantiker Kirchen) abgeleitet. Bei der Rede von Gottes Allmacht ist grundsätzlich ausschlaggebend, wie das Verhältnis von Gottes Wollen, Wissen, Können und Wirken vorgestellt wird. Wird beispielsweise Gottes Wirken nicht in Übereinstimmung mit Gottes Willen gedacht, scheint angenommen zu werden, Gott könne durch andere Mächte daran gehindert sein, seinen Willen zu verwirklichen; dies aber würde seiner All-Macht widersprechen. Zudem ist für die Allmacht des Vaters entscheidend, dass sie nicht Beliebiges oder Liebeswidriges will und wirkt. Vielmehr ist sie die Allmacht seiner Liebe. Dass Gottes Allmacht am Ende des zweiten Glaubensartikels zur Charakterisierung des Vaters Jesu Christi wiederholt wird, stellt die Bedeutung dieser Eigenschaft Gottes heraus.
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen Fünf Thesen aus der Perspektive des Alten Testaments Markus Witte
1. Zeit- und theologiegeschichtliche Hintergründe Die Frage nach der Allmacht Gottes und der Bosheit des Menschen führt theologiegeschichtlich zurück in theologische und anthropologische Diskurse des Judentums der hellenistischen Zeit.
In der hellenistischen Zeit entwickeln sich im Judentum erstmals umfassende Reflexionen über das Wesen Gottes, die sich – einer mittelalterlichen Definition von Theologie entsprechend1 – als systematisch strukturierte Rede über Gott (de deo), durch bzw. von Gott her (a deo) und zu Gott hin (ad deum) ansprechen lassen. Ihnen stehen entsprechende Reflexionen über das Wesen des Menschen zur Seite. Diese Reflexionen haben sich sowohl in kanonisch gewordenen Schriften der Hebräischen Bibel und der Septuaginta niedergeschlagen als auch in zahlreichen nicht kanonisch gewordenen Schriften, die trotz ihres jüdischen Ursprungs in der Spätantike aus dem Hauptstrom der jüdischen Überlieferung ausgeschieden sind und mehrheitlich dank ihrer Rezeption im Christentum überlebt haben. Zwar enthalten auch die älteren israelitisch-jüdischen Schriften aus babylonischer und persischer Zeit vielfältige theologische Aussagen, die sich systematisch klassifizieren und rückblickend zu einer Theologie kombinieren lassen, sodass beispielsweise von einer Theologie der Priesterschrift, der Theologie eines einzelnen Psalms oder der Theologie eines (älteren) Hiobbuches gesprochen werden kann.2 Doch im Schatten des Vordringens Alexanders des Großen (356 – 323 v. Chr.) von der Ägäis 1 Vgl. Albertus Magnus, Commentarii in sententiarum, dist. I, art. II, in: Opera omnia, Bd. 25, hg. v. A. Borgnet, Paris 1893, 15 – 17; ders., Summa theologiae, tract. I, quaest. II, in: Opera omnia, Bd. 31, hg. v. A. Borgnet, Paris 1895, 11 – 12. 2 S. dazu exemplarisch P. Weimar, Studien zur Priesterschrift (FAT 56), Tübingen 2008; H. Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), Göttingen 1989; R. M. Wanke, Praesentia Dei. Die
156 Markus Witte bis an den Indus und der Etablierung hellenistischer Monarchien in Ägypten, Kleinasien und in Syrien kommt es zu einem gewaltigen Theologisierungsschub – nicht nur im Judentum, sondern auch in anderen Religionen des Vorderen Orients. Bezogen auf das Judentum sind wesentliche Faktoren dieses Theologisierungsschubes: 1) die Begegnung mit griechischer Philosophie, vor allem in Gestalt der Vorsokratik, der Stoa und des Epikureismus,3 2) die Auseinandersetzung mit der Ideologie der hellenistischen Herrscher, die den Anspruch erheben, als Götter zu verehrende Stifter von universalem Frieden, Gerechtigkeit, Heil und Wohlstand zu sein,4 3) radikale Veränderungen in der Sozial- und Wirtschaftsstruktur und das rasante Anwachsen einer über den gesamten Mittelmeerraum verbreiteten, vor allem in den großen Städten lebenden Diaspora. Ebenfalls in die hellenistische Zeit fällt die Etablierung der grundsätzlichen religiösen Identitätsmerkmale des Judentums: 1) die Torah in Gestalt des Pentateuchs mit dem inhaltlichen Zentrum im Schema Israel (Dtn 6,4 f.) und im Dekalog (Ex 20,2 – 17; Dtn 5,6 – 21), 2) die Vorstellung, dass Jhwh der einzige Gott ist, der die Welt erschaffen hat, sie erhält und die Geschichte lenkt und der bildlos zu verehren ist, 3) die Überzeugung, dass Israel das erwählte Volk Gottes ist, 4) die Konzentration des Kultes auf den Tempel in Jerusalem, was nicht die (vorübergehende) Existenz weiterer Jhwh-Heiligtümer Vorstellungen von der Gegenwart Gottes im Hiobbuch (BZAW 421), Berlin / Boston 2013. 3 S. dazu M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr. (WUNT 10), Tübingen 31988, 120 – 195; O. Kaiser, Athen und Jerusalem. Die Begegnung des spätbiblischen Judentums mit dem griechischen Geist, ihre Voraussetzungen und ihre Folgen, in: M. Witte / S. Alkier (Hg.), Die Griechen und der Vordere Orient. Beiträge zum Kultur- und Religionskontakt zwischen Griechenland und dem Vorderen Orient im 1. Jahrtausend v. Chr. (OBO 191), Freiburg / Göttingen 2003, 87 – 120. 4 Vgl. H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis (KStTh 9,2), Stuttgart / Berlin / Köln 1996, 18 – 44.
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 157
auf dem samarischen Berg Garizim und im ägyptischen Leontopolis ausschließt,5 5) die ortsunabhängig vollziehbaren Riten der Beschneidung, des Sabbats, des Gebets, des Fastens und des Almosengebens sowie die Einhaltung besonderer Reinheits- und Speisegebote. Gleichzeitig bilden sich in hellenistischer Zeit jüdische Konfessionen, die sich hinsichtlich ihrer Stellung zu diesen fünf Identitätsgrößen, hinsichtlich ihrer Haltung zur paganen griechischen Kultur sowie hinsichtlich der Stellung zum Jerusalemer Hohenpriester und zum in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. entstehenden hasmonäischen Königtum unterscheiden.6 So kennzeichnet das Judentum der hellenistischen Zeit, neben den gemeinsamen religiösen Merkmalen und theologischen Grundüberzeugungen, eine lokale, konfessionelle und sprachliche Pluralität. In diesem vielfältigen Milieu wird das gesamte überkommene Schrifttum aus theologischer Perspektive redigiert. Die Redaktion ist so umfassend, dass jede in der Hebräischen Bibel überlieferte Schrift noch in hellenistischer Zeit Fortschreibungen erfährt. Und es werden in großem Umfang ganz neue Schriften konzipiert, von denen nur ein kleiner Teil in der Griechischen Bibel, der Septuaginta, überliefert wurde, während der ganz überwiegende Teil nicht kanonisch wurde.7 5 S. dazu J. Frey, Temple and Rival Temple. The Cases of Elephantine, Mt. Gerizim, and Leontopolis, in: B. Ego / A. Lange / P. Pilhofer (Hg.), Gemeinde ohne Temple / Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum (WUNT 118), Tübingen 1999, 171 – 203; J. K. Zangenberg, The Sanctuary on Mount Gerizim. Observations on the Results of 20 Years of Excavation, in: J. Kamlah (Hg.), Temple Building and Temple Cult. Architecture and Cultic Paraphernalia of Temples in the Levant (2. – 1. Mill. B. C. E.) (ADPV 41), Wiesbaden 2012, 399 – 418. 6 Zu den innerjüdischen Konflikten, die mit der Übernahme des Hohenpriestertums in Jerusalem und der Etablierung einer judäischen Königsherrschaft im Gefolge des sogenannten Makkabäeraufstandes (167 – 165 v. Chr.) verbunden waren, s. M. Sasse, Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels. Historische Ereignisse – Archäologie – Sozialgeschichte – Religions- und Geistesgeschichte, Neukirchen-Vluyn 2004, 166 – 230; C. Frevel, Geschichte Israels (KStTh 2), Stuttgart 2016, 348 – 366. 7 Zu diesen, in literaturgeschichtlicher Hinsicht problematisch, als »Pseud epigraphen« bezeichneten Schriften s. einführend G. W. E. Nickelsburg, Jüdische Literatur zwischen Bibel und Mischna. Eine historische und lite rarische Einführung (ANTZ 13), Berlin 2018, sowie die Textsammlungen: Outside the Bible. Ancient Jewish Writings Related to Scripture, I – III, hg.
158 Markus Witte Die Frage nach dem Wesen Gottes und des Menschen spielt bei der Redaktion der älteren Schriften und bei der Konzeption der jüngeren eine zentrale Rolle. Sie wird literarisch – und nur auf diese Manifestation der religiösen Artikulation soll hier eingegangen werden – vor allem in drei Bereichen greifbar: affirmativ im Gebet, diskursiv in der Weisheit, dramatisch-narrativ in der Apokalyptik. Diese Bereiche können sich überschneiden. Dies zeigen einerseits die Vielzahl der Gebete im Lehrbuch des Weisen Ben Sira aus der Zeit um 180 v. Chr., auf den die erste große theologische Synthese weisheitlicher, kultischer, prophetisch-eschatologischer und historiographischer Traditionen im antiken Judentum zurückgeht, oder die Hochschätzung des Betens und eschatologischer Vorstellungen in der aus der frühen römischen Kaiserzeit stammenden Sapientia Salomonis,8 andererseits die weisheitliche Sprache, didaktische Tendenz und eschatologischen Aspekte zahlreicher Psalmen aus hellenistischer Zeit im Psalter der Hebräischen Bibel (vgl. z. B. Ps 37; 49; 73), in nicht kanonisch gewordenen Psalmenanthologien aus Qumran (vgl. z. B. 1QHa, ShirShabb)9 und in den Psalmen Salomos (1. Jahrhundert v. Chr.), sowie vieler apokalyptischer Texte (vgl. z. B. Dan; 1 Hen).10 Ich konzentriere mich im Folgenden auf weisheitliche Reflexionen und Gebete im Alten Testament und in frühjüdischen Schriften außerhalb des Kanons, verweise aber zumindest punktuell auch auf prophetische und apokalyptische Texte. v. L. H. Feldman / J. L. Kugel / L. H. Schiffman, Lincoln NE 2013, und: Early Jewish Literature. An Anthology, I – II, hg. v. B. Embry / R. Herms / A. T. Wright, Grand Rapids MI 2018. 8 S. dazu R. Egger-Wenzel / J. Corley (Hg.), Prayer from Tobit to Qumran, Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook 2004, Berlin / New York 2004; S. C. Reif / R. Egger-Wenzel (Hg.), Ancient Jewish Prayers and Emotions. Emotions Associated with Jewish Prayer in and Around the Second Temple period (Deuterocanonical and Cognate Literature Studies 26), Berlin / Boston 2015; M. S. Pajunen / J. Penner (Hg.), Function of Psalms and Prayers in the Late Second Temple Period (BZAW 486), Berlin / Boston, 2017. 9 Textgrundlage für alle in diesem Beitrag zitierten Qumrantexte ist F. García Martínez / E. J. C. Tigchelaar (Hg.), The Dead Sea Scrolls. Study Edition, I – II, Leiden u. a. 1997.1998 (21999). 10 S. dazu einerseits M. Witte, Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Weisheit und Geschichte in den Psalmen (BThSt 146), Neukirchen-Vluyn 2014, und C. Petrany, Pedagogy, Prayer and Praise. The Wisdom of the Psalms and Psalter (FAT II / 83), Tübingen 2015, andererseits B. G. Wright III / L. M. Wills (Hg.), Conflicted Boundaries in Wisdom and Apocalypticism (SBL Symposion Series 35), Atlanta GA 2005.
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 159
2. Allmacht und Herrschaft Gottes Die Frage nach der Allmacht Gottes ist begriffs- und traditionsgeschichtlich zunächst einmal eine Frage nach der Herrschaft Gottes.
Begriffsgeschichtlich gründet das im Apostolikum und im Nizänum versprachlichte Bekenntnis zu Gott dem Allmächtigen in dem griechischen Epitheton παντοκράτωρ und in seiner lateinischen Übersetzung mit omnipotens. Gemäß seiner sprachlichen Bestandteile πᾶν (»alles«) und κρατέω (»herrschen«) steht das Wort παντοκράτωρ für den »Allherrscher«. Als solches dürfte es ein Neologismus des hellenistischen Judentums sein. Zu seiner Bildung haben drei Faktoren beigetragen: 1) Vorstellungen von der Herrschermacht der Götter, wie sie in der altorientalischen Welt vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis in die römische Zeit nachweisbar sind, 2) die modifizierende Aufnahme griechischer Begriffe wie παγκρατής11 oder ὁ πάντων κύριος bzw. ὁ ἁπάντων κύριος12, die seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. als Epitheton für Zeus, aber auch für andere Götter, belegt sind,
11 Vgl. Aischylos, Sept. 255; Suppl. 816; Eum. 918; Sophokles, Phil. 679; Frgm. 684,4; Euripides, Frgm. 431,4; Hymnus auf Zeus vom Berg Dikta (W. D. Furley / J. M. Bremer, Greek Hymns, I – II [Studien zu Antike und Christentum 9 – 10], Tübingen 2001, I, 68 – 75; II, 1 – 20); Kleanthes, Frgm. 1,1 bzw. Bacchylides, Epinicia 11,44. Zur hymnischen Anrede eines Gottes als παγκρατής im paganen Bereich s. W. H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, III / 1, Leipzig 1902, 1535; O. Montevecchi, Pantokrator, in: Studi in onore di A. Calderini e R. Paribeni, II, Mailand 1957, 401 – 432 (402); H. Hommel, Pantokrator, in: Sebasmata. Studien zur antiken Religionsgeschichte und zum frühen Christentum, Bd. I (WUNT 31), Tübingen 1983, 131 – 177 (140 – 151: mit der These, die Stoa habe παγκρατής nicht mehr im Sinn von »allmächtig«, sondern »alles erhaltend« verstanden, was sich punktuell so auch in der jüdischen und christlichen Verwendung von παντοκράτωρ, z. B. im Aristeasbrief 185,2, vor allem aber im Apostolikum niedergeschlagen habe); Furley / Bremer, Hymns, II, 6, und C. Zimmermann, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Hintergrund (AJEC / AGJU 69), Leiden 2007, 234 – 236. 12 Pindar, I. 5,53; vgl. Demosthenes, Epitaph. 21,6 und Plutarch, Mor. 426a sowie Diodor Siculus 3,61,4 (Zeus als κύριος τῶν ὅλων); bezogen auf Osiris bei Plutarch, Mor. 355e; zu weiteren Belegen s. D. Zeller, Kyrios, κύριος, in: DDD2 (1999), 492 – 497 (493); zu Umschreibungen s. auch Montevecchi, Pantokrator (s. Anm. 11), 402.
160 Markus Witte 3) eine Auseinandersetzung mit dem in hellenistischer Zeit, besonders in Ägypten auftretenden Phänomen der Zuschreibung umfassender Kompetenzen an einzelne Allgottheiten, vor allem an die schon im Alten Reich (ca. 2700 – 2220 v. Chr.) verehrte, in hellenistisch-römischer Zeit aber zu einer universalen Göttin aufgestiegenen Isis,13 aber auch an die Götter Sarapis, Suchos und Zeus. Sämtliche bisher bekannten Belege für παντοκράτωρ / παγκράτωρ oder παντοκράτειρα für unterschiedliche griechische und ägyptische Götter und Göttinnen sind jünger als die ältesten Belege für die Anrede Jhwhs als παντοκράτωρ. Es ist gut möglich, dass sich in der paganen Verwendung von παντοκράτωρ ein Reflex auf die vielleicht aus dem ägyptischen Judentum stammende Neubildung zeigt. Im Blick auf die spezifische inhaltliche Dimension und Funktion der frühjüdischen Rede vom παντοκράτωρ sind drei Aspekte zu unterscheiden: 1) die Verwendung von παντοκράτωρ als Übersetzung der hebräischen Gottesbezeichnung (Jhwh) Zebaoth (ṣeba’ôt), so überwiegend in den prophetischen Büchern der Septuaginta, 2) die Verwendung von παντοκράτωρ als Übersetzung der hebräischen Gottesbezeichnung Schaddaj (šaddaj), so ausschließlich im griechischen Buch Hiob,14 3) die Verwendung von παντοκράτωρ als Gottesbezeichnung in genuin auf Griechisch abgefassten jüdischen Schriften aus der hellenistisch-römischen Zeit. Die eigentlichen Motive, die jüdische Schriftgelehrte des 2. Jahrhunderts v. Chr. dazu veranlasst haben, παντοκράτωρ als Übersetzungsäquivalent für (Jhwh) Zebaoth und für Schaddaj zu nehmen, sind nicht ganz klar, da die Grundbedeutung von ṣeba’ôt und šaddaj nicht gesichert ist. Zwar ist unbestritten, dass ṣeba’ôt grammatisch ein Plural des Wortes ṣābā’ »Heer« darstellt. Es ist aber fraglich, ob sich Zebaoth, möglicherweise in der Langform jhwh ’ælohê ṣeba’ôt »Jhwh der Gott Zebaoth« (2 Sam 5,10; 1 Kön 19,10; Am 4,13), auf Jhwhs 13 S. dazu R. Merkelbach, Isis Regina – Zeus Sarapis. Die griechisch-ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt, Stuttgart / Leipzig 1995 (22001). 14 Vgl. M. Witte, The Greek Book of Job, in: T. Krüger / M. Oeming / K. Schmid / C. Uehlinger (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen (AThANT 88), Zürich 2007, 33 – 54.
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 161
himmlische Heerscharen bezieht, und diese dann astral als Sterne oder personifiziert als Engel zu deuten sind, oder auf die irdischen Heerscharen Israels, denen Jhwh in der Schlacht voranzieht. Schließlich könnte ṣeba’ôt auch als Intensivplural für den gesamten von Gott erschaffenen Kosmos gebraucht sein (vgl. Gen 2,1; Neh 9,6). Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass zu unterschiedlichen Zeiten der Religionsgeschichte der Jhwh-Verehrung jeweils eine der genannten Bedeutungen vorherrschte.15 Folgt man der Grundbedeutung von ṣābā’ »Heer«, so ist der Gottestitel Zebaoth stark militärisch konnotiert. Er signalisiert militärische Macht, die auf die Durchsetzung göttlicher Herrschaft zielt. In diese Richtung weist auch die Verbindung des Titels Zebaoth mit der Bezeichnung Jhwhs als dem, der auf bzw. über den Keruben thront, d. h. dem, der auf einem von löwen- und greifenähnlichen Mischwesen flankierten Thron sitzt (vgl. 1 Sam 4,4; 2 Sam 6,2),16 und der als einziger Gott und Schöpfer über Himmel und Erde herrscht (vgl. 2 Kön 19,15 par. Jes 37,16): »Und Hiskias betete vor Jhwh und sagte: Jhwh, du Gott Israels, der du über den Keruben thronst, du bist Gott alleine für alle Königsherrschaften der Erde. Du hast den Himmel und die Erde gemacht.«
Hinsichtlich der sprachlichen Herleitung des Wortes šaddaj gibt es in der Forschung keinen Konsens. Die diskussionswürdigsten Vorschläge reichen von der Rückführung auf das akkadische Wort šadu »Berg« über das ägyptische Wort šed (šd.w) »Retter« bis zu den hebräischen Wörtern šed »Dämon« und šod »Mutterbrust«.17 Die Hebräische Bibel selbst legt eine Zusammenstellung mit der Verbalwurzel šādad »gewalttätig sein« (Jes 13,6; Joel 1,15) nahe. Literaturgeschichtlich begegnet die Bezeichnung Schaddaj in der Form ’el šaddaj mutmaßlich das erste Mal in der Priesterschrift im 6./5. Jahrhundert v. Chr. 15 T. N. D. Mettinger, Yahweh Zebaoth יהוה צבאות, in: DDD2 (1999), 920 – 924; M. Albani, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient (ABG 1), Leipzig 2000. 16 Zu entsprechenden Darstellungen s. M. Metzger, Jahwe, der Kerubenthroner, die von Keruben flankierte Palmette und Sphingenthrone aus dem Libanon, in: ders., Vorderorientalische Ikonographie und Altes Testament. Gesammelte Aufsätze, hg. v. M. Pietsch / W. Zwickel, Münster 2004, 112 – 123 (Abb. 210, Nr. 157 – 169). 17 S. dazu ausführlich M. Witte, From El Shaddai to Pantokrator, in: ders., The Development of God in the Old Testament. Three Case Studies in Biblical Theology (CrStHB 9), Winona Lake IN 2017, 7 – 27 (13 – 16).
162 Markus Witte im Rahmen der Offenbarung Gottes vor Abraham (Gen 17,1). Dabei entwirft die Priesterschrift das dreistufige Konzept einer Geschichte der Offenbarungen Gottes: 1) in der Schöpfung als Elohim »Gott« (Gen 1), 2) als El Schaddaj vor den Vätern Israels (Gen 17,1) und 3) als Jhwh vor Mose (Ex 6,2 f.). Im Zusammenhang der Rede vom Allmächtigen bekommt Gen 17,1 in der lateinischen Bibel, der Vulgata, eine besondere Bedeutung, insofern hier erstmalig in der Bibel von Gott als deus omnipotens (als Übersetzung von ’el šaddaj)18 gesprochen wird: Die Offenbarung vor Abraham lässt sich dann geradezu als ein biblisches Paradigma für die unterschiedlichen Relationen der Vorstellungen vom Allmächtigen lesen. So fordert die unmittelbare Begegnung mit dem allmächtigen Gott auf der Seite des Menschen absolute Anerkennung dieses Gottes (ambula coram me) sowie vollständige religiöse und moralische Integrität (esto perfectus) (Gen 17,1), während sich das Wesen dieses Gottes mittels seines »Bundes« (foedus, pactum) in der Bindung an den Menschen und in der Zusage einer umfassenden Sicherung der Lebensgrundlage zeigt (Gen 17,2 – 9). Der Allmächtige ist in diesem Sinn der Gott, der sich dem Menschen zuwendet, der ihn verwandelt – dies ist der tiefere Sinn der Umbenennung Abrahams (Gen 17,5) – und der ihn auch zur Herrschaft (coram Deo) ermächtigt (Gen 17,6). Alle weiteren, insgesamt nicht sehr zahlreichen Belege von šaddaj – 48 Belegen stehen 6828 Belege19 für Jhwh gegenüber – hängen von der Verwendung der Priesterschrift ab, die das Wort šaddaj vielleicht als bewussten Archaismus (in Anlehnung an die aus der aramäischen Bileam-Inschrift bekannten šaddin-Gottheiten?) geprägt hat.20 Der häufige Gebrauch des Wortes Schaddaj in der Hiobdichtung (Hi 18 Die Septuaginta übersetzt hier nicht mit παντοκράτωρ, sondern mit ὁ θεὸς σου (»dein Gott«), zu den möglichen Gründen für diese Wiedergabe s. Witte, From El Shaddai to Pantokrator (s. Anm. 17), 19. 19 Zahlenangabe nach E. Jenni, יהוהJhwh Jahwe, THAT 1 (62004), 701 – 707 (704), vgl. auch Accordance 12.3.6 OakTree Software, Inc. 20 Zu Text und Übersetzung der Bileam-Inschrift s. K. Jaroš, Inschriften des Heiligen Landes aus vier Jahrtausenden (CD-Rom), Mainz 2001; M. Weippert, Die »Bileam«-Inschrift von Tell Dēr ‘Allā, in: ders., Jahwe und die anderen Götter. Studien zur Religionsgeschichte des antiken Israel in ihrem syrisch-palästinischen Kontext (FAT 18), Tübingen 1997, 131 – 161; ders., Der »Bileam«-Text von Tell Dēr ‘Allā und das Alte Testament, in: ders., Jahwe und die anderen Götter, 163 – 188; E. Blum, Die aramäischen Wandinschriften von Tell Deir ʼAlla, in: TUAT.NF 8 (22015), 459 – 474.
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 163
3,1 – 42,6) basiert auf dem priesterschriftlichen Offenbarungskonzept, wenn sie Hiob und seine Freunde Gott stets – und ohne erkennbaren inhaltlichen Unterschied – als El, Eloah, Elohim oder Schaddaj bezeichnen lässt und von Jhwh nur in der Überschrift der die Lösung des Hiobproblems vorbereitenden Gotteserscheinung und Gottesrede spricht (Hi 38,1).21 Durch die sogenannte Hiobnovelle, die der Dichtung sekundär und in erweiterter Form als Rahmen beigegeben wurde (Hi 1,1 – 2,13; 42,7 – 17), ist dieses Konzept aufgeweicht, insofern sich Hiob jetzt bereits im Prolog zu Jhwh bekennt (Hi 1,21).22 Für die älteste griechische Hiob-Übersetzung (2./1. Jahrhundert v. Chr.), die Schaddaj mit παντοκράτωρ wiedergibt und häufig im Parallelelismus mit κύριος verwendet, steht gleichfalls nicht mehr das Konzept der gestuften Offenbarung oder der prozessualen Gotteserkenntnis im Vordergrund, sondern die Frage nach der alle Lebensbereiche umfassenden Herrschaft Gottes (vgl. Hi 37,22[LXX]). Sie basiert auf dem Schöpfersein und der Wahrung des Rechts (vgl. Hi 8,3 – 5; 33,4; 34,10 [jeweils in der LXX]). Diese auf die Herrschaft Gottes bezogene Dimension und Funktion der Bezeichnung παντοκράτωρ spricht schließlich auch aus einzelnen originär auf Griechisch abgefassten oder nur auf Griechisch erhaltenen jüdischen Schriften der hellenistischen Zeit. So dient der Begriff παντοκράτωρ im Buch Judith (entstanden zwischen 160 / 100 v. Chr.) sowie im zweiten und dritten Makkabäerbuch (beide aus dem 2./1. Jahrhundert v. Chr.) als Kontrapunkt zu den Herrschaftsansprüchen der hellenistischen Herrscher.23 Deren Herrschaft wird durch das Bekenntnis zu Jhwh als dem Allmächtigen relativiert. Die Jhwh Verehrenden werden, auch wenn sie politisch den hellenistischen 21 Vgl. Hi 40,1.3.6; 42,1. Der einzige Beleg für das Tetragramm innerhalb der Dichtung in Hi 12,9 ist textgeschichtlich sekundär. 22 Zur Redaktionsgeschichte des Hiobbuches s. knapp M. Witte, Das Hiobbuch, in: J. C. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments (UTB 2745), Göttingen 62019, 432 – 445, sowie mit einer etwas anderen redaktionsgeschichtlichen Zuweisung Wanke, Praesentia Dei (s. Anm. 2), 430. 23 Vgl. dazu R. Feldmeier, Almighty παντοκράτωρ, in: DDD2 (1999), 20 – 23; ders., Nicht Übermacht noch Impotenz. Zum biblischen Ursprung des Allmachtbekenntnisses, in: W. H. Ritter / R. Feldmeier / W. Schobert / G. Altner (Hg.), Der Allmächtige. Annäherungen an ein umstrittenes Gottesprädikat (BTSP 13), Göttingen 21997, 13 – 42 (24 – 28). Feldmeier leitet den Begriff παντοκράτωρ geradezu aus der Kritik an den Herrschaftsansprüchen Alexanders des Großen und der Diadochen ab und versteht ihn dementsprechend als Ausdruck der politischen Theologie des hellenistischen Judentums.
164 Markus Witte Herrschern, zumal in der Diaspora, unterstehen, als Volk Gottes in den Herrschaftsbereich Jhwhs eingeordnet: »Denn in allen Dingen, Herr, hast du dein Volk groß gemacht und verherrlicht, und hast es nicht übersehen, wobei du ihm zu jeder Zeit und an jedem Ort beistehst.« (SapSal 19,22)
Für die systematisch-theologische Reflexion ist angesichts des mit dem Pantokrator-Titel verbundenen Herrschaftsaspekts zu bedenken, dass sich im Judentum der hellenistischen Zeit neben der Vorstellung der bereits etablierten (ewigen) Königsherrschaft Gottes (malkût jhwh, βασιλεία τοῦ θεοῦ)24 vor allem im Bereich der apokalyptischen Literatur die Idee der sich erst in der Endzeit vollständig durchsetzenden Herrschaft Gottes findet.25 So hat das Bekenntnis zum Pantokrator aus exegetischer Perspektive neben seiner theokratischen Konnotation auch eine stark eschatologische Färbung, es ist gewissermaßen das konfessorische Pendant zur zweiten Bitte des Vater-Unsers: »Dein Reich komme« (Mt 6,10 par.).
3. Allmacht und Gerechtigkeit Gottes Die Frage nach der Allmacht Gottes impliziert die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen.
Herrschaft hängt im Alten Orient sowohl im Blick auf die Welt der Götter als auch im Blick auf die Menschen eng mit der Verpflichtung zusammen, Recht und Gerechtigkeit einzusetzen und für ihren Bestand zu sorgen. Gute Herrschaft ist eine gerechte Herrschaft. Dabei 24 Vgl. Ps 103,19; 145,13; Dan 3,33; 4,31; 1 Hen 84,2; PsSal 17,3. Auch die sogenannten Jhwh-König-Psalmen (Ps 93; 95 – 99) dürften von der bereits realisierten Königsherrschaft Gottes ausgehen, auch wenn sie teilweise eschatologische Aspekte haben; zur Diskussion s. J. Jeremias, Theologie des Alten Testaments (GAT 6), Göttingen 2015, 417; F. Neumann, Schriftgelehrte Hymnen. Gestalt, Theologie und Intention der Psalmen 145 und 146 – 150 (BZAW 491), Berlin / New York 2016, 71 – 74; 149 – 156, u. ö. 25 Vgl. Jes 24,23; 52,7(LXX); Obad 21; Mi 4,7; Sach 14,9.16; PsSal 17,3 f.; SibOr 3,767; Dan 7,13 f. (Übergabe der Herrschaft an den »Menschensohn«); zur eschatologischen Verwendung der Wendung malkût jhwh im frühen Judentum s. auch K. Koch, Offenbaren wird sich das Reich Gottes. Die Malkuta Jahwäs im Profeten-Targum, in: ders., Die aramäische Rezeption der hebräischen Bibel. Studien zur Targumik und Apokalyptik. Gesammelte Aufsätze Bd. 4, hg. v. M. Rösel / M. Krause / U. Gleßmer, Neukirchen-Vluyn 2003, 122 – 131.
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 165
ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der Gerechtigkeit im Alten Orient wesentlich eine relationale Größe ist, mittels derer eine heilvolle, Leben sichernde Beziehung innerhalb einer Gemeinschaft beschrieben wird.26 Die Aussage, dass Gott wesenhaft gerecht und alleiniger Wahrer von Recht und Gerechtigkeit ist, gehört zu den wichtigsten jüdischen Bekenntnissätzen der hellenistischen Zeit.27 Dies ist einerseits ein Erbe älterer israelitisch-jüdischer Vorstellungen von Jhwh, andererseits eine Folge des Ausbaus der göttlichen Gerechtigkeitskonzeption nach dem Untergang des davidischen Königtums 587 v. Chr. Denn auch in Juda galt, wie in den Nachbarkulturen, der König als göttlich legitimierter irdischer Garant von Recht und Gerechtigkeit (vgl. Ps 2; 72). Gleichwohl erfolgt in hellenistischer Zeit eine kritische Infragestellung der vor allem in der älteren israelitisch-jüdischen Weisheit – und insgesamt im Alten Orient und im alten Ägypten – vorausgesetzten Vorstellung, dass der Schöpfergott in diese Welt eine gerechte Ordnung eingesenkt hat, die dem Menschen, der sich an ihr ausrichtet, ein gelingendes Leben schenkt. Damit verbunden gerät auch die Vorstellung von der göttlichen Gerechtigkeit in die Krise. Wesentliche Faktoren für diese Krise sind: 1) die oben genannten politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwälzungen im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr.,28 2) die seit der persischen Zeit zunehmende theologische Durchdringung der Vorstellung, dass Jhwh der einzige Gott und dementsprechend die alles bestimmende göttliche Macht ist, 3) die Erfahrung, dass gerade diejenigen, die sich an die Gebote der im Laufe der späten Perserzeit und der frühen hellenistischen Zeit zur allgemeinen jüdischen Norm gewordenen Torah halten, in Konflikte mit anderen sich absolut setzenden Normen, wie dem hellenistischen Herrscherkult, geraten und wegen ihrer Torahtreue verfolgt werden. 26 S. dazu M. Witte, Von der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen im Alten Testament, in: ders. (Hg.), Gerechtigkeit, Themen der Theologie 6 (UTB 3662), Tübingen 2012, 37 – 67. 27 Vgl. Dtn 32,4; Ps 11,7; 116,5; 119,137; 145,17; Jer 12,1; Klgl 1,18; Dan 9,14; Esr 9,15; Est 4,17n (LXX / Stücke zu Est C 18); Tob 3,2; 2 Makk 1,24; PsSal 10,5; 1QHa VI,26; 4Q408 Frgm. 3+3a,6; TestHi 4,11; 43,13. 28 S. dazu auch A. E. Portier-Young, Apocalypse Against Empire. Theologies of Resistance in Early Judaism, Grand Rapids MI/Cambridge UK 2011.
166 Markus Witte Das Ringen um die Gerechtigkeit Gottes – und damit verbunden um die Gerechtigkeit des Menschen – wird geradezu zu einem Kennzeichen der jüdischen Literatur und Theologie der hellenistischen Zeit. Die Bücher Hiob, Kohelet (3. Jahrhundert v. Chr.) und Jesus Sirach sowie zahlreiche Psalmen, aber auch einzelne Passagen in der apokalyptischen Literatur sind ebenso eindrückliche wie komplexe Zeugen für diese sogenannte Theodizee-Literatur.29 In ihr lassen sich grundsätzlich vier unterschiedliche Typen des Umgangs mit der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes unterscheiden.30 1) Die Problematik wird einfach geleugnet. Nach diesem Typ gilt die Gerechtigkeit Gottes unbedingt. Was einzelne Menschen oder Gruppen als Ungerechtigkeit Gottes erfahren, ist die Folge eines stets gerecht richtenden Gottes (vgl. Hi 8,3 f. bzw. Dan 9,7 – 16; Klgl 1,18). Wo sich der einzelne oder eine Gemeinschaft als ungerecht gerichtet erlebt, hat er oder sie sich selbst noch nicht genau geprüft, ob nicht doch, bewusst oder unbewusst, göttliche Normen verletzt wurden (vgl. Hi 13,23; 33,9 – 12 bzw. Klgl 3,39 f.). Als eine Variante dazu erscheint die Vorstellung, dass das als (ungerechtfertigte) Strafe erlebte Leiden eine Prüfung (»Versuchung«) oder eine Erziehungsmaßnahme Gottes ist, die letztlich der Bewährung oder der Reifung dient.31 Gott erscheint dabei wesentlich als Lehrer.32 In beiden Fällen dieses Typs ist es aber grundsätzlich seitens des Menschen möglich, sich Gott und der Gemeinschaft mit ihm entsprechend zu verhalten, demgemäß ein Gerechter und als solcher gesegnet zu sein.33 29 A. Laato / J. C. de Moor (Hg.), Theodicy in the World of the Bible. The Goodness of God and the Problem of Evil, Leiden 2003; O. Kaiser, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments, Teil 1: Grundlegung (UTB 1747), Göttingen 1993, 139 – 156. 30 Vgl. dazu auch mit einer etwas anderen Schwerpunktsetzung und im Blick auf die alttestamentliche Prophetie J. L. Crenshaw, Theodicy in the Book of the Twelve, in: P. L. Redditt / A. Schart (Hg.), Thematic Threads in the Book of the Twelve (BZAW 325), Berlin / New York 2003, 175 – 191. 31 Vgl. Hi 33,16 f.; 40,8(LXX); Ps 94,12; Sir 2,1 – 18; SapSal 3,1 – 12; Jdt 8,24 – 27. 32 K. Finsterbusch, JHWH als Lehrer der Menschen. Ein Beitrag zur Gottesvorstellung der Hebräischen Bibel (BThSt 90), Neukirchen-Vluyn 2007; P. Pouchelle, Dieu éducateur. Une nouvelle approche d’un concept de la théologie biblique entre Bible Hébraïque, Septante et littérature grecque classique (FAT II / 77), Tübingen 2015. 33 Vgl. Ps 1; 5,12; Spr 3,33; Sir 14,1 f.20; 4Q525 Frgm. 2 II; 3,1 – 3.
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 167
2) Gerechtigkeit wird zu einem ausschließlichen Merkmal Gottes, von dem der Mensch in kreatürlicher Ungerechtigkeit grundsätzlich geschieden ist.34 Leidenserfahrungen gründen dementsprechend in der Kreatürlichkeit des endlich und fragmentarisch geschaffenen Menschen. Das Phänomen, dass es angesichts der gleichen geschöpflichen Konstitution unterschiedliche Schicksale gibt, dass der eine leidet, während der andere ein glückliches Leben führt, entzieht sich nach diesem Modell menschlichem Verstehen. Gerechtigkeit, die im Blick auf die Gerechtigkeit Gottes die vom Menschen als heilvoll erlebte Gemeinschaft mit Gott ist, kann nach diesem Typ nur von Gott selbst geschenkt werden, beispielsweise durch die Gabe seines Heiligen Geistes (Ps 51; 1QHa IV,26; VIII,1 – 15) oder durch eine grundlegende Wesensänderung des Menschen (Jer 31,33; Ez 36,26). 3) Die Spannung zwischen dem Glauben an die Gerechtigkeit Gottes und der Erfahrung diesseitiger Ungerechtigkeit wird eschatologisch aufgelöst, insofern der gerechte Gott den Gerechten jenseitig mit dem ewigen Leben belohnt.35 Diese Lösung kann in prophetischen und apokalyptischen Erwartungen eines Völkeroder Weltgerichts universale oder kosmische Dimensionen annehmen.36 Strukturell entspricht diese eschatologische Lösung der oben erwähnten Vorstellung von der endzeitlichen Durchsetzung der Herrschaft Gottes.
34 Vgl. die sogenannte »Niedrigkeitsredaktion« im Hiobbuch (Hi 4,17 – 19; 15,14 – 16; 25,4 – 6); Ps 143,2; 1QHa V,19 – 22 und dazu M. Witte, Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang (Hi 21 – 27) und die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches (BZAW 230), Berlin / New York 1994, 194 – 205. 35 Vgl. in unterschiedlicher Ausprägung Ps 49; 73; Ez 37,9 f.; Dan 12; 1 Hen 22; 2 Makk 7,14; SapSal 3,1; Hi 42,17a(LXX); 4Q385 Frgm. 2,7 f. und dazu M. Witte, Auf dem Weg in ein Leben nach dem Tod – Beobachtungen zur Traditions- und Redaktionsgeschichte von Psalm 73, in: ders., Von Ewigkeit (s. Anm. 10), 95 – 115. 36 Vgl. Jes 24; 34,2 – 4; Joel 4; Hab 3; Sach 12; 14; Dan 12; 1 Hen 1 – 5; 25,4; 93 + 91,12 – 17; SibOr 3,669 – 701. Zu der in hellenistischer Zeit erfolgten traditionsgeschichtlichen Wandlung der Vorstellung des Gerichts an einzelnen Völkern hin zum Gericht an den Völkern s. O. H. Steck, Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons (BThSt 17), Neukirchen-Vluyn 1991, 23. Zu den verschiedenen frühjüdischen Gerichtsvorstellungen s. knapp K. L. Yinger, Judgment, in: J. J. Collins / D. C. Harlow (Hg.), The Eerdmans Dictionary of Early Judaism (2010), 853 – 855.
168 Markus Witte Die Eschatologie ist ein Wesenszug der jüdischen Theologien der hellenistischen Zeit. So befasst sich jede jüdische Schrift der hellenistischen Zeit, mit Ausnahme der von paganer Mythographie, Geographie und Ethnographie geprägten Geschichtsschreibung, in irgendeiner Weise mit Eschatologie, sei es, dass einzelne eschatologische Vorstellungen zustimmend aufgenommen werden, sei es, dass diese kritisch abgelehnt werden. 4) Das Wesen Gottes wird neu bestimmt. Hier zeigen sich zwei Spielarten. Nach der einen wird unter Wahrung des monotheistischen Grundbekenntnisses, demzufolge Gott das Helle und das Dunkle geschaffen hat (Jes 45,7), das Leben und den Tod bewirkt, Gutes und Böses schickt (Hi 2,9 f.; 5,18; Klgl 3,38; Tob 13,2), auch Ungerechtigkeit in das Wesen und Handeln Gottes integriert – oder das Böse wird, in Aufnahme stoischer Konzeptionen, als das notwendige Gegenüber des Guten im Kontext einer grundsätzlich gut geschaffenen Welt angesehen (vgl. Sir 33,7 – 15 [H]).37 Nach der anderen Spielart wird der Monotheismus aufgeweicht, insofern negative Erfahrungen auf das Wirken menschen- und gottfeindlicher Wesen zurückgeführt werden, die Gott – zumindest vorübergehend – gewähren lässt. Beide Spielarten finden sich paradigmatisch innerhalb des Buches Hiob: – die erste, insofern es am Ende heißt, Hiob habe im Gegensatz zu den Freunden »recht« (nekônāh[LXX]: ἀληθές »Wahres«), über Gott geredet (Hi 42,7 f.). Dieses Urteil schließt auch Hiobs klagende Beschreibungen Gottes als Dämon und als Frevler (vgl. Hi 9,20 – 22; 16,9 – 16), seine Berufung auf die eigene Gerechtigkeit (Hi 13,16 f.; 27,5 f; 31,1 – 40*) und seine Bestreitung der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes (Hi 21; 24,1 – 12) ein;38 37 U. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz und menschliche Verantwortung bei Ben Sira und in der Frühen Stoa (BZAW 298), Berlin / New York 2000, 224 – 273; O. Kaiser, Göttliche Weisheit und menschliche Freiheit bei Ben Sira, in: ders., Vom offenbaren und verborgenen Gott. Studien zur spätbiblischen Weisheit und Hermeneutik (BZAW 392), Berlin / New York 2008, 43 – 59 (55 – 58). 38 So dürfte nekônāh modal im Sinn von aufrichtig (authentisch) und sachlich im Sinn von zutreffend zu verstehen sein (vgl. zu letzterem vor allem D. J. A. Clines, Job 38 – 42 [WBC 18b], Nashville TN 2011, 1231; zu alternativen Deutungen s. M. Oeming, Das Ziel, in: ders./K. Schmid (Hg.), Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid (BThSt 45), Neukirchen-Vluyn 2001, 121 – 142 (135 – 139) und I. Kottsieper, »Thema verfehlt!« Zur Kritik Gottes an den drei Freunden in Hi 42,7 – 9, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 169
– die zweite, insofern die Leiden Hiobs auf die Versuchung bzw. Verführung Gottes durch den Satan zurückgeführt werden (Hi 1,6 – 12; 2,1 – 7, vgl. Jub 17,15 – 18; 1 Hen 6 – 11).39
4. Allmacht und Güte Gottes Die Frage nach der Allmacht Gottes impliziert die Frage nach der Güte Gottes und dem Ursprung des Bösen.
Wenn das Theologumenon von einer alles umfassenden Herrschaft des gerechten Schöpfergottes unbedingt gilt und gleichzeitig nicht geleugnet wird, dass es in der von Gott geschaffenen Welt Ungerechtigkeit und Leid gibt, erhebt sich die Frage nach der Güte Gottes und nach dem Ursprung des Bösen. Beide Aspekte spielen in den theologischen Diskursen des frühen Judentums eine zentrale Rolle, wobei sich eine gewisse Asymmetrie zeigt. Auf der einen Seite steht das grundsätzliche kurze Bekenntnis zur Güte Gottes, zumeist mit den dynamisch zu verstehenden Begriffen ḥæsæd »Huld«, raḥamîm »Barmherzigkeit« und ḥen »Gnade« ausgedrückt, seltener mit dem Begriff ṭôbāh »Güte«.40 Gott gilt als »gnädig und barmherzig« (ḥānûn we-rāḥûm, οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων) und »lebensfördernd / sinnstiftend« (ṭôb, ἀγαθός). Exemplarisch dafür sind zum einen die sogenannte Gnadenformel, die sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche des Alten Testaments und der außerkanonischen frühjüdischen Schriften zieht und die stehender Ausdruck für die Überzeugung ist, dass Gottes Erbarmen stets größer ist als sein
Dialog (Festschrift O. Kaiser), Bd. 2 (BZAW 345 / II), Berlin / New York 2004, 775 – 785. 39 S. dazu H.-J. Fabry, »Satan« – Begriff und Wirklichkeit. Untersuchungen zur Dämonologie der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, in: A. Lange / H. Lichtenberger / K. F. D. Römheld (Hg.), Die Dämonen / Demons. Die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt, Tübingen 2003, 269 – 291. 40 Im griechischsprachigen jüdischen Schrifttum der hellenistischen Zeit begegnen dafür zumeist die Begriffe ἔλεος, χάρις und οἰκτιρμός sowie χρηστότης.
170 Markus Witte Zorn,41 und zum anderen die (seltenere) Bezeichnung Gottes als »der Gute« (hā- ṭôb, ὁ ἀγαθός / ὁ χρηστός).42 Auf der anderen Seite stehen breite literarische Reflexionen über den Ursprung des Bösen und über die Herkunft menschlicher Bosheit.43 Dabei zeigen sich im Wesentlichen zwei Strömungen. Zum einen wird das Böse anthropologisch auf eine im Menschen selbst vorhandenen Anlage zum Bösen zurückgeführt. Diese Herleitung findet sich mit unterschiedlichen Modifikationen z. B. bei Ben Sira, in diversen Qumrantexten,44 in der Sapientia Salomonis, bei Philon von Alexandria (ca. 25 v. Chr.–50 n. Chr), im Vierten Esrabuch (1. Jahrhundert n. Chr) oder in der syrischen Baruchapokalypse (2. Jahrhundert n. Chr.).45 So kann im Gefolge von Gen 6,5 und 8,21 beispielsweise Ben Sira von einer grundsätzlichen »Neigung« (jeṣær, διαβούλιον) des Menschen zum Bösen sprechen (Sir 15,14).46 Dabei ist vorausgesetzt, dass der Mensch grundsätzlich die Freiheit hat, sich zwischen Gut und Böse, zwischen dem, was dem Leben dient, und dem, was dem Leben schadet, zu entscheiden (vgl. Gen 3; Dtn 30; Sir 15,11 – 20). Als göttliches Hilfsmittel, dem Bösen zu widerstehen, hat 41 Vgl. Ex 34,6 f.; Joel 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17; Sir 2,11; CD-A II,4; 1QHa VIII,24; 4Q511 Frgm. 52, 54 – 55, 57 – 59,1 [Kol. III,1]); s. dazu R. Scoralick, Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen aus Ex 34,6 f. und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch (HBS 33), Freiburg i. Br. u. a. 2002; M. Franz, Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6 – 7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt (BWANT 160), Stuttgart 2003. 42 Vgl. Jer 33(40),11; Nah 1,7; Ps 34(33),9; 100(99),5; 118(117),1.29; 119(118),68; 135(134),3; 136(135),1; 145(144),9; Klgl 3,25; 2 Chr 30,18; Sir 45,25 (HB); 4Q403 Frgm. 1 I,5; Mk 10,18 par. Mt 19,17; Lk 18,19. 43 S. dazu B. Ego / U. Mittmann (Hg.), Evil and Death. Conceptions of the Human in Biblical, Early Jewish, Greco-Roman and Egyptian Literature (Deuterocanonical and Cognate Literature Studies 18), Berlin / Boston 2015. 44 1QHa; 1QS V; X,9 – XI,22; 4QBarNaf; 4Q393; 4Q504 – 506; 11QPsa XXIV. 45 M. T. Brand, Evil Within and Without. The Source of Sin and Its Nature as Portrayed in Second Temple Literature (Journal of Ancient Judaism. Supplements 9), Göttingen 2013, 35 – 146; K. Schmid, Genealogien der Moral. Prozesse fortschreitender ethischer Qualifizierung von Mensch und Welt im Alten Testament, in: H.-G. Nesselrath / F. Wilk (Hg.), Gut und Böse. Philosophische und religiöse Konzeptionen vom Alten Orient bis zum frühen Islam (ORA 10), Tübingen 2013, 83 – 102 (84 – 86). 46 Vgl. TestRub 4,9; TestJud 11,1; 13,8; 18,3; TestDan 4,2.7; TestGad 5,3.7; 7,3; TestAss 1,8 – 9; TestJos 2,6; TestBen 6,1.4. Zu Sir 15 vgl. O. Kaiser, Die stoische Oikeiosis-Lehre und die Anthropologie des Jesus Sirach, in: ders., Vom offenbaren und verborgenen Gott (s. Anm. 37), 60 – 77 (73 f.).
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 171
Gott dem Menschen die Torah, das »Gesetz des Lebens« (Sir 17,11 [G]; 45,5),47 die Weisheit (σοφία, SapSal 8,21 – 9,18)48 oder die Einsicht in das »Geheimnis des Gewordenen« (rz nhyh, 4Q416 Frgm. 2 I,5)49 gegeben. Wo die Freiheit des Menschen bestritten und eine geschöpflich bedingte, wesenhafte Bosheit aller Menschen behauptet wird (vgl. 1QS XI,19 – 22), bleiben nur die Aporie und die Hoffnung auf eine gnädige Zuwendung Gottes (vgl. Klgl 3,22 f.; Ps 143,1 f.; 1QHa V,20 – 24; XII,29 – 33). Diese kann in der Zeit, aber auch erst am Ende der Zeit erwartet werden. Theologisch verbindet sich diese Erwartung weniger mit der Vorstellung von Gott dem Herrscher als mit der von Gott dem Schöpfer und mit der Vorstellung einer Neuschöpfung des Menschen. Zum anderen kann das Böse mythologisch auf eine von außen über den Menschen und die Welt hereinbrechende gegengöttliche Macht zurückgeführt werden. Eine solche externe, angelologisch-kosmologische Herleitung begegnet in unterschiedlichen frühjüdischen Dämonologien,50 wie z. B. im ersten Abschnitt des sogenannten Buches der Wächter, einer ursprünglich selbständigen apokalyptischen Schrift aus dem 3./2. Jahrhundert v. Chr., die heute ein Teil des äthiopischen Henochbuches ist (1 Hen 6 – 11), im Jubiläenbuch (2. Jahrhundert v. Chr.) sowie in apotropäischen Gebeten und in Thematisierungen Belials in verschiedenen Schriften aus Qumran.51 Auch die Rückführung des Todes auf den »Neid des Teufels« in SapSal 2,24 spiegelt diese Vorstellung.52 Die Überwindung des Bösen durch Gott vollzieht 47 Vgl. M. Witte, »Das Gesetz des Lebens«. Eine Auslegung von Sir 17,11, in: ders., Texte und Kontexte des Sirachbuchs. Gesammelte Studien zu Ben Sira und zur frühjüdischen Weisheit (FAT 98), Tübingen 2015, 109 – 121. 48 S. dazu M. Gilbert, La structure littéraire de Sg 9, in: ders., La Sagesse de Salomon – The Wisdom of Solomon. Recueil d’études, Rom 2011, 167 – 201; ders., Volonté de Dieu et don de la Sagesse (Sg 9,17 – 18), in: ders., La Sagesse, 203 – 229. 49 S. dazu J.-S. Rey, 4QInstruction: sagesse et eschatologie (Studies on the Texts of the Desert of Judah 81), Leiden / Boston 2009, 56 f.; M. J. Goff, Discerning Wisdom. The Sapiential Literature of Dead Sea Scrolls (VT.S 116), Leiden / Boston 2007, 13 – 29. 50 S. dazu Lange / Lichtenberger / Römheld, Die Dämonen (s. Anm. 39); A. T. Wright, The Origin of Evil Spirits. The Reception of Genesis 6.1 – 4 in Early Jewish Literature (WUNT II / 198), Tübingen 2005. 51 So z. B. in 4Q444; 4Q510 – 511; 11QPsa XIX; ALD bzw. in CD; 4QApocrJer; 1QM; 4Q174; 4Q280; 4Q286 – 290; 1QS III – IV; Brand, Evil (s. Anm. 45), 147 – 274. 52 S. dazu M. Witte, God and Evil in the Wisdom of Solomon, in: S. C. Jones / C. Roy Yoder (Hg.), »When the Morning Stars Sang« (Essays in Honor
172 Markus Witte sich dann als ein Kampf oder ein Strafakt Gottes, der dem Bösen einen zeitlich befristeten Raum gelassen hat, ohne dass dadurch seine Macht grundsätzlich in Frage gestellt wäre. Hier spielt die Figur Gottes als Herrscher bzw. als Allherrscher eine besondere Rolle. So beinhaltet die Rede von Gott dem Allmächtigen auch die Überzeugung von Gottes Macht über das Böse und, soweit dieses in einzelnen Texten personifiziert gedacht wird, wie z. B. in 1 Hen, Jub oder SapSal, über den Bösen. Das Bekenntnis zu Gott dem Allmächtigen erweist sich damit auch als ein affirmatives Korrelat zur siebten Vater-Unser-Bitte: »Erlöse uns von dem Bösen« (Mt 6,13 par., vgl. SapSal 16,8; Est 10,9 [Vg]; Sir 33,1 [Vg]).
5. Ausblick: Der Glaube an den Allmächtigen im Kontext des alttestamentlichen Gottesverständnisses Der Glaube an den Allmächtigen ist Ausdruck eines monotheistischen, dynamischen, personalen und partizipatorischen Gottesverständnisses.
Die vorangehenden Ausführungen haben zu verdeutlichen versucht, dass der im christlichen Credo ausgedrückte Glaube an Gott den Allmächtigen aus der Perspektive des Alten Testaments grundsätzliche Fragen nach dem Wesen und Handeln Gottes und des Menschen impliziert, näherhin nach der göttlichen Herrschaft und Gerechtigkeit, nach dem Schöpfersein und der Güte Gottes sowie nach dem Ursprung und der Überwindung des Bösen. Weitere Implikationen, wie die Frage nach der Freiheit Gottes und des Menschen, konnten in diesem Rahmen nur gestreift werden. Texte wie Gen 3 – 4, Jer 18,1 – 10; 20,8 – 12, Ez 18 oder Pred 3 und 9 müssten hier weiter bedacht werden.53 Insgesamt sollte aber klar geworden sein, dass aus alttestamentlicher Perspektive die Frage nach der Allmacht Gottes eine protologische, auf die Schöpfung und das fortwährende schöpferische Handeln Gottes bezogene, und eine eschatologische, auf eine of Choon Leong Seow on the Occasion of His Sixty-Fifth Birthday, BZAW 500), Berlin / Boston 2018, 255 – 271. 53 Vgl. auch Sir 15,11 – 16,23; 33,7 – 15; 1 Hen 98,4 – 8 und dazu Hengel, Judentum (s. Anm. 3), 254 – 257; Kaiser, Göttliche Weisheit und menschliche Freiheit bei Ben Sira, in: ders., Vom offenbaren und verborgenen Gott (s. Anm. 37), 43 – 59.
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 173
unumkehrbare, endgültige Wende zum Heil bezogene, herrschaftliche Dimension hat. Die affirmative, diskursive und dramatisch-narrative Rede vom Allmächtigen lässt sich dabei in ein Verhältnis zu fünf Grundstrukturen bzw. Grundüberzeugungen des alttestamentlichen und frühjüdischen Gottesverständnisses setzen. 1) Aus der monotheistischen Anlage der Jhwh-Verehrung, wie sie sich in hellenistischer Zeit fest etabliert hat, ergibt sich die Zuschreibung umfassender und universaler Herrschaft an den einen Gott Jhwh. Dieser kann im Gebet affirmativ als der Allherrscher angesprochen, im weisheitlichen Dialog zum Streit herausgefordert oder im apokalyptischen Drama dargestellt werden. Gleichzeitig fordert die monotheistische Ausrichtung zu einer Klärung des Ursprungs, Wesens und Herrschaftsbereichs anderer, gottfeindlicher Mächte heraus. 2) Jhwh wird von den Anfängen seiner Verehrung an als ein dynamischer Gott bekannt.54 Dieser aus dem Polytheismus stammende Aspekt, der Jhwh in Konkurrenz zu anderen Göttern sieht, bleibt auch nach der Etablierung des Jhwh-Monotheismus erhalten. In der aus der Perserzeit, wenn nicht erst aus der hellenistischen Zeit stammenden Bezeichnung Jhwhs als ’æhejæh ’ašær ’æhejæh (»ich bin, der ich bin«/»ich bin jeweils der, als der ich mich aktuell erweise«, Ex 3,14 f.)55 wird diese Dynamik auf den Punkt gebracht und in der in hellenistischer Zeit entstehenden Apokalyptik im Rückgriff auf alte Mythologeme narrativ besonders entfaltet. Bezogen auf die Anrede Gottes als des Allmächtigen, ergibt sich aus diesem dynamischen Aspekt, dass Gottes Herrschaft sowohl da ist als auch sich jeweils im Werden und im Wachsen befindet. Wo die Herrschaft Gottes aufgrund von Ungerechtigkeit und Leid als eingeschränkt erfahren wird, kann dementsprechend auf die Durchsetzung der Herrschaft Gottes, verbunden mit der endgültigen Überwindung von Ungerechtigkeit und Leid, vertraut und gehofft werden. Diese Hoffnung hat individuelle, kollektive und universale Dimensionen.
54 Zu den Anfängen der Jhwh-Verehrung s. J. van Oorschot / M. Witte (Hg.), The Origins of Yahwism (BZAW 484), Berlin / Boston 2017. 55 Vgl. Dtn 32,39; Jes 41,4; 48,12; 3 Hen 42,2. S. dazu G. Lepesqueux, L’exposition du nom divin dans le livre de l’Exode: Étude exégétique d’Ex 3,1 – 4,18; 6,2 – 7; 33 – 34 (FAT II / 102), Tübingen 2019.
174 Markus Witte 3) Wesentlich für das alttestamentliche und frühjüdische Gottesverständnis ist seine personale und dialogische Struktur. Im Blick auf die Frage nach der Allmacht ergibt sich daraus die Möglichkeit, zum Allmächtigen zu beten, sei es lobpreisend angesichts einer als umfassend wahrgenommenen heilvollen Zuwendung Gottes (2 Makk 1,25; Jdt 16,5), sei es klagend angesichts der Erfahrung des Fehlens einer solchen (Hi 23,16[LXX]; 27,2), sei es um ein rettendes Eingreifen bittend (3 Makk 2,2; 6,2). Das Gebet und die konkrete Gottesbegegnung sind dann der entscheidende Raum, in dem die Herrschaft Gottes jeweils zum Ereignis wird und in dem der je Einzelne für sich zur Erkenntnis kommen kann, dass Gott alles vermag und ihm nichts unmöglich ist (Hi 42,2[LXX], vgl. Gen 18,14; Jer 32,17): »(2) Gepriesen seist du, o Herr, König, groß und mächtig in deiner Größe, Herr der ganzen Schöpfung des Himmels, König der Könige und Gott der ganzen Welt! Deine Gottheit, deine Königsherrschaft und deine Majestät währt für immer und in alle Ewigkeit, und deine Macht für alle Generationen. Und alle Himmel (sind) dein Thron in Ewigkeit und die ganze Erde der Schemel deiner Füße für immer und in alle Ewigkeit. (3) Denn du hast geschaffen und herrschst über alles, und kein Tun – überhaupt nichts – ist dir zu schwer, und wendet sich nicht von dem (Ort) deines Thrones und nicht von deinem Angesicht; und du weißt und siehst und hörst alles, und es gibt nichts, was vor dir verborgen wäre, denn du siehst alles.« (1 Hen 84,2 f., vgl. 1 Hen 49,4)56
4) Der Glaube an den Allmächtigen, wie er sich aus den hier skizzierten biblischen und nicht kanonisch gewordenen Schriften des frühen Judentums entwickelt, schließt die Vorstellung von der Partizipation an der Herrschaft dieses Gottes ein. Die Idee der menschlichen Teilhabe an der göttlichen Herrschaft verläuft traditionsgeschichtlich über die Stufen der Vorstellung vom König als dem göttlich eingesetzten Wahrer von Recht und Gerechtigkeit (vgl. Ps 72) und, daraus abgeleitet, vom Menschen als dem in der Schöpfung zum Repräsentanten Gottes bestimmten Wesen, das mit göttlicher Herrlichkeit (kābôd, δόξα) ausgestattet ist (vgl. Gen 1,26 f.; Ps 8,5 f.). Diese Vorstellung wird flankiert vom Motiv der göttlichen Erwählung und Bevollmächtigung des Schwachen.57 Sie mündet in der Hoffnung, dass diejenigen, die die Torah gehalten, 56 Übersetzung aus S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V / 6), Gütersloh 1984, 677 f. 57 Vgl. Ex 4,10 – 12; Dtn 7,7 f.; Ri 6,24 f.; 1 Sam 2,8; Jer 1,5 – 10; Jes 52,13 – 53,12; Ps 113,8.
Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen 175
Gerechtigkeit geübt und sich an der göttlichen Weisheit ausgerichtet haben, »die Völker richten und über Nationen herrschen werden, während ihr Herr auf ewig König sein wird« (SapSal 3,8).58 5) Schließlich ist beim Glauben an den Allmächtigen aus der Perspektive des Alten Testaments zu bedenken, dass Jhwh auch ein Gott ist, der an und mit dem Menschen und seiner Schöpfung leidet (Gen 6,6; Dtn 32,6; Jes 54,6). So impliziert das Bekenntnis zum Allmächtigen die Vorstellung, dass der Gott, der Gerechtigkeit herstellt und der aus dem Bösen rettet, auch aus dem Tod, selbst an Ungerechtigkeit und am Bösen leidet. Das Korrelat zum leidenden Gerechten ist der leidende Gott, das Gegenüber zum Allherrscher der Allerbarmer (Ps 145,9; Sir 18,3 [G]; SapSal 11,23).59
58 Vgl. SapSal 4,16; Dan 7,22.27; 1 QpHab V,3 f.; 1 Hen 96,1; Mt 19,28; 1 Kor 6,2 f.; Apk 20,4. 59 Vgl. Röm 11,32 und 1 Tim 2,4. In der Fluchtlinie dieses Motivs liegen dann, je auf ihre Weise, einerseits die altkirchliche Verwendung des Begriffs des »Allbarmherzigen« (πανελεήμων), z. B. bei Johannes Chrysostomus (In epistulam II ad Corinthos [homiliae 1 – 30], hom. 2,5; PG 61, 399, 37 – 46), und andererseits die muslimische Doxologie des Erbarmers (ar-raḥmān) und Barmherzigen (ar-raḥim), mit der jede Sure des Korans (mit Ausnahme der neunten Sure) beginnt.
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? Michael Moxter
1. Voraussetzungen Die dogmatische Arbeit besteht immer auch darin, mögliche Missverständnisse zu identifizieren und Wege ihrer Vermeidbarkeit zu bahnen. So gehört es zu den Risiken des mir gestellten Themas, dass jemand auf den Gedanken verfallen könnte, das Credo sei so etwas wie ein Sammelsurium von Inhalten bzw. von propositionalen Sachverhalten, die »geglaubt werden« bzw. »geglaubt werden sollten«. Einen solchen Eindruck zähle ich zu den Missverständnissen, die abgehalten werden müssen – und auch abgehalten werden können, wenn man phänomenologischen Sinn für die intentionale Verschränkung von Glaubensakt und Glaubensgegenstand aufbringt und also bei der Bearbeitung der im Credo vorkommenden Begriffe mitthematisiert, was der Glaube über sich selbst sagt, als was und wie er sich zeigt und versteht und warum er, solches sagend und bekennend, ganz er selbst und zugleich ganz bei seinem Gegenstand, bei Gott, ist. Das Problem der Verwechslung des Apostolikums oder anderer Bekenntnisse mit einer Liste von Behauptungen stellt sich verschärft, wenn man darauf aufmerksam macht, dass »Allmacht« die einzige Eigenschaft sei, die das Apostolikum Gott zuschreibt – und wenn man im Interesse der gegenständlichen Näherbestimmung fragt, was daraus für die Interpretation anderer Eigenschaften Gottes folgt. So schreibt Karl Barth: »Die ältesten Glaubensbekenntnisse haben sich bekanntlich damit begnügt, Gott diese eine Eigenschaft beizulegen: credo in Deum patrem omnipotentem, παντοκράτορα. Sie haben offenbar gerade in dieser Eigenschaft den Inbegriff aller anderen, gewissermaßen ihr Kompendium gesehen.«1 Es scheint mir jedoch voreilig, den Befund der faktischen Solitärstellung des Allmachtsprädikats so zu interpretieren als handele es sich bei ihm um die wichtigste und fundamentale Eigenschaft Gottes bzw. um ein Prädikat, das stellvertretend für alle anderen Eigenschaften stehe, gleichsam als Abbreviatur der dogmatischen Abhandlung de Deo. Statt abstrakt bei isolierten Ge1
K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik (KD) II / 1, Zürich 21946, 587.
178 Michael Moxter halten anzusetzen, bedürfen Glaubenssätze im Allgemeinen und das Apostolikum im Besonderen einer Analyse ihrer Funktion bzw. ihres pragmatischen Sinns: Was geschieht, indem in dieser Form gesprochen wird? Welche Leistung erbringt das Credo für die Gläubigen? Was tun wir, wenn wir unseren Glauben bekennen? Vergleicht man im Augsburger Bekenntnis (CA XIX) den lateinischen und den deutschen Text, so sieht man, dass die Einfügung des Wortes »allmächtig« die Art und Weise näherbestimmt, in der Gott die Welt erschafft und erhält. Die Einfügung stellt klar, dass der Schöpfer das auch kann, was ihm als Tat zugeschrieben wird. Vor allem aber wird mit ihr ausgeschlossen, dass dem Schöpfer ein anderer in die Quere kommen könnte, am Ende gar ein anderer Gott, dessen Nebentätigkeit das Werk der Schöpfung ins Zwielicht setzen könnte. Der Allmachtbegriff dient als eine Bekräftigungs- und Ausschlussformel, die den Glauben an Gott den Schöpfer präzisiert. Es wird mit ihm eine monotheistische Zuspitzung vollzogen und zugleich im Sinne der in dieser Sektion unserer Tagung gestellten Frage nach dem Ursprung des Bösen bzw. der Sünde die Ausschließlichkeit dieses Gottes und die uneingeschränkte Kompetenz seines Handelns markiert. Gott ist nicht nur Einer, sondern der Einzige (um mit Hermann Cohen zu sprechen2) und als solcher wird er als »Schöpfer des Himmels und der Erde« geglaubt und bekannt. (An die religions- und kulturhistorischen Kontexte der Entstehung dieses Glaubens erinnert der Beitrag von Markus Witte.) Es ist weder selbstverständlich noch unproblematisch, wenn diese Markierungsformel zu einem selbständigen und sogar inhaltlich zu priorisierenden Gottesnamen gemacht wird, also promiscue von Gott und vom »Allmächtigen« geredet wird. Ob unter diesem Titel vom Gott der Juden (der auch der Christen Gott ist) angemessen gesprochen wird, war schon vor Hitlers Verwendung dieses Prädikats eine naheliegende Frage. Der Talmud berichtet jedenfalls Folgendes (und Cohen zitiert es, um »Attribute der Handlung« zu präzisieren): » ›In Gegenwart Rabbi Channinas betete einst jemand die Worte: o Gott, großer, mächtiger, furchtbarer, erhabener usw. Da sprach R. Channina zu ihm: hast du nun erschöpft den Preis deines Herrn?‹ « Cohen kommentiert diese Frage, die sprachlich nahe am heute umgangssprachlichen Format: »Sag mal, hast Du’s nun?« liegt, mit der
2
2 H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Köln 1959, 41 – 57.
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? 179
Bemerkung, R. Channina ziele darauf, »das Recht, die Eigenschaften Gottes im Gebete anzurufen, auf die ausdrückliche Anrufung derselben in der Schrift« zu beschränken, nämlich auf die » ›dreizehn Eigenschaften‹ […]: ›barmherzig und gnädig, langmütig und groß an Liebe und Treue. Er bewahrt die Liebe bis ins tausendste Geschlecht, er vergibt das Vergehen, die Missetat und die Sünde. Und lässt nicht ungestraft‹.« (Ex 34,6 – 7)3 Die Rede von der Macht Gottes wird auch hier zurückgestuft, fungiert auch in dieser jüdischen Perspektive als Platzhalter für die Überzeugung, dass niemand Gottes Liebe und Gerechtigkeit (in diesen beiden Eigenschaften sieht Cohen die dreizehn Weisen, Gott bei seinem Namen zu nennen, zusammengefasst4) Widerstand leisten, sich dem Handeln Gottes in den Weg stellen kann. Nimmt man diese Beobachtung zur Funktion des Begriffs ernst, dann legt sich eine Zuspitzung des ersten Artikels des Apostolikums auf das Verhältnis von Allmachtsbegriff und Bosheit des Menschen im Sinne des gestellten Themas (und mithin auf Probleme der Herkunft der Sünde bzw. der Willensfreiheit einerseits, der Theodizee andererseits) nicht unmittelbar nahe. Von beiden Problembereichen ist im Apostolikum keine Rede. Es beschränkt sich mit dürren Worten auf die Konkurrenzlosigkeit und Alleinzuständigkeit des Gottes, zu dem es sich bekennt. Solch theologischer Minimalismus mag helfen, das Credo im Gottesdienst mitsprechen zu können, weil es nicht darauf verpflichtet, irgendeine der denkbaren Lehrmeinungen im Streit um diese Fragen für verbindlich zu halten. Auch das macht die Bedeutung und Wirkmächtigkeit des Apostolikums aus, die nicht in seinem Alter und seiner unterstellten Apostolizität allein gründen, sondern in der Prägnanz, die zugleich Großzügigkeit ermöglicht.5 Allerdings folgt aus dieser Einschätzung nicht, dass wir uns entsprechende Reflexionen ersparen könnten. Diese werden ja ausgelöst durch Erfahrungen mit dem Credo, etwa wenn Situationen des eigenen Lebens die Frage aufwerfen, ob und in welchem Sinne wir dieses Bekenntnis heute erneuern und folglich als unser eigenes verstehen können. Nur folgt daraus noch nicht, dass Antworten auf solche Fragen allein dadurch zustande kommen, dass man das Glaubens3
Talmud Berach 33b; vgl. Cohen, Religion der Vernunft (s. Anm. 2), 109. Vgl. a. a. O., 114. In Anlehnung an Blumenberg formuliert, aber auch in Abweichung: Blumenberg zufolge ist die Großzügigkeit des Symbols der ästhetischen Form der bachschen Musik gedankt (H. Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a. M. 1988, 45). 4
5
180 Michael Moxter bekenntnis in eine rational-stringente theistische Weltanschauung ausbaut und umformt, auf die Gefahr hin, das Credo schließlich im krisenhaften Verfall der vermeintlichen Rationalität seinerseits zum Verstummen verurteilt zu sehen. Für die dogmatische Arbeit scheint es mir vor diesem Hintergrund unverzichtbar, die historisch-exegetischen Zusammenhänge zwischen Königtum und basileia tou theou (letzteres in der Dopplung von Herrschaft und Reich Gottes) wahrzunehmen und also vom abstrakten Prädikat einer potentia Dei absoluta auf das der potestas des handelnden Gottes abzusteigen. Indem der Glaube sich zu Gott dem Schöpfer bekennt, bestreitet er anderen »Herren, Mächten und Gestalten«6, dass in ihren Händen sämtliche Handlungsfäden zusammenlaufen, ihre Entscheidungen und Dekrete das letzte Wort behalten. Pointiert das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer die Einzigkeit seiner Herrschaft, so kann es zur Kritik bestimmter Herrschaftsformen ermuntern und eine Art Sperrklinkeneffekt für imperiale Selbstinszenierungen auslösen. Es kann das tun, aber bekanntlich leistet das Bekenntnis dies nicht automatisch oder notwendigerweise, scheint es doch allzu oft im Gegenteil den Willen zur Macht zu bestätigen und dessen innerer Logik anhaltender Machtsteigerung zu erliegen. An dieser Rückkopplung mit dem Politischen bzw. an der Präsenz Politischer Theologie mitten im Credo zeigt sich, dass Bekennen stets auch eine eminent praktische Angelegenheit ist. Die Beobachtungen Markus Wittes zur Herkunft des Allmachtsprädikats aus der Selbstbeschreibung des Königtums wird der systematische Theologe jedenfalls auf das Problem der Souveränität beziehen. Dass der Souverän nicht mehr die höchste Macht innehätte, wäre er seinerseits an eine Verfassung gebunden, war das Argument, das Debatten um die Grundlagen des Staatsrechts, um den sogenannten Ausnahmezustand oder die Begnadigungspraxis des Grundgesetzes bestimmte, und zur Gegenthese animierte, erst das verdiene in Wahrheit »Macht« genannt zu werden, was in geregelten Verfahren legitimiert werden kann. Wirkliche Stärke realisiere sich gerade in »gebundener« Machtausübung.7 Das Problemfeld bedarf eines genaueren Blicks. 6 In Anlehnung an die erste These der Barmer Theologischen Erklärung formuliert. 7 Zu denken ist an den Streit zwischen Carl Schmitt und Hans Kelsen. Nach J. Kaftan bedeutet Allmacht, dass Gott »als der durch nichts beschränkte Herr der Welt über alle Mittel verfügt«, die zur Verwirklichung seines Zwecks gehören. Gott benutze diese Mittel freilich so, dass die Macht seinem Zweck
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? 181
2. Absolute Macht Die Perspektiven verändern sich, wenn man im Gefälle einer spezifischen Definition des Gottesbegriffs die Überzeugung festzulegen versucht, unter »Gott« sei »die absolute Macht in allem Wirklichen«8 zu verstehen bzw. – um mit Bultmann zu sprechen – Gott sei »die Alles bestimmende Wirklichkeit«.9 Härle nennt diese Formulierung den »relativ angemessenste[n] Definitionsvorschlag, den es zur Zeit für den Begriff ›Gott‹ gibt«.10 Diesen Eindruck muss man nicht teilen. Zumindest müsste geklärt werden, was es eigentlich heißt, anderes – und im Fluchtpunkt der Definition alles andere – zu bestimmen. Denkbar wäre, dass Gott alles insofern bestimmt, als er Dinge, Pflanzen, Tiere und Menschen ins Dasein ruft und ihnen dabei Bedingungen für ihre Fortexistenz, für Ereignisse, Lebensformen und Handlungen vorgibt, sodass das Geschaffene nur relativ auf diese Vorgaben und, je nach seiner eigenen Konstitution abgestuft, selbständig und »frei« sein könnte. Nach dieser Maßgabe wäre die Formel »Alles bestimmen« ein Synonym für Erschaffen und Erhalten als Näherbestimmungen des Glaubens an Gott. Anders nimmt sie sich aus, sobald man einen determinierten Zusammenhang unterstellt, in dem nicht nur Bedingungen der Möglichkeit und Strukturen der Wirklichkeit, sondern sämtliche Ereignisse a priori festgelegt wären. Suggeriert werden könnte dann, dass derjenige Schöpfer noch nicht der allmächtige wäre, der gleichsam nur die Bühne für Ereignisse bereitstellte, aber nicht die Regie über das aufgeführte Stück innehätte, sodass der Schöpfer erst als Lenker und Weltregierer »allmächtig« wäre, ein Puppenspieler, der die Fäden zieht, von denen im strengen Sinne des Wortes »abhängig« zu sein, die Freiheit der Marionetten Gottes ausmacht – so konnte es immerhin Platon11 vorstellen. Schließlich könnte man die Rede von der »Alles bestimmen»untergeordnet« wird, nämlich einer liebenden Selbstmitteilung, die »den Menschen an seinem eigenen Leben Theil gewinnen läßt«. Insofern trete die Allmacht »in die zweite Linie« (J. Kaftan, Dogmatik, Freiburg i. Br. u. a. 1897, 187). 8 Vgl. a. a. O., 180 f. 9 R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 1933, 26 – 37 (26). 10 W. Härle, Dogmatik, Berlin / New York ³2007, 211. 11 Platon, Nomoi I, 644 d–f sowie der Platonausleger Bruno Liebrucks, vgl. S. Liedtke, Freiheit als Marionette Gottes. Der Gottesbegriff im Werk des Sprachphilosophen Bruno Liebrucks, Berlin / Boston 2013.
182 Michael Moxter den Wirklichkeit« aber auch dadurch spezifizieren, dass man sagte: Der Sinn, den das Welt-Ganze hat, bestimmt alles, was in der Welt vorkommt – oder: Das letzte Ziel des Universums, etwa die Erfüllung der Weltgeschichte im Reich der Freiheit, bestimmt alles, was über die Natur und die Geschichte gesagt werden kann. Man hielte dann an der Formel »Alles bestimmen« und also am Allmachtsprädikat fest, dessen Deutung aber zugleich insoweit offen, als man die Art, wie Gott alles bestimmt, an dem zu erkennen hätte, was sein Wesen ausmacht: sich seinem Geschöpf freundlich zuzuwenden und dessen Freiheit zu begründen. Gott erschiene dann nicht als Gewaltherrscher, der alle Strippen zieht, sondern als einer, der seine Geschöpfe geschickt auf sein Ziel hinlenkt, als Weiser, gleichsam als nudging operator. Unverfänglich ist freilich keine dieser Operationen. Denn das Phänomen der Macht unterliegt einer Steigerungs- und Überbietungslogik, die sie nur so zu bewahren erlaubt, dass sie zur immer noch mächtigeren Macht, zur Supermacht wird. Die Rede von der Allmacht Gottes bzw. der »Alles bestimmenden Wirklichkeit« ist von einem Übergang vom Einzigen zum einzig Mächtigen und schließlich zur absoluten Macht souveräner Willkür nicht wirklich gefeit. Vor diesem Hintergrund hat Falk Wagner die Logik des Allmachtbegriffs mitverantwortlich für die Grundlagenkrise des Christentums in der Moderne gemacht. Denn die Konzeption des sich unmittelbar selbst – und so alles andere bestimmenden – Wesens Gottes sei »nicht haltbar«, sondern »zum Scheitern verurteilt«,12 sie münde in eine petitio principii. Denn um sich selbst zu bestimmen, müsse die absolute Macht sich schon voraussetzen, weshalb die Selbstbestimmung keine absolute, sondern ihrerseits eine abhängige sei. Wagner kopiert die aporetische Figur eines Bewusstseins, das sich durch Reflexion als Selbstbewusstsein konstituieren soll, in den Gottesgedanken hinein. Auch sei die Allmacht Gottes nichts anderes als die ins absolut Große gesteigerte Selbstdurchsetzung eines Subjekts, womit man Gott eine Typik zuschreibe, die »beim menschlichen Subjekt als Sünde kritisiert« werde. Das Bild eines souveränen Herrn, der sich konkurrenzlos durchsetze, befeure die Vorstellung eines Chefs der Weltfirma, wie ihn Trump und Putin zu spielen versuchen, aber führe gerade nicht auf ein angemessenes Gottesverständnis. Die als Selbstdurchsetzung konzipierte Allmacht beruht auf der Vorstellung, letztlich 12 F. Wagner, Christentum und Moderne, in: ders., Christentum in der Moderne, hg. v. J. Dierken / C. Polke, Tübingen 2014, 72 – 91 (90).
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? 183
könne nur einer frei sein, der höchste Machtinhaber, der alle anderen zu Unfreien degradiert. Solche Freiheit ist aber bloßer Schein, und der auf diese Weise projizierte »Alleskönner«, der die Chance zur Durchsetzung des eigenen Willens unbeschränkt wahrnimmt, bleibt ein Machthaber, von dem man nicht sagen kann, warum ein solcher Gott kein Teufel sein sollte, kein genius malignus. Für diesen Effekt des Allmachtsdenkens hatte auch Karl Barth ein feines Gespür: »Gott ist nicht die ›Macht an sich‹. […] [N]icht ›der Allmächtige‹ ist Gott, nicht von einem höchsten Inbegriff von Macht aus ist zu verstehen, wer Gott ist. Und wer den ›Allmächtigen‹ Gott nennt, der redet in der furchtbarsten Weise an Gott vorbei. Denn der ›Allmächtige‹ ist böse, wie ›Macht an sich‹ böse ist. Der ›Allmächtige‹, das ist das Chaos, das Übel, das ist der Teufel. Man könnte gerade den Teufel nicht besser bezeichnen und definieren, als indem man diese Vorstellung eines in sich begründeten, freien, souveränen Könnens zu denken versucht.«13 Offenbar gehört zur Machtsteigerung eine Veruneindeutigung, ein dialektischer Umschlag von Sein ins Nichts, von Ordnung in Anomie, des Höchsten ins Widergöttliche.14 Falk Wagner und Karl Barth haben recht: Der Begriff der Allmacht kann nicht in selbstverständlicher Geltung stehen, vielmehr kommt es entscheidend darauf an, wie Macht jeweils gedacht wird. Vernachlässigt man eine Klärung, redet man Auf Teufel komm raus von Allmacht. Es ist wohl kein Zufall, dass in unserem Sprachgebrauch die Worte »Alleskönner«, »Supermacht« oder »einer, der zu allem fähig ist«,15 eben nicht als unverfälschtes Lob durchgehen, sondern despektierlichen Nebenton haben. Im Blick auf diese Ambivalenz gilt: Ein Gott, der »zu allem fähig« ist, wird zu einem Monstrum. In diesem Sinne besteht daher in der Tat ein enger Zusammenhang zwischen der Allmacht Gottes und der Bosheit des Menschen. Auch Eberhard Jüngel und Wilfried Härle arbeiten jeder auf seine Weise die Aporie heraus, dass der am Leitfaden der Allmacht gedachte 13 K. Barth, Dogmatik im Grundriss, Stuttgart 1947, 59 f. Ich verdanke den Hinweis auf dieses Zitat H.-C. Askani (s. Anm. 15). 14 In Gounods Oper »Faust« fragt Faust, was Mephistopheles für ihn tun könne. Dessen Antwort lautet: »Alles« – im Kontrast zu dem Rechenschaftsbericht, der Faust im Rückblick auf das in Forschung und Leben von ihm Erreichte sagen lässt: »Rien« (erstes Wort im ersten Akt). 15 H.-C. Askani hat dies letztere soeben herausgestellt: H.-C. Askani, Ist die »Ohnmacht Gottes« eine theologische Lösung?, in: H.-P. Großhans / M. Moxter / P. Stoellger (Hg.), Das Letzte, der Erste. Gott denken (Festschrift I. U. Dalferth), Tübingen 2018, 1 – 18.
184 Michael Moxter Gott nicht derjenige ist, zu dem sich der christliche Glaube bekennt. – Alle genannten Autoren schlagen Gegenmaßnahmen zur Sicherung des Credos vor: Sei es, dass sie Macht als nachgeordnete Implikation des Wesens Gottes und näherhin Gottes Macht als »Macht der Liebe« denken oder Liebe als den allen humanen Machtsteigerungen zuvorkommenden Dienst Gottes an der Welt beschreiben oder dass sie die Freiheit Gottes in der Zuwendung zu seinen Geschöpfen als eine solche Selbstbestimmung begreifen, die im anderen ihrer selbst frei ist, indem sie dieses frei lässt. Man darf in diesen Vorschlägen eine zentrale Problembearbeitungsstrategie evangelischer Theologie erkennen: Wie die Fürstenmacht in der Moderne ans Verfassungsrecht gebunden wurde, so die Macht Gottes an sein Wesen.
3. Die Blumenberg-Provokation Zum Thema »Allmacht« auf einer Tagung in Münster zu sprechen, scheint mir eine Einladung zu sein, sich von Hans Blumenberg provozieren zu lassen. (Sinn und Umfang dieser Provokation kann im Folgenden freilich nur an Blumenbergs »Matthäuspassion« verdeutlicht werden – die Verortung des Themas in seinen Neuzeitstudien lasse ich auf sich beruhen.16) Das Prädikat »Allmacht« signalisiert nicht nur Vermögen und Könnerschaft (die potestas das souverän erschaffen zu haben und erhalten zu können, was uns als Welt gegeben ist), sondern auch eine Artikulation eines Willens: Was ist, existiert, weil es Gott der Allmächtige so gemacht hat – der Schöpfer ruft die Kreatur ins Sein, weil er das Seiende (das auf diese Weise gewordene) gewollt und also bejaht hat: »Siehe es war sehr gut« ist ein Ausdruck des göttlichen Gefallens am Geschaffenen, weil dieses gelungen ist. Bekanntlich gilt dieses Urteil auch unter der Bedingung, dass es unter den Geschöpfen eines gibt, das – wie Blumenberg es ausdrückt – sich misslingen kann. In ontologischer Perspektive impliziert diese Annahme die Differenz zwischen den möglichen Welten, die Gott hätte erschaffen können, aber zu erschaffen unterlassen hat, und der einen wirklichen Welt, die er geschaffen hat. Dass er diese und keine andere mögliche Welt geschaffen hat, setzt das Verhältnis von Allmacht und Wille nun allerdings dem Problemdruck eines Voluntarismus aus. 16 Vgl. aber meinen Blumenberg gewidmeten Beitrag »Eigenständigkeit der Moderne« in: Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. T. M. Schmidt / A. Pitschmann, Stuttgart 2014, 49 – 63 (61 f.).
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? 185
Letzterer besteht darin, auf die Frage, warum Gott gerade diese und nicht eine andere Wahl getroffen habe, nur antworten zu können: Quia voluit. »Gottes Wille ist die höchste Richtschnur der Gerechtigkeit: Wenn er also etwas will, so ist es eben darum, weil er es will, für gerecht zu halten! Wenn man also fragt, warum der Herr so ge handelt habe, so ist zu antworten: Weil er es gewollt hat.«17 Gemeint ist damit, dass es hinter dem Willen Gottes und über diesen hinaus keine weitere Instanz gibt und geben kann, auf die eine solche Warum-Frage verschoben werden könnte. Allmacht und absoluter Wille verbinden sich darin, dass sie durch keine externe Regel, durch kein unabhängiges Gesetz, eingeschränkt werden können. Denn die Macht wäre nicht höchste Macht, der Wille bliebe nicht oberster Wille, wenn er eingeschränkt werden könnte. Das Allmachtsprädikat identifiziert unter dieser Bedingung nicht länger die Konkurrenzlosigkeit des Handelnden, sondern vermittelt die Idee einer Steigerung über alle Bindungen hinaus. Es ist diese Steigerungs- bzw. Entgrenzungsfigur, gegen die sich Blumenbergs Dekonstruktion des Allmachtsbegriffs richtet. Allmacht sei gleichsam das charakteristische Gottesprädikat, weil der Satz: »Bei Gott ist kein Ding unmöglich« (Lk 1,37) sozusagen die regula fidei sei, unter der die Bibel erzählt und unter der sie gelesen werde: »Nichts ist unmöglich«: weder die Schwangerschaft der alt gewordenen Sara noch die der Jungfrau Maria, weder die Bindung Isaaks noch der Tod des Gottessohnes am Kreuz. Lauter Unmöglichkeiten, Paradoxien und Torheiten, die im Sinne eines »Auch das noch!« den Menschen einiges zumuten, was auf Unterwerfung des Verstandes unter die Macht eines Gottes erscheint, der Unglaube mit Verwerfung bestraft. Allmacht ist für Blumenberg eine grammatische Metaregel der biblischen Narrative, die benötigt wird, wo die Fabulierungslust des Mythos verachtet wird, aber von Gott dennoch erzählt werden soll. Behielte die Ratio die Hoheit über die Gottesdiskurse, so kollabierte die biblische Heilsgeschichte. Insofern sei Allmacht eine Wesenseigenschaft, die es Gott erlaube, paradox zu handeln, sich unter dem Gegenteil zu offenbaren, in den Schwachen mächtig, in den Armen reich zu sein – allesamt für die Eigenart jüdisch-christlicher Religion unverzichtbar. Aber gerade aufgrund ihrer Bedeutung unter17 J. Calvin, Institutio Christianae Religionis / Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. u. bearb. v. O. Weber. Im Auftrag des Reformierten Bundes bearb. und neu hg. v. M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 22009, III, 23,2.
186 Michael Moxter minierten sie den Glauben bzw. die Vertrauenswürdigkeit. Denn dass sich Gott über alles, was wir von ihm erwarten, erhoffen, glauben in absoluter Souveränität hinwegsetzen könnte, ist eine Annahme, die jede Glaubensgewissheit zerstört. Ein Gott, der immer noch anders kann, als es das Evangelium verheißt, der frei ist, das Heil, zu dem er einlädt, in das Unheil der Verwerfung zu konvertieren, könne kein Gegenstand ernsthaften Glaubens sein. Soll das Herz sich vertrauensvoll an Gottes Wort hängen, dürfen Gottes Macht und Freiheit nicht über alle seine Zusagen, Versprechungen und Bundesschlüsse hinausführen. Allmacht konfiguriert als potentia Dei absoluta ist demnach notwendig und unmöglich zugleich, so unverzichtbar wie desaströs. In anderer Blickrichtung ergibt sich eine gegenläufige, aber darum nicht weniger problematische Dynamik: Mit der faktischen Erschaffung der Welt qualifiziert der Schöpfer den Bereich des Möglichen auf neue Weise, denn einiges ist nun nicht mehr bloß möglich, sondern auch wirklich: » ›Welt‹ heißt […], daß nicht Alles-Mögliche möglich bleibt.«18 Setzt Gott eine (wirkliche) Welt, so ist das Spiel bloß möglicher Welten (alles könnte sein; Alternativen sind denkbar, es geht alles auch anders) aufgehoben und zwar zu Lasten solcher Welten, die bloß virtuell bleiben, während eine Welt wirklich wird. Die Erschaffung der Welt bedeutet daher stets eine Beschränkung von Möglichkeiten, sodass absolute Unbeschränktheit nicht länger als Paradigma von Allmacht taugt. In diesem Sinne gilt: »Mit der Welt spielt die Allmacht gegen sich selbst.«19 Gemeint ist nicht, dass die Welt ein Spielball Gottes wäre, sondern gerade im Gegenteil, dass erst die Erschaffung einer wirklichen Welt Gott die Chance biete, aus der Langeweile bloßer Möglichkeiten herauszutreten, also nicht nur alles Mögliche zu wissen, sondern endlich einmal etwas (etwas Wirkliches) – nicht nur alles Mögliche tun zu können, sondern etwas getan zu haben. Die Erschaffung der Welt habe also auch für den Schöpfer Konsequenzen. An der Inkarnation des Logos, der Menschwerdung des Sohnes, werden sie deutlich: Gott zieht mit ihr die Konsequenz, sich auf diese eine und wirkliche Welt selbst einzulassen, nicht nur Vater als welttranszendenter Schöpfer, sondern Vater dieses Sohnes zu 18 Blumenberg, Matthäuspassion (s. Anm. 5), 11. Wittgenstein konnte von Wirklichkeitsinseln im Meer des Möglichen sprechen (vgl. L. Wittgenstein, Werkausgabe 3, 261). 19 Blumenberg, Matthäuspassion (s. Anm. 5), 11. Man wird das auch als Reflex des von Hans Jonas erzählten Mythos lesen können (H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1984).
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? 187
sein. Nur in der Sendung des Sohnes eignet sich Gott die Erfahrung an, was es heißt, »in einer Welt zu leben«. Erst mit der Welt wird Gott zum Schöpfer, erst auf dem Weg des Sohnes in die Welt nimmt Gott die Beschränkung und Endlichkeit, die zu dieser gehört, ernst und eignet sich diese an. Im Fluchtpunkt dieser Blickrichtung und dieses Weges stehen die Übernahme des menschlichen Leidens in und an dieser Welt, der Gewalt und Bosheit und schließlich des Todes. In der Passion Jesu unterstelle sich Gott der Endlichkeit und Selbstverfehlung der Schöpfung – was Konsequenzen für die Allmacht zeitigt. Sie steigere ihr Weltengagement durch Selbsteinsatz. Erst im Scheitern des Sohnes an und in dieser Welt, vollende sich folglich das Werk der Schöpfung. Erst an ihm zeige sich, dass Gott kein bloßer Zuschauer der Welt ist (wie der Deismus meint), sondern der Schöpfer, der in seinem Wort zu seiner Welt kommt – und aushalten muss, dass ihn die Seinen nicht aufnehmen (Joh 1,11). Blumenbergs Matthäuspassion ist als »Arbeit am Mythos« zu lesen, als Versuch, durch Variation des Erzählten die Diktatur der Eindeutigkeit zu durchbrechen. Entscheidend ist dabei nicht, ob eine Geschichte entsteht, die auf dogmatische Korrektheit überprüft wäre oder werden könnte, sondern sie so zu refigurieren, dass sie nicht langweilig wird. Nirgendwo steht, dass solche Arbeit dem Theologen gefallen muss, aber sie kann ihn provozieren, etwa zu der Vermutung, der Allmachtgedanken lasse sich angesichts seiner inneren Aporetik20 nur bearbeiten kann, wenn man Allmacht nicht im Gegenüber zum leeren Raum logischer Möglichkeiten, sondern im Bezug auf die wirkliche Welt (Schöpfung) denkt, mithin vom ersten auf den zweiten Artikel umschaltet, also zu einer trinitätstheologischen Reflexion dieses Prädikats übergeht. Gelingt das nicht, dann bleibt man auf dem traditionellen Pfad eines Gottesgedankens höchstmöglicher Macht, bei dem der in der jeweiligen historischen Situation ausschlaggebende Machtpegel eine noch größere Macht indiziert, über die hinaus keine größere gedacht werden kann – mit dem Preis, dass zugleich der offenbarte Heilswille Gottes (potentia ordinata) durch die immer noch größere potentia absoluta übertroffen wird. Gewissheit, woran wir vor Gott sind, fällt dann genauso aus wie Resistenz gegenüber menschlichem Machtgehabe. Es ist die Eigenart des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, 20 Sie wurde oben identifiziert. Vgl. jedoch auch das Urteil Härles, Dogmatik (s. Anm. 10), 256.258.
188 Michael Moxter dass es uns weiterzusprechen anhält und also am Bekenntnis zu Jesus Christus expliziert, was es mit Gott dem Allmächtigen auf sich hat. Wozu Gott Macht gebraucht und was er mit ihr ins Werk setzt, wird im zweiten und dritten Artikel des Apostolikums bekannt. In dieser Schlichtheit lädt es zum Mitsprechen ein, weil es das Geglaubte im Credo präzisiert.
4. Schleiermachers Mut Man muss Calvin immerhin zugutehalten, dass er seine als Verweigerung einer Antwort gedachte Auskunft »quia voluit« mit dem »Hirngespinst von der bindungslosen Gewalt [potentia absoluta] Gottes« nicht verwechselt sehen wollte – »denn das ist unfromm und soll bei uns billigerweise Abscheu erregen! Wir erdichten uns keinen Gott, der außerhalb der Gesetze stünde; denn Gott ist sich doch selbst ein Gesetz.«21 Calvin argumentiert im Horizont des Allmachtgedankens gegen dessen inneres Gefälle an, und er versucht, mit dem Hinweis auf die Grenzen unseres Wissens bzw. die Verborgenheit des göttlichen Willens die Aporie des Allmachtbegriffs einzuhegen. In der reformierten Tradition ist es zunächst Schleiermacher, der einen Schritt weiter geht und das von Calvin aufgerichtete Denkverbot aufkündigt. Um die Aporie der potentia Dei absoluta zu vermeiden, entscheidet sich Schleiermacher für eine Denkoperation, die er durchhält, obwohl sie seine Glaubenslehre einem pantheistischen Schein aussetzt. Schleiermacher zufolge gründet der gesamte einheitliche Naturzusammenhang in der göttlichen Ursächlichkeit und zwar so, dass diese sich in der Gesamtheit des endlichen Seins auch vollkommen darstellt. Daraus folgt, dass alles, wozu es Ursächlichkeit in Gott gibt, auch wirklich wird bzw. schon wirklich geworden ist. Was möglich war, kann man dann immer nur an dem erkennen, was wirklich geworden ist. Wäre das Schöpfungs- und Erhaltungshandeln Gottes anders als in einer solchen Totalitätsperspektive zu denken, dann könnte man von Einzeldingen, Lebewesen und singulären Er eignissen sprechen, die für sich gegeben wären, schon Dasein hätten und erst sekundär zum Gegenstand göttlichen Handelns würden. Gerade solches Gegebensein aber wäre eine Begrenzung des göttlichen Schöpfungshandelns, das alles setzt, ohne dass ihm anderes 21
Calvin, Institutio (s. Anm. 17), III, 23,2.
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? 189
als es selbst vorausginge. Glaube an den allmächtigen Schöpfer und Erhalter ist der christliche Sinn dafür, »daß alles ungeteilt durch Eines besteht«, dass nichts für sich selbst, sondern alles im Zusammenhang gegeben ist. Es gibt demnach einen einzigen und einheitlichen Natur-Zusammenhang, der sich Gott verdankt. Folglich begeht man einen Kategorienfehler, wenn man Gottes umfassende Ursächlichkeit als Konkurrenz oder Alternative zu einzelnen Naturursachen denkt. Für Schleiermacher ist Allmacht die Bestimmung eines Verhältnisses Gottes zur Welt, demzufolge Mögliches bzw. Möglichkeit nicht in Differenz zum Wirklichen bzw. zur Wirklichkeit treten können: Es kann nicht mehr als Alles geben (um ein Wort D. Sölles22 umzukehren). Was über das Wirkliche hinausgeht, ist nur Gott selbst und Gott allein. Darum aber fällt die Differenz zwischen Möglichem und Wirklichem nicht in Gott – und sie kann auch nicht auf die Welt angewandt werden. Was nicht wirklich wurde, war innerhalb des Naturzusammenhangs auch nicht möglich.23 »Die Vorstellung eines Möglichen außerhalb der Gesamtheit des Wirklichen hat nicht einmal für uns Wahrheit.«24 Die Konsequenz ist deutlich: Die potentia ordinata ist die potentia absoluta und umgekehrt. Letztere erschöpft sich in der ersteren. Es gibt demnach kein Bewirkenkönnen hinter oder neben Gottes Bewirken,25 keine Differenz zwischen Können und Wollen in Gott. Darum ist es definitiv ausgeschlossen, Allmacht die Eigenschaft zu nennen, vermöge derer Gott alles könne, was er wolle.26 22 D. Sölle, Es muss doch mehr als alles geben. Nachdenken über Gott, Freiburg i. Br. ³2006. 23 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830 / 31), hg. v. R. Schäfer, in: ders., Kritische Gesamtausgabe (KGA) I / 13,1, Berlin / New York 2003, § 47.2, 280 f. 24 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube 1821 / 22. Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. H. Peiter, Berlin 1984, 206 25 Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 23), § 47.2, 282. »[D]ie ganze Allmacht ist ungetheilt und unverkürzt die alles thuende und bewirkende«, a. a. O., § 54.3, 329. 26 Auch K. Barth legt den Allmachtbegriff übrigens dahingehend aus, dass Gott »alles dessen mächtig« sei, »was er tatsächlich will oder wollen könnte« (Barth, KD II / 1 [s. Anm. 1], 588). Aber er kritisiert, dass Gott bei Schleiermacher sich nicht mehr als der freie von seinem Tun und Können abhebe (597). Vgl. aber wiederum 603: »Wir haben keinen Anlass […] und […] keine Freiheit, Gott hinsichtlich der […] geschaffenen Welt auch noch andere Möglichkeiten zuzuschreiben als die, die er tatsächlich gewählt und verwirklicht hat«. Auf Seite 605 sieht Barth, dass sonst Unruhe und Ungewissheit einbricht.
190 Michael Moxter Das ist auch darum eine mutige Behauptung, weil Schleiermacher auf diese Weise die Unterscheidung zwischen potentia absoluta und potentia ordinata nach dem Vorbild der Differenz von natura naturans und natura naturata denkt. Der energische Verzicht auf die Vorstellung einer absoluten Freiheit Gottes, in der dieser nicht als göttliche Liebe erkennbar wäre und darum jederzeit zum Abgott und Teufel würde, wird durchgehalten – auch um den Preis der Verwechselbarkeit mit Pantheismus und Spinozismus. Aber dieses Risiko scheint geringer zu sein als die Verwechslung der Macht Gottes mit dem Schrecken der potentia absoluta.
5. Schlussreflexion Natürlich müssen sich die an dieser Stelle vorgetragenen Überlegungen auf den Status von Etüden beschränken. Diese erscheinen mir aber gewichtig genug, um vor dem Versuch zu warnen, die Geschichte des Allmachtsprädikats als eine kontinuierliche Linie zu zeichnen, in der seit der archaischen Benennung Gottes als El schaddaj über die Achsenzeit des Monotheismus bis hin zur spätmittelalterlichen potentia Dei absoluta ein theologischer Grundbegriff allmählich entfaltet werde, dem dann neuzeitlich Säkularisierung, Atheismus und Dekonstruktion eine Abfolge von Krisen bereiteten. Statt auf kontinuierliche Entwicklung und permanente Steigerung zu setzen, wären Prozesse in den Blick zu nehmen, durch die das hier diskutierte Gottesprädikat interpretiert, eingehegt und konkretisiert wird. Der theologische Allmachtsdiskurs wäre als eine kontextabhängige Konfliktgeschichte zu beschreiben, die auf die dem Allmachtbegriff eigentümliche Logik der Machtsteigerung produktiv zu reagieren weiß, dieser also nicht immer und überall verfällt. Nichts zwingt beispielsweise dazu, Luthers Rede vom deus absconditus ausschließlich als Fortsetzung der spätnominalistischen Figur der potentia Dei absoluta auszulegen. Sie kann mit ihrem eigenwilligen Gefälle der Unterscheidung und Hinwendung (nicht dieser, sondern jener! Nicht der deus nudus, sondern der deus revelatus!) auch als eine theologisch reflektierte Strategie beschrieben werden, »Allmacht« gerade nur als einen Grenzbegriff zu konzipieren, der mitgesetzt ist, aber die Glaubenden nichts angeht, die sich an den
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? 191
Gott halten, der ihnen in Christo vertrauenswürdig geworden ist.27 So betrachtet gehört es zum Allmachtbegriff, dass er auf das wirkliche Handeln Gottes zu beziehen ist (als dessen souveräne Ermöglichung), nicht aber auf einen abstrakten und insofern isolierten Willen, der alles Mögliche realisieren könnte – abgesehen von dem, was sich logisch widerspricht. Obwohl Karl Barth im Blick auf Luthers De servo arbitrio in dieser Frage zu einem anderen historischen Urteil als Eberhard Jüngel kommt,28 kritisiert doch auch er jeden Versuch, über und hinter dem gnädigen Gott noch einen »ganz Andere[n]« zu unterstellen bzw. sich betätigen zu sehen.29 Barth akzeptiert zwar die Unterscheidung zwischen potentia ordinata und potentia absoluta insoweit, als letztere die Freiheit Gottes bezeichne, sein Auch-anders-Können. Von dieser Möglichkeit aber mache Gott gerade keinen Gebrauch. Die Vorstellung einer potentia absoluta, die als eine Art Rückübertragung der potentia extraordinaria in das Wesen Gottes wirken könnte und müsste, lehnt Barth, wie wir oben schon sahen, entschieden ab.30 Sie mache aus der Freiheit Gottes eine »Willkürmacht« und also »die ganze Unterscheidung völlig unerträglich«.31 Allmacht besteht darum nicht im Ausnahmevorbehalt, mit dem sich Gott über das von ihm selbst Gewählte und Entschiedene auch wieder hinwegsetzen könnte, vielmehr wird Gottes »potestas absoluta als potestas ordinata endgültig und verbindlich sichtbar«.32 Mag sich die Freiheit Gottes in dem, wozu er sich entschieden hat, als immer noch größere Freiheit bestätigen, so ist sie doch nie die Freiheit zu einem beliebigen Gebrauch von Macht.33 27 So interpretiert bekanntlich E. Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott – im Anschluß an Luther interpretiert (1972), in: ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen II, München 1980, 202 – 251 (228 – 230). 28 »Es läßt sich nicht leugnen, dass Luther von seinem Deus absconditus gelegentlich so geredet hat, als ob er darunter die […] potentia absoluta oder vielmehr: inordinata verstanden hätte.« (Barth, KD II / 1 [s. Anm. 1], 608). 29 Ebd. Vgl. den ganzen Abschnitt (606 – 610). 30 Auch W. Pannenberg sieht, wohin es führt, wenn man Gottes Freiheit ausschließlich als potentia absoluta denkt: Man tut dann so »als ob der abstrakt gedachte göttliche Wille für sich das konkrete Wesen Gottes wäre« (W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. I, Göttingen 1988, 452). 31 Barth, KD II / 1 (s. Anm. 1), 609. 32 A. a. O., 610. 33 Vgl. A. Käfer, Gottes Allmacht und die Frage nach dem Wunder. Ein Beitrag zum Vergleich der Positionen Schleiermachers und Karl Barths, in: Karl
192 Michael Moxter In diesem Sinne ist die Beobachtung der alttestamentlichen Wissenschaft, dass die Herrschaft Gottes darin bestehe, Recht und Gerechtigkeit zu setzen,34 systematisch-theologisch ernst- und also aufzunehmen. Die Selbstbindung der souveränen Macht an das Recht, das sie hervorbringt und dem sie sich eodem actu unterwirft, dass sie also positiviert und zugleich (als auch für sie selbst unhintergehbar) »naturalisiert« einerseits, und die hier angedeutete kritische Behandlung des theologischen Allmachtsprädikats andererseits, folgen, wenn nicht derselben, so jedenfalls einer verwandten Logik. Es gilt eben beides: Gott kann alles – nur nicht sich selbst letztinstanzlich widersprechen; und: »Die Demokratie kann alles tun – nur nicht endgültig auf sich selbst verzichten.«35 Man muss sich auf keine der hier beschriebenen Reaktionen kritiklos verpflichten, um einen anderen Weg als unzureichend und unzulänglich auszuschließen. Ich meine Bemühungen, den genannten Aporien dadurch entkommen zu wollen, dass man Allmacht durch Ohnmacht oder Macht durch Machtlosigkeit Gottes einfach ersetzt. Solche (in formaler Hinsicht revolutionär anmutende) Schubumkehr ist nämlich nicht subversiv genug. Sie bleibt eine äußerliche Gegenbesetzung, politisch oft ein bloßer Seitenwechsel der Parteilichkeiten. Das mag in manchen Konstellationen immerhin etwas sein, insgesamt und auf Dauer betrachtet, ist das aber zu wenig. Wenn ich recht sehe, kann eine solche Abschaffung des Allmachtsprädikats sich jedenfalls nicht auf Hans Jonas berufen. Dessen vielschichtige Dekonstruktion des Prädikats der Allmacht ist nämlich, nur so viel sei hier noch für die anschließende Diskussion vermerkt, anders gelagert: Sie verschränkt Argumentation, Erzählung, Metaphorik und Mythos und
Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses, hg. v. M. Gockel / M. Leiner, Göttingen 2015, 89 – 112. 34 Vgl. den Beitrag von M. Witte in diesem Band, insbesondere Seite 174 f. 35 R. Radbruch, Der Relativismus in der Rechtsphilosophie (1934), in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. A. Kaufmann, Bd. 3: Rechtsphilosophie, bearb. v. W. Hassemer, Heidelberg 1990, 17 – 22 (21). Auch W. Pannenberg begreift die Menschwerdung des Logos als konkreten und höchsten Ausdruck göttlicher Allmacht Gottes. Sie raube freilich nicht Gottes Macht, sondern realisiere eine »Unterordnung unter die Monarchie des Vaters«, die zum »Grundgesetz auch für das Verhältnis der Geschöpfe zum Schöpfer« werde (Pannenberg, Systematische Theologie [s. Anm. 29], 455). Pannenbergs Metaphorik wäre im Spannungsfeld von Rechtswissenschaft und Theologie begrifflich auszuloten, gerade weil sie sich ihm offenbar unbewusst nahelegt.
Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das? 193
stellt mit dieser komplexen Konstellation vor allem eines unter Beweis: dass mit bloßer Negation allein noch nichts gewonnen ist. Soll die Beziehung des Glaubens an Gott den Schöpfer auf die Bosheit des Menschen bedacht werden, wird man m. E. vom Allmachtsprädikat auf das Prädikat der Allwirksamkeit Gottes umgelenkt – nicht auf Alleinwirksamkeit, von der im Zusammenhang der Rechtfertigungstheologie zu reden wäre, sondern im Sinne der Behauptung, Gott bleibe auch dort der Gott, der alles in Allen wirkt, wo wir mit dem Übel und dem Bösen konfrontiert werden. Etwa im Sinne von Amos 3,6b: »Geschieht Böses in einer Stadt, und Jhwh hätte es nicht gewirkt?« Es handelt sich wohlgemerkt nicht um eine Behauptung, sondern um eine Frage, die in Erinnerung ruft, dass Erklärungsmuster ausscheiden, die bloße Entlastung Gottes anstreben und darin zugleich Selbstentschuldigung der Gläubigen bedeuten. Auf Gott können wir nicht nur das zurückführen, was uns als Gutes gefällt, sondern müssen auch das vorhalten, was uns als malum entsetzt. Zu glauben schließt ein, dass man auf Ausreden verzichten muss, sowohl auf die, es sei eigentlich gut gemeint oder auf das Gerede von den dunklen Seiten Gottes oder von einem vermeintlichen Widerspruch in Gott selbst. Stattdessen bedarf es der Einsicht, dass Gott auch über die Bande geglaubt werden kann, dass Klage, Verstummen oder Fluch auf Gott Ausdruck eines redlichen Gottesverhältnisses sein können. Ob die Auskunft, dass Gott alles treibt, auch in solchen Situationen als Glaubensaussage möglich ist, muss sich im individuellen Leben zeigen. Aber die Theologie sollte es an dieser Stelle besser nicht übertreiben. Sonst endet sie bei dem, was Barth »öden Pfaffenspuk«36 nannte.
36
Barth, KD II / 1 (s. Anm. 1), 556.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion Eike Christian Herzig
In der klassischen Dogmatik wird unter dem Begriff der Allmacht – neben Allwissenheit, Allgüte und Allgegenwart – eine Eigenschaft Gottes verstanden. Von dieser zu handeln bzw. überhaupt sprechen zu können, ist ein Versuch, den Schöpfer von seinem Geschöpf zu unterscheiden. Die Schöpfung ist Ausdruck der Handlung ihres Schöpfers. Darin liegt eine prinzipielle Erkennbarkeit und Sprachlichkeit. Über diese wird in der Kirchen- und Dogmengeschichte vortrefflich gestritten, vor allem, wenn angenommen wird, die Allmacht provoziere innergöttliche Konkurrenzen und führe menschliches Denken an seine Grenzen. Und doch wird dem Denken die Aufgabe zuteil, ein Verstehen desjenigen Geschehens zu formulieren, in dem sich das göttliche Handeln äußert. Die Beiträge von Markus Witte und Michael Moxter nehmen sowohl die exegetischen Spuren der Begriffsgeschichte auf als auch ihre theologischen Begründungen unter die Lupe. Dabei stellen sie die Spannungen dar, die sich durch begriffliche Fixierungen ergeben. Deutlich tritt die Notwendigkeit einer kritischen Reformulierung zu Tage, die sich aus den jeweiligen Problemanzeigen, aber auch aus ihrer Beziehung aufeinander, ergeben. Die Response referiert zunächst die beiden Beiträge. In einem dritten Schritt werden die Beiträge mit einer theologischen Einsicht konfrontiert, die sie beide nicht – ausdrücklich – benennen.
1. Alttestamentliche Problemanzeige Markus Witte legt in seinem Beitrag dar, dass die Vorstellung eines allmächtigen Gottes bereits im Ersten Testament zu finden sei und wie diese sich entwickelt habe. Angezeigt ist die Vorstellung durch das griechische Wort παντοκράτωρ. Es handle sich dabei um einen Neologismus, der in die Zeit des hellenistischen Judentums zurückzuführen sei. Er eröffne einen Zugang zu unterschiedlichen Entwicklungen, die sich durch die geschichtlichen Veränderungen der Zeit beeinflusst wüssten. Die Umwälzungen im Zuge Alexanders des Großen bedingten einen »gewaltigen Theologisierungsschub«, durch den die
196 Eike Christian Herzig religiöse Identität des Judentums bestimmt bzw. »etabliert« worden sei. Nach Witte gilt es in einem ersten Schritt festzuhalten, dass die geschichtlichen Umwälzungen den Rahmen für eine Veränderung des religiösen Selbstverstehens bilden. Unter dem Begriff παντοκράτωρ erhalten nicht nur die Gottesvorstellung, sondern auch die Bedeutung des Gesetzes, der Gemeinschaft, sowie die Riten und das Verständnis Jerusalems als kultischem Zentrum eine neue Auslegung. Der Gedanke der Gottesherrschaft schlage sich als neue Perspektive in der Überarbeitung des ganzen Kanons literarisch nieder. Bei seinen Ausblicken beschränkt sich Witte allerdings auf die »weisheitlichen Reflexionen«. Dabei legt er in drei Thesen die thematischen Zusammenhänge dar, in denen der Begriff des παντοκράτωρ zu finden ist und entwickelt wird. Zunächst bündle der Begriff verschiedene Eigenschaften. Mit ihm werde eine Systematisierung und Vergegenwärtigung vormaliger älterer Jhwh-Vorstellungen sowie die Akkumulation verschiedener Eigenschaften anderer Götter vorgenommen. »Allmacht« im Sinne von »Allherrscher« verbinde über das Motiv der »militärischen Macht« nicht nur das »Heer« und seine Kräfte, sondern auch die Bereiche von Himmel und Erde, in denen diese Kräfte zu verorten seien. Gleichsam werden auch die Bereiche von Himmel und Erde der Herrschaft Gottes im Sinne der Schöpfungstheologie unterstellt. Und mehr noch: Ebenfalls haben sich in der Allherrschaft auch die Motive der Gottesoffenbarung und ihrer Erkenntnis vergegenwärtigt. Unter dem Titel des »Allherrschers« lasse sich demnach eine Profilierung der monotheistischen Gottesvorstellung verstehen. Die Frage nach einer universalen Herrschaft eröffne die Frage nach der Gerechtigkeit, so Wittes Anschlussthese. Bereits in den Schriften des Ersten Testamentes würden die Erfahrungen von Leid, Elend und Ungerechtigkeit in ihrer ganzen Härte thematisiert. Sie stellten eine Allherrschaft in Frage, insofern angenommen werde, dass sich Herrschaft durch die Garantie der Gerechtigkeit mittels Ordnungen und Gesetzen ausweisen müsse. Die Zusicherung, das Leben und die Gemeinschaft sowie den Bestand zu bewahren, würden durch die Unfähigkeit, Ordnungen zu halten oder gar die Fähigkeit, bewusst gegen diese zu verstoßen, ebenso wie durch das Zerbrechen der Lebensgemeinschaften klar thematisiert. Die Konsequenzen für die Vorstellung der Allherrschaft und der Gerechtigkeit unterschieden sich: Das Problem werde geleugnet oder die Gerechtigkeit werde allein
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 197
Gott zugesprochen oder aber die Erfahrung der Gerechtigkeit würde auf eine kommende Zeit verschoben. Dabei erhalte der Gottesgedanke zwei bedeutende Facetten: Entweder werde in diesem der Grund der erfahrenen Ungerechtigkeit verortet oder aber weitere Mächte würden eingeführt, die die Gerechtigkeit gefährdeten. Aus diesem Zusammenhang ergebe sich die Frage nach der Güte Gottes und dem Ursprung des Bösen. Aus dem alttestamentlichen Befund gingen sowohl die klaren Überlegungen zu einem gütigen Wesen Gottes hervor wie auch die Verortung des Bösen im Wesen des Menschen. Zugleich können aber auch gegengöttliche Wesen die Güte Gottes infrage stellen. Die Güte Gottes bleibe aber als solche bestehen. Der Umgang mit dem Bösen sei literarisch als ein Zulassen oder ein Kampf Gottes gegen diese Mächte beschrieben. In seiner abschließenden These bündelt Witte seine Ausführungen: »Der Glaube an den Allmächtigen ist Ausdruck eines monotheistischen, dynamischen, personalen und partizipatorischen Gottesverständnisses.«1 In alttestamentlicher Hinsicht führe der Begriff der Allmacht mitten in die spannungsreichen geschichtlichen Erfahrungen des hellenistischen Judentums. Die erlebte Ungerechtigkeit, das Leid und die geschichtlichen Katastrophen spiegelte sich in den Momenten der Herrschaft und ihrer Dynamik wider. Sie würden zu Korrelaten, durch die die Herrschaftsvorstellung die Geschichtlichkeit Gottes erschließt und eschatologisch sogar vorwegnimmt. Diese Universalisierung des Gottesgedankens gilt es weiterhin, mit Witte, im Horizont der persönlichen Erfahrung und Zugehörigkeit bzw. menschlichen Teilhabe an der Herrschaft zu betonen. Schließlich wird der Gottesgedanken neben der Allmacht um das Prädikat des Allerbarmers erweitert, der mit seinen Geschöpfen mitleidet.2 Formal weist also der Begriff der Allmacht zurück auf eine Systematisierung des Gottesgedankens, der sich in der Spannung zwischen Universalisierung und Individualisierung, zwischen Geschichte und Vollendung sowie in der Betroffenheit des Menschen ausdifferenziert.
1 M. Witte, Vom Glauben an den Allmächtigen und der Bosheit des Menschen – Fünf Thesen aus der Perspektive des Alten Testaments, in diesem Band, 155 – 175 (172). 2 Vgl. a. a. O., 175.
198 Eike Christian Herzig
2. Systematisch-theologische Problemanzeige Im zweiten Beitrag geht Michael Moxter systematisch-theologisch in vier Schritten der Frage »Ich glaube an Gott, den Allmächtigen – Was heißt das?« nach. Moxter schließt damit an die alttestamentlichen Ausführungen an, indem er die Auslegungsgeschichte des Credos an ausgewählten Spannungen problematisiert. Eingangs gilt es unter den »Voraussetzungen« vor allem deutlich zu machen, dass das Credo kein »Sammelsurium« »propositionale[r] Sachverhalte« sei, die »geglaubt werden sollten«. Vielmehr müsse die Funktion des Begriffs untersucht werden, die zunächst in der Präzisierung des Schöpfungshandelns Gottes liegt. Allerdings ist die Präzisierungskraft mit dem Begriff der Allmacht offengehalten. Wie nun »Allmacht« genauer zu verstehen sei, muss sowohl der Kontext aufzeigen als auch in der betonten Offenheit selbst liegen. Mit dem Begriff der »Allmacht« sei eine »Markierungsformel« ausgemacht, die Gott als Schöpfer herausstellt, und zwar im Gegenüber zu allen anderen Göttern: in »Konkurrenzlosigkeit und Alleinzuständigkeit«.3 Damit sei der Allmacht ein herrschaftskritisches Potenzial zu eigen, welches sich nicht nur in der Unterscheidung Gottes zu anderen Göttern entfaltet, sondern jedwede andere Form von Herrschaft kritisch anfragt. – Allerdings problematisiert Moxter auch einen solchen kritischen Effekt: Zum einen ist dieser nicht notwendig oder forcierbar. Zum anderen läuft eine derartige Kritik an Machtstrukturen und Machtausübung Gefahr, wiederum selbst Macht anzuwenden, auszuüben und erneut eine Machtposition zu beziehen. Mit dieser Eigendynamik ist eine Struktur der Macht entdeckt, die nicht nur den Sinn des Credos und der Allmacht verzerrt, sondern grundsätzlich das Verständnis von Macht infrage stellt.4 Demnach bedürfe es einer eigenen Überlegung zur Macht: Auszugehen sei von der Beschreibung Gottes als Schöpfer. Von der bultmannschen Reformulierung – »Gott ist die Alles bestimmende Wirklichkeit« – her diskutiert Moxter Aspekte philosophischer – d. h. 3 Gerade von dieser Beobachtung aus, kann eine Verknüpfung des Allmachtsgedankens mit der Bosheit des Menschen, wie es das Thema vorgibt, nicht weiter nachgegangen werden. 4 »Indem der Glaube sich zu Gott dem Schöpfer bekennt, bestreitet er anderen ›Herren, Mächten und Gestalten‹, dass in ihren Händen sämtliche Handlungsfäden zusammenlaufen, ihre Entscheidungen und Dekrete das letzte Wort behalten« (M. Moxter, Ich glaube an Gott den Allmächtigen – Was heißt das?, in diesem Band, 180).
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 199
»deterministischer« bzw. »kompatibilistischer«5 – Verständniszugänge zur Allmacht. So ruft Moxter unterschiedliche Modelle auf: Ob Gott alles bestimmt oder nur die Bedingungen der Wirklichkeit verantwortet oder aber die Geschichte auf ein konkretes Ziel hin führt, das sind Vorstellungen, die Einwände zu einer Einschränkung der Handlungsfreiheit des Menschen zur Sprache bringen, aber auch zum Widerspruch durch die neutestamentlichen Heilszusagen herausfordern. Entscheidend ist das Verständnis der Macht, welches Moxter auf eine Struktur des Denkens zurückführt: Es handele sich dabei um eine Logik der Überbietung und »Steigerung«.6 So würden insbesondere an der theologischen Kritik Falk Wagners und Karl Barths die fatalen Konsequenzen für den Gottes-Begriff deutlich: Ein Denken, das das Göttliche von der Allmacht aus denke, konstruiere einen Komparativ und führe zwangsläufig in die Annahme der Willkür. Frei sei ausschließlich der alles bestimmende, weil schaffende Gott. Mit Karl Barth spricht Moxter vom »Umschlag« des »Höchsten ins Widergöttliche«. Allmacht ohne eine Beziehung auf das Machtverständnis zu begreifen, läuft demnach gerade dem Anliegen, in Gott einen Garanten des Heils durch eigenes Denken abzusichern, entgegen. Das Ergebnis sei ein »Monstrum«.7 In einem dritten Abschnitt lässt sich Moxter durch den Philosophen Hans Blumenberg und seine Ausführungen in der »Matthäuspassion« provozieren. Blumenberg erkenne in der Verwendung der »Allmacht« – in biblischen und traditionellen Textbeständen – eine »grammatische Metaregel«. Mit ihr sei eine universale Begründungsformel – für noch so absurde Zusammenhänge – ausgemacht. Alles, was ist, sei auf den Willen des Schöpfers und seine ausführende Kraft zurückzuführen. Blumenberg treibt in diesem Zusammenhang die Steigerungslogik auf die Spitze. Er entwickele diese zu einer Letztbegründung einschließlich aller fatalen Konsequenzen: Die neutestamentlichen Heilszusagen würden durch die Allmacht nicht nur relativiert, sondern sie würden vielmehr immer wieder aufs Neue in
5 Vgl. dazu A. Kreiner, Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente (QD 168), Freiburg i. Br., 271 – 300; vgl. auch C. Weidemann, Die Unverzichtbarkeit natürlicher Theologie (Symposion 129), Freiburg i. Br. 2007, 363 f. 6 Vgl. dazu auch M. Heidegger, Nietzsches Wort: »Gott ist tot«, in: ders., Holzwege (HGA 5), Frankfurt a. M. 2013, 209 – 267 (227 – 230). 7 Vgl. Moxter, Ich glaube an Gott den Allmächtigen (s. Anm. 4), 183.
200 Eike Christian Herzig Frage gestellt, wenn fortwährend mit einem »Mehr« an göttlicher Handlung gerechnet werden müsse. Ein solcher Allmachtsgedanke bezeichne nach Moxter bei Weitem nicht mehr bloß die »Konkurrenzlosigkeit« Gottes gegenüber anderen Göttern. Vielmehr lege Blumenberg die Dynamik frei, eine solche Allmacht immer wieder aufs Neue nach den geschichtlichen Herausforderungen im Gegenüber zu diesen übersteigernd entwerfen zu müssen. So müsse sich die Theologie die Frage gefallen lassen, ob die Verwendung des Allmachtbegriffs im Credo nicht in die Absurdität führe, einen in sich widersprechenden Willkürgott zu bekennen, der den Glauben an ihn mit jedem gesprochenen Bekenntnis der Willkür preisgäbe. Als »re-mythisierenden«8 Impuls greift Moxter die Beziehung des Schöpfers zu seiner Schöpfung auf. Diesen Impuls kann Moxter in der Offenbarung Gottes in der Welt erkennen. Ausgehend von der Art und Weise, wie sich Gott in der Welt kundtue, habe auch »Allmacht« von hier aus neu ausgelegt zu werden. Im folgenden Schritt beschreibt Moxter »Schleiermachers Mut«. Schleiermacher kommt nach Moxter das Verdienst zu, aus der Unterscheidung der Macht Gottes nicht auf ein in sich gespaltenes göttliches Wesen zu schließen. Vielmehr denke er gerade gegen die Möglichkeit an, Gott habe sich mit der Schöpfung festgelegt und sei darüber hinaus aufgrund seiner Allmacht zu unberechenbarem Eingreifen fähig. Gegen den Einwand, Gott ergreife als allmächtiges Wesen eigene Möglichkeiten, die sich nicht aus der Wirklichkeit ergeben, argumentiere Schleiermacher mit der »Ursächlichkeit«9 Gottes. Alles, was ist und sein kann, wurzele in der anfänglichen Tat des Schöpfers.10 Dieser lege sich mit der Schöpfung fest; und bedinge als Schöpfer jedwede Möglichkeit. Damit binde Schleiermacher den Gedanken einer Allmacht und das Wesen Gottes an dessen Schöpfung. »Allmacht« stehe nun nicht mehr in Konkurrenz zur Welt und ihren Gesetzen, sondern bringe – im Zusammenspiel mit den Eigenschaften »Allwirksamkeit« und »Allwissenheit« und dem göttlichen Willen – das »Verhältnis« »Gottes zur Welt« zum Ausdruck: eine Schöpfung 8
Vgl. H. Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a. M. 82015, 248. Vgl. dazu A. Käfer, Gottes Allmacht und die Frage nach dem Wunder. Ein Beitrag zum Vergleich der Positionen Friedrich Schleiermachers und Karl Barths, in: M. Gockel / M. Leiner (Hg.), Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses, Göttingen 2015, 89 – 112 (95 f.). 10 Gottes freies Anfangen ist »wesentlich Liebe«, vgl. dazu a. a. O., 92 f. 9
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 201
aus freiem Entschluss, eine Schöpfung in Selbstbegrenzung seiner Freiheit. Eine solche Überlegung beweise Mut. Denn Schleiermachers Überlegungen überführen die Unterscheidung des göttlichen Wesens durch die Allmacht in eine Einheit. Zugleich setze Schleiermacher aber den Gottesgedanken dem Vorwurf aus, dass Gott seine »absolute Freiheit« aufgebe und doch den Menschen derart vorherbestimme, dass dieser in seiner Freiheit und Schuldfähigkeit eingeschränkt bzw. wiederum begrenzt sei.11 Abschließend warnt Moxter davor, in der Geschichte der Auslegung des Allmachtsprädikates eine Kontinuität zu erkennen, die sich auf die Entwicklung und Zuspitzung einer subkutanen Steigerungslogik kapriziere. Eine solche Warnung ist mehr als berechtigt, ebnet eine solche Annahme doch sämtliche Entstehungszusammenhänge allmachtsbezogener Überlegungen ein. Vielmehr müsse die Theologie auch als Einspruch gegenüber dieser Denkweise verstanden werden; so u. a. Luthers deus absconditus, der durch den offenbaren Heilswillen eingeschränkt zu denken sei.12 Gegenüber Luther führt Moxter noch einmal Karl Barth an. Dieser lege – im Gegensatz zu Schleiermacher – Wert darauf, dass Gottes Freiheit sehr wohl über die Schöpfung hinausgehe. Allerdings begrenze Gott sich in der Anwendung der Freiheit. Diese Freiheit führe gerade nicht zu einer Beliebigkeit des Machtgebrauchs. Moxter betont eingehend die Gefahr, durch eine isolierte Allmacht, die nicht auf das Handeln Gottes achte, eine Spaltung in Gott vorzunehmen. Mehr noch: Das Denken setze ein derart angenommenes Wesen der Wirklichkeit und ihrer Schrecken aus. Allein bei der Allmacht Gottes denkerisch zu verweilen, forciere diese Spaltung. Im Anschluss an Barth und die Ergebnisse der exegetischen Darlegung sei abschließend der Gedanke der »Selbstbindung« Gottes an das, was er hervorbringt, zu betonen. Darin erkennt Moxter eine eigene Logik: »Gott kann alles – nur nicht sich selbst letztinstanzlich widersprechen.«13 Auszugehen ist dann von der Logik, die sich durch die Selbstvermittlung Gottes herleite. Einen trinitarischen Ansatz ernst zu nehmen, bedeute die Selbstbegrenzung Gottes anhand der Verheißungen mit der Schöpfung nicht im Widerspruch zu sehen. Vielmehr sei es Ausdruck der Gnade oder vielmehr der Liebe, sich selbst um des Anderen willen zu begrenzen. Eine derartige Logik der Selbstbegrenzung stelle noch 11
Vgl. a. a. O., 101. Vgl. M. Luther, De servo abitrio, WA 18,600 – 787 (685.689 f.). 13 Moxter, Ich glaube an den Allmächtigen (s. Anm. 4), 192. 12
202 Eike Christian Herzig einmal eine Akzentverlagerung gegenüber solchen Ansätzen dar, die die Allmacht dadurch einschränkt, dass sie sie als ohnmächtig oder schwach bezeichne. Gegenüber diesen Ansätzen betont Moxter, dass eine solche Negation der Allmacht nicht entspreche.
3. Anstöße: Herrschaft – Freiheit – Liebe Aus den starken Darstellungen Wittes und Moxters ergeben sich ganz unterschiedliche Fragekomplexe, die eine Auseinandersetzung mit der »Allmacht« anstoßen. Zunächst stellt m. E. – im Anschluss an Witte – das Phänomen des Leides und des Bösen einen wesentlichen Anstoß dar, »Allmacht« zu thematisieren. Das Böse und das Leid in der Welt zu reduzieren oder zu erklären, liefe unweigerlich Gefahr, diese zu verharmlosen. Beides widergöttlichen Mächten oder gar dem Göttlichen selbst zuzuschreiben, gipfelt in einer prinzipiellen Infragestellung des Wesens und der Allmacht Gottes. Es gipfelte in einer prinzipiellen Infragestellung der Gottesvorstellungen. So führt die thematische Einheit »von der Bosheit des Menschen« zurück auf Erfahrungen der Macht und Einflussnahme Gottes in die bestehenden Lebensverhältnisse. Dass mit diesen Erfahrungen grundsätzliche Fragen nach dem Umgang und dem Ursprung des Bösen entstehen, fließt in den Begriff des παντοκράτωρ ein. Von besonderer Bedeutung ist meiner Ansicht nach die Zusammenführung auch unterschiedlicher und divergierender Vorstellungen. Dass eine Gottesvorstellung, die widergöttliche Kräfte annimmt, mit einer Gottesvorstellung in Beziehung gebracht wird, die selbst das Böse in Gott verortet, erzeugt ein Spannungsfeld, in dem sich jedwede weitere Gottesvorstellung zu orientieren hat. Die Spannung wird zu einem begrifflichen Erbe.14 Während der alttestamentliche Befund demnach vor allem die Basis dazu bietet, nach dem Ursprung des Bösen zu fragen, sieht Moxter diese Frage weniger in der Allmacht als vielmehr in der Allwirksamkeit verortet. Mit der »Allmacht« hingegen sei die wesentliche Frage die der Freiheit des Menschen verbunden. Eine Welt, die in Gänze nach ihrer Wirklichkeit und Möglichkeit durch Allmacht bestimmt zu sein scheint, führt unweigerlich zu der Anschlussfrage nach den eigenen, menschlichen Möglichkeiten. Sie nötigt zu einer Bestimmung, wie der Mensch sich in diesem Zusammenhang zu ver14
Witte, Vom Glauben (s. Anm. 1), 165.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 203
stehen hat. Handelt es sich nicht bereits im Vorgang des Verstehens um eine Art und Weise der Freiheit bzw. um eine Möglichkeit, die ergriffen werden kann? Oder muss ein solches Ergreifen wiederum als bereits »vorvorhergesehener« Gebrauch von Freiheit in einem Allmachts-Konzept eingeholt sein. Moxters Rekurs auf Schleiermachers Vorstellung der Ursächlichkeit – jedwedes Geschehen ist auf eine göttliche Ursache zurückzuführen15 – spricht die Freiheit Gottes an, seine Schöpfung derart einzurichten, dass alle Möglichkeiten, zu denen sich ein Mensch entscheiden kann, auf ihn zurückzuführen sind. Daran anknüpfend ließe sich weiter fragen, ob eine solche Überlegung überhaupt noch eine freie Entscheidung des Menschen zuließe. Genauer gefragt: Muss eine Vorgabe der Möglichkeiten von der Festlegung der Möglichkeiten und Wirklichkeiten noch einmal unterschieden werden? Wie ist eine Freiheit des Menschen überhaupt noch zu denken, sofern alle Möglichkeiten vorgegeben sind? Dürfte solch ein menschliches Wesen überhaupt noch frei genannt werden? Stellt eine solche Überlegung nicht einen grundlegenden Einspruch gegenüber dem befreienden Eingreifen Gottes in der Christus-Offenbarung dar?16 Festzuhalten ist an dieser Stelle: »Allmacht« fordert unweigerlich dazu heraus, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch hinsichtlich der »Freiheit« zu bestimmen.17 Eindrücklich stellt Moxter die Gefahren heraus, die sich aus einer Prinzipiierung des Allmachtsgedankens ergeben. Dieser unterliegt eigens der Möglichkeit, einer fortwährenden Steigerungslogik, die nicht nur zu einer willkürlichen Herrschaft führte. Vielmehr ließe sich auch eine deistische Konsequenz formulieren, die in der Immunisierung des göttlichen Machtanspruchs gegenüber der Welt läge: Die Welt und ihr Werden wären durch die Entscheidung eines sich vollkommen unterscheidenden Schöpfers festgelegt. So lässt sich weiterhin festhalten, dass der Begriff der Allmacht in der Universalisierung Gefahr läuft, einen willkürlich handelnden Gott zu entwerfen, der den Bezug zu dieser Lebenswirklichkeit und ihrem geschichtlichen Setting aufgibt. Die Konsequenzen sind fatal: Der Begriff liefert den Menschen einem unberechenbaren Gott aus, der die Freiheit des Menschen unweiger15 Vgl. A. Käfer, Von der Vorherversehung Gottes und der Evolution der Seele, in: dies. (Hg.), Der reformierte Schleiermacher. Gespräche über das reformierte Erbe in seiner Theologie, Berlin / Boston 2019, 51 – 68. 16 Vgl. Moxter, Ich glaube an den Allmächtigen (s. Anm. 4), 188. 17 Vgl. dazu M. D. Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie (RPT 31), Tübingen 2008.
204 Eike Christian Herzig lich einschränkt, auflöst, oder aber eine Konkurrenz zur Heilshandlung in Jesus Christus und damit in das Wesen Gottes einträgt.18 Demgegenüber gilt es die Stellung des Allmachtsprädikates im Zusammenhang des gesamten Credos hervorzuheben und es in Bezug zum zweiten Artikel zu stellen. Erst der Bezug auf Christus erlaubt es, diesen Gott als einen allmächtigen verstehen zu lernen. Nur von diesem aus hat sich Gott in seiner Allmacht zu erkennen gegeben. Sein schöpferisches Handeln und seine Herrschaft lassen sich erst ausmachen, wenn sie sich als solches im Rahmen des Erkennens zu erkennen gegeben haben. »Allmacht« von der Christus-Offenbarung her zu lesen, schließt immer schon einen Ausweis universaler Macht ein. Damit setzt das Denken nicht mehr primär bei der Welt und ihrer Überbietung oder der Fähigkeit des Denkens an, sondern orientiert sich an dem Anlass, den Gott »selbst« ermöglicht. Diese Zuspitzungen führen zu einem Gedanken der freiwilligen »Selbstbegrenzung« Gottes, wie er in den Verweisen auf Eberhard Jüngel angesprochen ist.19 Ein christliches Denken hat mit der Offenbarung Gottes in Christus und dem Gebrauch einer ihm eigenen Freiheit zu beginnen:20 Das Kreuz markiert den Ort, an dem sich Gott zu erkennen und zu denken gibt. Hier identifiziert sich Gott soweit mit dem Menschen, mit seinem Leiden und seinem Sterben, dass er selbst den Tod erleidet. Das Kreuz ist fundamentaler Ausdruck der Entscheidung, sich selbst zugunsten des Menschen radikal zu begrenzen bzw. zurückzunehmen. Zugleich hebt diese Selbstbestimmung nicht die Göttlichkeit auf. Gott bleibt Gott als der, der unbedingt am Menschen festhält und neues Leben schafft. Gott bestimmt sich hier. Mit der Offenbarung zu beginnen, bedeutet, die Handlung Gottes, sich dem Menschen zuzuwenden, als freie zu verstehen. Sie ist Aus18 Deutlich wird, dass die Spannungen nicht nur allein den Schöpfer, sondern auch die neutestamentliche Bindung an den Menschen Jesus und die durch ihn ergehenden Verheißungen in Frage stellen. Davon ist weiterhin auch die Beziehung zum Geist betroffen, der durch Christus verkündet ist (Joh 14,16; 16,7). 19 Vgl. Moxter, Ich glaube an den Allmächtigen (s. Anm. 4), 191; vgl. E. Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den »Gottesbegriff nach Auschwitz«, in: ders., Wertlose Wahrheit, München 1990, 151 – 162. 20 Vgl. R. Bultmann, Die Frage der natürlichen Offenbarung, in: ders., Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsätze (UTB 2316), Tübingen 2002, 181 – 206 (201).
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 205
druck der Selbstlosigkeit, die wesentlich »Liebe«21 ist. Insofern das Verständnis von Allmacht ebenfalls hier seine Charakteristik erhält, nimmt es den Anfang im Gegenteil. Das Kreuz zeugt von der »Ohnmacht«22 Gottes, den Tod zu erfahren und die Gottheit gänzlich zurückzunehmen. Jedoch verdeutlicht die Überwindung des Todes die Macht, das Leben zu schaffen und den Menschen zu retten.23 So ist die Allmacht rückwirkend durch die Auferstehung angezeigt. Die Ohnmacht am Kreuz ist das entscheidende Moment der Selbstbestimmung Gottes, Leben mit Voll-Macht zu geben. Die Allmacht von der Offenbarung her zu bedenken, setzt demnach mit der Selbstbeschränkung in der Unverfügbarkeit des Kreuzesgeschehens ein. Diese Bestimmung gilt es gerade gegenüber der Annahme einer herrschaftlichen »Steigerungslogik«24, eines sich selbst fortwährend zu übertreffenden Subjekts, stark zu machen. Insofern nun die »Allmacht« an die Selbstlosigkeit zurückgebunden wird, ist auch die Notwendigkeit zur Überbietung – im Sinne des »Willens zur Macht«25 – kontrastiert. Damit ist ein Machtverständnis entwickelt, das nicht konträr zum Heilswillen steht, sondern vielmehr aus eben diesem – der Zurücknahme, Selbstbegrenzung und unbedingten Hinwendung – gewonnen ist. Allein auf die Offenbarung bezogen und aus dieser abgeleitet wird die Allmacht zu einer »Allmacht der Liebe«. Allerdings lässt sich auch an dieser Stelle die Frage aufwerfen, in welchem Verhältnis die »Allmacht der Liebe« zu der Frage nach dem Ursprung des Bösen steht. Orientiert sich das Denken zuallererst an der Heilsabsicht Gottes, bleiben auch die Fragen nach der Gerechtigkeit Gottes sowie nach seinem ausbleibenden und verborgenen Handeln virulent. »Allmacht« als Eigenschaft zu denken, muss als Hinweis auf die Gefahr gelesen werden, die freie Entscheidung der 21 In der Erlösungshandlung wird dieses innere, trinitarische Wesen Gottes am Menschen offenbar. »Der Liebe ist dies wesentlich: daß der Liebende sich selbst zurücknimmt zugunsten des geliebten Anderen« (Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen [s. Anm. 19], 154). 22 Vgl. a. a. O., 159; vgl. dazu: M. H. Thiele, Gott – Allmacht – Zeit. Ein theologisches Gespräch mit Johann Baptist Metz und Eberhard Jüngel (MBTh 66), Münster 2009, 275 f. 23 »Deshalb ist die Liebe, die Gott ist […], als die Einheit von Leben und Tod zugunsten des Lebens zu bestimmen« (Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen [s. Anm. 19], 160). 24 Vgl. a. a. O., 151. 25 Vgl. Moxter, Ich glaube an den Allmächtigen (s. Anm. 4), 180; vgl. ebenso Heidegger, Nietzsches Wort (s. Anm. 6), ebd.
206 Eike Christian Herzig Offenbarung wieder in Frage zu stellen. Sie macht darauf aufmerksam, dass dieser Gott seine Macht zugunsten des Menschen zum Guten bestimmt und festgelegt hat.26 Was aber lässt sich abschließend festhalten? Allmacht als ein Prädikat Gottes zu denken, geht aus von der Offenbarung in Christo. Hier entsteht die Spannung zwischen Ohnmacht und Allmacht, zwischen Kreuz und Auferstehung, zwischen Tod und Leben, zwischen »wahrer Mensch und wahrer Gott«. Das Credo bezieht die Betenden in dieses Geschehen ein. Es erklärt nicht den Ursprung des Bösen, eröffnet und vergegenwärtigt aber ein Leben in christlicher Freiheit zum Guten.
26 Ist aber diese Zuwendung nicht erkennbar und verborgen, schreibt Jüngel dies dem Wirken Gottes – genauer: seinem verborgenen Werk – zu. Er wahrt dadurch zum einen die Allmacht der Liebe und zum anderen das Rätsel des Bösen sowie eine Freiheit Gottes unter den Vorzeichen der Welt einschließlich einer Freiheit des Menschen. Diese bleibt aber in Bezug auf die Offenbarung Gottes in der Spannung, durch die Offenbarung befreit zu werden. Vgl. dazu Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen (s. Anm. 19), 161; vgl. dazu Thiele, Gott (s. Anm. 22), 290 f.
Weiterführende Fragen 207
Weiterführende Fragen 1. Wie kann in Verkündigung, Seelsorge und Lebenspraxis mit der bleibenden Spannung zwischen dem Glauben an Gottes allmächtige Liebe und dem Erleiden menschlicher Bosheit umgegangen werden? Welche Hilfe kann in Sprachformen wie Klage und Bittgebet gefunden werden? 2. Was bedeutet es für das Bekenntnis zu Gott dem Allmächtigen, dass sich dieser in der Ohnmacht des Gekreuzigten geoffenbart hat?
III. »… Schöpfer Himmels und der Erden …« Von Schöpfung und Naturprozessen Mit dem Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer des Himmels und der Erde nimmt das Apostolikum die zunächst im Alten Testament in einer großen Vielfalt zur Sprache gebrachte Aussage auf, dass die ganze Welt oder vielmehr das Universum insgesamt in Gottes Schöpfertätigkeit gründet und von seiner Erhaltung getragen ist (vgl. Gen 1,1 – 2,3 und 2,4b – 25, aber auch Jes 45,6 – 7.18; Ps 8,4 – 7; 33,6 – 9; 93,1 – 5; 104; Prov 8,22 – 31; Hi 38,4 – 7 etc.). Der christliche Glaube bekennt sich zum allmächtigen Schöpfer, weil ihm die Macht Gottes bewusstgeworden ist, die das Nichtseiende ins Sein ruft und Leben aus dem Tod schafft (Röm 4,17; vgl. 2 Makk 7,28). Der christliche Glaube steht damit nicht in einer Konkurrenz zu naturwissenschaftlichen Theorien der Weltentstehung und Entwicklung des irdischen Lebens, sondern gewährt eine eigene Perspektive auf die Natur, die auch mit der Verantwortung zur Bewahrung des geschaffenen Lebens einhergeht.
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung im Kontext der Schriften Israels und antiker jüdischer Literatur Lutz Doering
1. Hinführung Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte das Neue Testament recht wenig über die Schöpfung zu sagen. Das frühe Christentum, so hören wir etwa in Überblicksdarstellungen zum Thema, hat »die alttestamentlich-jüdische Schöpfungstradition […] als Glaubensgrundsatz« übernommen.1 Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Schöpfung an zentralen Stellen, auch und besonders in Verknüpfung mit anderen Themen, durchaus eine gewichtige Rolle im Neuen Testament spielt. Das soll im Folgenden dargestellt werden. Zugleich sollen dabei eben auch jene Voraussetzungen und Kontexte der neutestamentlichen Rede von der Schöpfung im Rückgriff auf ausgewählte relevante Texte aus den Schriften Israels und der antiken jüdischen Literatur, in der der Schöpfungsgedanke verstärkt auftritt,2 dargestellt werden.
2. Gott als Schöpfer Himmels und der Erde Die Jesustradition setzt Gott als uranfänglichen Schöpfer des Himmels und der Erde voraus, ohne ihn als solchen eigens zu thematisieren. Wohl wird Gott als der je gegenwärtige Schöpfer und Erhalter angesprochen; darauf komme ich im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch einmal zurück (§ 5). »Zum Gegenstand theologischer Reflexion wird der Schöpfungsgedanke erst in der Missionspredigt an die Heiden, wo er gegen den Polytheismus zum Argument für den biblischen
1 C. Breytenbach, Schöpfer / Schöpfung III: Neues Testament, TRE 30 (1999), 283 – 292 (283). 2 Für J. Jervell, Imago Dei. Gen 1,26 f. im Spätjudentum, in der Gnosis und in den paulinischen Briefen (FRLANT 58), Göttingen 1960, 15, ist der Schöpfungsgedanke gar »der theologische Hauptgedanke« im antiken Judentum (»Spätjudentum«).
212 Lutz Doering Gottesglauben wird.«3 Beispiele dafür bietet die Apostelgeschichte, v. a. in der Verbindung von Apg 14 und 17.4 Als Paulus in Lystra in Lykaonien einen Gelähmten heilte, rief das Volk auf Lykaonisch: »Die Götter sind den Menschen gleich geworden und zu uns herabgekommen« (Apg 14,11), nannte Barnabas Zeus und Paulus Hermes und wollte ihnen opfern. Da rannten Paulus und Barnabas heraus in die Menge und riefen: »Auch wir sind sterbliche Menschen wie ihr und predigen euch das Evangelium, dass ihr euch bekehren sollt von diesen nichtigen Dingen (ἀπὸ τούτων τῶν ματαίων) zu dem lebendigen Gott (ἐπὶ θεὸν ζῶντα), der Himmel und Erde und das Meer und alles, was darin ist, gemacht hat (ὃς ἐποίησεν τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν καὶ τὴν θάλασσαν καὶ πάντα τὰ ἐν αὐτοῖς)« (V. 15). Die letztere Wendung entspricht bis in den Wortlaut hinein dem Schöpfungs-Summarium in Ex 20,11 (im dekalogischen Sabbatgebot) nach den Hauptzeugen der Septuaginta5 und steht auch Ps 145,5 f.(LXX) nahe, wo ein Makarismus dem gilt, dessen Helfer der Gott Jakobs ist und der auf den Herrn, seinen Gott, eben den Schöpfer des Himmels, der Erde, des Meers und was in ihnen ist, seine Hoffnung setzt.6 Paulus und Barnabas stellen den Schöpfergott den »Nichtsen«, d. h. den Götzen, gegenüber (μάταια auch z. B. in der Götzenpolemik Jer 10,3.15; 28[51],18). Der mit den Worten der Schrift beschriebene Schöpfer wird aber auch als Erhalter vorgestellt, als der er auch von den Lykaoniern erfahren wird: als Wohltäter, der »euch vom Himmel her Regenfälle und fruchtbare Zeiten gab und eure Herzen mit Speise und Freude füllte« (V. 17). In ähnlich kontrastiver Weise nimmt der lukanische Paulus auf dem Areopag die Rede vom Schöpfer angesichts der Heiligtümer und Altäre Athens wieder auf: »Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde (ὁ ποιήσας τὸν κόσμον καὶ πάντα τὰ ἐν αὐτῷ, οὗτος οὐρανοῦ καὶ γῆς ὑπάρχων κύριος), wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind.« (Apg 17,24) 3 R. Feldmeier / H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre (TOBITH 1), Tübingen 2011, 266. 4 Freilich wird Gott als Schöpfer mit den Worten von Ex 20,11; Ps 145,6(LXX) (s. im Folgenden) schon in Apg 4,24 im Gebet der Jerusalemer Gemeinde um freimütige Verkündigung des Wortes angeredet. 5 Allerdings fehlt im Haupttext des Codex Vaticanus καὶ τὴν θάλασσαν, im Codex Alexandrinus und in anderen Zeugen steht τε nach τόν. Im Codex Sinaiticus ist das ganze Buch Exodus nicht erhalten. 6 Demgegenüber ergänzt die Wendung in Apk 14,7 zu Himmel, Erde und Meer noch die »Wasserquellen« (πηγὰς ὑδάτων).
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 213
Unter Aufnahme prophetischer Tradition (Jes 66,1 f.; zitiert in Apg 7,48 – 50) schließt der lukanische Paulus aus Gottes Wesen als Schöpfer auf die Unmöglichkeit seiner Begrenzung auf menschengemachte Tempel. Zu beachten ist hier eine leichte Veränderung in der Explikation: Der konkreten Wendung »Himmel und Erde« wird der griechischem Denken entstammende Allgemeinbegriff κόσμος zur Seite gestellt. »Vermittler ist das hellenistische Judentum.«7 Auch creatio continua (V. 25: Gott gibt allen »Leben und Odem und alles«) und Menschenschöpfung (V. 26: »aus einem [Menschen] hat er das ganze Menschengeschlecht gemacht«) werden in diesem Zusammenhang erwähnt; die Schöpfung dient hier dem Aufweis der Nähe Gottes, aus der zugleich die rechte Art der Gottesverehrung geschlossen wird (V. 29). Die Nähe Gottes wird durch eine dreigliedrige pantheistische Formel ausgedrückt sowie durch ein Aratos-Zitat (aus phaen. 5: »Wir sind ja seines Geschlechts«) belegt (V. 28). »Gottes- und Menschenverständnis dieser Stelle sind im NT singulär.«8 Doch mindestens hinsichtlich der Aratos-Stelle spielte wohl wiederum das hellenistische Judentum den Vermittler, insofern sie auch in einem längeren Aratos-Zitat bei Aristobulos belegt ist, in dem der jüdische Philosoph und Tora-Ausleger die Namen »Dis« und »Zeus« durch »Gott« (θεός) im Sinn der jüdischen Gottesvorstellung deutend und korrigierend ersetzt hat.9 Somit bleibt festzuhalten: Der auctor ad Theophilum legt Paulus hier ein Verständnis des Schöpfers in den Mund, das biblisch-jüdisch geprägt ist und sich unter Aufnahme von hellenistisch-jüdischen Modifikationen griechischer Vorstellungen an die griechische Welt wendet. Paulus selbst benutzt im Römerbrief die fehlende Erkenntnis Gottes aus seinen Schöpfungswerken zum Aufweis der Unentschuldbar7 H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte (HNT 7), Tübingen 21972, 107. Vgl. 2 Makk 7,23 (ὁ τοῦ κόσμου κτίστης); SapSal 9,9 (ὅτε ἐποίεις τὸν κόσμον); Aristobulos Frgm. 5 (Eus.praep. 13,12,9: τὸν ὅλον κόσμον κατεσκεύακε). Zu κόσμος als »System von Himmel und Erde und den in ihnen enthaltenen Einheiten« vgl. Ps.-Aristoteles, De mundo 2 (391b9) und die weiteren Stellen bei J. C. Thom (Hg.), Cosmic Order and Divine Power: Pseudo-Aristotle, On the Cosmos (SAPERE 23), Tübingen 2014, 58 f. Anm. 16; zum möglichen Einfluss von De mundo auf hellenistisch-jüdische Autoren s. ebd., 9 f., 135 – 140 und v. a. R. Radice, La filosofia di Aristobulo e i suoi nessi con il »De mundo« attribuito ad Aristotele, Mailand 21995. 8 Conzelmann, Apostelgeschichte (s. Anm. 7), 110. 9 Frgm. 4 (Eus.praep. 13,12,6). Vgl. dazu ausführlich M. Mülke, Aristobulos in Alexandria. Jüdische Bibelexegese zwischen Griechen und Ägyptern unter Ptolemaios VI. Philometor, Berlin 2018, 7 – 45.
214 Lutz Doering keit der Menschen: »Denn seine unsichtbaren Eigenschaften werden seit der Schöpfung der Welt (ἀπὸ κτίσεως κόσμου) durch seine Taten als νοούμενα (Denkgrößen [so M. Wolter]10 oder: Gedachtes) wahrgenommen, (nämlich) seine ewige Macht und Göttlichkeit, sodass sie unentschuldbar sind; denn obwohl sie Gott kannten, haben sie ihn nicht als Gott verherrlicht (οὐχ ὡς θεὸν ἐδόξασαν) und ihm gedankt« (Röm 1,20 f.). Hier wird also die Doxologie als das dem Schöpfersein Gottes Entsprechende herausgestellt, wie dies bereits die Schöpfungspsalmen Ps 33[32] und 104[103] tun (vgl. auch Ps 19[18],2 – 5, vom Lob der Schöpfungswerke). Freilich ist dies bei Paulus hier eine jeweils nicht realisierte Möglichkeit. Im ersten Teil der Thronsaalvision der Johannesoffenbarung wird dagegen solcher Lobpreis von den 24 Ältesten Gott dargebracht, »denn du hast alle Dinge (τὰ πάντα) geschaffen, und nach deinem Willen waren sie und wurden sie geschaffen« (Apk 4,11); und am Ende der Vision wird der Lobpreis von »jedem Geschöpf (πᾶν κτίσμα), das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist«, dem, der auf dem Thron sitzt, »und dem jungen Widder« (Apk 5,13) dargebracht. In der Architektur dieser Vision sind über die Doxologien Schöpfer und Erlöser als Machtvolle zusammengesprochen, und der geschlachtete Widder, der gekreuzigte und auferstandene Messias aus dem Stamm Juda, wird zusammen mit Gott dem Schöpfer Empfänger des Lobpreises.11 Auch der Himmel als Gottes Schöpfungswerk spielt schon eine große Rolle in der Hebräischen Bibel und dann im antiken Judentum,12 und das frühe Christentum knüpft daran an. Einzelne neutestamentliche Texte sprechen ausdrücklich davon, dass Gott »den Himmel und was in ihm ist« geschaffen hat (Apk 10,6). Der Himmel ist somit als bevölkert vorgestellt, nicht nur von den »Vögeln des Himmels (τοῦ οὐρανοῦ)«,13 sondern auch von den »Engeln im
10 M. Wolter, Der Brief an die Römer, Teilbd. 1 (EKK VI / 1), Neukirchen-Vluyn / Ostfildern 2014, 134. 11 Vgl. M. Karrer, Johannesoffenbarung, Teilbd. 1 (EKK XXIV / 1), Ostfildern / Göttingen 2017, 396 – 401.430 – 432.470 – 476. 12 Vgl. nur Gen 1,1, die Schöpfungssummarien und Schöpfungspsalmen (Beispiele oben); für das antike Judentum vgl. Jub 2,2.25 und die im Folgenden genannten Texte. 13 Mk 4,32 parr.; Mt 6,26; Lk 8,5; 9,58 par.; Apg 10,12; 11,6; vgl. Gen 1,26 usw.
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 215
Himmel / des Himmels«.14 Nach Lk 10,18 sah Jesus »den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel (ἐκ τοῦ οὐρανοῦ) fallen«, womit dieser zur satansfreien Zone wird. Eine strenge Unterscheidung zwischen dem Himmel als Teil des Weltalls (»sky«) und als göttlicher Bereich (»heaven«) lässt sich für unsere Schriften nicht treffen, auch wenn der Singular eher bei Ersterem, der Plural eher bei Letzterem steht.15 Immerhin ist zwischen dem Himmel als Teil der Schöpfung Gottes und als metaphorischer Bezeichnung für Gott selbst zu unterscheiden, die im Neuen Testament in Kontinuität zu jüdischem Sprachgebrauch an einigen Stellen begegnet.16 In den apokalyptischen Schriften und in den von ihnen beeinflussten Texten wird der Himmel häufig gestuft bzw. in einer Folge von »Himmeln« (Plural) vorgestellt – drei, sieben, ja zehn Himmel kann es demnach geben, mit jeweils eigenem Gepräge.17 Bereits im frühesten apokalyptischen Bericht einer Reise in den Himmel (1 Hen 14), in der dieser noch nicht gestuft ist, wird er als Tempel (hier bestehend aus drei Gebäudeteilen) vorgestellt; in den späteren (TestLev 2 f.; 2 Hen 1 – 22) befindet sich das himmlische Heiligtum mit Gottes Thron in den höchsten Himmeln. Entsprechende Vorstellungen klingen auch im Neuen Testament an, wenn auch in unterschiedlichen literarischen Kontexten. Paulus reist nach der knappen Darstellung im Zusammenhang seiner »Narrenrede« in 2 Kor 12,2 – 4 in den dritten Himmel und in das (offenbar dort lokalisierte) Paradies.18 Nach Eph 4,10 ist Christus »aufgefahren über alle Himmel«, was ebenfalls eine gestufte Mehrzahl von Himmeln andeutet, zugleich aber für Christus 14 Mk 12,25 (ἐν τοῖς οὐρανοῖς) par. Mt 22,30 (ἐν τῷ οὐρανῷ); Mk 13,32 (ἐν οὐρανῷ) par. Mt 24,36 (τῶν οὐρανῶν); Mt 18,10 (ἐν οὐρανοῖς); vgl. Lk 2,15; 22,43; Joh 1,51; Gal 1,8; Apk 10,1 (jeweils Sg.) usw. 15 W. Bauer, Griechisch-Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. K. u. B. Aland, Berlin 61988, s. v. und BDR § 141.1 mit Anm. 4 suggerieren eine Aufteilung der Belege, die aber durch diese selbst immer wieder unterlaufen wird (s. o. und Anm. 14). Auch der Sitz Gottes wird im Universum verortet. 16 Vgl. v. a. Mk 11,30 parr. (Taufe des Johannes ἐξ οὐρανοῦ); Lk 15,18.21 (sündigen εἰς τὸν οὐρανόν); Mt 5,34; 23,22 (Schwören ἐν τῷ οὐρανῷ); und die Wendung βασιλεία τῶν οὐρανῶν Mt 3,2 und passim. Vgl. u. a. 1 Hen 22,5 f.; Dan 4,23 MT (vgl. ϑ´); Jub 22,18; 1 Makk 3,18 f. u. ö.; 2 Makk 3,15 u. ö. 17 Vgl. M. Himmelfarb, Ascent to Heaven in Jewish and Christian Apocalypses, New York 1993. 18 Vgl. z. B. J. B. Wallace, Snatched into Paradise (2 Cor. 12:1 – 10). Paul’s Heavenly Journey in the Context of Early Christian Experience (BZNW 179), Berlin 2011, v. a. 231 – 288.
216 Lutz Doering die höchstmögliche Position behauptet; der Aufstieg geschieht, »auf dass er das All erfülle«, womit einerseits Attribute Gottes, den die Himmel nicht fassen können, auf Christus übertragen werden und andererseits eine Verbindung zu Eph 1,23 f. geschlagen wird, wonach Christus das Haupt der Kirche ist, die als Leib die Fülle dessen ist, der alles erfüllt.19 Nach der Vision in Apk 4,1 f. ist im Himmel eine Tür aufgetan, der Seher wird eingeladen aufzusteigen und sieht, vom Geist ergriffen, den Thron Gottes im Himmel; die Vision ist, gemessen an den jüdischen Beispielen, bildlich sparsam ausgeführt und kommt offenbar in der Annahme eines bloßen Himmelsgewölbes den Vorstellungen griechischer Leserinnen und Leser entgegen.20 Auch in der paganen Literatur findet sich das Motiv der Himmelsreise.21 Wenn Gott im Neuen Testament (oder in frühjüdischen Schriften) als Schöpfer »des Himmels« bekannt wird, steht dem antiken Menschen üblicherweise mehr als nur der gestirnte Himmel vor Augen. Als letztes neutestamentliches Schlaglicht auf Gott als Schöpfer22 des Himmels und der Erde sei Jak 1,17 genannt, wo der Briefschreiber bekennt, dass »alle gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk von oben herab kommt, vom Vater der Lichter (ἀπὸ τοῦ πατρὸς τῶν φώτων), bei dem keine Veränderung oder Wechsel des Schattens ist«. Die »Lichter« sind hier kaum die Engel oder erleuchtende Gaben, sondern wahrscheinlich die Sonne (das »große Licht«) und der Mond (das »kleine Licht«; Gen 1,16).23 »Vater« heißt Gott hier »als ihr Schöpfer und Regierer«.24 Wir sehen hier schön die Verbindung von creatio primordialis und creatio continua (s. zu Letzterer § 5). Der Briefschreiber bildet an dieser Stelle eine Gottesbezeichnung in Anlehnung an ähnliche Wendungen im hellenistischen Judentum und in der platonischen Schöpfungslehre.25 Die Pointe der Wahl dieser 19
Vgl. A. T. Lincoln, Ephesians (WBC 42), Dallas 1990, 247 f. Vgl. Karrer, Johannesoffenbarung (s. Anm. 11), 402 – 406. Vgl. Wallace, Snatched (s. Anm. 18), 39 – 94; A. Y. Collins, Ascents to Heaven in Antiquity. Toward a Typology, in: E. F. Mason u. a. (Hg.), A Teacher for All Generations. Essays in Honor of J. C. VanderKam (JSJ.S 153), Bd. 2, Leiden 2012, 553 – 572. 22 Das Substantiv κτίστης »Schöpfer« kommt im Neuen Testament nur einmal vor (1 Petr 4,19) und begegnet in den jüdischen Schriften (mit Ausnahme von 2 Kön 22,23) erstmals in den original-griechischen Texten; vgl. z. B. Jdt 9,12; 2 Makk 1,24; 7,23; 4 Makk 5,25; 11,5; vgl. Arist 16. 23 C. Burchard, Der Jakobusbrief (HNT 15 / I), Tübingen 2000, 75 f. 24 A. a. O., 76. 25 Vgl. Platon Tim. 28c, »Urheber (ποιητήν) und Vater dieses Weltalls (τοῦδε τοῦ παντός)«; Philo decal. 134; Mos. 2,134 »Vater der Welt (τοῦ κόσμου)«; opif. 20 21
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 217
»generativen« Gottesbezeichnung scheint in der Vorbereitung der soteriologischen, sprachlich an Geburt bzw. Zeugung anklingenden Aussage von Jak 1,18 zu liegen (»willentlich hat er uns erzeugt [ἀπεκύησεν ἡμᾶς] durch das Wort der Wahrheit«), sodass man hier von einer Verschränkung von Schöpfungstheologie und Soteriologie sprechen kann. Vorausgesetzt ist grundsätzlich der priesterschriftliche Schöpfungsbericht Gen 1,1 – 2,4a, der als kulturell prägendes Narrativ im Judentum und Christentum damals wie heute als bekannt vorausgesetzt werden kann (s. ferner § 6). Von Bedeutung ist allerdings auch, dass dieser Text im antiken Judentum nicht nur (in verschiedenen Rezensionen und Versionen!) gelesen, sondern teilweise auch »neu geschrieben« wurde. Schrift und Tradition lassen sich hier nicht einfach trennen, sondern sind miteinander verwoben. Ein klassischer Text, der solch eine Aneignung und Neuschreibung von Gen 1 f. vollzieht, ist das Jubiläenbuch (Mitte 2. Jahrhundert v. Chr.). Hier wird zum einen das Schöpfungswerk neu erzählt, das streng auf sechs Tage beschränkt wird (Jub 2,1 – 16), zum andern der Schöpfungs-Sabbat nicht nur als Ruhetag Gottes, sondern auch der beiden höheren Engelklassen dargestellt, an dem sich Gott bereits das Volk Israel zu künftigem gemeinsamen Sabbat-Halten erwählt (Jub 2,17 – 24a).26 Nach Jub 12,26 ist Hebräisch die »Sprache der Schöpfung«, und das in die Schöpfung eingravierte Wort entspricht dem Gesetz, das aus ihr geradezu abgelesen werden kann. Schöpfung, Erwählung, Gesetz und Identität sind hier aufs engste miteinander verbunden. Wieweit das Jubiläenbuch, das in den Qumranhöhlen mit etwa 14 Handschriften vorzüglich bezeugt ist, den neutestamentlichen Autoren bekannt war, ist unklar. Doch das Werk zeigt, dass das Verhältnis von Schöpfung, Erwählung und Gesetz von starkem Interesse in der hellenistisch-römischen Zeit war. Die Argumentation des Paulus in Röm 1,18 – 2,29 schlägt zwar einen erheblich anderen Weg als das Jubiläenbuch ein, ist aber von dieser Frage ebenfalls geprägt.
72 u. ö. »Vater des Weltalls (τῶν ὅλων)«; Flavius Josephus, Ant. 7,380 »Vater und Quelle (γένεσιν) des Weltalls (τῶν ὅλων)«; vgl. 1 Kor 8,6; Eph 4,6. 26 Vgl. L. Doering, The Concept of the Sabbath in the Book of Jubilees, in: M. Albani / J. Frey / A. Lange (Hg.), Studies in the Book of Jubilees (TSAJ 65), Tübingen 1997, 179 – 205.
218 Lutz Doering
3. Philosophische Impulse für antikes jüdisches und christliches Denken über Weltschöpfung Bereits die antiken jüdischen Texte verstehen das Schöpfungsnarrativ jeweils im Horizont ihrer eigenen Zeit und bringen die Vorstellung der Weltschöpfung unter Einfluss zeitgenössischer Weltanschauungen zum Ausdruck. Hier sind es v. a. drei philosophische Impulse, die in unterschiedlicher Weise aufgenommen sind. Texte, die an den »Tagen« der Weltschöpfung und am siebten Tag als Ruhetag interessiert sind, nehmen Elemente pythagoreischer Zahlenlehre auf. Das gilt bereits im 2. Jahrhundert v. Chr. für den Tora-Ausleger Aristobulos (Frgm. 5 [Eus.praep. 12,13,9]: der siebte Tag könne »im eigentlichen Sinn« [φυσικῶς] auch erster genannt werden) und das Jubiläenbuch (Jub 2,3: »sieben große Werke« wurden am ersten Tag geschaffen), die jeweils die pythagoreische Entsprechung von Eins und Sieben sowie die besonderen Qualitäten der Sieben betonen.27 Im 1. Jahrhundert n. Chr. wird die pythagoreische Zahlenlehre sodann von Philon von Alexandrien in seiner Schrift De opificio mundi breit aufgenommen (vgl. opif. 89 – 128, ein arithmologisches Kompendium, verdichtet in LA 1,8 – 16).28 Dieser Aspekt ist nicht im Neuen Testament aufgenommen – nicht zuletzt wohl deshalb, weil die Unterscheidung von »Tagen« (und darunter ist auch der Sabbat zu fassen) von der Debatte um die Tora-Observanz von Nichtjuden dominiert wird (Gal 4,8 – 11; Röm 14,5; Kol 2,16 – 23). Der zweite Aspekt ist der Einfluss der Schöpfungslehre von Platons Timaios. Diese Lehre mit ihrer Unterscheidung zwischen der intelligiblen und der körperlichen Welt ist im hellenistischen Juden-
27 Vgl. L. Doering, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum (TSAJ 78), Tübingen 1999, 309 – 315; J. Ben-Dov, Time and Natural Law in Jewish-Hellenistic Writings, in: ders./L. Doering (Hg.), The Construction of Time in Antiquity. Ritual, Art, and Identity, Cambridge 2017, 9 – 30 (15 – 17). 28 Vgl. Doering, Schabbat (s. Anm. 27), 366 – 369; D. T. Runia, Philo’s Longest Arithmological Passage. De opificio mundi 89 – 128, in: L.J. Bord / D. Hamidovic (Hg.), De Jérusalem à Rome. Mélanges offerts à Jean Riaud, Paris 2000, 155 – 174; E. Filler, Description of the Creation by Philo in the Light of Neopythagorean Theory of Numbers, in: Da‘at 62 (2008), 5 – 25 (in Hebrew); ders., From Inception to Perfection. The Nature of Number Seven in Propensity towards Number One in Philo, in: Da‘at 63 (2008), 5 – 18 (in Hebrew).
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 219
tum stark rezipiert, vor allem wiederum bei Philon,29 und dort mit der jüdischen Schöpfungstradition in Verbindung gebracht: Derselbe Gott schafft erst die intelligible Welt und dann nach ihrem Modell die wahrnehmbare (opif 16 – 21). Das erlaubt Philon u. a. einen Ausgleich der beiden Schöpfungsberichte mit der Doppelung der Menschenschöpfung in Gen 1,26 f.; 2,7, die auf den intelligiblen und den körperlichen Menschen bezogen werden (opif. 69 – 86.134 – 139; auch LA 1,31 f.). In der sich aus Platons Timaios ergebenden Debatte über die Natur der Zeit bestreitet Philon die Ewigkeit der Zeit, die erst mit dem Kosmos entstanden sei (opif. 26). Die Vorstellung der creatio ex nihilo findet sich der Sache nach nicht wirklich bei Philon, wenngleich er sagen kann, Gott habe in der Schöpfung »das, was nicht ist, ins Sein gerufen« (τὰ γὰρ μὴ ὄντα ἐκάλεσεν εἰς τὸ εἶναι; spec. 4,187), was er aber als Ordnung des Ungeordneten sowie Herstellung von Ähnlichkeiten und Verbindungen expliziert. Begrifflich explizit findet sich die creatio ex nihilo erstmals im etwas älteren 2. Makkabäerbuch (2 Makk 7,28: »so wirst du erkennen, dass Gott dies nicht aus Bestehendem [οὐκ ἐξ ὄντων] gemacht hat«);30 der Kontext ist hier die Auferstehungshoffnung für die makkabäischen Märtyrer. Im Neuen Testament findet sich eine näher bei der philonischen Wendung stehende Ausdrucksweise bei Paulus, wiederum jedoch dem Thema der Totenauferweckung zugeordnet (Röm 4,17: »der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, dass es sei [καὶ καλοῦντος τὰ μὴ ὄντα ὡς ὄντα]«). Ob die Vorstellung der creatio ex nihilo im Hebräerbrief (Hebr 11,3) vorliegt, ist umstritten: »Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welten durch Gottes Wort hergestellt sind [κατηρτίσθαι τοὺς αἰῶνας ῥήματι θεοῦ], sodass aus dem nicht in Erscheinung Tretenden das Sichtbare geworden ist [εἰς τὸ μὴ ἐκ φαινομένων τὸ βλεπόμενον γεγονέναι].« Wahrscheinlicher geht es hier um eine platonisierende – zugleich aber heilsgeschichtlich rückgebundene – Weltanschauung, nach der die urbildliche Welt Typos der irdischen ist.31 Der dritte bereits im antiken Judentum festzustellende philosophische Impuls ist die stoische Lehre vom Universum, die etwa bei Philon 29 Grundlegend: D. T. Runia, Philo of Alexandria and the Timaeus of Plato (Philosophia Antiqua 44), Leiden 1986. 30 Anzumerken ist auch, dass das Jubiläenbuch das Tohu wa-Bohu aus Gen 1,2 übergeht (Jub 2,2) und damit ein Verständnis auszuschließen scheint, nach dem Gott die Welt aus Formlosem bzw. Chaos geschaffen hat. 31 Vgl. E. Grässer, An die Hebräer, 3. Teilbd.: Hebr 10,19 – 13,25 (EKK XVII / 3), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1997, 107 – 109 (109, Anm. 59 zur Auseinandersetzung mit Stimmen, die die creatio ex nihilo in Hebr 11,3 annehmen).
220 Lutz Doering aufgenommen und zugleich mit seinen Schöpfungsvorstellungen verbunden ist (conf. 170: »es gibt nur einen Herrscher und Anführer und König, dem allein es gestattet ist, das Weltall [τὰ σύμπαντα] zu beherrschen und zu ordnen«), der des Weiteren argumentiert, dass das Universum (τὸν σύμπαντα […] κόσμον) der höchste Tempel Gottes ist (spec. 1,66). Bei Paulus ist dies begrifflich, jedoch ebenfalls vom biblischen Schöpfungsglauben her gedeutet, in 1 Kor 8,6 reflektiert, wenn er sagt, wir haben nur einen Gott, den Vater, »aus dem das All ist (ἐξ οὗ τὰ πάντα) und wir zu ihm« und einen Herrn Jesus Christus, »durch den das All ist (δι᾿ οὗ τὰ πάντα) und wir durch ihn«. Zu vergleichen ist auch Röm 11,36, wenn Paulus von Gott sagt, dass »von ihm und durch ihn und zu ihm« τὰ πάντα sind. Ganz ähnlich kann Mark Aurel von der (freilich nicht schöpfungstheologisch verstandenen) physis sprechen (ἐκ σοῦ πάντα, ἐν σοὶ πάντα, εἰς σὲ πάντα; 4,23).32 Auch nach Eph 3,9 ist Gott Schöpfer »des Alls« (τὰ πάντα κτίσαντι). Bei der Aufnahme stoischer Vorstellungen dürfte wiederum das hellenistische Judentum als Vermittler eine große Rolle gespielt haben.33 Hier findet sich auch schon die Zuordnung des über dem All stehenden einen Gottes zum einen Volk (Flav. Jos., Ant. 4,200 f.; vgl. Apion. 2,193), wie sie in Eph 4,5 f. christlich adaptiert ist (»ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller / des Alls [πάντων], der da ist über allen und durch alle und in allen«). Im weiteren Verlauf werden wir sehen, dass antike jüdische und christliche Texte auch bei den Themen der Weltschöpfung durch einen Mittler und der creatio continua zeitgenössische philosophische Impulse aufgenommen haben.
4. Die Weltschöpfung durch einen Mittler In verschiedener Weise bezeugen einige Schriften des Neuen Testaments, dass Gott die Welt durch einen Mittler geschaffen hat. In Hebr 11,3 wird die Welt »durch das Wort Gottes (ῥήματι θεοῦ)« geschaffen, ähnlich in 2 Petr 3,5 (τῷ τοῦ θεοῦ λόγῳ). Hier steht antikes jüdisches Weisheitsdenken Pate. Bereits das Buch der Sprüche weiß, dass Jhwh 32 Vgl. A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9 / I), Tübingen 2000, 192 f. 33 So schon M. Dibelius, Die Christianisierung einer hellenistischen Formel, in: ders., Botschaft und Geschichte, Bd. II, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 1956, 14 – 29.
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 221
die Erde »durch Weisheit ( «)בְּ חָ כְ מָ הgegründet hat und »mit Einsicht ( «)בִּ ְתבוּנָהden Himmel bereitet (Prov 3,9); in Prov 8,27 spricht dann die Weisheit: »als er die Himmel bereitete, (war) ich da« (hebr. steht hier nur )שָׁ ם אָנִ י. Das wird dann bekanntlich in späteren Weisheitstexten aufgenommen und ausgebaut: Nach Sir 1,4 ist die Weisheit »vor allem« (προτέρα πάντων) geschaffen, nach 24,9 »vor der Welt(-Zeit), von Anbeginn« (πρὸ τοῦ αἰῶνος ἀπ᾿ ἀρχῆς); nach SapSal 8,4 ist sie in Gottes Wissen »eingeweiht« (μύστις) und »Teilhaberin« (αἱρετίς) an seinen Werken, nach dem Gott anredenden Vers 9,9 »kennt« (εἰδυῖα) die Weisheit »deine Werke« und »war dabei (παροῦσα), als du die Welt schufst«. Bei Philon subsistiert die intelligible Welt im Logos Gottes (opif. 20.24), den er einmal auch »zweiter Gott« nennt (QG 2,62: πρὸς τὸν δεύτερον θεόν).34 Nicht alle antiken jüdischen Schöpfungsvorstellungen teilen die Annahme eines Schöpfungsmittlers; so wird etwa in Jub 2,1 – 3 Gottes alleiniges Schöpferwirken besonders betont. In denjenigen Schriften des Neuen Testaments, die die Präexistenz Christi annehmen, füllt Christus die Rolle des Schöpfungsmittlers aus. Das konnten wir bereits in 1 Kor 8,6 sehen, wonach das All »durch« den einen Herrn Jesus Christus ist und wir »durch« ihn sind. In Hebr 1,3 wird der Sohn besungen als »Abglanz seiner (sc. Gottes) Herrlichkeit und Ebenbild seines Wesens« (ἀπαύγασμα τῆς δόξης καὶ χαρακτὴρ τῆς ὑποστάσεως αὐτοῦ), der »das All« (wiederum: τὰ πάντα) mit seinem kräftigen Wort trägt. Ähnlich findet sich das in Kol 1,15 f., wonach Christus das »Abbild« (εἰκών) des unsichtbaren Gottes ist, »Erstgeborener der ganzen Schöpfung« (πρωτότοκος πάσης κτίσεως), in dem (vgl. ἐν αὐτῷ) das All geschaffen wurde; V. 17 betont noch einmal, dass er »vor allem / dem All« (πρὸ πάντων) ist. Schließlich ist in diesem Zusammenhang Joh 1,1 – 4 zu nennen, die Schöpfung des Alls (πάντα) durch den Logos, der mit Christus identifiziert wird und dessen Inkarnation ausgesagt wird (V. 14). Gern wird hier die differentia specifica christlicher Schöpfungsaussagen gesehen; so etwa (mit Blick auf Paulus) bei Udo Schnelle: »Während der Gottesgedanke die Kontinuität zum Judentum verbürgt, sprengt die Christologie jede Einheit und begründet die theologische und damit auch historische Diskontinuität zwischen dem sich herausbildenden frühen Christentum und dem Judentum.«35 Das wird 34 Vgl. Zu diesen Traditionen H. von Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament (WMANT 64), Neukirchen-Vluyn 1990. 35 U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments (UTB 2917), Göttingen ²2014, 189.
222 Lutz Doering man sicher nuancieren müssen: Die Schöpfungsmittlerschaft etwa wird eben in enger Anlehnung an jüdische Weisheits- und Logos-Vorstellungen entwickelt. Sicher: Die Christologie umfasst weitere Aspekte, die in jüdischen Texten nicht ebenso derselben »Hypostase« zugeschrieben werden, und sie ist natürlich auch darin verschieden, dass sie die Inkarnation des Logos in der Person Jesu von Nazareth behauptet. Doch mindestens für einzelne Texte ist die Rolle erhöhter Gestalten, wie Weisheit, Logos, Engel oder auch Patriarchen im antiken Judentum und damit das Anknüpfen auch »hoher« Christologie an jüdische »binitarische« Vorstellungen in der jüngeren Forschung mit Recht hervorgehoben worden;36 dies legt eine weniger kategorische Unterscheidung als häufig üblich nahe.
5. Creatio continua Wie bereits mehrfach erwähnt, begegnet im Neuen Testament an mehreren Stellen die Vorstellung einer creatio continua. Jesus spricht etwa von Gott als dem Erhalter im Sinne dessen, was dogmatisch unter dem Namen providentia generalis bekannt geworden ist. So begründet der matthäische Jesus das Feindesliebe-Gebot mit der Zielsetzung, »auf dass ihr Kinder eures himmlischen Vaters werdet, der seine Sonne über Böse wie Gute aufgehen und es über Gerechten wie Ungerechten regnen lässt« (Mt 5,45). Hier wird in weisheitlichem Sinn Gottes Unparteilichkeit in der Erhaltung der Welt herausgestellt, die von der Scheidung im künftigen Gericht nach den Werken (vgl. z. B. Mt 25) zu unterscheiden ist. In seinen Worten vom Sorgen 36 Vgl. in unterschiedlicher Weise W. Horbury, Jewish Messianism and the Cult of Christ, London 1998; D. Boyarin, Enoch, Ezra, and the Jewishness of »High Christology«, in: M. Henze / G. Boccaccini (Hg.), Fourth Ezra and Second Baruch. Reconstruction after the Fall (JSJ.S 164), Leiden 2013, 337 – 361; P. Schäfer, Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017. Vgl. auch die schöne Formulierung bei Karrer, Johannesoffenbarung (s. Anm. 11), 399: »In den letzten Jahrzehnten wuchs […] die Aufmerksamkeit dafür, dass das Judentum mehrere Tendenzen kennt, eine zweite Gestalt in intensivste Nähe zum einen Gott zu rücken.« Hingegen unterscheidet L. H. Hurtado, One God, One Lord. Early Christian Devotion and Ancient Jewish Monotheism, Edinburgh 21998, zwischen erhöhten Figuren, die er für das antike Judentum zugesteht, und kultischer Verehrung (»devotion«) zweier Wesen, die er dort noch nicht, sondern erst im frühen Christentum erkennt. Es ist aber fraglich, ob sich diese Unterscheidung für das antike Judentum so durchhalten lässt.
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 223
(Mt 6,25 – 34 par. Lk 12,22 – 32) weist Jesus ferner auf die Erhaltung von Vögeln und Lilien durch Gott hin und schließt a fortiori auf die Versorgung der Menschen mit dem zum Leben Notwendigen. Verständlich wird dieser Rückgang auf die schöpfungsgemäße Ursprünglichkeit – durchaus eine Art von »Kulturkritik« – im Horizont der von Jesus verkündeten Gottesherrschaft, die etwa an den zuletzt angeführten Stellen explizit Erwähnung findet: »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.« (Mt 6,33; vgl. Lk 12,31) Auch die beiden einzigen Reich-Gottes-Gleichnisse im Markusevangelium »nehmen bezeichnenderweise auf Vorgänge in der Natur Bezug«:37 die Gleichnisse von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26 – 29) und vom Senfkorn (4,30 f.), wobei jeweils unbedeutender Anfang und großes Ergebnis miteinander kontrastiert werden.38 Wir werden auf die Entsprechung von Endzeit und Urzeit noch einmal zurückkommen (§§ 6 und 7). Auch in der Berücksichtigung und Darstellung der Schöpfungsthematik bei Paulus wird die Schöpfung »von der gegenwärtig erfahrenen Welt interpretiert. Gott ist dauerhafter ›Vater‹ der Welt, nicht nur einmaliger Ursprung oder Erzeuger.«39 Insofern spricht auch Paulus von der creatio continua. Hier ist noch einmal an Röm 11,36 zu erinnern: »von ihm und durch ihn und zu ihm (ist) alles / das All« – das gilt je und je; das Ersehen des Wesens Gottes wäre »seit« der Schöpfung aus seinen (je gegenwärtigen) Werken möglich (Röm 1,20), auch wenn dies, so Paulus, nicht realisiert wird. Und schließlich: Gott ordnet die Welt politisch und sozial (Röm 13,1 – 7; 1 Kor 7,17), und er lenkt die Geschichte (vgl. Gal 4,4).40 Was die traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen angeht, so ist die Erhaltung der Schöpfung zunächst ein sehr altes Thema, das Er37
Feldmeier / Spieckermann, Gott der Lebendigen (s. Anm. 3), 266. Zum Verhältnis von weisheitlicher und eschatologischer Motivation in der Ethik Jesu vgl. auch G. Theissen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 42011, 332 – 339. 39 So J. Becker, Paulus. Apostel der Völker (UTB 2014), 31998, 404. 40 In Anlehnung an Becker, Paulus (s. Anm. 39), 405 f. Vgl. auch M. Wolter, Der Brief an die Römer, Teilbd. 2: Röm 9 – 16 (EKK VI / 2), Ostfildern / Göttingen 2019, 312: »Im Hintergrund [von Röm 13,1 – 7] steht ein jüdisches Geschichtsbild: Jede Herrschaft von Menschen über Menschen […] gilt als von Gott etabliert, denn er ist als der Schöpfer der Welt auch derjenige, der den Verlauf der Geschichte nach seinem Plan souverän lenkt und bestimmt. Diese Konstellation verhindert, dass die Herrscher zu Repräsentanten Gottes werden.« 38
224 Lutz Doering fahrungen der bedrohten Schöpfung verarbeitet und »weit in die Religionsgeschichte des Alten Orient«41 zurückreicht, vor allem in die kanaanäische Religion, wie sie etwa aus den Texten von Ugarit belegt ist. In einigen Psalmen hat dieses Thema Spuren hinterlassen. Wie die kanaanäischen Texte keine ausgeführte Kosmogonie, sondern vielmehr eine Theomachie bieten,42 so kommt die Erde in diesen Psalmen nicht so sehr als Gottes anfängliches Schöpfungswerk in den Blick denn vielmehr als »sein Eigentum und Herrschaftsbereich, dessen Bewahrung in seiner Macht liegt«.43 So heißt es z. B. in Ps 24,1 f. (MT):44 »Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.«45 In Ps 104 wird die bestehende und sich stets erneuernde Schöpfung (V. 30 יִ בָּ ֵראוּןim Sinne der creatio continua) in Anklang an den Sonnenhymnus des Echnaton gepriesen, wobei auch die Geschöpfe in ihrem geordneten Lebensraum in den Blick kommen – unter Einschluss des Menschen, der ein Teil dieser Ordnung ist (V. 14 f.23). Im nachexilischen Ps 33,4 – 9 verbinden sich Motive der Bewahrung mit der uranfänglichen Schöpfung, wie wir sie aus Gen 1 kennen.46 Bei Deuterojesaja werden Schöpfung und Erhaltung eng mit der Erlösung verbunden, wie die »klassischen« Stellen Jes 43,1 und 44,24 zeigen.47 Im antiken Judentum werden diese Texte weitertradiert; darüber hinaus finden sich neue Aussagen zu Gottes Providenz, vor allem durch die Aufnahme griechischer πρόνοιαLehren. So stellt Philon etwa heraus, dass sich der Schöpfer stets um seine Schöpfung kümmern muss (opif. 171 f.; das Thema Providenz durchzieht mehrere Traktate und Themen bei Philon);48 die Sapientia Salomonis spricht etwa unter Aufnahme stoischer Vorstellungen davon, dass die Pronoia Gottes des Vaters ein Schiff durch das Meer
41
Feldmeier / Spieckermann, Gott der Lebendigen (s. Anm. 3), 261. R. G. Kratz / H. Spieckermann, Schöpfer / Schöpfung II: Altes Testament, TRE 30 (1999), 258 – 283 (264). 43 Feldmeier / Spieckermann, Gott der Lebendigen (s. Anm. 3), 261. 44 Ps 24[23],1 wird in 1 Kor 10,26 zitiert im Zusammenhang der Götzenopferfleisch-Thematik. 45 Ähnliches findet sich in Ps 29 und Ps 93. 46 Feldmeier / Spieckermann, Gott der Lebendigen (s. Anm. 3), 261. 47 A. a. O., 262. 48 Vgl. P. Frick, Divine Providence in Philo of Alexandria (TSAJ 77), Tübingen 1999. 42
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 225
»steuert« (SapSal 14,3),49 und Josephus verteidigt Gottes Providenz (vgl. Flav. Jos., Ant. 1,14.20) gegen den philosophischen Skeptizismus (Apion. 2,180) und legt sie universal aus (Apion. 2,166).50 Kommen wir noch einmal zum Neuen Testament zurück. Hier scheint besonders der Verfasser der Apostelgeschichte ein Interesse am Thema zu haben: Apg 14,17; 17,26 sprechen jeweils auch von Gottes Providenz (s. § 2), und möglicherweise hat der Autor das Motiv der Vorsehung auch narrativ eingesetzt.51
6. Der Mensch als Geschöpf; Mann und Frau Der priesterliche Schöpfungsbericht spricht von der Erschaffung des Menschen (Singular) »als Bild Gottes« ( )בְּ צֶ לֶם אֱֹלהִ ים בָּ ָרא אֹ תֹוund wechselt sofort in den Plural, wenn es heißt: »männlich und weiblich schuf er sie« ( ָזכָר וּנְ קֵ בָ ה בָּ ָרא אֹ תָ ם, Gen 1,27; vgl. 5,2). Dadurch wird sowohl die grundständige Unterscheidung des Menschen als Mann und Frau als auch ihre prinzipielle Gleichordnung hervorgehoben.52 Wichtig an diesem Schöpfungsbericht ist auch, dass der Mensch nur in einem sehr begrenzten Sinn aus der sonstigen geschöpflichen Welt herausgehoben ist. Zwar ist er »als Bild Gottes«53 geschaffen, doch ist für ihn kein eigener Schöpfungstag reserviert: Wie das lebendige Getier aus der Erde – Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes – wird er am sechsten Tag geschaffen (V. 24). Zwar bekommt er einen Herrschaftsauftrag über Fische, Vögel und Landtiere (V. 28), aber zur Speise erhält er nicht sie, 49 Vgl. D. Lanzinger, Wer baute das Schiff? Göttliches und menschliches Wirken in Weish 14,1 – 10, in: Biblica 99 (2018), 50 – 59 (51 – 53). 50 Vgl. J. M. G. Barclay, Against Apion, Flavius Josephus Translation and Commentary 10, Leiden 2006, ad loc. Vgl. auch den weisheitlich gestimmten Text 4Q413 = 4QComposition about Divine Providence. 51 Vgl. dazu D. Lanzinger, Ein Ratschluss Gottes oder von Menschen? Beobachtungen zur narrativen Entfaltung der lukanischen Vorsehungstheologie in Apg 5,17 – 42, in: NT 60 (2018), 361 – 385. 52 Eine frühere Generation drückte das so aus: »Der volle Begriff des Menschen ist nach P nicht im Mann allein, sondern in Mann und Weib enthalten.« G. von Rad, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2 / 4), Göttingen 51958, 47, der dafür wiederum auf O. Procksch verweist. 53 Das be- ist »be- essentiae«; vgl. Feldmeier / Spieckermann, Gott der Lebendigen (s. Anm. 3), 257: es »hält fest, dass der Mensch kein Abbild Gottes und erst recht kein Gott, sondern Geschöpf ist, dem Gott durch besondere Nähe und Beziehung Anteil an sich selbst gewährt, ohne dass diese Gabe in ontologischen Kategorien zu fassen wäre.«
226 Lutz Doering sondern nur Pflanzen und Früchte (V. 29). Was den Menschen nach V. 28 auszeichnet und damit sein »Bild Gottes«-Sein kommentiert, ist seine Ansprechbarkeit und die daraus resultierende Verantwortung.54 In der antiken jüdischen Rezeption ist dieses Kapitel mit Gen 2 zusammengelesen worden, das bekanntlich noch einmal von der Erschaffung des Menschen spricht. Hier wird der Mensch aus der Erde des Ackers geformt, Gott bläst ihm den Odem des Lebens (נִ ְשׁמַ ת )חַ יִּ יםin seine Nase (Gen 2,7), und so wird der Mensch / Adam zum lebendigen Wesen. Diesen setzt Gott in den Garten Eden, dass er ihn »bebaue und bewahre« (לְ עָבְ דָ הּ וּלְ שָׁ ְמ ָרה, V. 15). Erst nachdem der Mensch / Adam in den Tieren keine Hilfe findet, baut Gott aus der Rippe Adams die Frau (V. 21 f.). Weil die Frau »Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch« ist, wird ein Mann »seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhängen, und sie werden sein ein Fleisch« (V. 24). Bereits die Septuaginta nimmt hier leichte Veränderungen vor; am wichtigsten ist die Ergänzung »und die zwei (οἱ δύο) werden sein ein Fleisch«.55 Ähnlich lesen der Samaritanische Pentateuch ()משניהם, die Peschitto, die Vulgata, sowie die Targume Ps.-Jonathan und Neofiti. Diese Lesung wird auch im Neuen Testament in 1 Kor 6,16 und Eph 5,31 bezeugt. Sie ist wohl im Kontext einer zunehmenden Tendenz zur Monogamie zu verstehen, die in bestimmten Kreisen des antiken Judentums, unter anderem im Jachad von Qumran und in der Verkündigung Jesu, gegenüber der älteren Polygynie reflektiert ist.56 Gen 1 f. ist im antiken Judentum und frühen Christentum breit für das Verhältnis der Geschlechter und das Verständnis von Ehe herangezogen worden. Für das Verhältnis der Geschlechter stehen zwei Hauptprobleme im Vordergrund. Erstens, wie ist der Wechsel von »schuf er ihn« zu »schuf er sie (Pl.)« in Gen 1,27 (oder Gen 5,2) zu erklären; und zweitens, in welchem Verhältnis steht die Erschaffung des Menschen als »männlich und weiblich« zur Erschaffung der Frau aus der Rippe des Menschen / Adams nach Gen 2,21 f.? Philon von Alexandrien löst diese Fragen durch seine Annahme einer doppelten 54 Vgl. ebd.: »Der Mensch ist Gottes herausgehobenes Geschöpf, weil Gott ihn anreden wird und von ihm die Bewahrung des Gutseins seiner Schöpfung erwartet.« 55 Vielleicht wurde die Ergänzung von Gen 2,25 her vorgenommen. 56 Vgl. L. Doering, Marriage and Creation in Mark 10 and CD 4 – 5, in: F. García Martínez (Hg.), Echoes from the Caves. Qumran and the New Testament (StTDJ 85), Leiden 2009, 133 – 163 (140 f.).
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 227
Menschenschöpfung (s. auch oben § 3), zum einen als ideales Urbild (entsprechend Gen 1,26 f.), zum andern als sinnlich wahrnehmbarer Mensch (entsprechend Gen 2,7). Erst im Letzteren kommen die Geschlechter, die im Urbild lediglich in nuce angelegt sind (opif. 76), zur Verwirklichung, während das Urbild als unkörperliches Ideal selbst »weder männlich noch weiblich« ist (opif. 134: οὔτ᾿ ἄρρεν οὔτε θῆλυ). Es scheint, dass Philon in dieser angelegten Zweigeschlechtlichkeit im Urbild (die dort freilich zugleich aufgehoben ist), von dem in Platons Symposion (189d – 192c) entwickelten Mythos vom Androgynen beeinflusst ist, den er gleichwohl in seiner mythologischen Drastik anderswo ablehnt (conf. 63). Philon vermag auf seine Weise jedenfalls zu erklären, dass die Zweigeschlechtlichkeit zum »Menschen« gehört, sich aber nur im sinnlich wahrnehmbaren Menschen ausprägt. In der rabbinischen Literatur konkurrieren hauptsächlich zwei Ansätze einer Lösung. Entweder nimmt man an, der erste Mensch sei männlich geschaffen. Nach einigen Texten57 soll in den »für König Talmai« geänderten Worten der Tora (der angeblichen [!] Vorlage der Septuaginta)58 gestanden haben: »Als ein Männliches und seine (Körper-)Öffnungen ( )ונקוביוschuf er sie.« Der Plural »sie« bezieht sich auf den Mann mit seinen Öffnungen – vom Weiblichen ist hier nicht mehr die Rede; die Frau wird erst später geschaffen. Andere Texte sprechen ausdrücklich von der Erschaffung des Menschen als androgynos59 oder bieten die Lesart »Männlich und weiblich schuf er ihn («)בראו.60 Hier begründet die Androgynität des ersten Menschen die Differenzierung der Geschlechter. Wenn die Zweigeschlechtlichkeit aber keine uranfängliche Differenz darstellt, sondern gleichsam nur »abgeleitet« ist, kann sie (etwa 57 MekhJ pisḥa 14 zu Ex 1,40 (50,11 f. Horovitz / Rabin); BerR 8,11 zu Gen 1,27 (64,5 Theodor / Albeck); yMeg 1,11 [8], 71d. 58 Zu diesen, meist exegetisch, philosophisch oder theologisch strittige Fragen betreffenden Stellen vgl. G. Veltri, Eine Tora für den König Talmai. Untersuchungen zum Übersetzungsverständnis in der jüdisch-hellenistischen und rabbinischen Literatur (TSAJ 41), Tübingen 1994, zur Erschaffung des Menschen: 31 – 47. 59 So BerR 8,1 zu Gen 1,26 (55,2 – 4 Theodor / Albeck), wo auch die alternative Sicht angegeben ist, der Mensch sei als diprosopon »Zweigesichtiger« geschaffen; vgl. bBer 61a. – Nach J. B. Schaller, Gen 1.2 im antiken Judentum. Untersuchungen über Verwendung und Deutung der Schöpfungsaussagen von Gen 1.2 im antiken Judentum, Diss. masch. Göttingen 1961, 154 f., greifen die Rabbinen auf Plato zurück. 60 bMeg 9a (hier zu Gen 5,2). Vgl. auch WaR 14,1 zu Lev 12,2 (296,2 f. Margulies).
228 Lutz Doering im Eschaton) auch wieder aufgehoben werden. In diesem Sinn lässt sich das Votum des Paulus in Gal 3,28 im Kontext antiker jüdischer Verständnisse der Menschenschöpfung verstehen: »Hier ist nicht Jude und Grieche, nicht Sklave und Freier, nicht Männliches und Weibliches (οὐκ ἔνι ἄρσεν καὶ θῆλυ), denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.« Mit ἄρσεν καὶ θῆλυ wird deutlich Gen 1,27(LXX) aufgenommen und ihre Unterscheidung zugleich negiert.61 Wie genau dieses Aufhören zu denken ist, ob als Aufhebung der Unterschiede auf spiritueller Ebene oder als gleichsam christologische Einklammerung der Unterschiede, ist jedoch in der Forschung umstritten.62 Eine weitere Rationalisierung des Umgangs mit der Geschlechter-Differenzierung, die sich unter anderem im Neuen Testament findet, ist die Enthaltung von sexueller Aktivität »wie die Engel« (Mk 12,25 ὡς ἄγγελοι; Lk 20,36 ἰσάγγελοι; s. u.). Die Engel sind hier nach jüdischer Vorstellung male gendered, wobei sich die guten Engel jedoch sexueller Betätigung enthalten, die als dem Raum des himmlischen Heiligtums unangemessenen gilt (vgl. 2 Bar 56,14). Der Gegentypus dazu sind die in ihrer sexuellen Begierde zu weiblichen Menschen »gefallenen« Wächterengel nach Gen 6,1 – 4 bzw. 1 Hen 6,2 – 7,1. Des Weiteren spielt Gen 1 f. für das Verständnis der Ehe eine besondere Rolle. So wird Gen 2,24 als Begründungstext für die (monogame) Ehe eines Mannes mit einer Frau etwa in Tob 8,6 herangezogen: »Du hast Adam erschaffen und seine Frau Eva zur Hilfe und Stütze, und aus beiden (ἐξ ἀμφοτέρων) erstand das Geschlecht der Menschen« (so GII = Sinaiticus).63 In der Damaskusschrift heißt es in einer berühmten Passage über die »Erbauer der Mauer« (vermutlich 61 Vergleichbares findet sich in 2 Clem 12,2 (par. EvThom 22; EvÄg [apud Clemens strom. 3,92]), wo es von der Ankunft des Königreichs heißt: »Wenn die beiden eins sind, und das Äußere wie das Innere, und das Männliche mit dem Weiblichen, weder männlich noch weiblich (οὔτε ἀρσεν οὔτε θῆλυ).« 62 Zu unterschiedlichen Interpretationen dieser Texte vgl. nur D. Boyarin, A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994, 23 f.180 – 196, nach dem durch die Taufe die Unterschiede im unkörperlichen Leib Christi ausradiert werden, und J. M. Gundry-Volf, Christ and Gender. A Study of Difference and Equality in Gal 3,28, in: C. Landmesser / H.-J. Eckstein / H. Lichtenberger (Hg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums (BZNW 86), Berlin 1997, 439 – 479, die von einer differenzierten Gleichheit in Christus ausgeht. 63 GI weist nur geringfügige Abweichungen auf, doch bemerkenswerterweise fehlt ἐξ ἀμφοτέρων: »Du hast Adam erschaffen und ihm seine Frau Eva zur Hilfe und Stütze gegeben, und aus diesen (ἐκ τούτων) erstand das
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 229
die Pharisäer): »Sie sind in zwei (Netzen Belials) gefangen. In Unzucht, (indem sie) zwei Frauen zu ihren Lebzeiten ( )בחייהםnehmen, während die Grundlage der Schöpfung ( )ויסוד הבריאהist: ›männlich und weiblich schuf er sie‹ (Gen 1,27 = 5,2). Und die in die Arche gingen, ›gingen je zwei und zwei in die Arche‹ (Gen 7,9). Und über den Fürsten ist geschrieben: ›Er soll sich nicht mehrere Frauen nehmen‹ (Dtn 17,17).« (CD-A 4,20 – 5,2) Umstritten ist vor allem die Wendung »zu ihren Lebzeiten«; am wahrscheinlichsten ist mir, dass es sich (trotz der maskulinen Suffixform, die jedoch in Handschriften auch für das Femininum verwendet wird) auf das Leben der Frauen bezieht, sodass hier die Polygynie der Gegner angeprangert wird (nach alternativer Deutung richtet sich die Aussage auch gegen Wiederverheiratung nach Scheidung, solange beide Partner leben).64 Das Zweier-Prinzip der monogamen Ehe wird als »Grundlage der Schöpfung« hier nicht nur dem Schöpfungsbericht, sondern auch weiteren Texten (zu den Tieren auf der Arche, zum König) entnommen. In der Jesustradition wird auf Gen 1 f. für einen etwas anderen Aspekt der Ehe zurückgegriffen: Jesus führt in Mk 10,2 – 9 eine Verbindung von Gen 1,27 (= 5,2) und 2,24 zugunsten eines Verbots der Ehescheidung an.65 Jesus argumentiert hierbei mit der Differenz zwischen schöpfungsmäßiger Zuordnung und mosaischer Konzession »um eurer Herzenshärtigkeit willen« (V. 4 f.); doch »vom Anfang der Schöpfung ›schuf er sie männlich und weiblich‹. ›Deshalb wird ein Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen [und seiner Frau anhangen], und die zwei werden ein Fleisch sein‹. Daher sind sie nicht Geschlecht der Menschen.« Vgl. ferner Schaller, Gen 1.2 (s. Anm. 59), 59, der für Tob 8,6 von »einer Mischung von Paraphrase und Zitat« spricht. 64 Hingegen ist die früher beliebte Deutung auf die »Einzigehe«, d. h. die nur einmalige Möglichkeit der Heirat im Leben (vertreten etwa von H. Stegemann und F. García Martínez), jetzt wohl ausgeschlossen aufgrund des Belegs 4Q271 (4QDf) 3 10 f. (mit weiteren Parr. aus Höhle 4), wonach eine Witwe nur dann als Heiratskandidatin ausscheidet, wenn sie seit ihrer Verwitwung »beschlafen« wurde; dies suggeriert, dass sie, sofern dies nicht der Fall ist, durchaus wieder heiraten darf, was auch für Männer gelten dürfte. Vgl. die Diskussion in Doering, Marriage and Creation (s. Anm. 56), 148 – 154. 65 Hingegen kennt die Damaskusschrift die Ehescheidung (4Q266 [4QDa] 9 iii 4 – 7; vgl. CD-A 13,17). Vgl. C. Wassen, Women in the Damascus Document (Academia Biblica 21), Leiden 2005, 116 f.159 – 164. In Sir 25,26 (ohne hebräischen Text) wird offenbar Gen 2,24 zugunsten der Scheidung von der »bösen Frau« herangezogen: »Wenn sie nicht nach deinen Händen geht, so schneide sie von deinem Fleisch (ἀπὸ τῶν σαρκῶν σου).« Vgl. Schaller, Gen 1.2 (s. Anm. 59), 56 f.
230 Lutz Doering mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengebunden hat, soll der Mensch nicht scheiden« (V. 6 – 9). Es ist m. E. gut begründbar, dass Jesus hier im Horizont der anbrechenden Königsherrschaft Gottes eine Restitution primordialer Verhältnisse im Blick hat.66 Insofern kann man hier von einer Korrespondenz von Endzeit und Urzeit sprechen, doch ist für die Ehefrage die Zweistufigkeit endzeitlicher Erwartung zu beachten: In der Königsherrschaft Gottes wird die lebenslange Gemeinschaft eines Mannes und einer Frau in Entsprechung zur Schöpfung ermöglicht, doch in der Auferstehung von den Toten »werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie die Engel im Himmel« (Mk 12,25; s. zu diesem Motiv oben). Die der Schöpfung entsprechende Ehe ist somit nicht letztes Ziel eschatologischer Erwartung, und es kann Menschen (wie Jesus selbst) geben, die das engelsgleiche (zölibatäre) Leben bereits vorwegnehmen (Lk 20,35).67 Während Paulus in 1 Kor 7,10 f. eine Variante des Scheidungs-Verbots als »Gebot des Herrn«, verbunden mit einem Wiederverheiratungs-Verbot, ohne unmittelbaren Bezug zur Schöpfungsgeschichte mitteilt, spiegelt er in 1 Kor 11,7 – 12 eine Lektüre der beiden Schöpfungsberichte wider, nach der Gen 1,27 von der Erschaffung (allein) des Mannes und erst Gen 2,18 – 22 von derjenigen der Frau spricht. Nach Paulus sei somit »der Mann nicht von der Frau, sondern die Frau von dem Mann« und »der Mann nicht um der Frau willen geschaffen, sondern die Frau um des Mannes willen«. Daraus ergebe sich, dass (allein) der Mann (unmittelbar) »Bild und Abglanz Gottes« 66 Für Einzelheiten vgl. Doering, Marriage and Creation (s. Anm. 56), 134 – 146.158 – 163. – Eine ähnliche Entsprechung ist auch in Jesu Wort über den Sabbat zu finden: »Der Sabbat ist um des Menschen willen geworden (ἐγένετο) und nicht der Mensch um des Sabbats willen« (Mk 2,28); hier schließt Jesus aus der Vorordnung des Menschen vor den Sabbat (vgl. Gen 1,27; 2,2 f.) auf dessen Zuordnung zum Menschen, und zwar ebenfalls im Kontext seiner Basileia-Botschaft, innerhalb derer er sich den Nöten von Hungernden und Kranken am Sabbat zuwendet. Vgl. zuletzt L. Doering, Much Ado about Nothing? Jesus’ Sabbath Healings and their Halakhic Implications Revisited, in: ders./H.-G. Waubke / F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standorte – Grenzen – Beziehungen (FRLANT 226), Göttingen 2008, 217 – 241 (236 – 241). 67 Interessanterweise fehlt das Scheidungsverbot bei Lukas (keine Par. zu Mk 10,2 – 9; Lk 16,8 vielleicht nur Verbot der Wiederheirat), der auch sonst das ehe- und familienfeindliche Ethos verstärkt hat; die »Frau« gehört nach Lk 14,26 zu denen, die als Bedingung der Jüngerschaft zu »hassen« sind, nach Lk 18,29 zu denen, die um des Reiches Gottes willen zu »verlassen« sind.
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 231
(εἰκὼν καὶ δόξα θεοῦ) sei, während die Frau der »Abglanz« (δόξα) des Mannes sei. Daraus wiederum ergebe sich ein Unterschied bei der Bedeckung des Hauptes beim Gebet.68 In der Lektüre der Schöpfungsberichte ähnlich, schließt 1 Tim 2,11 – 14 aus der Erschaffung Adams vor Eva auf die Unterordnung der Frau und schreibt das Verführtwerden nur der Frau zu. Eine derartige Lektüre der Schöpfungsberichte entspricht einigen antiken jüdischen Parallelen und damit gewiss einer historischen Möglichkeit, mit der Sequenz der beiden Berichte umzugehen,69 wird aber weder der Dialektik von Gattung und Zweigeschlechtlichkeit nach Gen 1,27 noch der paulinischen Maßgabe für das Geschlechterverhältnis nach Gal 3,28 gerecht und steht auch in Spannung zum christologischen εἰκών-Verständnis von 2 Kor 4,4. Die Menschenschöpfung ist im Neuen Testament noch an weiteren Stellen aufgenommen. Hier ist zunächst Röm 9,19 – 21 zu nennen, wo im Bild des Töpfers, der »Verfügungsgewalt über den Menschen« hat, eine Anspielung auf Gen 2,7.19 (ἔπλασεν) – vermittelt über Jes 29,16(LXX) – vorliegt.70 Sodann spricht Jak 3,9 im Rahmen seiner Mahnung zur Zügelung der Zunge davon, dass wir mit der Zunge zugleich Gott loben und den Menschen, die nach der Ähnlichkeit Gottes gemacht sind (τοὺς καθ᾿ ὁμοίωσιν θεοῦ γεγονότας), fluchen. Aufgenommen ist hier nicht Gen 1,27, sondern Gen 1,26(LXX) (κατ᾿ εἰκόνα ἡμετέραν καὶ καθ᾿ ὁμοίωσιν), wobei kaum die Rede vom »Ebenbild« vermieden, sondern eher auf den argumentativ hier relevanten Aspekt der Ähnlichkeit abgehoben wird; Ähnliches findet sich bei 68 Was genau mit der »Macht« der Frau über ihr Haupt (1 Kor 11,10) gemeint ist, muss hier nicht diskutiert werden. 69 Vgl. Jervell, Imago Dei (s. Anm. 2), 296 – 301; vgl. die oben, Anm. 57, genannten rabbinischen Texte. Nach dieser Sicht ist im Grunde nur der Mann / Adam Gottes Ebenbild; eben weil sie es nicht ist, kann die Frau verführt werden. Vgl. die bei Jervell, Imago Dei (s. Anm. 2), 40 f. genannten Belege. Daneben gab es aber eine andere Strömung, die die Gottebenbildlichkeit dem Menschen als Mann und Frau zuspricht; vgl. a. a. O., 111 f. Vgl. u. a. Gen 1,27aα´: »in seinem Bilde schuf er sie (αὐτούς)«; ähnlich TFrag (Paris) ()יתהון. 70 Vgl. Breytenbach, TRE 30 (s. Anm. 1), 288; Wolter, Römer (s. Anm. 40), Bd. 2, 71. F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998, 304 – 307, spricht von einer zitatähnlichen Anspielung an Jes 29,16 (und 45,9) [LXX], diskutiert aber die darüber vermittelte Anspielung an Gen 2 nicht. Zu dieser vgl. nur O. Kaiser, Der Prophet Jesaja. Kapitel 13 – 39 (ATD 18), Göttingen 1973, 219: »Daß Gott den Menschen wie ein Töpfer aus Ton gebildet hat, ist ein in der Weisheitsdichtung begegnendes Motiv, vgl. Hi. 10,9 und 33,6, das sich an 1. Mose 2,7.19 mindestens anlehnt.«
232 Lutz Doering Philon (opif. 71), der allerdings den Doppelausdruck aus Genesis erklärt.71 Paulus bezieht sich ferner bei seinen Aussagen über die Auferstehung in 1 Kor 15,44 – 49 auf die Schöpfungsaussage Gen 2,7, was im folgenden Abschnitt angesprochen werden soll.
7. Zukunft der Schöpfung, neue Schöpfung Paulus spricht in Röm 8,18 – 22 die Vergänglichkeit der Schöpfung an, hier wohl bezogen auf die außermenschlichen Geschöpfe.72 Ihr Harren und Seufzen deutet er dabei nicht als Ausdruck ihrer Verlorenheit, sondern als Sehnsucht nach ihrer Erlösung. Sie sei zwar der Vergänglichkeit durch den Willen des Schöpfers unterworfen, »weil auch sie die Unheilsfolgen von Adams Schuld mittragen muss«73 – »doch auf Hoffnung« (V. 20). Der Schöpfer wird die Schöpfung freimachen »von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes« (V. 21). Hier findet sich wiederum ein Bezug von Schöpfung und Eschatologie, wenngleich von anderer Art als im vorigen Abschnitt. Paulus rekurriert auch in seinen Ausführungen zur Auferstehung von den Toten in 1 Kor 15 auf die Welt- und Menschenschöpfung sowie die »Sündenfall«-Erzählung. Zunächst stellt er dem Adam, durch den der Tod gekommen ist (Gen 3,17 – 19),74 den auferweckten Christus gegenüber: »Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden« (1 Kor 15,22); der »letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod« (V. 26). Sodann verwendet Paulus Hinweise auf Schöpfung und Naturprozesse als sprachliche Versuche, über den Auferstehungsleib zu reden. In 1 Kor 15,36 – 38 weist er darauf hin, dass das Samenkorn sterben muss, damit die Pflanze wächst, da es ja nicht die Pflanze selbst ist, die gesät wird; ganz ähnlich kann Plutarch75 vom Wachsen der Pflanze aus dem verfaulenden Samenkorn sprechen. Auch das »Fleisch« von Menschen, Vieh, Vögeln und Fischen unterscheidet sich jeweils, ebenso 71
Vgl. Burchard, Jakobusbrief (s. Anm. 23), 149. Wolter, Römer (s. Anm. 10), Bd. 1, 509. 73 A. a. O., 510. 74 Die knappe Erwähnung legt nahe, dass »die Adressaten mit der biblischen Schöpfungs- und Sündenfallüberlieferung vertraut sind« (Lindemann, Der Erste Korintherbrief [s. Anm. 32], 344). 75 Plutarch, In Hesiodi Opera Frgm. 104 (LCL 429, 213 f.); vgl. Feldmeier / Spieckermann, Der Gott der Lebendigen (s. Anm. 3), 268 mit Anm. 32. 72
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 233
das Wesen himmlischer und irdischer »Körper« (V. 39 – 41); aus dieser Erfahrung diverser Schöpfungswirklichkeit kann auf die antithetische Andersartigkeit des Auferstehungsleibes geschlossen werden: »Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich« etc. (V. 42 – 44). Als letztes Doppelglied spricht Paulus hier vom »natürlichen Leib«, der gesät wird, und dem »geistlichen Leib«, der aufersteht. Dafür kontrastiert er in V. 44b – 49 den ersten Menschen, Adam, der »zu einem lebendigen Wesen« wurde, als natürlichen bzw. irdischen Menschen und den letzten Adam, Christus, der »zum lebendig machenden Geist« wurde,76 als himmlischen Menschen. Erst dadurch wird »die Schöpfung vollendet«.77 Für seine Rede vom »ersten Menschen« bzw. »ersten Adam« folgt Paulus breiter bezeugten Vorstellungen im antiken Judentum.78 In durchaus für das Verständnis von 1 Kor 15,45 – 49 relevanter Weise spricht ferner eine rabbinische Tradition79 von himmlischen und irdischen Körpern, der zufolge der Mensch diese Aufteilung insofern durchbricht, als seine Seele himmlisch und sein Körper irdisch ist; wenn er den Willen seines Vaters im Himmel tut, gleicht er den »oberen Kreaturen«, wenn nicht, den »unteren Kreaturen«. M. Kister rechnet hier mit einem eschatologischen Verständnis – der Zustand gleich den oberen Kreaturen beziehe sich auf die Zeit nach der Auferstehung – und weist auf einen ähnlichen Beleg bei Theophilus von
76 Nach Lindemann, Der Erste Korintherbrief (s. Anm. 32), 361, setzt Paulus hier den Gedanken der Präexistenz Christi nicht voraus. 77 Feldmeier / Spieckermann, Der Gott der Lebendigen (s. Anm. 3), 269. 78 Die These, Paulus hänge hier spezifisch von philonischen Vorstellungen von »erstem« und »zweitem Menschen« ab und stelle sie auf den Kopf (G. Sellin), lässt sich nicht erhärten; vgl. B. Schaller, Adam und Christus bei Paulus. Oder: Über Brauch und Fehlbrauch von Philo in der neutestamentlichen Forschung, in: R. Deines / K.-W. Niebuhr (Hg.), Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 172), Tübingen 2004, 143 – 153. Philo gebraucht die Bezeichnung »erster Mensch« durchweg für den irdischen Adam (QG 1,14; opif. 136.139 f.142.145.148.151; Abr. 55; spec. 4,124; virt. 203), und die Bezeichnung »zweiter Mensch« in LA 2,5 für den aus Erde gebildeten Menschen bezieht sich offenbar nur auf die Sequenz der beiden Menschenschöpfungen; s. o. Weitere Belege für »erster Mensch / Adam« finden sich bei Josephus (Flavius Josephus, Ant. 8,62: ἀπὸ δὲ τοῦ πρώτου γεννηθέντος Ἀδάμου) und in der tannaitischen Literatur (mSan 4,5; tBer 6,2; MekhJ pisḥa 1 zu Ex 12,2 [7,12.14 Horovitz / Rabin] u. ö.). 79 Sifre Dtn § 306 (im Namen des späten Tannaiten R. Sima’i [frühes 3. Jahrhundert]).
234 Lutz Doering Antiochien (ca. 180) hin, was auf eine breitere Streuung solcher Vorstellungen deutet.80 Darüber hinausgehend kann bei Paulus die Aufnahme eines Menschen in den Lebensbereich Christi als »neue Schöpfung« bezeichnet werden, die bereits dort gegenwärtig ist, wo sich jemand durch diesen Lebensbereich bestimmen lässt: »Wenn jemand in Christus ist, (so ist da) neue Schöpfung (καινὴ κτίσις).« (2 Kor 5,17) Oder auf die Situation des Galaterbriefs angewandt: »Denn es gilt weder Beschnittensein noch Unbeschnittensein, sondern neue Schöpfung.« (Gal 6,15) Schöpfung und die so bestimmte neue Schöpfung werden vom selben Gott gewirkt: »Der Gott, der sprach: ›Aus der Finsternis soll Licht hervorleuchten‹, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben.« (2 Kor 4,6)81 Für ein solches präsentisches Verständnis von neuer Schöpfung gibt es wenige jüdische Belege; vielleicht kann man auf das Verständnis der Konversion Aseneths in Joseph und Aseneth verweisen, wenngleich hier der Begriff selbst fehlt.82 Allerdings zeigen einige Qumrantexte – mit eigener Akzentsetzung – eine durchaus vergleichbare »Paradise Now«-Perspektive: So wird in mehreren Texten des Jachad davon gesprochen, dass »Adams Herrlichkeit« ()כבוד אדם gegenwärtig (oder bald) wieder hergestellt wird83 und dass die Mit80 M. Kister, »First Adam« and »Second Adam« in 1 Cor 15:45 – 49 in the Light of Midrashic Exegesis and Hebrew Usage, in: R. Bieringer u. a. (Hg.), The New Testament and Rabbinic Literature (JSJ.S 136), Leiden 2010, 351 – 365. 81 Vgl. M. V. Hubbard, New Creation in Paul’s Letters and Thought (MSSNTS 119), Cambridge 2002. Hubbard kritisiert recht scharf (6 f.) die traditionsgeschichtliche Arbeit von U. Mell, Neue Schöpfung. Eine traditionsgeschichtliche und exegetische Studie zu einem soteriologischen Grundsatz paulinischer Theologie (BZNW 56), Berlin 1989, als weitgehend irrelevant für Paulus, doch sie zeigt eben durchaus den weiteren bedeutsamen Kontext, in dem Paulus seine eigenen Akzentuierungen anbringt. Hingegen verkürzt Hubbard den Hintergrund für die paulinische Rede von »Neuheit« zu stark biographisch auf das Damaskuserlebnis (240 f.). 82 Hubbard, New Creation (s. Anm. 81), 73 – 75. 83 Vgl. nur 1QS 4,20 – 23 (aus der Zwei-Geister-Lehre, vielleicht futurisch zu nehmen); CD-A 3,19 f. (das »sichere Haus« ist bereits gebaut, ob die »Herrlichkeit Adams« gegenwärtig, künftig oder inauguriert ist, bleibt unklar); 4Q171 (4QpPsa) 1 – 10 iii 1 f.; 1QHa 4,26 f. (Sukenik: 17,14 f.) (hier wohl schon gegenwärtig). Hierzu umfassend (und mit maximalistischer Interpretation) C. H. T. Fletcher-Louis, All the Glory of Adam. Liturgical Anthropology in the Dead Sea Scrolls (StTDJ 42), Leiden 2002. Auch die Erwähnung des » מקדש אדםTempel von Menschen / Adams« in 1Q174 1 i 6 kann auf eine Rekapitulation von Urzeit in der gegenwärtig erfahrenen Endzeit deuten; vgl.
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 235
glieder des Jachad bereits in der Gegenwart mit den Engeln Gemeinschaft haben, ja, teilweise sogar »angelomorph« werden.84 Schließlich ist auch die kosmische Vollendung der Schöpfung ein bedeutendes Thema in frühjüdischen85 wie neutestamentlichen Texten. Schon Jes 65,17 f. hatte von einem »neuen Himmel« und einer »neuen Erde« als Ausdruck der Hinwegnahme des Früheren gesprochen. In 2 Petr 3,13 erwartet der Autor zusammen mit den Adressaten »einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt«. Nach Apk 21 sieht der Seher »einen neuen Himmel und eine neue Erde« und das »neue Jerusalem von Gott aus dem Himmel herabkommen« (V. 1 f.), in dem kein Tempel sein wird, weil Gott ihr Tempel ist, »er und der junge Widder« (V. 22). Weniger klar in Bezug auf ihre Endzeitvorstellungen sind die Evangelisten. Nach Mk 13,24 – 26.31 parr. werden Himmel und Erde nach einer kosmischen Katastrophe und dem Kommen des Menschensohns »vergehen« (παρελεύσονται). Was danach kommt, bleibt hier jedoch undeutlich. In Mt 19,28 dürfte aber mit παλιγγενεσία »Wiederentstehung« die Neuschöpfung der Welt gemeint sein; und Apg 3,21 spricht von den χρόνων ἀποκαταστάσεως »Zeiten der Wiederherstellung« all dessen, wovon Gott durch die Propheten von Anfang an geredet hat, was offenbar auf eine Restitution der anfänglichen Weltordnung rekurriert.86 Unter den antiken jüdischen Texten kennen das Jubiläenbuch und die Tempelrolle die Vorstellung der neuen Schöpfung (Jub 1,27; 4,26; 11QTa 29,9: »bis zum Tag der [sc. neuen] Schöpfung« [)]עד יום הבריה, dort allerdings in Erwartung eines von Gott gebauten Tempels, der an die Stelle des unzureichenden Jerusalemer Tempels treten soll. Nach dem Jubiläenbuch wird dieses eschatologische Heiligtum in L. Doering, Urzeit-Endzeit Correlation in the Dead Sea Scrolls and Pseudepigrapha, in: H.-J. Eckstein / C. Landmesser / H. Lichtenberger (Hg.), Eschatologie – Eschatology. The Sixth Durham-Tübingen Research Symposium: Eschatology in Old Testament, Ancient Judaism and Early Christianity (Tübingen, September, 2009; WUNT 272), Tübingen 2011, 19 – 58 (44 – 46). 84 Vgl. 1QHa 11,20 – 24 (Sukenik: 3,19 – 23); 1QM 12,1 – 8; sowie den »Self Glorification Hymn« (4Q471b; 4Q491c; 4Q427; 1QHa 26); D. Stökl Ben Ezra, Qumran. Die Texte vom Toten Meer und das antike Judentum (UTB Jüdische Studien 3), Tübingen 2016, 304 – 306. 85 Vgl. Mell, Neue Schöpfung (s. Anm. 81), passim. 86 Vgl. z. B. E. Adams, The Stars Will Fall from Heaven. »Cosmic Catastrophe« in the New Testament and its World (LSNT 347), London 2007, 161 – 181.
236 Lutz Doering Jerusalem in Entsprechung zum Garten Eden präsentiert.87 Anders gelagert ist die Vorstellung in 4 Esr 7,30 – 32, wonach die Welt in das primordiale Schweigen für sieben Tage zurückkehren wird (geradezu eine »Ent-Schöpfung«!), woraufhin dann »die Welt, die noch nicht wach ist, erweckt werden und das Vergängliche sterben wird«. Dies geht einher mit der Auferweckung der Toten. Gemäß 2 Bar 4,1 – 6 hat Gott das Modell des verheißenen Jerusalems schon bereit gehalten seit dem Augenblick, als er das Paradies schaffen wollte; er hat es Adam, Abraham und Mose gezeigt.88 Nach 2 Bar 32,1 – 6 wird Gott die ganze Schöpfung erschüttern; Zion wird in Herrlichkeit erneuert und vollendet werden, wenn Gott seine Schöpfung erneuert. Auch hier findet sich eine Form der Urzeit-Endzeit-Entsprechung und zugleich Vollendung der Schöpfung.89 Und auch in der Neuschöpfung bleibt nach diesen Texten, die enge Beziehungen zum Neuen Testament haben, die Materie der ersten Schöpfung erhalten.90
8. Ergebnis und Anregungen Die nicht allzu zahlreichen expliziten neutestamentlichen Hinweise auf Welt- und Menschenschöpfung rufen ein Netz von Texten und Traditionen aus den Schriften Israels und der Literatur des antiken Judentums auf, die teils vorauszusetzen, teils für eine Kontextualisierung – gelegentlich auch kontrastiv – hilfreich sind. Damit haben die neutestamentlichen Texte teil an zeitgenössischen Diskursen über Welt- und Menschenschöpfung, aus denen sie situativ und argumentativ einzelne Aspekte herausgreifen, verarbeiten und zur Geltung bringen. Das (Apostolische) Credo verdichtet den Schöpfungsbezug in seiner Formulierung des Ersten Artikels auf äußerste Weise zur Formel »Schöpfer Himmels und der Erden«.91 Die hier genannten Texte und 87
Vgl. Doering, Urzeit-Endzeit Correlation (s. Anm. 83), 31 – 36. Damit wird die תבניתdes Tempels (Ex 25,9.40) gleichsam in die Urzeit vordatiert. 89 Doering, Urzeit-Endzeit Correlation (s. Anm. 83), 52 f. (2 Bar 4). 54 – 56 (4 Esr 7,30 – 32); M. Henze, Jewish Apocalypticism in Late First Century Israel. Reading Second Baruch in Context (TSAJ 142), Tübingen 2011, 193 (2 Bar 32). 90 Vgl. Adams, The Stars (s. Anm. 86), 78 – 84. 91 Das Nizäno-Konstantinopolitanum erwähnt diesbezüglich immerhin noch Gottes Schaffen »aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge« (ὁρατῶν τε πάντων καὶ ἀοράτων). 88
Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung 237
Traditionen regen an, durchzubuchstabieren, was das eigentlich heißt. Innerhalb der protestantischen dogmatischen Tradition ist bekanntlich die Auslegung des Ersten Artikels im Kleinen Katechismus ein Beispiel solchen Durchbuchstabierens. Doch wie die spöttischen Bemerkungen des Konsuls Buddenbrook zu Beginn von Thomas Manns berühmtem Roman zeigen,92 ist auch dieses stark kontextgebunden und bedarf jeweiliger Aktualisierung; hinzu kommt das Überwiegen des individuellen Blickwinkels und des Schwerpunkts bei der Providenz in Luthers Auslegung. Die hier gesichteten Texte stellen hingegen in Bezug auf das Bekenntnis zum »Schöpfer Himmels und der Erden« in breiterer Weise die kosmologischen, heilsgeschichtlichen, identitätspolitisch-sozialen, ethischen, christologischen und eschatologischen Implikationen des Bekenntnisses vor Augen. Sie regen an, das Neue Testament im Kontext der Schriften Israels zu lesen und dabei auch – in Anknüpfung wie in Widerspruch – das literarische Umfeld zu beachten, in dem diese Schriften tradiert wurden und innerhalb dessen das Neue Testament selbst entstand. Auch das erfordert hermeneutische Reflexion. Doch diese ist dann an eine größere Breite und Vielfalt des Nachdenkens über den Schöpfer und seine Schöpfung gewiesen.
92 »Er erkundigte sich nach Tonys Acker und Vieh, fragte, wieviel sie für den Sack Weizen nähme, und erbot sich, Geschäfte mit ihr zu machen« (Th. Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt 1960, 5 [1. Teil, 1. Kap.]).
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer Phänomenologische Annäherungen und theologische Deutungen Christopher Zarnow
Übersieht man systematisch-theologische Abhandlungen der letzten Jahre zum Begriff »Schöpfung«, so fällt ins Auge, dass zwei Themen den Zugang dominieren. Das ist zum einen die Frage nach einem angemessenen »Umgang mit der Schöpfung« vor dem Hintergrund menschlicher Umweltzerstörung (der ethische Zugang), zum anderen das Verhältnis von Schöpfungsglaube und naturwissenschaftlicher Weltsicht (der apologetische Zugang). Die folgenden Überlegungen gehen einen anderen Weg – nicht um das Recht der beiden genannten Zugänge zu bestreiten, sondern um sie zu ergänzen. Dahinter steht die u. a. bereits von Paul Tillich geäußerte Überzeugung, dass die überlieferten Symbole des Christentums über weite Strecken ihre sinngebende Kraft verloren haben, verschlissen sind.1 Dann genügt es aber auch nicht mehr, die Aufgabe der systematischen Theologie als kritische Reflexion positiv irgendwie gegebener Glaubensbestände zu bestimmen. Denn es ist alles andere als klar, von welchen Gegebenheiten hier überhaupt ausgegangen werden kann. Die Dogmatik hat vielmehr selbst Aufbauarbeit am Symbol zu leisten, d. h. konstruktive Vorschläge zu machen, wie die Symbole des Christentums neu zur Sprache gebracht werden können. Das gilt auch für das Symbol einer »Geschöpflichkeit« des Daseins. Dazu unterbreiten die folgenden Überlegungen einige Vorschläge, besser gesagt: Sie tragen Materialien und Beobachtungen zusammen, die als gedankliche Horizonte der Auslegung jenes Symbols dienen können. Damit ist auch gesagt, was die folgenden Ausführungen nicht leisten: Sie bieten weder einen Kurzabriss der dogmatischen Schöpfungslehre mit ihren kanonischen Themen (Schöpfung und Erhaltung, creatio ex nihilo, Vorsehungslehre, Kreatürlichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen, usw.), noch eine begriffliche Wesensbestimmung des Schöpfungsglaubens – wohl aber Variationen über einige seiner Motive. Als Darstellungs1 Vgl. exemplarisch P. Tillich, Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie (GW VIII), Stuttgart 1970, 111.
240 Christopher Zarnow weise wähle ich die Form einer gedanklichen Homilie zu den einzelnen Begriffen des Credo-Abschnittes: »Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde.« Ich beginne mit der Erde (1, 2) und schreite fort über den Himmel (3) und den Zwischengedanken der Welt als Schöpfung (4) zum Schöpfer (5).
1. Der blaue Planet Nach fast 800 Seiten Darstellung der Genesis der kopernikanischen Welt kommt der Philosoph Hans Blumenberg in seinem gleichna migen Werk auf die Raumfahrt zu sprechen.2 Diese habe, nachdem sich der neuzeitliche Mensch im Schatten des Kopernikus eben gerade erst an seine periphere Stellung im Weltall gewöhnt hatte, eine »vorkopernikanische Überraschung«3 bereitgehalten. Denn das eigentliche Wunder, das sich den Astronauten bot, als sie die Oberfläche des Mondes betraten, sei nicht dessen »wesenlose[.] Wüste«4 gewesen. Ja, so unspektakulär erschienen die Fernsehübertragungen der grauen Mondlandschaft, dass bald ein regelrechter Bilderstreit darüber entbrannte, ob es sich bei der Mondlandung – in heutiger Sprache – um fake news handelte und die ausgestrahlten Bilder in Wahrheit in »amerikanischen Wüsten des Staates Arizona bei Mondlicht«5 aufgenommen worden seien. Das Wunderbare war nicht der Mond, sondern das Bild der Erde, das sich aus dem kosmischen Rückblick bot: »Unerfindbar, schlechthin jede imaginative Vorwegnahme übersteigend, war während dieser astronautischen Dekade nur ein einziges Bild, das der Erde aus dem Raum. Versucht man die jahrhundertelange vorbereitende Imagination, die kosmische Neugierde ins Verhältnis zum Ereignis zu setzen, so war die ebenso unerwartete wie herzbewegende Peripetie der gigantischen Absetzung von der Erde dieses Eine, daß am Himmel des Mondes die Erde steht.«6
Anders gesagt: »Die Erde hat sich als kosmische Ausnahme erwiesen.«7 Nachgerade hymnisch mutet der Ton an, mit dem der Philo2 H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt: Typologie der frühen Wirkungen. Der Stillstand des Himmels und der Fortgang der Zeit, Frankfurt a. M. 1981. 3 A. a. O., 787. 4 A. a. O., 786. 5 A. a. O., 785. 6 A. a. O., 785 f. 7 A. a. O., 787.
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 241
soph seine Überlegungen zur Raumfahrt ausklingen lässt: »Die kosmische Oase, auf der der Mensch lebt, dieses Wunder von Ausnahme, der blaue Eigenplanet inmitten der enttäuschenden Himmelswüste, ist nicht mehr ›auch ein Stern‹, sondern der einzige, der diesen Namen zu verdienen scheint.«8 Satellitenbilder des blauen Planeten sind heute zur dauerverfügbaren Massenware geworden. Mithilfe von Software wie Google Earth kann jeder am Computer oder Smartphone über detaillierte Abbildungen der Erdoberfläche navigieren und den eigenen Standpunkt aus einer planetarischen Außenperspektive reflektieren. Es wäre reizvoll zu hören, in welche geistesgeschichtliche Großerzählung Hans Blumenberg die ubiquitäre Verfügung satellitengesteuerter Navigationsprogramme eingebunden hätte. Auf jeden Fall gehört das Bild vom »blauen Planeten« Erde zum kanonischen Bilderreservoir zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In dem bild- und auch tongewaltigen Science-Fiction-Drama »Gravity«9 aus dem Jahre 2013, mit den Schauspielern Sandra Bullock und George Clooney in den Hauptrollen, wird die Rückkehr der Hauptfigur Dr. Ryan Stone, gespielt von Bullock, aus dem durch und durch lebensfeindlichen Kosmos10 zur Erde mit Bildanleihen sowohl an die biblische Schöpfungsgeschichte als auch an die Evolution des Lebens erzählt. In der Schlusssequenz11 schält sich die Astronautin, die mit ihrer Kapsel in dem Gewässer einer paradiesisch anmutenden, urtümlichen Landschaft gelandet ist, aus ihrem Raumanzug und rettet sich an die Wasseroberfläche, wo sie ein kurzes Stoßgebet ausspricht. Während ihrer Befreiungsaktion schwimmt ein Frosch großformatig über die Leinwand, wie ein Zitat aus schematischen Darstellungen der Evolutionslehre, in denen Kaulquappen an Land kriechen und sich zu den ersten Reptilien entwickeln. Die Astronautin selbst schwimmt, am Ende ihrer Kräfte, zum Ufer und bleibt dort erst einmal liegen. Es ist ihr erster Moment der Schwerkraft seit langem, und sie lacht erheitert und überrascht auf, als sie sich erheben will und die enorme Macht spürt, die sie hinab zur Erde zieht. Schließlich richtet sie sich auf, die Kamera folgt ihrem in den Schlamm gesetzten Fuß nach oben, und da steht sie bzw. er: der 8
A. a. O., 793 f. Gravity, Alfonso Cuarón, US / UK 2013. »Das ist das Weltall. Es kooperiert nicht.« Mark Watney, gespielt von Matt Damon, in: Der Marsianer. Rettet Mark Watney, Ridley Scott, UK 2015, TC: 02:12:55. 11 Gravity (s. Anm. 9), TC: 01:20:13 – 01:23.50. 9
10
242 Christopher Zarnow Mensch, trotz der Kraft, die ihn nach unten zieht, aufrecht, die Füße auf der Erde, den Kopf erhoben, den Blick in den Himmel gerichtet. Ein Urbild Adams bzw. Evas: jenes Wesens, das, wie schon der Titel des Blockbusters andeutet, auf die Erde und nicht in die unendlichen Weiten des Raumes gehört. Ein Wesen, dessen Gravität in der Bewältigung, aber nicht im Entfliehen der Schwerkraft besteht. Bilder der Erde, des blauen Planeten, werden filmisch oft in einer Weise in Szene gesetzt und musikalisch untermalt, die ästhetisch ergreifend sind und darauf abzielen, Erhabenheitsgefühle zu stimulieren. Bestes Beispiel dafür ist das Intro des kalifornischen Medienkonzerns »Universal Studios«, das mit der Darstellung eines Lichtkranzes hinter einer schwarzen Planetenkugel beginnt, dessen Strahlen – vom »Universal«-Schriftzug ausgehend – in der weiteren Sequenz die Kontinentalplatten der Erde von innen zu durchleuchten scheinen.12 Es dürfte kaum zufällig sein, dass sich der mit allen Wassern der Metapherntheorie gewaschene Philosoph Hans Blumenburg ausgerechnet einer religiösen Sprache bedient, wenn er die Erde als »Wunder ohne Ausnahme […] inmitten der […] Himmelswüste«13 bezeichnet. Die Ansicht des blauen Planeten löst Staunen, Faszination, ja Ehrfurcht aus. In seinen Blogs und Tweets dokumentiert der deutsche Astronaut Alexander Gerst in Echtzeit seine Impressionen aus dem Weltall. » ›Die Erde von außen zu sehen, hat einen neuen Horizont für mich eröffnet‹, sagte er bei der Pressekonferenz. Die Erkenntnis, wie verletzlich der blaue Planet tatsächlich ist, wolle er jetzt auf die Erde zurückbringen.«14 In das Staunen über die Erhabenheit und Schönheit von Wolkenformationen und Wetterlagen, von Lichterteppichen der Metropolen, die den nächtlichen Globus überziehen, von Gebirgsformationen oder blau-grünen Wellen des Polarlichtes mischt sich in den Kommentaren des Astronauten das Bewusstsein um eine kosmische Fragilität des Planeten. Zugleich, so lauten wiederkehrende Beschreibungen, wirke dieser aus der Distanz betrachtet so unberührt, als hätte die Menschheit noch keine Spuren auf ihm hinterlassen.
12 URL: https://www.youtube.com/watch?v=CBUZeRGofsY, zuletzt abgerufen am 24. 08. 2018. 13 Blumenberg, Genesis (s. Anm. 2), 793. 14 Stuttgarter Zeitung vom 08. 11. 2014. URL: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.astronaut-alexander-gerst-der-blick-auf-blue-dot-hat-ihn-veraendert.e7dd2615-e284-4ab7-9a99-9b91b6cf0375.html, zuletzt abgerufen am 24. 08. 2018.
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 243
Die durch Raumfahrt und Satellitenbilder vermittelte Außenperspektive auf die Erde eröffnet nicht nur in ästhetischer, sondern auch in ethischer Hinsicht neue Horizonte. In seinem »terrestrischen Manifest« forderte jüngst der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour eine radikale Rückbesinnung auf die Knappheit ökologischer Ressourcen und die Begrenztheit bewohnbarer Territorien des Planeten.15 Kritisch hält er einem Verständnis von Globalisierung, in dem sich das »moderne« Projekt einer unbegrenzten Ausdehnung bzw. Durchlässigkeit von Ländergrenzen, Wirtschaftszonen und Lebensräumen verdichtet, die These entgegen: »Die Erde, die groß genug wäre, seine [d. h. die von den Vertretern der Modernisierungstheorie propagierten, C. Z.] Ideale an Fortschritt, Emanzipation und Entwicklung in sich aufzunehmen, gibt es nicht.«16 Der pathetische Aufbruch in die »große, weite Welt«17 verkenne die faktische Begrenztheit der Lage: Der Planet Erde in seiner physischen Materialität tauge nicht als »Globus der Globalisierung«.18 Eine zynische Art und Weise, diesen Sachverhalt zu realisieren, offenbarte sich nach Latour im Ausstieg des amerikanischen Präsidenten Donald Trump aus dem Pariser Klimaabkommen: » ›Wir Amerikaner gehören nicht zu derselben Erde wie ihr. Eure mag bedroht sein, unsere nicht!‹ […] Das Ideal einer gemeinsamen, auch vom bisher so bezeichneten ›Westen‹ geteilten Welt gibt es nicht mehr.«19 Zwischen den Themen des Klimawandels, der weltweiten Migration sowie des Anstiegs sozialer Ungleichheiten bestehe ein innerer Zusammenhang, der gerade von denen begriffen worden wäre, die ihn leugnen, um die Solidarität mit den anderen Erdbewohnern aufzukündigen und sich innerhalb neu errichteter nationaler Grenzmauern abzuschotten. Die »obskurantistischen Eliten« hätten begriffen, »dass sie nur überleben können, wenn sie erst gar nicht mehr den Anschein erwecken, als würden sie die Erde mit dem Rest der Welt teilen wollen.«20 Diesem zynischen Ausstieg aus dem »Globalisierungsspiel«21 hält Latour eine neue Form von Solidarität bzw. Universalität der Planetenbewohnerinnen und -bewohner entgegen, »die völlig pervers (a wicked universality) und zugleich die 15
B. Latour, Das terrestrische Manifest, Berlin 2018. A. a. O., 25. 17 A. a. O., 36. 18 A. a. O., 25. 19 A. a. O., 11. 20 A. a. O., 28. 21 A. a. O., 12. 16
244 Christopher Zarnow einzige ist, über die wir noch verfügen […]. Die neue Universität ist das Empfinden, dass einem der Boden unter den Füßen wegsackt«22 bzw. anders formuliert, »dass alle mit einem allgemeinen Mangel an teilbarem Platz und bewohnbarer Erde konfrontiert sind.«23 In den Worten der Latour-Rezensentin Elisabeth von Thadden: »Heimatlos sind wir alle.«24 Latour setzt der von Blumenberg pathetisch beschriebenen »Absatzbewegung« von der Erde aus dem Weltraum gleichsam eine ideologiekritische Gegenlektüre entgegen. Der in der neuzeitlichen Wissenschaft mit der Absetzung von der Erde gewonnene Distanzgewinn (»the view from nowhere«, vom »Großen Draußen« aus25) führte zu einem epistemischen Ideal der Objektivität und Teilnahmslosigkeit, stehe damit aber in der Gefahr, gerade das Naheliegende und Wesentliche aus dem Blick zu verlieren: das von Latour sogenannte »Terrestrische« im Sinne der »von der Erde aus erschaute[n] Natur«26 (im Unterschied zu der vom Universum heraus erschauten »planetarischen« Sicht auf die Erde). Das terrestrische Manifest versteht sich in diesem Sinne als Kampfschrift für eine politische und epistemologische Rückkehr zur Erde, zu einem im wörtlichen Sinne »bodennahen« Realismus: »Tatsächlich beschränkt sich das, was es von […] dem Terrestrischen vom Weltraum aus zu erkennen gilt, überraschenderweise auf die kleine, einige Kilometer umfassende Zone zwischen Atmosphäre und Muttergestein: auf einen dünnen Film, Firnis, eine zarte Hülle, vielfach gefaltete Schichten. Reden wir nur weiter von der Natur im Allgemeinen, geraten wir vor der Größe des Universums in Entzücken, tauchen gedanklich ein ins Zentrum des Planeten, lassen uns angesichts der unendlichen Räume erschrecken: Letzten Endes beruht alles, was uns betrifft, auf dieser winzigen Kritischen Zone.«27
Das terrestrische Manifest versucht die Erde nicht aus der einer extraterrestrischen Außenperspektive, sondern vom Boden her zu denken – letztlich vom Staub und Humus.28 Das mutet archaisch an und 22
A. a. O., 18. A. a. O., 17. 24 URL: https://www.zeit.de/2018/27/das-terrestrische-manifest-bruno-latour-rezension, zuletzt abgerufen am 25. 08. 2018. 25 Latour, Das terrestrische Manifest (s. Anm. 15), 81. 26 A. a. O., 83. 27 A. a. O., 92. 28 Vgl. a. a. O., 101, 107. Zur konkreten Materialität der Erde im Gegensatz zur »Ungegenständlichkeit« der Welt vgl. M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks (1936), in: ders., Holzwege (HGA 5), Frankfurt a. M. 1957, 7 – 68. Vgl. auch H. Timm, Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des All23
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 245
weckt unwillkürlich Assoziationen an den biblischen Mythos von der Erschaffung Adams: »Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden« (Gen 3,19b). Ganz ähnlich klingt das Bekenntnis des materialistischen Philosophen: »Wir sind Erdverbundene inmitten von Erdverbundenen.«29 Und nachgerade weihevoll wird der Ton, wenn er schreibt: Der »Boden lässt sich nicht aneignen. Man gehört ihm, er gehört niemanden.«30 Gleichwohl betreibt Latour keine romantizistische oder gar völkische Bodentümelei. Die »Landung« bzw. »Erdung«, die er beschwört, hat ihre Pointe vielmehr darin, eine geo- und klimapolitische Perspektive zu eröffnen, die eine Haltung der Teilnahmslosigkeit von vornherein unmöglich macht. Der Begriff des »Bodens« fungiert dabei als epistemologische31 und existenzielle Ur-Metapher: »Erdgeschöpfe«32 sind an den Boden gebundene Wesen. Allerdings scheint es notwendig zu sein, den modernen, gleichsam vom Boden abgehobenen Menschen33 daran zu erinnern, sich zu »erden« bzw. auf dem Erdboden zu landen. Diese Erinnerung nimmt bei Latour die Gestalt eines Katalogs von Fragen an, die er in direkter Anrede seinen Leserinnen und Lesern stellt: »Woran hängen Sie am meisten? Mit wem können Sie leben? Wessen Überleben hängt von Ihnen ab? Gegen wen werden Sie kämpfen müssen? Wie lassen sich alle diese Agentien und Akteure ihrer Wichtigkeit nach in eine Rangfolge bringen?«34 Die Pointe von Latours sprachgewaltigen und metaphernreichen Ausführungen – die an dieser Stelle bloß wiedergeben, aber nicht im Einzelnen kritisch kommentiert werden sollen – liegt in der Neuvermessung des Feldes der Klimapolitik, in der er das Zentrum gegenwärtiger geopolitischer Herausforderungen erblickt. Der Blick auf den blauen Planeten, der durch die Raumfahrt ermöglicht und von Blumenberg so hymnisch beschrieben wurde, mag ästhetisch faszinieTags, Gütersloh 1983, 23: »Nur in der Phantasie hat die von Kopernikus vollzogene Verwandlung des geozentrischen ins heliozentrische Weltbild stattgefunden. Sie entrückt uns gedanklich auf die Sonne, um von dort aus den Erdball rotieren zu sehen, auf dem wir bodenständige Wesen doch nach wie vor unser Leben führen.« 29 Latour, Das terrestrische Manifest (s. Anm. 15), 101. 30 A. a. O., 107. 31 »In Schwerelosigkeit nach Emanzipation zu streben verlangt andere Qualitäten, als tief grabend sich emanzipieren zu wollen« (a. a. O., 95). 32 A. a. O., 97. 33 »In der Modernität vorwärtskommen hieß, sich vom ursprünglichen Boden losreißen und den Weg zum großen Außen einschlagen« (a. a. O., 85). 34 A. a. O., 111.
246 Christopher Zarnow rend sein. In ethischer Hinsicht habe er aber nicht dazu geführt, dass die solcherart kosmologisch selbst-reflektierte Menschheit sorgsamer mit der Erde umgehen und klimapolitisch das Ruder herumreißen würde. Viel eher habe die Faszination für eine Perspektive der Ferne und Distanz zu einer Vernachlässigung der Pflege des eigenen Bodens geführt. In dieser Hinsicht stehe die »Landung auf der Erde«35 noch aus.
2. Die Erde, Schiff der Menschheit »Gott ist im Himmel und du auf Erden« (Koh 5,1) – so lautet die kürzeste Formel der biblischen Topographie. Offensichtlich mussten schon die Menschen des Alten Testaments an ihren Platz im Universum erinnert werden. Adam – hebräisch für Mensch – kommt von Adamah – hebräisch für die Erde. Der Mensch ist ein Erdling. Nach der zweiten biblischen Schöpfungserzählung wurde er aus Erde geformt und durch Einhauchung mit göttlichem Odem belebt und beseelt. Die Bindung an die Erde steht nach dem biblischen Mythos in Verbindung mit dem Last- und Plagecharakter des Daseins: »Mit Mühsal sollst du dich [vom Acker] nähren ein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.« (Gen 3,17b – 19a) Die Erde ist der Acker, der Boden, den es zu bestellen gilt, um zu überleben. Und sie ist zugleich die Substanz, aus der der Mensch gemacht ist. Adam – das ist ein Stück belebte Erde, vorübergehend in Form gebracht, um final von der Oberfläche im Erdboden zu verschwinden. Die Erde gilt in der Mythologie vieler Religionen als fruchtbarer Mutterschoß, der Leben empfängt und gebiert.36 Die Erde wird als eigenständige Schöpfungs- und Erhaltungsmacht verehrt oder als (oft weiblich personalisierte) Gottheit angebetet. Dagegen betonen die biblischen Autoren, dass die Erde an sich selbst keine göttlichen Qualitäten hat: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (Gen 1,1). Wie der Himmel (s. unten) gilt auch die Erde aus biblischer Sicht nicht als eigenständige göttliche Schaffenskraft, sondern als Geschöpf. Gleichwohl findet sich auch in der Auslegungsgeschichte 35
Vgl. a. a. O., 15, 104 u. ö. Vgl. C. Olson, Erde, religionswissenschaftlich, RGG4 (1999), Bd. 2, 1397 – 1399. 36
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 247
der biblischen Religion eine reiche Tradition, in der die Erde zwar nicht selbst vergöttlicht, wohl aber zum Gegenstand frommer Naturbetrachtung gemacht wird. Der junge Schleiermacher führt seine Leserinnen und Leser an die Thematik der Religion über das Staunen angesichts erhabener Naturerscheinungen heran. Was ist es, fragt er, »mit jenen Schönheiten des Erdballs, welche der kindliche Mensch mit so inniger Liebe umfaßt. Was ist jenes zarte Spiel der Farben, das Euer Auge in allen Erscheinungen des Firmaments ergötzt und Euren Blick mit so vielem Wohlgefallen festhält auf den lieblichsten Produkten der vegetabilischen Natur?«37
Die Antwort des Frühromantikers lautet: Es ist der »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«,38 der durch die Darstellungen vergänglicher Naturschönheit affiziert wird. In den Einzelerscheinungen der Natur geht dem religiös gestimmten Geist die Idee eines größeren Ganzen auf. Er sieht sich in einen »allgemeinen Naturzusammenhang«39 gestellt. Im Bewusstsein dieses Naturzusammenhangs erblickt Schleiermacher die rudimentäre Grundlage aller religiösen Weltdeutung, oder mit seinen eigenen Worten, des »fromme[n] Naturgefühl[s] im allgemeinen«.40 Allerdings bildet die äußere Natur nur eine propädeutische Vorstufe, einen »Vorhof«41 der eigentlichen Religion. In seiner frommen Naturbetrachtung bleibt der menschliche Geist gleichsam noch auf der ästhetischen Oberfläche. Noch tiefer vermag er aber in den Zusammenhang aller Dinge einzudringen – und damit auch noch eine tiefere Selbst- und Weltanschauung zu finden. Eine solche vertiefte Anschauung gewinnt er, indem er sich von dem Bereich der nicht-menschlichen Natur der Betrachtung der Menschwelt zuwendet. Schleiermacher gibt im frühromantischen Duktus dem biblischen Mythos von Adam und Eva wieder: »Solange der Mensch allein war mit sich und der Natur, waltete freilich die Gottheit über ihm, sie sprach ihn an […], aber er verstand sie nicht, […] der Sinn für die Welt ging ihm nicht auf […]. Da erkannte die Gottheit, daß ihre Welt nichts sei, solange der Mensch allein wäre, sie schuf ihm die Gehilfin, […] und nun erst ging seinen Augen die Welt auf. In dem Fleische von seinem Fleische und Bein von seinem Beine entdeckte er die Menschheit, und in der 37 F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. R. Otto, Göttingen 1991, 68 (80). 38 A. a. O., 51 (53). 39 F. D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830), 1. Bd., hg. v. M. Redeker, Berlin 1960, 180. 40 A. a. O., 183. 41 Schleiermacher, Über die Religion (s. Anm. 37), 71 (86).
248 Christopher Zarnow Menschheit die Welt […]. [D]enn um die Welt anzuschauen und Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe.«42
Das fromme Naturgefühl ist nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur wahren Religion. Diese findet ihr eigentliches Anschauungsfeld im Gebiet der Menschheit. Denn nicht nur ist jedes einzelne menschliche Individuum bei näherer Betrachtung bereits ein »Kosmos« bzw. »Universum« für sich, sondern darüber hinaus erweist es sich darin auch als einmalige Manifestation der allgemeinen Idee der Menschheit. Der gereifte religiöse »Sinn für die Welt« besteht folglich in der Empfänglichkeit für eben diese Idee. Nach ihr, der »ewige[n] Menschheit«43 ist zu suchen »in jedem einzelnen […] als eine Offenbarung von ihr an Euch«.44 In den Darstellungs- und Entfaltungsformen des menschlichen Lebens findet die Religion ihr eigentliches Anschauungsmaterial, ihren »Stoff«.45 Vor diesem Hintergrund erfährt dann auch das fromme Naturgefühl noch einmal eine neue Interpretation. Nicht die Erde an sich, sondern die Erde als Lebensraum der menschlichen Gattung ist es, die den eigentlichen Gegenstand des religiösen Weltbewusstseins bildet. In den einleitenden Passagen der Schöpfungslehre vollzieht Schleiermacher die einzelnen Momente nach, in denen sich dieses Bewusstsein aufbaut. Das erste und grundlegende Aufbaumoment besteht demzufolge im Bewusstsein der Leiblichkeit der eigenen Existenz. Der Mensch als geistiges Wesen erfährt sich gebunden an eine äußere und innere Natur, von der er sich im Geist freilich auch immer schon zu unterscheiden vermag. Er findet sich selbst vor unter der Doppelbestimmung, als Geist- zugleich ein Naturwesen zu sein – und umgekehrt. Mit der Leiblichkeit der eigenen Existenz ist aber zugleich – so das zweite Aufbaumoment – eine Sphäre der Wechselwirkungen gesetzt, die auf den Leib ein- und auf die dieser zurückwirkt. Diese Sphäre ist darin aber »nicht mit einer Grenze gesetzt und also […] alles endliche Sein in de[r]selben mitgesetzt«.46 Schließlich, drittens, kommt nun noch einmal ein neuer und entscheidender Gedanke ins
42
A. a. O., 72 f. (88 f.). A. a. O., 76 (92). A. a. O., 74 (90 f.). 45 A. a. O., 73 (89). 46 Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 39), 181. S. dazu auch unten, Abschnitt 4. 43 44
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 249
Spiel. Der »Ich-Sager«47 Mensch vermag nicht nur ein Bewusstsein seiner eigenen Ich-Identität auszubilden. Er kann sich mit der kollektiven Identität einer Gruppe von Individuen identifizieren, ja letztlich sogar die Idee einer universellen Menschheit fassen, als deren exemplarischer Repräsentant er sich selbst begreift. Mit dieser Idee ist dann aber zugleich – sozusagen auf der Naturseite der menschlichen Gattung – »die ganze Erde [hvg. CZ] teils als Habe, teils als Entgegengesetztes mitgesetzt«.48 Die geläufige Metapher von der Erde als »(Raum) Schiff«49 – teilweise apokalyptisch umgedeutet als Titanic50 – variiert dasselbe Thema. Denn auch hier liegt der springende Punkt auf der Menschheit, welche die »Besatzung« bzw. »Mannschaft« dieses Schiffes stellt. Der blaue Planet ist eben nicht einer neben anderen – er ist »unser« Planet. Mit seinen bildlichen Darstellungen verbindet sich unwillkürlich eine Art Wir-Gefühl. Hierin liegt womöglich auch der Grund für die Faszination und die fast schon religiöse Aura dieser Bilder: Sie zeigen eben nicht nur Ozeane und Kontinente, sondern verweisen darin und darüber hinaus auch auf etwas, was sich der unmittelbaren Darstellung entzieht: Sie veranschaulichen auf symbolisch vermittelte Art und Weise die Idee der (einen) Menschheit. Aus dem Weitwinkel des Weltraums betrachtet zoomt die Erdbevölkerung zu einer planetarischen Wohngemeinschaft zusammen.
3. Taghimmel, Nachthimmel Während der – durch technische Bildübertragung vermittelte – Blick auf den Planeten Erde aus dem Abstand des Weltalls erst durch die Raumfahrt möglich wurde, gehört der Blick in den Himmel und die Beobachtung der Himmelskörper zu den bildlichen Urszenen der Menschheit. Von der Erde aus schweift dieser Blick zur Linie des Horizontes, an dem sich Himmel und Erde berühren. So gesehen gehört der Himmel immer schon zur Erde bzw. genauer: Er bildet mit seinen Wolkenformationen und Himmelskörpern eine zweite Topo47 Vgl. E. Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003. 48 Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 39), 181. 49 Vgl. S. Höhler, Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960 – 1990, London / New York 2016. 50 Vgl. Latour, Das terrestrische Manifest (s. Anm. 15), 28.
250 Christopher Zarnow graphie, die, wie die Topographien der Erde, beobachtet, vermessen und kartiert werden kann. Zugleich gilt der Himmel als Symbol der Unermesslichkeit schlechthin. Denn sein Horizont verschiebt sich mit jedem Schritt, mit dem man auf ihn zugeht. Und auch der Blick nach oben – hinein in die Höhe bzw. Tiefe des Himmels – gibt den Augen keinerlei Anhaltspunkt für eine vertikale Grenze. Die unermessliche Weite und Höhe des Himmels affizieren von jeher zu religiösen Symbolbildungen.51 »Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken«, heißt es bei Deuterojesaja (Jes 55,8 f.). Die Höhe des Himmels gegenüber der Erde gilt dem Propheten als Analogie für die Hoheit des göttlichen Ratschlusses, den zu ergründen das menschliche Vermögen gänzlich übersteigt. Neben der »Höhe« kann auch die »Weite« des Himmels als Symbol der Welttranszendenz Gottes genommen werden: »Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit so weit die Wolken gehen«, heißt es in Psalm 36,6. Die Weite des Himmels und des Wolkenzugs dient als Vergleich für die Unermesslichkeit der Güte und Wahrheit Gottes. Von da aus kann der Himmel auch selbst als Wohnsitz Gottes bezeichnet werden: »Der Herr hat seinen Thron im Himmel errichtet« (Ps 103,19). Der Mensch ist auf der Erde, Gott im Himmel – so lautet, wie erwähnt, die Kurzformel der biblischen Topographie: »Warum sollen die Heiden sagen: Wo ist denn ihr Gott? Unser Gott ist im Himmel; er kann schaffen, was er will« (Ps 115,2 f.). Aber das Symbol des Himmels bleibt – um eine Formulierung Hans Blumenbergs aufzugreifen – inhaltlich zutiefst zweideutig.52 Neben der aufgezeigten Linie, nach der der Himmel als ein religiöses Symbol der Transzendenz gilt, gibt es eine zweite, welche die Zugehörigkeit von Himmel und Erde und damit zugleich die Geschöpflichkeit des Himmels betont. »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« – so heißt es gleich in den ersten Worten der Genesis. Der Himmel und vor allen Dingen auch alle Himmelskörper gehören der Sphäre des Geschaffenen an, der Gott insgesamt als ihr Schöpfer gegenübersteht. »Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen«, heißt es im Tempelweihgebet Salomos (1 Kön 8,27). Gott 51 Vgl. zum Folgenden U. Barth, Mitschrift zur Dogmatik (unveröffentlichtes Manuskript), Halle / Berlin 2015, 61 – 63. 52 Vgl. Blumenberg, Genesis (s. Anm. 2), 9 – 11.
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 251
transzendiert den Himmel, ist »höher als der Himmel« (Hiob 11,8), ist durch keine Grenze des Himmels eingeschränkt. So lassen sich zwei gegenläufige Linien in der Bibel identifizieren: Nach der einen wird die Geschöpflichkeit des Himmels und die Himmelstranszendenz des Schöpfers betont, der in ewiger Erhabenheit über Raum und Zeit steht. Nach der anderen dient der Himmel selbst als ein religiöses Symbol für die Weltüberlegenheit Gottes – bis hin zur Identifizierung des Himmels mit seinem Wohnsitz. Die biblischen Aussagen stehen in der Spannung zwischen Metaphorisierung und schöpfungstheologisch motivierter Depotenzierung des Himmels. Diese angezeigte Zweideutigkeit wird von einer zweiten überlagert. Phänomenologisch ist nämlich zu unterscheiden zwischen dem Blick in den Tag- und in den Nachthimmel.53 Beide zeigen sich dem Betrachter auf gänzlich andere Art und Weise und sind auch in den biblischen Texten mit unterschiedlichen Assoziationen belegt. So ruft der Psalmist am Tage zum Lob des Herren »vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang« (Ps 113,3) auf. Der Tag ist die Periode des Schaffens, der Tätigkeit und Wachheit. Er ist ein Geschöpf des Lichtes, der Sonne, die in ihrem Lauf »ewig bestehen soll« (Ps 89,37).54 In den Aussagen über die Sonne wiederholt sich dabei die eben beobachtete Doppeldeutigkeit: Einerseits gilt sie – wie Mond und Sterne – als Geschöpf: »Der große Lichter gemacht hat, denn seine Güte währet ewiglich: die Sonne, den Tag zu regieren, denn seine Güte währet ewiglich« (Ps 136,7 f.). Auf der anderen Seite kann die Sonne vereinzelt auch selbst zum Bildnis Gottes werden: »Denn der Herr ist Sonne und Schild« (Ps 84,12). Eine gänzlich andere Himmelsanmutung bietet sich dem nächtlichen Betrachter. Der Blick fällt auf den Mond und die Sterne, die sich als Leuchtpunkte von der Schwärze ihres Hintergrunds abheben. Es ist der Nacht-, nicht der Taghimmel, den betrachtend der Beter des achten Psalms in tiefe Reflexionen über das Wesen der menschlichen Existenz versinkt: »Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, 53 Ich danke Michael Moxter für seine diesbezüglichen mündlichen Anmerkungen. 54 Allein 27 Belege der Wendung »unter der Sonne« finden sich beim Prediger (Kohelet). Mit der All-Täglichkeit des Sonnenlaufs verbindet sich hier eine melancholische Note, eine Einsicht in die Vergeblichkeit aller Mühen angesichts der ewigen Wiederkehr des Gleichen: »Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne« (Koh 1,9).
252 Christopher Zarnow dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?« (Ps 8,4 f.) Die Reflexionsbewegung nimmt ihren Ausgang bei den Gestirnen, die sich dem nächtlichen Himmelsbeobachter zeigen, schreitet von ihnen fort zum Gedanken desjenigen, dessen »Werk« sie sind, um schließlich beim Betrachter selbst zu landen. Das Bewusstsein von dessen eigener Geschöpflichkeit baut sich also durch mehrere Vermittlungsstufen auf: zunächst durch die Deutung der beobachteten Himmelskörper nicht selbst als Gottheiten, sondern als Ausdruck des Wirkens einer unsichtbar bleibenden Schöpfermacht, die gleichsam »hinter« ihnen steht. In den sich so aufspannenden Horizont eines universalen Kreatürlichkeitsbewusstseins stellt sich der fromme Betrachter des Nachthimmels dann selbst hinein; allerdings nicht als singuläre Größe, sondern als ein Exemplar derjenigen, nämlich der menschlichen Gattung, die zu solcher Reflexionsbewegung überhaupt fähig ist. Im Jahre 2001 veröffentlichte die Hamburger Band Blumfeld ihr viertes Studio-Album mit dem Titel Testament der Angst. Auf ihr findet sich das Lied »Eintragung ins Nichts«, das der Sänger, Jochen Distelmeyer, auf Konzerten gern lapidar mit den Worten kommentiert: »Das sind die Fakten.« Im Liedtext heißt es: »Eintragung ins Nichts: wir kommen ungefragt und gehen ungefragt […] Eintragung ins Nichts – das sind wir unbemerkt und schon vergessen Eintragung ins Nichts – verrat mir wer sollte uns vermissen? die Welt in der wir leben wird zugrunde gehen wir haben nichts mehr zu verlier’n nur das Glück und das sagt wir.«55
Das hier besungene »Nichts« wird nicht auf das Bild des Nachthimmels zurückbezogen. Wohl nicht von ungefähr: Es handelt sich, im Bild gesprochen, um eine Nacht ohne Sterne. »Der Himmel ist kaputt, die Träume stehen leer«, heißt es an anderer Stelle bei Blumfeld.56 Das menschliche Dasein erscheint als ein kontextloser Ausschnitt, in existenzialistischem Duktus ließe sich sagen: als ein aus dem Nichts ins Nichts Geworfensein. Die Haltung des Ichs, das sich innewird, im letzten ein Nichts zu sein, erscheint dabei weniger trotzig als vielmehr zutiefst nüchtern. Eben: Es bilanziert die Fakten. Aus nichts kommen
55
Blumfeld, Eintragung ins Nichts, Album: Testament der Angst (2001). Blumfeld, Tics, Album: Verbotene Früchte (2006).
56
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 253
wir, in nichts gehen wir, und dazwischen spielt sich die kurze Episode der Existenz ab.57 Das Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit kann als eine extreme Steigerungsform von Endlichkeitsreflexion verstanden werden. Auch in den Texten des Alten Testaments – auf die entsprechenden Stellen beim Prediger wurde bereits hingewiesen – spricht es sich aus: »Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben« (Ps 39,6b). Auch angesichts des nächtlichen Sternenhimmels mit seinem Eindruck von unendlicher Tiefe und Weite kann sich die Erfahrung einer kosmischen Bedeutungslosigkeit, ja Nichtigkeit der eigenen Existenz einstellen. Aber solch ein Bewusstsein gibt es doch nur für einen Geist, der, wie das Beispiel von Psalm 8 zeigt, seine Stellung im Kosmos reflektieren kann – und sich darin selbst transzendiert, sich sogar zu der Idee eines Gottes, der noch hinter den unendlichen Weiten des Weltalls steht, aufschwingen kann. Darin liegt eine tiefe Spannung, ja Paradoxie: »Im Akte des Naturerkennens erscheint der Mensch als Gott verwandter Geist, nach dem Inhalt des Naturerkennens droht er einem Stücke Lava im Monde gleichartig zu werden. Die Gotteserkenntnis, die in der Naturerkenntnis aufgeht, löst diesen Widerspruch nicht auf, sondern läßt uns in ihm schweben.«58
Was ist der Mensch, auf den der Blick des Betrachters des nächtlichen Sternenhimmels zurückfällt? Er ist ein Wesen, das sich seiner Endlichkeit innewird, indem es sich über seine Endlichkeit erhebt. Im nächtlichen Sternenhimmel reflektiert sich beides: kosmische Bedeutungslosigkeit und gottgleiche Geistigkeit des menschlichen Erdendaseins.
57 Als Sinndeutungen der Existenz, die einen letzten Sinn der Existenz gerade verneinen, bleiben dem Ich nur Sinnversprechen mittlerer Reichweite. Als zentrales Motiv in den Songtexten von Blumfeld begegnet dabei immer wieder das Motiv der Liebe, im Zitat angezeigt durch das »wir«, das erste und letzte Wort des Glücks. 58 E. Hirsch, Christliche Rechenschaft, Bd. 1, Tübingen 1989, 176.
254 Christopher Zarnow
4. Die Welt als Schöpfung und das religiöse Weltbewusstsein Wenden wir uns, nachdem wir zunächst die Ausdrücke »Erde« und »Himmel« in ihren symbolischen und biblischen Bezügen je für sich interpretiert haben, dem Schöpfungsgedanken im engeren Sinne zu und binden damit unsere Darstellung zugleich an die dogmatische und religionsphilosophische Auslegungstradition zurück. »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (Gen 1,1), lauten die ersten Worte der Bibel. Gott wird hier als ein Schaffender bezeichnet, und »Himmel und Erde« als Werk seines Schaffens. Gemeinsam konstituieren sie die Sphäre des Geschaffenen, und zwar so, dass damit die Gesamtheit eben dieser Sphäre bezeichnet ist. Wenn im ersten Satz der Genesis von »Himmel und Erde« die Rede ist, dann ist damit folglich schlechthin »Alles« gemeint, was existiert, und den Grund seiner Existenz dem göttlichen Schaffen verdankt. Anders formuliert: Die Wortverbindung Himmel und Erde ist ein religiöses Symbol für dasjenige, »was in der Metaphysik Welt heißt«59. Der Gedanke der Schöpfung setzt also den Gedanken einer »Welt« aus sich heraus, wie umgekehrt die so gedachte Welt ursprünglich als eine geschaffene qualifiziert ist. Das ist, wenn man so will, der axiomatische Grundsatz aller monotheistischen Kosmologie. Von daher verschiebt sich auch der symbolische Gehalt von »Himmel« und »Erde« noch einmal in eine neue Dimension. Ihr begrifflicher Zusammenschluss meint mehr als die Addition zweier Seinsbereiche, Topographien oder Elemente. Gesagt werden soll vielmehr: Es gibt keinen Winkel in der Weite des Seins, dem gegenüber dem Einen, nämlich Gott, dem Schöpfer, eine selbständige oder gar gleichrangige Existenz zukäme. Alles ist vielmehr von der Aussage eingeschlossen, integraler Teil der von ihm geschaffenen Welt zu sein. Darin ist zunächst ein unendlicher qualitativer Unterschied festgehalten: Die Welt ist selbst nicht Gott. Ihr kommt an sich keinerlei göttliche Würde zu. Sie hat einen Anfang und ein Ende, ist selbst nicht ewig. Sodann: Sie hat ihren Grund (wohlgemerkt: Grund meint etwas anderes als Ursache, s. unten Abschnitt 5) nicht in sich selbst, sondern in Gott, ihrem Schöpfer. Welthaftes Dasein ist abhängiges, immer nur relativ selbständiges Dasein. Wir kommen auf diesen Punkt gleich noch näher zu sprechen. Schließlich rechnet »die christliche Kosmologie […] 59
Barth, Mitschrift zur Dogmatik (s. Anm. 51), 60.
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 255
mit einer bestimmten Doppelgesichtigkeit der Welt«.60 Dem Urteil ihres Schöpfers: »Und siehe, es war sehr gut« (Gen 1,31), stehen dualistische Aussagen vor allem aus dem Umkreis der johanneischen Schule gegenüber: »Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist« (1 Joh 2,15). Der Kosmos gilt hier geradezu als Sphäre der Widergöttlichkeit: »Die Welt kann den Geist der Wahrheit nicht empfangen« (Joh 14,17). Der qualitativ unendliche Unterschied von Gott und Welt wird zum Gedanken einer Gegnerschaft der Welt gegenüber der göttlichen Wahrheit zugespitzt. Im Gedanken der Welt wird eine umfassende Totalität, eben die Ganzheit von »Himmel und Erde«, gedacht, die alles, was der Fall ist, in sich einschließt. Der so bestimmte Weltbegriff ist grundsätzlich zu unterscheiden von seinen semantischen Derivaten wie Umwelt, Lebenswelt, menschliche Mitwelt. Letztere verweisen auf Seinsbereiche innerhalb der Welt. Die Welt als solche fällt aber nicht unter ihren eigenen Begriff. Sie ist empirisch vielmehr gar nicht vorfindlich. Menschliches Bewusstsein des In-der-Welt-Seins baut sich zwar über konkrete Vorfindlichkeiten und empirische Tatsachen auf, aber die Vorstellung von der Welt als solcher ist eine ideelle Konstruktion. Strenggenommen müsste man sogar präzisieren, dass wir die Ganzheit aller Dinge, die wir als Welt bezeichnen, nicht nur nicht wahrnehmen, sondern nicht einmal denken können – zumindest nicht mit Mitteln des empirischen Verstandesgebrauchs. Denn alles bestimmendes Denken verfährt begrifflich differenzierend, kann damit aber niemals den Gedanken einer Ganzheit ihrem materialen Gehalt nach fassen. Daher bestimmt Kant den Status der Welt präzise als Status einer Idee.61 Wir bilden darin die Vorstellung eines Inbegriffs aller Dinge bzw. aller empirischen Sachverhalte. Dabei handelt es sich aber nicht um einen analytisch zerlegbaren Gegenstand unseres Verstandes, sondern um eine ideelle Sinnkonstruktion der Vernunft. Die angemessene bildliche Metapher für diese an sich selbst nicht begrifflich bestimmbare Idee der Welt ist der Horizont. Er beschreibt zugleich die Linie, in der sich Himmel und Erde berühren, und die Grenze des optischen Wahrnehmungsfeldes. Über den Horizont hinaus können wir nicht sehen. Seine Grenze verschiebt sich vielmehr mit jedem Schritt, den wir auf ihn zugehen. 60
W. Trillhaas, Dogmatik, Berlin / New York 1980, 139. »Ich nenne alle transzendentalen Ideen, sofern sie die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen betreffen, Weltbegriffe«, I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998, 514 (A 407 / B 434). 61
256 Christopher Zarnow Menschliches Dasein heißt: In-der-Welt-sein.62 Auch das religiöse Bewusstsein des Menschen – von Schleiermacher gefasst als »Gottesbewusstsein« bzw. Bewusstsein einer »schlechthinnigen Abhängigkeit«63 – schließt von daher ein Moment der Weltbezogenheit in sich ein, ja gewinnt von letzterem her überhaupt erst seine spezifische Signatur. Wie ist das Verhältnis von Gott-, Selbst- und Weltbewusstsein aber näher zu bestimmen? Schleiermachers diesbezügliche These lautet, dass das religiöse Gottesbewusstsein dann »am vollständigsten [ist], wenn wir uns in unserm Selbstbewußtsein mit der ganzen Welt identifizieren und auch so noch, gleichsam als diese, nicht minder abhängig fühlen«.64 Diese These wirft zwei Fragen auf: (1.) Was bedeutet es, sich im Selbstbewusstsein mit der Welt zu identifizieren bzw. das Selbstbewusstsein, wie es an anderer Stelle heißt, zum Weltbewusstsein zu »erweitern«65? (2.) Worin genau besteht der angezeigte Zusammenhang zwischen Weltbewusstsein und religiösem Abhängigkeitsgefühl, und wie ist er begründet? Ad 1.) Der Weltgedanke ist, wie oben bereits bemerkt, der Gedanke einer Totalität alles Seienden. Er baut sich nach Schleiermacher synthetisch auf, insofern »wir in Gedanken alles in der Erscheinung Getrennte und Vereinzelte verbinden und mittelst dieser Verknüpfung alles als Eines setzen«.66 Das Bewusstsein verbindet durch die Vorstellung von Verbindung bzw. eines Verbundenseins alles »Getrennten und Vereinzelten« zu einem »allgemeinen Naturzusammenhang«.67 Dieser »gesamte Naturzusammenhang oder die Welt« ist aber – und damit gibt Schleiermacher seiner Argumentation nun gleichsam eine phänomenologische Wendung – in jedem Akt des Selbstbewusstseins als dessen umfassender Bestimmungshorizont »mitgesetzt«.68 Der dahinterstehende Gedanke lässt sich identitätstheoretisch rekonstruieren: Konkrete Subjektivität ist ein Kontextphänomen. Das Ich gewinnt seine Identität durch Bezugnahme auf ein ihm anderes, von dem es sich bezugnehmend zugleich unterscheidet. Der jeweilige Vermittlungskontext des Selbstbewusstseins kann dabei durch Identifikationsleistungen sukzessive erweitert werden: Das Indivi62 Zur phänomenologischen Auslegung dieser Struktur vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, 52 – 54. 63 Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 39), 23 – 25. 64 A. a. O., 228. 65 A. a. O., 181. 66 A. a. O., 228. 67 A. a. O., 180. 68 A. a. O., 181.
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 257
duum kann seine Identität aus der Identifikation mit einer bestimmten Gruppe, einer Entität oder Idee (wie der Idee einer allgemeinen Menschheit) oder eben, als äußerte Möglichkeit der Selbstreflexion, mit dem »All-Einen«69 der Welt beziehen. Schleiermachers Pointe ist nun aber, dass ein solcher Bezug auf das Weltganze auch implizit in jeder bloßen Teil-Identifikation des Selbst – die ja immer eine Identifikation mit ihrerseits »welthaften« Größen ist – enthalten ist. Die einzelnen kontextuellen Vermittlungsstufen des Selbstbewusstseins weisen nämlich über jeweils noch umfassendere Zusammenhänge hinaus und enthalten diese folglich als implizite Anlage bereits in sich. So gesehen ist jeder Fall von Selbstbewusstsein zugleich ein Fall von Weltbewusstsein, wenn auch, je nach Explikationsgrad der angezeigten Teil-Ganzes-Struktur, »mehr oder weniger deutlich«.70 Ad 2.) Vor diesem Hintergrund lassen sich nun zwei Begründungstypen für die Ausgangsthese denken, dass das religiöse Bewusstsein dann »am vollständigsten [ist], wenn wir uns in unserem Selbstbewußtsein mit der ganzen Welt identifizieren und auch so noch, gleichsam als diese, nicht minder abhängig fühlen«.71 Beide Typen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Die erste, gleichsam religionsphänomenologische72 Begründung lautet: Je expliziter sich das Subjekt in religiöser Einstellung seines umfassenden In-der-Welt-Seins bewusst ist, desto deutlicher stellt sich ihm auch der göttliche Schöpfer als transzendenter Ursprung nicht nur des eigenen Lebens, sondern der Welt als solcher dar. Dieses Argument hat Schleiermacher wohl im Sinn, wenn er auf das – oben bereits in anderem Kontext erwähnte – »fromme Naturgefühl«73 Bezug nimmt: »so fällt beides, die vollkommenste Überzeugung, daß alles in der Gesamtheit des Naturzusammenhanges vollständig bedingt und begründet ist, und die innere Gewißheit der schlechthinnigen Abhängigkeit alles Endlichen von Gott vollkommen zusammen«.74 Die Vorstellung von Gott als Schöpfer korrespondiert inhaltlich mit dem Bewusstsein eines umfassenden, vollständigen und durchgängigen Zusammenhangs des innerweltlichen Geschehens. Anders gesagt: Es ist die Vorstel69
A. a. O., 228. Ebd. 71 Ebd. 72 Schleiermacher referiert hier dem eigenen Anspruch nach auf einen allgemein zugänglichen »Erfahrungssatz«, ebd. 73 A. a. O., 182 74 A. a. O., 228. 70
258 Christopher Zarnow lung einer unter dem Totalitätsbegriff der Welt zusammengefassten »All-Einheit« des endlichen Seins, die aus religiöser Sicht als in einem transzendentem »Ursprung aller Dinge« gegründet erscheint. Darin ist aber bereits ein zweites Argument für die Begründung der obigen These impliziert, das man nun im engeren Sinn als konstitutionstheoretisch bezeichnen kann:75 Erst der Bezug auf die Totalität alles Bestimmbaren, die im Weltbegriff gedacht wird, qualifiziert die Abhängigkeit des religiösen Bewusstseins im strengen Sinn als eine schlechthinnige. Dieses Argument steht ebenfalls in direktem Zusammenhang mit der skizzierten explikationslogischen Steigerungsfigur des Weltbewusstseins: Je expliziter der Naturzusammenhang auf den Totalitätsgedanken der Welt bezogen wird, desto eindeutiger tritt auch der Schlechthinnigkeitscharakter der Abhängigkeit ins Bewusstsein. Denn schlechthinnige, d. h. absolute Abhängigkeit kann es strenggenommen nur geben für ein als Totalität bestimmtes endliches Selbstbewusstsein. Anders gesagt: Vereinzeltes endliches Selbstbewusstsein kann im strengen Sinn nie absolut abhängig von etwas sein, weil es sich theoretisch zu einem Selbstbewusstsein »erweitern« könnte, das sich aufgrund seiner so erweiterten materialen Bestimmtheit dem vermeintlichen Abhängigkeitsgrund gegenüber als relativ selbständig erweist. Das endliche Relat schlechthinniger Abhängigkeit kann daher im strengen Sinne nur eine Totalität sein. Der Absolutheitscharakter der Religion verweist auf den Totalitätscharakter des Weltbewusstseins, auch wenn dieses meist nur implizit – als Horizont aller Bestimmtheit – mitgesetzt ist. Anders formuliert: Die Absolutheit des Abhängigkeitsgrundes wäre nur eine scheinbare, wenn nicht alles auf sie bezogen werden könnte. Das religiöse Bewusstsein impliziert Weltbewusstsein, insofern darin alles (zumindest seiner Möglichkeit nach oder horizonthaft) auf ein Woher seiner Abhängigkeit zurückbezogen wird. Das Weltbewusstsein ist folglich nichts, was gleichsam sekundär zur subjektivitätstheoretischen Bestimmung religiöser Sinndeutung im Sinne Schleiermachers hinzukäme, sondern stellt eines ihrer konstitutiven Aufbaumomente dar.
75 Vgl. dazu U. Barth, Abschied von der Kosmologie – Befreiung der Religion zu sich selbst, in: Urknall oder Schöpfung? Zum Dialog von Naturwissenschaft und Theologie, hg. v. W. Gräb, Gütersloh 1995, 14 – 37 (31 – 36).
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 259
5. Der Schöpfer Schöpfungsglaube ist Glaube an Gott als Schöpfer, der »Himmel und Erde« gemacht hat, wie dies jeden Sonntag in der gottesdienstlichen Liturgie bekannt wird. In vielfältigen Bildern, in denen dieser Glaube seinen symbolischen Ausdruck findet, in der Bibel oder im geistlichen Liedgut, artikulieren sich unterschiedliche Grunderfahrungen bzw. Grundfragen des menschlichen Lebens. Ich möchte im Folgenden zwei solcher Ausdrucksformen des Schöpfungsglaubens sowie ihres jeweils mitgeführten Bildes von Gott als Schöpfer näher entfalten. Der erste Gedankengang setzt bei der metaphysischen Grundfrage des Menschen an: »Woher kommen wir?« Sie wird aufgegriffen und einer symbolischen Antwort zugeführt in der Vorstellung Gottes als transzendentem Ursprung aller Dinge. Die zweite hier in den Blick genommene Gestalt des Schöpfungsglaubens spricht sich aus im Bewusstsein einer elementaren Verdanktheit des Lebens und der Lebensgüter. Ihr entspricht das Bild Gottes als Geber aller Gaben.76
5.1 Der Ursprung aller Dinge Die Vorstellung Gottes als Ursprung aller Dinge schließt direkt an die eben skizzierten Ausführungen zum Weltgedanken an. Die entsprechende Auslegungstradition des Schöpfungsglaubens kann man als die kosmologische bezeichnen, wie sich exemplarisch an der Tradition des gleichnamigen Gottesbeweises ablesen lässt. Eine seiner bekanntesten Fassungen findet sich in der zweiten Quaestio des ersten Buches der Summe der Theologie von Thomas von Aquin: »Am ersten und deutlichsten ist der von der Bewegung her genommene Weg. Es ist nämlich gewiß und steht durch das Gesinn (sensu) fest, daß manches in der Welt sich wegt. Alles aber, was in Wegung ist, wird von einem anderen gewegt […]. Dabei kann man aber nicht ins Unendliche fortgehen, weil es dann kein Erstwegendes gäbe und insofern davon nicht irgend eins, das ein anderes
76 Eine dritte in denselben Zusammenhang gehörige Grunderfahrung drückt sich am unmittelbarsten in den Worten des Hiobbuches aus: »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt!« (Hi 1,20) In ihr erscheint der Schöpfer nicht nur als Grund, sondern auch als Abgrund des Lebens. Der Schöpfungsglaube vertieft sich zu dem Bewusstsein, dass der ewige Gott nicht nur das Leben schafft, sondern auch unerforschlich hinter der Abgründigkeit des Todes steht, kurz: der Herr über Leben und Tod ist. – Indessen verweist dieser Topos bereits hinüber in die Eschatologie und kann im vorliegenden Rahmen nicht näher ausgeführt werden.
260 Christopher Zarnow wegte […]. Man muß also notwendigerweise zu einem Erstwegenden hinkommen, das von keinem gewegt wird, und darunter verstehen alle Gott.«77
Der Rückschluss von der Bewegung auf einen unbewegten Erstbeweger war durch Aristoteles vorgebildet. Bereits in der Erläuterung des Arguments greift Thomas allerdings über ein mechanistisches Bewegungsparadigma hinaus auf modaltheoretische Überlegungen,78 die auf dem dritten der fünf Wege dann beweisführend entfaltet werden. In dieser modaltheoretischen Fassung ist der kosmologische Gottesbeweis dann vorrangig in der neuzeitlichen Philosophie rezipiert worden.79 Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere seine Reformulierung durch Gottfried Wilhelm Leibniz von Interesse.80 Alle Vernunfterkenntnis beruht nach Leibniz auf zwei logischen Prinzipien: dem Satz vom Widerspruch und dem Satz des zureichenden Grundes. Außerdem unterscheidet Leibniz zwei Arten von Wahrheit: Vernunft- und Tatsachenwahrheiten. Vernunftwahrheiten haben den Status strenger Notwendigkeit, ihr Gegenteil ist unmöglich. Es handelt sich demnach um Urteile, bei denen »der Begriff des Prädikats […] im Subjekt enthalten«81 ist. Insofern Kants Deutung des analytischen Urteils an dieser Bestimmung orientiert ist, hat sich hierfür die Bezeichnung einer »analytischen Wahrheitstheorie« eingebürgert. Tatsachenwahrheiten haben demgegenüber nicht den Status strenger Notwendigkeit – ihr Gegenteil ist prinzipiell möglich.82 Geben wir ein Beispiel: Dass sie rund ist, kann logisch aus dem Allgemeinbegriff der Kugel geschlossen werden. Dass diese bestimmte Kugel rot 77 Th. v. Aquin, Summe der Theologie, hg. v. J. Bernhart, Bd. 1, Stuttgart 1985, 23 f. (= STh I, q. 2, a. 3). 78 »Wegen ist nämlich nichts anderes, als etwas aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit herausholen« (ebd.). 79 Nicht nur in Bezug auf das kosmologische, sondern auch und insbesondere in Bezug auf das ontologische Argument stehen die Modalbegriffe der Notwendigkeit, Möglichkeit und Kontingenz im Zentrum der neueren (religions-)philosophischen Debatte, vgl. I. U. Dalferth, Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992, 213 – 243; D. Evers, Gott und mögliche Welten. Studien zur Logik theologischer Aussagen über das Mögliche, Tübingen 2006. 80 Vgl. zum Folgenden G. W. Leibniz, Monadologie, hg. v. H. Hecht, Stuttgart 1998. 81 G. W. Leibniz, Der Briefwechsel mit Antoine Arnauld, hg. v. R. Finster, Hamburg 1997, 141. 82 Zu Leibniz’ Wahrheits- und Begriffstheorie vgl. C. Zarnow, Identität und Religion. Philosophische, soziologische, religionspsychologische und theologische Dimensionen des Identitätsbegriffs, Tübingen 2010, 92 – 97.
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 261
ist, liegt nicht in ihrem Allgemeinbegriff und stellt mithin eine bloße Existenz- oder Tatsachenwahrheit dar. Im Gegensatz zu den Vernunftwahrheiten vermögen wir uns der Existenzwahrheiten also nur durch Erfahrung (a posteriori) zu vergewissern. Der Satz vom zureichenden Grund angewandt auf Vernunftwahrheiten führt zu ursprünglichen, einfachen, logischen Prinzipien bzw. Axiomen, die ihrerseits keines Beweises mehr fähig sind. Im vorliegenden Zusammenhang ist nun aber entscheidend, dass sich der Satz vom zureichenden Grund auch auf den Bereich der Tatsachenwahrheiten, d. h. auf die Sphäre der Kontingenz anwenden lassen muss: »Der zureichende Grund aber muß sich auch in den kontingenten oder Tatsachenwahrheiten finden, d. h. in der Folge der im Universum der Geschöpfe ausgebreiteten Dinge, wo die Rückführung auf besondere Gründe wegen der unermeßlichen Vielfalt der Naturdinge und der Teilung der Körper ins Unendliche auf eine endlose Vereinzelung hinauslaufen könnte […]. Und da diese ganze Vereinzelung nur anderes Kontingente […] einschließt, […] ist man dadurch nicht weitergekommen: Und es muß der zureichende oder letzte Grund außerhalb der Folge oder der Reihen dieser Vereinzelung des Kontingenten liegen […]. So muß der letzte Grund der Dinge in einer notwendigen Substanz liegen, in der das Besondere der Veränderung nur eminenter, wie in einer Quelle enthalten ist, und dies nennen wir Gott.«83
Die Anwendung des Satzes vom zureichenden Grund auf den Bereich der Tatsachenwahrheiten führt zum Gottesbeweis e contingentia mundi: Innerhalb der Sphäre der Kontingenz kann gerade kein letzter Grund für die Existenz des Kontingenten angeführt werden. Also muss er außerhalb dieser Sphäre gesucht werden – in einem göttlichen ens necessarium. Der zugrundeliegende Gedanke einer in Einheit gründenden Vielheit, in der »das Besondere […] wie in einer Quelle enthalten ist«, verweist dabei auf ein Grundmotiv der Leibniz’schen Substanzmetaphysik. Alle Vielheit gründet demnach in substantieller Einheit, wobei jenes Gründen von Leibniz als »Resultieren«, als »Eingehen« der Vielfalt in Einheit oder eben auch als »Fließen« der Vielfalt aus der Einheit wie aus einer Quelle – wie im obigen Zitat – beschrieben werden kann. Im vorliegenden Zusammenhang heißt das: Der die Vielfalt der Erscheinungswelt gründende Letztgrund, Gott, liegt auf einer gänzlich anderen kategorialen Ebene als das durch ihn Begründete. Nicht die Rückführung welthafter Ereignisse auf eine prima causa, sondern das Modell einer in Einheit fundierten
83
Leibniz, Monadologie (s. Anm. 80), §§ 36 – 38, 29 – 31.
262 Christopher Zarnow Mannigfaltigkeit der Erscheinungen steht im Zentrum von Leibniz Elementarmetaphysik.84 Die Geschichte der Gottesbeweise ist so alt wie ihre Kritik. Das entscheidende Argument gegen die Beweisführung e contigentia mundi ist von Immanuel Kant formuliert worden: Das vom Beweis angestrebte Beweisziel wird durch den vermeintlichen »Beweisschluss« gar nicht erreicht. Denn die Notwendigkeit eines außerhalb der Welt liegenden Existenzgrundes der Welt ist qua Beweis doch eben nur in Bezug auf das von ihm Begründete überhaupt als notwendig bestimmt. Anders als der Beweis anstrebt, wird folglich nicht der Gedanke einer absoluten, sondern lediglich der einer relativen bzw. hypothetischen Notwendigkeit durch die Beweisführung erschlossen.85 Bis hierhin ist Kant gegen Leibniz sicherlich recht zu geben. Die Unangemessenheit der Beweisform darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass dieser in seiner Grundintention ein echtes Motiv religiöser Weltbetrachtung aufgreift: »Woher kommen wir?« – das ist eine der metaphysischen und auch anthropologischen Grundfragen menschlicher Existenz.86 Die Einsicht in die Unmöglichkeit, sie in Gestalt eines förmlichen Gottesbeweises beantworten zu können, setzt nicht ihr Recht als Frage außer Kraft. Im Gegenteil: Sie enthält ein Moment der Unabweisbarkeit. Die religiöse Weltbetrachtung führt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum Gedanken eines transzendenten »Ursprung[s] aller Ding«, wie es in dem berühmten Lied Paul Gerhardts heißt (EG 324,13). Dieser Ursprung muss aber nicht zwingend im Sinne eines ursächlichen Anfangs vorgestellt werden. Hier wird man in der Tat nicht an Kants Kritik vorbeigehen können: Kausalität ist eine begriffliche Kategorie des empirischen Verstandesgebrauchs. Der Begriff der Ursache ist seinem Gehalt nach bestimmt durch die Wirkungen, in Bezug auf die sich eine Ursache überhaupt erst als Ursache qualifiziert. Auch der Gedanke einer letzten Ursache schließt folglich in sich ein, dass sich diese Ursache nur in Bezug auf die von ihr freigesetzten Wirkungen als Ursache bestimmen lässt. Zu dem Gedanken eines von der Welt unabhängigen, in sich 84 Vgl. dazu auch K. Cramer, Einfachheit, Perzeption und Apperzeption, in: Leibniz und die Frage nach der Subjektivität (Studia Leibnitiana, Sonderheft 22), Stuttgart 1994, 19 – 45 (23 – 28). 85 Vgl. U. Barth, Gott als Grenzbegriff der Vernunft, in: ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 235 – 262 (246 f.). 86 Es gehört, nebenbei bemerkt, zu den konzeptionellen Schwächen von Schleiermachers Ansatz, dass er diese reflexiven Anteile im Aufbau des Schöpfungsglaubens aufgrund seines religiösen Unmittelbarkeitspathos nicht eigenständig gewürdigt hat.
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 263
freien Schöpfers und Gegenübers der Welt führt der Gedanke einer letzten Weltursache folglich gerade nicht.87 Der Begriff des Ursprungs lässt sich aber auch anders interpretieren – worauf Leibniz’ Argumentation e contingentia mundi bereits einen impliziten Hinweis gegeben hatte. Freilich blieb Leibniz’ Argumentation ihrerseits einem substanzmetaphysischen Denken verpflichtet. Stellt die Kontingenzthematik indessen mit Leibniz die empirische Explikationsbasis des Schöpfungsbegriffs dar, dann lässt sich der Begriff des »Grundes« auch noch einmal anders fassen: nämlich sinntheoretisch. Legt man die funktionale Bestimmung von Religion als Bewältigung von Kontingenzerfahrungen zugrunde, dann lässt sich sagen: Der christliche Glaube symbolisiert mit der Vorstellung Gottes als Schöpfer die Vorstellung eines letzten Sinngrundes der Welt. Als Ort für die nähere Entfaltung dieses Gedankens innerhalb der materialen Dogmatik lässt sich die Vorsehungslehre rekonstruieren.88 Das ihr korrespondierende Gottesbild eines fürsorglichen Vaters im Himmel weist indessen bereits hinüber auf den folgenden Punkt.
5.2 Der Geber aller Gaben Neben der kosmologischen Auslegungstradition des biblischen Schöpfungsglaubens gibt es eine zweite, wenn man so will: fiduzialistische oder personalistische.89 In dem erwähnten Lied von Paul Gerhardt wird sie greifbar, sobald man nur den weiteren Kontext des erwähnten Zitats in den Blick nimmt: »Wohlauf, mein Herze, sing und spring und habe guten Mut! Dein Gott, der Ursprung aller Ding, 87 Vgl. P. Tillich: »Aber Ursache und Substanz sind Kategorien der Endlichkeit. ›Erste Ursache‹ ist eine hypostasierte Frage, keine Aussage über ein Seiendes, das die Kausalkette beginnt« (Systematische Theologie, Bd. 1, Berlin / New York 1987, 243). 88 Vgl. dazu A. v. Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999; Zarnow, Identität (s. Anm. 82), 313 – 317. 89 Prägnant formuliert Hirsch: »Die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Welt ist umzuwandeln in die Frage nach dem Verhältnis Gottes zu meinem Leben als Person mit den andern. Alle Fragmale, welche bei dieser Verwandlung hinfallen, sind unfruchtbare Spintisierereien: so z. B., ob Gott auch ohne Welt hätte bleiben können, oder ob etwas in Gott sei, das nicht weltbedingend sei. Die Antworten auf dergleichen können einen gewissen Gleichniswert haben […]. Doch wird dieser Gleichniswert gemindert durch das Lächeln, das Menschen, die sich der Grenze des Wißbaren so bewußt sind wie die des 19. und 20. Jahrhunderts, für eine Beschäftigung mit dergleichen Fragmalen haben müssen« (Hirsch, Christliche Rechenschaft [s. Anm. 58], 227).
264 Christopher Zarnow ist selbst und bleibt dein Gut« (EG 324,13). Der Lobpreis des Schöpfers bleibt nicht stehen bei einer spekulativ-abstrakten Besinnung über den Ursprung aller Dinge – das religiöse Subjekt identifiziert diesen Ursprung vielmehr als seinen, es persönlich angehenden Gott. Die eigene Seele, das eigene Herz wird zum Lob dieses seines Schöpfers aufgerufen. Diesem seinem »Brunn der Gnad« (a. a. O., 2) verdankt es alles, was es braucht – zuletzt sogar sein eigenes Dasein. Auf dieser persönlichen, wenn man so will: existenziellen Ebene liegt auch ganz der Ton in Martin Luthers Auslegung des ersten Artikels des Glaubensbekenntnisses aus dem kleinen Katechismus: »Ich gläube, daß mich Gott geschaffen hat sampt allen Kreaturn, mir Leib und Seel, Augen, Ohren und alle Gelieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuch, Essen und Trinken, Haus und Hofe, Weib und Kind, Acker, Viehe und alle Güter, mit aller Notdurft und Nahrung dies Leibs und Lebens reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und für allem Ubel behüt und bewahret, und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit, des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schüldig bin; das ist gewißlich wahr.«90
An erster Stelle von Luthers Auslegung steht die Selbstbesinnung: Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat. Dass Gott der Schöpfer ist, das ist zunächst und zuerst eine Aussage, die das solchen Glauben bekennende Subjekt in seiner eigenen Existenz betrifft. Indem es sich als von Gott geschaffen versteht, vergegenwärtigt es sein Leben als ›von anderwärts her‹ verdanktes Leben. Das Bewusstsein solcher Verdanktheit bedeutet freilich mehr als das gleichsam bloße formale Bewusstsein eines (Sich-)Gegebenseins.91 Denn es schließt nicht nur die Vorstellung eines Gegenübers ein, demgegenüber sich der / die
90 Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 1998 (BSLK), 510 f. 91 An diesem Punkt wird nicht hinreichend differenziert von T. Rendtorff, wenn er in Anlehnung an Luthers Auslegung des Schöpfungsglaubens ein elementares »Gegebensein des Lebens« als Grundelement der Ethik bestimmt (vgl. T. Rendtorff, Ethik, Bd. 1, Stuttgart / Berlin / Köln 1980, 63 f.). Außerdem ist deutlicher, als dies bei Rendtorff geschieht, von einem reflexiven Sich-Gegebensein zu sprechen, um deutlich zu machen, dass es für menschliches Dasein bestimmend ist, in seinem Gegebensein für sich zu sein. Zur transzendentalhermeneutischen Auslegung dieser Struktur und ihrer Rückführung auf eine basale Duplizität des Selbstbewusstseins vgl. Zarnow, Identität (s. Anm. 82), 309 – 311.
Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer 265
Dankende in seiner / ihrer Dankbarkeit »verbunden« weiß.92 Sondern es enthält darin auch das Bewusstsein einer besonderen Würde und Kostbarkeit, wie Luther dies andernorts zum Ausdruck gebracht hat: »Ich bin wirdig gewest, das mich Gott mein schöpffer aus nichts geschaffen hat, in mutter leib gebildet etc.«93 Kurz: Das eigene Leben erscheint aus Sicht des Schöpfungsglaubens als von Gott empfangene bzw. verliehene Gabe. Ihr Empfänger wird damit aber in eine eigentümliche Spannung versetzt: Er ist ja in gewisser Weise selbst diese Gabe, und er ist doch zugleich als das Subjekt, das sie empfängt, von ihr unterschieden. Auch wenn das eigene Dasein im Glauben als Gott verdanktes Dasein begriffen wird, ist solches Begreifen doch nur für ein Subjekt, dessen Subjektivität sich in der Aussprache dieses Glaubens als unhintergehbare Größe zur Geltung bringt.94 Die Gabe des Lebens schließt Leib und Seele, Vernunft und Sinne, aber auch Güter des täglichen Lebensbedarfs wie Kleider und Schuhe in sich ein.95 So rückt der personalisierte Schöpfungsglauben – im vorliegenden Zusammenhang nur denkbar weit entfernt von einer allgemeinen Naturfrömmigkeit – vermeintliche Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Lebens in den Horizont einer elementaren Dankbarkeit, die dem Geber aller Gaben gebührt.96 Gemeinsam ist allen diesen Gütern, dass sie zum Leben gebraucht werden bzw. das Leben reich machen und erfüllen, dass sie alltäglich präsent sind und dadurch leicht den Charakter des Selbstverständlichen annehmen können, dass sie aber genauso gut wieder weggenommen werden können und insofern prinzipiell den Charakter der Kontingenz besitzen. Indem der Schöpfungsglaube einen Horizont der Dankbarkeit für die alltäglichen Gaben des Lebens aufspannt, thematisiert er das Dasein so zugleich in einer elementaren Angewiesenheit und »Notdurft«. 92 Vgl. G. Simmel, Dankbarkeit. Ein soziologischer Versuch, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901 – 1908, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1993, 308 – 316. 93 M. Luther, Ein kurzer Trostzettel für die Christen, daß sie im Gebet sich nicht irren lassen, WA 51,454 f.,8 f. 94 In Luthers Formulierungen ist diese Spannung angezeigt durch den doppelten Bezug auf das Glaubenssubjekt als Gegenstand (»Ich gläube, daß mich«) und epistemischer Operator (»Ich gläube, daß mich«) des Schöpfungsglaubens. 95 Dass auch »Weib und Kind« in diese Reihung von Luther aufgenommen werden, mag an dieser Stelle auf sich beruhen gelassen werden. 96 Vgl. R. Barth, Dankbarkeit als religionsaffines Gefühl. Überlegungen zu dogmatischen Anknüpfungspunkten, in: Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth. Festschrift zum 70. Geburtstag, hg. v. R. Barth / A. Kubik / A. v. Scheliha, Tübingen 2015, 169 – 191.
266 Christopher Zarnow Der personalisierte Schöpfungsglaube errichtet einen Deutungs- und Affektraum für die Thematisierung der Angewiesenheit auf das, was der Mensch zum Leben braucht, sich aber zugleich seiner letztlichen Verfügungsgewalt entzieht.97 Die Bestimmung der Grenze dieser Verfügungsgewalt ist selbst Gegenstand eines religiösen Aushandlungsprozesses. Sie wird exemplarisch greifbar im (Für-)Bittgebet, das damit zurecht zu den klassischen Beständen der Schöpfungs-, genauer: der Vorsehungslehre zählt. Das Wesen des Bittgebets erschöpft sich vor dem Hintergrund des Dargelegten dann auch weder im Erwarten eines wunderbaren Eingriffs Gottes in den Naturzusammenhang, noch in einer appellativen Selbstermahnung. Der ersten Variante droht die Gefahr, das Wunderwirken Gottes auf eine quasi-gesetzliche Weise nachweisen zu wollen und damit das Wesen des Wunders als einer nicht-verobjektivierbaren und der Zweideutigkeit aller religiösen Erfahrung unterworfenen Glaubenserfahrung zu verkennen.98 Die zweite Variante hingegen geht am eigentlichen religiösen Affekt des Bittgebets vorbei. Hier will sich das Individuum nicht überlassen und in den Grenzen des ihm selbst Möglichen vor Gott bringen, sondern es appelliert letztlich an seine eigene Moralität und Tatkraft. Solche (Selbst-)Ermahnung ist aber – liturgisch gesprochen – Teil der Predigt, nicht der Fürbitte. Die Fürbitte steht demgegenüber grade für die Aushandlung und Grenzziehung coram Deo zwischen dem, über das ich verfüge und auf das ich Einfluss nehmen kann und dem Bereich dessen, was ich als gegeben zu akzeptieren habe, weil es sich letztlich der eigenen Verfügungsgewalt entzieht. Der affektive Kern des Bittgebets besteht mit den Worten Paul Gerhardts in der vertrauensvollen Selbstüberantwortung in die »allertreuste Pflege« (EG 361,1) eines anderen. So spiegeln sich in den beiden skizzierten Auslegungstraditionen des Schöpfungsglaubens zugleich zwei Grundformen christlicher Glaubenspraxis: Während die kosmologische Auslegung des Schöpfungsglaubens in religiöser Andacht bzw. Betrachtung der Schöpfung mündet, findet seine personalistische Interpretation ihre Entsprechung im Gebet, das sich mit Dank und vertrauensvoller Bitte an den Geber aller Gaben wendet. 97 Eine Eintragung der Rechtfertigungslehre in den Artikel von der Schöpfung stellt die Formulierung Luthers dar, dass dies alles, nämlich die Versorgung des Lebens mit dem Lebensnotwendigen, »ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit« geschieht. Gottes Schöpfung und Erhaltung wird hier ganz von der reformatorischen Gnadenlehre her verstanden. 98 Vgl. Trillhaas, Dogmatik (s. Anm. 60), 162 – 166.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion Christiane Nagel
In der Auseinandersetzung mit dem letzten Passus des ersten Credo-Artikels bewegen sich die Beiträge von Lutz Doering und Christopher Zarnow im explizit kosmologischen Kontext, wenn die Vorstellung von der ersten Hypostase des Gott-Vaters in ihrem schöpferischen Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit befragt wird, in dem sich menschliches Leben vollzieht; also zur Erde, zur Welt, zum tatsächlichen Lebens-Raum der Schöpfung. Augenfällig ist, dass schöpfungstheologische Kosmologie bei beiden Beiträgen nicht als Konkurrenz oder Alternative zu naturwissenschaftlichen Welterklärungstheorien verstanden wird1 – und das, obwohl der ihnen zugewiesene Titel Von Schöpfung und Naturprozessen wohl gerade darauf abheben will. Damit scheinen beide Autoren in einem bestimmten (liberal-)theologischen Erbe zu stehen, laut dem der »Streit zwischen Theologie und Naturwissenschaft um Fragen der Kosmologie im Grunde kein Thema mehr [ist]«.2 Dass damit keinesfalls ein Nicht-Verhalten zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Theologie und naturwissenschaftlicher Welterklärung einhergeht, sondern dadurch vielmehr differenziertere Konstellationen möglich werden, wird besonders deutlich, wenn man sich – an dieser Stelle als kurzes Prolegomenon der eigentlichen Response vorangestellt – die unterschiedlichen Ebenen (natur-)wissenschaftlicher und religiöser Aussagesysteme vergegenwärtigt. »[Christlicher] Glaube beruht auf personaler Erschließungserfahrung, die über vorfindliche Wirklichkeit hinausgeht. Naturwissenschaft beruht auf rationaler und experimenteller Erkenntnis der
1 Zarnow nennt zwar die Frage nach dem Verhältnis von »Schöpfungsglaube[n] und naturwissenschaftlicher Weltsicht« den »apologetische[n] Zugang« (als eine der beiden den aktuellen Diskurs dominierenden Fragestellung), begibt sich aber in seiner argumentativen Selbstverortung auf »einen anderen Weg« (C. Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer. Phänomenologische Annäherungen und theologische Deutungen, in diesem Band, 239). Näheres dazu weiter unten. 2 U. Barth, Abschied von der Kosmologie – Befreiung der Religion zu sich selbst, in: W. Gräb (Hg.), Urknall oder Schöpfung? Zum Dialog von Naturwissenschaft und Theologie, Gütersloh 1995, 14 – 42 (35).
268 Christiane Nagel vorfindlichen Wirklichkeit.«3 Für das Verhältnis von (Schöpfungs-) Theologie und Naturwissenschaft bedeutet das in Konsequenz, dass beide zwar durchaus im weitesten Sinne Welt erklären wollen, dabei aber unterschiedliche Fragestellungen verfolgen. Christliche Theologie (verstanden als im wissenschaftlichen Diskurs nach dessen Spielregeln agierende Disziplin) reflektiert auf christlichen Glauben, der in seinem Grund einerseits ein christologisch fundierbares, vom religiösen Subjekt empfundenes präreflexives Beziehungsgeschehen4 ist und andererseits gleichzeitig – seiner lebensbestimmenden Fundamentalität entsprechend – Reflexionen im Sinne christlich-religiöser Selbstund Weltdeutungen freisetzt. So verstanden erklärt natürlich auch (Schöpfungs-)Theologie Welt5 – aber eben unter anderen Vorzeichen und mit anderen Erkenntnisinteressen als empirisch-experimentelle, technisierende und dementsprechend unter eigenen epistemischen und methodologischen Vorzeichen und Erkenntnisinteressen stehende Naturwissenschaft.6 Dennoch besteht eine fundamentale Verbindung zwischen beiden Zugriffen auf Welt: Denn dadurch, dass Glaube und die von ihm freigesetzten Welt- und Selbstdeutungen des religiösen Subjekts immer in bestimmten weltanschaulich-soziokulturellen Kontexten stehen, sind Glaubensaussagen (im solchermaßen weitesten Sinne) formal und material konstitutiv bedingt durch ebendiese Kontextualität des religiösen Subjekts – und damit dann auch durch
3 M. Petzoldt, Vom Schöpfer und von der Schöpfung reden. Anmerkungen zum wissenschaftstheoretischen Status christlicher Schöpfungslehre, in: ders., Christsein angefragt. Fundamentaltheologische Beiträge, Leipzig 1998, 41 – 55 (51). 4 Christologisch insofern, als dass sich das religiöse Subjekt in der Person Jesu von Nazareth zum trinitarischen Gott in Beziehung gesetzt fühlt. 5 In gewissem Sinne ist eine solche Differenzierung geradezu redundant, da der Weltbegriff – im Sinne der Ganzheit alles Seienden – selbst schon sich einer vereinheitlichenden Außenperspektive verwehrt: Die Welt gibt es nicht. Welterklärung kann dann immer nur perspektivisch und partikular vollzogen werden, also unter bestimmten Fragestellungen und daraus folgenden bzw. dadurch implizierten methodologischen und epistemischen Verengungen, Abstraktionen etc. Vgl. z. B. U. Dirks, Welt / Welten, in: Enzyklopädie Philosophie 3 (2010), 2953 – 2962 (2953). 6 Dabei ist gerade an dieser Stelle deutlich zu betonen, dass Naturwissenschaft als sozusagen disziplinäres Gegenüber von Theologie eine stark konstruierte Sparringspartnerin ist. Zum hier vorausgesetzten Verständnis des Naturwissenschaftsbegriffs und seiner gleichzeitigen Uneindeutigkeit vgl. z. B. K. Mainzer, Naturwissenschaft, in: EPhW 2 (1984), 977 – 979 (978 f.).
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 269
die jeweiligen dominanten (natur-)wissenschaftlichen Weltbilder.7 Die Aufgabe von Theologie besteht dann also darin, diesen Zusammenhang transparent und fruchtbar zu machen, indem sie »reflexive Verbindungen«8, also Kommunikabilität schafft zwischen christlichem Glauben als präreflexivem Beziehungsgeschehen, den durch ihn freigesetzten reflexiven Glaubensaussagen und den diese bedingenden »Lebenserfahrungen und […] Erkenntnissen«9 der Um-Welt. Schöpfungstheologie fragt dann nach den grundlegenden christlichen Glaubenserfahrungen und ihrer kontextualisierten Kommunikation in daraus hervorgehenden Glaubensaussagen, in denen das religiöse Subjekt sich und seine Welt als Schöpfung erfährt und reflektiert, also als genuin begrenzt und abhängig von einem der vorfindlichen Welt transzendenten Ermöglichungsgrund alles Seienden,10 wie es auch im letzten Passus des ersten Credo-Artikels in aktiv religiöser Sprache zum Ausdruck gebracht ist. Unter diesem hier nur kurz vorangestellten Vorzeichen solchermaßen verstandener neuzeitlicher, kontextualisierter Schöpfungstheologie soll nunmehr als eigentliche Response auf die Beiträge Doerings und Zarnows in Kombination mit der grundlegend formalenzyklopädischen Orientierung dieser Sammelpublikation die fundamentaltheologische11 Fragestellung nach der innerdisziplinären Diskursfähigkeit der evangelischen Theologie als Wissenschaft am Beispiel der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Exegese und Systematik gestellt 7 Dieses Verhältnis ist natürlich ein wechselseitiges, da auch und gerade (Natur-)Wissenschaft als spezifischer, partikularer Diskurs im Kontext von konkreter Lebenswelt steht und von dieser epistemisch bedingt ist. Vgl. dazu E. Herms, Das Selbstverständnis der Wissenschaften heute und die Theologie (1993), in: ders., Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, 349 – 387 (359). 8 Petzoldt, Vom Schöpfer (s. Anm. 3), 48. 9 Ebd. 10 Vgl. dazu die Ausführungen Barths zum Schleiermacherschen Schöpfungsbegriff: Barth, Abschied (s. Anm. 2), 31 – 34. Ein auf dieser Grundlage entwickeltes Grundverständnis von Kosmologie als genuin »religiöser Weltdeutung« [Hervorhebung CN / ebd., 35] kann sowohl dem Beitrag Doerings als Background zugesprochen werden – als auch dem Zarnows, der auf oben genannten (für diesen Diskurs insgesamt klassischen) Beitrag Barths auch explizit rekurriert. Vgl. Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer (s. Anm. 1), Anm. 75. 11 Zum Verständnis der Fundamentaltheologie in evangelisch-theologischer Perspektive vgl. v. a. den Aufsatz von M. Petzoldt, Notwendigkeit und Gefahren einer verselbständigten Fundamentaltheologie, in: ders. (Hg.), Evangelische Fundamentaltheologie in der Diskussion, Leipzig 2004, 21 – 40 (33 – 40).
270 Christiane Nagel werden. Im Folgenden werden also nicht so sehr einzelne sicherlich sehr diskussionswürdige Details dieser beiden Impuls gebenden Ansätze im Fokus stehen, sondern eher ein sie bedingender Fragenkomplex der v. a. wissenschaftstheoretischen Meta-Ebene. Doering verdeutlicht in seinem Beitrag die wechselseitigen kreativ-traditionsgeschichtlichen Abhängigkeiten sowohl von den jeweils wieder selbst in situativer Kontextualität stehenden Schriften des antiken Judentums als auch des entsprechenden religionsgeschichtlichen und philosophischen literarischen Umfelds, in denen schöpfungstheologische Aussagen des Neuen Testaments stehen.12 Wichtig ist an dieser Stelle grundlegend immer wieder die Zeichnung solcher literarischer und traditionsgeschichtlicher Abhängigkeiten nicht als notwendige Kausalketten, sondern als zu großen Teilen unverfügbar dynamische Prozesse: Traditionsgut wird per definitionem13 als Feuer weitergetragen und nicht als Asche angebetet; also eben tradiert, situativ adaptiert und v. a. strategisch-argumentativ eingesetzt. Es mutet so stimmig an, ist aber gleichfalls eben nicht zwingend notwendig, dass im NT genau da schöpfungstheologische Aussagen aufzutreten scheinen, wo bestimmte argumentative Absichten verfolgt werden, seien sie monotheistischer, ontologisch-systemischer oder eben auch konkret identitätspolitisch-sozialtheoretischer Art, wie Doering exemplarisch ausführt. Dementsprechend verschieben sich im Tradierungsprozess auch die Stoßrichtungen, wenn die Interessenlage sich
12 »Schrift und Tradition lassen sich hier [in Analyse der verschiedenen Rezeptionen von Gen 1,1 – 2,4a im antiken Judentum] nicht einfach trennen, sondern sind miteinander verwoben« (L. Doering, Neutestamentliche Aspekte von Welt- und Menschenschöpfung im Kontext der Schriften Israels und antiker jüdischer Literatur, in diesem Band, 217). 13 Tradition ist Absicht, ist »die bewusst zur Information und Beeinflussung der Nachwelt geschaffene Überlieferung eines Geschehnisses« (T. Sandkühler, Tradition, in: Enzyklopädie Philosophie 3 [2010], 2763 – 2767, [2763]). Genau auf diese Weise »haben die neutestamentlichen Texte teil an zeitgenössischen Diskursen über Welt- und Menschenschöpfung, aus denen sie situativ und argumentativ einzelne Aspekte herausgreifen, verarbeiten und zur Geltung bringen« (Doering, Neutestamentliche Aspekte [s. Anm. 12], 236).
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 271
ändert.14 Theologische Aussagen aller Ebenen15 – auch und gerade in biblischen Texten – scheinen, wie alle menschlichen Erklärungsund Erkenntnisprozesse, eben kein Freilegen von irgendwie für sich existenter Wahrheit darzustellen, sondern sind aktiv konstruiertes Ergebnis erkenntnisleitender Interessen. Diese grundlegende Einsicht bewahrt im innertheologisch-interdisziplinären Diskurs vor dem, was eigentlich in allen Subdisziplinen common sense ist, nämlich vor einer hermeneutischen Überstrapazierung biblischer Texte im Allgemeinen und neutestamentlich-schöpfungstheologischer Aussagen im Besonderen: Wenn Texte aus soziokulturell situativen Absichten heraus entstehen und mit ebensolchen Absichten tradiert werden, können sie nicht losgelöst von diesen jeweiligen Entstehungs- und Rezeptionskontexten gelesen und verstanden werden.16 14 Exemplarisch anschaulich wird die hermeneutische Tragweite der Dynamizität von Tradierungsprozessen bei Doerings Argumentation für eine differenziertere »Nuancierung« der Verhältnissetzung zwischen »jüdischen Weisheits- und Logosvorstellungen« und der Hypostase des Sohnes Christus im Kontext der Idee einer Schöpfungsmittlerschaft: »Gern wird hier die differentia specifica christlicher Schöpfungsaussagen gesehen […]. […] Doch zumindest für einzelne Texte ist […] das Anknüpfen auch ›hoher‹ Christologie an jüdische ›binitarische‹ Vorstellungen in der jüngeren Forschung mit Recht hervorgehoben worden […]« (Doering, Neutestamentliche Aspekte [s. Anm. 12], 221). 15 Als Beispiel für eine kurze Aufschlüsselung der Ebenen christlich-theologischer Aussagen als Reflexion christlicher Glaubensaussagen vgl. u. a. M. Petzoldt, Christliche Theologie im pluralistischen Kontext. Konzeptionsfragen im Horizont von Religionsdialogen, in: ders. (Hg.), Europas religiöse Kultur(en). Zur Rolle christlicher Theologie im weltanschaulichen Pluralismus. Ein interdisziplinärer Diskurs an der Theologischen Fakultät anlässlich der Sechshundertjahrfeier der Universität Leipzig, Leipzig 2012, 207 – 242 (238 – 240). 16 Gerade Systematische Theologie ist sich ihrer Verantwortung an dieser Stelle bewusst, was dennoch nicht automatisch davor schützt, in der Rezeption biblischer Texte die Erkenntnisse der Exegese zu vernachlässigen. Christoph Schwöbel formulierte in seiner »Skizze zum Handwerk der Systematischen Theologie« [3] exemplarisch treffend sein Unbehagen, da er »weiß, daß biblische Exegeten gelegentlich – und gelegentlich nicht ganz ohne Grund – versucht sind, die Ausflüge von systematischen Theologen in ihr Fachgebiet als Gastspiele der ›Amateurliga‹ zu klassifizieren« (C. Schwöbel, Doing Systematic Theology. Das Handwerk der Systematischen Theologie, in: ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 1 – 24, [1]). Ähnliche Umsicht gälte dann – den systematisch-theologischen Faden weitergesponnen – genauso für andere, sozusagen nicht historisch-kritisch zielgerichtete hermeneutische Ansätze: Wenn z. B. in rezeptionsästhetischer Absicht biblische Texte unter dem Fokus der Situativität und Aktivität der Rezipierenden untersucht werden, dann gilt auch hier die Maßgabe der expliziten soziokulturellen
272 Christiane Nagel Sehr deutlich wird das in seiner bleibend aktuellen Virulenz im Beitrag Doerings bei der Analyse des Menschen als Geschöpf: Die neutestamentlichen Reflexionen auf schöpfungstheologische Argumentationen zum geschlechtlichen »Zweier-Prinzip«17 zeigen deutlich an, wozu eben Schöpfungstheologie argumentativ genutzt wurde und mit welcher akuten Dynamik dabei Argumentationslinien sich hier verschieben können.18 Und sie weisen darin über sich hinaus, indem sie warnend zur Reflexion animieren, wie Schöpfungstheologie auch heute teilweise eben unreflektiert überstrapazierend noch argumentativ genutzt werden kann, naheliegender Weise z. B. in Genderdebatten.19 Althergebracht-klassisches Beispiel für eine solche Benutzung biblischer Texte sind ethisch-theologische Ausführungen zur Ehe als normatives Beziehungskonzept zwischen Mann und Frau, in denen geschlechtliche Binarität nicht nur als vermeintlich schöpfungs-
Kontextualisierung – und zwar natürlich nicht nur der Rezipierenden, sondern auch des Rezipierten: Zu den Rezeptionsbedingungen gehört dann eben u. a. auch bspw. der den Rezipierenden (mehr oder weniger) gegenwärtige (Entstehungs-)Kontext des Textes. Vgl. z. B. H. Lindenmayr, Rezeptionstheorie, in: EPhW 3 (1995), 611 – 613 (611). 17 Doering, Neutestamentliche Aspekte (s. Anm. 12), 229. 18 Doering zeigt hier in seinem Beitrag das mehrdimensionale Spektrum schöpfungstheologisch fundierter Argumentationsrichtungen vom anthropologisch-geschlechtlichen Zweier-Prinzip des priesterlichen Schöpfungsberichts über das Gebot zur Monogamie (hier als ein Bsp. Tob 8,6) und das Ehescheidungsverbot in Mk 10,2 – 9 bis hin zur potentiellen eschatologischen Auflösung der Zweigeschlechtlichkeit bei Paulus (Gal 3,28). Vgl. Doering, Neutestamentliche Aspekte (s. Anm. 12), 225 – 231. 19 »Die evangelische Sozialethik geht bei allen Nuancierungen und Differenzierungen im Einzelnen durchweg von einer natürlich gegebenen Zweigeschlechtlichkeit aus. Zwar betonen die meisten Theologen der Gegenwart, dass daraus noch keine sozialen Rollenverpflichtungen resultierten, doch faktisch ist die damit einhergehende Normierung und Naturalisierung kulturell etablierter Genderidentitäten unübersehbar. Die meisten Sozialethiker berufen sich im Hinblick auf die Natürlichkeit und Normativität der Zweiergeschlechtlichkeit auf die biblischen Schöpfungserzählungen [Hervorhebungen C. N.]« (I. Karle, »Da ist nicht mehr Mann noch Frau …«. Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz, Gütersloh 2006, 189).
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 273
theologisches Sein,20 sondern auch als bestimmte Eigenschaften und Aufgaben implizierendes Sollen21 konstatiert werden.22 Zumal bei diesem thematischen Beispielkomplex auch deutlich wird, wie sehr schöpfungstheologisch die ontologische Makroebene und die sozialtheoretische Mikroebene miteinander verzahnt sind – wodurch eben gerade hier die Notwendigkeit eines starken hermeneutischen Problembewusstseins evident ist: Die Perspektive des Ganzen beinhaltet eben auch den Blick ins Kleinteilige und damit den konkreten lebensweltlichen Vollzug – und das bei jedem Text an sich, bei seinen verschiedenen Traditionsgütern in multidimensionalen Abhängigkeiten und im Prozess des Tradierens selbst. Dadurch dreht sich die fundamentaltheologische Relevanzfrage des exegetischen Beitrages, mit der er implizit auch abschließt,23 mal wieder darum, welche Funktion der Schriftexegese im innertheologischen Gesamtvollzug theologisch-wissenschaftlichen Arbeitens zukommt; zugespitzt durch den in dieser Publikation zugewiesenen Untertitel »Von Schöpfung und Naturprozessen«: Wie ist vor dem Hintergrund der multidimensionalen Relativitäten neutestamentlicher Texte der produktive Zusammenhang von ebensolchen Schöpfungsaussagen 20 Zumal die Analysen Doerings deutlich daran erinnern, dass gerade die beiden Schöpfungsberichte gewisse – in der Geschichte ihrer Rezeption verschiedentlich reflektierte – Schwierigkeiten für die Annahme einer ontologisch begründeten fixen Geschlechterbinarität bieten. Vgl. Doering, Neutestamentliche Aspekte (s. Anm. 12), 226 f. Vgl. dazu auch M. Carden, Genesis, in: The Queer Bible Commentary, hg. v. D. Guest u. a., London 2007, 21 – 60 (26 f.). 21 Ein Beispiel par excellence in Doerings Beitrag ist 1 Kor 11,7 – 12, eine schöpfungstheologisch »fundierte« ontologische Unterordnung der Frau, mit der dann direkt konkrete soziokulturelle Ungleichbehandlungen begründet werden. Vgl. Doering, Neutestamentliche Aspekte (s. Anm. 12), 230. 22 Exemplarisch-schulbildend war hier Pannenberg. »Die eheliche Gemeinschaft ist nie die einzige Form sexueller Betätigung gewesen. Aber in einer christlich ethischen Beurteilung muß sie die Norm zur Beurteilung aller anderen Formen sexuellen Verhaltens sein. Das gilt für die außerehelichen Beziehungen ebenso wie für die vorehelichen und für den Bereich abweichender sexueller Verhaltensweisen wie die Homosexualität [Hervorhebung C. N.]« (W. Pannenberg, Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen2 2003, 128). Zu dieser steilen bzw. ab-wertenden These kam Pannenberg in Auseinandersetzung mit der schöpfungstheologisch basierten Argumentation in Mk 10, 6 – 9. Vgl. a. a. O., 126. 23 »Das (Apostolische) Credo verdichtet den Schöpfungsbezug in seiner Formulierung des Ersten Artikels auf äußerste Weise zur Formel ›Schöpfer Himmels und der Erden‹. Die hier genannten Texte und Traditionen regen an, durchzubuchstabieren, was das eigentlich heißt [Hervorhebung C. N.]« (Doering, Neutestamentliche Aspekte [s. Anm. 12], 236 f.).
274 Christiane Nagel und heutigen pluralen Welt- und Menschenbildern der (Post-, Postpost-, …) Moderne und den sie prägenden Erkenntnisbedingungen denkbar? Sprich: Wie kommen die Ergebnisse exegetisch-historischen Arbeitens mit denen des systematisch- (und praktisch-)theologischen zusammen?24 Diese grundlegend fundamentaltheologisch-methodologische Frage kann im nun Folgenden auch konstruktiv an den Beitrag Zarnows gestellt werden. Ausgehend von der Tillichschen25 These, dass die »überlieferten Symbole des Christentums […] ihre sinngebende Kraft verloren«26 haben, unternimmt Zarnow den Versuch, »Materialien und Beobachtungen«27 zu dem Verständniskontext zu sammeln, in dem besagte Symbole wieder sprachfähig sein sollen, und zwar in »Form einer gedanklichen Homilie zu den einzelnen Begriffen des 24 Mit dieser methodologisch-enzyklopädischen Fragestellung würde in der Konsequenz auf die Frage nach der Disziplinarität der Theologie insgesamt abgehoben werden. Vorausgeschickt sei deswegen nur kurz ein diskursives Disziplinenverständnis: Das Proprium der Theologie wird innerhalb ihrer Subdisziplinen nicht im Sinne eines spezifischen materialen Kernbestandes oder einer konkret gefüllten Aufgabe gesehen, sondern in einer aller theologischen Arbeit inhärenten Fragestellung – verstanden als eine formale Struktur des innertheologisch-interdisziplinären Diskurses, der letztlich Theologie als Disziplin selbst darstellt. Wie eine solche Fragestellung zu füllen sei, wurde und wird immer wieder ausführlich und verschiedentlich diskutiert. Vgl. natürlich F. D. E. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1811), in: ders., Kritische Gesamtausgabe (KGA) I / 6 (1998), hg. v. D. Schmid, Berlin / New York 1998, 243 – 315 (249 f.). Vgl. auch z. B. M. Roth, Die Ausdifferenzierung der theologischen Wissenschaft als Problemstellung der evangelischen Theologie, in: M. Petzoldt (Hg.), Evangelische Fundamentaltheologie in der Diskussion, Leipzig 2004, 73 – 94 (85 f.). Der Unterschied zu diesen Verständnissen der Theologizität der einzelnen Subdisziplinen liegt in den vorliegenden Anfragen allerdings darin, dass hier von einer inhaltlichen Füllung eines enzyklopädischen Formalprinzips eben (zumindest vorerst) gänzlich abgesehen werden soll: Diskurs um des Diskurses willen. 25 Womit ein spezifisches Theologieverständnis impliziert zu sein scheint. Vgl. dazu z. B. P. Tillich, Die neue Wirklichkeit, München 1963, 56 f. C. Zarnow selbst sieht die Aufgabe der Dogmatik entsprechend darin, »Aufbauarbeit am Symbol zu leisten, d. h. konstruktive Vorschläge zu machen, wie die Symbole des Christentums neu zur Sprache gebracht werden können« (Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer [s. Anm. 1], 239). Es wäre an dieser Stelle interessant, die Frage zu stellen, ob es sich dann, wie oben genannt, um deskriptive »Materialien und Beobachtungen« oder um präskriptiv interessengeleitete Induktionen handelt. Vor dem Hintergrund des aufgezeigten Dogmatikverständnisses scheint Letzteres näherzuliegen. 26 Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer (s. Anm. 1), 239. 27 Ebd.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 275
Credo-Abschnittes«.28 Die Wahl dieses Begriffs ist im Folgenden insofern interessant, als dass er als homiletischer Begriff sofort bestimmte Erwartungen evoziert: namentlich die der Schriftbasiertheit der Gedanken.29 Zwar ist Zarnows Formulierung an dieser Stelle sicherlich so pointiert, dass die Begriffe bzw. Sprachbilder des Glaubensbekenntnisses die Wortbasis sein sollen. Doch sowohl ebendies als auch der konzeptuelle exegetische Kontext des vorliegenden Bands als auch die Vorgehensweise Zarnows selbst zeigen deutlich, dass es sich hierbei wohl eben auch um eine Auslegung im Horizont biblischer Traditionen handeln dürfte. Sprich: Die Dogmatik versuche konstruktiv, die biblisch fundierten Glaubensaussagen in (post-, postpost-) moderne Denkzusammenhänge zu übersetzen. Zarnow unternimmt dies, indem er in Hinblick auf »die Erde, de[n] Himmel und ihr[en] Schöpfer«30 ebendiese Denkzusammenhänge exemplarisch in Phänomenen31 betrachtet. In seinen Reflexionen über Welt, Schöpfung und Schöpfer bedient er sich dabei relativ frei-assoziativ wirkend verschiedener Anleihen aus Philosophie, Theologie und Popkultur,32 um die verschiedenen Tiefendimensionen 28
Ebd. Hervorhebung C. N. Vgl. z. B. R. Berger, Homilie, Neues Pastoralliturgisches Handlexikon 1999, 207 f. 30 So der Titel seines Beitrags. Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer (s. Anm. 1), 239. 31 So zumindest könnte die Ankündigung »phänomenologische[r] Annäherungen« des Beitragtitels interpretiert werden. Ansonsten wäre hier vielleicht die methodische Rückfrage nach dem phänomenologischen Ansatz zu stellen. 32 U. a. von Hans Blumenberg, Alexander Gerst und Bruno Latour über Gravity und Friedrich Schleiermacher bis hin zu Blumfeld. Bei dem letztgenannten Beispiel aus dem Bereich der Popkultur stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien man hier die Verbindungslinien konstruiert, die konstatiert werden zwischen den Reflexionen, die der Anblick des Schöpfungswerks des Nachthimmels im religiösen Bewusstsein z. B. in Ps 8 auslöst, und dem von Blumfeld besungenen Nichts menschlicher Existenz. Scheint ersteres ja eher die eigene kategoriale Niedrigkeit und Abhängigkeit gegenüber dem transzendenten Schöpfergott auszudrücken, reflektiert letzteres wohl vielmehr auf das weltimmanente Alleingestelltsein des nichtigen Menschen im Universum, was nur in zwischenmenschlicher Liebe seine Auflösung findet. Auch der argumentativ zugefügte Ps 39 scheint eher auf eine Nichtigkeit coram Deo abzuheben. Wie sich hier also tatsächlich schöpfungstheologische Denkhorizonte in heutigen Verstehenskontexten erschließen, wäre interessant weiterzuverfolgen. (Interessant ist hier auch, dass das von Blumfeld gegebene »Sinnversprechen« der Liebe als von »mittlerer Reichweite« gekennzeichnet wird. Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer [s. Anm. 1], FN 57. Könnten z. B. vor dem Hintergrund a-theistischer Theologien [wie grundlegend bei Dorothee Sölle 29
276 Christiane Nagel der Denkbarkeit schöpfungstheologischer Symbolik darzustellen. Dadurch zeigt sich gerade auch am Beitrag Zarnows die von D oering verdeutlichte lebendige Dynamizität von Rezeptionsprozessen in theologischen Diskursen.33 Zarnows Vorgehensweise ist in dieser Hinsicht also stringent, geht es ihm ja um die Kommunikabilität christlich-religiöser Symbole im denkerischen Kontext des Jetzt, also maßgeblich im Zusammenspiel infinit verschiedenster Erkenntnisprozesse aus Wissenschaft und Kultur, was dann nur in Beispielen vollzogen werden kann.34 Allerdings bleibt grundsätzlich zu fragen, anhand welcher Parameter bzw. Kategorien die »Materialien und Beobachtungen« zusammengetragen und hermeneutisch gedeutet werden, also in und aus welchen Kontexten man die dargestellten Beispiele wie auf schöpfungstheologische Konnotationen hin befragt. Denn, wie Doerings Ausführungen deutlich machen, Auslegung braucht Kontextualisierung. Damit soll nicht behauptet werden, dass hier der Kontext fehle – gerade z. B. die Großwetterlage wird ja durch die eingangs genannte Einordnung in die Tillichsche Diagnose deutlich. Doch könnten zusätzliche Einzelkontextualisierungen helfen, die innere Logik der Vorgehensweise transparenter zu machen und so ein Nachvollziehen und Weiterdenken der Ansätze noch stärker fördern, wozu der Beitrag durch seine wohl phänomenologische Vielschichtigkeit ja anregen will. Außerdem würden etwaige Vermutungen über zu große
u. v. a.] hier nicht vielleicht vielmehr Anschlusspunkte zwischen nicht-religiösen Deutungen menschlicher Existenz und christlichen Gottesvorstellungen gefunden werden?) 33 Stärkstes materiales Argument dafür ist m. E. Zarnows Analyse des wechselseitigen Verhältnisses zwischen Selbst- und Weltbewusstsein bei Schleiermacher. Gerade die hier beispielhafte denkerische Wechselwirksamkeit kosmologischer Reflexion und »subjektivitätstheoretische[r] Bestimmung religiöser Sinndeutung« verdeutlicht die inhärente Dynamizität religiöser Weltdeutungen – und dann auch logisch weitergedacht die der Theologie insgesamt. Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer (s. Anm. 1), 256 – 258. 34 Es bleibt allerdings an dieser Stelle dennoch die Grundsatzfrage zu stellen, ob es dann nicht hilfreich wäre, die eigene spezifische Positionalität, die sowohl die Auswahl der Beispiele als auch ihre Deutung offensichtlich bestimmt, explizit mitzureflektieren und dadurch transparenter zu machen. Das würde eine gestärkte wissenschaftliche Reichweite außerhalb ähnlich vollzogener Dogmatik-Diskurse, die sich durch prinzipielle Vereinbarungen wie ja v. a. die der intersubjektiven Überprüfbarkeit konstituiert, fördern.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 277
hermeneutische Freiheitlichkeit oder auch zu starke Konsequentialismen35 direkt im Keim erstickt. Klassisch exemplarisch und der hier zu Beginn genannten fundamentaltheologischen Grundsatzfrage entsprechend wird dies deutlich, wenn man sich die konkrete Rezeption biblischer Traditionsgüter anschaut. Denn gerade hier kann an die Ausführungen Zarnows zurückgefragt werden, wie historisch-kritische Exegese in seine Betrachtungen mit eingeflossen ist. So könnte z. B. bei der von ihm konstatierten Gegenläufigkeit bzw. »Spannung« der »biblischen Aussagen«36 über den Himmel (oder auch die Sonne) als einerseits gottesbildlicher »Metaphorisierung« und andererseits schöpfungstheologischer »Depotenzierung«37 gegengehalten werden, dass es sich hier eben vielmehr auch um traditions- und religionsgeschichtliche Abhängigkeiten bzw. Entwicklungslinien zu handeln scheint.38 Ähnlich könnten auch seine Überlegungen zur »Doppelgesichtigkeit«39 des christlich-theologi35 So wäre vielleicht doch noch einmal zu fragen, ob »[d]ie religiöse Weltbetrachtung […] mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum Gedanken des transzendenten ›Ursprung[s] aller Dinge‹ [Hervorhebung C. N.]« führen muss. Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer, (s. Anm. 1), 262. Zarnow sieht hierin die berechtigte religiöse Frage hinter kosmologischen Gottesbeweisen – und steht damit im liberaltheologischen Erbe der steten Betonung der Eigenständigkeit des religiösen Gefühls, dass also religiöse Weltdeutungen nicht aufgrund ihrer Inkommensurabilität mit den Prinzipien der reinen Vernunft ihre eigene existentielle Berechtigung verlieren Wenn dem aber so ist, dann kann man weitergedacht m. E. im Kontext religiöser Weltdeutungen schlecht von denkerischen Zwangsläufigkeiten sprechen. 36 Allein an dieser Formulierung, die sich in Grundansätzen durch den gesamten Beitrag zieht, wird das Problem der unexpliziten Kontextualisierung – vielleicht nur als ein Formulierungsproblem – evident. »[D]ie biblischen Autoren« kann es vor dem Hintergrund eines historisch-exegetischen Bewusstseins in dieser Form argumentativ eigentlich nicht geben. A. a. O., 246. Natürlich sei nicht ignoriert, dass die Möglichkeit biblischer Theologie auch in den exegetischen Disziplinen durchaus persistentes Thema ist. Exemplarisch-programmatisch dafür vgl. z. B. F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments. Bd. I. Die Vielfalt des Neuen Testaments, Stuttgart 32011, 15 f. Allerdings muss dann gleichzeitig betont werden, dass hier erstens vermutlich unterschiedliche Theologiebegriffe im Allgemeinen zu Grunde liegen. Und zweitens geht es hier eben gerade um die Frage nach der Möglichkeit eines die immense innere Pluralität des christlich-biblischen Kanons verbindenden, aber eben nicht ignorierenden hermeneutischen Kriteriums (bei Hahn als die interpretatio christiana). 37 Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer (s. Anm. 1), 251. 38 Vgl. z. B. A. Berlejung, Himmel, in: HGANT 22009, 252 – 254 (252 f.). 39 Zarnow, Die Erde, der Himmel und ihr Schöpfer (s. Anm. 1), 254 f.. Allerdings ein Trillhaas-Zitat – was verdeutlicht, dass die Frage nach dem
278 Christiane Nagel schen Weltverständnisses befragt werden, die sich zwischen Gen 1,31 und 1 Joh 2,15 darstelle: Zeigen sich hier Dichotomien der Weltsicht – oder eher ihr Wandel im Kontext der Geschichte?40 In welcher Weise kann dann des Weiteren Koh 5,2 wirklich als »die Kurzformel der biblischen Topographie«41 gelten? Unabhängig davon, dass Kohelet zur Weisheitsliteratur gehört und also in spezifischem Kontext mit sehr spezifischen Absichten steht.42 Allein je nach historischer soziokultureller Situation existierte biblisch ja beispielsweise auch die Vorstellung von Jhwhs Residenz auf einem Berg.43 So wenig diese vereinzelten Rückfragen auch nur annähernd eine grundsätzliche Infragestellung des vielschichtigen und weitsichtigen Beitrags Zarnows darstellen sollen und können, so sehr ist – gerade in der im Glashaus sitzenden Perspektive der Fundamentaltheologin – über diesen Beitrag hinausgehend um der inner- (und außer-)theologischen interdisziplinären Kommunikabilität der Theologie als Disziplin auch hier die immer wieder neu zu beschwörende Grundsatzfrage zu stellen: Wie kommen Exegese und Systematik zusammen? Dabei soll keinerlei Neuauflage eines Schriftprinzips44 heraufbeschwört werden. Sondern es geht vielmehr darum, die sich immer weiter ausdifferenzierenden Kompetenzen der einzelnen Teildisziplinen im DisWie der Nutzung exegetisch-historischer Einsichten im Zusammenhang der Systematischen Theologie ein Grundsatzproblem sein dürfte. 40 Dies ist insofern auffällig, als dass Zarnow die Dynamizität des menschlichen Blickes »auf« die Welt selbst eindrücklich verdeutlicht – so z. B. in kosmologischer Referenz zu Blumenbergs Ausführungen zum durch die Raumfahrt erst möglich gemachten Blick auf den blauen Planeten Erde. Vgl. a. a. O., 240 f. Allerdings kann an die später folgende Behauptung, dass dadurch erst eine Reflexion auf die fragile Entität des menschlichen Lebensraums möglich wäre, die Rückfrage gestellt werden, ob solches nicht doch schon immer Gegenstand religiöser, philosophischer und theologischer etc. Denkprozesse war. So lebte bekanntlich der Häuptling eines berühmten gallischen Dorfes in permanenter Angst, ihm könnte der Himmel auf den Kopf fallen. Oder als materiales Beispiel für den theologischen Blick auf die Welt als Ganze mögen Darstellungen wie die Ebstorfer Weltkarte dienen. 41 Ebd., Hervorhebung C. N. Vgl. a. a. O., 246. 42 Vgl. dazu z. B. M. Saur, Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur, Darmstadt 2012, 9 – 13. 43 Vgl. dazu z. B. A. Berlejung, Weltbild / Kosmologie (HGANT2 2009), 65 – 72 (67). 44 Das wäre zwar eine hierzu in Bezug stehende, formal aber anders gelagerte Fragerichtung nach möglichen allgemeinen Prinzipien von Theologie. In den hier vorliegenden Gedankengängen geht es vielmehr um die Funktionstüchtigkeit des innertheologischen Diskurses.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 279
kursprozess der Theologie gegenseitig einsichtig und fruchtbar zu machen bzw. zu halten.45
45 Eine Frage, die sich sicherlich akut dem theologischen Nachwuchs in seinen verschiedenen Ausbildungsfragen stellt, die aber – aufgrund ihrer oben angedeuteten methodologisch-enzyklopädischen Stoßrichtung nach der Identität der Theologie als Disziplin insgesamt – für das Selbstverständnis des Faches eine grundlegend-permanente Reflexionsanforderung ist. Vgl. Roth, Die Ausdifferenzierung (s. Anm. 25), 74 f.79.
280 Weiterführende Fragen
Weiterführende Fragen 1. Wie lässt sich gegenüber jenen argumentieren, die der Meinung sind, der christliche Glaube hänge daran, dass die Welt nach Gen 1 in sieben Tagen erschaffen worden sei, und die aus einzelnen biblischen Schöpfungsaussagen eindeutige anthropologische Vorgaben entnehmen und ethische Folgerungen (Zweigeschlechtlichkeit, Geschlechterverhältnis, Herrschaft über die Natur) ziehen? 2. Inwiefern kann eine klare Unterscheidung zwischen Schöpfung und Natur dazu beitragen, der Leugnung der vom Menschen gemachten Klimaveränderung einen Riegel vorzuschieben? Wie lassen sich unter Voraussetzung dieser Unterscheidung menschliche Eingriffe in die Natur (Reproduktions- und Transplantationsmedizin, Geschlechtsumwandlung, genetische Veränderungen) einschätzen?
IV. »Ich glaube an den Heiligen Geist …« Von der Neuschöpfung des Menschen Der dritte Glaubensartikel ist eng an den zweiten und auch den ersten angebunden, insofern der Heilige Geist als der bestimmt wird, der die Gemeinschaft der zu Christus Zugehörigen herstellt, Vergebung der Sünden zueignet und das ewige Leben eröffnet, das Gott der Schöpfer durch Christus gewährt. Bereits im zweiten Artikel wird auf das Tätigsein des Heiligen Geistes bei der Inkarnation des Gottessohnes hingewiesen. Der Ausdruck »Geist« vereint in den biblischen Sprachen wie im heutigen Sprachgebrauch vielfältige Bedeutungen; er steht sowohl für das Physisch-Leibliche (Atem), für mentale Verfasstheit und seelisch-geistige Bestimmtheit als auch für den Geist Gottes. Die Rede vom »Heiligen Geist« ist im Alten Testament noch sehr selten (Ps 51,13; Jes 63,10 f.); Gottes Geist ist Gottes schöpferische (Gen 2,7) und ermächtigende (Jes 61,1) Kraft. Im Neuen Testament wird Jesus Christus in engster Weise mit dem Geist verbunden (Mk 1,9 – 11; Lk 1,35); nach Ostern wird der Geist zur Gabe an die Gemeinde Christi (Apg 2; Joh 20,22 f.). Sein Wirken wird in vielfältiger Weise beschrieben, er wirkt den Glauben der Einzelnen, stiftet Erkenntnis Christi, führt in alle Wahrheit und befähigt zum Zeugnis (Joh 15,26.27). Der Geist Gottes wird bei Paulus, Lukas und Johannes zunehmend als eine eigenständig wirksame, von Gott und Christus personal unterschiedene Größe erkannt, wenngleich eine ausgebildete Trinitätslehre im Neuen Testament noch nicht zu finden ist. Erst im Laufe der weiteren Theologiegeschichte wird der Heilige Geist als wesensgleiche Person neben Vater und Sohn bekannt (s. Nizäno-Konstantinopolitanum; Athanasianum).
Leben im Glauben – Leben im Geist Biblisch-theologische Aspekte der Geistesgegenwart Gottes Jens Herzer
Quasimodo geniti – »wie die neugeborenen Kinder« – im Kirchenjahr trägt der Sonntag nach Ostern diese Bezeichnung. Damit wird dem Ostergeschehen eine Dimension zugewiesen, die das Leben unter der Perspektive des Glaubens an Gottes auferweckendes Handeln am gekreuzigten Jesus von Nazareth auf nachhaltige – um nicht zu sagen: geheimnisvolle – Weise erneuert. »Ich fühle mich wie neugeboren«, so tönt euphorisch, wer von Krankheit genesen ist oder aus einer Kur kommt. »Anwendungen« werden die Maßnahmen genannt, die ausdrücklich Körper und Geist erbauen, wobei eine wechselseitige Beeinflussung vorausgesetzt wird und dabei insbesondere die Entspannung und Kräftigung des Leibes dem Geist aufhilft. Das ist zugegebenermaßen nur die schwache Alltagsvariante jener geistlichen Gewissheit des Neugeborenseins, aber sie macht anschaulich, dass auch der von Ostern herkommende Vergleich der Glaubenden mit »neu geborenen Kindern« zunächst ein Lebensgefühl anspricht, insofern man aufgrund besonderer Umstände den Eindruck und die Gewissheit erlangt, gleichsam noch einmal neu mit dem Leben anfangen zu können, auf neue Weise ins Leben getreten zu sein – eben wie neugeborene Kinder. Dass selbst in alltäglichen Kontexten die Leiblichkeit als eine conditio sine qua non für die Entfaltung der Geisteskraft wahrgenommen wird, ist ein Aspekt, der auch die theologische Reflexion in besonderer Weise herausfordert. Dies gilt umso mehr, als die leiblich-symbolische Vorstellung von einem Neu- bzw. Wiedergeboren-Werden traditionell mit der Taufe und der Wirkung des Heiligen Geistes verbunden wird. Dadurch ergibt sich ein komplexer theologischer Zusammenhang, der die Gabe des Geistes mit dem Ostergeschehen verbindet, insofern sich der Glaube im Taufvollzug auf die Verbindung mit Tod und Auferweckung Christi bezieht. Unter dieser Voraussetzung gewinnt der Geist dann auch seine gemeindekonstituierende Funktion, wie sie etwa das Pfingstgeschehen abbildet, und erhält darin erneut eine Gestalt, die maßgeblich in leiblich-personalen Kategorien entfaltet wird.
284 Jens Herzer Damit sind bereits wesentliche Aspekte des Geist-Artikels angesprochen, die es im Folgenden zu entfalten gilt. Doch der Reihe nach: Was also haben diese beiden Perspektiven – die österliche und die alltägliche – auf die Vorstellung eines Neu-Geboren-Werdens mit dem Auftaktthema des dritten Artikels zu tun: »Ich glaube an den Heiligen Geist«? Der Untertitel in dieser Rubrik des Bandes thematisiert das für eine Antwort theologisch Entscheidende: »Von der Neuschöpfung des Menschen«. Der Geist als creator spiritus (vgl. EG 126) gilt sowohl religionsgeschichtlich als auch dogmatisch in besonderer Weise als die Schöpferkraft Gottes, die sich in Schöpfung und Neuschöpfung als Leben schaffende Kraft erweist.1 Bereits der Beginn des ersten biblischen Buches stellt die schöpfungstheologische Funktion und Bedeutung des göttlichen Geistes heraus (Gen 1,1 f.). 1 Dies so zu formulieren, ist zugegebenermaßen bereits eine Verkürzung der Problematik, die hier nicht weiter erörtert werden kann. Zur strittigen Frage der systematischen Einordnung des »Werkes des Heiligen Geistes« in der Dogmatik vgl. z. B. U. H. J. Körtner, Dogmatik (LETh 5), Leipzig 2018, 444 – 453, der die Pneumatologie zwischen Christologie und Soteriologie verortet. Vgl. auch G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. III, Tübingen 31982, 10 f., der seinerseits die Pneumatologie mit der Eschatologie zusammenordnet, gleichzeitig aber zu Recht vor einer »Schubladisierung zu Pneumatologie und Eschatologie« warnt, die als eine »Domestizierung dessen zu verstehen (sei), worum es im Geistgeschehen und im Endgeschehen eigentlich geht« (a. a. O., 15). Es liegt wohl an der Vielfältigkeit der Funktionen des Geistes, dass eine feste systematische Verortung immer wieder infrage gestellt wird. In einem knappen, aber instruktiven Artikel zur aktuellen Problematik der Pneumatologie stellt auch Christian Danz die »Unschärfe des Geistbegriffs« heraus und spricht von der »unklaren Stellung der Pneumatologie im Aufbau der theologischen Dogmatik«: »Erörtert wird der Gottesgeist in der Trinitätslehre, der Lehre von der Heilszueignung (Soteriologie) und der von der Ekklesiologie, aber auch in der Schriftlehre sowie der Eschatologie und der Lehre von der Schöpfung. Als eine eigenständige dogmatische Lehre ist die Pneumatologie nicht ausgearbeitet worden, sie wurde ausschließlich in Verbindung mit anderen dogmatischen Lehrstücken abgehandelt.« (C. Danz, Der Heilige Geist und die Realisierung des Glaubens in der Geschichte. Überlegungen zur systematischen Funktion der Pneumatologie [HTS 72], [2016], 1 – 7 [1] [https://hts.org.za/index.php/hts/article/view/3293/7392, zuletzt abgerufen am 28. 10. 2018].) Für Danz ist essentiell, dass die systematische Funktion des Geistes nur in Relation zum Religionsbegriff entfaltet werden könne (a. a. O., 2); vgl. ders., Der Geist der Religion. Anmerkungen zur religionstheoretischen Funktion der Pneumatologie, in: R. Barth / A. Kubik / A. v. Scheliha (Hg.), Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth. Festschrift zum 70. Geburtstag, Tübingen 2015, 257 – 272. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Danz vgl. M. Laube, Christliches Leben im Geist. Überlegungen zur Pneumatologie, in diesem Band.
Leben im Glauben – Leben im Geist 285
Darin ist zugleich auch der Aspekt der Erhaltung der Schöpfung impliziert, und dieser gehört zu den maßgeblichen Charakteristika bzw. Funktionen des Geistes, der damit freilich in seinen vielfältigen Dimensionen und seiner buchstäblichen Allgegenwart bei Weitem nicht erschöpfend erfasst ist.2 Man könnte kühn behaupten: Was unter dem Eindruck der Alltagserfahrung »Lebensgefühl« genannt wird, entspricht theologisch der Rede vom Wirken des Heiligen Geistes. Für Letzteres erscheint der Begriff »Lebensgefühl« zunächst einmal ganz unangemessen und viel zu schwach, um die Bedeutung und die Wirkungen des Geistes zu erfassen. Die »Unübersichtlichkeit«, die Martin Laube als Bestandsaufnahme der aktuellen Diskussion in der evangelischen Theologie konstatiert,3 trägt ebenfalls nicht ohne Weiteres zu Klärungen bei. Dennoch ist mit dem Begriff »Lebensgefühl« auf anschauliche und möglicherweise zugleich provokante Weise die anthropologische bzw. leiblich erfahrbare Dimension der Rede vom Geist aufgerufen, die für die Interpretation der Credo-Aussage als einer expliziten Aussage des glaubenden Ich aus meiner Sicht eine Schlüsselrolle einnimmt.4 Damit ist eine hochkomplexe und aktuelle Fragestellung aufgerufen, die hier nicht andeutungsweise erörtert werden kann. Die Bedeutung von Gefühlen als Teil der conditio humana verdient in theologischen Kontexten mehr Aufmerksamkeit, als ihr traditionellerweise zukommt. Sie darf auch nicht allein in der Engführung auf Schleiermacher und seine geradezu sprichwörtlich gewordene Vorstellung von Religion als »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« wahrgenommen und expliziert werden.5 Das hängt vor allem mit der leiblichen Dimension des Geistes zusammen, die nicht nur in 2 Vgl. für einen Überblick unter exegetisch-neutestamentlichem Blickwinkel z. B. J. Frey, Vom Windbrausen zum Geist Christi und zur trinitarischen Person. Stationen einer Geschichte des Heiligen Geistes im Neuen Testament, in: Heiliger Geist, in: JBTh 24 (2009, 22015), 121 – 154; J. Herzer, Evangelische Spiritualität und das Neue Testament, in: P. Zimmerling (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität, Bd. 2: Theologie, Göttingen 2018, 335 – 357. Speziell zur paulinischen Pneumatologie vgl. grundlegend F. W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie (FRLANT 154), Göttingen 1992; s. a. M. Wolter, Der heilige Geist bei Paulus, in: JBTh 24 (2009, 22015), 93 – 119. 3 Vgl. Laube, Christliches Leben (s. Anm. 1), 326. 4 Angesprochen ist damit konkret jene für das Wirken des Geistes charakteristische Funktion, die Laube, a. a. O., 335 – 337, als »Sozialität des Geistes« beschreibt. 5 In der »Ökumenischen Dogmatik« von U. Kühn und W. Beinert, Leip-
286 Jens Herzer der Alltagserfahrung eine Rolle spielt,6 sondern beispielsweise auch bei Paulus als eine die menschliche Existenz bestimmende und transformierende Kraft von zentraler Bedeutung ist. Darauf wird im Folgenden zurückzukommen sein. Der Aspekt des Gefühls hängt mit der Erfahrung bzw. hier speziell der Geisterfahrung eng zusammen, der aus phänomenologischen und religionswissenschaftlichen Gründen zumeist deutlich mehr Aufmerksamkeit zukommt.7 Natürlich birgt die Rede von Gefühlen auch Probleme, da theologische Einsichten nicht von Emotionen abhängig gemacht werden können, zumal wenn diese anthropologischen Dimensionen in den aktuell auflebenden Diskursen über »Spiritualität« in Bezug auf das Verständnis des Geistwirkens – wie es Martin Laube andeutet – unterbelichtet bleiben.8 Dennoch darf insbesondere hinsichtlich der zig / Regensburg 2013, 323, verweist der einzige Registereintrag unter dem Stichwort »Gefühl« auf Schleiermacher. 6 Vgl. dazu z. B. exemplarisch die von C. Henning, Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person. Studien zur Architektur protestantischer Pneumatologie im 20. Jahrhundert, Gütersloh 2000, geführte Debatte; darin insbesondere die Auseinandersetzung mit dem phänomenologisch- anthropologischen Ansatz der Pneumatologie von Hermann Timm (a. a. O., 20 – 42; vgl. bes. H. Timm, Phänomenologie des Heiligen Geistes, Bd. 1: Elementarlehre: Das Weltquadrat. Eine religiöse Kosmologie, Gütersloh 21986), wobei die Kritik Hennings vor allem darauf abhebt, dass klassische Positionen der Pneumatologie (z. B. der materiale Gehalt der Geistvorstellung; die Personalität des heiligen Geistes) nicht hinreichend zur Geltung kämen (vgl. Henning, a. a. O., 39 – 41). 7 Vgl. z. B. G. Theissen, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007; speziell für den materialreichen Bereich der paulinischen Briefliteratur V. Rabens, The Holy Spirit and Ethics in Paul. Transformation and Empowering for Religious-Ethical Life, Minneapolis 22014; ders., Begeisternde Spiritualität. Geisterfahrungen im Leben der paulinischen Gemeinden, in: GlLern 26 (2011), 133 – 147. Für eine kritische Perspektive vgl. etwa Horn, Angeld des Geistes (s. Anm. 2), passim, bes. 13 – 24, in Auseinandersetzung mit der einst grundlegenden Studie von H. Gunkel, Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus. Eine biblisch-theologische Studie, Göttingen 1888 (31909); dezidiert kritisch gegenüber der Kategorie der Erfahrung und vor allem des Gefühls vgl. K. Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments (SBS 146 / 147), Stuttgart 1991. 8 Vgl. Laube, Christliches Leben (s. Anm. 1), 326. Vgl. demgegenüber aber jetzt die umfassende Aufarbeitung des Spiritualitätsbegriffes in seinen vielfältigen Dimensionen bei P. Zimmerling (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität, Bd. 1: Geschichte, Göttingen 2017; Bd. 2: Theologie, Göttingen 2018. Zum Neuansatz einer Emotionsforschung in der systematischen
Leben im Glauben – Leben im Geist 287
kommunikativen Struktur der Verkündigung des Evangeliums und angesichts der nahezu selbstverständlichen Einsicht in die rhetorische Bedeutung des Pathos (im Sinne aristotelischer Rhetorik) dieser Aspekt des Gefühls nicht vernachlässigt werden, sondern ist hermeneutisch und unter den Voraussetzungen moderner kulturanthropologischer sowie auch medizinischer bzw. neurowissenschaftlicher Forschung in die theologische Rede vom Geist einzubeziehen.9 Die erste Zeile des dritten Artikels gibt weiterhin die Frage auf, ob sie und damit auch alle folgenden Aussagen für sich stehen und je einzelne Aspekte benennen, auf die sich der Glaube richtet, oder ob nicht vielmehr die erste Zeile als eine Art Überschrift fungiert und die folgenden Zeilen explizieren, was »Glauben an den Heiligen Geist« in der Sache bedeutet bzw. welche wesentlichen Aspekte dieser Glaube beinhaltet. In letzterem Sinn hat es etwa Luther in der Erklärung des dritten Artikels im Großen Katechismus verstanden.10 Andernfalls Theologie vgl. z. B. R. Barth / C. Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle, Berlin / Boston 2015. 9 Zur dogmatischen Reflexion im Kontext einer Phänomenologie des heiligen Geistes vgl. M. Petzoldt, Gehirn – Geist – Heiliger Geist. Muss der Glaube die Willensfreiheit verteidigen?, Hamburg 2008; Körtner, Dogmatik (s. Anm. 1), 457 – 462. Kulturanthropologische und neurowissenschaftliche Aspekte für das Verstehen der Bedingungen und der Ausdrucksformen der Rede vom Geist werden erörtert z. B. bei G. Theißen / P. v. Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007; darin bes. P. Craffert, Neutestamentliche Forschung nach der Revolution in den Neurowissenschaften. Ungewöhnliche menschliche Erfahrungen ins Bewusstsein rufen, a. a. O., 91 – 117. 10 BSLK 653: »Denn wie der Vater ein Schepfer, der Sohn ein Erlöser heißet, so soll auch der heilige Geist von seinem Werk ein Heiliger oder Heiligmacher heißen. Wie gehet aber solch Heiligen zu? Antwort: Gleichwie der Sohn die Herrschaft überkömmt, dadurch er uns gewinnet durch seine Gepurt, Sterben und Auferstehen etc., also richtet der heilige Geist die Heiligung aus durch die folgenden Stücke, das ist durch die Gemeinde der Heiligen oder christliche Kirche, Vergebung der Sunden, Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben […].« Zur Problematik vgl. auch J. N. D. Kelly Altkirchliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie (UTB 1746), Göttingen 2 1993, 152 f., der den dritten Artikel aufgrund der Auflistung verschiedener Glaubensinhalte als singulär bezeichnet. Erstaunlicher Weise ist in der Confessio Augustana dem Heiligen Geist kein eigener Artikel gewidmet, obwohl die beiden anderen Personen der Trinität je einen Artikel bekommen. Auch in den Loci Communes des Melanchthon fehlt ein entsprechender Paragraph. Deutlich ist aber auch, dass der Bezug auf den Geist und sein Wirken diese Dokumente gleichsam wie ein roter Faden durchzieht. Vgl. in der Sache auch A. Käfer, Glauben bekennen, Glauben verstehen. Eine systematisch-theo-
288 Jens Herzer muss man das bereits in der alten Kirche diskutierte Problem lösen, dass im Nebeneinander der Aussagen das einleitende »Ich glaube an« sich neben dem Geist auch auf die Kirche und die anderen Aussagen als Glaubensgegenstände in derselben Weise beziehen müsste, wie dies von den trinitarischen Personen ausgesagt ist.11 Im Nizäno-Konstantinopolitanum ist diese Interpretation dann ausdrücklich vollzogen, indem es die Zeile zur Kirche die Präposition εἰς mit vorangestelltem καί wiederholt (»und an«) und damit die Kirche explizit als Glaubensgegenstand qualifiziert.12 Im Apostolikum ist ein solches Verständnis dadurch erschwert, dass im lateinischen textus receptus nur die erste Zeile des dritten Artikels als Aussage eines »Glaubens an« formuliert ist, die Folgezeilen jedoch einfache Akkusative aneinanderreihen.13 Die Tendenz geht damit jedoch bereits in die Richtung der späteren nizäno-konstantinopolitanischen Tradition, insofern der von der lateinischen Präposition »in« verlangte Kasus vom Ablativ des älteren Romanums (credo in spiritu sancto), auf den dann in deutlicher Unterscheidung von dieser Glaubensaussage Akkusativ-Verbindungen folgen, im Apostolikum in den Akkusativ geändert (credo in spiritum sanctum) und damit eine Kasusangleichung an die folgenden Akkusative vorgenommen wurde, wie dies übrigens auch bereits in der markellinischen (griechischen) Version des Romanums der Fall war.14 Auch aus neutestamentlicher Sicht können die im Apostolikum der Geistaussage nachfolgenden Topoi der Ekklesiologie, Ethik und Eschatologie nicht ohne den grundlegenden Bezug zum Wirken des Geistes entfaltet werden.15 Sie liegen insofern nicht mit dem Geist logische Studie zum Apostolikum (Theologische Studien 9), Zürich 2014, 67 – 86 (69 f.). 11 Vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 10), 153. Vgl. dazu auch die Darstellung der unterschiedlichen Versionen und ihrer Entwicklung des Apostolikums im Beitrag von P. Gemeinhardt, Vom Werden des Apostolikums, in diesem Band. 12 Vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 10), 295 f.; vgl. auch die Beiträge von M. Öhler und H.-P. Grosshans in diesem Band. 13 Vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 10), 363: Credo in Spiritum sanctum, sanctam ecclesiam catholicam, sanctorum communionem, remissionem peccatorum, carnis ressurectionem, vitam aeternam. 14 Vgl. die Gegenüberstellung bei Gemeinhardt, Vom Werden des Apostolikums (unter Abschnitt 3.1 bzw. 4.2), in diesem Band. 15 Vgl. dazu auch oben Anm. 1 sowie insbesondere die einleitenden Bemerkungen im Beitrag von Laube, Christliches Leben (s. Anm. 1), der nicht zuletzt darüber klagt, dass »notorisch unklar [ist], welche Themenbestände
Leben im Glauben – Leben im Geist 289
auf einer Ebene, sondern repräsentieren bzw. thematisieren seine Wirkungen. Vor dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Apostolikums könnte die Auffassung, die Zeilen seines dritten Artikels seien je separate Glaubensaussagen, durch den Vergleich mit anderen Bekenntnissen wie etwa dem Nizänum naheliegen. Im Nizänum steht die Aussage über den Glauben an den Geist ohne weitere Ergänzungen und wird erst in der konstantinopolitanischen Fassung deutlich erweitert, indem dem Geist personale Aspekte zugeschrieben werden, durch die er von den anderen ekklesiologischen und eschatologischen Aussagen eigentümlich isoliert erscheint.16 Demgegenüber wäre aber gerade aus neutestamentlicher Sicht der innere Zusammenhang der im dritten Artikel des Apostolikums zusammengestellten Aussagen mit dessen Einleitung: »Ich glaube an den Heiligen Geist« zu beschreiben und darzustellen. Die Allgegenwart und Vielfalt des Geistes und die noch größere Vielfalt der Rede vom Geist17 macht es unmöglich, dem in einem knappen exegetischen Gesprächsimpuls gerecht zu werden. Unter dem Vorzeichen des interdisziplinären Gesprächs kann es auch nicht darum gehen, noch einmal – und womöglich vollständig – gleichsam die »Geschichte« des Geistes in den biblischen Traditionen nachzuzeichnen.18 Da in diesem Band jede Zeile des ersten und dritten Artikels des Apostolikums eine eigene Erörterung erfährt, konzentriere ich mich im Auftakt zum dritten Artikel auf das Verhältnis von Glauben und Geist. Auch Martin Luther hat im Unterschied zu seiner Erklärung im großen Katechismus in der knappen und dadurch natürlich verkürzten Behandlung des dritten Artikels im Kleinen Katechismus die wesentliche Funktion des Geistes in einen engen Bezug zum
eine ausgeführte Pneumatologie umfassen müsste und wo ein solches Lehrstück im Gefüge der Dogmatik angemessen zu verorten wäre« (a. a. O., 322). 16 Das Nizäno-Konstantinopolitanum geht hier wieder einen eigenen Weg: Während im Nizänum der dritte Artikel allein aus der ersten Zeile besteht, fügt das Konstantinopolitanum einen vierten Artikel über die Kirche hinzu und schließt die Aussage über die Taufe, Sündenvergebung, Auferstehung und ewiges Leben nur mehr wie einen Anhang nach, zudem nicht mit credo eingeleitet, sondern mit confiteor (BSLK 27). 17 Zum Spektrum gegenwärtiger Problemstellung vgl. z. B. den Sammelband von C. Danz / M. Murrmann-Kahl (Hg.), Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2014. 18 Vgl. dazu die in Anm. 2 genannten Überblicke.
290 Jens Herzer persönlichen Glauben gestellt.19 Meine Ausführungen dazu bestehen aus zwei Teilen: Zum einen erörtere ich zunächst einige grundsätzliche Fragestellungen, die aus neutestamentlicher Sicht für das interdisziplinäre Gespräch zwischen Exegese und Dogmatik interessant sein könnten. Zum anderen möchte ich diese ergänzen bzw. unterstreichen anhand von Ausführungen zu einigen zentralen pneumatologischen Texten, wobei ich mich um der spezifisch bekenntnistheologischen Fragestellung willen auf Paulus beschränken werde.
1. Annäherungen 1.1 Von der Möglichkeit, über den Geist zu reden Rudolf Bultmann hat bekanntlich die unbestreitbare theologische Einsicht (zwar nicht erfunden, aber doch eindrücklich) geprägt: »[W]ill man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden.«20 Für Bultmann lag die Logik dieser Aussage in der Logik des Glaubens als Gehorsam begründet, dessen Berechtigung, wie er sagt, von keiner Instanz gerechtfertigt würde.21 Glaube könne »nie ein Standpunkt sein, woraufhin wir uns einrichten, sondern [ist] stets
19 BSLK 511 f.: »Was ist das? Antwort. Ich gläube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiliget und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berüft, sammlet, erleucht, heiliget und bei Jesu Christo erhält im rechten einigen Glauben […].« Dem ist die zweite Erklärung in der 53. Frage des Heidelberger Katechismus ganz ähnlich: »Was glaubst du vom Heiligen Geist? Erstens: Der Heilige Geist ist gleich ewiger Gott mit dem Vater und dem Sohn. Zweitens: Er ist auch mir gegeben und gibt mir durch wahren Glauben Anteil an Christus und allen seinen Wohltaten. Er tröstet mich und wird bei mir bleiben in Ewigkeit« (zit. nach: Heidelberger Katechismus. Revidierte Ausgabe 1997, hg. v. der Evangelisch-reformierten Kirche [Synode ev.-ref. Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland], von der Lippischen Landeskirche und vom Reformierten Bund, Wuppertal u. a. 1997, 35); vgl. dazu M. Beintker, Ich glaube an den Heiligen Geist … Zur Wirklichkeit und Wirksamkeit des Heiligen Geistes, in: ders., »Was glaubst du vom Heiligen Geist?« Zur Wirklichkeit und Wirksamkeit von Gottes Geist. Kleine Schriften aus dem Reformierten Bund 9, Wuppertal 1998, 9 – 22. 20 R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 1933, 26 – 37 (28). 21 A. a. O., 37.
Leben im Glauben – Leben im Geist 291
neue Tat, neuer Gehorsam«.22 Maßstab dessen, was Glaube ist, kann danach nie nur das Bekenntnis zu bestimmten Inhalten sein, sondern der Vollzug des Lebens unter den im Bekenntnis formulierten Voraussetzungen. Damit ist aber sogleich die wechselseitige Einflussnahme zwischen Leben und Bekenntnis impliziert, welche die Geltung des Bekenntnisses relativiert, insofern sie es auf das je konkrete Leben bezieht. In Abwandlung eines Jesuswortes (vgl. Mk 2,27) könnte man formulieren: Das Bekenntnis ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Bekenntnisses willen. Wenn unter der Perspektive des Glaubens »von Gott« im Sinne von »über Gott« geredet werde, dann sei – so Bultmann – solches Reden, »wenn es Gott gibt, Sünde, und wenn es keinen Gott gibt, sinnlos«.23 Was hier über die Rede von bzw. über Gott gesagt ist, gilt umso mehr vom Geist Gottes, den die Dogmatik um der inneren und äußeren Dynamik der Gottesvorstellung24 willen traditionell als dritte Person der Trinität begreift. Von einer solchen personalen Auffassung des Geistes ist jedoch aus meiner Sicht die erste Zeile des dritten Credo-Artikels noch ein gutes Stück entfernt, und der dogmatische Weg dorthin liegt noch im Dunst aufkommender Spekulation.25 Er mag gewiesen sein dadurch, dass sich auch die ersten beiden Artikel auf Personen ausrichten und daher die Parallelität der drei Credo-Artikel ein personales Verständnis des Geistes nahelegt.26 Der Unterschied der beiden ersten zum dritten Artikel besteht jedoch darin, dass von Gott verschiedene Seins- und Handlungsaussagen gemacht werden, 22
Ebd. Ebd. Dies bezieht sich vor allem auf die notwendige Unterscheidung der opera trinitatis ad intra et extra; zu diesem Topos vgl. Ebeling, Dogmatik (s. Anm. 1), 538 f.; R. Leonhardt, Grundinformation Dogmatik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für das Studium der Theologie (UTB 2214), Göttingen 42009, 223 – 228; Körtner, Dogmatik (s. Anm. 1), 212 f. 25 Zur Perspektive der Personalität des Heiligen Geistes s. u. Abschnitt 3; vgl. J. Frey, How did the Spirit become a Person?, in: ders./J. R. Levison (Hg.), The Holy Spirit, Inspiration, and the Cultures of Antiquity. Multidisciplinary Perspectives (Ekstasis 5), Berlin 2017, 343 – 371. 26 Man könnte in diesem Zusammenhang allerdings auch fragen, ob es sich bei Gott – im Unterschied zu Jesus Christus – um eine »Person« im eigentlichen Sinn handelt oder nicht vielmehr um die personale Konkretion einer bestimmten Vorstellung von einer universalen Schöpferkraft, die »Gott« genannt wird und mit der die Glaubenden entsprechend auf personale bzw. personalisierte Weise interagieren; vgl. dazu die entsprechenden Beiträge zum ersten Artikel in diesem Band. 23
24
292 Jens Herzer von Jesus Christus ebenfalls, einschließlich geschichtlicher Reminiszenzen. Die erste Zeile des dritten Artikels den Geist betreffend bleibt demgegenüber erstaunlich knapp in ihrem Aussagegehalt und enthält zunächst keine personalen Aspekte. Der Streit etwa um das Filioque in der lateinischen Version des Nizäno-Konstantinopolitanums sowie die bis heute andauernden bekenntnisdogmatischen Differenzen legen über diese Problematik ein beredtes Zeugnis ab.27 Das Bekenntnis des Glaubens an den Geist bleibt eine Aussage, in welcher der Geist weder als »Gegenstand« des Glaubens noch als trinitarische Person expliziert wird. Es wird noch nicht einmal deutlich, ob »Glauben an den Geist« (credo in spiritum sanctum) lediglich die Anerkennung seiner Existenz meint (»ich glaube, dass ein Heiliger Geist ist«) oder nicht vielmehr den Glauben an seine Wirksamkeit zum Ausdruck bringt (was die erste Option freilich notwendig einschließt) – die dann in den folgenden Topoi exemplarisch konkretisiert wird. Auch hier versucht »das ander Bekenntnüs« konkreter zu werden, wenn im Nizäno-Konstantinopolitanum der Geist als τὸ κύριον καὶ ζῳοποιόν / Dominus et vivificans (»Herr und Lebenschaffender«) qualifiziert und damit das personale Element explizit eingetragen wird.28 Zudem wird gegenüber Vater und Sohn eine ihnen gleichartige Personalität in der Aussage über die gemeinsame Anbetung vorausgesetzt und der Geist als Subjekt des Redens durch die Propheten markiert. 27 Vgl. dazu z. B. R. Simon, Das Filioque bei Thomas von Aquin. Eine Untersuchung zur dogmengeschichtlichen Stellung, theologischen Struktur und ökumenischen Perspektive der thomanischen Gotteslehre (Kontexte 14), Frankfurt a. M. u. a. 1994; B. Oberdorfer, Filioque. Geschichte und Theologie eines ökumenischen Problems, Göttingen 2001; P. Gemeinhardt, Die Filioque-Kontroverse zwischen Ost- und Westkirche im Frühmittelalter, Berlin / New York 2002; sowie den Sammelband von M. Böhnke / A. E. Kattan / B. Oberdorfer (Hg.), Die Filioque-Kontroverse. Historische, ökumenische und dogmatische Perspektiven 1200 Jahre nach der Aachener Synode (QD 245), Freiburg i. Br. 2011. 28 In der Übersetzung der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche wird dies – parallel zum zweiten Artikel – deutlich trinitätstheologisch akzentuiert: »Und an den HERRN, den heiligen Geist, der da lebendig macht« (BSLK 27); vgl. demgegenüber etwa die ökumenische Fassung unter EG 805: »[…] der Herr ist und lebendig macht […]« Die griechische Form weicht von der lateinischen insofern ab, als dem Partizip Präsens Aktiv vivificans im Griechischen das Verbaladjektiv (im Akkusativ) ζῳοποιόν entspricht, nicht das äquivalente Partizip ζῳοποιoῦν. Zur Entwicklung vgl. auch Kelly, Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 10), 294 – 327.328 – 361, zum Heiligen Geist bes. 333 – 339.
Leben im Glauben – Leben im Geist 293
Sowenig der Streit um das Filioque hier thematisiert werden kann, so macht er doch aus neutestamentlicher Perspektive interessante Zusammenhänge bewusst. Beide Positionen, die westliche und die östliche, können sich jeweils auf einschlägige neutestamentliche Texte berufen. Im Grunde, so könnte man argumentieren, läuft es auf die Frage der Gewichtung und Priorisierung der Tradition hinaus. Aber das führt bekanntermaßen in jene Aporie, die im Blick auf die trinitarischen Fragen bis heute die westlichen von den östlichen Kirchen trennen; ganz abgesehen von der Tatsache, dass auch die westlichen Kirchen sich in einer unübersichtlichen Weise theologisch und dogmatisch ausdifferenziert haben. Der Streit um das Filioque weist vielmehr auf eine Unschärfe in der Grundbestimmung der Rede vom Heiligen Geist in neutestamentlicher Tradition hin. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass, wenn vom Heiligen Geist die Rede ist, von Gottes Geist die Rede ist. Insofern Gott im ersten Artikel des Credos als Schöpfergott angesprochen wird, ist der Geist als dessen Schöpferkraft näher zu bestimmen. Wenn aber dieser Schöpfergott zugleich der Vater Jesu Christi und durch Christus auch von den Glaubenden als Vater angerufen wird (vgl. Röm 8,14 – 17), dann stellt sich notwendig die Frage, wie sich der Geist als Gottes Schöpferkraft zu Leben, Sterben und Auferstehung Christi verhält. Nicht ohne Grund steht daher der christologische Artikel als zweiter zwischen den Artikeln über Gott und den Heiligen Geist, auch wenn der dritte Artikel des Credos nicht explizit auf die beiden voranstehenden bezogen ist wie der zweite auf den ersten. Die Ergänzungen im Nizänum und dann auch im Nizäno-Konstantinopolitanum erscheinen von daher gleichsam als notwendige Explikationen eines selbstverständlichen Zusammenhanges. Insbesondere die umstrittene Aussage, dass der Heilige Geist innertrinitarisch vom Vater und dem Sohn ausgehe, schärft ein, dass der Geist des Vaters durch dessen heilsökonomisches Handeln an Christus eben auch auf diesen zu beziehen ist. Die Frage ist, in welcher Weise? Man hat im Filioque nicht ohne Grund die Gefahr der Subordination des Geistes unter den Sohn gesehen, was eine immanent-trinitätstheologische Problematik hinsichtlich der Gleich-Göttlichkeit der drei göttlichen Personen impliziert.29 Diese 29 Vgl. etwa auch den Artikel 1 der CA (De Deo, BSLK 51): Damnant et Samosatenos, veteres et Neotericos, qui, cum tantum unam personam esse contendant, de verbo et de spiritu sancto astute et impie rhetoricantur, quod non sint personae distinctae, sed quod verbum significet verbum vocale et spiritus motum in rebus creatum. (»Es werden verworfen auch die Samosatener,
294 Jens Herzer Bedenken mögen unter bestimmten Denkvoraussetzungen berechtigt sein. Sie können jedoch nicht darüber hinwegsehen lassen, dass die neutestamentlichen Texte solche Probleme weder aufwerfen noch reflektieren. Eine Stelle etwa wie Joh 20,22 f.30 lässt sich nicht einfach als Beleg dafür anführen, dass der Geist eben doch (auch) vom Sohn ausgeht; das griffe viel zu kurz und würde dem komplexen Verhältnis zwischen Vater, Sohn und Geist im Johannesevangelium nicht gerecht. In der Relation zwischen Vater, Sohn und Geist wird zunächst nur deutlich, dass das Wirken des Heiligen Geistes als Gottes Geist aufgrund des speziellen Handelns Gottes an Christus auf eine neue Weise qualifiziert wird. Diese neue Qualifikation ordnet nicht den Geist dem Sohn unter, sondern macht den Sohn bzw. Christus oder genauer das Christusereignis31 zu einer funktionalen Voraussetzung der Rede vom Geist, und zwar funktional im Sinne der Bedeutung Christi für die im Glauben vermittelte Rettung (εἰς σωτηρίαν παντὶ τῷ πιστεύοντι, Röm 1,16). Anders gesagt: Das Christusereignis bestimmt die Rede vom Heiligen Geist als Gottes Geist neu. Oder noch abstrakter formuliert: Die Christologie wird zu einer Funktion der Pneumatologie. Dieser Zusammenhang wird durch die weiteren Vorträge auf dieser Tagung noch mehrfach und aus unterschiedlicher Perspektive thematisiert werden. Grundsätzlich ist aber hier bereits gleichsam als Arbeitshypothese festzuhalten, dass der Heilige Geist einen Aspekt der Wirklichkeit bezeichnet, der aller Theologie und Christologie bereits inhärent ist. Der Geist ist nicht etwas, das zu Vater und Sohn als etwas Drittes – oder als ein Dritter – »noch« hinzukommt. Er ist im Wirken des Vaters als Schöpfer und im Wirken des Sohnes als Erlöser immer schon gegenwärtig, indem er die Weise ihrer Präsenz anschaulich macht. Da die Behauptung dieser »Anschaulichkeit« stets alte und neue, die nur eine Person annehmen, vom Wort und vom heiligem Geist listig und gottlos tönen, dass sie nicht unterschiedene Personen seien, sondern dass ›Wort‹ ein gesprochenes Wort bezeichne und ›Geist‹ eine Bewegung in den geschaffenen Dingen.«) 30 Joh 20,22 f.: καὶ τοῦτο εἰπὼν ἐνεφύσησεν καὶ λέγει αὐτοῖς· λάβετε πνεῦμα ἅγιον· ἄν τινων ἀφῆτε τὰς ἁμαρτίας ἀφέωνται αὐτοῖς, ἄν τινων κρατῆτε κεκράτηνται. (»Und als er dies gesagt hatte, blies er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt heiligen Geist. Wem immer ihr die Sünden erlasst, sind sie erlassen, wem immer ihr [sie] behaltet, sind sie erhalten.«) Vgl. dazu A. Weissenrieder, The Infusion of the Spirit. The Meaning of ἐμφυσάω in John 20:22 – 23, in: Frey / Levison, Holy Spirit (s. Anm. 25), 119 – 151. 31 Der Begriff »Christusereignis« umgreift und beinhaltet Leben, Sterben und Auferweckung Jesu von Nazareth in ihrer ereignishaften Bedeutung als Evangelium (im Sinne von Röm 1,16 f.) für den Christusglauben.
Leben im Glauben – Leben im Geist 295
nur in Bezug auf die Wahrnehmung menschlicher Subjekte sinnvoll ist und diese die Rede vom Geist zu verantworten haben, muss präziser formuliert werden: Vom Geist ist stets so die Rede, dass darin das Sein und Wirken des Vaters und des Sohnes zum Heil der Welt beschrieben und in einen universalen Zusammenhang gebracht wird. Damit aber ist ein weiteres Problem aufgeworfen: Wenn die Rede vom Geist eine Rede menschlicher Subjekte ist und sich hinsichtlich des sprachlichen Ausdruckes deren Wahrnehmung und Sprachvermögen verdankt, dann ist – ich hatte das bereits angedeutet – die oben zitierte Aussage Bultmanns zugespitzt zu formulieren: Wer vom Heiligen Geist reden will, muss über seine eigene Wahrnehmung und seinen eigenen Geist reden.
1.2 Der Geist und das Menschsein des Menschen Die Rede vom Geist Gottes geschieht stets sub conditione humana. An dieser Binsenweisheit ändert auch die Überzeugung nichts, die Paulus der korinthischen Gemeinde gegenüber angesichts der Hochschätzung von Weisheit und geistlicher Erkenntnis formuliert, dass der »natürliche Mensch« nichts vom Geist Gottes vernehme, weil allein der Geist selbst Gott zu erkennen in der Lage sei (1 Kor 2,10 – 16): »Der natürliche Mensch (ψυχικὸς ἄνθρωπος) erfasst nicht, was den Geist Gottes betrifft, denn es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen, weil es auf geistliche Weise (πνευματικῶς) beurteilt werden muss« (2,14). Vor diesem Hintergrund stehen nach Paulus der Geist Gottes und der Geist der Welt bzw. des Menschen einander gegenüber (1 Kor 2,12). Die strukturelle Analogie dieser unterschiedlichen »Geister« macht deutlich, dass auch abgesehen von Gottes Geist die Welt von einem bestimmten Geist, d. h. von einer geistigen Verfasstheit und Ausrichtung her geprägt ist bzw. dass umgekehrt Paulus auch die Rede vom Geist Gottes in Relation zu einer bestimmten geistigen Verfasstheit des Menschen in der Lebensausrichtung und -führung versteht. Diese neue »Konditionierung« der geistigen Verfasstheit der Glaubenden ist die Voraussetzung für die Erkenntnis geistlicher Zusammenhänge (πνευματικά), die nur von »Geistlichen« (πνευματικοί) erkannt werden können.32 Die Gegensatzpaare Geist – Fleisch bzw. 32 Gemäß dem Grundsatz antiker Erkenntnistheorie: Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt werden / ἡ δὲ γνῶσις τοῦ ὁμοίου τῷ ὁμοίῳ, vgl. z. B. Aristoteles, Metaphysik III 4,1000b.
296 Jens Herzer Geist – Psyche (vgl. auch πνευματικὸς [ἄνθρωπος] – ψύχικος [ἄνθρωπος], 1 Kor 2,14)33 zeigen an, dass es jeweils um die Prägung des Bewusstseins in seiner Bedeutung für die Ausrichtung des konkreten Lebensvollzuges geht, welche durch verschiedene Kräfte bestimmt ist, die jeweils ein unterschiedlich motiviertes Denken und Handeln bewirken: Im Unterschied zu denen, die an den Maßstäben der Welt (κατὰ σάρκα) ausgerichtet sind, »haben« die vom Geist Gottes Geleiteten (κατὰ πνεῦμα) »den Sinn Christi« (ἡμεῖς δὲ νοῦν Χριστοῦ ἔχομεν, 1 Kor 2,16), d. h. eine an Christus orientierte Gesinnung, die ihrerseits aber wieder eine leibliche Dimension notwendig einschließt.34 Paulus führt diese Veränderung der Gesinnung als Wirkung des Geistes auf die Verkündigung des Evangeliums vom gekreuzigten und auferweckten Christus zurück (vgl. 1 Kor 15,11 [»So haben wir verkündigt und so seid ihr zum Glauben gekommen«]; Röm 10,17). Inhaltlich geht es nach Röm 1,16 f. um den Geltungsbereich der Verheißung Gottes, die durch das Evangelium vom gekreuzigten und auferweckten Christus für alle wirksam wird, die daran glauben bzw. der darin an sie ergehenden Verheißung vertrauen. Wenn man so will, bewirkt der Zuspruch der Verheißung im Evangelium gleichsam eine »Bewusstseinserweiterung«, die über die κατὰ-σάρκα-Perspektive der psychischen Verhaftung des Menschen hinausführt und die Erkenntnis Gottes in der Gestalt Jesu ermöglicht (2 Kor 4,6), letztlich aber unverfügbar bleibt. Die an Christus orientierte Gesinnung findet ihre sachliche Bestimmung wie auch ihre ethische Konsequenz als Wirkung des Geistes in der Liebe: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Röm 5,5). Der Geist, der die Glaubenden erfüllt, ist hier gleichsam synonym mit der die »Herzen« erfüllenden Liebe Gottes. Vor dem Hintergrund des vom Geist – metaphorisch gespro chen – geradezu infusorisch35 bestimmten Lebens spricht Paulus die Glaubenden als »Pneumatiker« (πνευματικοί, Gal 6,1; 1 Kor 2,15; 33 Vgl. dazu J. Frey, Die paulinische Antithese von »Fleisch« und »Geist« und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition, in: ZNW 90 (1999), 45 – 77. 34 Vgl. C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 32011, 62; ferner C. Strüder, Paulus und die Gesinnung Christi. Identität und Entscheidungsfindung aus der Mitte von 1 Kor 1 – 4 (BEThL 190), Leuven 2005, der vor allem die Bedeutung des Rekurses auf den νοῦς Χριστοῦ für die im ersten Korintherbrief folgenden ethischen und ekklesiologischen Diskurse herausarbeitet. 35 Vgl. dazu Rabens, Holy Spirit (s. Anm. 7), 25 – 120.
Leben im Glauben – Leben im Geist 297
3,1) an,36 womit »die vom Geist Bestimmten« von den »Psychikern« (ψυχικοί) unterschieden werden.37 Diese sind in ihrer an die Welt angepassten Verfassung (vgl. Röm 12,1 f.) nicht in der Lage, die geistliche Tiefe der Existenz vor Gott zu erkennen. Jene hingegen sind in der Lage, auf geistliche Weise gottgefällig zu leben und die geistlichen Zusammenhänge dieses Lebens recht zu beurteilen (1 Kor 2,13 – 16).38 Als »Pneumatiker« müssen sie sich daher auffordern lassen, nach den geistlichen Gaben (πνευματικά) zu streben (1 Kor 14,1), deren erste die Liebe ist (vgl. 1 Kor 13,13; Röm 5,5).39 Wenn Paulus in den korinthischen Konflikten die Liebe als die größte Gabe des Geistes immer wieder in den Mittelpunkt rückt (vgl. besonders 1 Kor 13), so wird sie gleichsam zum Epizentrum des geistlichen Lebens in seiner ekklesiologisch-ethischen Perspektive – ein Motiv, dass Paulus sehr 36 Vgl. Horn, Angeld des Geistes (s. Anm. 2), 187 f.; J. M. G. Barclay, Πνευματικός in the Social Dialect of Pauline Christianity, in: G. N. Stanton / B. W. Longenecker / S. C. Barton (Hg.), The Holy Spirit and Christian Origins (Festschrift J. D. G. Dunn), Grand Rapids / Cambridge 2004, 157 – 167. 37 Vgl. Horn, Angeld des Geistes (s. Anm. 2), 188 – 201. 38 Die Unterscheidung zwischen ψυχικός (»seelisch« bzw. »natürlich«) und πνευματικός (»geistlich«) hat für Paulus auch eschatologische Bedeutung in der Differenzierung zwischen »seelischem / natürlichem Leib« und »geistlichem Leib« (1 Kor 15,42 – 49): Während letzterer die leibliche Dimension der Auferstehungswirklichkeit (ὁ ἐπουράνιος / »der himmlische [Leib]«) repräsentiert als eine durch das Wirken des Geistes vollständig verwandelte Leiblichkeit des Menschen, in der »Fleisch und Blut« keine Bedeutung mehr haben (1 Kor 15,50), repräsentiert ersterer die Leiblichkeit in ihrer irdischen Verhaftung (ὁ χοϊκός / »der aus Staub bestehende [Leib]«). Zur religionsgeschichtlichen Einordnung des Gegensatzpaares ψυχικός – πνευματικός vgl. Horn, Angeld des Geistes (s. Anm. 2), 192 – 198, der im Zusammenhang mit Jud 19 und Jak 3,15 den jüdisch-hellenistischen Hintergrund hervorhebt. 39 Die imperativische Anrede der Pneumatiker in Korinth sowie die Tatsache, dass Paulus den Begriff als personale Bezeichnung fast ausschließlich im 1 Kor verwendet, könnte darauf hindeuten, dass er damit eine von der Gemeinde gern beanspruchte Selbstcharakterisierung aufgreift. Zwar spricht Paulus auch in Gal 6,1 die Gemeinde als »Geistliche« (οἱ πνευματικοί) an, woran deutlich wird, dass diese Kategorie für ihn die geistliche Existenz der Gemeinde angemessen zum Ausdruck bringt. Aber in Korinth scheint die Vereinnahmung dieses geistlichen Selbstbewusstseins problematische Züge angenommen zu haben. Deshalb steht in den entsprechenden Ausführungen des Paulus zwar die grundsätzliche Geltung und Richtigkeit dieser Bezeichnung außer Frage; allerdings ist angesichts der zahlreichen Probleme in Korinth auch eine gewisse Skepsis gegenüber einem falschen, überzogenen Verständnis im Sinne eines pneumatischen Vollendungsbewusstseins zu spüren (1 Kor 4,8; vgl. Phil 3,12; vgl. dazu Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther [s. Anm. 34], 60 – 62 zu 1 Kor 2,13 – 16).
298 Jens Herzer konsequent bereits im Galaterbrief formuliert hat. Gegenüber dem Bestehen auf der Erfüllung bestimmter gesetzlicher Regelungen macht er hier deutlich, dass die Konsequenz des Christusglaubens ein Leben in der Freiheit vom Gesetz ist (Gal 5,1). Als ein von Liebe und Freiheit geprägtes ist es aber durch den Christusbezug des Glaubens zugleich ein Leben, das in einer geistlichen Weise dem Gesetz überhaupt erst gerecht wird (vgl. Röm 3,31) bzw. durch die Liebe das Gesetz erfüllt (Röm 13,10). Paulus greift dabei auf jene Vorstellung vom »höchsten Gebot« der Nächstenliebe zurück, die auch ein fester Bestandteil der Jesusüberlieferung war: »Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, nämlich: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« (Gal 5,14; vgl. Mt 22,36 – 40 sowie Mt 7,12). Die Berufung zur Freiheit in Christus setzt in der Liebe die Kraft in den Glaubenden frei, einander zu dienen, sich einander verpflichtet zu wissen (Gal 5,13). »Denn in Christus Jesus bedeutet weder die Beschneidung noch die Unbeschnittenheit etwas, sondern der Glaube, der durch Liebe tätig wird« (Gal 5,6). Daher steht die Liebe auch an der ersten Stelle jener Früchte, die der Geist hervorbringt und die als Ausweis des Glaubens gelten (Gal 5,22 – 26; vgl. Jak 2,8.14 – 18).40 Die Bedeutung der Metapher des »Herzens« in Röm 5,5 (vgl. 2 Kor 1,21 f.) kommt sehr nahe an das, was die spezifische Verwendung des Begriffes νοῦς Χριστοῦ (1 Kor 2,16) im Sinne einer an Christus orientierten Gesinnung impliziert. Für die inhaltliche Bestimmung des Begriffes »Geist« wird an dieser Stelle auch deutlich, dass damit nicht eine gegenständliche, verobjektivierende Größe gemeint ist, ein »Fluidum«, das substanzontologisch dem Menschen implementiert würde. Die gelegentlich verwendete »Flüssigkeits-Metaphorik« (vgl. 1 Kor 12,13: »getränkt«; Röm 5,5: »ausgegossen durch den Geist«; Tit 3,6; Apg 2,33; 10,45; vgl. auch Joel 3,1 f. u. ö.)41 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Begriff »Geist« eine Bezeichnung ist für die Kraft bzw. die Kräfte, welche die Menschen von außen 40 In Gal 6,2 kann es Paulus zugespitzt als das »Gesetz Christi« bezeichnen und steht damit insgesamt mit dem Zusammenhang von Gesetz, Freiheit und Liebesgebot in einer erstaunlichen Nähe zum Jakobusbrief, der das Gebot der Nächstenliebe als »vollkommenes Gesetz der Freiheit« (1,25), das Maßstab des Gerichtes sein wird (2,12), oder auch als »königliches Gesetz« (2,8) bezeichnet, in welchem – erneut in jesuanischer Tradition – alle anderen Gebote des Gesetzes aufgehen. Vgl. dazu R. Metzner, Der Brief des Jakobus (ThHK 14), Leipzig 2017, 101 f. 41 Vgl. Rabens, Holy Spirit (s. Anm. 7), 96 – 120; Wolter, Geist bei Paulus (s. Anm. 2), 100 f.
Leben im Glauben – Leben im Geist 299
und innen bestimmen und in eine Korrelation mit den leiblichen und »seelischen« Dimensionen ihres Lebens treten. Die Metaphorik dient vielmehr der Veranschaulichung dieser Wechselwirkung zwischen leib-seelischer Existenz der Menschen und den auf sie einwirkenden Kräften, die ihre Gesinnung und ihre Lebensperspektive prägen. Der Glaube gehört also auch unter einer spezifisch christlichen Ausrichtung zur conditio humana der Rede vom Geist und stellt selbst jene geistliche Voraussetzung dar, von der Paulus sagt, dass sie notwendig sei, um zu verstehen, was es mit dem Geist Gottes auf sich hat. Die Herausforderung, eine neutestamentliche Perspektive zur Interpretation des Bekenntnisses des Glaubens an den Heiligen Geist zu präsentieren, besteht nicht nur in der Zirkularität der wechselseitigen Verbindung zwischen menschlichem Glauben und Wirken des Geistes, sondern auch in der Vielfalt neutestamentlicher bzw. biblischer Geistaussagen. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen und im Hinblick auf das interdisziplinäre Gespräch konzentriere ich mich im Folgenden auf die Aspekte des Glaubens in seiner Relation zum Geist sowie der Personalität des Geistes. Es kann freilich nicht einfach darum gehen, die verschiedenen Weisen, über den Geist zu reden, bzw. die verschiedenen Vorstellungen vom Geist einfach additiv zu präsentieren. Es geht vielmehr der Themenstellung entsprechend um das Verhältnis von Glauben und Geist, und zwar fokussiert auf den konkreten Aspekt der Neuschöpfung. Drei Aspekte sind mir da bei wichtig: Der Geist als schöpferisch wirksame Kraft des Glaubens, der Geist und die Freiheit des Glaubens, und schließlich der Geist als Personifikation der Beziehungen zwischen Gott, Christus und den Glaubenden. Am Ende soll noch einmal dezidiert die Frage stehen, was wir eigentlich glauben, wenn wir bekennen: »Ich glaube an den Heiligen Geist.«
2. Der Geist Gottes und der Glaube der Menschen Methodisch und hermeneutisch ist zunächst im Hinblick auf die interdisziplinäre Ausrichtung unserer Bemühungen zu bedenken, dass eine Darstellung biblischer Vorstellungen und Zusammenhänge lediglich nachzeichnet und verstehen will, was biblische Texte zu bestimmten Aspekten »sagen« bzw. welche Überzeugungen in den verschiedenen Texten zum Ausdruck kommen. Was damit nicht festgestellt wird bzw. was daraus nicht unmittelbar abgeleitet werden kann, ist die
300 Jens Herzer Legitimität bzw. die »Richtigkeit« biblischer Aussagen in Bezug auf unsere Glaubensweisen heute. Aussagen über Gott, Aussagen darüber, wie Gott sei und was Gott tue – oder auch der Geist – , stehen immer unter dem Vorbehalt der Rückfrage: Woher wissen wir das eigentlich? Woher wissen wir, dass unsere Rede von Gott tatsächlich Wirklichkeit bzw. bestimmte Dimensionen der Wirklichkeit beschreibt? Woraus leitet sich der Realitätsanspruch und die Legitimität eines solchen Anspruches ab? Wie können wir sicherstellen, dass die Rede vom Geist nicht nur Projektion bzw. Imagination jener Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen ist, die menschlichen Unzulänglichkeiten entspringen und erst lediglich als Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen Wirklichkeit konstituieren – zu welchem Zweck auch immer? Diese Vorbehalte gelten selbstverständlich auch für die Aussagen biblischer Texte. Hermeneutisch ist damit die Aufgabe gestellt, theologische Aussagen in den uns innerweltlich vorgegebenen Verstehenskontexten zu plausibilisieren, und zwar so, dass sich Menschen mit ihrem Leben darin wiederfinden und den Glauben an die gestaltende Kraft der beschriebenen Wirklichkeit für sich entdecken. Dazu gehört auch – besonders wenn es um den Geist geht – die leibliche Konditionierung des Menschseins, eine Dimension, die – wie wir sehen werden – für Paulus unter seinen Bedingungen eine ganz besondere Bedeutung gewonnen hat.
2.1 Der Glaube an den Geist Auffällig im Hinblick auf die Credo-Formulierung ist aus der Perspektive des Neuen Testaments zunächst Folgendes: Im Unterschied zu den vielfältigen Formen, mit denen ein Glauben an bzw. Vertrauen auf Gott bzw. Jesus Christus die Rede ist, spricht das Neue Testament nicht vom Glauben an den Heiligen Geist. Die parallele Formulierung der jeweils ersten Zeile der drei Artikel ist somit biblisch nicht begründet. Anders als das Credo suggeriert, ist der Geist nie Objekt des Glaubens. Biblisch gesehen steht allerdings auch nie infrage, dass es den (oder einen) Heiligen Geist »gibt« im Sinne von »existieren«. Die einzige Ausnahme hinsichtlich des Zweifels an bzw. Nicht-Wissens von der Existenz des bzw. »eines« Heiligen Geistes in Apg 19,2 spricht davon, dass die Johannesjünger auf die Frage des Paulus, ob sie denn den Heiligen Geist empfangen hätten, als sie zum Glauben kamen, verwundert antworteten, sie wüssten bisher gar nicht, dass es so etwas wie einen besonderen »Heiligen« Geist gibt. Insgesamt
Leben im Glauben – Leben im Geist 301
handelt es sich um eine eher dunkle Stelle, weil hier vorausgesetzt ist, dass man zum Glauben kommen könne ohne die Taufe auf Christus und ohne den Geist bzw. präziser: ohne ein Wissen um den Heiligen Geist (was sein Wirken nicht grundsätzlich ausschließt).42 Doch ist die Formulierung des Credos nicht in erster Linie ein Bekenntnis zum »Dass« des Heiligen Geistes, sondern Ausdruck dessen, dass der Glaube mit der Wirksamkeit und Bedeutung des Geistes so selbstverständlich rechnet, wie er mit der Existenz Gottes und der Identität Christi als Gottessohn rechnet. Die Stelle in der Apostelgeschichte macht aber zugleich auch deutlich, dass die Geistvermittlung nicht unmittelbar an die Taufe gebunden ist, sondern mit dem »Zum-Glauben-Kommen« zu tun hat. Die Wahrnehmung des Geistes Gottes steht zudem in Konkurrenz zu anderen Geistwahrnehmungen und Geistwirkungen, weshalb die »Unterscheidung der Geister« zu einer notwendigen Gabe avanciert (vgl. 1 Kor 12,10). Sub conditione mundi versteht es sich nicht von selbst, was heiliger bzw. »der« Heilige Geist ist, woraus die Aufforderung zum Prüfen der Geister erwächst (1 Joh 4,1; vgl. 1 Thess 5,19 – 22). Das Tun von Menschen ist stets von einer Geistwirkung bestimmt; es ist aber nicht immer von vornherein klar, wie der jeweils wirkende Geist als treibende Kraft des Handelns zu identifizieren ist. Der sog. Beelzebul-Streit thematisiert das im Blick auf das exorzistische Wirken Jesu, wenn unterstellt wird, er treibe die Dämonen aus, weil er mit dem obersten der Dämonen im Bunde sei (Mk 3,22 parr). Andererseits lässt sich offenbar aufgrund bestimmter Inhalte erkennen, welcher Geist am Werke ist, wenn etwa Paulus sicher ist, »dass niemand, der im Geist Gottes redet, sagen kann: ›Verflucht sei Jesus‹, und niemand kann sagen: ›Herr ist Jesus‹, außer im Heiligen Geist« (οὐδεὶς ἐν πνεύματι θεοῦ λαλῶν λέγει· Ἀνάθεμα Ἰησοῦς, καὶ οὐδεὶς δύναται εἰπεῖν· Κύριος Ἰησοῦς, εἰ μὴ ἐν πνεύματι ἁγίῳ, 1 Kor 12,3). Damit ist eine grundlegende Wirkung des Geistes formuliert: das Bekenntnis, dass Jesus Herr sei. Dabei ist der Konnex erst in der Retrospektive möglich: Nur diejenigen können Jesus als Herrn bekennen, die den Geist haben bzw. im Geist reden.43 Das Bekenntnis ist also 42 Vgl. F. Avemarie, Die Tauferzählungen der Apostelgeschichte. Theologie und Geschichte (WUNT 139), Tübingen 2002, 129 – 174, bes. 142 f., sowie zur exegetischen Problematik 413 – 440. 43 Vgl. T. Holtz, Christus bekennen – biblische Grundlagen. »Keiner kann sagen: ›Herr ist Jesus‹ außer im Heiligen Geist« (1 Kor 12,3), in: ders., Exegetische und theologische Studien. Gesammelte Aufsätze II, hg. v. K.-W. Niebuhr
302 Jens Herzer als Folge des Wirkens des Geistes erkennbar und wird damit zum praktischen Erweis des oben bereits zitierten erkenntnistheoretischen Grundsatzes,44 den Paulus zu Beginn des 1 Kor formulierte: Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt werden, bzw. konkret: Geistliches – wie das Bekenntnis: »Herr ist Jesus« – muss geistlich, d. h. durch das Wirken des Geistes – erkannt werden und kann erst dann eine für den Glauben verbindliche Bedeutung erlangen. Das schließt nicht aus, sondern vielmehr ein, dass man ein solches Bekenntnis auch instrumentalisieren kann, um geistliche Erkenntnis zu reklamieren. Dies kommt etwa in 2 Tim 3,5 zum Ausdruck, wenn von Leuten, die auf eigenen Gewinn aus sind, gesagt wird, sie gäben sich den äußeren »Anschein von Frömmigkeit, verleugnen aber deren Kraft«, d. h. die eigentliche Wirkung des Geistes, die in ihrem Verhalten gerade nicht erkennbar ist. Auch die Rede von »der Frucht des Geistes« (ὁ καρπὸς τοῦ πνεύματoς) bzw. seinen Auswirkungen im ethischen Verhalten im Gegensatz zu den »Werken des Fleisches« (τὰ ἔργα τῆς σαρκός) in Gal 5,16 – 26 gehört in diesen Zusammenhang. Sie mündet in der Aufforderung: »Wenn wir (tatsächlich) durch den Geist leben, dann lasst uns auch dem Geist entsprechend (oder: ›im Einklang mit dem Geist‹45) leben« (εἰ ζῶμεν πνεύματι, πνεύματι καὶ στοιχῶμεν, 5,25; vgl. die Inklusion zu 5,16: πνεύματι περιπατεῖτε καὶ ἐπιθυμίαν σαρκὸς οὐ μὴ τελέσητε [»lebt im Geist, und ihr werdet dem Begehren des Fleisches nicht erliegen«]).46 Damit ist einerseits das Wirken des Geistes dem menschlichen Zugriff entzogen, andererseits aber ermächtigt der Geist die Glaubenden zu einem bewussten und entschiedenen Handeln in seinem Sinn. Sie sind darin dem Geist nicht einfach ausgeliefert und können seinem Wirken offenbar auch entgegen handeln bzw. den Geist »zum Er(ABG 34), Leipzig 2010 (2004), 149 – 158; Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 34), 284; sowie den Exkurs a. a. O., 285 – 287. 44 S. o. mit Anm. 32. 45 Vgl. J. Rohde, Der Brief des Paulus an die Galater (ThHK 9), Berlin 1989, 252. 46 Auffällig ist der absolute Gebrauch des Dativs πνεύματι an allen diesen Stellen. Das macht eine Deutung des Gemeinten schwieriger, als wenn entsprechende Präpositionen gebraucht würden. Es legt sich damit allerdings auch keine rein konkordante Übersetzung der absoluten Dativform nahe, sondern sie lässt als Dativus sociativus vielmehr Spielraum für unterschiedliche Akzentsetzungen, die den jeweiligen Modus bzw. die Art und Weise der Handlung näher bestimmen, vgl. F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 171990, § 198 (6).
Leben im Glauben – Leben im Geist 303
löschen bringen« (vgl. 1 Thess 5,19). Soll man hier – in ethicis – von einer Synergie des Menschen mit dem Geist reden? Dass es einen solchen synergetischen Zusammenhang gibt, ist aufgrund der imperativischen Form der Aussagen kaum zu bezweifeln. Aber wie ist dieser zu beschreiben bzw. zu begründen? Als Voraussetzung für die Beantwortung dieser Frage soll die These formuliert werden: Der Glaube an den Heiligen Geist ist Ausdruck der Überzeugung, dass das Leben der Menschen im Vertrauen auf die an Christus gebundene Verheißung Gottes in grundlegender und eschatologisch relevanter Weise erneuert wird.
2.2 Das Sein in Christus und das erneuerte Leben im Geist Für Paulus ist klar, dass jede und jeder an Christus Glaubende nicht nur getauft ist, sondern diese gemeinsame Taufe auch sicherstellt, dass sie alle mit ein und demselben Geist »getränkt« sind (1 Kor 12,13). Der Geist ist als eine die Einzelnen wie die Gemeinde insgesamt durchdringende Größe verstanden, deren Wirkung sich in einer gemeinsamen Ausrichtung der Gesinnung der Glaubenden an Christus (1 Kor 2,16), der Relativierung von Statusunterschieden und der Konstituierung der Christusgemeinschaft (1 Kor 12,13; Gal 3,25 – 29) sowie einem entsprechenden Lebenswandel (vgl. Gal 5,16 – 26; Phil 2,1 – 11; 3,15 – 21) manifestiert. Mit der Taufe als dem grundlegenden und initiatorischen Vollzug dessen, worauf der Glaube sich gründet und sich ausrichtet,47 verbindet sich bei Paulus wesentlich die Vorstellung einer Neubestimmung des Lebens als ein Sein »in Christus«: »Wenn jemand in Christus (ist), (ereignet sich) neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe: Neues ist geworden« (2 Kor 5,17). Abgesehen von der schwierigen Grammatik des Satzes48 ist hier nicht unmittelbar klar, inwiefern das »In-Christus-Sein« als eine Neuschöpfung verstanden werden kann. 47 Vgl. dazu C. K. Matthes, Die Taufe auf den Tod Christi. Eine ritualwissenschaftliche Untersuchung zur christlichen Taufe dargestellt anhand der paulinischen Tauftexte (NET 25), Tübingen 2017, bes. 498 – 531. 48 Es handelt sich um einen Nominalsatz (ohne Prädikat, daher die Ergänzungen in Klammern in der Übersetzung), dessen Zusammenhang sich eher in einem deklaratorischen als einem erklärenden Sinn erschließt; vgl. zum Problem U. Mell, Neue Schöpfung. Eine traditionsgeschichtliche und exegetische Studie zu einem soteriologischen Grundsatz paulinischer Theologie (BZNW 56), Berlin / New York 1989, 327 – 388, bes. 352 f.; ders., »Neue Schöpfung«
304 Jens Herzer Oft hat man aus dieser Formel so etwas wie eine Christusmystik bzw. eine mystisch zu verstehende Teilhabe an oder Vereinigung mit Christus ableiten wollen, wie es vor allem für die Paulusinterpretationen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts charakteristisch war.49 Danach wird Christus auf eine geistlich zu bestimmende Weise gleichsam als ein Raum oder besser: als eine Sphäre verstanden, in welche die Menschen durch den Glauben bzw. die Taufe eintreten, in der sie nun leben und damit an Christus teilhaben.50 Dabei spielt die Vorstellung von einer besonderen, gleichsam somatisch-leiblichen Innigkeit der Verbindung mit Christus eine große Rolle, bis hin zu einer erfahrungsbetonten unio mystica, die durch den in den Glaubenden einwohnenden Geist geradezu physisch konstituiert wird.51 Von 1 Kor 12 her könnte man diese Vorstellung dadurch begründen, dass dort – unter Voraussetzung einer bestimmten Übersetzungsmöglichkeit – zum einen von der Taufe »durch einen Geist in einen Leib hinein« (ἐν ἑνὶ πνεύματι ἡμεῖς πάντες εἰς ἓν σῶμα ἐβαπτίσθημεν, 12,13) die Rede ist und zum anderen dieser Leib dann in 12,27 als Leib Christi in Gestalt der Gemeinde näher definiert wird.52 Der Begriff der »neuen Schöpfung« weist jedoch darauf hin, dass Paulus die neue Existenz der Glaubenden »in Christus« vor allem auf als theologische Grundfigur paulinischer Anthropologie, in: ders., Biblische Anschläge. Ausgewählte Aufsätze (ABG 30), Leipzig 2009 (2001), 209 – 231, bes. 215; C. Hoegen-Rohls, Wie klingt es, wenn Paulus von Neuer Schöpfung spricht? Stilanalytische Beobachtungen zu 2 Kor 5,17 und Gal 6,15, in: P. Müller / C. Gerber / T. Knöppler (Hg.), »… was ihr auf dem Weg verhandelt habt«. Beiträge zur Exegese und Theologie des Neuen Testaments (Festschrift F. Hahn), Neukirchen-Vluyn 2001, 143 – 153; T. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther, Teilbd. 1: 2 Kor 1,2 – 7,4 (EKK VIII / 1), Neukirchen-Vluyn / Ostfildern 2010, 326. 49 Vgl. z. B. M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 226 – 259 (227 – 235). 50 Vgl. auch U. Schnelle, Taufe als Teilhabe an Christus, in: F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 332 – 337; ders., Paulus. Leben und Denken, Berlin / New York 2003, 545 – 548. 51 Vgl. U. Luz, Paulus als Charismatiker und Mystiker, in: Holtz, Studien (s. Anm. 43), 75 – 93: »Paulinische Christusmystik bedeutet also, dass Christus nicht nur in den Spitzen der geistlichen Erkenntnis, sondern noch viel mehr in den Tiefen der körperlichen Existenz epiphan und erfahrbar wird« (a. a. O., 92); vgl. auch S. Vollenweider, Paulinische Spiritualität, in: Horn, Paulus Handbuch (s. Anm. 50), 422 – 425 (423). 52 Schnelle, Taufe als Teilhabe (s. Anm. 50), 335; vgl. dazu die folgenden Ausführungen und bes. Anm. 54.
Leben im Glauben – Leben im Geist 305
den schöpfungstheologischen Horizont des Heilshandelns Gottes an Christus bezieht. Der Zusammenhang wird in 2 Kor 5,17 – 21 dargestellt: Die Neuschöpfung der Glaubenden »in Christus« wird expliziert als eine Zueignung bzw. ein Zusprechen der Heilswirkung des Todes Jesu. »In-Christus-Sein« bedeutet bei Paulus daher zunächst, dass die Glaubenden durch Christus eine neue Grundlage ihres Lebens finden (vgl. 1 Kor 3,11). Gott schafft durch sein auferweckendes Handeln am Gekreuzigten die Voraussetzung dafür, dass die Menschen im Vertrauen auf dieses Handeln Gottes an Christus selbst verwandelt werden und in der Hoffnung auf die eigene Auferweckung auf neue Weise leben.53 Dies ist als ein Bewusstwerden des neuen Status der Gerechtigkeit zu verstehen: »Gott hat den, der Sünde nicht kannte, um unseretwillen zur Sünde gemacht, damit wir durch ihn54 zur Gerechtigkeit Gottes würden« (2 Kor 5,21; vgl. auch Röm 4,24 – 25). Im Ritus der Taufe erhält der Zuspruch der Gottesgerechtigkeit (Rechtfertigung) für die Glaubenden einen individuellen lebensgeschichtlichen Bezug. Der Zuspruch der Wirkung des Todes Jesu durch Gott wird gleichsam spirituell angeeignet, indem jenes Bewusstwerden der Rechtfertigung und damit die Gewissheit ihrer Geltung als Wirkung des lebendig machenden Geistes verstanden wird: »Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt« (Röm 8,11). Das daraus neu erwachsende »ewige« Leben 53 Anders etwa Schnelle, a. a. O. (s. Anm. 50), 548 f., der von einem primär »lokal-seinshafte[n] Grundverständnis« (549) der In-Christus-Formulierung ausgeht: »Durch die Taufe gelangt der Glaubende in den Raum des pneumatischen Christus und konstituiert sich die neue Existenz in der Verleihung des Geistes als Angeld auf die in der Gegenwart real beginnende und in der Zukunft sich vollendende Erlösung« (548 f.). Kritisch Horn, Angeld des Geistes (s. Anm. 2), 138 f. 54 ἐν αὐτῷ – wörtl. auch hier als Möglichkeit der Übersetzung: »in ihm« im lokalen Sinn. Dass die Formulierung »in Christus« (und dergleichen) im Sinne von »durch Christus« zu verstehen ist, liegt nicht nur daran, dass die griechische Partikel ἐν neben der lokalen auch instrumentale Bedeutung haben kann, sondern vor allem daran, dass Paulus selbst in 2 Kor 5,18 – 19 das Versöhnungshandeln Gottes synonym mit den Wendungen »durch Christus« (διὰ Χριστοῦ, V. 18) und »in Christus« (ἐν Χριστῷ, V. 19) beschreibt, vgl. C. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 8), Leipzig 2 2011, 130. Allerdings ist auch in dieser Perspektive nicht von einer einheitlichen Semantik der »In-Formulierungen« auszugehen, was der Vielfalt der Kontexte nicht gerecht würde, in denen Paulus solche Wendungen gebraucht.
306 Jens Herzer gilt zugleich als Gabe Gottes (Röm 6,23) und regelrecht als »neue Schöpfung« (2 Kor 5,17; Gal 6,15). In der Taufe wird der Tod Jesu auf eine geistliche Weise zu dem je eigenen Tod der Getauften. Sie können sich nunmehr als solche verstehen (λογίζεσθαι, Röm 6,11), auf die die Sünde keinen vernichtenden Zugriff mehr haben kann, weil sie gleichsam mit Christus gestorben sind und daher ebenfalls mit dem auferweckten Christus auf eine neue, veränderte bzw. verwandelte Weise »in der Neuheit des Lebens« leben (Röm 6,4). In Gal 2,20 kann es Paulus auf folgende Weise ausdrücken: »So lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir«, und zugleich betonen, dass dieses von Christus bestimmte neue Leben ein »Leben im Glauben an den Sohn Gottes« ist, »der mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben hat«. An dieser Stelle soll kurz der Befund notiert werden, der eingangs angedeutet wurde und dabei insbesondere bei Paulus auffällt, dass die Metaphorik von Neu- oder Wiedergeburt bzw. -zeugung im Hinblick auf das Wirken des Geistes bzw. auch den Zusammenhang von Taufe und Geist bei ihm keine (entscheidende) Rolle spielt. Zwar kann auch Paulus das zum Glauben Kommen eines Menschen metaphorisch als Zeugungsakt unter seiner Verkündigung beschreiben (vgl. 1 Kor 4,15; Phlm 10) und kennt auch die Vorstellung einer »Zeugung aus dem Geist« (Gal 4,29), sodass man nicht sagen könnte, er kenne diese Metaphorik nicht, aber er reflektiert dies nicht in derselben theologischen Tiefe wie die Vorstellung der Neuschöpfung. Neutestamentlich sind es vor allem drei Kontexte, in denen der Aspekt der Neu-/Wiedergeburt/-zeugung mit je unterschiedlicher Begrifflichkeit zur Sprache gebracht wird. Am deutlichsten ist die Metaphorik in Joh 3,3 – 8 hinsichtlich der Wirkung des Geistes in der Taufe entfaltet: Der Mensch müsse »durch Wasser und Geist« gleichsam »von oben her« (ἄνωθεν) oder auch »aus dem Geist heraus« (ἐκ τοῦ πνεύματος) geboren bzw. gezeugt werden, um Anteil am Reich Gottes zu haben (vgl. auch 1 Joh 3,9: γεγεννημένος ἐκ τοῦ θεοῦ). In 1 Petr 1,3 findet sich die Vorstellung einer Neugeburt bzw. -zeugung mit ausdrücklichem Bezug zum Ostergeschehen, wenn Gott als der gepriesen wird, »der uns seinem großen Erbarmen gemäß aufs Neue gezeugt hat (ἀναγεννήσας) zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten« (vgl. auch 1,23). Aufgrund des eigentümlichen Taufverständnisses, das in 1 Petr 3,19 – 23 entfaltet wird, und der besonderen Funktion, die der Taufe darin zugewiesen wird, sind jedoch die Aussagen von der Neugeburt in 1 Petr 1 zumindest nicht direkt mit dem
Leben im Glauben – Leben im Geist 307
Taufgeschehen verbunden.55 Auch Tit 3,5 spricht mit Bezug auf die Rechtfertigung von einem »Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist« (λούτρον παλιγγενεσίας καὶ ἀνακαινώσεως πνεύματος ἁγίου), durch das die Glaubenden gerettet würden. Bemerkenswert ist, dass in Tit 3,5 die Nominalform von γίνομαι (»werden, entstehen«) verwendet wird (durchaus in Entsprechung zu 2 Kor 5,17: γέγονεν καινά), nicht eine Form von γεννάω (»zeugen«) wie in Joh 3, 1 Joh 3 und 1 Petr 1.56 Entscheidend für die neue Lebensweise ist nach Paulus, dass sie auf ein schöpferisches Handeln Gottes zurückgeführt wird, der mit diesem Handeln die Rechtfertigung des Menschen ermöglicht. »Gott, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ins Sein ruft« (Röm 4,17), macht auch die »in Christus« Lebenden zu einer neuen Schöpfung (2 Kor 5,17). In der Verbindung mit Christus als dem »Bild Gottes« gewinnen sie jene Würde (δόξα / »Herrlichkeit«) der Gottebenbildlichkeit der ursprünglichen Schöpfung (vgl. Gen 1,27; Ps 8,6) wieder, die durch die Sünde verloren wurde (Röm 3,23). Anhand einer sog. Adam-Christus-Typologie versucht Paulus, die Wiedergewinnung der verlorenen prälapsarischen Schöpfungs-Doxa anhand der Wirkung des lebendig machenden Schöpfergeistes plausibel zu machen. Ohne dass hier explizit noch einmal vom Geist die Rede sein muss, ist durch Christus nach Röm 5 »Gottes Gnade und Gabe den Vielen überreich zuteilgeworden« (Röm 5,15), die durch Adam verloren war. Nach 1 Kor 15,45 ist Christus explizit – ebenfalls in einer antithetischen Parallelisierung mit dem »ersten Adam« der Schöpfungsgeschichte – geradezu der Inbegriff des lebendig machenden Schöpfergeistes: »Wie geschrieben steht: ›Es wurde der erste Mensch, Adam, zur lebendigen Seele‹, [so wurde] der letzte Adam zum lebendig machenden Geist.«57 An Christus wird sichtbar, dass es das Wesen 55 Vgl. dazu J. Herzer, Petrus oder Paulus? Studien über das Verhältnis des Ersten Petrusbriefes zur paulinischen Tradition (WUNT 103), Tübingen 1998, 196 – 226. 56 Vgl. dazu C. Zimmermann, Wiederentstehung und Erneuerung (Tit 3:5). Zu einem erhaltenswerten Aspekt der Soteriologie des Titusbriefs, in: NovT 51 (2009), 272 – 295; anders akzentuiert J. Herzer, Titus 3,1 – 15. Gottes Menschenfreundlichkeit und die ethische Relevanz christlicher Hoffnung, in: R. Bieringer (Hg.), 2 Timothy and Titus Reconsidered – Der 2. Timotheusund der Titusbrief in neuem Licht (Colloquium Oecumenicum Paulinum 20), Leuven 2018, 133 – 179, bes. 145 f. 57 Vgl. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 34), 409.
308 Jens Herzer des Geistes ist, lebendig zu machen, und indem die Glaubenden dies an Christus sehen, können sie es auch auf sich beziehen. Die Aussage, Christus werde als »letzter Adam« zum lebendig machenden Geist, ist daher keine Verwechslung Christi mit dem Geist, sondern bringt zum Ausdruck, dass für die Glaubenden Christus in seinem Leben, Sterben und Auferweckt-Werden das Handeln des Geistes repräsentiert, das auch ihnen zuteil wird. Auch vor diesem Hintergrund wird die Taufe gewissermaßen zu einer Vorabdarstellung dieser eschatologischen Geistperspektive, wenn Paulus die Getauften im Hinblick auf ihr erneuertes Leben in der Verbindung »mit Christus« (Röm 6,4) als »gleichsam aus den Toten lebendig Gewordene« (Röm 6,13) anspricht. Die Neuschöpfung des irdischen Lebens durch den Geist ist die Prolepse der endzeitlichen Totenauferstehung. Als deren Kraft war der Geist Gottes bereits an Christus wirksam (vgl. Röm 1,4: Jesus Christus, »der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist der Heiligkeit aufgrund der Totenauferstehung«58) und er ist für die bzw. an den Glaubenden ebenfalls wirksam.
2.3 Der Geist als Angeld der Vollendung der Leiblichkeit Der Glaube an den Geist als eine zur Erneuerung und Vollendung wirksamen Kraft Gottes ist letztlich auch der Kerngedanke dessen, was Paulus in 2 Kor 1,22 und 5,5 mit der Formulierung vom »Angeld des Geistes« (ἀρραβών τοῦ πνεύματος) auf einen Begriff bringt (vgl. auch Eph 1,13 f.). Der Genitiv ist als Apposition zu verstehen: Das Angeld ist der Geist.59 Auch hier ist das »Herz« wieder (2 Kor 1,22 wie in Röm 5,5, s. o.) der Ort, an dem sich das Wirken des Geistes ereignet. Wenn der Geist die Kraft der Neuschöpfung der leiblichen Existenz der Glaubenden ist, dann ist die Wirksamkeit dieser Kraft gleichsam das »Pfand«, mit dem auch die endgültige Erlösung und Vollendung des Leibes in der Auferstehung der Toten verbürgt wird.60 58 Zur Problematik dieses Verses, den Paulus wohl zumindest teilweise einer geprägten Tradition entnimmt, vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer, Teilbd. 1: Röm 1 – 8 (EKK VI / 1), Neukirchen-Vluyn / Ostfildern 2014, 88 – 90. 59 Vgl. Horn, Angeld des Geistes (s. Anm. 2), bes. 389 – 431; Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 54), 112. Wolff, a. a. O., 389 – 394, versteht die Wendung ἀπαρχὴ τοῦ πνεύματος (»Erstlingsgabe des Geistes«) aus Röm 8,23 ebenfalls im Sinne der Angeld-Metapher von 2 Kor 1,22 und 5,5; vgl. auch Wolter, Römer (s. Anm. 58), 517 mit Anm. 55. 60 Vgl. zum Ganzen Horn, Angeld des Geistes (s. Anm. 2), passim.
Leben im Glauben – Leben im Geist 309
In allen bisher betrachteten Aspekten ist deutlich geworden, dass vom Geist Gottes stets im Hinblick auf seine Wirkungen in der gegenwärtigen leiblichen Existenz des Menschen die Rede ist, insofern er das Bewusstsein der Neuschöpfung und die Gesinnung der Liebe als Handlungsgrund des »Herzens« bestimmt. Daran wird einmal mehr deutlich, dass die Rede vom Geist Gottes nicht ohne die anthropologische Verfasstheit des Menschseins zu verstehen ist. Diese Wechselwirkung lässt sich als ein komplexer kommunikativer Prozess verstehen, der den Menschen in seinem Personsein, seinem »Ich«-Bewusstsein ausmacht, d. h. in seinem auf sich selbst, auf die Gemeinschaft und auf Gott hin ausgerichteten »Sein im Werden«.61 Dazu gehört auch die Geschichtlichkeit des Menschen, nicht nur hinsichtlich seiner eigenen (begrenzten) Lebensgeschichte und der darin verwirklichten (oder auch verwirkten) Beziehungen, sondern auch hinsichtlich seines Platzes und seiner Einbindung in die universale Geschichte (Gottes). Insofern Menschsein grundsätzlich (und also unabhängig von einem spezifischen Gottesglauben) ein »Sein im Werden« unter der Voraussetzung der je individuellen Geschichte ist, lässt sich die Vorstellung von der Wirksamkeit des Geistes Gottes als eine Kraftwirkung verstehen, die das Werden des Menschen und damit die leiblich-kommunikative, d. h. geschichtliche Struktur seines Wesens verändert. Bereits der nüchterne Blick auf die Realität von Vergänglichkeit und Hinfälligkeit menschlicher Existenz stellt die Frage nach ihrer Zukunft: Der »äußere Mensch geht zugrunde« (2 Kor 4,16) – das ist die alltägliche Erfahrung, die für Paulus zur conditio humana notwendig hinzugehört und unterschiedliche Konsequenzen haben kann. Der Glaube hingegen ist sich gewiss, dass in dieser vergänglichen Existenz der Geist »den inneren Menschen« täglich erneuert (ebd.) und letztlich den Menschen in seiner Leiblichkeit, d. h. in seinem durch eine individuelle leiblich-kommunikative Geschichte geprägten Personsein, gleichsam »verwandelt« (2 Kor 5,1 – 5; vgl. 1 Kor 15,51 f. [ἀλλαγησόμεθα]). Damit gewinnt das Wirken des Geistes Gestalt im Bewusstsein und in der Gewissheit des Aufgehobenseins des eigenen Lebens und seiner Geschichte in Gottes Leben und Geschichte, wel61 Diese Formulierung ist bewusst gewählt in Anlehnung an den Titel von E. Jüngel, Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 21965. Zum kommunikativen Aspekt der Rede vom und des Verständnisses des Geistes vgl. auch Petzoldt, Gehirn – Geist – Heiliger Geist (s. Anm. 9), 112; Körtner, Dogmatik (s. Anm. 1), 460 f.
310 Jens Herzer ches die leibliche Dimension der menschlichen Existenz nicht aus-, sondern vielmehr einschließt.
2.4 Der Geist und die »Freiheit der Doxa der Kinder Gottes« (Röm 8,21)62 Bereits im Galaterbrief hatte Paulus emphatisch angemahnt, dass die Konsequenz der Rechtfertigungsbotschaft die in Christus geschenkte Freiheit sei: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Daher steht fest [darin] und legt euch nicht selbst wieder das Joch der Sklaverei auf« (Gal 5,1). Gemeint ist konkret die in der Rechtfertigung aus Glauben begründete Freiheit von der Notwendigkeit, qua Beschneidung auf die Toragebote verpflichtet werden zu müssen (Gal 5,3). Die an Christus orientierte und von der Liebe Gottes bestimmte Gesinnung (s. o. zu 1 Kor 2,16 und Röm 5,5) gewinnt in dieser Freiheit erneut eine konkrete Gestalt und entfaltet ihre Wirkung im Bewusstsein der Rechtfertigung des Menschen vor Gott, wobei dem Geist eine spezifische Funktion zukommt: »Ihr habt euch von Christus entfernt, die ihr im Gesetz gerecht werdet, ihr seid aus der Gnade gefallen. Wir aber erwarten [d. h. wir gehen mit Gewissheit davon aus], dass die Zuversicht der Gerechtigkeit [ἐλπὶς δικαιοσύνης] durch den Geist aus Glauben erwächst. Denn in Christus Jesus bedeutet weder die Beschneidung noch die Unbeschnittenheit etwas, sondern der Glaube, der durch Liebe tätig wird« (Gal 5,4 – 6). Obwohl V. 4 aufgrund der spezifischen Anordnung der Satzteile syntaktisch schwierig aufzulösen ist, so wird doch hier erneut der Geist als diejenige Kraft verstanden, durch die sich der Glaubende der zugesprochenen Gerechtigkeit gewiss wird. Diese vom Geist bewirkte Gewissheit wird schließlich zum Grund für das Bewusstsein der Freiheit, die sich für den Glauben gegenüber menschlichen Gefangenschaften (hier konkret das Gesetz als »Joch der Sklaverei«) auftut. Ich verwende wieder absichtsvoll den Begriff »Bewusstsein«, weil sich genau darin das Wirken des Geistes manifestiert. »Bewusstsein« als conditio humana ist also die anthropologische Voraussetzung dafür, die befreiende Veränderung des Lebens als ein Wirken göttlicher Geistkraft wahrzunehmen und zu verstehen, dass im Vertrauen auf Gottes Zusage die Gewissheit der Rechtfertigung tatsächlich berechtigt ist und sich nicht als Illusion erweisen wird. 62 Vgl. dazu grundlegend S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt (FRLANT 147), Göttingen 1989.
Leben im Glauben – Leben im Geist 311
Letzteres, dass die Gewissheit der Rechtfertigung eine Illusion sein könnte, ist auch für den Glauben eine bleibende Infragestellung sub conditione mundi, die Paulus dann auch konsequent noch einmal im achten Kapitel des Römerbriefs ausführlich thematisiert, erneut unter dem Vorzeichen der »Freiheit« (Röm 8,19 – 23): »19 Denn das drängende Sehnen der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. 20 Die Schöpfung ist nämlich der Vergänglichkeit unterworfen, nicht willentlich, sondern durch den, der [sie] unterworfen hat – doch auf die Hoffnung hin, 21 dass auch sie, die Schöpfung, befreit werden wird von der Sklaverei des Verderbens zur Freiheit der ›Herrlichkeit‹ der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen stöhnt und Schmerzen leidet bis jetzt. 23 Nicht allein aber das, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes [bereits] haben, wir klagen in uns selbst, weil wir die Sohnschaft erwarten, [nämlich] die Erlösung unseres Leibes.«
Zuvor hatte Paulus gleichsam als Resümee der rechtfertigungstheologischen Argumentation im Römerbrief sehr deutlich darum geworben, dass die Glaubenden sich der Gabe des Geistes bewusst werden und in diesem Bewusstsein entsprechend leben.63 Die Glaubenden sind »im Geist«, insofern der Geist Gottes in ihnen wohnt (Röm 8,9), wobei nicht nur die Begriffe »Geist Gottes« und »Geist Christi« synonym gebraucht werden können, sondern auch die Wendungen »im Geist sein«, »den Geist Christi haben«, »Christus in euch« (Röm 8,9 f.). Demgegenüber steht aber nach wie vor die Kategorie des »Fleisches«, bezüglich derer den Glaubenden ins Bewusstsein gehoben werden muss, dass sie dieser die irdischen Verhältnisse nach wie vor dominierenden und todbringenden Macht nicht mehr ausgeliefert sind (8,12 f.). Diejenigen, die demgegenüber vom Geist Gottes bestimmt werden, sind auch wirklich bereits Kinder Gottes, sie haben auch bereits den Geist der Sohnschaft empfangen und sind damit zu Erben der Kindschaftsverheißung geworden (8,14 – 16).64 Diese Bestimmtheit des Lebens vom Geist Gottes, der im Christusgeschehen zur Geltung kommt und für die Glaubenden befreiend wirksam wird – trotz und in aller Anfechtung durch »das Fleisch« – , ist der eigentliche Grund für die Hoffnung, dass es eine endgültige, gleichsam apokalyptische Befreiung von den Leiden und Anfechtungen 63 Vgl. dazu J. Herzer, Röm 8,1 – 17: Gottes Geist als Kraft des neuen Lebens, in: J. M. Barclay (Hg.), Romans 5 – 8 (Colloquium Oecumenicum Paulinum 25), Leuven 2019 (in Vorbereitung). 64 Vgl. oben Anm. 59 sowie auch Rabens, Holy Spirit (s. Anm. 7), 216 – 236.
312 Jens Herzer der Zeit geben wird. Ähnlich wie in 2 Kor 1,22 und 5,5 vom Geist als »Pfand« die Rede war, verwendet Paulus hier die Metapher der »Erstlingsgabe« (ἀπαρχή, Röm 8,23) für den Geist, der die endgültige Offenbarung der bereits jetzt gültigen »Sohn- bzw. Kindschaft« sicherstellt.65 Interessanterweise koinzidiert auch diese Metapher mit ihrer christologischen Füllung in 1 Kor 15, wo Paulus noch Christus selbst als ἀπαρχή benannt hat; in Röm 8,29 verwendet er das Bild des »Erstgeborenen (πρωτότοκος) unter vielen Geschwistern«.66 Der Konnex liegt aber hier wie dort in der Teilhabe an der Auferstehung, deren Kraft der Geist Gottes ist: »Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, [so wird der,] der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt« (Röm 8,11).67 Offenbar hängen für Paulus die lebensschaffende Schöpferkraft des Geistes, die Freiheit des Glaubens und die Erwartung der endzeitlichen bzw. postmortalen Vollendung eng zusammen und bedingen einander. Was in Röm 8 erneut zur Sprache kommt, ist die Funktion, die der Geist in Bezug auf die Leiblichkeit des Menschen hat. Leiblichkeit bzw. die somatische Existenz des Menschen ist diejenige Dimension der Lebenswirklichkeit, in der und an der der Geist sich als verändernde und verwandelnde Kraft wirksam erweist. Vom Bewusstsein der neuen Existenz mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Lebensvollzug als eine dieser Wirkungen des Geistes war bereits mehrfach die Rede. Aber dieses Bewusstsein – und spätestens hier beginnt es m. E. auch systematisch-theologisch interessant zu werden – ist für Paulus an die Bedingungen und Konditionierungen der Leiblichkeit, des σῶμα, gebunden. Daher ist es auch konsequent die »Erlösung des Leibes« (Röm 8,23), die vom Wirken des Geistes erwartet wird.68 Der Geist ist daher nicht nur die neuschöpferische Kraft eines erneuerten Lebens, das den Maßstäben der Liebe und der Freiheit folgt. Er ist dies auf eine proleptische, vorausdarstellende Weise, denn das eigentliche Ziel des Glaubens und der Hoffnung ist die Transformation der Leiblichkeit in das ewige Leben Gottes. 65
Vgl. oben Anm. 59. Vgl. Wolter, Römer (s. Anm. 58), 532 f. 67 Die Auswirkung der Geistwirkung auf den Lebenswandel gibt der Geistvorstellung auch hier eine leibliche Dimension. Diese kommt insbesondere in der Vorstellung des Leibes als »Tempel des Heiligen Geistes« zum Ausdruck, wobei dies sowohl auf die Einzelnen wie auch für die Gemeinde als Ganze gilt (1 Kor 3,16 f.; 6,19; vgl. 2 Kor 6,16; sowie ferner Eph 2,21). 68 Vgl. Wolter, Römer (s. Anm. 58), 519. 66
Leben im Glauben – Leben im Geist 313
Von daher wird auch einmal mehr plausibel, dass für Paulus die christliche Hoffnung auf eine Auferstehung von den Toten nicht einfach als eine Trennung zwischen Körper und Geist bzw. Leib und Seele verstanden werden kann. Während »Fleisch und Blut die Königsherrschaft Gottes nicht erben können« (1 Kor 15,50), wird der Mensch in seiner Leiblichkeit als wesentliches Konstituens seiner personalen Identität »verwandelt« (1 Kor 15,51). Das Menschsein als »Sein im Werden« findet sein eschatologisch »vollendetes Sein« in einer vom Geist vollständig verwandelten Leiblichkeit (1 Kor 15,35 – 57), als deren Ziel die von der Macht des Todes befreite Gottesgemeinschaft verstanden wird (1 Kor 15,20 – 28). Darin gelangt das »Sein des Menschen im Werden« zu seiner endgültigen Bestimmung. Paulus bringt diese Vorstellung in der ungewöhnlichen Unterscheidung zwischen »psychischem Leib« (σῶμα ψυχικόν) und »pneumatischem Leib« (σῶμα πνευματικόν) zum Ausdruck (1 Kor 15,44 – 49). Der »beseelte Leib« (σῶμα ψυχικόν) ist zunächst jener, der von der Schöpfung her den Menschen in seiner innerweltlichen Existenz als Beziehungswesen (= Person) ausmacht; die »Seele« gehört somit – in Anlehnung an Gen 2,7 – in den Bereich der irdischen Leiblichkeit der Schöpfung: Indem Gott den Menschen anhaucht, wird er als Geschöpf zu einer »lebendigen Seele« ()וַיְ הִ י הָ אָדָ ם לְ ֶנפֶשׁ חַ יָּה.69 Die Seele ist daher nicht das Göttliche im Menschen, sondern Teil der irdischen conditio humana. Demgegenüber bringt der Begriff »geistbestimmter Leib« (σῶμα πνευματικόν) die eschatologisch bleibende Dimension des Menschseins in seiner Gottesbeziehung zum Ausdruck, in die hinein die irdische Leiblichkeit verwandelt wird. Implizit ist damit der Geist Gottes regelrecht als »Energie« (vgl. ἐνέργεια in Phil 3,21) verstanden, die diesen »Gestaltwandel des Leibes« (μετασχηματίσει τὸ σῶμα τῆς ταπεινώσεως ἡμῶν) bewirkt, insofern an den Glaubenden dieselbe »Energie« wirksam wird, mit der Gott Jesus von den Toten auferweckt hat (vgl. auch Röm 6,4 – 11 im Kontext der Taufe).70 Erfahrbarer Ausdruck dieser Verwandlung ist auch hier die Neuausrichtung der Gesinnung des Menschen, die über die irdische Realität (τὰ ἐπίγεια) hinausreicht und sich nicht nur an Christus orientiert (Phil 2,5), sondern – wie bereits deutlich wurde – in seinem Schicksal die eigene Zukunft erkennt, ja 69 Die irdisch-leibliche Dimension kommt im Hebräischen nicht zuletzt dadurch zur Geltung, dass ֶנפֶשׁdas Organ der »Kehle« bezeichnet; erst in der griechischen Übersetzung mit ψυχή wird daraus die »Seele« als etwas vom Körper zu Unterscheidendes. 70 Vgl. 1 Kor 12,11; sowie 12,6.10: ἐνεργήματα als Wirkungen des Geistes.
314 Jens Herzer regelrecht prototypisch vorgezeichnet sieht. Vor diesem Hintergrund wird zudem ersichtlich, dass der Geist als eine dem Menschen unverfügbar zukommende Größe vorgestellt ist und nicht einfach die bereits anthropologisch gegebene geistige Verfasstheit meint, die aller Schöpfung qua Schöpfung bereits inhärent wäre. Damit ist – in Umrissen wohlgemerkt – ein wesentlicher, wenn nicht der wesentliche Aspekt der Geistvorstellung bei Paulus benannt: die Überzeugung, dass der Geist eine das Leben durch und durch verändernde und erneuernde Kraft ist. Wesentlich für Paulus ist vor allem die Verbindung der Vorstellung vom Geist und seiner Wirkung mit dem Christusgeschehen. Ohne das Christusgeschehen kann das Wirken des Geistes Gottes nicht adäquat zum Ausdruck gebracht werden, durch die Verbindung mit dem Christusgeschehen kommt die Kraft des Geistes zur Entfaltung, und zwar in der Verkündigung des Evangeliums.71 Glaube an den Geist ist unter diesen Vorzeichen ein zweifaches Vertrauen: das Vertrauen auf die Gültigkeit der im Evangelium zugesprochenen Verheißung Gottes, die er in Tod und Auferstehung Christi universal erneuert hat, sowie das Vertrauen auf die Hoffnung, die daraus erwächst, mit all seinen Konsequenzen für ein christliches Ethos und eine christliche Ethik.
71 Vgl. 1 Thess 1,5 (ὅτι τὸ εὐαγγέλιον ἡμῶν οὐκ ἐγενήθη εἰς ὑμᾶς ἐν λόγῳ μόνον ἀλλὰ καὶ ἐν δυνάμει καὶ ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ ἐν πληροφορίᾳ πολλῇ – »denn unser Evangelium ereignete sich unter euch nicht im Wort allein, sondern auch in Kraft und im Heiligen Geist und in großem Übermaß«); 1 Kor 2,4 (καὶ ὁ λόγος μου καὶ τὸ κήρυγμά μου οὐκ ἐν πειθοῖς σοφίας λόγοις ἀλλ᾿ ἐν ἀποδείξει πνεύματος καὶ δυνάμεως – »und mein Wort und meine Verkündigung [geschah] nicht in überzeugenden Worten der Weisheit, sondern im Erweis des Geistes und der Kraft«); Röm 15,19 (ἐν δυνάμει σημείων καὶ τεράτων, ἐν δυνάμει πνεύματος θεοῦ· ὥστε με ἀπὸ Ἰερουσαλὴμ καὶ κύκλῳ μέχρι τοῦ Ἰλλυρικοῦ πεπληρωκέναι τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ – »[…] in der Kraft von Zeichen und Wundern, in der Kraft des Geistes Gottes, sodass ich von Jerusalem und ringsum bis nach Illyrikos das Evangelium Christi vollständig ausgerichtet habe«), aber unter diesen Voraussetzungen zentral auch Röm 1,16: Die Kraft, die das Evangelium zur Rettung aller Glaubenden entfaltet, ist Gottes Kraft und als solche im Verständnis des Paulus die Kraftwirkung des Geistes Gottes. Zum Verständnis des Geistes als performative Kraft des Evangeliums vgl. auch C. Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen 21996, 249, in der Auslegung von Hebr 6,4 – 6; 10,26 – 29: Der Geist ist »eine Frucht des Lebens und Sterbens Christi«.
Leben im Glauben – Leben im Geist 315
3. »Der Herr ist der Geist« (2 Kor 3,17) – Personifikationen des Geistes Die Vorstellung vom Geist als einer Person bzw. einer personal bestimmten Größe ist vor dem Hintergrund des bisher Erörterten zweifellos eine besondere Herausforderung. Neutestamentlich ist sie vor allem aus dem Johannesevangelium geläufig,72 und von hier aus nicht ohne Weiteres mit den paulinischen Vorstellungen vom Geist kompatibel. Christus selbst als Offenbarer des Vaters spricht im Johannesevangelium vom Geist als einem von ihm unterschiedenen Akteur, der ihn als »Parakleten« (παράκλητος) regelrecht ersetzt: »Und ich, ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand (παράκλητος) geben, damit er bei euch sei in Ewigkeit, der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht anzunehmen vermag, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei auch und wird in euch sein. Ich lasse euch nicht als Waisen zurück, ich komme zu euch« (Joh 14,16 – 18). Auch wenn der Geist hier in der Gestalt des Parakleten personifiziert wird, so kommt im Zusammenhang doch eine gewisse Ambivalenz zum Ausdruck, welche die Personifizierung sogleich wieder relativiert. Die Szenerie scheint eindeutig: Christus geht zum Vater, und er lässt als »Ersatz« den Geist kommen. Aber dieser ist eben keine Person im eigentlichen Sinn, sondern eine Kraft, die die Glaubenden erfüllt und in der Christus selbst gegenwärtig bleibt (»ich komme zu euch«, 14,18).73 Die Ambivalenz wird dadurch unterstrichen und regelrecht zu einer Spannung innerhalb der johanneischen Tradition aufgebaut, dass in 1 Joh 2,1 Christus selbst als der Paraklet identifiziert wird.74 Diese Identifikation entspricht allerdings durchaus der Dynamik von Joh 14. Die Gegenwart Christi in der Gemeinde ist also eine Gegenwart im Geist, und in dieser Gewissheit wird die Gemeinde in der Welt getröstet und kann ihre Angst überwinden (Joh 16,33).75 Zu dieser Ambivalenz trägt auch bei, dass 72 Vgl. zur Bedeutung des Geistes im Kontext johanneischer Theologie bzw. Eschatologie J. Frey, Die johanneische Eschatologie, Bd. III: Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, Tübingen 2000; D. Pastorelli, Le Paraclet dans le corpus johannique (BZNW 142), Berlin / New York 2006. 73 Vgl. Frey, Eschatologie (s. Anm. 72), 164 – 168. 74 Vgl. dazu a. a. O., 160 – 164; U. Schnelle, Die Johannesbriefe (ThHK 17), Leipzig 2010, 16. 75 Vgl. dazu M. Becker, Spirit in Relationship – Pneumatology in the Gospel of John, in: Frey / Levison, Holy Spirit (s. Anm. 25), 331 – 341.
316 Jens Herzer der johanneische Christus Gott selbst als Geist identifiziert und das Leben der Glaubenden in seiner spirituellen Dimension als ein Leben »in Geist und Wahrheit« bezeichnen kann (Joh 4,24). In durchaus ähnlicher Weise kann auch Paulus den von Gott auferweckten und zum Kyrios eingesetzten Christus mit dem Geist identifizieren: »Der Herr ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn [wirkt], [da ist] Freiheit. Wir aber schauen alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden verwandelt in sein Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, gleichsam von dem Herrn her, der durch den Geist [an uns] wirkt« (2 Kor 3,17 f.).76 Die Frage ist freilich, wie in der Aussage »der Herr ist der Geist« [ὁ κύριος τὸ πνεῦμά ἐστιν] – zumal durch den Gebrauch der bestimmten Artikel – die Weise der Identifizierung verstanden werden soll. Vor dem Hintergrund dessen, was wir bereits über den Geist bei Paulus gesehen haben, kann es jedenfalls nicht meinen, dass Christus und der Geist ein und derselbe sind; auch nicht eine Person im Sinne der klassischen Trinitätslehre, in der die göttlichen Personen lediglich bezüglich ihrer opera ad intra differenziert werden. Im Kontext von 2 Kor 3 ist vielmehr deutlich, dass es um das Wirken des Herrn durch den Geist geht, das Freiheit schafft. Was der Geist bewirkt, ist das, was die Person des Kyrios repräsentiert, oder anders formuliert: Im Wirken des Geistes kommt die Bedeutung des Kyrios – gemeint ist: Christus – für die Glaubenden zur Geltung.77 Im Christusbezug des Glaubens verändert der Geist Gottes als Geist des Kyrios Christos wirksam das Leben, indem er – der Geist – bewusst macht, was den Glaubenden von Gott geschenkt ist: »Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, dass wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist« (1 Kor 2,12; vgl. 2 Tim 1,7) – nämlich das Wissen um die Befreiung von der Macht der Sünde durch den Glauben an die Wirkung des Todes Jesu und zu einem vom Geist Gottes bestimmten und verwandelten neuen Leben. »Geist« ist also auch hier nicht als eine personale Größe im eigentlichen Sinn von »Person« verstanden, sondern gleichsam als eine Chiffre für das Ergriffensein von der das Leben verändernden Schöpferkraft.78 Eine »Metamorphose« nennt Paulus sogar, was der Geist bewirkt, eine 76 Vgl. dazu den Exkurs »Christus und der Geist« bei Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 54), 79 – 82. 77 Vgl. a. a. O., 76. 78 Das schließt keinesfalls aus, dass der Geist in seinem Wirken auch personalisiert bzw. personifiziert zur Sprache gebracht und ihm gleichsam ein
Leben im Glauben – Leben im Geist 317
Verwandlung »von Herrlichkeit zu Herrlichkeit« (μεταμορφούμεθα ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν, 2 Kor 3,18; vgl. Röm 12,2), womit jene in 1 Kor 15 bereits entfaltete Verwandlung der »psychischen« in eine »pneumatische« Leiblichkeit gemeint ist.79 Freiheit wird damit nicht nur zur entscheidenden Charakteristik des gegenwärtigen Glaubens, sondern bekommt – nicht zuletzt von Röm 8 her – eine eschatologische Konnotation, insofern die Metamorphose des Geistes auch die (endgültige) Befreiung von den Mächten der Sünde, des Todes und der Vergänglichkeit impliziert, die gegenwärtig das leibliche Leben beeinträchtigen (vgl. Röm 8,18 – 30). Freiheit ist daher nach Röm 8,21 – davon war bereits die Rede – näher bestimmt als eine »Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes«, was nicht einfach nur eine »herrliche« Freiheit meint im Sinne von »großartig«, sondern es ist die durch Christus im Glauben wiedergewonnene Doxa Gottes, die das Sein und Werden der Glaubenden bestimmt.80
4. Schlussbetrachtung und Ausblick: Geist – Bewusstsein – Selbst Das Resümee soll thesenartig einige wesentliche Aspekte zusammenfassen, die sich aus der Darstellung für das Verständnis der ersten Zeile des dritten Credo-Artikels ergeben: 1. Die Offenheit und Vielfalt der neutestamentlichen Rede vom Geist ist ein Signal dafür, dass ein personenhaftes Verständnis des Geistes im Sinne der klassischen Trinitätslehre nicht nur eine unzulässige Engführung, sondern auch keine notwendige Deutung ist. Zu fragen wäre, ob letztere unter heutigen hermeneutischen Voraussetzungen immer noch hinreichend geeignet ist, um vom Wirken des Geistes zu sprechen oder zu bekennen: »Ich glaube an den Heiligen Geist.« 2. Angesichts des Befundes, dass das paulinische Verständnis des Geistes im Wesentlichen erkenntnistheoretisch fundiert und auf eine spezifische Prägung des Bewusstseins hin ausgerichtet ist, bedarf die Hermeneutik der Rede vom Geist zumal aus heutiger Perspektive eigenes Handeln zugeschrieben werden kann, wenn von ihm die Rede ist (vgl. etwa Röm 8,14 – 16.26; 1 Kor 2,10 – 14). 79 Vgl. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 54), 78 f. 80 Vgl. Wolter, Römer (s. Anm. 58), 514.
318 Jens Herzer weiterer Impulse aus anthropologischer Forschung außerhalb des binnentheologischen Diskurses. 2.1 Wenn der Geist verstanden wird als Kraft (δύναμις) bzw. »Energie« (ἐνέργεια), die die Leiblichkeit des Menschen sub conditione mundi tangiert und verändert, dann sind unter heutigen Voraussetzungen etwa sozio-psychologische und neuro-physiologische Aspekte einzubeziehen, wenn gefragt werden soll, was der »Geist« eigentlich ist, wie die besondere Rede vom »Heiligen Geist« und der Vorstellung seines Wirkens im Leben der an Gott bzw. Christus Glaubenden vor diesem Hintergrund verstanden werden kann. 2.2. Personifizierende Redeweisen vom Geist in der biblischen Tradition machen aus ihm keine Person im hypostatischen Sinn, sondern sind konsequent als metaphorische Veranschaulichungen seiner Wirkungen in und am individuellen Selbst des Menschen zu interpretieren. 3. Ein »Glaube an den Heiligen Geist« setzt eine konkrete Vorstellung von Gottes Handeln voraus und lässt sich nicht unabhängig davon konkretisieren. Unter christlichem Vorzeichen ist zu präzisieren, dass die Rede vom Heiligen Geist eine Vorstellung von Gottes Handeln an und in Christus und damit von der Relation zwischen Gott und Christus voraussetzt. 3.1 Der Geist kann auch von daher keine »Person« in demselben Sinn sein, wie von Gott und Christus als Person die Rede ist, sondern das Wort »Geist« beschreibt das Bewusstsein der Bedeutung, welche die Vorstellung von Gottes Handeln an und in Christus im Leben der Menschen gewinnt und dadurch dem Leben eine neue Perspektive eröffnet (»Neuschöpfung« – καινὴ κτίσις). 3.2 Unter diesem Vorzeichen ist etwa auch die Einfügung des Filioque in das Nizäno-Konstantinopolitanum als angemessene und geradezu notwendige Konsequenz verstehbar. Doch darf auch dies nicht in einem gegenständlichen Sinn missverstanden werden, sondern sie bringt vielmehr zum Ausdruck, dass die Kraft des Geistes dem Handeln Gottes an und in Christus nicht nur zugrunde liegt, sondern von diesem Handeln aus auch an und in denen wirkt, die den daraus erwachsenen Zuspruch im Glauben für sich gelten lassen. 3.3 Diese christologische Fokussierung des Glaubens an den Heiligen Geist bleibt jedoch eine Herausforderung und ist keineswegs selbstverständlich. Sie ist bereits bei Paulus in höchstem Maße strittig, wenn er dezidiert um »sein Evangelium« (Röm 2,16) ringen muss,
Leben im Glauben – Leben im Geist 319
und sie ist es heute in weit höherem Maße, wie uns nicht zuletzt die jüdische Tradition ins Stammbuch schreibt. Zum Schluss noch einmal die Frage: Was bekennen wir mit den Worten »Ich glaube an den Heiligen Geist«? Auch wenn sich ihm diese Frage so nie gestellt hat, würde Paulus wahrscheinlich folgende Antwort geben: Glauben an den Heiligen Geist ist das Vertrauen auf die das Leben und das Bewusstsein erneuernde Schöpferkraft Gottes, durch die er im auferweckenden Handeln an Christus die lebensabträgliche und die Schöpfung zerstörende (Gegen-)Kraft der »Sünde« überwunden hat und die verloren gegangene Doxa für seine Schöpfung zurückgewinnt. Glauben an den Heiligen Geist kann daher gleichsam als Bewusstsein der Geistesgegenwart Gottes expliziert, ja »durchbuchstabiert« werden. Dieses Bewusstsein findet – quasi modo geniti, um den Gedanken vom Anfang noch einmal aufzunehmen – im Lebensgefühl der Freiheit81 seinen genuinen Ausdruck und holt unter dieser Voraussetzung die weiteren Topoi des dritten Artikels ein: Im Modus des Glaubens ereignet sich dieses Lebensgefühl in der Vergebung der Sünden und damit in der Rechtfertigung, es entfaltet sich im Modus der Hoffnung auf die Auferstehung und das ewige Leben, und im Modus der Liebe gestaltet es sich in der Gemeinschaft der Heiligen. Ob und inwiefern dies für Menschen unter den Bedingungen heutiger Lebensverhältnisse, die in der globalisierten Welt so extrem divergent geworden sind, immer noch relevant sein kann, muss sich durch eine sensible hermeneutische Einholung und eine zeitgemäße Plausibilisierung der traditionellen Aspekte des Geistes als Gegenstand eines christlichen Bekenntnisses erweisen, wo immer auch heute das Evangelium von Jesus Christus verkündet wird.
81
Vgl. Laube, Christliches Leben (s. Anm. 1), 343 f.
Christliches Leben im Geist Überlegungen zur Pneumatologie Martin Laube
1. Zur Geschichte der dogmatischen Pneumatologie »Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab« (Apg 2,1 – 4).
Diese pfingstliche Urszene aus der Apostelgeschichte führt sinnenfällig vor Augen, dass die erfahrene Wirksamkeit des von Christus verheißenen Geistes zu den prägenden Kennzeichen des frühen Christentums gehört.1 Die Macht des Geistes erweckt Jesus Christus von den Toten; in seiner dynamischen Wirkkraft ist der Auferstandene gegenwärtig. Durch die – in der Taufe empfangene – Gabe des Geistes werden die Glaubenden in die Gemeinschaft mit Christus aufgenommen und so schöpferisch erneuert; zugleich erweist sich der Geist als die bestimmende Kraft christlicher Existenz und Lebensführung: »Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« (2 Kor 3,17). Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, dass sich das Bekenntnis zum Heiligen Geist bereits in frühchristlichen Tauffragen und Glaubensregeln findet. Von dort aus wird es im Laufe des 4. Jahrhunderts – forciert durch den trinitarischen Streit – in die großen
1 Einen einführenden Überblick über die vielfältigen neutestamentlichen Aussagen zum Geist bietet U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 32016. Vgl. darüber hinaus insbesondere S. Vollenweider, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden. Überlegungen zu einem ontologischen Problem in der paulinischen Anthropologie, in: ZThK 93 (1996), 163 – 192; sowie J. Herzer, Leben im Glauben – Leben im Geist. Biblisch-theologische Aspekte der Geistesgegenwart Gottes, in diesem Band. Eine komprimierte, auf den systematisch-theologischen Ertrag zugespitzte Skizze der neutestamentlichen Pneumatologie(n) findet sich schließlich bei C. Danz, Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 208 – 215.
322 Martin Laube altkirchlichen Symbole und Bekenntnisse aufgenommen,2 gerät hier freilich in den Sog der Debatte um die hypostatische Personalität des Geistes.3 Die ausgeführte Lehre vom Heiligen Geist hingegen stellt ein ungelöstes Dauerproblem der Dogmatik dar. »Bei keinem anderen Lehrstück […]«, konstatiert etwa Christian Danz, »ist das Thema so umstritten wie bei der Pneumatologie«.4 So wird der Geist in einer Vielzahl unterschiedlicher Lehrzusammenhänge aufgerufen: Der Bogen spannt sich von der Trinitäts- und Schöpfungslehre über die Schriftlehre und Christologie bis hin zur Soteriologie, Ekklesiologie und Eschatologie. Kaum ein Topos, so scheint es, kommt ohne eine Berücksichtigung des Geistes aus. Im Gegenzug jedoch ist die Pneumatologie nur selten als eigenes Lehrstück ausgeführt worden. Insbesondere die altprotestantische Dogmatik kennt keine selbständige Lehre vom Geist; stattdessen wird – exemplarisch bei David Hollaz – unter dem Titel »De gratia spiritus sancti applicatrice« der soteriologische ordo salutis entfaltet.5 Darin spiegelt sich die reformatorische Ausrichtung des Geistwirkens auf die individuelle Aneignung des Werkes Christi im Glauben; entsprechend wird die Pneumatologie hier als »Funktion der Soteriologie«6 behandelt. Zudem erscheint notorisch unklar, welche Themenbestände eine ausgeführte Pneumatologie umfassen müsste und wo ein solches Lehrstück im Gefüge der Dogmatik angemessen zu verorten wäre. 2 Zur Vorgeschichte und Entstehung der altkirchlichen Bekenntnisse vgl. den Beitrag von P. Gemeinhardt, Vom Werden des Apostolikums, in diesem Band; sowie grundlegend W. Kinzig/C. Markschies/M. Vinzent, Tauffragen und Bekenntnis. Studien zur sogenannten »Traditio Apostolica«, zu den »Interrogationes de fide« und zum »Römischen Glaubensbekenntnis«, Berlin 1998. 3 Zum trinitarischen Streit und der Debatte um die Personalität des Geistes vgl. die Darstellung von V. H. Drecoll, Entwicklungen und Positionen in der Geschichte des Christentums, in: ders. (Hg.), Trinität, Tübingen 2011, 81 – 162, 92 – 117; sowie die knappe Skizze von Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 215 – 222. 4 C. Danz, Der Geist der Religion. Anmerkungen zur religionstheoretischen Funktion der Pneumatologie, in: R. Barth u. a. (Hg.), Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth, Tübingen 2015, 257 – 272, 257. 5 Vgl. dazu N. Slenczka, Die klassische Pneumatologie im Gespräch, in: C. Danz / M. Murrmann-Kahl (Hg.), Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2014, 109 – 129. 6 A. a. O., 110.
Christliches Leben im Geist 323
Davon legt schon das Apostolische Glaubensbekenntnis Zeugnis ab: Es reiht im dritten Artikel mit der Aufzählung von Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und ewigem Leben Themenbestände aneinander, die – im Vergleich zu den beiden anderen Artikeln – inhaltlich nur locker zusammengefügt erscheinen. Doch auch im weiteren Gang der Theologiegeschichte bleibt schwankend und unsicher, wie die christliche Rede vom Geist inhaltlich zu fassen ist und welche spezifische Aufgabe einer dogmatischen Lehre vom Geist zukommt.7 Die Reformation hatte den Geist vornehmlich auf die Aufgabe bezogen, durch Wort und Sakrament das von Christus erworbene Heil zu übermitteln und dessen innerliche Aneignung im Glauben zu bewirken. Diese soteriologische Funktionsbestimmung des Geistes gehört seither zu den charakteristischen Kennzeichen protestantischer Pneumatologie. Der Geist steht hier für die Einsicht des Glaubens, sich nicht eigenem Entschluss und Wollen zu verdanken: »Ich gleube, das ich nicht aus eigener vernunfft noch krafft an Jhesum Christum, meinen Herrn, gleuben oder zu im kommen kan. Sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelium beruffen, mit seinen gaben erleuchtet, im rechten glauben geheiliget und erhalten, gleich wie er die gantze Christenheit auff Erden berufft, samlet, erleuchtet, heiliget und bey Jhesu Christo erhelt im rechten einigen Glauben.«8
Mit dem Übergang in die Neuzeit jedoch wird die Bestimmung des Geistes als individueller »Aneignungsbewirker« zunehmend problematisch – insbesondere deshalb, weil das von Christus erwirkte Heil so wie ein objektives Heilsgut erscheint, das dem Menschen gleichsam dinglich übermittelt und mitgeteilt werden kann.9 In der Folge münden die aufgeklärte Wende zum Subjekt einerseits, die Entdeckung der Geschichte andererseits in eine programmatische Ausweitung der Pneumatologie. Zum einen tritt an die Stelle der bloßen Erinnerung an die heilsgeschichtliche Vergangenheit von Schöpfung und Versöhnung die Ausrichtung auf die – klassisch mit dem Wirken des Geistes verbundene – Gegenwart religiöser Er-
7 Zur folgenden theologiegeschichtlichen Skizze vgl. zum einen F. Wittekind, Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Pneumatologie, in: Danz / Murrmann-Kahl, Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit (s. Anm. 5), 13 – 67; sowie zum anderen Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 7 – 100. 8 M. Luther, Der kleine Katechismus, in: BSELK 852 – 910, 872. 9 Vgl. Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 52.
324 Martin Laube fahrung, Lebensführung und Sozialgestaltung.10 Zum anderen wird der Geist – auf je unterschiedliche Weise – zu einem geschichtlichen Entwicklungsprinzip transformiert. In der Folge verlagert sich das Augenmerk von der Differenz auf die Vermittlung von göttlichem und menschlichem Geist. Zudem rückt die Pneumatologie nun in den Bann der Frage, ob der geschichtliche Realisierungsprozess des Geistes an die Person Jesu gebunden bleibt oder diesen vielmehr überschreitet. Ursprungs- und Entwicklungsorientierung treten so auseinander. Während etwa Friedrich Schleiermacher das Wirken des Gemeingeistes als zunehmende Durchdringung der Welt mit dem von Christus ausgehenden Erlösungsimpuls bestimmt, betont gegenläufig Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Aufhebung des Geistes der Gemeinde in die gesellschaftliche Realisierungsdynamik intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse. Kurz gefasst: Im einen Fall wird die Welt in die Kirche »verschlungen«11, im anderen Fall geht die Kirche in die Welt auf. Beide verknüpfen die Pneumatologie so mit der Aufgabe, den Impuls des Geistes für die Praxis der individuellen Lebensführung und die Gestaltung einer »sittlichen« Sozialordnung fruchtbar zu machen. In kritischer Abgrenzung gegen diese christentums- und kulturgeschichtliche Ausrichtung der Pneumatologie lenkt die dialektische Theologie auf die reformatorische Linie zurück. Karl Barth stellt erneut die strikte Differenz von göttlichem und menschlichem Geist heraus. Der Heilige Geist bezeichne das unableitbare Geschehen der göttlichen Offenbarung, »sofern sie an uns und in uns Ereignis wird«.12 Seine Tat sei »das durch Gott selbst […] in uns gesprochene Ja zu Gottes Wort«.13 Im Hintergrund steht das Interesse, den Glauben als göttlichen Gnadenakt zu bestimmen und so in seiner Selbständigkeit gegenüber religiös-humanen Deutungsvollzügen zur Geltung zu bringen. Mit der zunehmend gegenständlich-realistischen Ausführung dieser Selbständigkeit setzt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 10 Vgl. dazu J. Dierken, Immanente Transzendenzen. Gott als Geist in den Wechselverhältnissen des sozialen Lebens, in: Danz / Murrmann-Kahl, Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit (s. Anm. 5), 235 – 250 (235 – 238). 11 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830 / 31), hg. v. R. Schäfer, in: ders., Kritische Gesamtausgabe (KGA) I / 13,2, Berlin / New York 2003, § 157,1, 457. 12 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I / 1, Zürich 1932, § 12.1, 475. 13 Ebd.
Christliches Leben im Geist 325
freilich eine erneute Ausweitung der Pneumatologie ein. Der Heilige Geist wird nun zum Schlüsselprinzip theologischer Wirklichkeitsdeutung überhaupt und steigt zur Integralfigur umfassender »trinitarische[r] Weltwirklichkeitserzählungen«14 auf. Charakteristisch für sie ist das Unterfangen, im Zuge einer Reformulierung der Trinitätslehre als theologischer »Wirklichkeitsstrukturtheorie« das Wirken des Geistes kosmologisch zu entgrenzen. So wendet sich etwa Wolfhart Pannenberg gegen die reformatorisch-soteriologische Engführung der Pneumatologie und setzt ihr ein schöpfungstheologisch dynamisiertes Verständnis des Geistes als »Ursprung aller Bewegung und allen Lebens«15 entgegen. Seine besondere Aufgabe bestehe darin, durch antizipative Eröffnung des Wissens um die eschatologische Vollendung den Glaubenden in die alles umfassende, trinitarisch strukturierte und am Ende der Geschichte sich als solche erweisende Wirklichkeit des Lebens Gottes aufzunehmen. Ihre Zuspitzung erhält diese Entwicklung schließlich dadurch, dass der Geist in zunehmend modernitätskritischer und zugleich »überdogmatischer« Wendung als heilschaffendes Passepartout zur Rettung aus den verschiedenen Öko-, Psycho- und Globalkrisen einer dämonisch pervertierten Weltgesellschaft in Dienst genommen wird.16 Das Spektrum dabei ist weit: Kosmo-ökologische Modelle stehen hier neben spirituell-ganzheitlichen, politisch-befreiungstheologischen 14 Wittekind, Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Pneumatologie (s. Anm. 7), 54. Wittekind hat hier vor allem die pneumatologischen Entwürfe von Wolfhart Pannenberg, Eberhard Jüngel und Jürgen Moltmann im Blick. Vgl. dazu auch die entsprechenden Ausführungen von Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 9 – 23. 15 W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 13. 16 Exemplarisch für diese Tendenz steht insbesondere die Pneumatologie von M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992. Welker sucht eine »realistische« Lehre vom Geist zu entwickeln, welche die »babylonische Gefangenschaft« (a. a. O., 57) der alteuropäischen Metaphysik überwindet und so eine neue Sensibilität für die vielfältigen Erfahrungen der rettenden Gegenwart von Gottes Geist gewinnt. Diese Gegenwart erweise sich vor allem in der Befreiung von den »dämonischen Mächten« (a. a. O., 191), in die sich das menschliche Leben verstrickt habe: »Sucht und Drogenprobleme, epidemische Gier, Verdrängung des Leidens und Selbstbetäubung konsumeristischer Gesellschaften auf vielen Ebenen der Lebensvollzüge und ökologischer Raubbau sowie exzessive Schuldenpolitik etwa verweisen auf solche ›dämonischen‹ Selbstgefährdungen und Selbstzerstörungen von Menschen und menschlichen Gesellschaften hin« (a. a. O., 190). Dieser Krisenkatalog wird sodann an anderen Stellen vielfältig ergänzt und erweitert (vgl. etwa nur a. a. O., 279 – 283).
326 Martin Laube und feministisch-leiborientierten Ansätzen.17 Ihr gemeinsamer Nenner besteht in einer inflationären Ausweitung des Geistwirkens, welche im Gegenzug die Konturen einer verantwortlichen Rede vom Geist zunehmend undeutlich werden lässt.
2. Gegenwärtige Ansätze Nachdem in den 1950er Jahren noch von einer allgemeinen »Geistvergessenheit«18 der evangelischen Theologie die Rede sein konnte, mündet die skizzierte Entwicklung zum Ausgang des 20. Jahrhunderts in eine regelrechte »Wiederkehr des Heiligen Geistes«19. Die Pneumatologie erfährt einen raschen Aufschwung; es entstehen zahlreiche Neuentwürfe.20 Allerdings ist diese Blüte zunächst nur von kurzer Dauer, ohne nachhaltige Klärungen oder Ergebnisse hervorzubringen – im Gegenteil: Die Problem- und Debattenlage auf dem Gebiet der Pneumatologie ist seither nochmals unübersichtlicher geworden. Seit einigen Jahren nun lässt sich ein erneutes Interesse an der Pneumatologie beobachten. Neben einem anhaltenden Unbehagen am diffusen Zustand des Lehrstücks dürfte dabei vor allem das ungebrochene Wachstum pfingstlich-charismatischer Bewegungen im Hintergrund stehen. Das Spektrum der Rede vom Geist ist hier überaus weit. Während konservative Gruppierungen das Wirken des Geistes darauf beschränken, dem Glaubenden die (buchstäblich verstandene) 17 Vgl. dazu neben der Skizze von Wittekind, Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Pneumatologie (s. Anm. 7), 58 – 66; auch die Darstellung von C. Henning, Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person. Studien zur Architektur protestantischer Pneumatologie im 20. Jahrhundert, Gütersloh 2000, 262 – 288. 18 Vgl. programmatisch O. A. Dilschneider, Die Geistvergessenheit der Theologie. Epilog zur Diskussion über den historischen Jesus und den kerygmatischen Christus, in: ThLZ 86 (1961), 255 – 266. 19 Vgl. H. Zahrnt, Geistes Gegenwart. Die Wiederkehr des Heiligen Geistes, München 1991. 20 Neben der bereits erwähnten Studie von Michael Welker vgl. W. Dantine, Der heilige und der unheilige Geist. Über die Erneuerung der Urteilsfähigkeit, Stuttgart 1973; H.-J. Kraus, Heiliger Geist. Gottes befreiende Gegenwart, München 1986; J. Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991; sowie H. Timm, Phänomenologie des Heiligen Geistes, 2 Bde., Gütersloh 1985 / 1992. – Vgl. dazu auch die Literaturüberblicke bei R. Koerrenz, Pneumatologie, in: VuF 41 (1996), 45 – 70; und D. Korsch, Gottes Geist – der Geist des Lebens. Aussichten und Schwierigkeiten gegenwärtiger Pneumatologie, in: ThR 58 (1993), 203 – 218.
Christliches Leben im Geist 327
biblische Wahrheit zu übermitteln, stellen andere Gemeinschaften die in der unmittelbaren persönlichen Erfahrung erlebbare machtvolle Präsenz und Dynamik des Geistes heraus. Neben dem grundlegenden Empfang der Geistestaufe spielen dabei vor allem die charismatischen Geistesgaben – vor allem Glossolalie, Heilung und Prophetie – eine besondere Rolle.21 Das kraftvolle, sich körperlich auswirkende Handeln des Geistes werde hier geradezu sinnlich wahrnehmbar und gelte »als Ausweis wirklicher, vom Menschen unverfälschter und somit authentischer Gottesgegenwart«.22 Vor allem in den USA hat sich mittlerweile eine überaus produktive pfingstlich-charismatische Theologie entwickelt. In ihrer Arbeit bleibt sie keineswegs nur auf das Lehrstück der Pneumatologie beschränkt; vielmehr hat sie eine insgesamt von der Erfahrung des Geistes ausgehende und an ihr orientierte »third article theology« im Sinn.23 Zu nennen sind hier insbesondere die Ansätze von Veli-Matti Kärkkäinen24 und Amos Yong.25 Freilich setzt deren Rezeption im deutschsprachigen Raum erst allmählich und zögerlich ein.26 Von einer intensiven und differenzierten Auseinandersetzung mit den Anstößen und Impulsen pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit und Theologie kann bisher noch keine Rede sein. Stattdessen bleibt es zumeist bei summarischen Verweisen. Zudem überwiegt auch dort eine Haltung kritischer Distanz, wo – wie etwa bei Michael Welker – die charismatische Betonung der machtvoll-universalen Präsenz des Geistes programmatisch übernommen wird. Besonderen Argwohn erweckt zum einen die einseitige Fixierung auf spektakulär-erratische
21 Vgl. dazu vor allem P. Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Göttingen 22018, 44 – 122. 22 Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 24. 23 Vgl. exemplarisch M. Habets (Hg.), Third article Theology. A Pneumatological Dogmatics, Minneapolis 2016. 24 Vgl. V.-M. Kärkkäinen, Pneumatology. The Holy Spirit in Ecumenical, International, and Contextual Perspective, Grand Rapids 2002; sowie ders., Spirit and Salvation, Grand Rapids 2016 (A Constructive Christian Theology for the Pluralistic World, Bd. 4). 25 Vgl. A. Yong, Spirit of Love. A Trinitarian Theology of Grace, Waco Texas 2012; ders., Renewing Christian Theology. Systematics for a Global Christianity, Waco Texas 2014; sowie ders., Discerning the Spirit(s), Eugene Oregon 2019. 26 Vgl. etwa J. Haustein / G. Maltese (Hg.), Handbuch pfingstliche und charismatische Theologie, Göttingen 2014.
328 Martin Laube Geistphänomene, zum anderen die kriterienlose Berufung auf subjektiv-unmittelbare Geisterfahrungen.27 Mit dem Mut zur vereinfachenden Zuspitzung lassen sich in der deutschsprachigen Theologie gegenwärtig drei Diskursstränge unterscheiden, die – scheinbar gänzlich berührungslos – nebeneinander herlaufen und auf geradezu konträre Weise Aufgabe und Wirken des Geistes bestimmen. Ein erster, recht schmaler Strang hält – in der Nachfolge Falk Wagners28 – das Erbe der idealistischen Geistphilosophie wach. Der Geist dient hier nicht mehr zur Selbstvergegenwärtigung des Göttlichen am Ort des Menschlichen; vielmehr wird er als Struktur- und Realisierungsprinzip menschlicher Freiheit und Selbständigkeit begriffen. Im Hintergrund steht die spekulative Aufhebung des klassischen Gottesgedankens in die pneumatologische Figur symmetrisch-vermittelter Selbstbestimmung: Der Geist verwirklicht sich in der Etablierung wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse in den sozialen Ordnungsformen von Kultur und Gesellschaft. Entsprechend kommt der Pneumatologie die Aufgabe zu, die Realisierung des christlichen Geistes in die geschichtliche Entwicklungsdynamik der modern-liberalen Gesellschaft zu übersetzen. In konsequenter Umsetzung gestaltet sie sich damit als kritische Freiheits- und Sozialethik.29 Der zweite, sehr viel breitere Strang knüpft – in Aufnahme von Jürgen Moltmann und Michael Welker – an die schöpfungstheologische Ausweitung der Pneumatologie an. In kritischer Wendung gegen die christologisch-soteriologische Engführung des Geistes wird er als umfassende, die gesamte Schöpfung durchwaltende göttliche Lebens-, Erneuerungs- und Vollendungskraft zur Geltung gebracht.30 Damit 27
Vgl. Welker, Gottes Geist (s. Anm. 16), 25 – 27. Vgl. insbesondere F. Wagner, Sozialethik als Theorie des Geistes, in: ders., Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 373 – 393. – Zur Theologie Falk Wagners insgesamt vgl. U. Barth, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus. Beobachtungen zur Christentumstheorie Falk Wagners, in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 167 – 199; C. Danz / M. Murrmann-Kahl, Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne, Tübingen 2015 sowie jüngst M. Schnurrenberger, Der Umweg der Freiheit. Falk Wagners Theorie des christlichen Geistes, Diss. Göttingen 2019. 29 Vgl. zu diesem Programm näherhin Dierken, Immanente Transzendenzen (s. Anm. 10), in: Danz / Murrmann-Kahl, Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit (s. Anm. 5), 235 – 250. 30 Vgl. etwa W. Beinert / U. Kühn, Ökumenische Dogmatik, Leipzig / Regensburg 2013, 362: »Der Geist Gottes ist nicht erst am Werk, wo es um die 28
Christliches Leben im Geist 329
soll die protestantische Sprödigkeit im Umgang mit dem Geist korrigiert werden. Angesichts der doppelten Herausforderung durch die charismatischen Pfingstkirchen einerseits, das zunehmende Interesse an »spirituellen« Formen und Erlebnissen andererseits, gelte es, sich »auf den Weg zu neuer Vertrautheit mit der Wirklichkeit des Geistes [zu] begeben«.31 Dazu sei es freilich notwendig, die »kontrollsüchtigen«32 Zugriffsraster der herkömmlichen Dogmatik zu überwinden und an ihre Stelle ein neues, sensibles Gespür für die reichhaltige Fülle und Wirksamkeit des Geistes zu setzen. Ihren »Sitz im Leben« hat diese Fassung der Pneumatologie vor allem in der Ökumene.33 Zum einen kommt hier den Erfahrungen Erlösung und die Rettung des von Gott abgefallenen Menschen der Sünde geht. Gottes Geist ist am Werk, wo Geschaffenes entsteht und es das Prädikat ›gut‹ erhält. Gottes Geist ist insbesondere am Werk, wo er zu Menschen kommt […]. Gottes Geist ist am Werk, wo in der Welt Erneuerung geschieht.« – Kennzeichnend ist dabei eine auffällige Zurückhaltung gegenüber der klassischen personalen Bestimmung des Geistes. Zwar ist durchgängig von einem heilschaffenden Wirken des Geistes die Rede, welches die Schöpfung erfüllt und die Menschen ergreift; entsprechend wird er in vielfältigen Variationen als (neu)schöpferische Lebensmacht, als verwandelnde Wirkkraft oder gar als dynamisches Kraftfeld beschrieben. Die Personalität des Geistes wird jedoch meist umgangen. Offenkundig schlägt sich darin das Bemühen nieder, eine unsachgemäße Vergegenständlichung des Geistes zu vermeiden: Der Geist ist kein Gespenst. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass weder die biblischen Texte noch die frühchristlichen Bekenntnisse eine personale Auffassung des Geistes voraussetzten (vgl. dazu insbesondere die entsprechenden Ausführungen von J. Herzer, Leben im Glauben – Leben im Geist, in diesem Band). Diese verdanke sich vielmehr erst den trinitätstheologischen Debatten der Alten Kirche, und das westliche Christentum habe sich – der Orientierung am augustinischen vinculum caritatis wegen – damit ohnehin stets schwergetan (vgl. M. Murrmann-Kahl, Der ungeliebte Dritte im Bunde? Geist und Trinität, in: ders./Danz, Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit [s. Anm. 5], 85 – 108). – Die Ausnahme von der Regel bildet Henning, Die evangelische Lehre (s. Anm. 17). Er zielt gerade darauf ab, ein unter modernen Bedingungen plausibles Verständnis der Personalität des Geistes zu entwickeln. Im Ergebnis gelangt er dabei zu einer Reformulierung der klassischen Inspirationslehre am Leitmotiv des testimonium Spiritus Sancti internum (vgl. a. a. O., 427 – 431). 31 Welker, Gottes Geist (s. Anm. 16), 15. 32 A. a. O., 57. – Welker benennt näherhin drei »alteuropäische« Denkformen, die sich lähmend auf die Lehre vom Geist ausgewirkt hätten: die metaphysische Uniformisierung, die personalistische Engführung und die sozialmoralische Funktionalisierung des Geistes (vgl. a. a. O., 49 – 57). 33 Vgl. dazu die knappe Skizze von R. Bernhardt, Evangelische Spiritualität im ökumenischen Horizont, in: P. Zimmerling (Hg.), Handbuch
330 Martin Laube gemeinschaftlicher Verbundenheit im Geist von jeher eine zentrale Bedeutung zu.34 Zum anderen hat sich die Besinnung auf den neuschöpferischen »Geist des Lebens« als fruchtbarer Impuls für das ökumenische Gespräch mit den orthodoxen Kirchen erwiesen. Auch im Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche scheint die Hinwendung zur Pneumatologie neue Perspektiven zu eröffnen, um die erstarrten Fronten im Kirchen- und Amtsverständnis zu überwinden.35 Einen weiteren Ankerpunkt bildet darüber hinaus die Religionstheologie. Die Rede von der universalen Wirksamkeit des Geistes dient hier als »hermeneutischer Schlüssel« zur Interpretation und Integration religiöser Diversität – mit der Pointe, durch die Verschränkung von universaler Pneumatologie und partikularer Christologie eine pluralismusoffene Religionstheologie zu konzipieren, welche den Aporien pluralistischer Ansätze entgehen zu können meint.36 Seit einigen Jahren bildet sich freilich noch ein dritter Strang heraus. Er verwahrt sich gegen die kosmologisch-ganzheitliche Entgrenzung des Geistes und lenkt stattdessen zur klassischen christologisch-soteriologischen Bestimmung des Geistes zurück – freilich unter Korrektur ihrer altprotestantisch-substantialen Prämissen. Im Hintergrund steht ein massives Unbehagen an der skizzierten Ausweitung der Rede vom Geist. Sie lasse nicht nur den genuinen Sinn der christlichen Rede vom Geist unkenntlich werden; in der Folge kehre Evangelische Spiritualität, Bd. 2: Theologie, Göttingen 2018, 591 – 607. Eine ausführlichere Darstellung bietet Kärkkäinen, Pneumatology (s. Anm. 24), 67 – 104. – Allerdings darf auch nicht verschwiegen werden, dass die gegenwärtig zu beobachtende Karriere des Paradigmas »trinitarischer Ekklesiologie« eine Wende im ökumenischen Dialog markiert und die bisherige Leitfunktion der Pneumatologie zunehmend in den Hintergrund treten lässt. 34 Von Anbeginn hat sich die ökumenische Bewegung als Ausdruck eines besonderen Geistwirkens verstanden. So erklärt die Erste Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung 1927 in Lausanne: »Gottes Geist ist in unserer Mitte gewesen. Er war es, der uns hier zusammengerufen hat« (Lausanne. Erste Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, 3. – 21. August 1927, in: L. Vischer [Hg.], Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung, München 1965, 29 – 42 [30]). 35 Vgl. auf römisch-katholischer Seite exemplarisch D. Sattler, Pneuma. Geisttheologische Reflexionen in der Ökumenischen Theologie, in: M. Dürnberger u. a. (Hg.), Stile der Theologie. Einheit und Vielfalt katholischer Systematik in der Gegenwart, Regensburg 2017, 293 – 304. 36 Vgl. R. Bernhardt, Trinitätstheologie als Matrix einer Theologie der Religionen, in: ÖR 49 (2000), 287 – 301; sowie ders., Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion, Zürich 2005. – Zur Kritik vgl. die Bemerkungen von Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 36 – 39.
Christliches Leben im Geist 331
zudem das alte Problem der Scheidung der Geister wieder zurück. Letzten Endes löse die pneumatologische Ausweitung zum kosmologischen Universalprinzip den Geist selbst auf, »da er, wenn er alles ist, eben auch nichts mehr ist«.37 Im Gegenzug wird der Geist wieder pointiert auf den Akt der individuellen Heilsaneignung bezogen. Allerdings lasse sich diese Aneignung nicht mehr als bloße Übermittlung und Aufnahme eines vorgängigen »Heilsgutes« verstehen. Vielmehr gelte es, der modernen Wende zu einem kommunikativen Religionsbegriff Rechnung zu tragen und die Aneignung als aktive Teilnahme am christlich-religiösen Kommunikationsprozess auszubuchstabieren. Der Geist steht dann für den produktiven Gebrauch religiöser Rede. Sein Kommen vollzieht sich, indem die durch ihn repräsentierte Erinnerung an Jesus Christus von den Glaubenden individuell aufgenommen, produktiv umgebildet und kommunikativ weitergeführt wird. In der Folge verwandelt sich der einstige »Aneignungsbewirker« in eine symbolische Deutungsfigur, deren Aufgabe darin besteht, die innere Struktur des religiösen Kommunikationsprozesses zu beschreiben: »Der Heilige Geist appliziert […] nicht die Heilsgüter auf die einzelnen Glaubenden, er ist nicht das Element nachgeordneter gnädiger Zuteilung des Heils, sondern er löst gerade die Idee einer solchen Verteilung von Heilsgütern auf, indem er […] die Struktur des Geschehens des Heils selbst ist und klärt.«38 Diese funktionale Ausrichtung des Geistes auf das Geschehen christlich-religiöser Kommunikation markiert den gemeinsamen Nenner einer Reihe neuerer pneumatologischer Ansätze, die gleichwohl in der Durchführung höchst unterschiedliche Richtungen einschlagen. Ein erster Hinweis findet sich bei Johannes Fischer, der – bereits 1994 – seine Ethik vom Gedanken des »geistbestimmten Lebens« her entwickelt. Im Anschluss an Paulus formatiert er die ethische Leitfrage nach dem Guten als »die Frage nach dem Geist, aus dem die christliche Gemeinde lebt, und nach dem Leben, zu dem sie durch diesen Geist bestimmt ist«.39 Der Geist kommt so nicht als gegenständliches Gegenüber in den Blick. Vielmehr haben wir ihn »als
37
Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 94. F. Wittekind, Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 211. 39 J. Fischer, Leben aus dem Geist. Zur Grundlegung christlicher Ethik, Zürich 1994, 11. 38
332 Martin Laube das uns zu unserer und in unserer Kommunikation Bestimmende«40 gleichsam immer schon »im Rücken«.41 Er fungiert als das atmosphärische Medium, welches »der konkreten Kommunikation ihre Bestimmtheit und Prägung gibt«.42 Demgegenüber setzt Michael Moxter bei der Einsicht an, dass in der christlichen Verkündigung und Überlieferung das biblische Heilsgeschehen nicht nur wiedererzählt, sondern vielmehr weitererzählt wird.43 Das bedeutet: Die erinnernde Vergegenwärtigung Christi vollzieht sich im Modus deutender Aneignung und Fortschreibung eines geschichtlichen Interpretationsprozesses. Für eben diese Struktur zeichenvermittelter Repräsentation – statt unmittelbarer Präsenz – stehe die Figur des Geistes. Der Pneumatologie komme die Aufgabe zu, die darin beschlossenen Implikationen und Konsequenzen zur Darstellung zu bringen: Der christliche Kommunikations- und Überlieferungszusammenhang sei durch eine ebenso unhintergehbare wie unerschöpfliche Offenheit variierender Um- und Neubildungen gekennzeichnet – mit der entscheidenden Pointe, dass sich allein im Vollzug solcher Um- und Neubildungen die geschichtliche Kontinuität des Christentums realisiere.44 In vergleichbarer Weise bestimmt Christian Danz die Funktion des Geistes. Allerdings orientiert er sich dabei nicht an der Semiotik; seinen theoretischen Rahmen bildet vielmehr das Verständnis der Religion als eines – sich in seinen Gehalten selbst deutenden – Vollzugs von Selbsterschlossenheit. Dieser Vollzug sei nun durch die innere Spannung gekennzeichnet, an geprägte Traditionsbestände anknüpfen zu müssen, die im Akt ihrer Aneignung zugleich transformiert und umgebildet würden. Die Figur des Geistes bringe eben diese Spannung 40
A. a. O., 51. Ebd. – Für Fischer liegt darin auch die eigentümliche Ungegenständlichkeit des Geistes begründet, die es ihrerseits prinzipiell so schwierig mache, ihn theologisch befriedigend zu fassen. 42 Ebd. – In seiner späteren Theologischen Ethik nimmt Fischer diesen Ansatz in der Weise auf, dass er den Geist als »umfassendsten Horizont sittlicher Orientierung und ethischer Reflexion« bestimmt (vgl. ders., Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002, 132). 43 Vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie (HUTh 38), Tübingen 2000, 403. Moxter greift damit auf eine Unterscheidungsfigur von I. U. Dalferth zurück (vgl. ders., Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg i. Br. 1993, 215). 44 Vgl. dazu insbesondere Moxter, Kultur als Lebenswelt (s. Anm. 43), 382 – 409. 41
Christliches Leben im Geist 333
zur Darstellung. Sie stehe so für die wechselseitige Verschränkung von notwendiger Traditionsbindung und kreativer Umbildung im christlichen Überlieferungsprozess. Entsprechend komme der Pneumatologie die Aufgabe zu, mit der geschichtlichen Wandelbarkeit die darin sich realisierende Identität des Christentums zu reflektieren.45 Folkart Wittekind lässt hier schließlich eine leicht veränderte Akzentsetzung erkennen. Er greift ebenfalls auf das religiöse »Selbstdurchsichtigkeitsparadigma« zurück, bezieht es aber konsequent auf die Selbstaufklärung des gelingenden Vollzugs religiöser Rede.46 Dieser sei an die dreifache Bedingung gebunden, dass es erstens eine identifizierbare religiöse Sprache und Semantik gibt, in deren Gebrauch sich zweitens der Einzelne existentiell so angeredet erfährt, dass er drittens seinerseits dazu übergeht, diese Sprache in eigener Produktivität und Lebendigkeit zu verwenden. Die religiösen Deutungssymbole Gott, Sohn und Geist dienen dazu, je eines dieser Momente zu reflektieren. Entsprechend steht der Gottesgedanke für die Autonomie religiöser Rede und das Christusbekenntnis für die lebendige Anrede an den Einzelnen, während dem Geist die Aufgabe zukommt, die symbolschaffende Kreativität des Einzelnen im Gebrauch religiöser Rede zur Darstellung zu bringen. Nicht anders als Moxter und Danz optiert dabei auch Wittekind für eine deutliche Bindung der Pneumatologie an die Christologie: »Denn die Möglichkeit des freien, eigenständigen Gebrauchs und der eigenen Formulierung und Verwendung religiöser Symbole ergibt sich christlich erst durch die christologische Zuwendung und Anrede in der religiösen Kommunikation.«47 Im Unterschied zu Moxter und Danz jedoch bezieht er den Geist nicht auf die Verschränkung von Tradition und Innovation, sondern betont einseitig das Moment der produktiven Um- und Fortbildung religiöser Sprache.48 Zugespitzt formuliert: Der Geist gilt
45 Vgl. Danz, Der Geist der Religion (s. Anm. 4), 269 f. – Vgl. auch ders., Der Heilige Geist und die Realisierung des Glaubens in der Geschichte. Überlegungen zur systematischen Funktion der Pneumatologie, in: HTS Teologiese Studies / Theological Studies 72 (2016), Nr. 4, 1 – 7. Eine ausführliche Darstellung findet sich schließlich in: ders., Gottes Geist (s. Anm. 1). 46 Vgl. zum folgenden insbesondere Wittekind, Theologie religiöser Rede (s. Anm. 38), 209 – 224. 47 A. a. O., 212. 48 Für die Kontinuität der Tradition steht bei Wittekind hingegen die geschichtliche Verstehensgemeinschaft der Kirche; vgl. Wittekind, Theologiegeschichtliche Überlegungen (s. Anm. 7), 225 – 244.
334 Martin Laube ihm weniger als geschichtliches Identitätsprinzip denn vielmehr als kommunikatives Kreativitätsprinzip des Christentums.
3. Der Geist als Kommunikationsmedium des christlichen Lebens Die folgenden Überlegungen nehmen die Grundrichtung der zuletzt skizzierten Ansätze auf, nach der inflationären Entschränkung des Geistes im 20. Jahrhundert wieder in die Bahnen der christologisch-soteriologischen Lehrtradition zurückzulenken und die Rede vom Geist auf die innere Struktur des christlichen Kommunikationsund Überlieferungsprozesses zu beziehen. Die Aufgabe des Geistes besteht – klassisch gesprochen – in der erinnernden Vergegenwärtigung von Person und Werk Jesu Christi; ihm obliegt die Aneignung des extra nos konstituierten Heils in nobis. Das geschieht, indem die Erinnerung an Christus in der christlich-religiösen Kommunikation tradiert, angeeignet und weitergegeben wird. Im Hintergrund steht ein strikt kommunikativ gefasster Religionsbegriff, der unter »Glaube« das aneignende Verstehen religiöser Rede begreift. Unbeschadet der Behauptung innerer religiöser »Erfahrungen« gewinnt der Glaube – auch für sich selbst – allein im Modus und Vollzug religiöser Kommunikation fassbare Gestalt, also in der selbständigen Aufnahme, Umbildung und Verwendung der überkommenen religiösen Symbolsprache.49 Mithin wirkt der Geist dort, wo es zu einem solchen selbständigen Gebrauch religiöser Rede kommt und im Akt des aneignenden Verstehens der geschichtliche Traditionszusammenhang christlich-religiöser Kommunikation produktiv weitergeführt wird. Auf diese Weise gelingt es, die ausufernde Willkür der Rede vom Geist in die Schranken zu weisen und seinem Wirken eine inhaltlich bestimmte Funktion zuzuweisen. Die christologisch-soteriologische Pointe der reformatorischen Pneumatologie wird dabei zugleich aufgenommen und umgebildet: An die Stelle des einstigen »Aneignungsbewirkers« tritt nun ein Verständnis des Geistes als reflexiver Deutungsfigur mit der Aufgabe, die geschichtliche Kontinuität des christlich-religiösen Kommunikationsprozesses zu repräsentieren. Das vorneuzeitliche Inspirationsmodell kann so als überwunden gel49 Vgl. dazu insbesondere Wittekind, Theologie religiöser Rede (s. Anm. 38), 56 – 74; sowie Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 118 – 130.
Christliches Leben im Geist 335
ten: Weder ist der Geist ein übernatürliches Gespenst, noch vollzieht sich die religiöse Aneignung als passiver Empfang einer dinglichen »Heilsgabe«. Stattdessen eröffnet gerade die Bindung des Geistes an die religiöse Kommunikation einen theoretischen Rahmen, der es erlaubt, drei zentrale Motive zu schärfen, die für eine in reformatorischer Tradition stehende Lehre vom Geist in besonderer Weise charakteristisch sind: die Betonung (1) der Sozialität, (2) der Medialität und (3) der Kreativität des Geistes. 1. Ein charakteristischer Grundzug der neutestamentlichen – insbesondere paulinischen – Rede vom Heiligen Geist besteht darin, mit ihm das durch und in Christus erneuerte Leben des Christen und der christlichen Gemeinde zu beschreiben. Christliche Existenz ist als solche geistbestimmte Existenz: »Die Christen haben einen Geist empfangen, dessen Ursprung bei Gott […] und Christus liegt […], so dass der Geist […] nun die bestimmende Kraft christlicher Existenz ist.«50 So sehr also der Geist nach außen die entscheidende Differenz zwischen Christen und Nichtchristen markiert, so sehr eignet ihm nach innen ein egalitär-integrativer Richtungssinn. Das Wirken des Geistes begründet keine charismatischen Klassen- oder Rangunterschiede, sondern benennt vielmehr die allen Glaubenden gemeinsame und sie zur Gemeinschaft verbindende Signatur christlicher Existenz.51 Er verbürgt den Zusammenhang der christlichen Gemeinde, indem er den abwesenden Christus anwesend sein lässt und die Glaubenden mit ihm verbindet. In eben diesem Sinne bestimmt Friedrich Schleiermacher den christlichen Geist als »Gemeingeist«: Er sei das belebende Einheitsprinzip52 des christlichen Gesamtlebens und wirke als dessen »innere[r] Antrieb[.][,] im gemeinsamen Mit- und gegenseitigen Aufeinanderwirken immer mehr Eines zu werden«.53 Folglich werde der Geist »nicht Einigen gleichsam zerstreut und unzusammenhängend beigelegt als eine bald vorhandene und bald wieder verschwindende Erscheinung, sondern das Vorhandensein desselben in jedem ist die Bedingung seines Antheils an jenem Gesammtleben; denn nur wenn in einer Person dieser Gemeingeist des 50
Schnelle, Theologie des Neuen Testaments (s. Anm. 1), 255. Vgl. a. a. O., 254: »Für Paulus sind die Einsicht und die Erfahrung grundlegend, dass mit und seit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten der Geist Gottes wieder wirkt. Die Gegenwart des Heils zeigt sich im gegenwärtigen Wirken des Geistes. Das Pneuma fungiert bei Paulus als Inbegriff für den neuen Status des Glaubenden als geistbestimmte Existenz.« 52 Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 5); § 121,1, 280. 53 A. a. O., § 121 Leitsatz, 278. 51
336 Martin Laube Ganzen anfängt sich wirksam zu beweisen, weiß man, daß sie ein Bestandtheil des Ganzen ist, so wie auch wenn sich einer diesem Ganzen anschließt, man für ihn der Mittheilung des heiligen Geistes sicher ist.«54
Die kommunikative Fassung des Religionsbegriffs erlaubt es, dieses pneumatologische Grundmotiv pointiert zur Geltung zu bringen, ohne im Gegenzug überzogenen romantischen Gemeinschaftsidealen das Wort zu reden oder unter der Hand normative »charismatische Standards« für das rechte Christsein zu installieren. Das christliche Gesamtleben erscheint nun als ein geschichtlich bedingter, sozial vermittelter und semiotisch strukturierter Zeichen- und Kommunikationsprozess, in den der Glaubende mit seinem Denken, Reden und Handeln immer schon hineinverwoben ist und den er selbst wieder fortbildet und weiterführt. Der christliche Glaube »lebt« gleichsam nur im Kontext und Horizont einer geschichtlichen Kommunikationsgemeinschaft. Er ist auf überlieferte Symboltraditionen und gemeinsam geteilte Praxisformen angewiesen, die er im Zuge ihrer je individuellen Aneignung zugleich produktiv fortschreibt und erneuert. Für eben diese kommunikative Struktur des christlichen Gesamtlebens steht der Begriff des Geistes. Seine Aufgabe bezieht sich auf die kommunikative Trias von Tradition, Aneignung und Fortsetzung christlich-religiöser Rede: Er ist dort am Werke, wo eine vorgängige Überlieferung individuell angeeignet und im Zuge dieser Aneignung zugleich umgebildet und weitergeführt wird. Der Geist repräsentiert so die innere Dynamik und »Triebkraft« des christlichen Gesamtlebens. Dieses gewinnt gerade im Modus der je individuellen Anknüpfung und Fortschreibung seine geschichtlich erkennbare Kontinuität und Gestalt. Darin liegen zwei markante Konsequenzen beschlossen. Zum einen zielt das Wirken des Geistes durchaus auf den Einzelnen – aber nicht, um ihn durch besondere religiöse Erfahrungen von der christlichen Gemeinschaft zu separieren, sondern um diese Erfahrungen sprachlich artikulieren und mitteilen zu können. Entsprechend besteht bereits das Wunder der lukanischen Pfingsterzählung nicht darin, dass den Jüngern durch die Ausgießung des Geistes eine ekstatische Sonderbegabung zuteil würde. Vielmehr lässt der Geist sie in den verschiedenen Muttersprachen der Anwesenden reden und ermöglicht so die gemeinschaftsgründende Verständlichkeit ihrer Verkündigung. Mithin stellt es ein gravierendes Missverständnis dar, das Wirken des 54
A. a. O., § 121,2, 281.
Christliches Leben im Geist 337
Geistes gegen die sozial-kommunikative Einbettung und Vermittlung des Glaubens ausspielen zu wollen. Der Geist eröffnet keine den Horizont religiöser Kommunikation überspringende oder übersteigende Form unmittelbarer Gottesbegegnung, sondern garantiert vielmehr – gerade umgekehrt – »die Vermittelbarkeit, die Kommunizierbarkeit, die freie Selbstanwendbarkeit und die geschichtliche Anbindung jedes menschlichen religiösen Empfindens«.55 Die kommunikative Bestimmung des Geistes schließt zum anderen eine egalitäre Pointe ein. Im Umfeld des pfingstlich-charismatischen Christentums wird das Wirken des Geistes vornehmlich an besonders spektakuläre Phänomene und Erlebnisse geknüpft. Hinzu kommt eine charakteristische Betonung der pneumatisch-spirituellen, auf persönlichen Geistempfang ausgerichtete Erfahrungsdimension des Glaubens. In der Folge nimmt die Berufung auf den Geist die Gestalt eines Distinktionsmerkmals an, um die – kraft solcher Geistpräsenz – besonders vitale charismatische Frömmigkeitspraxis vom traditionalistisch erstarrten und spirituell verdorrten »Gewohnheitschristentum« volkskirchlicher Provenienz unterscheiden zu können. Die dogmatische Ausrichtung des Geistes auf die Struktur des christlich-religiösen Kommunikationsprozesses setzt demgegenüber einen strikt gegenläufigen Akzent. Hier geht es nicht um besonders exzeptionelle Geisterfahrungen, sondern um die alltägliche »Normalität« christlicher Kommunikation und Frömmigkeit. Zugespitzt formuliert: Das Wirken des Geistes zielt nicht auf außeralltägliche Zustände, sondern prägt vielmehr die alltägliche Praxis des christlichen Gesamtlebens. Nicht der charismatische Ausnahmefall, sondern der routinierte Regelfall christlicher Frömmigkeit und Gemeinschaft ist sein Werk. Damit verbietet es sich, im Umgang mit dem Geist nüchtern-zurückhaltend gestimmte Frömmigkeitstraditionen als erstarrte Schwundformen eines vermeintlich »wahren« Christseins zu diskreditieren oder gar zu desavouieren.56 2. Zu den markanten Kennzeichen der reformatorischen Pneumatologie gehört die Einsicht in die unhintergehbare Medialität des Geistes. Die Aufgabe des Geistes besteht in der heilschaffenden Vergegenwärtigung Jesu Christi; diese Vergegenwärtigung wiederum vollzieht sich allein im Gebrauch kulturell geprägter, sinnlich wahrnehmbarer Medien. In diesem Sinne heißt es in Artikel V der Confessio August55
A. a. O., 215 f. Vgl. dazu auch Moxter, Kultur als Lebenswelt (s. Anm. 43), 389 f.
56
338 Martin Laube ana, Gott habe »das predig ampt eingesatzt, Evangelium und Sacramenta geben, dadurch als durch mittel der heilig geist wirckt und die hertzen tröst und glauben gibt, wo und wenn er wil«.57 Der Geist wird hier so mit dem Vollzug der Verkündigung verschränkt, dass sich sein glaubensstiftendes Wirken nicht anders als vermittels des Gebrauchs von Wort und Sakrament vollzieht. Das bedeutet: Nach reformatorischer Auffassung kann von einer innerlich-unmittelbaren, die »äußeren« Vermittlungsgestalten überspringenden Wirksamkeit des Geistes keine Rede sein.58 Wort und Sakrament sind nicht lediglich ablösbare »Hüllen« eines davon unterscheidbaren Geistwirkens; vielmehr fällt dieses Wirken mit dem Gebrauch von Wort und Sakrament selbst zusammen. Die Pneumatologie erweist sich mithin darin als Lehre vom Geist, »daß sie zugleich Theorie der Vermittlung wie auch Theorie der Medien ist«.59 Indem sich das Wirken des Geistes medial vermittelt 57
CA V, BSELK 100. Bei näherem Hinsehen zeigen sich hier durchaus innerreformatorische Unterschiede. So betont zwar auch Johannes Calvin den konstitutiven Zusammenhang von Geist und Wort (vgl. ders., Institutio Christianae Religionis / Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. und bearb. v. O. Weber. Im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu hg. v. M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 22009, I,9, 49 – 51). Dann jedoch fügt er hinzu, dass Gott wohl uns an diese »geordnete Art der Unterweisung« (a. a. O., IV,1,5, 568) gebunden habe, er selbst aber keineswegs »an solche äußeren Mittel gefesselt« (ebd.) sei. Entsprechend erklärt auch die Confessio Helvetica posterior, nachdem sie das Wirken des Geistes zunächst an die Verkündigung des Evangeliums geknüpft hatte: »Wir geben allerdings zu, Gott könne Menschen auch ohne die äußere Verkündigung erleuchten, wann und welche er wolle: das liegt in seiner Allmacht« (Das Zweite Helvetische Bekenntnis, hg. v. R. Zimmermann / W. Hildebrandt, Zürich 1936, 15). Allerdings muss dieses pneumatologische »Extra Calvinisticum« nicht notwendig zu einem unvereinbaren Gegensatz zwischen lutherischem und reformiertem Geistverständnis verfestigt werden. So schlägt U. H. J. Körtner vor, die lutherische These, »wonach sich der Geist an das Wort gebunden habe« (ders., Dogmatik, Leipzig 2018, 472), und die reformierte Gegenthese, »wonach das Wort ohne den Geist nichts vermöge« (ebd.), als zwei einander ergänzende Anliegen zu begreifen, die nicht vereinseitigt werden dürften. Während die lutherische Seite die Medialität des Geistes in den Vordergrund rücke, betone die reformierte Seite die notwendige Unterscheidung von Text und Interpretation. 59 M. Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie, in: ZThK 101 (2004), 465 – 488 (487). – Vgl. auch P. Stoellger, Die Medialität des Geistes oder: Pneumatologie als Medientheorie des Christentums, in: H. Springhart / G. Thomas (Hg.), Risiko und Vertrauen / Risk and Trust (Festschrift M. Welker), Leipzig 2017, 139 – 174. 58
Christliches Leben im Geist 339
vollzieht, gehört zur Pneumatologie die doppelte Aufgabe, zum einen die Funktion eines Mediums zu klären, zum anderen die unterschiedlichen Arten von Medien zu bedenken, die im religiösen Kommunikationsprozess gebraucht werden und Verwendung finden. Medien sind »Vermittlungsformen«.60 Sie haben die Aufgabe, etwas anderes zugänglich zu machen und darzustellen. Ein anspruchsvoller Medienbegriff fußt dabei auf der Einsicht, dass diese Darstellung eine unhintergehbare Verschränkung von Darstellungsform und Dargestelltem – von Sicht und Gesehenem, Noesis und Noema61 – impliziert. Medien sind nicht lediglich transparente »Fenster«,62 sondern symbolische Zeichen, die etwas als etwas gegeben sein lassen. Mithin erweist sich die Vorstellung einer reinen Präsenz als Illusion. Die Wirklichkeit ist nicht unmittelbar als solche »da«, sondern wird erst in der je spezifischen Brechung durch bestimmte Medien zugänglich. Das bedeutet: Präsenz ist nur als Repräsentation möglich, so also, dass im Modus der vergegenwärtigenden Darstellung – und mithin unter Voraussetzung einer Distanznahme – etwas als Gegebenes vor Augen tritt. Im Gegenzug verweist eben diese Distanz auf ein Moment konstitutiver Uneinholbarkeit des Dargestellten in der Darstellung: »Stets geht es um Überwindung von Abwesenheit, nie aber lässt sich etwas repräsentieren, ohne Formen der Appräsentation und der Apräsenz mitzusetzen.«63 Anders formuliert: Jede Darstellung muss, um etwas sichtbar werden zu lassen, anderes abblenden. Sie ist gleichsam nur möglich, indem sich das von ihr Dargestellte grundsätzlich entzieht. Für das Verständnis des Geistes folgt daraus, dass sein Kommen – johanneisch gesprochen – nicht als notdürftiger Ersatz für den Fortgang des Sohnes verstanden werden darf, sondern vielmehr die Art und Weise präzisiert, in welcher der abwesende Sohn im Leben der Gemeinde anwesend ist.64 Das Kommen des Geistes vollzieht sich als 60 Vgl. zum folgenden die phänomenologisch-semiotische Rekonstruktion von Ernst Cassirers Kulturphilosophie durch Moxter, Kultur als Lebenswelt (s. Anm. 43), 102 – 173. Deren Grundbegriff der »symbolischen Repräsentation« hebe darauf ab, die naive Vorstellung einer unmittelbaren Präsenz des Gegebenen zu überwinden. 61 Zur Unterscheidung von Noesis und Noema vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, hg. v. E. Ströker, Hamburg 2009. 62 Vgl. zu dieser Formulierung Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 259. 63 Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie (s. Anm. 59), 484 f. 64 Vgl. Moxter, Kultur als Lebenswelt (s. Anm. 43), 391.
340 Martin Laube erinnernde Vergegenwärtigung Jesu Christi, welche zugleich das Bewusstsein einer uneinholbaren Differenz zum darin vergegenwärtigten Christus mit sich führt. Das bedeutet: Das von Gott verheißene Heil liegt nicht hinter der religiösen Kommunikation, sondern wird allein in deren Vollzug gegenwärtig – ohne doch mit diesem Vollzug selbst zusammenzufallen. Der Geist wirkt, indem er im Gebrauch kulturell geprägter, bedingter und variabler Medien Person und Werk Jesu Christi so vergegenwärtigt, dass die unaufhebbare – den Gebrauch ermöglichende und vorantreibende – Differenz der Medien zu dem von ihnen Dargestellten zugleich mit zur Darstellung gebracht wird. Die klassischen Leitmedien des Protestantismus sind Bibel, Predigt und Sakramente. Darin schlägt sich die reformatorische Grundorientierung an der Figur des den Menschen anredenden Gotteswortes nieder. Ihr folgt auf dem Fuße die gängige Kritik an der monomedial-rationalitätsfixierten Wortfixierung des Protestantismus. Freilich gehören seit jeher auch andere Medien zur »Kulturgeschichte« christlich-religiöser Kommunikation; insbesondere ist hier auf die Medien des Bildes und der bildenden Kunst, des Ritus und der Liturgie, der Musik und der Architektur zu verweisen.65 In diesem Sinne gilt: »[D]ie religiöse Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus ist multimedial.«66 Dennoch bringen die Medienrevolutionen des beginnenden 21. Jahrhunderts auch für die religiöse Kommunikation tiefgreifende Umbrüche mit sich.67 Zum einen lassen die elektronisch-digitalen Massenmedien die bisher nahezu selbstverständliche Orientierung am 65 Vgl. die knappe Skizze bei J. Lauster, Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005, 109 – 141. 66 Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 259. 67 Vgl. neben der Skizze a. a. O., 299 – 314; insbesondere J. Hörisch, Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet, Frankfurt a. M. 2004; sowie ders., Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M. 5 2015. – Zur Aufnahme der Mediendebatte in der Theologie vgl. aus systematisch-theologischer Sicht Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie (s. Anm. 59); L. Ohly, Anwesenheit und Anerkennung. Eine Theologie des Heiligen Geistes, Göttingen 2015; Stoellger, Die Medialität des Geistes (s. Anm. 59); und G. Thomas, Die Multimedialität religiöser Kommunikation. Theoretische Unterscheidungen, historische Präferenzen und theologische Fragen, in: I. U. Dalferth / P. Stoellger (Hg.), Hermeneutik der Religion, Tübingen 2007, 189 – 213. Aus praktisch-theologischer Perspektive vgl. W. Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002; C. Grethlein, Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft, Leipzig 2003; sowie I. Nord, Realitäten des Glaubens. Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität, Berlin 2008.
Christliches Leben im Geist 341
traditionellen – dem Gottesdienst verpflichteten – Modell leiblicher Kopräsenz der Kommunikanten zunehmend fragwürdig erscheinen; zum anderen geht mit dem iconic turn ein grundsätzlicher Wandel vom Wort zum Bild einher, der auch in der religiösen Kommunikation eine folgenreiche Verschiebung »vom Sinn zu den Sinnen«68 in Gang setzt. Die mit diesen Umbrüchen verbundenen Herausforderungen rücken erst allmählich ins theologische Bewusstsein. Immerhin führen sie zu einer neuen Aufmerksamkeit auf die mediale Verfasstheit der religiösen Kommunikation und die medientheoretische Valenz der Lehre vom Geist: »Die aktuelle Mediendebatte ist ein Lehrstück in Sachen Pneumatologie.«69 3. Die funktionale Ausrichtung des Geistes auf die religiöse Kommunikation lässt schließlich noch ein drittes Charakteristikum reformatorischer Pneumatologie hervortreten. Bei den Medien religiöser Kommunikation handelt es sich um Zeichen; der religiöse Kommunikationsprozess selbst ist daher ein Zeichenprozess.70 Allerdings sind Zeichen nicht schon von sich aus als Zeichen bestimmt; vielmehr wird etwas erst dadurch zu einem Zeichen, dass es von jemandem gebraucht wird, um etwas als etwas zu bezeichnen. Mithin lassen sich Zeichen durch die klassische augustinische Unterscheidung von signum und res nicht angemessen erfassen.71 Sie weisen keine zweistellige, sondern eine dreistellige Struktur auf: Ein wie immer geartetes materielles Substrat wird dadurch zu einem Zeichen (Interpretamen), dass es durch ein weiteres Zeichen (Interpretant) als Zeichen für etwas (Interpretat) interpretiert wird – dass also jemand mit Hilfe eines weiteren Zeichens sagt, wofür das erste Zeichen steht.72 Die 68
Vgl. Hörisch, Eine Geschichte der Medien (s. Anm. 67), 14. Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie (s. Anm. 59), 488. 70 Vgl. zum folgenden neben I. U. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung, Leipzig 2004, 60 – 64; erneut insbesondere Michael Moxter, der in seiner Habilitationsschrift eine phänomenologisch-semiotische Rekonstruktion der Symboltheorien Paul Tillichs und Ernst Cassirers vorlegt; vgl. ders., Kultur als Lebenswelt (s. Anm. 43), 82 – 101, 121 – 173. Eine knappe Darstellung findet sich neuerdings auch in Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 259 – 268. 71 Vgl. Augustin, De doctrina christiana, in: CChr.SL 32, 1 – 167, 6 – 8. 72 Vgl. I. U. Dalferth, Die Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte, Tübingen 2018, 27: »Zeichen sind dabei nichts, was ›für etwas steht‹. Sie sind keine signa, die ihre jeweilige res (richtig oder falsch) bezeichnen oder eine Sache (mehr oder weniger angemessen) ›zur Sprache bringen‹, d. h. mit den Mitteln eines Zeichensystems darstellen. Zeichen sind vielmehr das, was in Prozessen gebraucht wird, um 69
342 Martin Laube Zeichenfunktion eines Zeichens ergibt sich mithin erst im Gebrauch des Zeichens, indem jemand interpretiert, wofür das Zeichen steht, und dafür seinerseits ein weiteres Zeichen verwendet. Die pragmatische Gebrauchssignatur des Zeichens macht deutlich, dass jeder Kommunikationsakt immer schon in einen übergreifenden Zusammenhang eingebettet ist und diesen fortsetzt. Auf der einen Seite schließen Zeichen immer schon an vorangehende Zeichen an, auf der anderen Seite kann an jedes Zeichen immer wieder mit weiteren Zeichen angeschlossen werden. Daraus ergibt sich eine elementare Unerschöpflichkeit und Unabschließbarkeit der Kommunikation. Der einzelne Kommunikationsakt bewegt sich in einem Horizont, der zwar immer wieder verschoben, aber niemals endgültig erschöpft, eingeholt oder umfasst werden kann. Für das Verständnis des Geistes bestätigt sich damit zunächst, was zuvor bereits festgestellt worden war: Sein Wirken vollzieht sich im Prozess der kommunikativen Memoria Christi; er steht für die innere ›Zeichendynamik‹ des christlichen Gesamtlebens, das gerade in der unablässigen Fortsetzung der religiösen Kommunikation Bestand und Gestalt gewinnt. Gleichwohl macht die skizzierte dreistellige Zeichenstruktur der Kommunikation noch auf eine besondere Pointe aufmerksam. Die Vergegenwärtigung Christi schließt die je individuelle Aneignung und Fortsetzung der religiösen Kommunikation ein – ja mehr noch: Sie realisiert sich gleichsam nur im Modus der kreativen Umbildung und Weiterführung des christlichen Überlieferungsprozesses. Bereits Ernst Troeltsch hatte dieses produktiv-schöpferische Moment der Aneignung betont und damit der Pneumatologie die Aufgabe ins Stammbuch geschrieben, die religiöse Aneignung als »schöpferische Neu- und Fortbildung der christlichen Religion«73 zur Darstellung zu bringen: »Der Geist Christi ist […] die beseelende und treibende Kraft der Gemeinde, ein Prinzip der fortwährenden Ausbreitung und jemandem etwas zu kommunizieren, also etwas für jemanden (oder etwas) als etwas zu interpretieren. […] Zeichen werden nicht interpretiert, indem ihnen Objekte zugeordnet werden, für die sie stehen, sondern indem mit anderen Zeichen ›gesagt‹ (d. h. interpretiert) wird, was mit den fraglichen Zeichen ›gezeigt‹ bzw. ›gesagt‹ (d. h. kommuniziert und interpretiert) werden sollte.« – Der dreistellige Zeichenbegriff geht zurück auf Charles Sanders Peirce; vgl. ders., Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt a. M. 1983. Einen Überblick über die bei näherem Hinsehen sehr viel komplexere Debattenlage der Semiotik gibt W. Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart 22000. 73 Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 76.
Christliches Leben im Geist 343
Vertiefung der christlichen Gotteserkenntnis. Das ist die tiefsinnige Bedeutung der paulinisch-johanneischen Lehre vom Geist. Sie überwindet die Schranken der Historie, macht Christus gegenwärtig und zeigt ihn als eine Kraft des Werdens und der Fortbildung, wo die einfachen religiösen Grundgedanken des Evangeliums einer immer neuen, freilebendigen Anwendung fähig werden.«74 Die semiotische Aufschlüsselung des religiösen Kommunikationsprozesses nimmt Troeltschs Einsicht auf und spitzt sie nochmals zu. Zeichentheoretisch betrachtet handelt es sich um einen fortwährenden Übersetzungsprozess, in dem Zeichen durch andere Zeichen interpretiert, variiert und fortgeschrieben werden. Das bedeutet: Kontinuität und Veränderung schließen einander nicht aus; vielmehr konstituiert sich die geschichtliche Kontinuität des christlich-religiösen Überlieferungsprozesses allein im Modus seiner fortwährenden Variation und Umbildung.75 Zugespitzt formuliert: Nur indem jeweils anderes gesagt wird, lässt sich dasselbe sagen. Die christliche Tradition stellt mithin keinen fixen, durch die Jahrhunderte hinweg sorgsam gehüteten Symbol- und Lehrbestand dar, den es nur jeweils zu übernehmen und anzueignen gälte.76 Vielmehr gewinnt sie nicht anders als im Prozess fortwährender Variation, Umbildung und Kritik geschichtliche Gestalt. Für die Lehre vom Geist folgt daraus, dass sich die individuelle Aneignung des Heils nicht als Empfang einer vorgängigen Geistgabe denken lässt: »Weil die Rezeption immer schon variierenden Charakter hat, muß die Pneumatologie den Geist auch als subjektiven begreifen. […] Die Aneignung des extra nos konstituierten Heils geschieht unter der Voraussetzung, daß der Geist in nobis wirkt, weshalb die Rezeption nicht als bloßer Empfang veräußerlicht vorgestellt werden kann.«77 Die Pointe der Rede vom Geist besteht insofern darin, dass sie die beiden Pole der traditionsbestimmten Memoria Christi einerseits und deren kreativ-umbildender Aneignung anderer74 E. Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, hg. v. G. von le Fort, München 1925, 347 (kursiv ML). – Vgl. dazu Wittekind, Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Pneumatologie (s. Anm. 7), 44 f.; sowie Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 76 – 81. 75 Vgl. zu dieser Einsicht insbesondere Moxter, Kultur als Lebenswelt (s. Anm. 43), 401 – 406. 76 Vgl. Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 197: Die christliche Tradition »kann […] nicht als ein substantieller, identisch bleibender Kern verstanden werden, der in wechselnden Hüllen durch die Geschichte transportiert wird«. 77 Moxter, Kultur als Lebenswelt (s. Anm. 43), 403.
344 Martin Laube seits miteinander vermittelt und verschränkt. Das Wirken des Geistes, die erinnernde Vergegenwärtigung von Person und Werk Jesu Christi, vollzieht sich nicht anders als vermittels ihrer je individuellen, produktiv-schöpferischen Interpretation und Weitergabe. Der Geist erweist sich damit als das geschichtliche Traditionsprinzip des Christentums78 – so freilich, dass er gerade für die unabschließbare Offenheit, Kreativität und Produktivität christlich-religiöser Kommunikation und Sinnbildung einsteht. Auf diese Weise holt die dogmatische Pneumatologie schließlich – in moderner Umbildung – den Grundsatz der paulinischen Rede vom Geist ein: »Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« (2 Kor 3,17).
78
Vgl. dazu Danz, Gottes Geist (s. Anm. 1), 194 – 203.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion Nadine Ueberschaer
Mit ihren Beiträgen zur Rede vom Heiligen Geist bieten der Neutestamentler Jens Herzer und der Systematiker Martin Laube je unterschiedliche Perspektiven: der eine mit besonderem Fokus auf der Ethik, der andere durch seine Konzentration auf die Soteriologie. Beide bewegen sich damit im Rahmen der Akzentsetzungen bereits vorangegangener Forschungsgeschichte zur Pneumatologie in der neutestamentlichen Wissenschaft.1 Dabei hebt Laube explizit hervor, dass sich seine Konzentration auf die christologisch-soteriologische Dimension der Pneumatologie vor allem der kritischen Auseinandersetzung mit systematisch-theologischen Forschungen des 20. Jahrhunderts zum Geistverständnis verdankt.2 Dies fordert geradezu heraus, die beiden unterschiedlichen Zugänge miteinander ins Gespräch zu bringen, und belegt einmal mehr, dass erst eine Zusammenschau verschiedener Pneuma-Aspekte die Möglichkeit eröffnet, pneumatologische Aussagen adäquat zu reflektieren. Dabei nimmt die Response das Anliegen beider Beiträge auf, ein interdisziplinäres Gespräch anzuregen und nach der gegenwärtigen Relevanz pneumatologischer Aussagen sowie deren Bedeutung für die wissenschaftliche Auseinandersetzung und daraus folgender kirchlicher Praxis zu bedenken.3 Laubes Ansatz, die Pneumatologie auf der Grundlage eines kommunikativen Religionsbegriffes zu entfalten und in der Nachfolge reformatorischer Theologie an Wort und Sakrament zu binden,4 bietet dazu einen geeigneten Ausgangspunkt für ein interdisziplinäres 1 Vgl. dazu den informativen Forschungsüberblick von C. Strecker, Zugänge zum Unzugänglichen. »Geist« als Thema neutestamentlicher Forschung, in: ZNT 13 (2010), 3 – 20. 2 M. Laube, Christliches Leben im Geist. Überlegungen zur Pneumatologie, grenzt sich damit m. E. völlig zu Recht gegen eine »inflationäre[n] Entschränkung des Geistes im 20. Jahrhundert« (a. a. O., 334) ab. 3 Verwiesen sei hier exemplarisch auf Herzers (ders., Leben im Glauben – Leben im Geist. Biblisch-theologische Aspekte der Geistesgegenwart Gottes, 284 – 290) umfassende systematisch-theologische Reflexion zu Beginn seines Artikels sowie Laubes (ders., Christliches Leben [s. Anm. 2], 321; 344) Argumentation mit neutestamentlichen Texten. Zum Gegenwartsbezug wird in der Response zurück zu kommen sein. 4 Vgl. Laube, Christliches Leben (s. Anm. 2), 3 37– 340.
346 Nadine Ueberschaer Gespräch. Denn in kritischer Abgrenzung zu einem pfingstlich ausgerichteten Christentum und seiner Betonung erfahrungsbezogener Aspekte des Geistverständnisses sowie der Orientierung an besonderen Charismen,5 gelingt es ihm damit, das Fundament zu legen, auf das Herzers Betonung ethischer Aspekte des Geistverständnisses aufbauen kann. Aus neutestamentlicher Perspektive legt sich dieses Vorgehen von den paulinischen Texten her ebenso wie von der johanneischen und lukanischen Tradition her nahe und hat damit all jene Entwürfe innerhalb des neutestamentlichen Kanons auf seiner Seite, die in besonderer Weise pneumatische Aussagen theologisch reflektieren und deuten. Wird dabei der Aspekt der Kommunikation bzw. der Verkündigung in der pneumatologischen Reflexion bedacht, dann erscheint auch eine Zuordnung von Glaube und Geist – um die Herzer ringt6 – plausibel, auch ohne dass sich im Neuen Testament eine Formulierung wie im Apostolikum »Ich glaube an den Heiligen Geist« findet. Konstitutiver Bestandteil neutestamentlichen Glaubensverständnisses ist der Geist jedoch vor allem aufgrund seiner Bindung an die Auferstehung Jesu, wie auch Herzer bemerkt und in seiner Argumentation aufgrund der »bekenntnistheologischen Fragestellung«7 dazu auf die paulinischen Texte zurückgreift. Diese Überlegung soll hier aufgenommen und am Beispiel des Römerbriefes profiliert werden, bevor weitere paulinische Schriften für ein umfassenderes Verständnis herangezogen werden. Im Römerbrief lässt sich ein argumentativer Spannungsbogen von Röm 1 – 8 nachzeichnen, den Paulus bereits im Präskript eröffnet, wenn er dort den Inhalt des »Evangeliums Gottes« (Röm 1,1) als Evangelium vom Sohn Gottes definiert, der nach dem Fleisch aus dem Samen Davids, »in Kraft nach dem Geist der Heiligkeit aus der Auferstehung von den Toten« aber zum Sohn Gottes bestimmt ist (Röm 1,3 f.), und als Ziel seines Apostolats die ὑπακοὴ πίστεως (Röm 1,5) benennt. Ebendieses »Sich-Stellen ›unter das Gehörte‹ (ὑπακοή = ὑπὸ τὴν ἀκοήν)«8 wird in Röm 1,16 f. mit der Verheißung der Gerechtigkeit und des Lebens aus dem Glauben verbunden. Dabei klingt 5
A. a. O., 326 f. Herzer, Leben im Glauben (s. Anm. 3), 287 – 293; 298 – 303; 312; 317 f. A. a. O., 290. 8 So zutreffend F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2002, 268. 6 7
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 347
mit dem Verb ζῆν aus Hab 2,4 in Röm 1,17 erneut die Funktion an, die dem Geist implizit bereits in Röm 1,5 zukommt, wenn er mit der Auferstehung verbunden wird. Diese Leben schaffende Kraft des Geistes entfaltet der Apostel im Folgenden und hält dabei durchgehend an der Verbindung mit dem Glauben fest. Dabei übernimmt der Geist eine Funktion, die Paulus letztlich auf das Leben schaffende Sein und Wirken Gottes zurückführt. So illustriert er in Röm 4 am Beispiel Abrahams und Sarahs Gottes Schöpferkraft und setzt den gerecht machenden Glauben Abrahams an den Leben schaffenden Gott (Röm 4,17) in Analogie zum Glauben an denjenigen, der Christus von den Toten auferweckt hat (Röm 4,24).9 Im Folgenden legt Paulus seine soteriologische Deutung des Todes und der Auferweckung Jesu dar, wie er sie in Röm 4,25 formuliert und argumentiert dabei mit dessen Auferstehungsleben (Röm 5,10).10 In einer nachgetragenen Begründung für die rettende Liebe Gottes im Christusgeschehen (Röm 5,1 – 11) mittels einer Adam-Christus-Typologie, setzt Paulus Sünde und Tod Gnade und ewigem Leben gegenüber (Röm 5,12 – 21), um dann in Röm 6 die »Neuheit des Lebens« (Röm 6,4) der Glaubenden zu begründen. Ebendiese Neuheit des Lebens verdankt sich einer glaubenden Partizipation an Jesu Tod, in dessen Tod sich der Tod des Menschen gegenüber der Sünde ereignet, und einer Teilhabe an seinem Auferstehungsleben (Röm 6,4).11 Die Bedeutung des Glaubens 9 Vgl. zum Lebensbegriff in Röm 4 C. Zimmermann, Leben aus dem Tod. Ein Spezifikum in der Gottesrede des Römerbriefs, in: U. Schnelle (Hg.), The Letter to the Romans (BEThL 226), Leuven 2009, 503 – 520. Vgl. weiter zur hierfür relevanten Bedeutung der διὰ bzw. ἐκ πίστεως-Wendungen bei Paulus sowie zu Röm 1 und 4 N. Ueberschaer, Theologie des Lebens bei Paulus und Johannes. Ein theologisch-konzeptioneller Vergleich des Zusammenhangs von Glaube und Leben auf dem Hintergrund ihrer Glaubenssummarien (WUNT 389), Tübingen 2017, 51 – 91, sowie die ausführliche Studie von K. F. Ulrichs, Christusglaube. Studien zum Syntagma πίστις Χριστοῦ und zum paulinischen Verständnis von Glaube und Rechtfertigung (WUNT II / 227), Tübingen 2007. 10 Überlegungen zum Lebensbegriff in Röm 5 – 6 legt C. Landmesser, Der Vorrang des Lebens. Zur Unterscheidung der anthropologischen und soteriologischen Kategorien Tod und Leben in der Theologie des Paulus im Anschluss an Röm 5 f., in: P. Bahr / S. Schaede (Hg.), Das Leben I, Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs (Protestantismus und Kultur 2), Tübingen 2009, vor. 11 Vgl. dazu die Satzstruktur von Röm 6,4, bei der in dem durch die finale Konjunktion ἵνα eingeleiteten Satz durch die Wendung ὥσπερ – οὕτως die Auferweckung Jesu in Relation gesetzt wird zur Neuheit des Lebens der Glaubenden.
348 Nadine Ueberschaer hierbei betont Paulus in V. 812 und verhindert mit der Verwendung des Verbes ζῆν auch für den Auferstandenen entgegen Herzer, hier von einer »Prolepse der endzeitlichen Totenauferstehung«13 zu sprechen. Für Paulus legt sich stattdessen ein Verständnis der καινότης ζωῆς als Inauguration des Auferstehungslebens nahe, das das gegenwärtige Sein der Glaubenden bestimmt.14 Eine ganz analoge Struktur bietet Paulus in 2 Kor 5 mit der Rede von der καινὴ κτίσις. Wie im Röm ist auch hier ein Bezug zum Pneuma gegeben durch die Rede von der διακονία τῆς καταλλαγῆς, die nach 2 Kor 3 vom Apostel als διακονία τοῦ πνεύματος in ihrer Leben vermittelnden Wirkung beschrieben wird. Somit können die Aussagen zum lebendig machenden Geist in 2 Kor 3, der die Identität der Glaubenden als Brief Christi bestimmt (2 Kor 3,3), als Erklärung für die Rede von der Neuschöpfung verstanden werden. Der Akzent liegt dabei auf der Funktion des Geistes, lebendig zu machen und die Glaubenden ihrer Identität als mit dem Geist des lebendigen Gottes geschriebener Brief Christi bzw. als Neuschöpfung zu vergewissern. Sie sind im soteriologisch und eschatologisch qualifizierten Sinn οἱ ζῶντες (2 Kor 5,15). Deutlich wird vor dem Hintergrund dieser Textbeobachtungen, welche Bedeutung dem ζῆν-Wortstamm bzw. der dem Geist zugeordneten Fähigkeit des ζῳοποιεῖν bei Paulus zukommt. Dies gilt auch für Röm 8; so ist der Geist nach Röm 8,10 die ζωή der Glaubenden unter den Bedingungen ihrer von Sterblichkeit geprägten physischen Existenz und verbürgt zugleich die futurisch erwartete Heilshoffnung (Röm 8,11).15 Wird diese auf den Geist bezogene Lebensbegrifflichkeit bei Paulus berücksichtigt, dann bestätigt sich der nachgezeichnete argumentative Bogen von Röm 1 – 8, der ergänzt werden muss um die genannten Aussagen in 2 Kor 3 und 5: das verkündigte Evangelium vom gekreuzigten Auferstanden vermittelt im Modus des Glaubens das Leben.16 Diese soteriologische Gabe des Lebens begründet Paulus mit dem schöpferischen Handeln Gottes in der Auferweckung Jesu, die den Er Vgl. die Formulierung »πιστεύομεν ὅτι […]«. Herzer, Leben im Glauben (s. Anm. 3), 308. 14 Vgl. zur ausführlichen Darlegung Ueberschaer, Theologie des Lebens (s. Anm. 9), 157 – 170. 15 A. a. O., 108 – 144.174 – 179. 16 Vgl. zur Begründung der Analogie von 2 Kor 5,21 zur paulinischen Vor stellung der Gerechtmachung anhand von Hab 2,4 in Röm 1,17 und Gal 3,11 a. a. O., 135 f. 12 13
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 349
möglichungsgrund für die Neuheit des Lebens bzw. die Neuschöpfung der Glaubenden bildet. Ebendieses neuen soteriologisch qualifizierten Status werden die Glaubenden in der Gabe des Pneumas als Signum ihres neuen Seins vergewissert. Sinnlich erfahrbar wird diese Neuheit des Lebens in der Taufe, auf die Paulus in Röm 6 rekurriert. Damit wird an Röm 6 deutlich, dass sich Laubes kommunikativer Religionsbegriff sowie die Betonung der Zeichenhaftigkeit durch exegetische Beobachtungen untermauern lässt. Der innere Zusammenhang von Glaube bzw. Verkündigung des Evangeliums, Heiligem Geist und Neuschöpfung ist dabei evident.17 Darüber hinaus können Röm 4 wie auch die paulinischen Argumentationen in Gal 3 und 4 mit alttestamentlichen Gestalten wie Abraham, Sarah und Hagar als Ausdruck des an Medien gebundenen Geistwirkens verstanden werden.18 Denn Paulus nimmt seinen Adressaten vertraute Traditionen auf und schreibt sie in seiner Verkündigung aktualisierend fort, um sie so für seine Theologie fruchtbar zu machen – eine Aufgabe, der sich gegenwärtige kirchliche Verkündigung zu stellen hat. Darüber hinaus wird anhand der paulinischen Texte deutlich, dass die Vorstellung einer »Neuheit des Lebens« bzw. der »Neuschöpfung« neben der persönlichen eine ekklesiale Dimension inhärent ist, da Paulus beides als »in Christus« charakterisiert.19 Das heißt, dass auch hier Paulus als Gewährsmann herangezogen werden kann sowohl für das von Laube hervorgehobene Motiv der Sozialität20 als auch für Herzers Anliegen, die Bedeutung des Geistwirkens für die Ekklesiologie zu bedenken.21 Vor dem Hintergrund dieser Textbeobachtungen sollen einige interessiert-kritische Anfragen an die Beiträge von Jens Herzer und Martin Laube gestellt werden. 1. Wird es den Texten gerecht, lediglich von einer Erneuerung bzw. »Neuschöpfung des irdischen Lebens«22 zu sprechen? Insbesondere die Rede von der Neuheit des Lebens in Röm 6 als auch die Vorstellung einer Neuschöpfung, deren völlige Diskontinuität zur vorherigen Existenz in 2 Kor 5,14 – 17 entfaltet wird, scheinen mir hiermit be17 Damit sollen die von Herzer, Leben im Glauben (s. Anm. 3), 303 – 308, vorgebrachten Argumente durch den Gedankengang des Röm gestärkt werden. 18 Vgl. Laube, Christliches Leben (s. Anm. 2), 340. 19 Vgl. 2 Kor 5,17; Röm 6,11. 20 Laube, Christliches Leben (s. Anm. 2), 335 – 337, der für seine Argumentation ebenfalls auf Paulus verweist. 21 Herzer, Leben im Glauben (s. Anm. 3), 283; 297 f. 22 A. a. O., 308.
350 Nadine Ueberschaer grifflich nicht erfasst zu sein.23 M. E. legt die oben vorgeschlagene Berücksichtigung des paulinischen Lebensbegriffes eine andere Akzentsetzung nahe. Denn der paulinische Lebensbegriff kann nicht allein auf das irdische Leben bezogen werden. Vielmehr beschreibt Paulus mit ihm eine gegenwärtige soteriologische Gabe, die die Kontinuität zwischen diesseitigem und jenseitigem Heil verbürgt und damit die Voraussetzung für die erwartete Auferstehung darstellt. Hiermit wäre dann eine deutlichere Profilierung dessen möglich, inwiefern der Geist als Vermittler von Leben und Neuschöpfung bzw. als Unterpfand für die erwartete Auferstehung fungiert.24 Interessant wäre hierbei eine Diskussion mit Jens Herzer darüber, was er unter »Vollendung der Leiblichkeit« versteht, wenn er auf die Bedeutung der Leiblichkeit bei Paulus insistiert, aber gleichzeitig von einer »Transformation der Leiblichkeit in das ewige Leben Gottes«25 sprechen kann. Wäre auch diese leiblich vorzustellen? Hier wäre m. E. insbesondere für eine gegenwartsrelevante Deutung nach den traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen einer solchen Vorstellung bei Paulus zu fragen und zu überlegen, ob heutigen Glaubenden hierfür nicht die Vorstellungsvoraussetzungen fehlen. In einem zweiten Schritt wäre daher zu diskutieren, wie paulinische Ansichten so mit gegenwärtigen postmortalen Erwartungen ins Gespräch gebracht werden können, dass am Schluss dieses Reflexionsprozesses für die Gegenwart tragfähige und plausible Übersetzungen jener Vorstellungen stehen. 2. Die eben beschriebenen Eindrücke zu Herzers Umgang mit den Neuschöpfungsaussagen und dem Lebensbegriff führen zur Frage nach dem Verhältnis von Soteriologie und Ethik. Herzer spricht im Zusammenhang mit der Rede von einem »erneuerte(n) Leben im Geist«26 von einem »neuen Status der Gerechtigkeit«27 und von einem »Lebenswandel« sowie von einer »Lebensausrichtung und 23 Vgl. zum Begriff der Neuheit auch C. Hoegen-Rohls, Neuheit bei Paulus. Kommunikative Funktion und theologische Relevanz der paulinischen Aussagen über den Neuen Bund, die Neue Schöpfung und die Neuheit des Lebens und des Geistes (Habil. Masch.; München 2003); Dies., Wie klingt es, wenn Paulus von Neuer Schöpfung spricht? Stilanalytische Beobachtungen zu 2 Kor 5,17 und Gal 6,15, in: P. Müller / C. Gerber / T. Knöppler (Hg.), »… was ihr auf dem Weg verhandelt habt.« Beiträge zur Exegese und Theologie des Neuen Testaments (Festschrift F. Hahn), Neukirchen-Vluyn 2001, 143 – 153. 24 Vgl. Herzer, Leben im Glauben (s. Anm. 3), 303 – 314. 25 A. a. O., 312. 26 A. a. O., 303. 27 A. a. O., 305.
Reflexionen und Impulse zur Diskussion 351
-führung«28, »Gesinnung«29 sowie von »Bewusstsein«30. Die Formulierungen verraten, dass Herzer die geistgewirkte Neuschöpfung des Menschen vor allem ethisch versteht. Demgegenüber ist kritisch zu fragen, ob es ausgehend von Röm 5 – 6 und 2 Kor 5, 17 – 21 nicht näherliegt, dass die Soteriologie den Primat vor der Ethik hat. Denn schließlich ermöglicht erst die Befreiung aus dem Sünde-Tod-Zusammenhang (vgl. Röm 5 – 6) in der Teilhabe an Jesu Tod und Auferweckung (2 Kor 5,15) die Neuschöpfung der Glaubenden. Als solche bildet die »Neuheit des Lebens« (Röm 6,4) doch die Bedingung der Möglichkeit einer ethischen Neuausrichtung glaubender Existenz. Beide Dimensionen – die ethische und die soteriologische – klingen in Herzers Ausführungen an, wünschenswert wäre hier jedoch von Paulus aus betrachtet eine stärkere Relationierung. Als Beispiel sei hier auf die »Liebe« verwiesen, die Herzer vollkommen zutreffend als Konstituens paulinischer Ethik hervorhebt. Ob dafür allerdings Röm 5,5 ein geeigneter Beleg ist, kann zumindest gefragt werden. Denn hier erscheint »Liebe« als Movens des Todes Jesu, d. h. Paulus argumentiert hier gerade soteriologisch. Erst vor diesem Hintergrund ergibt sich m. E. das relationale Verständnis des Liebesbegriffs bei Paulus, wie er dann auch das menschliche Miteinander prägen soll.31 3. Das Stichwort »Relation« möchte ich in einer letzten Frage an Jens Herzers Beitrag aufnehmen. Herzer schreibt, dass »die Rede vom Heiligen Geist eine Vorstellung von Gottes Handeln an und in Christus und damit von der Relation Gottes und Christi voraussetzt«. Er problematisiert dann im Folgenden, dass die von ihm so genannte »christologische Fokussierung des Glaubens an den Heiligen Geist […] eine Herausforderung«32 darstelle und verweist dazu – worin ihm vollkommen zuzustimmen ist – auf die jüdische Tradition. Ich möchte daher fragen, ob nicht gerade die thematisierte Relation Gottes zu Christus eine theo-logische Fokussierung der Pneumatologie ermöglicht bzw. nötig macht – verwiesen sei z. B. auf Röm 8,11 – und damit die Rede vom Geist nicht rückgebunden werden müsste an die jüdische Überlieferung vom lebendigen und Leben schenkenden Schöpfergott – einen Weg, den Paulus beschreitet, wenn er in Röm 4
28
A. a. O., 295. Vgl. exemplarisch a. a. O., 303. 30 A. a. O., 309; 312 u. ö. 31 Vgl. exemplarisch Röm 14,15; Gal 5,14. 32 Herzer, Leben im Glauben (s. Anm. 3), 318. 29
352 Nadine Ueberschaer eine Analogie zwischen Abraham-Glauben und Christus-Glauben herausarbeitet.33 4. Enden möchte ich mit einer Anfrage, die beide Beiträge betrifft. Denn Herzers Rede von »Bewusstsein« und »Gesinnung«34 sowie Laubes Fokussierung auf das »aneignende Verstehen religiöser Rede«35 betonen m. E. vollkommen zutreffend wesentliche Aspekte der Pneumatologie, lassen dabei aber zugleich eine mangelnde Reflexion über das Wirken des Geistes bei Menschen mit geistiger Behinderung oder neurologischen Erkrankungen wie Demenz erkennen. Vielleicht bietet Laubes Rede von Medien und Symbolen hierbei einen Ansatz, den es weiter zu denken lohnt, um tatsächlich die »egalitär-integrative[r]«36 Dimension des Geistwirkens (vgl. auch Gal 3,27 f.) herauszuarbeiten und zu überlegen, wie eine theologische Reflexion über die Pneumatologie das Geistwirken in der gelebten Alltagsfrömmigkeit und kirchlicher Praxis wie der Altenheimseelsorge berücksichtigt. Dies betrifft m. E. notwendigerweise ebenso eine interkulturelle Verortung pneumatologischer Reflexionen, um der Vielfalt und Komplexität von Erfahrungswelten und religiösen Kommunikationsprozessen gerecht zu werden.
33 Ein Aspekt, der bei Herzer selbst anklingt, wenn er mehrfach Gottes schöpferisches Handeln betont. 34 Herzer, Leben im Glauben (s. Anm. 3), 309 – 311; 318. 35 Laube, Christliches Leben (s. Anm. 2), 334. 36 A. a. O., 335.
Weiterführende Fragen 353
Weiterführende Fragen 1. Dem Heiligen Geist ist zugeschrieben, dass er den christlichen Glauben wirke. Doch wie kann unterschieden werden, ob tatsächlich der Heilige Geist Einsicht in die Wahrheit gewährt oder ob hierüber ein Irrtum besteht? Wie kann sich im Leben eines Menschen Gewissheit über das von Gott gewirkte Heil einstellen? 2. Inwiefern sind menschliches Handeln und die Gegenwart der Gemeinde erforderlich, damit das Evangelium Christi vermittelt werden und womöglich als Wahrheit eingesehen werden kann (vgl. Confessio Augustana [CA], Artikel V)? 3. Wie kann im Gottesdienst zum Ausdruck kommen, dass der Heilige Geist eine der drei »Personen« Gottes ist und nicht nur als göttliche Geistkraft benannt wird?
V. »… ein heilige christliche Kirche, die Gemeine der Heiligen …« Von der Verkündigung der Wahrheit im Auftrag des Geistes Im dritten Artikel des Apostolikums wird nicht näher ausgeführt, wer oder was der Geist ist, sondern was er bewirkt. Dadurch, dass er Menschen Gottes Heilswirken offenbart und ihren Glauben an Gott wirkt, heiligt er diese und führt sie in der heiligen und allgemeinen Kirche zusammen. Die Kirche (griech.: ἐκκλησία) ist durch die Attribute Heiligkeit und Katholizität gekennzeichnet. Heiligkeit meint Zugehörigkeit zu Gott, welche gewirkt wird durch den Heiligen Geist, den sanctificator (Heiligmacher), und nicht durch Werke zu verdienen ist. Mit Universalität ist ausgesagt, dass die Zugehörigkeit zur Kirche keinesfalls etwa durch ethnische oder geographische Grenzen eingeschränkt ist. Das deutsche Wort »Kirche« leitet sich ab von griech. κυριακὴ (οἰκία) = das zum Herrn Gehörige (Haus). Im Neuen Testament sind vielfältige Bilder für »Kirche« zu finden. So wird sie beispielsweise als Herde des einen Hirten, als Volk Gottes oder auch als Leib Christi beschrieben. Der Heilige Geist wird als der genannt, der in die Gemeinschaft des Leibes Christi einfügt und diese derart stärkt, dass kein einzelnes Glied beschädigt wird oder verlorengeht (1 Kor 12,13.24). Die Kirche als die Gemeinschaft der Heiligen zeichnet sich nach evangelischem Verständnis durch die rechte und reine Verkündigung des Wortes Gottes und die angemessene Feier der Sakramente aus. Dies sind die Instrumente, durch die der Heilige Geist Glauben weckt und stärkt, »wo und wann er will« (CA V). Mit dieser Wendung ist herausgestellt, dass das Wirken des Geistes letztlich unverfügbar ist und weder durch die ethische oder geistliche Qualität kirchlicher Funktionsträgerinnen und -träger noch durch rhetorische oder emotionale Beeinflussung noch durch ökonomische Strategien der Kirchenorganisation herbeigeführt werden kann.
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist Markus Öhler
Innerhalb des dritten Artikels des Apostolikums, der mit dem Glauben an den Heiligen Geist einsetzt, findet sich gleich anschließend die doppelte Angabe, dass sich der Glaube auch auf sanctam ecclesiam catholicam und sanctorum communionem richte.1 Die folgenden Ausführungen gehen zunächst der Frage nach, ob bzw. inwiefern man aus der Perspektive der frühchristlichen Texte von einer »heiligen umfassenden Kirche« sprechen kann, die einen Glaubensgegenstand darstellen würde. Sodann wird der Aspekt der »Gemeinschaft am / der Heiligen« näher betrachtet, wobei die unterschiedlichen Auslegungsperspektiven von sanctorum communio in den Blick genommen werden. Schließlich sollen beide Aussagen noch unter die Perspektive des Geistes gerückt werden, der das bestimmende Moment des dritten Artikels des Apostolikums ist.
1. Die Ekklesia Unter den zahlreichen Ausdrücken, die sich im Neuen Testament und darüber hinaus für die Gruppen von Christusgläubigen finden, sticht die Bezeichnung ἐκκλησία hervor. Sie begegnet in allen echten Paulusbriefen sowie in den meisten anderen Texten des Neuen Testaments.2 Ihre Bedeutung »Versammlung« ist ausgesprochen neutral und wurde erst in christlichen Texten im Sinne von »Gemeinde« bzw. 1 So nach dem sogenannten textus receptus, dessen Textzeugen bei W. Kinzig, Faith in Formulae. A Collection of Early Christian Creeds and Creed-related Texts I, Oxford 2017, 352 f., aufgelistet sind. Sowohl in der griechischen Form des Markell von Ankyra (a. a. O., § 253), bei Rufin (a. a. O., § 254) als auch in weiteren Parallel- oder Vorläuferversionen findet sich kein Hinweis auf die sanctorum communio, sodass es sich dabei wahrscheinlich um eine spätere Hinzufügung handelt. Sie ist zuerst bei Nicetas von Remesiana belegt (De symbolo 10; gest. 414). Für die Spezifizierung der Kirche als catholica gilt ähnliches. 2 Signifikante Ausnahmen sind v. a. die Evangelien nach Markus, Lukas und Johannes, woraus zu schließen ist, dass Jesus nicht von einer Gemeinde bzw. vom ( קהלqahal) sprach. Die Belege in Mt 16,16; Mt 18,17 sind deutlich durch den Evangelisten gestaltet. Auch im 2. Timotheusbrief, im Titusbrief, in den Petrusbriefen, im Judasbrief und dem 1. und 2. Johannesbrief fehlt der
358 Markus Öhler »Kirche« verwendet.3 Es geht dabei eigentlich stets darum, dass sich eine bestimmte Gruppe von Menschen versammelt. In der Septuaginta wird u. a. das zu einem bestimmten Anlass versammelte Volk Israel als ἐκκλησία bezeichnet, z. B. am Berg Sinai bei der Übergabe der Tora (Dtn 4,10 u. ö.). Wenn es darum geht, die Gesamtheit Israels zu bezeichnen, kann von der »ganzen Versammlung Israels« gesprochen werden (Dtn 31,30; Jos 9,2 f. u. ö.) oder von der »Versammlung des Volkes Gottes« (Ri 20,2). Mit »Versammlung des Herrn« (Dtn 23,2) ist eine gottesdienstliche Versammlung gemeint, nicht Israel als Ganzes, ähnliches gilt für »Versammlung Gottes« (Neh 13,1) und »Versammlung Israels« (1 Kön 8,14). Die gottesdienstliche Versammlung wird vor allem in den Psalmen ἐκκλησία genannt (Ps 21,23.26[LXX]; vgl. Klgl 1,10), auch im Plural (Ps 25,12; Ps 67,27[LXX]). Der Ausdruck wird in der Regel als Übersetzung für קהל (qahal) verwendet, das ebenfalls die Bedeutung »Versammlung« hat.4 Die Wahl dieses Terminus durch griechischsprachige christliche Gruppierungen ist vor diesem Hintergrund gut zu erklären. Wahrscheinlich hatte dies schon bei den sogenannten Hellenisten in Jerusalem eingesetzt, innerhalb des syrischen Christentums ist es bereits selbstverständlich. Die weite Verbreitung dieser Bezeichnung sowie der Umstand, dass Paulus auch die Versammlung von Christusgläubigen in Jerusalem ἐκκλησία nennt (1 Kor 15,9; Gal 1,13; Phil 3,6), weisen auf jeden Fall auf eine frühe Entstehung hin.5 Im Blick auf die Stellung innerhalb des Judentums ist zudem wesentlich, dass sich die Begriff. Vgl. für eine Übersicht P. R. Trebilco, Self-Designations and Group Identity in the New Testament, Cambridge u. a. 2012, 164 – 207. 3 In deutschen Übersetzungen des Neuen Testaments finden sich unterschiedliche Wiedergaben von ἐκκλησία. Während die Lutherbibel ausschließlich mit »Gemeinde« übersetzt, wechselt etwa die Einheitsübersetzung zwischen »Gemeinde« und »Kirche«. Damit soll angezeigt werden, ob es sich jeweils um eine lokale Gemeinschaft handelt oder um die umfassende Kirche. Dazu auch M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 291. »Gemeinde« bzw. »Kirche« geben allerdings nicht den antiken Wortsinn wieder: Das deutsche Wort »Gemeinde« (seit dem 8. Jahrhundert) betont das Gemeinsame derer, die zusammenkommen. »Kirche« hingegen ist eine Bildung, die sich aus dem christlichen Begriff κυριακόν (»dem Herrn gehörig«; ab dem 4. Jahrhundert) entwickelt hat. 4 Trebilco, Self-Designations (s. Anm. 2), 169: »[…] in the LXX and in other Jewish authors ἐκκλησία generally refers to an actual ›assembly‹ of people when they gather.« Nach meiner Meinung gilt dies auch für Dtn 23 und Neh 13. 5 Vgl. etwa H.-U. Weidemann, Ekklesia, Polis und Synagoge. Überlegungen im Anschluss an Erik Peterson, in: B. Nichtweiß / H.-U. Weidemann / E. Pe-
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 359
Gruppen von Christusgläubigen nicht »Synagogen« nannten, sondern eine Selbstbezeichnung wählten, die sie als Versammlung jener in Israel bestimmte, die an der Königsherrschaft Gottes teilhaben würden. In der griechischsprachigen Welt, zu der auch das Diasporajudentum gehörte, wurde der Terminus ἐκκλησία im gesellschaftlich-politischem Sinn verwendet. Er bezeichnet dort in erster Linie die Bürgerversammlung einer Stadt, in der Beschlüsse und Ehrungen vorgenommen wurden, aber auch spontane Versammlungen oder Treffen von Vereinsmitgliedern.6 In einem nicht-jüdischen christlichen Kontext, in dem die spezifische Verwendung in der LXX nicht bekannt war, liegt daher mit ἐκκλησία eine Analogiebildung zum allgemein-griechischen Gebrauch vor. Ein dezidiert politischer Charakter ist allerdings eher zweifelhaft und in den ntl. Texten nicht offengelegt.7 Diese »neutrale« Verwendung wird u. a. auch daran deutlich, dass Paulus von »Versammlungen im Haus« von bestimmten Personen sprechen kann: In Röm 16,3 – 5 und 1 Kor 16,19 jenes von Aquila und Priska, in Phlm 2 das des Philemon (vgl. Kol 4,15). Wichtig ist: Den Aspekt der »Versammlung« von Einzelpersonen mit gemeinsamer Herkunft oder gemeinsamen Interessen verlor der Begriff weder in der LXX noch in der griechisch-römischen Verwendung, sodass er auch für die christlichen Aussagen jeweils mitzudenken ist.
1.1 Paulus und die Ekklesiai In den echten Paulusbriefen begegnet der Ausdruck ἐκκλησία 43-mal und bezeichnet damit die lokale Gemeinde bzw. eine Mehrzahl von terson, Ekklesia. Studien zum altchristlichen Kirchenbegriff, Würzburg 2010, 152 – 195 (173 – 185). 6 Für Versammlungen in Vereinigungen vgl. IDelos 1519 (153 / 152 v. Chr.). 7 Eine politisch kontrastierende Konnotation der Verwendung sieht hingegen G. H. van Kooten, Ἐκκλησία τοῦ θεοῦ: The ›Church of God‹ and the Civic Assemblies (ἐκκλησίαι) of the Greek Cities in the Roman Empire. A Response to Paul Trebilco and Richard A. Horsley, in: NTS 58 (2012), 522 – 548. Dagegen wendet sich auch R. J. Korner, The Origin and Meaning of Ekklēsia in the Early Jesus Movement (AJEC 98), Leiden u. a. 2017, 182 – 188. Korners eigene Erklärung ist m. E. noch weniger plausibel: So lässt sich die Bedeutung des Begriffes als Ausdruck für »Jewish sacred space« nicht nachweisen (gegen Korner, Origin, 259 f.). Weder die LXX kann dies belegen, noch haben jüdische Gruppierungen ἐκκλησία jemals als Selbstbezeichnung verwendet. Philo, virt. 108, kann diese Last nicht tragen, bedeutet es doch auch dort nichts anderes als »Versammlung« (gegen Korner, Origin, 129 – 136).
360 Markus Öhler Gemeinden.8 Gerade der Plural macht deutlich, dass sich bei Paulus kein Gesamtkonzept von »Kirche« im Sinne des Apostolikums finden lässt. Exemplarisch seien einige Stellen dazu angeführt: In 1 Kor 11 verhandelt Paulus die Frage der Haartracht von Frauen beim Gebet und begründet seine Anweisungen u. a. damit, dass »wir und auch die ἐκκλησίαι Gottes« den Brauch nicht kennen würden, nach dem Frauen ihr Haar kurz tragen (vgl. auch 1 Kor 7,17). Paulus schreibt von ἐκκλησίαι in den Provinzen Asien (1 Kor 16,19), Galatien (1 Kor 16,1; vgl. Gal 1,2), Makedonien (2 Kor 8,1) und Judäa (Gal 1,22; 1 Thess 2,14). Die Geldsammlung für Jerusalem betreibt Paulus in den ἐκκλησίαι (2 Kor 8,18 f.23 f.), um deren Wohlergehen er sich sorgt (2 Kor 11,28). Von einigen ἐκκλησίαι nimmt er Geld für seinen Unterhalt, von anderen nicht (2 Kor 11,8; 2 Kor 12,13). Sein Wirken ist »in jeder Ekklesia« gleich (1 Kor 4,17). Nach Röm 16,4 stehen alle ἐκκλησίαι, in denen sich Christusgläubige aus den Völkern versammeln, in der Schuld von Priska und Aquila. Er bestellt Grüße aller ἐκκλησίαι τοῦ Χριστοῦ (Röm 16,16). Ist also deutlich, dass Paulus jeweils von lokalen Versammlungen schreibt, so zeigt sich das auch in den Briefpräskripten: Die Versammlung in Korinth (1 Kor 1,2; 2 Kor 1,1) oder jene der Thessalonicher (1 Thess 1,1) bzw. die Versammlungen in Galatien (Gal 1,2) sind Adressaten seiner Briefe. Zugleich ist allerdings zu beachten, dass Paulus diese ἐκκλησίαι nicht als bloße Versammlungen versteht, sondern ihnen eine besondere Qualität zuspricht. Das wird v. a. dort erkenntlich, wo er sie als Versammlung Gottes (1 Kor 1,2; 1 Kor 10,32; 1 Kor 11,16.22; 1 Kor 15,9; 2 Kor 1,1; Gal 1,13; 1 Thess 2,14) bzw. Christi (Röm 16,16) bezeichnet. Der Genitiv soll vor allem anzeigen, dass die Ekklesia
8 Manche Belege werden so interpretiert, dass bereits Paulus von »Kirche« geschrieben hätte (1 Kor 10,32; 1 Kor 15,9; Phil 3,6; Gal 1,13); vgl. u. a. U. Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums 30 – 130 n. Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion (UTB 4411), Göttingen 2015, 258; noch weitgehender F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments I, Tübingen, 32011, 274 f., der ἐκκλησία mit »Volk« übersetzt, denn Paulus meine damit die »Gesamtheit der an Christus Glaubenden«. Allerdings ist an keiner der angeführten Stellen eine übergreifende Wiedergabe im Sinne von »Kirche« zwingend oder wahrscheinlich. Der lokale Charakter von ἐκκλησία ist jeweils ebenso plausibel und aufgrund der sonstigen paulinischen Verwendung auch wahrscheinlicher. Vgl. hingegen Trebilco, Self-Designations (s. Anm. 2), 170 – 172.
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 361
nicht durch sich selbst zustande gekommen ist, sondern Gott bzw. Christus ihr Urheber und Herr ist.9 Um zu beschreiben, welche Qualität die Versammelten teilen, greift Paulus in 1 Kor 1,2 zu einer appositionellen Formulierung: »Geheiligte in Christus, berufene Heilige«. In 1 Thess 1,1 bezeichnet er die christusgläubigen Thessalonicher als solche, die »in Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus« sind. Ohne den Begriff ἐκκλησία zu verwenden, nennt er die Philipper Heilige (Phil 1,1). Die Differenzierung zwischen der lokalen ἐκκλησία und den Glaubenden an allen Orten wird u. a. in 2 Kor 1,1 deutlich: Die Adressaten werden zunächst als »Versammlung Gottes, die in Korinth ist« bezeichnet, doch Paulus erweitert dann den Kreis auf »alle Heiligen, die in der Provinz Achaia sind«. Hätte er bei ἐκκλησία an eine größere Institution gedacht, hätte er an die »Ekklesia von Achaia« geschrieben und die Ekklesia von Korinth nicht von den Heiligen in Achaia unterschieden. Wäre die Ekklesia von Korinth als Institution »heilig« oder »in Christus«, hätte er dies geschrieben, doch es sind nicht die Versammlungen, die heilig oder in Christus sind, sondern die Glaubenden, die sich versammeln.10 Nur wer sich dem Initiationsritual der Taufe unterzogen und den Geist empfangen hat, ist Mitglied der jeweiligen lokalen Ekklesia, doch weder ist die Ekklesia »getauft« noch ist sie der Raum des Geistes. In ihr verwirklicht sich gemeinschaftlich, was die neue Existenz der Glaubenden bestimmt, das Sein in Christus, das Leben im Heiligen Geist. So zeigt sich, dass Paulus nicht von einer »umfassenden Kirche« ausging, sondern von lokalen Versammlungen von Christusgläubi9 Hingegen gibt Paulus nur in 1 Thess 1,1 durch eine Genitivkonstruktion an, wer sich versammelt, nämlich die Christusgläubigen in Thessalonich. Lediglich 1 Kor 14,33b (»Versammlung der Heiligen«) weicht davon ab, was zu dem auch sonst deuteropaulinischen Charakter von 1 Kor 14,33b – 35 passt. 10 Anders etwa J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993, 98 Anm. 31: »Die gleichen Bezüge liegen vor, wo Paulus die ekklesia […] bzw. einzelne ihrer Glieder als ›Heilige‹ bezeichnet.« Trotz aller Betonung des Versammlungscharakters versteht Roloff die Ekklesia daher als Bereich, »der durch den Anbruch der endzeitlichen Neuschöpfung in Christus bestimmt ist«, und führt dies auf den Einfluss judenchristlich-palästinischer Tradition zurück (a. a. O., 99). Ein erster Beleg aus dem 2. Jahrhundert für die Qualifizierung der Ekklesia als heilig findet sich in der Epistula Apostolorum 5(16), wo vom Glauben an den Heiligen Geist, die heilige Kirche und die Vergebung der Sünden die Rede ist. Das gehört bereits zu den Vorstufen der Formulierungen im Apostolikum.
362 Markus Öhler gen.11 Über die Gestaltung dieser lokalen Gemeinden gewähren seine Briefe in zahlreichen Ausführungen Einblicke, denen hier nicht im Detail nachgegangen werden kann. Von allen Briefen beschäftigt sich der 1. Korintherbrief am ausführlichsten mit der Frage, wie die ἐκκλησία zu verstehen ist. Verursacht durch die innergemeindlichen Problemstellungen greift Paulus auf Metaphern zurück, unter denen jene des Körpers am breitesten ausgeführt wird und auch wirkungsgeschichtlich von größter Bedeutung wurde.12
1.2 Paulus und die Körpermetaphorik In 1 Kor 12 und Röm 12 nimmt Paulus Körpermetaphorik in seine Aussagen über die Ekklesia auf.13 Sie hat im Laufe des Christentums eine hohe Bedeutung für ekklesiologische Entwürfe gewonnen.14 Grundsätzlich ist für das Verständnis der paulinischen Ausführun11 Der erste frühchristliche Autor, bei dem der umfassende Charakter der Ekklesia auch als »katholisch« bezeichnet wird, ist Ignatius von Antiochien: »Wo Jesus Christus ist, da ist die umfassende Kirche« (ὥσπερ ὅπου ἂν ᾖ Ἰησοῦς Χριστός ἐκεῖ ἡ καθολικὴ ἐκκλησία ISmyrn 8,2). Das Nizäno-Konstantinopolitanum nennt die »eine, heilige, katholische und apostolische Kirche« als Teil des Bekenntnisses. 12 Andere Metaphern sind jene der Pflanzung (1 Kor 3,6 – 9), des Baus (1 Kor 3,9 – 12) und des Tempels (1 Kor 3,16 f.), wobei nicht immer deutlich ist, wie weit sie sich auf die Gemeinschaft als Ganze oder ihre Mitglieder beziehen. Vgl. dazu die Übersicht bei C. Gerber, Ekklesiologische Metaphern in den paulinischen Briefen, in: F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 412 – 415. 13 Allerdings findet sich der Begriff ἐκκλησία selbst nur in 1 Kor 12,28, wo recht wahrscheinlich von aktuellen Versammlungen die Rede ist, in denen Gott verschiedene Funktionen eingesetzt hat. Zu Gal 3,28b, das häufig dafür in Anspruch genommen wird, dass Paulus die Leibmetaphorik als Tradition vorgefunden hätte, vgl. jetzt die Überlegungen von J. Herzer, »Alle Einer in Christus« – Gal 3,28b und kein Ende? Ein Vorschlag, in: M. Labahn, Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament (Festschrift U. Schnelle), Göttingen 2017, 127 – 142. Herzer zeigt überzeugend, dass die Lesart ὑμεῖς Χριστοῦ Ἰησοῦ (»ihr seid des Christus Jesus«) gegenüber jener in NA28 (ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ – »ihr seid einer in Christus Jesus«) vorzuziehen ist. 14 Man denke nur an Formulierungen wie corpus permixtum, corpus verum, corpus mysticum oder vgl. den Beitrag von H.-P. Grosshans, Die Kirche – Sozialform versöhnten Lebens, in diesem Band. M. Laube, Systematische Theologie, in: C. Albrecht (Hg.), Kirche (UTB 3445), Tübingen 2011, 131 – 170, hält für die gegenwärtigen Debatten einer Ekklesiologie hingegen fest, dass »die verfügbaren Wesensbegriffe der Kirche – wie etwa sanctorum communio oder Leib Christi – vorneuzeitlichen Sozialverhältnissen verpflichtet sind und an der Aufgabe scheitern, die mit dem Übergang zur modernen Ge-
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 363
gen zu beachten, dass die Körpermetaphorik nicht hierarchisch ausgerichtet ist, sondern dem Anliegen dienen soll, die Egalität aller Glaubenden einer Ekklesia zu verankern. Der Kopf wird daher in 1 Kor 12,21 nicht anders in den fiktiven Dialog der Glieder eingebracht als die Füße oder andere Körperteile. Er steht also bei Paulus, anders als im Kolosser- und Epheserbrief, nicht an der Spitze des Körpers. Obwohl der Apostel sehr wahrscheinlich die Verwendung der Körpermetaphorik in Überlegungen zum Königtum bzw. Staat kannte, in denen das Haupt öfter als leitendes Organ hervorgehoben wurde,15 übergeht er diesen Aspekt. So ist daher auch klar: Christus ist nicht Teil des Körpers und der Satz »Ihr aber seid Leib Christi« (ὑμεῖς δέ ἐστε σῶμα Χριστοῦ 1 Kor 12,27) soll vielmehr zum Ausdruck bringen, inwiefern die Ekklesia von Korinth Leib ist, nämlich nur in ihrer Bindung an Christus.16 Umstritten und für das Verständnis der paulinischen Ekklesiologie von großer Bedeutung ist die Frage, was Paulus in 1 Kor 12,12 meint, wenn er schreibt: πάντα δὲ τὰ μέλη τοῦ σώματος πολλὰ ὄντα ἕν ἐστιν σῶμα, οὕτως καὶ ὁ Χριστός (»Alle Glieder des Körpers, die viele sind, sind ein Körper, so auch der Christus«). Schon immer – seit Johannes Chrysostomos (hom. Cor. 30,1) – ist aufgefallen, dass Paulus eigentlich hätte schreiben müssen: »so auch die Gemeinde« (οὕτως καὶ ἡ ἐκκλησία). Das tut er aber gerade nicht. Was ist also mit οὕτως καὶ ὁ Χριστός gemeint? Wolfgang Schrages Perspektive, die im Wesentlichen Ernst Käsemanns Position aufnimmt, wird in seiner Paraphrase des Verses deutlich: »So ist auch der Christus einer und hat viele Glieder, alle Glieder Christi aber, obschon es viele sind, bilden den Christus.«17 Nach Schrage sei daher »vom Leib als lebendiger Wirklichkeit des Christusleibes der Gemeinde nicht zu abstrahieren«. Paulus spreche also nicht im metaphorischen Sinn vom Leib Christi: Die Gemeinde ist der
sellschaft verbundenen Umbrüche im Verhältnis von Kirche und Frömmigkeit theologisch zu begreifen« (152). 15 Vgl. etwa von Platon in Politeia 4,440e.441a; Leges 12,961d-962c.964e und Timaios 30b – 34b, oder bei Cicero, De officiis 1,85; 3,22 und Livius, Ab urbe condita 2,32,5 – 12; vgl. den Überblick bei M. Walter, Gemeinde als Leib Christi. Untersuchungen zum Corpus Paulinum und zu den »Apostolischen Vätern« (NTOA 49), Freiburg i. Br. u. a. 2001, 70 – 98. 16 Vgl. Wolter, Paulus (s. Anm. 3), 295. 17 W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1 Kor 11,17 – 14,40 (EKK VII / 3), Zürich u. a. 1999, 211.
364 Markus Öhler Leib, »sie repräsentiert als Leib Christi den Christus in der Welt«.18 Der aus der Umwelt übernommene Organismusgedanke habe daher nur sekundäre Bedeutung. Das meine zwar nicht »Wo die Kirche ist, da ist auch Christus«, aber immerhin: »Wo Christus ist, da ist auch sein Leib.«19 Helmut Merklein und Marlies Gielen formulieren ähnlich: Paulus spreche vom Leib Christi »nicht nur bildlich (etwa: ihr seid wie der Leib Christi), sondern eigentlich«.20 Er habe diesen Gedanken erst bei der Abfassung des 1. Korintherbriefes entwickelt, sein Ziel sei die Etablierung christlicher Identität gewesen. Als solche, in denen Christus lebt (vgl. Gal 2,20), seien sie alter Christus, und dies nur gemeinschaftlich.21 Dieter Zeller betont hingegen, dass mit dem σῶμα nicht Christus an sich gemeint sei, sondern Christus, der einen ekklesialen Leib hat.22 Wenn vom »Leib Christi« die Rede sei, dann von Christus als dem Besitzer des Leibes. Doch das sei, so Zeller, nicht eigentliche Rede, als ob die Ekklesia der Leib wäre, Paulus bleibe vielmehr im Metaphorischen. In der Tat lässt sich das gut in Röm 12,5 erkennen: »Wir, die Vielen, sind ein Leib in Christus« (οἱ πολλοὶ ἓν σῶμά ἐσμεν ἐν Χριστῷ).23 Die Spezifizierung »in Christus« in Röm 12,5 macht m. E. tatsächlich erkennbar, dass Paulus zwischen dem Leib und Christus unterscheidet, sodass der Leib weder Christus ist bzw. Christus auch nicht aus den Gliedern des Leibes besteht. Paulus verstand die Rede vom Leib Christi als Metapher, nicht im Sinne einer räumlich-realen Körperlichkeit des himmlischen Kyrios in der Form einer umfassenden Kirche. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht schließlich auch die Schlussformulierung in 1 Kor 12,27: »Ihr seid aber Leib Christi und Glieder als Teil« (ὑμεῖς δέ ἐστε σῶμα Χριστοῦ καὶ μέλη ἐκ μέρους). Auch wenn die meisten Übersetzungen – z. B. die Luther- oder auch die Einheitsübersetzung – σῶμα Χριστοῦ mit »der Leib Christi« wiedergeben, also den Artikel ergänzen, ist doch zu bedenken, dass das Fehlen des 18
A. a. O., 212. Ebd. H. Merklein/M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther Kapitel 11,2 – 16,24 (ÖTK 7,3), Gütersloh 2005, 134. 21 A. a. O., 141. 22 D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 397. 23 Ebd.: »Die Kirche ist nicht einfach der physische Leib Christi, aber die Leibmetapher gilt in einem vertieften Sinn für sie auf Grund des mit ›Christus‹ signalisierten Heilsgeschehens.« 19
20
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 365
Artikels etwas Abstraktes anzeigt, das eben nicht konkret ist.24 Ob Paulus an einen umfassenden Leib Christi denkt, an dem Christusgläubige aus allen Gemeinden teilhaben, oder ob er von der konkreten Versammlung ausgeht, wird durch das Fehlen des Artikels freilich nicht angezeigt.25 So nimmt Paulus in 1 Kor 12 beide Perspektiven ein: Zum einen geht es ihm um das Verhältnis der Korinther untereinander, welches er durch die Körpermetaphorik bestimmt. In dieser Hinsicht bezieht sich die Rede vom Leib auf die jeweilige konkrete Versammlung. Sie sind einander Glieder, weil sie Christi Leib sind. Zum anderen gilt das aber auch für alle Christusgläubigen, nicht nur für jene in Korinth. In dem einen Geist sind alle in einen Leib hineingetauft (εἰς ἕν σῶμα; 1 Kor 12,13). Paulus schreibt hier – wie in Röm 12,4 f. – in der ersten Person Plural: Die Glaubenden an allen Orten, er selbst und jene, die nicht in der korinthischen Gemeindeversammlung sind, sind einander Glieder am σῶμα Χριστοῦ. So sind auch alle Christusgläubigen Heilige, Kinder Gottes, Nachkommen Abrahams – es geht um eine qualitative Bestimmung, hier freilich in relationaler Perspektive. Das Verbindende zwischen den Versammlungen ist – neben der Person des Paulus – das Hineingenommensein in die Heilsgeschichte Gottes durch das Christusereignis.26 Die Glieder des metaphorischen Leibes Christi treffen sich so jeweils in Versammlungen, deren Ordnungen durch die Leibmetapher bestimmt sein sollen (1 Kor 16,19 u. v. m.). Eine katholische »Kirche« ist damit nicht gemeint, geschweige denn
24 Vgl. zum entsprechenden Gebrauch des Artikels R. D. Peters, The Greek Article. A Functional Grammar of ὁ-Items in the Greek New Testament with Special Emphasis on the Greek Article (Linguistic Bible Studies 9), Leiden 2014, 227. 25 Zeller, 1 Kor (s. Anm. 22), 401, verweist hingegen dafür, dass der Artikel mitzudenken sei, auf 1 Kor 3,16: ναὸς θεοῦ ἐστε; ähnlich Schrage, 1 Kor (s. Anm. 17), 230 f. Allerdings ist auch dort nicht angezeigt, dass es ein bestimmter Tempel, etwa jener in Jerusalem wäre, mit dem Paulus die Gemeinschaft der Glaubenden vergleicht. Viel eher denkt Paulus allgemein an ein Tempelgebäude. 26 Vgl. zu dieser Frage auch den Beitrag von H.-P. Großhans in diesem Band, der allerdings Evangeliumsverkündigung und Sakramentsausteilung als Basisbestimmung der Einheit der Kirche ansieht. Die hohe Wertung des Dienstes am Wort (in Verkündigung und Sakrament) für die Einheit der Kirche hat eine ntl. Wurzel in der Bedeutung, die Paulus seiner eigenen Verkündigungstätigkeit gegeben hat.
366 Markus Öhler eine Institution.27 Das eigentliche Ziel der Körpermetaphorik ist nämlich nicht die Etablierung einer Ekklesiologie, sondern die Verhältnisbestimmung der Mitglieder der jeweiligen Ekklesia bzw. aller Christusgläubigen zu einander.
1.3 Paulus und das Volk Gottes Von den zahlreichen Verwendungen des Begriffes λαός (»Volk«) bei Paulus beziehen sich die allermeisten auf das Volk Israel. Mit λαός nimmt der Apostel ein Wort aus der LXX auf, mit dem das eine Volk Israel von den anderen Völkern (ἔθνη) unterschieden wird.28 An lediglich zwei Stellen aus den Paulusbriefen ließe sich ein Gebrauch festmachen, wonach Paulus die Christusgläubigen als Volk bezeichnen würde, nämlich 2 Kor 6,16 und Röm 9,25 f. In 2 Kor 6,14 – 7,1 findet sich eine heftige Polemik gegen jedwede Verbindung mit den Ungläubigen. Im Gegensatz zu diesen wären die Glaubenden Tempel Gottes (vgl. 1 Kor 3,17), was u. a. mit einem Zitat aus Ez 37,27 belegt wird: »Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein.« Der Gedanke des Volkes wird also von Israel auf die Christusgläubigen aus den Völkern und aus Israel übertragen. Freilich wird – und das wird auch durch die Verwendung von λαός wahrscheinlich gemacht – der ganze Abschnitt 2 Kor 6,14 – 7,1 zu Recht für einen nachpaulinischen Einschub gehalten, der in einem frühen Stadium in den Text eingedrungen ist.29 Für eine Gottesvolk-Ekklesiologie ist der Text also kein Anhaltspunkt. In Röm 9,25 f. greift Paulus auf Hosea zurück (Hos 2,1.25; vgl. 1 Petr 2,10): »Ich werde mein Nicht-Volk mein Volk nennen und die Nicht-Geliebte Geliebte; und es wird sein an dem Ort, wo ihnen ge27 So hat dann die patristische Auslegung den Leib gedeutet; vgl. etwa Johannes Chrysostomus, hom. Cor. 32,1 (264). Fasst man »katholisch« im Sinne einer von allen Versammlungen geteilten Gemeinsamkeit (vgl. den Beitrag von H.-P. Großhans), wird man aus der Perspektive des Neuen Testaments den Christusbezug in den Vordergrund stellen, wie auch immer die jeweiligen christologischen Verständnisse des frühen Christentums (nicht nur im Neuen Testament) ausgeprägt waren. 28 Vgl. etwa auch Roloff, Kirche (s. Anm. 10), 119. 29 Anders etwa W. Kraus, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (WUNT 85), Tübingen 1996, 261 – 268, der von Paulus als Verfasser ausgeht; zur gegenwärtigen Diskussionslage s. T. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther. 2 Kor 1,1 – 7,4 (EKK VIII / 1), Neukirchen-Vluyn u. a. 2010, 22 f.369 – 382.
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 367
sagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk; dort werden sie gerufen werden Söhne des lebendigen Gottes.« Wie wenig damit aber tatsächlich ausgesagt sein soll, dass die Versammlung der Christusgläubigen »Volk Gottes« ist, wird daran erkennbar, dass Paulus diese Metaphorik nicht weiterführt, sondern in Röm 9,30 die Gegenüberstellung von Nicht-Volk und Volk auslegt: »Was wollen wir nun sagen? Dass die Völker, die nicht nach Gerechtigkeit strebten, Gerechtigkeit erlangt haben.« Das im Zitat Gesagte illustriert also die Aussage über die Gerechtmachung und ist keine Wesensaussage über die Versammlung der Glaubenden. Hoch umstritten ist weiters die Frage, wie weit Paulus von den Christusgläubigen aus Juden und Nicht-Juden als neuem Israel schreibt (Gal 6,16; Röm 9,6). Auch wenn sie hier nicht ausführlich diskutiert werden kann, ist doch wichtig festzuhalten, dass falls der Gedanke des Gottesvolkes hier angedeutet wäre, Paulus ihn an keiner Stelle ausformuliert oder im Sinne einer Israel-Ekklesiologie ausgearbeitet hat. Letzteres lässt sich auch über die Rede von Nachkommenschaft – »Same Abrahams« – sagen (Gal 3,16.29; Röm 4,16; Röm 9,7): Paulus geht es hier um heilsgeschichtliche Zusammenhänge, die nicht ausgewertet werden, um eine Vorstellung von der daraus entstehenden Gruppe als Gottesvolk zum Ausdruck zu bringen. Die heilsgeschichtliche Dimension des Handelns Gottes wird auch dort deutlich, wo Paulus Israel und die Versammlung der Christusgläubigen in einer Art Typologie gegenüberstellt (1 Kor 10,1 – 13). Die Ereignisse der Wüstenzeit, in der die Generation der aus Ägypten Ausgezogenen die Versorgung Gottes mit Wasser und Manna verspielte, werden als warnendes Exempel für die korinthische Gemeinde herangezogen, allerdings wird die (völkerchristlich geprägte) Ekklesia von Korinth dadurch ja nicht zum Volk Gottes erklärt.30 Die Rede vom »Volk Gottes« als eine der Basismetaphern paulinischer Ekklesiologie zu bezeichnen,31 geht daher nach meinem Urteil fehl, so sehr Paulus daran gelegen war, dass auch die Christusgläubi30 Selbst Roloff, Kirche (s. Anm. 10), 120, vermag diesen Abschnitt nur unter größten Schwierigkeiten für seine These des »Gottesvolkes« heranzuziehen. 31 So zuletzt wieder U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments (UTB 2917), Göttingen 32016, 318. Vgl. auch K. Niederwimmer, Theologie des Neuen Testaments. Ein Grundriss, Wien, 32004, 151, wonach mit Ekklesia »das endzeitliche Gottesvolk, die heilige Gemeinschaft derer, die Gott selbst in dieser Stunde zu sich gerufen hat, das eigentliche Israel, dem die Verheißungen gelten, das Volk der Endzeit« gemeint sei.
368 Markus Öhler gen aus den Völkern jenes Heil empfangen, das Gott Israel zusagte. Die Deduktion der Gottesvolkmetaphorik aus Begriffen wie »Gottessohnschaft«, »Erwählung«, »Berufung« usw.32 kann m. E. nicht ersetzen, dass Paulus an keiner Stelle die Christusgläubigen Volk (λαός) nennt. Bei der Leibmetaphorik oder der Verwendung von Ekklesia gebraucht er die Begriffe völlig selbstverständlich. Wenn etwa die Christusgläubigen als »Kinder Gottes« bezeichnet werden, als »Geliebte Gottes« (Röm 1,7), als »Tempel« (1 Kor 3,16 f.) oder »Neue Schöpfung« (2 Kor 5,17; Gal 6,15) und diese Begrifflichkeit »über weite Strecken aus dem Bereich der Gottesvolkthematik bzw. dem Selbstverständnis Israels übernommen« wäre,33 wieso verweigerte sich Paulus dann der Rede vom Gottesvolk so deutlich? Doch wohl deshalb, weil er sie als ungeeignet dafür hielt, die Eigenart seiner völkerchristlichen Ekklesiai zu beschreiben, die zwar Anteil an den Verheißungen Israels haben, aber nicht Israel sind.34
1.4 Ekklesia im Epheserbrief Ausgehend von paulinischen Formulierungen zu Ekklesia und Leibmetaphorik sowie von den kosmologischen Aussagen des Kolosserbriefs, in denen die Herrschaft des Kyrios über das All im Vordergrund steht (Kol 1), entwickelt der Verfasser des Epheserbriefs seine ekklesiologischen Überlegungen. Dabei ist vor allem zu konstatieren, dass mit Ekklesia hier nicht mehr – wie bei Paulus – die Einzelgemeinde im Blick ist, sondern versucht wird, über die einzelne Versammlung hinaus eine größere Perspektive zu finden. Eine solche war bei Paulus lediglich dort angedeutet, wo er den Christusgläubigen in ihrem Gottesverhältnis eine gemeinschaftliche Identität als Heilige, Geheiligte, Erwählte usw. zusprach bzw. die Verhältnisbestimmung der Einzelnen zueinander als Glieder des Leibes Christi für alle voraussetzte. Doch ist eine Warnung am Platz: Von einem universalkirchlichen Konzept, wie es sich im Apostolikum findet, ist auch der Epheserbrief noch ein Stück weit entfernt. Die Formulierung, dass Christus Angehörige aus dem Volk der Judäer und solche aus den Völkern eins (ἕν) bzw. »zu einem neuen Menschen« (εἰς ἕνα καινὸν ἄνθρωπον) gemacht habe (Eph 2,14 f.), 32
So etwa Kraus, Volk (s. Anm. 29), 111 – 119. A. a. O., 118. 34 Das entspricht m. E. auch dem Umstand, dass Paulus die von ihm gegründeten Gemeinden nicht als Synagogen bezeichnete. 33
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 369
gipfelt darin, dass sie »in einem Leib« (ἐν ἑνὶ σώματι) durch den Kreuzestod mit Gott versöhnt wurden (Eph 2,16).35 Die kollektivistischen Aussagen über die Völker und Israel bzw. Unbeschnittenheit und Beschneidung (Eph 2,11 f.) würden den Schluss zulassen, dass der Verfasser von einer einzigen umfassenden Kirche im Sinne des Apostolikums spreche.36 So ist auch in 1 Kor 12 angelegt, von den Christusgläubigen als Glieder am Leib Christi zu sprechen, sodass der Weg zur Rede von der Ekklesia als »einem Leib« nicht mehr weit ist. Nur verwendet der Verfasser hier eben nicht den Ausdruck ἐκκλησία, sondern spricht vom neuen Menschen.37 Ist so die Leibmetaphorik ausgeweitet, gilt dies allerdings nicht für die Rede von der Ekklesia, da der Bezug zur Bedeutung »Versammlung« stets gewahrt bleibt. Das wird u. a. daran erkennbar, dass der Verfasser zwischen Aussagen schwankt, die kollektiv die Ekklesia meinen, und jenen, die die individuellen Glaubenden in den Blick nehmen.38 Das macht aber wiederum deutlich, dass die Ekklesiologie des Epheserbriefes eine auf dem Weg von der Einzelgemeinde zur Gemeinschaft der Gemeinden ist.39 Der Brief ist also eher das Verbindungsglied zwischen der paulinischen und der patristisch geprägten Perspektive des Apostolikums als das Zeugnis des Wandels von der
35 Denkbar wäre auch, mit einem Teil der patristischen Auslegung die beiden Aussagen »in einem Leib« und »in ihm« instrumental zu verstehen. Dann handelt es sich gar nicht um den Leib Christi im Sinne von 1 Kor 12, sondern um den gekreuzigten Körper Christi, der als Mittel der Versöhnung mit Gott angesprochen wäre; so etwa H. Schlier, Der Brief an die Epheser. Ein Kommentar, Düsseldorf 1957, 135. 36 Für die gegenwärtige Diskussion vgl. die Ausführungen von H.-P. Großhans zu Eph 2. 37 Übrigens wird selbst hier, wo es aufgrund des verwendeten Sprachfeldes besonders naheliegend gewesen wäre, die Volk-Metaphorik nicht auf die Christusgläubigen bezogen. Unter den Schreiben aus der nachpaulinischen Tradition tut dies einzig 1 Petr 2,9 f.: »Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, königliches Priestertum, heiliges Volk (ἔθνος), Volk (λαός) zum Besitztum.« 38 Vgl. dazu C. Gerber, Die alte Braut und Christi Leib. Zum ekklesiologischen Entwurf des Epheserbriefs, in: NTS 59 (2013), 192 – 221: Sie verweist auf die parallelen Formulierungen in Eph 1,22 / 3,19; Eph 3,10 / 2,7; Eph 3,21 / 1,5 f.; Eph 5,23 / 2,5.8; Eph 5,25 / 5,2; Eph 5,27 / 1,4. Jeweils werden ähnliche Aussagen über Ekklesia und die Glaubenden als Einzelne gemacht. 39 Gerber, Braut (s. Anm. 38), 210: »Er referiert vielmehr auf die Versammlung der Glaubenden an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten.«
370 Markus Öhler Gemeinde zur Kirche.40 Insofern ist der Lutherübersetzung durchaus Recht zu geben, die ἐκκλησία durchweg mit »Gemeinde« wiedergibt (Eph 1,22; Eph 3,10.21; Eph 5,23 – 32). In Eph 1,20 – 23 verbindet der Verfasser die Aussagen über die Ekklesia mit herrschaftlichen Formulierungen: Christus, der von Gott eingesetzt ist »über alle Hoheit und Macht und Kraft und Herrschaft und jeden Namen«, herrscht jetzt und im kommenden Äon (Eph 1,21). Mithilfe von Ps 8,7, auf den auch Paulus Bezug nimmt (1 Kor 15,27), bringt der Vf. in Eph 1,22 Körpermetaphorik ein: Alles hat er, Gott, unter seine, Christi, Füße getan (πάντα ὑπέταξεν ὑπὸ τοὺς πόδας αὐτοῦ). Die weitere Formulierung in Eph 1,22 καὶ αὐτὸν ἔδωκεν κεφαλὴν ὑπὲρ πάντα τῇ ἐκκλησία wird nun allerdings unterschiedlich wiedergegeben: Luther übersetzte 1534 »und hat ihn gesetzt zum heubt der Gemeinen über alles« und fügt als Kommentar hinzu: »Christus ist ein solch heubt der Gemeine, das er gleich wol ueber alles ein Herr ist, ueber teufel, welt etc.« Nach dieser Deutung wäre Christus sowohl Haupt der Kirche als auch Haupt der Welt, sodass die Herrschaft Christi über den Kosmos auch die Herrschaft über die Kirche einschließt. Daraus lässt sich auch weiterdenken: Die Kirche ist der schon sichtbare Herrschaftsbereich des Christus.41 Gerhard Sellin versteht ὑπὲρ πάντα völlig anders, nämlich komparativisch: Christus sei der Ekklesia gegeben »mehr als allem« oder
40 Die universalistische Deutung (u. a. bei Roloff, Kirche [s. Anm. 10], 231 – 249) betont hingegen: Die Ekklesiologie des Eph soll die Einzelgemeinden als soziale Identität verbinden. Das bedeutet eine Entindividualisierung sowohl von Gemeinden als auch Glaubenden zugunsten einer übergreifenden Identitätsbestimmung, die in der nachpaulinischen Zeit durch den Apostel als Gründungsgestalt und gemeinsamen Bezugspunkt neu entwickelt wird. Das spielte auch eine wichtige Rolle im Gespräch der Ökumene: So wird man nach Roloff »unschwer in der Ekklesiologie des Epheserbriefes katholische Züge aufzeigen können. […] Protestantische Theologie tut sich mit ihm ausgesprochen schwer« (a. a. O., 249). 41 A. a. O., 235: »Die Kirche ist hier ein Stück himmlische Wirklichkeit.« J. Schröter, Neues Testament, in: Albrecht, Kirche (s. Anm. 14), 37 – 77: Es »ergibt sich eine Sicht auf die Kirche als Raum, in dem die Herrschaft Christi bereits gegenwärtig realisiert wird« (58). H. Roose, Die Hierarchisierung der Leib-Metapher im Kolosser- und Epheserbrief als »Paulinisierung«: Ein Beitrag zur Rezeption paulinischer Tradition in pseudo-paulinischen Briefen, in: NT 47 (2005), 117 – 14 (138 f.), entwickelt dies weiter zur Aussage der Herrschaft der Kirche über die Welt.
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 371
»alles überragend«.42 Angesichts dessen, dass die Formel ὑπὲρ πάντα auch in Eph 3,20 begegnet, und dort tatsächlich im Sinne eines »über alles hinaus« zu verstehen ist, halte ich das für überzeugend. Christus, dem alles unterworfen ist, ist also der Ekklesia darüber hinaus als ihr Haupt gegeben. Sie, die Ekklesia, ist der Leib Christi, nicht das All.43 Sie, die Ekklesia, ist daher auch Gefäß für die Fülle (πλήρωμα) dessen, der alles in allem erfüllt. Erfüllt wird aber laut Eph 3,19 nicht die Ekklesia als Gesamtheit, sondern die Einzelnen.44 Erneut ist daher zu betonen: Die versammelten Christusgläubigen sind Objekt des Handelns Gottes bzw. Christi, nicht die Institution Kirche. Der Verfasser denkt zwar global, aber nicht im Sinne des Apostolikums, wonach »die umfassende Kirche« Gegenstand des Glaubens ist. Der / die Einzelne ist Glied am Leib, dessen Haupt Christus ist und der diesen zusammenhält. Der / die Einzelne ist jeweils aufgefordert, diesem Anspruch der Teilhabe zu genügen und in der Liebe zu wachsen (Eph 4,15 f.). Das wird gerade in jenem Abschnitt besonders deutlich, in dem Ekklesia und Christus als Braut und Bräutigam verbunden sind (Eph 5,21 – 33). Denn die Reinigung der Braut »im Wasserbad durch das Wort« (Eph 5,26) kann ja nicht die »Kirche« betreffen, sondern nur die einzelnen Glaubenden, die als Getaufte Glieder des Leibes sind (Eph 5,30).45 Gerade in diesem Abschnitt wird also besonders deutlich, dass der Verfasser die Leibmetaphorik aufnimmt, ohne darauf zu vergessen, dass die Ekklesia aus den Glaubenden besteht. Sie sind es auch, die im Gegenüber zur Welt stehen (Eph 6,11): Gegen die Machenschaften des Teufels sollen von ihnen – nicht der Kirche – Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden, Glaube, Heil und Geist zum Einsatz gebracht werden. Dass sie daraus als Sieger hervorgehen würden, ist klar, da der Sieg des Christus ja schon errungen ist und er seine 42 G. Sellin, Der Brief an die Epheser (KEK 8), Göttingen 2008, 145 f.; vgl. Gerber, Braut (s. Anm. 38), 206. Auch in Luthers Septembertestament von 1522 hatte es noch geheißen: »Vnd hat alle ding vnter ſeyne fuſſe gethan / vnnd hat yhn geſetzt fur allen dingen zum hewbt der gemeynen.« »Fur allen dingeen« meint zumindest an anderen Orten bei Luther »vor allem« (z. B. WA 6,461). 43 Gerber, a. a. O., 208. Das ist im Wesentlichen eine Präzisierung von Kol 1,18: »Er ist das Haupt des Leibes der Ekklesia.« 44 Anders Roose, Hierarchisierung (s. Anm. 41), 138, wonach klar sei: »Die Kirche ist der Raum, wo sich diese Fülle Christi niedergelassen hat und anwesend ist.« 45 Gerber, Braut (s. Anm. 38), 213 f.
372 Markus Öhler Herrschaftsstellung bereits angetreten hat. Die Ekklesia ist hingegen nicht jener Raum, in dem sich die Christusherrschaft schon vollzieht, sondern der soziale Raum, in dem unter der Bedingung des Heilsereignisses gelebt und dieses gefeiert wird (Eph 5,15 – 20).46
2. Sanctorum communio Die zweite Formulierung des Apostolikums mit Bezug zur Kirche lautet sanctorum communio. Die Bedeutung dieser Aussage ist allerdings schwer zu bestimmen.47 Im Folgenden werden alle drei Möglichkeiten durchgespielt und auf einen möglichen neutestamentlichen Hintergrund befragt.
2.1 Die sakramentale Deutung Nach der sakramentalen Interpretation würde die »Gemeinschaft der Heiligen« die Teilhabe »am Glauben, an den Sakramenten, besonders an der Eucharistie, an den Charismen und an den anderen geistlichen Gaben« meinen.48 Dafür spricht unter anderem, dass Taufe und Abendmahl bzw. allfällige weitere Handlungen ohne diese Formulierung im Credo fehlen würden. Im Neuen Testament gibt es für eine Deutung der sancta als Sakramente allerdings kaum Anhaltspunkte. Am ehesten ist dies noch in 1 Kor 10 zu finden: In 1 Kor 10,16 schreibt Paulus im Blick auf das Mahl von der Gemeinschaft (κοινωνία) des Blutes bzw. Leibes Christi. Über Israel hält er dementsprechend fest, dass ihre Gemeinschaft jene am Altar (des Jerusalemer Tempels) ist (1 Kor 10,18). Auch die paganen Kulthandlungen setzen voraus, dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen Gemeinschaft mit den bösen Geistern und Götzen haben (1 Kor 10,20). Das auch bei Paulus als Opfermahl gedachte gemeinschaftliche Bankett ist also dadurch gekennzeichnet, dass mit der Gottheit Gemeinschaft eingegangen wird, welche für Christusgläubige nur Christus selbst sein 46 H.-P. Großhans formuliert das in seinem Beitrag ähnlich: »Die Kirche ist vielmehr der soziale Raum, in dem auf Erden der Glaube und das mit ihm gegebene Heil vollzogen und gelebt wird.« (406) 47 Nähere Details zu dieser Frage sind zu finden im Beitrag von P. Gemeinhardt, Vom Werden des Apostolikums, in diesem Band. 48 Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, München u. a. 2007 (Nachdruck v. 2003), § 194; vgl. A. Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, Göttingen 1991, 215.
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 373
kann. Von einem »Heiligen« oder einer heiligen Handlung ist hier allerdings nicht die Rede, denn die Bezeichnung als »heilig« wird im Neuen Testament weder der Taufe noch dem Gemeinschaftsmahl zugesprochen. Zwar dienen sie, wie etwa die Taufe, zur Heiligung (1 Kor 6,11), doch geht dies in eine andere Richtung.49 Das Adjektiv ἅγιος wird im Neuen Testament durchwegs mit Personen verbunden, mit Gott, Christus, dem Geist, den Engeln, den Propheten und vor allem den Glaubenden (s. u.). Selbst die Aussage in Did 9,2 – »Wir danken Dir, unser Vater, für den heiligen Weinstock« – meint nicht direkt den Wein, sondern König David. Lediglich in Did 9,5 lässt sich indirekt erkennen, dass die eucharistischen Gaben selbst als heilig qualifiziert werden.50 Der Verfasser wendet dort nämlich einen Satz aus dem Matthäusevangelium – »Gebt das Heilige nicht den Hunden!« (Mt 7,6) – auf die Zulassung zum Mahl an: Es ist nur Getauften zugänglich.51 Das bedeutet nun freilich nicht, dass Taufe und Eucharistie nicht integrative und bestimmende Merkmale der Ekklesiai bzw. der Kirche waren, im Gegenteil: Die Taufe als der Initiationsritus, das Mahl als der Gemeinschaftsritus waren durchgehend Teil der Praxis und der darauf bezugnehmenden Theologie, und zwar in allen Ausformungen des frühen Christentums. Ist es daher sprachlich aus neutestamentlicher Perspektive nicht naheliegend, in den sancta die Sakramente zu sehen, so liegt es sachlich auch vom Neuen Testament her nahe, sie als Glaubensgegenstand im Bekenntnis zu verankern. Ohne identitätsbestimmende und -gestaltende Riten gab und gibt es keine Kirche.52
2.2 Die martyrologische Deutung Eine weitere Möglichkeit ist, dass die »Gemeinschaft der Heiligen« die communio der lebenden Glaubenden mit den im Himmel versam-
49 Die einzige Handlung in der Gemeinde, die bei Paulus explizit als »heilig« bezeichnet wird, ist der Kuss (1 Thess 5,26; 1 Kor 16,20; 2 Kor 13,12). 50 In Did 10,3 dankt der Verfasser Gott für geistliche Speise und Getränk. 51 Im AT ist hingegen die Bezeichnung »heilig« für eine Reihe von Gegenständen überliefert: z. B. Ex 29,33 über das Fleisch, das für Priester bestimmt ist, oder Ex 30,25 – 29 über das heilige Salböl, das alle Dinge im Heiligtum heiligen soll. 52 Vgl. dazu auch den Beitrag von H.-P. Großhans und seine Ausführungen zu CA VII.
374 Markus Öhler melten Märtyrern und Märtyrerinnen meint.53 Damit würde zugleich eine passable Verbindung zwischen der Kirche und der im Apostolikum ebenfalls genannten »Auferstehung des Fleisches« hergestellt. Die Vorstellung, dass die Gerechten als »Heilige im Himmel« weilen, war im antiken Judentum verbreitet.54 In Eph 3,5 werden die Apostel und Propheten (vgl. Apg 3,21; 1 Petr 3,2), in Eph 3,8 Paulus selbst als heilig bezeichnet. Die Zusage, das Erbe der Heiligen zu empfangen (Kol 1,12), könnte auch darauf hindeuten, dass die Gemeinschaft mit ihnen Teil der eschatologischen Hoffnung ist. Vor allem aber ist es die Johannesapokalypse, die wenigstens ansatzweise die Möglichkeit bietet, Christusgläubige vor allem wegen ihrer Bewährung in der Verfolgung als Heilige zu verstehen. Als der Prophet Johannes in einer vorweggenommenen Erstvision der endzeitlichen Versammlung vor dem Thron Gottes Menschen in weißen Gewändern sieht, wird ihm erklärt, diese seien jene, »die aus der großen Bedrängnis kommen« (Apk 7,14). Auch in anderen Zusammenhängen werden diese Treuen (Apk 13,12; Apk 14,12) als »Heilige« bezeichnet: Sie werden vom Tier aus dem Meer im Krieg getötet (Apk 13,7), ihre Gebete werden als Räucheropfer vor Gott gebracht (Apk 5,8; Apk 8,3 f.). Laut Apk 17,6 sind sie zugleich Heilige und Zeugen Jesu (μαρτύροι Ἰησοῦ). Auch wenn der Vf. selbst den Gedanken von im Himmel bereits wartenden Heiligen nicht teilt, weil er ja von einer endzeitlichen Auferstehung der getöteten Gerechten ausgeht (Apk 20,4; vgl. Mt 27,52), ist eine Interpretation der sanctorum communio auf die »Gemeinschaft der 53 Diese Deutung findet sich – ergänzt um die Personen im Purgatorium – im Katechismus der Katholischen Kirche: »Dieser Ausdruck bezeichnet auch die Gemeinschaft zwischen den heiligen Personen (sancti), also zwischen denen, die durch die Gnade mit dem gestorbenen und auferstandenen Christus vereint sind. Die einen pilgern auf Erden; andere sind aus diesem Leben geschieden und werden, auch durch die Hilfe unserer Gebete, geläutert; wieder andere schließlich genießen bereits die Herrlichkeit Gottes und treten für uns ein. Alle zusammen bilden in Christus eine einzige Familie, die Kirche, zum Lob und zur Ehre der Dreifaltigkeit.« Katechismus der Katholischen Kirche (s. Anm. 48), § 195; vgl. Peters, Kommentar II (s. Anm. 48), 216. 54 Vgl. dazu M. Bohlen, Sanctorum Communio. Die Christen als »Heilige« bei Paulus (BZNW 183), Berlin 2011, 51 – 54. Dass darüber hinaus die Engel und andere Wesen des himmlischen Thronstaates als heilig gelten, ist breit belegt, doch scheint dies in der Interpretation des Apostolikums keine Rolle gespielt zu haben. Die Unterscheidung zwischen heiligen Engeln und heiligen Menschen ist allerdings nicht immer leicht: So ist 1 Thess 3,13 – »mit allen Heiligen« – sehr wahrscheinlich so zu interpretieren, dass die mit Christus kommenden Heiligen Engel sind (vgl. Jud 14), da verstorbene Christusgläubige ja »schlafen« und erst auferstehen, wenn der Kyrios kommt (1 Thess 4,16).
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 375
Heiligen« im Himmel mit den Glaubenden auf der Erde so nicht ohne jede Basis im Neuen Testament.
2.3 Die ekklesiologische Deutung Als dritte Deutungsvariante steht schließlich jene im Raum, die auch Martin Luther vertrat, wonach »die Gemeinde der Heiligen« zum Ausdruck bringe, dass die Kirche »ein Gemeinde, darin eitel Heiligen sind oder noch klerlicher: eine heilige Gemeine« sei.55 Diese Deutung hat eine feste neutestamentliche Basis, gehört doch »Heilige« zu der am weitesten verbreiteten Bezeichnung im Neuen Testament.56 Sie findet sich in paulinischen Briefpräskripten (1 Kor 1,2; 2 Kor 1,1; Phil 1,1; Röm 1,7), in unterschiedlichen Kontexten der Paulusbriefe, aber auch in deuteropaulinischen Schriften (Kol 1,4.26; Eph 1,1; Eph 2,19; Hebr 13,24 u. v. m.), der Apostelgeschichte (Apg 9,13. 32. 41) und in der Johannesapokalypse (s. o.). Die Bezeichnung ist insofern auffällig, als sie eindeutig aus dem atl.-jüd. Zusammenhang stammt und dem griechischen Sprachgebrauch die Übertragung von »heilig« auf Menschen an sich fremd ist. Während also dort von ἅγιος v. a. in Bezug auf Tempel und Gottheiten die Rede ist, wird in der LXX, in 55 M. Luther, Der kleine Katechismus und ders., Der Große Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Göttingen 2014, 841 – 1162 (1062). Luther argumentiert historisch: »Die heilige Christliche Kirche heisset der Glaube Communionem Sanctorum, eine gemeinschafft der Heiligen, denn es ist beides einerley zusamen gefasst, aber vorzeiten das eine stücke nicht dabey gewesen, ist auch ubel und unverstendlich verdeutscht. Eine gemeinschafft der heiligen. Wenn mans deutlich geben solt, müste mans auff deutsche art gar anders reden, denn das wort Ecclesia heist eigentlich auff deutsch eine Versamlunge. Wir sind aber gewonet des wörtlins Kirche, welches die einfeltigen nicht von einem versamleten hauffen, sondern von dem geweiheten haus oder gebeu verstehen, wiewol das haus nicht solt eine Kirche heissen, on allein darumb, das der hauffe darin zusamen kömpt, denn wir, die zusamen komen, machen und nemen uns ein sonderlichen raum und geben dem haus nach dem hauffen ein namen. Also heisset das wörtlin Kirche eigentlich nichts anders, denn eine gemeine samlung und ist von art nicht deutsch, sondern griechisch (wie auch das wort Ecclesia), denn sie heissens auff ire sprach Kyria, wie mans auch lateinisch Curiam nennet. Darumb solts auff recht deutsch und unser mutter sprach heissen eine Christliche gemeine oder samlung oder auffs aller beste und klerste eine heilige Christenheit« (Luther, Der Große Katechismus, 1061 f.); vgl. Peters, Kommentar II (s. Anm. 48), 217 f. 56 Vgl. Trebilco, Self-Designations (s. Anm. 2), 122 – 163; Bohlen, Sanctorum Communio (s. Anm. 54).
376 Markus Öhler Qumran und in weiterer jüd.-hell. Literatur der Ausdruck für Israel, für Gruppen oder einzelne Personen verwendet. Die Selbstverständlichkeit, mit der Paulus diesen Ausdruck zur Bezeichnung seiner Adressaten und Adressatinnen nützt, ist ein Hinweis darauf, dass er dies bereits übernahm. Darauf verweisen zum einen Aussagen über »die Heiligen in Jerusalem« (2 Kor 8,4; 2 Kor 9,1; Röm 12,13; Apg 9,13), zum anderen aber auch die breite Verwendung in frühchristlicher Literatur, die nicht dem paulinischen Traditionsstrom angehört (Mt 27,52; Hebr 3,1; 6,10; Apk 5,8 u. ö.).57 Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass in der frühchristlichen Literatur als »Heilige«, so es nicht für Personen der Vergangenheit verwendet wird, immer Kollektive bezeichnet werden.58 Die Qualität von Heiligkeit der Christusgläubigen wird durch Paulus unterschiedlich bestimmt: Sie sind es »in Christus« (Phil 1,1 u. ö.), durch Berufung (1 Kor 1,2), durch die Taufe (1 Kor 6,11) oder werden es durch Heiligung (1 Thess 4,3.7). Heiligkeit ist eine von Gott geschenkte Qualität, die die Glaubenden von allen anderen Menschen unterscheidet und ihnen ermöglicht, dem heiligen Gott jetzt und im Eschaton zu begegnen. Von einer »Gemeinschaft der Heiligen« im eigentlichen Sinn ist aber auch im NT nicht die Rede, wenngleich die Sammelbezeichnung »die Heiligen« dieses Moment selbstverständlich enthält. Denn κοινωνία ist kein Wechselbegriff zu ἐκκλησία, sondern bezeichnet das gemeinschaftliche Moment der Versammlung, nicht die Gruppe an sich, wie das im Deutschen möglich ist. Auch das »Festhalten an der Gemeinschaft« (Apg 2,42) meint die Pflege des gemeinschaftlichen Umgangs, nicht das Festhalten an »der Gemeinde«. Paulinisch gesprochen ist gerade der Geistbezug hier zu berücksichtigen, ist doch die Gemeinschaft am Heiligen Geist ein Kennzeichen der Ekklesia (Phil 2,1 f.; 2 Kor 13,13). Die hohe Bedeutung von Gemeinschaft findet sich aber auch in den Johanneischen Schriften, die die κοινωνία als wesentliche Grundhaltung hervorheben, die in der Gemeinschaft mit Gott und Christus wurzelt und ihr entspricht (1 Joh 1,3.6 f.). In 57 Trebilco, Self-Designations (s. Anm. 2), 141 – 146, macht plausibel, dass die Bezeichnung auf die Anfänge der Jerusalemer Jesusbewegung zurückgeht. Wie weit sich die Terminologie kultischen Vorstellungen verdankt, ist nicht eindeutig zu bestimmen; vgl. die Diskussion bei Bohlen, Sanctorum (s. Anm. 54), 186 – 191. 58 Trebilco, a. a. O., 162: »It is inherent in the term when used of Christians that it is a corporate term and that people are together a ›holy community‹.«
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 377
die Nähe einer »Gemeinschaft der Heiligen« kommt auch 1 Petr 2,9, wo von den Christusgläubigen als einem »heiligen Volk« (ἔθνος) gesprochen wird. Aus ntl. Perspektive wäre also sanctorum communio dann so zu interpretieren, dass die »heilige umfassende Kirche« ein gemeinschaftliches Miteinander der Glaubenden, der Heiligen, darstellt. Auch darin findet sich ein Grundsatz widergespiegelt, der das frühe Christentum durchgängig durchzieht, wenn auch nie ausdrücklich artikuliert wird: Ohne Ekklesia bzw. ohne Kirche gibt es keine Glaubenden.59 An keiner Stelle wird der Christ explizit als losgelöst von Gemeinschaft mit anderen verstanden, sei sie aktuell und spirituell.60 Im Gegenteil: Der Christusglaube wird gemeinsam gelebt und dort, wo einzelne ihn bekennen, tun sie dies implizit oder explizit als Teil der Gemeinschaft (Apg 24,14), als Christianos (1 Petr 4,16).
3. Kirche und Geist Dass die Aussagen über die Kirche und die Gemeinschaft im direkten Anschluss an das Bekenntnis zum Glauben an den Heiligen Geist folgen, ist sowohl theologisch als auch mit Blick auf das Neue Testament folgerichtig, kommt doch die Versammlung der Christusgläubigen nicht ohne den Geistbezug zu Stande.61 Die Geisterfahrung gehört damit zu den Grundelementen des frühen Christentums, sehr wahrscheinlich von den Anfängen in Jerusalem an.62 Gemeinsam mit den 59
Auch dazu vgl. den Beitrag von H.-P. Großhans in diesem Band. Der Ausschluss aus der Ekklesia führt vielmehr zum Untergang (Mt 18,17) oder wenigstens nahe daran (1 Kor 5,1 – 5). In der Polemik gegen abweichende Lehren wird deren Vertretern der Verlust des Heils regelmäßig angedroht (1 Joh 2,18 f.; Jud 4 u. v. m.). 61 Noch einmal Luthers Großer Katechismus (Luther, Katechismus [s. Anm. 55], 1058): »Gleich wie der Son die Herrschafft uberkömpt, dadurch er uns gewinnet durch seine Geburt, sterben und aufferstehen etc. Also richtet der heilige Geist die heiligung aus durch die folgende stück, das ist durch die gemeine der Heiligen oder Christliche Kirche, Vergebung der Sünde, Aufferstehung des Fleisches und das ewige Leben, das ist das er uns erstlich füret in seine heilige Gemeine und in der Kirchen schos legt, dadurch er uns predigt und zu Christo bringet.« 62 Darauf deutet u. a. die Omnipräsenz der Rede vom Heiligen Geist im Neuen Testament. Er fehlt lediglich in 2 und 3 Joh. Vgl. u. a. J. Frey, Vom Windbrausen zum Geist Christi und zur trinitarischen Person. Stationen einer Geschichte des Heiligen Geistes im Neuen Testament, in: ders., Von Jesus zur 60
378 Markus Öhler Osterscheinungen waren die außergewöhnlichen ekstatischen Erfahrungen, die als Wirkungen des Heiligen Geistes gedeutet wurden, für die Identität der jüdischen Splittergruppe um jene, die sich auf Jesus als den auferstandenen Repräsentanten der Gottesherrschaft bezogen, zentral. Ihre Bedeutung in der Anfangszeit bestand sicherlich darin, Erwartungen der Endzeit, die durch die Visionen des Auferstandenen bereits induziert worden waren, als erfüllt zu sehen (vgl. Joel 3). Aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist zu konstatieren, dass ek statische Erfahrungen wie diese typisch für religiöse Aufbrüche sind. Bedenkenswert ist weiter, dass die »Geisterfahrung von Anfang an ein kommunikatives Phänomen« war.63 Zwar empfangen Einzelpersonen den Geist, sie sind aber dabei stets eingebunden in eine Gruppe, sodass man zu Recht formulieren kann: Aus der Geisterfahrung entsteht die Ekklesia, nicht allein aus Glauben oder Bekenntnis. Sie ist Teil sowohl der individuellen wie der kollektiven Identität der Christusgläubigen.
3.1 Geist und Ekklesia bei Paulus Die Paulusbriefe sind durchzogen von Aussagen über den Geist. Im Blick auf den gemeinschaftlichen Aspekt, der die Ekklesia ausmacht, sind zunächst Formulierungen auffällig, in denen davon die Rede ist, dass Gott einem Kollektiv den Geist gegeben hat (1 Thess 4,8; Gal 3,5; 2 Kor 1,22; 5,5; Röm 5,5), dieser von vielen empfangen wurde (Gal 3,2.14; 2 Kor 11,4) und man ihn hat (2 Kor 4,13). Die Glaubenden sind πνευματικοί (Gal 6,1), der Heilige Geist wohnt in ihnen (Röm 8,9). Bei Paulus ist dabei die Verknüpfung der Geistbegabung mit der Taufe noch nicht klar, der Geist ist Mittler der Taufe, nicht Gabe.64 Das zeigt sich auch in 1 Kor 12, wo Paulus ausführlich auf die durch den Geist bewirkten Gnadengaben (χαρίσματα) eingeht, die er auch πνευματικά oder »Offenbarung des Geistes« nennt (1 Kor 12,1.7). Sie sind Erweise der Gnade Gottes (Röm 12,6).65 Anlass ist neutestamentlichen Theologie: Kleine Schriften II, hg. v. B. Schliesser, Tübingen 2016, 645 – 676 (658 – 660). 63 Niederwimmer, Theologie (s. Anm. 31), 144. 64 Vgl. M. Öhler, Neues Testament, in: ders., Taufe, Tübingen 2012, 39 – 81 (54 f.). 65 Vgl. J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids 1998, 556: »The grace was in the giving, we might say, not in the form of its
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 379
der Streit über die besondere Qualität einzelner ekstatischer Phänomene, v. a. der sogenannten »Zungenrede«, die besonders hoch eingeschätzt wurde. Die Näherbestimmung, dass alle Christusgläubigen in Korinth »mit einem Geist« getränkt wurden (1 Kor 12,13) ist keine Näherbestimmung der Taufe, die ja ein Untertauchen, kein Trinken ist, sondern soll vielmehr an den Leitsatz anknüpfen: »Es gibt aber Verschiedenheiten von Gnadengaben, aber es (ist) derselbe Geist« (1 Kor 12,4). Was immer in der Ekklesia – also in der konkreten Versammlung – geschieht, es ist durch den Geist bewirkt: Weisheitslehre, Vermittlung von Erkenntnis, Glaube, Kraft zur Heilung, Wundertätigkeit, prophetische Rede, Unterscheidung der Geister, Zungenrede und ihre Auslegung (1 Kor 12,8 – 10).66 Dabei ist freilich zu beachten, dass die Ausübung dieser Gnadengaben an die Liebe, die Agape, gebunden ist und daher nach Paulus stets gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsfördernd sein muss (1 Kor 14,13). Auf keinen Geistträger und seine Gabe kann dabei verzichtet werden. So sind einige der in 1 Kor 12 genannten Gaben auch aufeinander bezogen: Die Zungenrede muss übersetzt werden, die Prophetie durch die Unterscheidung der Geister als wahr erwiesen, Heilungen und Wundertaten auf den Glauben ausgerichtet sein.67 Gnadengaben sind keineswegs privater Besitz oder persönlicher Vorzug. Im Blick auf die Rede von Gemeinschaft ist hinsichtlich des Geistes zudem auf zwei paulinische Aussagen zu verweisen: In 2 Kor 13,13 endet der Brief an die Korinther mit dem Wunsch, dass die Gnade Christi, die Liebe Gottes und die »Gemeinschaft des Heiligen Geistes« (ἡ κοινωνία τοῦ ἁγίου πνεύματος) mit allen sein möge. Dasselbe begegnet in einer Aufzählung in Phil 2,1, die wesentliche Züge des Gemeindelebens der Philipper benennt: Ermahnung, Trost, Mitleid und Mitgefühl sowie »Gemeinschaft des Geistes«. Die Formulierung »Gemeinschaft des Geistes« kann in zweierlei Richtung verstanden werden: Es ist möglich, dass Paulus die Gemeinschaft als durch den Geist erzeugt zu beschreiben versucht. Es kann aber auch meinen, dass der Apostel hier darauf verweisen will, dass die Geisterfahrung, die Christusgläubige in ihren Versammlungen erleben mögen, eine manifestation – the gracious gift received and enacted, however unspectacular the ministry.« 66 Die Aufzählung ist sicherlich nicht vollständig, wie der allgemein zu fassende Glaube, die parallelen Elemente Weisheit und Erkenntnis und die Unterschiede zu Röm 12,6 f. zeigen (vgl. auch 1 Petr 4,10 f.). 67 Dunn, Theology (s. Anm. 65), 557.
380 Markus Öhler gemeinschaftliche sein soll.68 Die gemeinschaftskonstituierende und gemeinschaftsprägende Kraft des Geistes wird so an dieser Formulierung exemplarisch deutlich.
3.2 Geist und Ekklesia in der Apostelgeschichte Mit dem lukanischen Doppelwerk und vor allem mit der Apostelgeschichte ist eine nachpaulinische Tradition erhalten, in der Geist und Ekklesia eng miteinander verbunden sind. Auch wenn der Vf. in Apg 1 – 4 den Begriff ἐκκλησία nicht verwendet, ist doch deutlich, dass nach seiner Ansicht das Wirken des Geistes, die darauffolgende Verkündigung des Evangeliums in Jerusalem und die zahlreichen Taufen zur Ausbildung der Ekklesia von Jerusalem führten (Apg 5,11; 8,1.3). So ist es in weiterer Folge auch der Geist, der einzelne Personen auswählt und sie mit der Verkündigung beauftragt (Apg 13,2.4) bzw. sind diese »voll des Geistes« (Apg 6,3.5; 11,24). Das die Geschichte Israels und das Wirken Jesu fortsetzende heilsgeschichtliche Handeln Gottes in der Zeit der Kirche geschieht in dieser Abfolge: Sendung des Geistes, Zeugenschaft und Ausbreitung »bis an die Enden der Erde« (Apg 1,8). Die generalisierende Bemerkung in Apg 9,31 bringt den Erfolg auf den Punkt: Die Ekklesia (Singular!) in Judäa, Galiläa und Samarien – hier bereits im Sinn von »Kirche« – vermehrte sich »durch die Ermutigung des Heiligen Geistes«. In Übereinstimmung mit Paulus und in Aufnahme von Joel 3 betont der Vf., dass der Geist auf alle Glaubenden ohne Unterschied von Alter und Geschlecht ausgegossen wurde (Apg 2,17 f.; vgl. Gal 3,28; 1 Kor 12,13). Die Geistbegabung des Kornelius und seines Haushaltes – noch vor der Taufe (!) – ergänzt dies noch um die Irrelevanz ethnischer Herkunft (Apg 10,44 – 48; vgl. Apg 15,8). Wie auch bei Paulus ist deutlich: Geisterfahrung ist ein kollektives Geschehen, wie vor allem beim Pfingstereignis deutlich wird (Apg 2,4; vgl. Apg 4,31). Prophetie (Apg 2,17; 11,28), Visionen (Apg 7,55 u. ö.), Wunderhandlungen (Apg 13,9 – 11) und Sprachen- bzw. Zungenrede (Apg 2,4.11; 10,46; 19,6) werden als Wirken des Geistes beschrieben. Vor allem aber ist es die Verkündigung, die der Geist betreibt. Sogar kirchenleitendes Handeln wird durch den Geist legitimiert: »Der Heilige Geist und wir haben beschlossen […]«, lautet die Einleitung des Briefes 68 A. a. O., 561; B. Witherington III., Paul’s Letter to the Philippians. A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids, MI 2011, 120.
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 381
an die Gemeinde von Antiochien, der u. a. das Aposteldekret enthält (Apg 15,28). Auch Aufseher über die Gemeinden werden vom Heiligen Geist eingesetzt (Apg 20,28). Ohne den Geist kann nichts von dem geschehen, was Gott will (Apg 8,19 – 24), gegen den Geist zu handeln, führt in den Tod (Apg 5,1 – 11). So steht der Geist nicht nur am Anfang der Kirche, sondern er ist auch ihre leitende Instanz, bis in aktuelle Entscheidungen hinein. Das verbindet die in der Apostelgeschichte erzählte Vergangenheit in besonderer Weise mit der Gegenwart ihres Erzählers.69
3.3 Geist und Gemeinschaft im Corpus Johanneum Mit der Apostelgeschichte teilt das Corpus Johanneum die Ansicht, dass die Gegenwart der Christusgläubigen vom Geist, der auch als Paraklet bezeichnet wird (Joh 14,16.26; 15,26; 16,7), geprägt ist. Die Unterscheidung der beiden Zeitebenen, der Zeit der Jünger mit Jesus und der Zeit der Leser und Leserinnen mit dem Geist-Parakleten, ist für das Verständnis des Johannesevangeliums von größter Bedeutung. Nur so wird verständlich, dass der scheidende Jesus sagen kann: »Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Paraklet nicht zu euch« (Joh 16,7).70 Erst wenn Jesus durch Kreuz und Auferstehung verherrlicht ist, kann der Geist kommen (Joh 7,39), was dann auch in den Ostererscheinungen eingelöst wird. In Entsprechung zum lk. Pfingstbericht, aber doch in völlig unterschiedlicher Gestaltung, erzählt der Verfasser des Evangeliums von der Gabe des Geistes als ein Hauchen Jesu, das mit der Sendung verbunden ist (Joh 20,21 – 22): »Friede euch! Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende ich auch euch. Und als er dies gesagt hatte, hauchte er sie an und spricht zu ihnen: Empfangt Heiligen Geist!« Die damit verbundene Vollmacht zur Sündenvergebung bzw. auch zur Nicht-Vergebung (Joh 20,23) rückt wenigstens andeutungsweise in den Blick, dass so auch Gemeinschaft entsteht. Die Parallelität der Anhauchung mit der Schöpfungsgeschichte (Gen 2,7[LXX]) lässt überdies die Interpretation zu, dass mit der Geistbegabung etwas 69 Vgl. L. Bormann, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2017, 316: »Die Apostelgeschichte ist unter diesem Gesichtspunkt die Geschichte des heiligen Geistes, die unmittelbar in der Gegenwart der intendierten Leser des lukanischen Doppelwerks weitergeführt wird.« 70 In Joh 14,16 f. versichert Jesus, dass der Paraklet bei den Glaubenden bleibt und – anders als Jesus selbst – nicht mehr weggeht.
382 Markus Öhler Neues geschaffen wurde, eine Menschheit jenseits des vorfindlichen Kosmos.71 Durch die Taufe als »Geburt aus Wasser und Geist« (Joh 3,5) gehören die Glaubenden zu der Gemeinschaft jener, die Gott »im Geist und in der Wahrheit« anbeten (Joh 4,23).72 Die entscheidende Wirkung des Parakleten ist allerdings die Erinnerung an Jesu Worte (Joh 14,26; 15,26), deren authentische Interpretation sowie die vollständige Erschließung der Wahrheit (Joh 16,13).73 »Die Lehre Jesu und die Lehre des Parakleten sind in der Vermittlung verschieden, aber substantiell ident.«74 Die Johanneische Schule, die sich innerhalb etablierter Versammlungen von Christusgläubigen bewegte und sich als »Freunde« (3 Joh 15), »die in der Wahrheit wandeln« (2 Joh 4; 3 Joh 3 f.) bezeichnete75, konnte sich dabei an dem Evangelium, das ihnen schriftlich vorlag, orientieren. Es war nicht nur dadurch autorisiert, dass es auf den sogenannten Lieblingsjünger zurückging (Joh 21,24), sondern es wird als Zeugnis des Parakleten verständlich, aus dem alles erkenntlich wird, was die Gemeinschaft als Wissen und Bekenntnis benötigt. Dennoch zeigen die Streitigkeiten innerhalb der johanneischen Bewegung über die Frage der Christologie, wie sie aus den Johannesbriefen deutlich werden, dass auch das schriftliche Evangelium nicht ausreichte, um für Klarheit zu sorgen.76 Daher rückt der Geist 71 So auch Schnelle, Theologie (s. Anm. 31), 687: »Pneuma benennt somit nicht einfach nur eine Gabe, es muss in einem umfassenderen Sinn als göttliches Wirkprinzip bzw. Schöpfermacht verstanden werden.« G. Buch-Hansen, »It is the Spirit that gives life«. A Stoic Understanding of Pneuma in John’s Gospel (BZNW 173), Berlin u. a. 2010, 450, deutet es als Regeneration: »Through this regeneration, their minds are physically healed (John 5), completed (John 9), restored (John 11) and cleansed (15:1 – 3) – and made perfect in love (17:23).« 72 Die Prägung der Gemeinschaft durch die untereinander gewährte Agape (Joh 13,34 f.) wird allerdings nicht mit dem Geist-Parakleten verbunden; vgl. aber 1 Joh 3,24, wo das Halten der Gebote eng mit der Gemeinschaft mit Gott und dem Geist gekoppelt ist. 73 Frey, Windbrausen (s. Anm. 62), 670: »Das Wirken des Geistes [ist] ganz und gar auf die worthaften Funktionen konzentriert.« Vgl. auch Joh 2,22; 12,16, wo jeweils das nachösterliche Verstehen der Jünger hervorgehoben wird. 74 Niederwimmer, Theologie (s. Anm. 31), 325, Anm. 45. 75 Vgl. H.-U. Weidemann, »Was von Anfang an war …«. Der Streit um Christus und die Taufe in den Gemeinden der Johannesbriefe, in: ThQ 191 (2011), 223 – 241. 76 In diesem Zusammenhang ist auch Joh 17,11.20 – 23 zu nennen: Die Bitte Jesu um Einheit der Glaubenden, die die Einheit des Sohnes mit dem Vater widerspiegelt und eine zeugnishafte Funktion hat.
Von »Kirche«, Gemeinschaft und Heiligem Geist 383
mit seinem Wirken auch im 1. Johannesbrief in den Fokus, denn er ist »der eigentliche Urheber der johanneischen Christologie«.77 Nur wer den Geist hat, in dem ist Gott anwesend (1 Joh 3,24). Der Geist wird in Bezug zu den Sakramenten gesetzt (1 Joh 5,6 – 8), die durch ihn als wahr bezeugt werden und damit nur durch ihn wirksam sind.78 Ritus und Verkündigung sind so unverbrüchlich mit dem Geist verbunden. Die Erfahrung des Geistes ist daher in der späteren johanneischen Tradition ein wesentliches identitätsbestimmendes Moment, das die Glaubenden der dauernden Beziehung zu Gott versichert (1 Joh 4,13). Nur wer in dieser Beziehung steht, kann Teil der Gemeinschaft sein, weil nur im Geist die Wahrheit erkennbar ist (Joh 14,16; 15,26; 16,13; 1 Joh 4,6), denn: »Der Geist ist die Wahrheit« (1 Joh 5,6).
Epilog Das Apostolikum als Aufruf und Bekenntnis zur sancta ecclesia catholica und zur sanctorum communio gehört, so viel sollte deutlich geworden sein, einerseits zur Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. Auch wenn in diesem Beitrag nur einige Aspekte ekklesiologischer Konzepte im frühen Christentum angesprochen werden konnten, ist doch hoffentlich deutlich geworden, in welcher Weise die Aussagen des Apostolikums vor dem Hintergrund des neutestamentlichen Zeugnisses verständlicher gemacht werden können. Dabei hat sich zugleich gezeigt, dass eine klare Bestimmung dessen, was Ekklesia bzw. Kirche ist, aufgrund des Neuen Testaments allein nicht zu machen ist. Zudem hat sich herausgestellt, dass auch die Aussagen des Apostolikums nicht immer eindeutig sind, gerade in der Frage der »Heiligen« oder »heiligen Dinge«. Verbindet so jeder und jede Glaubende heute mit diesem Bekenntnis durchaus unterschiedliche Bedeutungen, so sollten die vorgelegten Ausführungen dazu beitragen, eine neutestamentlich begründete Rezeption des Apostolikums im Blick auf Kirche und Geist zu ermöglichen und auf diese Weise Theologie dezidiert neutestamentlich zu treiben.
77
Frey, Windbrausen (s. Anm. 62), 672. Vgl. Schnelle, Theologie (s. Anm. 31), 687.
78
Die Kirche – Sozialform versöhnten Lebens Hans-Peter Großhans
Mit der Kirche macht das Apostolische Glaubensbekenntnis die Gemeinschaft derjenigen zum Thema, vor der das Bekenntnis ausgesprochen wird und zu der derjenige bzw. diejenige, die das Bekenntnis spricht, hinzu kommt oder dazu gehört. In strengem Sinne handelt es sich beim Apostolischen Glaubensbekenntnis nicht um ein Bekenntnis der Gemeinschaft der Christen, sondern um das Bekenntnis einer einzelnen Person: »Ich glaube […].« Anders ist es im Nizäno-Konstantinopolitanum, in dem das bekennende Subjekt die erste Person Plural – ein »Wir« – ist. Dort macht sich die bekennende Gemeinschaft von Christen mit der »Kirche« selbst zum Thema. Im Nizäno-Konstantinopolitanum ist es deshalb auch konsequent, dass die Kirche auf eine andere Weise thematisiert und geglaubt wird als die dann darauffolgenden Glaubensinhalte (die Taufe zur Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten, das Leben der kommenden Welt). Das Nizäno-Konstantinopolitanum bringt dies darin zum Ausdruck, dass es ein viergliedriges Bekenntnis ist und auch im Blick auf die Kirche ein »glauben an […]« formuliert wird. Das ist im Apostolikum anders. Dieses ist ein dreigliedriges Bekenntnis. Insofern reiht sich im Apostolikum das »credo […] sanctam ecclesiam catholicam« ein in eine Reihe von Glaubensinhalten, die dem Heilswirken des Heiligen Geistes zugeordnet sind: die Gemeinschaft der Heiligen bzw. an den heiligen Dingen, die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten, das ewige Leben. Der Heilige Geist wird als der Erneuerer und Vollender des Lebens geglaubt. In den fünf bzw. vier Aussagen des dritten Glaubensartikels wird konkretisiert, wie dies durch den dreieinigen Gott geschieht. Unterstellt ist dabei, dass das vom dreieinigen Gott ursprünglich geschaffene Leben erneuerungs- und vollendungsbedürftig ist. Eine analoge Unterstellung ist freilich auch schon im zweiten Glaubensartikel präsent. So wird im dritten Glaubensartikel zum Ausdruck gebracht, dass das Leben von Menschen in mehrfacher Hinsicht der Erneuerung und Vollendung durch Gott bedarf bzw. dass der dreieinige Gott das von ihm geschaffene Leben der Menschen auch zu einem guten Ende führen wird, das der Neuheit des Anfangs entspricht. Die
386 Hans-Peter Großhans vier bzw. fünf Glaubensaussagen des dritten Glaubensartikels bringen zum Ausdruck, in welchen Hinsichten und auf welche Weise das Leben von Menschen zur Vollendung gelangt. Damit ist vieles andere, was von einem vollendeten, perfekten Leben von Menschen – dem Leben als menschlichem Menschen – zu sagen wäre, nicht zur Sprache gebracht. Es geht hier um den spezifischen Beitrag des dreieinigen Gottes durch den Heiligen Geist zur Erneuerung und Vollendung menschlichen Lebens. In meinem Beitrag zur Interpretation des Apostolikums soll es nur um die Kirche bzw. die »Gemeine der Heiligen« gehen, wie es im 16. Jahrhundert – für uns heute etwas altertümlich – auf Deutsch formuliert wurde.1
1. Was ist die Kirche? Für eine evangelische Interpretation der Kirche ist von entscheidender Bedeutung, dass das Bekenntnis der »sanctorum communio« von Luther und den anderen Reformatoren als Apposition zum Bekenntnis der »sanctam ecclesiam catholicam« verstanden wurde. Damit wurde ausgeschlossen, die »sanctorum communio« als eine Gemeinschaft an den »heiligen Dingen«, also den Sakramenten, zu verstehen. Was die Kirche definitorisch ist, wurde so ganz von der Versammlung von Glaubenden und also von der zum Gottesdienst versammelten Gemeinschaft von Menschen her verstanden. Dies bringt auf allerkürzeste Weise CA VII zum Ausdruck, wo die Kirche durch den Zusatz im Apostolikum »sanctorum communionem« bestimmt wird und der lateinische Ausdruck im Deutschen mit »Versammlung aller Gläubigen« wiedergegeben wird. Die Heiligen sind die Glaubenden; die Glaubenden sind die Heiligen, die als versammelte Gemeinschaft die Kirche sind. Melanchthon hatte in CA VII versucht, Kirche möglichst integrativ zu definieren. Für alle Versuche in der evangelischen Theologie, einen Begriff der Kirche – im Singular – zu bilden, ist dies ein zentraler Bezugspunkt. CA VII ist von dem expliziten Bemühen geprägt, Kirche so zu definieren, dass einerseits in den vielen sozialen und geistlichen Erscheinungen, die sich als Kirche verstehen und behaupten, identifiziert 1 Die folgenden Ausführungen nehmen meine früher schon durchgeführten Untersuchungen zur evangelischen Ekklesiologie auf, insbesondere in: H.P. Grosshans, Die Kirche – irdischer Raum der Wahrheit des Evangeliums, Leipzig 2003.
Die Kirche – Sozialform versöhnten Lebens 387
werden kann, ob es sich tatsächlich um eine Kirche handelt, und dass andererseits die dann als Kirche identifizierten Gemeinschaften auch unter diesem gemeinsamen Oberbegriff begriffen werden können. CA VII präzisiert bekanntlich diese Gemeinschaften, die es verdienen, »Kirche« genannt zu werden, durch den Zusatz »in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta«. Kirche ist definitorisch die »Gemeinschaft aller Heiligen«, in der genau dies geschieht: die Verkündigung des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Feier der Sakramente. Die Sakramente verschwinden damit nicht aus dem evangelischen Verständnis des dritten Glaubensartikels. Sie werden jedoch der als Gemeinschaft aller Glaubenden definierten Kirche als wesentlicher Vollzug des Kirche-Seins zugeordnet. Der sakramentale Modus der Kommunikation des Evangeliums wird jedoch zugleich dessen verbalem Modus zugeordnet und gleichgestellt. Eine Konsequenz aus dieser definitorischen Bestimmung der Kirche ist, dass nach reformatorischer Auffassung die Kirche von ihrem Sein her nicht als Rechtsinstitution zu verstehen ist. Sie ist ganz und gar und zuallererst als Werk des Heiligen Geistes zu verstehen, durch das Menschen, die an den dreieinigen Gott glauben und dies empirisch sicht- und hörbar im Sprechen oder in der verbalen Bejahung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zum Ausdruck bringen, als so von Gott geheiligte Menschen zur Kirche versammelt werden.2 Mit der Hervorhebung des Versammlungs- bzw. Gemeinschaftsgedankens3 sieht sich die »Confessio Augustana« im Übrigen ganz in der Tradition der alten Kirche.4 Als Versammlung von Menschen 2 »Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.« CA VII ist gewissermaßen »die Magna Charta der Lutherischen Kirche« und im Zusammenhang der ganzen Theologiegeschichte auch »die erste dogmatische Feststellung über das Wesen und die Einheit der Kirche, die jemals in der Christenheit gemacht worden ist« (H. Sasse, Der Siebente Artikel der Augustana in der gegenwärtigen Krisis des Luthertums, in: F. W. Hopf (Hg.), In Statu Confessionis. Gesammelte Aufsätze von H. Sasse, Berlin 1966, 50 – 69 [51]). 3 CA VIII nimmt die Definition von CA VII auf und definiert: »Ecclesia proprie sit congregatio sanctorum et vere credentium« (BSLK 62). 4 Luther hat die communio sanctorum im Sinne der »Gemeinschaft der Heiligen« als ergänzende Präzisierung der Kirche verstanden – so explizit in der Erklärung des dritten Glaubensartikels im Großen Katechismus: »Das Wort ›Communio‹ […] ist nicht anders denn die Glosse oder Auslegung, da imand hat wöllen deuten, was die christliche Kirche heiße« (BSLK 657, 1 – 6). Dass diese Bestimmung der Kirche nicht im Sinne eines Verständnisses der Kirche als einer Rechtsinstitution zu verstehen ist, hat Luther schon früh
388 Hans-Peter Großhans ist das durch und durch geistliche Werk des Heiligen Geistes ganz und gar sichtbar. Dem Interesse an einer sichtbaren Identifizierbarkeit der Kirche in der Vielfalt menschlicher Versammlungen dient dann der ökumenisch sehr integrative Zusatz in CA VII: »in welcher das Evangelium rein gelehrt und die Sakramente ordnungsgemäß gereicht werden«. Insofern können sich aus evangelischer Sicht in der Vielfalt der sich Kirche nennenden Gemeinschaften von Menschen nur solche Versammlungen berechtigt Kirche nennen, in denen dies getan wird. Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden kann es nur im Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums und dem Austeilen der Sakramente geben, da es Glaube nur im Zusammenhang mit dem Evangelium und den Sakramenten gibt. Glaube ist insofern das vertrauende Hören und Nehmen des im Evangelium und in den Sakramenten dargebotenen Wortes Gottes. Glaube ohne einen konkreten Bezug auf das als Zuspruch zu hörende Evangelium und die zum Nehmen angebotenen Sakramente ist nicht denkbar, da Glaube keine für sich bestehende und in sich ruhende Qualität von Menschen ist. Glaube gibt es insofern auch nur im Kontext der Kirche als der Gemeinschaft der Glaubenden. In der evangelischen Interpretation des Apostolischen Glaubensbekenntnisses – wie überhaupt der Theologie der Reformatoren – ist ein Christsein unabhängig und losgelöst von der Kirche als sichtbarer Gemeinschaft von Menschen nicht möglich. Genau dies kommt im dritten Glaubensartikel im Bekenntnis der Kirche zum Ausdruck. Die Kirche ist ein wesentliches Werk des Heiligen Geistes. Wer den Glauben an den dreieinigen Gott bekennt, bekennt auch seine Zugehörigkeit zu der sichtbaren Gemeinschaft von Menschen, welche die Kirche in dieser Welt ist. Und er oder sie bekennt damit auch die globale Einheit all der Menschen, die sich zum dreieinigen Gott bekennen, und all der vielfältigen Gemeinschaften und Versammlungen, in denen sich Kirche vor Ort unter den Bedingungen des jeweiligen geschichtlichen und kulturellen Kontextes konkret realisiert. Für diese Einheit von Individuen, organisierten Versammlungen und Gemeinschaften (Organisationen und Institutionen) ist es wiederum nach CA VII ausreichend, in der Lehre des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente übereinzustimmen (»ad veram unitatem dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er die Kirche nicht als eine leibliche, sondern als eine – durchaus sichtbare – geistliche Versammlung verstanden hat – vgl. M. Luther, Von dem Papstthum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, 1520, WA 6,296.
Die Kirche – Sozialform versöhnten Lebens 389
ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum«). Immer wieder hat es in der reformatorischen Theologie Diskussionen über die Interpretation der »doctrina evangelii« gegeben. Dabei geht es um die Frage, ob für die wahre Einheit der Kirche nicht auch noch die Anerkennung einer wahren dogmatischen Lehre – z. B. in Form einer Sammlung von Bekenntnissen – erforderlich sei.5 Die deutsche Fassung von CA VII schließt jedoch ein Missverständnis aus, das sich bei der Interpretation des lateinischen Textes ergeben könnte: Die »doctrina evangelii« ist nicht eine vom Evangelium nochmals zu unterscheidende Lehre – sozusagen die richtige Dogmatik, auch keine Sammlung der die richtige Lehre definierenden Bekenntnisse (und insofern auch nicht die CA selbst) – , sondern ist das Evangelium selbst (»daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden«). Die Einheit der Kirche inmitten der Vielfalt der Kirchen ist im Gottesdienst (in jedem Gottesdienst) durch die Evangeliumsverkündigung und Sakramentsausteilung gegeben – als sichtbare Darstellung der Gemeinschaft der Glaubenden. Auf dieser Basis ist dann eine Pluralität an Traditionen, Riten, Gebräuchen und Zeremonien möglich und wechselseitig akzeptabel – also eine unterschiedliche Ausprägung und Realisierung kirchlicher Identität in verschiedenen Kirchen: »nec necesse est ubique similes esse traditiones humanas seu ritus aut cerimonias ab hominibus institutas.« Die eine Kirche verträgt sich mit einer Pluralität von Kirchen mit unterschiedlichen kirchlichen Identitäten, sofern eben die Verkündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente nicht in Frage gestellt oder verfälscht werden – und insofern gewahrt ist, was eben die Identität als Kirche ausmacht. Dann verhindert selbst ein falscher Kirchenbegriff, und damit eine falsche Lehre, nicht die Existenz der Kirche in der falsch konzipierten »Kirche«. Mit einem solchen Verständnis der Kirche kann ich in vielen Konfessionen weltweit leicht feststellen, ob ich es mit dem zu tun habe, was nach evangelischem Verständnis Kirche ist, auch wenn mir dabei vieles begegnet, was ich aus den mir vertrauten evangelischen Gottesdiensten nicht kenne: Das kann ich in einem orthodoxen Got5 Vgl. z. B. E. Martikainen, Doctrina. Studien zu Luthers Begriff der Lehre, Helsinki 1992; dies., Lehre des Evangeliums. Das Verhältnis von der Einheit der Kirche und der Einheit der Lehre im ökumenischen Modell der VELKD, Helsinki 1999.
390 Hans-Peter Großhans tesdienst in Moskau, in einem koptischen Gottesdienst in Kairo, in einem baptistischen Gottesdienst in Atlanta oder in Rangun, in einem pfingstlerischen Gottesdienst in Rio de Janeiro oder in Hong Kong, in einem anglikanischen Gottesdienst in London, in einem lutherischen Gottesdienst in Johannesburg oder in Singapur – und auch in einem katholischen Gottesdienst in Frankfurt, Rom oder Mexiko City feststellen. Dann weiß ich, wenn in diesen Gottesdiensten das Evangelium gepredigt und die Sakramente gefeiert werden: Hier ist die Kirche Jesu Christi, sein Leib in dieser Welt, das Volk Gottes, die Gemeinschaft der Heiligen, zu der auch ich gehöre. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass alles Bemühen um Einheit auf institutioneller Ebene vergebliche Liebesmüh sei, da diese Ebene irrelevant sei und vielleicht sogar von der Kirche als geistlicher Gemeinschaft ablenke. Ob damit das Verhältnis von Kirche als geistlicher Gemeinschaft und als Institution bzw. Organisation zutreffend beschrieben ist, darf jedoch bezweifelt werden. Denn die Kirche als geistliche Gemeinschaft bildet sich innerhalb eines institutionellen und organisatorischen Umfelds, das der geistlichen Gemeinschaft schon deshalb nicht beliebig sein kann, da es die Verkündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente, und damit die Mitteilung des Wortes Gottes sicherstellen soll, in der dann aber auch das Zusammenkommen der Glaubenden, die Erbauung der Kirche und ihre Sendung konkret werden soll. An diesen Funktionen hat sich die Gestaltung der Kirche als Institution bzw. Organisation messen zu lassen. Allerdings mögen diese Funktionen vielfältig realisiert werden und zu ganz unterschiedlichen institutionellen Formen führen. Von diesem Ansatz her und insofern für die Einheit der Kirche notwendig ist dann nur ein Amt6: der Dienst am göttlichen Wort (durch die Verkündigung des Evangeliums und das Austeilen der Sakramente), der nach Luthers Auffassung prinzipiell von jedem und jeder Glaubenden ausgeübt werden kann.7 Freilich ist es auch nicht 6 Je nach Organisationsform, Mitgliederzahl, finanziellen Möglichkeiten und Konkretisierung ihres Auftrags kann eine Kirche dazuhin eine Vielzahl weiterer Ämter einrichten. 7 Geschichtlich ist bei diesem Thema für die evangelische Ekklesiologie von Bedeutung, dass sich Melanchthon in späteren Jahren, in der letzten Ausgabe seiner Loci von 1559, faktisch mehr oder weniger von dem allgemeinen Priestertum aller Glaubenden verabschiedete, indem er in seiner Auffassung von der Kirche als Lehrversammlung (»coetus scholasticus«) eine Differenz setzte zwischen den Lehrern (»docentes«) und den Zuhörern (»auditores«) (vgl. Ph. Melanchthon, Werke II / 2, Gütersloh 1953, 480). Melanchthon de-
Die Kirche – Sozialform versöhnten Lebens 391
dieses allen Glaubenden (und damit Priestern und Priesterinnen) zugeteilte Amt als solches, das die Einheit der Kirche zum Ausdruck bringt und realisiert, sondern allein das von diesem Amt verbal und sakramental mitgeteilte Wort Gottes, das mit der Person Jesu Christi identisch ist. Die »Apologie der Confessio Augustana« nennt das Predigtamt bzw. das Evangelium und die Sakramente auch die äußerlichen Zeichen der Kirche als der Versammlung von Menschen, die Christus und das Evangelium recht erkannt haben. Doch die Ämter und die Wahrhaftigkeit der Personen garantieren nicht die Wahrheit ihrer Mitteilung und das rechte Sein der Kirche. Dies kann allein der durch den Heiligen Geist in der Kirche präsente Jesus Christus. Deshalb kommt es auch ganz darauf an, dass diejenigen, die predigen und die Sakramente reichen, »dieselbigen an Christus statt« reichen.8 Der in den Vollzügen der Kirche Handelnde ist letztlich allein Jesus Christus.
finierte in den Loci von 1559 die Kirche folgendermaßen: »Ecclesia visibilis est coetus amplectentium Evangelium Christi et recte utentium Sacramentis, in quo Deus per ministerium Evangelii est efficax et multos ad vitam aeternam regenerat, in quo coetu tamen multi sunt non renati, sed de vera doctrina consentientes: Die sichtbare Kirche ist eine Versammlung derer, die sich zum Evangelium Christi bekennen und die Sakramente recht gebrauchen, in welcher Gott wirksam ist durch das Amt des Evangeliums und viele zum ewigen Leben erweckt, aber in welcher es viele gibt, die nicht wiedergeboren sind, die aber mit der wahren Lehre übereinstimmen« (a. a. O., 476). Hier ist das »Evangelium Christi« (zu dem sich die Versammlung der sichtbaren Kirche bekennt) gleichgesetzt mit der »wahren Lehre«, mit welcher übereinzustimmen auch den nicht durch das Evangelium Wiedergeborenen möglich ist. Wahre Lehre und damit auch das Evangelium Christi sind identisch mit dem von der rechten Theologie dargestellten Evangelium, das von den Lehrern, also den Pastoren, verwaltet wird. Diese haben dann nicht nur das Amt der Verkündigung des Evangeliums und der Austeilung der Sakramente, sondern auch das Amt der über der Gemeinde stehenden Hüter der richtigen Lehre. Damit aber erhält die kirchliche Lehre normative Geltung. Nicht mehr nur das den Menschen ihre Sünde vergebende und ih