Der Brief des Paulus an Titus / HistorischTheologische Auslegung (HTA), Neues Testament Bd.7: Herausgegeben:Maier, Gerhard; Riesner, Rainer; Neudorfer, Heinz-Werner, Von Heinz-Werner Neudorfer 9783417297294, 9783765597299, 3765597295

Die Historisch-Theologische Auslegungsreihe des Neuen Testaments ist ein Projekt von Exegeten aus dem evangelikalen Bere

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Der Brief des Paulus an Titus / HistorischTheologische Auslegung (HTA), Neues Testament Bd.7: Herausgegeben:Maier, Gerhard; Riesner, Rainer; Neudorfer, Heinz-Werner, Von Heinz-Werner Neudorfer
 9783417297294, 9783765597299, 3765597295

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Abkürzungen
Einleitung
Autor und Adressat
Kreta
Geschichtliche Situation
Gattung, Gliederung/Struktur und sprachliche Merkmale
1. Die Briefgattung
2. Gliederung und Struktur
3. Sprachliche Merkmale
Sprachliche, theologische und kybernetische Aussagen
Text-, Auslegungs- und Wirkungsgeschichte – einige Momentaufnahmen
Auslegung
Präskript: Absender, Adressat und Gruß, 1,1-4
I Übersetzung
II Struktur
III Einzelexegese
IV Zusammenfassung
Der Zweck des Briefes: Einsetzung einer Leitungsebene, 1,5-9
I Übersetzung
II Struktur
III Einzelexegese
IV Zusammenfassung
Beschreibung der Gegner, 1,10-16
I Übersetzung
II Struktur
III Einzelexegese
IV Zusammenfassung
Anweisungen für Alte, Junge und Sklaven in den Gemeinden, 2,1-10
I Übersetzung
II Struktur
III Einzelexegese
IV Zusammenfassung
Die lehrhafte Begründung des christlichen Verhaltens, 2,11-15
I Übersetzung
II Struktur
III Einzelexegese
IV Zusammenfassung
Leben als Menschen, die Gott neu gemacht hat, 3,1-8
I Übersetzung
II Struktur
III Einzelexegese
IV Zusammenfassung
Allgemeine Anweisungen zum Umgang mit Kontroversen, 3,9-11
I Übersetzung
II Struktur
III Einzelexegese
IV Zusammenfassung
Aufträge, Grüße, Segenswunsch, 3,12-15
I Übersetzung
II Struktur
III Einzelexegese
IV Zusammenfassung
Verzeichnisse
Literaturverzeichnis
Kommentare zum Titusbrief
Quellen, Hilfsmittel, Monografien und weitere Literatur in Auswahl
Personenverzeichnis
Stichwortverzeichnis

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HistorischTheologische Auslegung

Der Brief des Paulus an Titus

Heinz-Werner Neudorfer

SCM R.Brockhaus Brunnen

Historisch-Theologische Auslegung

———————————————————————————————————

Neues Testament Herausgegeben von Gerhard Maier ٠ Rainer Riesner ٠ Heinz-Werner Neudorfer ٠ Eckhard J. Schnabel

Der Brief des Apostels Paulus an Titus Heinz-Werner Neudorfer

SCM R.BROCKHAUS, WITTEN BRUNNEN VERLAG GIESSEN

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2012 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG Bodenborn 43 · 58452 Witten Internet: www.scm-brockhaus.de · E-Mail: [email protected]

Umschlaggestaltung: agentur krauss herrenberg Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg Druck und Bindung: Finidr s.r.o. Gedruckt in Tschechien

ISBN 978-3-417-29729-4 (SCM R. Brockhaus) ISBN 978-3-7655-9729-9 (Brunnen) Bestell-Nr. 229.729 Datenkonvertierung: Stephan Maier, Achern

INHALT

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autor und Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtliche Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattung, Gliederung/Struktur und sprachliche Merkmale Sprachliche, theologische und kybernetische Aussagen . . Text-, Auslegungs- und Wirkungsgeschichte – einige Momentaufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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15 18 22 26 34 36

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Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präskript: Absender, Adressat und Gruß, 1,1-4 . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zweck des Briefes: Einsetzung einer Leitungsebene, 1,5-9 . . . . . Beschreibung der Gegner, 1,10-16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anweisungen für Alte, Junge und Sklaven in den Gemeinden, 2,1-10 . Die lehrhafte Begründung des christlichen Verhaltens, 2,11-15 . . . . . Leben als Menschen, die Gott neu gemacht hat, 3,1-8 . . . . . . . . . . . . Allgemeine Anweisungen zum Umgang mit Kontroversen, 3,9-11 . . . Aufträge, Grüße, Segenswunsch, 3,12-15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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49 49 68 95 124 155 181 215 224

Verzeichnisse . . . . . Literaturverzeichnis Personenverzeichnis Stichwortverzeichnis

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233 233 238 244

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Vorwort der Herausgeber Die Kommentarreihe „Historisch-theologische Auslegung des Neuen Testaments“ will mit den Mitteln der Wissenschaft die Aussagen der neutestamentlichen Texte in ihrer literarischen Eigenart, im Hinblick auf ihre historische Situation und unter betonter Berücksichtigung ihrer theologischen Anliegen erläutern. Dabei sollen die frühere wie die heutige Diskussion und neben den traditionellen auch neuere exegetische Methoden berücksichtigt werden. Die gemeinsame Basis der Autoren der einzelnen Kommentare ist der Glaube, dass die Heilige Schrift von Menschen niedergeschriebenes Gotteswort ist. Der Kanon Alten und Neuen Testaments schließt den Grundgedanken der Einheit der Bibel als Gottes Wort ein. Diese Einheit ist aufgrund des Offenbarungscharakters der Heiligen Schrift vorgegeben und braucht nicht erst hergestellt zu werden. Die Kommentatoren legen deshalb das Neue Testament mit der Überzeugung aus, dass die biblischen Schriften vertrauenswürdig sind und eine Sachkritik, die sich eigenmächtig über die biblischen Zeugen erhebt, ausschließen. Wo Aussagen der biblischen Verfasser mit außerbiblischen Nachrichten in Konflikt stehen oder innerhalb der biblischen Schriften Spannungen und Probleme beobachtet werden, sind Klärungsversuche legitim und notwendig. Bei der Behandlung umstrittener Fragen möchten die Autoren vier Regeln folgen: 1. Alternative Auffassungen sollen sachlich, fair und in angemessener Ausführlichkeit dargestellt werden. 2. Hypothesen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen auch dann nicht als Tatsachen ausgegeben werden, wenn sie weite Zustimmung gefunden haben. 3. Offene Fragen müssen nicht um jeden Preis entschieden werden. 4. Die Auslegung sollte auch für denjenigen brauchbar sein, der zu einem anderen Ergebnis kommt. Unser Kommentar will keine umfassende Darstellung der Auslegung eines neutestamentlichen Buches in Geschichte und Gegenwart geben. Weder bei der Auflistung der Literatur noch in der Darstellung der Forschungsgeschichte oder der Auseinandersetzung mit Auslegungspositionen wird Vollständigkeit angestrebt. Die einzelnen Autoren haben hier im Rahmen der gemeinsamen Grundsätze die Freiheit, beim Gespräch mit der früheren und aktuellen Exegese eigene Akzente zu setzen. Die Kommentarreihe unternimmt den Versuch einer „geistlichen Auslegung“. Über die möglichst präzise historisch-philologische Erklärung hinaus soll die Exegese die Praxis von Verkündigung, Seelsorge sowie Diakonie im Blick behalten und Brücken in die kirchliche Gegen-

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Der Brief des Apostels Paulus an Titus

wart schlagen. Die Autoren gehören zu verschiedenen Kirchen und Freikirchen der evangelischen Tradition. Unterschiede der Kirchen- oder Gemeindezugehörigkeit, aber auch unterschiedliche exegetische Meinungen wollen sie weder gewaltsam einebnen noch zum zentralen Thema der Auslegung machen. Der Nähe zur gemeindlichen Praxis wird dadurch Rechnung getragen, dass neben griechischen bzw. hebräischen Texten die entsprechenden Begriffe noch einmal in Umschrift erscheinen. Auf diese Weise kann auch dem sprachlich nicht entsprechend ausgebildeten Laien zumindest eine Andeutung der Sprachgestalt der Grundtexte vermittelt werden. Die Auslegung folgt einem gemeinsamen Schema, das durch römische Ziffern angezeigt wird. Leserinnen und Leser finden unter I eine möglichst genaue Übersetzung, die nicht vorrangig auf eine eingängige Sprache Wert legt. Unter II ist Raum für Bemerkungen zu Kontext, Aufbau, literarischer Form oder Gattung sowie zum historischen und theologischen Hintergrund des Abschnitts. Unter III folgt dann eine Vers für Vers vorgehende Exegese, die von Exkursen im Kleindruck unterbrochen sein kann. Abschließend findet man unter IV eine Zusammenfassung, in der das Ziel des Abschnitts, seine Wirkungsgeschichte und die Bedeutung für die Gegenwart dargestellt werden, soweit das nicht schon im Rahmen der Einzelexegese geschehen ist. Alle Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift ist letztlich Dienst in der Gemeinde und für die Gemeinde. Auch wenn die „Historisch-theologische Auslegung“ keine ausdrückliche homiletische Ausrichtung hat, weiß sie sich dem Ziel verpflichtet, der Gemeinde Jesu Christi für ihren Glauben und ihr Leben in der säkularen Moderne Orientierung und Weisung zu geben. Die Herausgeber hoffen, dass die Kommentarreihe sowohl das wissenschaftlich-theologische Gespräch fördert als auch der Gemeinde Jesu Christi über die Konfessionsgrenzen hinaus dient. Im Frühjahr 2012 Bischof Dr. Gerhard Maier, Stuttgart Dr. Heinz-Werner Neudorfer, Marbach Prof. Dr. Rainer Riesner, Dortmund Prof. Dr. Eckhard J. Schnabel, Deerfield/Chicago

Abkürzungen

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Abkürzungen ABD AGJU ALGHJ AncB ANRW AThANT BA BAR BASOR Bauer-Aland

BBB BBR BDAG

BDB BDR BEThL Bib. BigS BiKi Bill. BJRL BJS BNot BS

Anchor Bible Dictionary. Hg. D.N. Freedman Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums Arbeiten zur Literatur und Geschichte des hellenistischen Judentums Anchor Bible Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Hg. W. Haase, H. Temporini Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments Biblical Archaeologist Biblical Archaeology Review Bulletin of the American Schools of Oriental Research Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. Hg. W. Bauer, K. Aland, B. Aland Bonner Biblische Beiträge Bulletin for Biblical Research A Greek-English Lexicon of the New Testament and Other Early Christian Literature. Third Edition. Hg. W. Bauer, F.W. Danker, W.F. Arndt, F.W. Gingrich Hebrew and English Lexicon. Hg. F. Brown, S.R. Driver, C.A. Briggs Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. F. Blass, A. Debrunner, F. Rehkopf Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium Biblica Bibel in gerechter Sprache Bibel und Kirche Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Hg. H.L. Strack, P. Billerbeck Bulletin of the John Rylands Library Brown Judaic Studies Biblische Notizen Bibliotheca Sacra

8 BWANT Byz BZ BZAW BZNW CA CBQ CBQ.MS DJD DJG DLNT DNP DNTB DPL DSD EB EdF EKK ESV ET EtB EThL EÜ EvQ EvTh EWNT FilN FRLANT fzb GBL GN GNB HAL

Der Brief des Apostels Paulus an Titus

Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Byzantinischer Text oder Mehrheitstext Biblische Zeitschrift Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft Confessio Augustana / Augsburger Bekenntnis Catholic Biblical Quarterly Catholic Biblical Quarterly Monograph Series Discoveries in the Judaean Desert (of Jordan) Dictionary of Jesus and the Gospels. Hg. J.B. Green u.a. Dictionary of the Later New Testament and Its Developments. Hg. P.H. Davids u.a. Der Neue Pauly. Hg. H. Cancik, H. Schneider Dictionary of New Testament Background. Hg. C.A. Evans u.a. Dictionary of Paul and His Letters. Hg. G.F. Hawthorne u.a. Dead Sea Discoveries Echter-Bibel Erträge der Forschung Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament English Standard Version Expository Times Études Bibliques Ephemerides Theologicae Lovanienses Einheitsübersetzung. Revision 1979 Evangelical Quarterly Evangelische Theologie Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. H. Balz, G. Schneider Filologia Neotestamentaria Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Forschungen zur Bibel Das Große Bibellexikon. Hg. H. Burkhardt Gute Nachricht Bibel. Revision 1997 Good News Bible Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament. Hg. W. Baumgartner, L. Koehler, J.J. Stamm

Abkürzungen

Hfa HNT HS HSS HThK HThR HUCA ICC IDB IEJ Int. ISBE JAC JBL JBTh JETh JETS JJS JSHRZ JSJ JSNT JSNT.SS JSP JSP.SS JThS Jud. KEK KG KJV KP KuD LN LSJ

9

Hoffnung für alle. Die Bibel Handbuch zum Neuen Testament Griechische Grammatik zum Neuen Testament. E. Hoffmann, H. v. Siebenthal Handschriften Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Harvard Theological Review Hebrew Union College Annual International Critical Commentary Interpreter’s Dictionary of the Bible Israel Exploration Journal Interpretation International Standard Bible Encyclopedia. Hg. G.W. Bromiley Jahrbuch für Antike und Christentum Journal of Biblical Literature Jahrbuch für Biblische Theologie Jahrbuch für Evangelikale Theologie Journal of the Evangelical Theological Society Journal of Jewish Studies Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit Journal for the Study of Judaism in the Persian, Hellenistic and Roman Period Journal for the Study of the New Testament Journal for the Study of the New Testament. Supplement Series Journal for the Study of Pseudepigrapha Journal for the Study of Pseudepigrapha. Supplement Series Journal of Theological Studies Judaica Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Zweiter Teil: Satzlehre. R. Kühner, B. Gerth King James Version Der Kleine Pauly. Hg. K. Ziegler, W. Sontheimer, H. Gärtner Kerygma und Dogma Greek-English Lexicon of the New Testament Based on Semantic Domains. J.P. Louw, E.A. Nida A Greek-English Lexicon. H.G. Liddell, R. Scott, H.S. Jones

10 LThK LÜ LXX Menge MM

MNT NA27 NGÜ NIV NEB Neot. NewDocs NICNT NIGTC NRSV NSS NT NTA NTD NTOA NTS NW OBO OCD ÖTK OTP par(r) Past PEQ Preisigke

Der Brief des Apostels Paulus an Titus

Lexikon für Theologie und Kirche Lutherbibel. Revision 1984 Septuaginta Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments. Übersetzt von H. Menge The Vocabulary of the Greek Testament Illustrated from the Papyri and Other Non-Literary Sources. J.H. Moulton, G. Milligan Münchener Neues Testament. Hg. J. Hainz, M. Schmidl, J. Sunckel Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 27. Auflage Neue Genfer Übersetzung New International Version Neue Echter-Bibel Neotestamentica New Documents Illustrating Early Christianity. Hg. G.H.R. Horsley, S.R. Llewelyn New International Commentary on the New Testament New International Greek Testament Commentary New Revised Standard Version Neuer sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament. W. Haubeck, H. von Siebenthal Novum Testamentum Neutestamentliche Abhandlungen Das Neue Testament Deutsch Novum Testamentum et Orbis Antiquus New Testament Studies Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Hg. G. Strecker, U. Schnelle Orbis biblicus et orientalis Oxford Classical Dictionary. Hg. S. Hornblower, A. Spawforth Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament Old Testament Pseudepigrapha. Hg. J.H. Charlesworth und Paralleltext(e) Pastoralbriefe Palestine Exploration Quarterly Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden. F. Preisigke

Abkürzungen

PW RAC RB RdQ RGG RNT RSV SBB SBLDS SBLMS SBL.SP SBS SKKNT SNTSMS SNTU StANT StNT StUNT SÜ TANZ THAT ThBeitr ThBLNT ThHK ThLZ ThR ThWAT ThWNT ThZ TNIV TRE TU TynB VF VT

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Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft. Hg. A.F. Pauly, G. Wissowa Reallexikon für Antike und Christentum Revue Biblique Revue de Qumran Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Auflage Regensburger Neues Testament Revised Standard Version Stuttgarter Biblische Beiträge Society of Biblical Literature Dissertation Series Society of Biblical Literature Monograph Series Society of Biblical Literature Seminar Papers Stuttgarter Bibelstudien Stuttgarter Kleiner Kommentar Neues Testament Society of New Testament Studies Monograph Series Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt Studien zum Alten und Neuen Testament Studien zum Neuen Testament Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Schlachter-Übersetzung. Revision 2002 Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament. Hg. E. Jenni, C. Westermann Theologische Beiträge Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Neubearbeitete Ausgabe. Hg. L. Coenen, K. Haacker Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament Theologische Literaturzeitung Theologische Rundschau Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Theologische Zeitschrift Today’s New International Version Theologische Realenzyklopädie Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur Tyndale Bulletin Verkündigung und Forschung Vetus Testamentum

12 VT.S WBC WdF WMANT WUNT ZAW ZB ZBK ZNW ZPE ZThK

Der Brief des Apostels Paulus an Titus

Vetum Testamentum Supplements Word Biblical Commentary Wege der Forschung Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Zürcher Bibel. Revision 1971 Zürcher Bibelkommentare Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik Zeitschrift für Theologie und Kirche

Abkürzungen biblischer Bücher: Gen Ex Lev Num Dtn Jos Ri Rut 1Sam 2Sam 1Kön 2Kön 1Chron 2Chron Esr Neh Est Hiob Ps Prov Koh Hld Jes Jer Klgl Ez Dan Hos Joel Am Ob Jona Mi Nah Hab Zef Hag Sach Mal Mt Mk Lk Joh Apg Röm 1Kor 2Kor Gal Eph Phil Kol 1Thess 2Thess 1Tim 2Tim Tit Phlm 1Petr 2Petr 1Joh 2Joh 3Joh Hebr Jak Jud Offb Abkürzungen sonstiger zitierter Quellenschriften 1Klem 1. Klemensbrief 1Makk 1. Makkabäer 1QH Qumran: Loblieder (Hodajot) 1QM Qumran: Kriegsrolle 1QS(b) Qumran: Gemeinderegel (b) 2Klem 2. Klemensbrief 2Makk 2. Makkabäer IV Esr 4. Esdras 4QTest Qumran: Testimonien ä Hen äthiopische Henochapokalypse Adv. haer. Irenäus: Adversus haereses / Gegen die Irrlehren Ant. Josephus: Antiquitates Judaicae / Jüdische Altertümer b Ab zara Mischnatraktat: Aboda zara b Joma Mischnatraktat: Joma b Sanh Mischnatraktat: Sanhedrin B. J. Josephus: De Bello Judaico / Vom jüdischen Krieg CD Qumran: Damaskusschrift DCD Augustinus: De civitate Dei / Vom Gottesstaat

Abkürzungen

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Did Dial c Tryph

Didache, 12-Apostel-Lehre Justin: Dialogus cum Tryphone Judaeo / Dialog mit dem Juden Tryphon H.E. Eusebius: Historia Ecclesiae / Geschichte der Kirche Herodot Hist Herodot: Historien Ign Phld Brief des Ignatius an die Philadelphier Leg Gai Philo: Legatio ad Gaium Ps Clem Recogn Rufinus: pseudoclementinische Recognitionen Ps Sal Psalmen Salomos Sap Sal Sapientia Salomonis / Weisheit Salomos Sib Sibyllinen Slav Hen slawische Henochapokalypse Syr Bar syrische Baruch-Apokalypse Tacitus Ann Tacitus: Die Annalen Tacitus Hist Tacitus: Die Historien Test Juda Testament der 12 Patriarchen: Juda Test Levi Testament der 12 Patriarchen: Levi Test Naft Testament der 12 Patriarchen: Naftali VitMos Philo: De Vita Mosis / Das Leben des Mose Kommentare werden lediglich mit dem Namen des Verfassers zitiert. Die übrige Sekundärliteratur wird mit dem Namen des Verfassers sowie einem abgekürzten Titel angeführt. Siehe weitere Abkürzungen bei S. Schwertner. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Berlin 21992. Siehe ferner L. Coenen / K. Haacker. Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Wuppertal 1997.

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Der Brief des Apostels Paulus an Titus

Einleitung

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Einleitung Jens Herzer spricht 2004 von 15 seit 1990 erschienenen (wissenschaftlichen) Kommentaren zu den Pastoralbriefen.1 Inzwischen hat die Rührigkeit von Autoren und Verlegern für Nachschub gesorgt. Die Literatur selbst zu den Pastoralbriefen – im 20. Jh. nicht mal ein Nebenschauplatz exegetischen Geschehens und für viele eher eine Fundgrube für Negativbeispiele – wird langsam unüberschaubar2, trotz des an prominenter Stelle dezent untergebrachten Vorschlags von Schenk, diese Briefe aus dem Kanon der Kirche zu verbannen.3 Seither hat sich in der Forschung viel bewegt (s.u.). Zudem ist es ja die erklärte Absicht der Historisch-Theologischen Auslegung des Neuen Testaments, auch Positionen, die jedenfalls im deutschsprachigen wissenschaftlichen Raum zurzeit nicht mehrheitsfähig sind (in unserem Fall die Überzeugung, die Pastoralbriefe gingen tatsächlich auf den Apostel Paulus zurück und könnten ohne ein sacrificium intellectus chronologisch in dessen Lebenszeit eingeordnet werden), am griechischen Text und im Gespräch mit anderen, auch anders denkenden Exegeten dargelegt und methodisch verantwortet zu Wort kommen zu lassen. Das soll in diesem Buch geschehen. Wir werden uns im Moment damit abfinden müssen, dass es in der europäischen Forschung eine sehr große „Fraktion“ gibt, die Paulus weder unmittelbar noch mittelbar für den Autor des Titusbriefes hält. Sie teilt sich wiederum auf in zwei ungleich große Gruppen. Die eine sieht mit den Pastoralbriefen die Absicht ihrer Verfasser verbunden, die (ersten) Leser bzw. Hörer der Briefe in dem Glauben zu lassen, sie seien tatsächlich von Paulus, und sucht damit bestimmte kirchenpolitische Ziele zu erreichen (Täuschungsvariante). Die andere versteht sie als literarische Fiktionen, deren Charakter und Absicht von jedem Leser durchschaut wurden, weil sie ihm vertraut und bekannt waren, und die trotzdem ähnliche Ziele verfolgten. Wir schließen uns der in Europa kleinen Gruppe derer an, die an der paulinischen Verfasserschaft (im Sinne einer Sekretärs1 J. Herzer, Abschied vom Konsens? Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an die neutestamentliche Wissenschaft, ThLZ 129, 2004, 1267-1282 (Zitat 1267). 2 Man vgl. neben vielen anderen Publikationen auch den von H.-U. Weidemann und W. Eisele herausgegebenen Sammelband: Ein Meisterschüler. Titus und sein Brief (FS M. Theobald), Stuttgart 2008. 3 W. Schenk, Die Briefe an Timotheus I und II und an Titus (Pastoralbriefe) in der neueren Forschung (1945-1985), ANRW II,25/4, 3404-3438, Berlin/New York 1987 (Belege S. 3428 Anm. 93; Begründung 3431).

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Der Brief des Apostels Paulus an Titus

hypothese) festhält, obwohl uns die von beiden Gruppen benannten Argumente bewusst sind und wir sie verstanden haben. Wir möchten von dieser Position aus versuchen, den Text in seiner Entstehungszeit und -situation möglichst genau zu erfassen und zu erklären, und von dort aus Brücken in unsere Zeit und Situation schlagen. Ziel der Auslegung ist es, diesen biblischen Text für die Verkündigung des Evangeliums im 21. Jahrhundert aufzubereiten und fruchtbar zu machen. Natürlich darf die Leserschaft von einem Kommentar ein „Pflichtpensum“ an Informationen erwarten, die alle anderen Auslegungen des Titusbriefes auch bieten. Trotzdem liegt wenig Sinn darin, ein weiteres Mal zu wiederholen, was in vielen anderen Auslegungen auch schon zu lesen ist. Ich habe versucht, einen Mittelweg zu gehen. Grundsätzliche Fragen, die alle drei Pastoralbriefe betreffen, werden nicht noch einmal behandelt. Es wird dafür auf die Einleitung meines Kommentars zum 1. Timotheusbrief und auf die Exkurse dort verwiesen. Es gehört zum wissenschaftlichen Anstand, denen, die man auf einen Weg mitnehmen möchte, vorher mitzuteilen, unter welchen Voraussetzungen man gemeinsam unterwegs sein wird. In unserem Falle geht es um drei Vorentscheidungen zu den Pastoralbriefen:4 1. Wir sehen in den Pastoralbriefen trotz der Gemeinsamkeiten, die uns bewusst sind, und trotz der bis in die Formulierung gehenden Übereinstimmungen, die uns bekannt sind, und trotz der daraus sich ergebenden Probleme, die wir verstanden haben, drei je für sich zu betrachtende Texte, hinter denen drei je für sich zu rekonstruierende historische Situationen und theologische wie kirchliche Absichten stehen. 2. Diese Texte sind (im Rahmen ihrer Gattung) echte Briefe und auch als solche geschrieben und auf die damals übliche Weise versandt und in Empfang genommen worden. 3. Hinter ihnen steht, obwohl sie von einer anderen Person formuliert wurden, tatsächlich der im Präskript genannte Apostel Paulus als Verfasser. Damit treten wir an drei wichtigen Punkten in Gegensatz zu großen Teilen der wissenschaftlichen Exegese. Uns ist bewusst: Ganz ohne Zweifel ist die seit Schleiermacher5 vorgetragene Überlegung, die Pastoralbriefe gingen 4 Vgl. Neudorfer, 1Tim, 15; dort finden sich auf S. 7ff auch ausführliche Begründungen, z.B. zur Rolle des Sekretärs. Vgl. außerdem jetzt E.R. Richards, Paul and First-Century Letter Writing. Secretaries, Composition and Collection, Downers Grove 2004. 5 F. Schleiermacher, Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J.C. Gass, Berlin 1807.

Einleitung

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nicht wirklich auf Paulus zurück, eine mögliche historische Theorie, mit deren Hilfe es unter Einbindung einer Reihe von Hilfshypothesen möglich ist, die Entstehungsverhältnisse dieser Briefe und die Absicht, die mit ihrer Abfassung verbunden waren, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu rekonstruieren. Es kann aber bei wissenschaftlicher Erforschung am Ende nicht lediglich um eine Möglichkeit gehen, sondern darum, ob diese Annahmen zwingend sind oder doch wenigstens einen sehr hohen Grad an Wahrscheinlichkeit haben. Dies wäre z.B. der Fall, wenn die Aussagen in den Pastoralbriefen mit den uns bekannten historischen, kulturellen, sozialen und kirchlichen Rahmenbedingungen der angenommenen Entstehungszeit nicht kompatibel wären6 oder wenn sie nicht nur theologische Unterschiede, die sich auch aus einer inneren Entwicklung des Verfassers oder aus einer veränderten Briefsituation ergeben könnten, sondern tatsächlich unvereinbare Gegensätze zu den uns sonst bekannten Paulusbriefen enthielten. Beides wird zwar immer wieder behauptet, lässt sich aber u.E. objektiv nicht beweisen. Andererseits: Finden sich nicht, wenn man bereits von der Nicht-Echtheit ausgeht, wie von selbst auch Indizien, die sie belegen? Und weiter: Ist der letzte Grund für die Annahme der Unechtheit am Ende nicht doch inhaltlicher Art wie auch schon bei Schleiermacher?7 Könnte diese Annahme nicht auch die Funktion haben, dem Apostel theologische Inhalte8 abzusprechen, die für unser „Paulusbild“ sperrig erscheinen? Und soll sie nicht eben dieses Bild von 6 Merz, Selbstauslegung, 79-86, hat Möglichkeiten und Grenzen von Datierungsversuchen unter Voraussetzung eines (wie sie sagt) „fiktiven“ Charakters der Pastoralbriefe untersucht, ohne letztlich zu einem weiterführenden Ergebnis zu gelangen. Sie hat im Fortgang ihrer Arbeit (222-231) einige Beispiele genannt, die nach ihrer Ansicht „fundamentale intertextuelle Referenze(n)“ sind: das Verfasserpseudonym, die Imitation einer bestimmten Gattung, die Adressatenpseudonyme und andere „Formen allusiver intertextueller Beziehungen zu authentischen Paulinen“. 7 Dieser schreibt a.a.O. S. 19 zur Methodik u.a.: „Der Verdacht selbst aber muss freilich anders woher kommen, nemlich aus den inneren Kennzeichen, und wie vielfältig er mir hier entgegengekommen ist und sich unwiderstehlich aufdrängt, das sollen Sie eben sehen und beurtheilen. Denn bei einem für Paulinisch ausgegebenen Briefe kann es uns unmöglich an den Mitteln uns von seiner Aechtheit zu überzeugen fehlen, und für diese Sammlung für sich genommen muss ich eben, ganz entgegengesetzt dem EUSEBIOS, die aufgestellten Regeln in der grössten Strenge festhalten.“ 8 Die „Einleitung“ von Ebner/Schreiber nennt neben terminologischen Abweichungen vom sog. „echten“ Paulus u.a. „eine gegenüber Paulus andere eschatologische Perspektive“, das Fehlen von „Naherwartung und eschatologischer Spannung“ und einer „eschatologisch motivierte[n] Distanz zur Welt“ sowie „ein nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts gerichtetes Traditionsdenken, das die Weitergabe an künftige Generationen im Blick hat“ und „im Vergleich zu Paulus eine neue ekklesiologische Leitmetapher: nicht mehr ‚Leib Christi‘, sondern ‚Haus Gottes‘.“ M. Ebner / S. Schreiber, Einleitung in das Neue Testament, in: Studienbücher Theologie 6, Stuttgart 2008, 461.465.

18

Der Brief des Apostels Paulus an Titus

ihm, das sich vorrangig an der Apg, am Röm, am Gal und an Teilen der Korintherbriefe orientiert, vor einer Korrektur schützen? Der Versuch, Aussagen der allgemein für „nicht paulinisch“ erklärten Briefe einzubeziehen und dadurch ein umfassenderes Bild von Paulus zu gewinnen, wird gar nicht mehr unternommen. Eine Hypothese ist erst zum Ergebnis, dann zur Voraussetzung der weiteren Forschung geworden. Es muss erlaubt sein, dies infrage zu stellen, auch wenn es als unangenehm empfunden wird.

Autor und Adressat 1. Was wissen wir von Paulus? Genauer: Was wissen wir über ihn, das im Zusammenhang mit dem Titusbrief von besonderem Interesse wäre? Trotz mancher Unklarheiten gehen wir davon aus, dass Saulus (‫שׁאוּל‬ ָ /Σαούλ/Σαῦλος) vermutlich schon vor Apg 13,9 „Paulus“ (Παῦλος) mit cognomen hieß oder als supernomen bzw. signum so genannt wurde.9 Er selbst bezeichnet sich als Jude aus dem Stamm Benjamin (Röm 11,1; Phil 3,5) und rechnet sich der Gruppe der Pharisäer zu (Phil 3,5; Apg 23,6; 26,5), innerhalb derer er zur liberaleren Richtung seines Lehrers, des älteren Gamaliel, gehörte.10 Neben dieser theologischen Ausbildung hatte er nach jüdischem Brauch vermutlich das Handwerk eines Zelttuchwebers (oder Lederarbeiters) erlernt (Apg 18,3).11 Sehr wahrscheinlich stammte Paulus aus der kilikischen Hauptstadt Tarsus. Um die Zeitenwende geboren, hatte er von seinem Vater das römische und das tarsische Bürgerrecht ererbt, das dieser bei seiner Freilassung erhalten haben könnte.12 Tarsus war ein verkehrsgünstig am Übergang über das Taurus-Gebirge gelegener „melting-pot of cultures“, wo Wirtschaft und Handel, Bildung und Kultur aus Ost und West, Sprachen, Philosophien und Religionen sich begegneten. Paulus kannte sich über das Judentum hinaus sehr gut in der Geschichte, dem Denken und dem Charakter anderer Nationen aus und konnte ihren Vertretern grundsätzlich ohne größere Vorbehalte begegnen und mit ihnen reden. Gerade dieser Sachverhalt machte ihn zu einem idealen Bahnbrecher christlicher Mission unter Heiden. Er war, als er den Titusbrief schreiben 9 Vgl. hierzu Riesner, Frühzeit, 128 (mit Literaturhinweisen), ähnlich Hengel, Paulus, 197ff. 10 Vgl. J. Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 1981, 322. 11 Vgl. dazu Hengel, Paulus 208-212. 12 Wir folgen bei der Paulus-Chronologie weitgehend den von Riesner, Frühzeit vorgelegten Ergebnissen; zum Geburtsdatum siehe dort 135.191, zum Bürgerrecht 128ff; Hengel, Paulus, 188-208.

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ließ, vermutlich etwa 60 Jahre alt. Sein Leben endete unter dem Schwert des Henkers in Rom, wo er vermutlich nach der Mitte der 60er-Jahre des 1. Jh. im Zusammenhang mit der neronischen Christenverfolgung hingerichtet wurde.13 Das mehrfache „vermutlich“ macht die Lücken und Unsicherheiten deutlich, die nach wie vor die Erforschung der Paulus-Biografie erschweren.14 Sicher wissen wir dagegen aus seinen Briefen, dass er erstaunlich zeitnah, gut und detailliert über die jeweilige Situation der Empfänger seiner Briefe informiert gewesen sein muss. Er hat sich auch selbst auf solche Informationen bezogen (z.B. Röm 16,3-20; 1Kor 1,11; 11,18-21; 16,16-18; 2Kor 2,5ff; Phil 4,18). Dahinter steht auch sein eigener Grundsatz, um seines missionarischen Auftrags willen den jeweiligen Adressaten seiner Botschaft theologisch verantwortet so nah wie möglich zu kommen (Röm 1,13-15; 1Kor 9,19-23). Es ist daher kein Wunder, wenn sich in seinen Briefen – auch im Titusbrief – einiges Lokalkolorit findet. Die umstrittene Frage ist aber, ob der um das Jahr 32 vom erhöhten Jesus zum Apostel Berufene auch in den Inhalten seiner Theologie zu Schritten auf seine Adressaten bereit und in der Lage war. Schließlich stellt er sich selbst etwa im Gal als sehr unflexibel im Blick auf das Zentrum seiner Verkündigung dar. Andererseits geht er etwa im Röm den dortigen (Juden-)Christen manchen Schritt entgegen – nicht, indem er seine das Gesetz als den Heilsweg ablehnende Theologie verändert, sondern indem er die „Aktiva“ des Judentums stärker als sonst zum Thema macht und unterstreicht. Ähnliches werden wir im Titusbrief hinsichtlich der kretischen (Heiden-)Christen beobachten. Wie u.a. Richards gezeigt hat, muss der Verfasser eines antiken Briefes nicht mit dem identisch sein, der ihn geschrieben hat.15 Wir haben in der Auslegung des 1Tim immer wieder auf die sprachliche und theologische Nähe des Briefes zu den lukanischen Schriften hingewiesen. Dies wird im vorliegenden Kommentar nur sporadisch geschehen. Es spricht manches dafür, dass Lukas 13 Riesners Übersicht von Veröffentlichungen zwischen 1988 und 1992 nennt Daten von 60 n.Chr. (Dassmann) bis 67/68 n.Chr. (Kistemaker bzw. Baslez): ders., Frühzeit 25. Riesner selbst geht von dem Jahr 64 als Todesjahr aus (ders., Chronology 23). 14 Über Leben, Werk und Theologie des Paulus ist hier nicht zu handeln. Hingewiesen sei auf entsprechende Überblicksliteratur. Vgl. etwa Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011; Jens-Christian Maschmeyer, Rechtfertigung bei Paulus. Eine Kritik alter und neuer Paulusperspektiven, BWANT 189, Stuttgart 2010; David Trobisch, Ein Clown für Christus. Die ganz andere Geschichte über Paulus und seine Zeit, Gütersloh 2010; Karl Lehmann, Paulus – Lehrer der Kirche, Mainzer Perspektiven, Mainz 2009; David Wenham, Paulus: Jünger Jesu oder Begründer des Christentums?, Paderborn u.a. 1999. 15 Richards, Secretary; ders., Paul.

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zur fraglichen Zeit zum Paulus-Team gehört hat. Wir gehen deshalb davon aus, dass Lukas auch der Schreiber des Titusbriefes gewesen sein kann. 2. Und Titus? Der Eigenname „Titus“ führt uns in die römische Geschichte und auch geografisch in die Umgebung Roms. Er geht auf den (legendären) Sabinerkönig Titus Tatius zurück, den Rächer der entführten Sabinerinnen und Eroberer des frühen Roms, der später ermordet wurde. Im Rom des Jahres 39 n.Chr. wurde auch der spätere Kaiser Titus geboren, ein Zeitgenosse des Paulus-Mitarbeiters also. Dieser selbst begegnet uns wider Erwarten nicht in der Apg, obwohl dort etliche Personen namentlich erwähnt werden, die im engeren oder weiteren Umfeld des Paulus gearbeitet haben. Nicht genannt wird Titus erstaunlicherweise im 1Kor. Dafür ist von ihm 9x im 2Kor (um 55 geschrieben) die Rede, 2x im Gal (um 48)16 und 1x im 2Tim (nach 64?). Der chronologisch früheste uns bekannte Bezugspunkt zu seiner Person ist die Begleitung des Paulus zum Apostelkonzil im Jahr 48 (Gal 2,1), wo er neben Barnabas wie eine den Lesern in Kleinasien bekannte Größe eingeführt wird. Er muss also spätestens während der sogenannten 1. Missionsreise des Paulus, die ihn nach Zypern, Pisidien, Pamphylien, Lykaonien, also auch nach Südgalatien geführt hat, zum Paulus-Kreis gekommen sein. Dies könnte natürlich erst im syrischen Antiochia kurz vor der Jerusalem-Reise gewesen sein. Titus wäre dann vermutlich in dieser ersten heidenchristlichen Gemeinde Mitarbeiter gewesen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er schon vorher mit Paulus in Verbindung gekommen ist, vielleicht auf ähnliche Weise wie später in Lystra Timotheus (Apg 16,1). Im Unterschied zu diesem (Apg 16,3) blieb Titus aber unbeschnitten (Gal 2,3) und wurde den Jerusalemer Aposteln beim Konzil geradezu als „Modellfall“17, als exemplarischer Heidenchrist18 präsentiert. Beide Mitglieder des Paulus-Teams als eine Person anzusehen, besteht nach unserer Meinung aber kein Anlass.19 Wenn unsere Analysen des Tit zutreffen,

16 Viele Exegeten datieren Gal in die frühen 50er-Jahre. Nach meiner Überzeugung gehört er aber in die Zeit unmittelbar vor dem Apostelkonzil, also 48 oder spätestens 49. Die Gründe dafür habe ich in einem Aufsatz „Mehr Licht über Galatien?“ in JET 5,1991,4762 genannt und erläutert. Vgl. dazu insgesamt auch Riesner, Pauline Chronology, in: S. Westerholm (Hg.), The Blackwell Companion to Paul, Oxford 2011, 9-29, der ähnlich datiert. 17 Von Lips, Titus, 99. 18 Von Lips, Titus, 120. 19 Vgl. dazu zuletzt A. Mayer-Haas, Titus im Zeugnis des Neuen Testaments, in H.-U. Weidemann u.a. (Hg.), Ein Meisterschüler. Titus und sein Brief (FS M. Theobald), Stuttgarter Bibelstudien 214, 11-30 (bes. 24-26), Stuttgart 2008.

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blieb er Paulus bis zum Ende von dessen Wirksamkeit verbunden, und zwar in zunehmender Eigenständigkeit, ohne freilich ganz eigene Wege zu gehen.20 Wie aber war das Verhältnis der beiden Männer zueinander? Welche Aufgaben übernahm Titus in anderen Zusammenhängen? Wohl im Jahr 48, auf dem Weg zum Apostelkonzil in Jerusalem, schreibt Paulus den Gemeinden im Süden der Provinz Galatia. Rückblickend erwähnt er eine frühere Jerusalem-Reise in Begleitung von Barnabas und Titus (Gal 2,1). Dort kam es zu Gesprächen und Absprachen über die Aufgabenverteilung. Titus, der „Heide“, wurde dabei im Team mit Barnabas und Paulus von den leitenden Personen der Jerusalemer Gemeinde ohne Beschneidung, d.h. ohne den Umweg über die Zugehörigkeit zum Bundesvolk Israel, als Mitarbeiter bei der Heidenmission akzeptiert. Etwa acht Jahre später schreibt Paulus von Makedonien aus (Philippi?) den uns als 2Kor bekannten, in Bezug auf seine Einheitlichkeit umstrittenen Brief, nach dem Titus als Verbindungsmann und Briefbote zwischen Paulus und der Gemeinde in Korinth fungierte, die Paulus relativ unfreiwillig verlassen hatte (Apg 18,18). Das offenbar vereinbarte Treffen mit Titus im kleinasiatischen Troas kam nicht zustande, weshalb der Apostel ihm aus Sorge um die Gemeinde in Korinth nach Makedonien entgegenreiste (2Kor 2,12f ). Dort traf er ihn mit guten Nachrichten aus Achaja (2Kor 7,5-7), die sicher auch dem sensibelkommunikativen Geschick und der besonderen Sympathie des Titus für Korinth und seiner Vertrauenswürdigkeit zu danken waren (2Kor 7,13-15; 8,16f ). Es war ihm nämlich gelungen, das bedrohte Verhältnis zwischen Paulus und Korinth zu heilen. Dabei war Titus nicht einfach „Befehlsempfänger“ (2Kor 8,6), sondern „mein Gefährte und im Blick auf euch [mein] Mitarbeiter“ (κοινωνὸς ἐμὸς καὶ εἰς ὑμᾶς συνεργός [koinōnos emos kai eis hymas synergos]; 2Kor 8,23a). Nur an dieser Stelle verwendet Paulus die Funktionsbezeichnung „Mitarbeiter“ (συνεργός [synergos]) für Titus, die sonst „zur Qualifizierung einer Person [dient], die mit und wie Pls als Beauftragter Gottes am ‚Werk‘(…) der Missionsverkündigung arbeitet.“21 Entsprechend meint „Gefährte“ (κοινωνός [koinōnos]) „Gemeinschaft (mit jemandem) durch (gemeinsame) Teilhabe (an etwas).“22 Man könnte sagen: Während das eine Wort die Tätigkeit des Titus aus der Perspektive Gottes darstellt, beschreibt das andere

20 H. von Lips hat in seinem Buch „Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus“, Biblische Gestalten 19, Leipzig 2008, 91ff, viel Material über Titus bis hin zu den entsprechenden Reliquien zusammengestellt und kommentiert. 21 W.-H. Ollrog, Art. συνεργός, EWNT 2III, 727. 22 J. Hainz, Art. κοινωνία κτλ., EWNT 2II, 751.

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die Beziehung zwischen Titus und Paulus. Auf 2Kor 8,16ff bezieht sich schließlich 2Kor 12,18 und unterstreicht die ganz enge, jede Differenz ausschließende Gemeinschaft zwischen beiden Männern. Diese Beziehung geht noch über jene hinaus, nach der der Apostel Titus seinen „Bruder“ (τὸν ἀδελφόν μου) im Sinne von Röm 8,29; Mt 23,8 nennt, ihn also durch eine besonders qualifizierte Beziehung aus der Masse der Christen hervorhebt. Im Titusbrief selbst erfahren wir über Titus lediglich indirekt, dass er als sensibler und kommunikativer Mensch eher zu Zurückhaltung neigte als zu rücksichtsloser Durchsetzung seiner Ziele. Im 4. Jh. weiß Eusebius von Caesarea unter Verweis auf frühere Nachrichten zu berichten, Titus sei „zum ersten Bischof der Kirchen von Kreta ernannt“ worden (H.E. 3,4,5). Mit dieser möglicherweise aus Tit 1,5 erschlossenen Information verliert sich die Spur des Paulusschülers (vgl. aber unten zu den Titusakten!).

Kreta

„Da Paulus nach Auskunft des Ersten Timotheus- und des Titusbriefes auf Kreta war, wahrscheinlich in den Jahren 64/65, und er spätestens im Jahr 67 in Rom hingerichtet wurde, hat er sich sowohl in Spanien als auch in den Städten Kretas jeweils nicht sehr lange aufhalten können“, schreibt Schnabel

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in seiner Darstellung der urchristlichen Mission.23 Trifft diese Einschätzung zu (wovon wir bei unserer Auslegung grundsätzlich ausgehen), dann lohnt sich eine Beschäftigung mit dieser Mittelmeerinsel, die historisch, religiös und auch aus christlicher Sicht schon damals alles andere als ein unbeschriebenes Blatt war: 1. Die Insel liegt ca. 100 km südsüdöstlich der südöstlichen Landzunge des Peloponnes und ca. 150 km südwestlich von der Insel Rhodos entfernt, ist also auf dem Seeweg relativ gut erreichbar. Ihre größte Ausdehnung beträgt in OstWest-Richtung ca. 260 km, in Nord-Süd-Richtung ca. 60 km. Kreta ist immerhin die fünftgrößte Insel im Mittelmeer. Erste Zeugnisse menschlicher Besiedlung der Insel stammen aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrtausends v.Chr. und sind u.a. mit dem Ort Knossos verbunden.24 In der Jungsteinzeit (ca. 5700 bis 2800 v.Chr.) waren neben Knossos und Katsambas, seinem Hafen, Miamou (Mitte der Südküste), Eileithyia (7 km östlich von Iraklion), um die Kult- und Begräbnisstätte Trapeza (Lassithi-Hochebene an der Südküste) und Akrotiri (Halbinsel bei Chania am westlichen Teil der Nordküste) Zentren menschlichen Lebens – also recht verbreitet, eher an den Küsten als im Inneren der Insel. Über ihre Herkunft gibt es aufgrund der Lage nur Vermutungen.25 Figurinen weiblicher Göttinnen weisen auf Fruchtbarkeitskulte hin. 2. Archäologisch wie historisch von Interesse ist Kreta in minoischer, also in der Bronzezeit. In der griechischen Mythologie gilt Kreta als Geburtsort des Zeus. Sein Sohn Minos, Herrscher über ein Inselreich, spielt eine wichtige Rolle als Besitzer des Minotauros, eines gefährlichen Stiers, den der König in einem Labyrinth gefangen hielt. Schon Homer unterschied zwischen einer griechischsprachigen Bevölkerung und einer Urbevölkerung Kretas, die er ἐτεόκρητες [eteokrētes] „wahre Kreter“ nennt (vgl. Ilias 2,645 mit Odyssee 19,176). „Brücke zwischen Orient und Hellas“ nennt Chaniotis die Insel für die Zeit zwischen 900 und 630 v.Chr.26 Sie galt in der Antike als dicht besiedelt.27 In hellenistischer Zeit (etwa ab 336–67 v.Chr.) zählte man Kreta gemeinsam mit Kilikien und Kappadokien nach einem Sprichwort zu den „übelsten K’s“.28 Plato (5./4. Jh. v.Chr.) berichtet von dem Ondit, die Kreter würden 23 Schnabel, Mission, 1417; zur Mission auf Kreta vgl. auch 1226. Interessant ist, dass und wie Historiker und Archäologen sich zur Entstehung der christlichen Gemeinden auf Kreta äußern, z.B. I.F. Sanders, Roman Crete, 43! 24 Detorakis, Crete, 1. 25 Detorakis, Crete, 2f. 26 Chaniotis, Kreta, 48. 27 Chaniotis, Kreta, 10. 28 Chaniotis, Kreta, 92; vgl. auch das Epimenides-Zitat in Tit 1,12b!

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Homosexualität durch Mythen begründen (Leges 1,636 c und d; 8,836 b und c). Polybios (2. Jh. v.Chr.) erwähnt ihre unübertroffene Gewinnsucht (6,46,3 vgl. auch 6,43,4; 6,46,9; 6,47,4). Das Verb κρητίζειν hatte schon bei ihm und später bei Plutarch, einem jüngeren Zeitgenossen des Paulus, die übertragene Bedeutung „lügen“.29 Einer der Gründe für dieses negative Image ist die von der Insel aus betriebene Seeräuberei, durch die dort ein wichtiger Sklavenmarkt entstand.30 Daneben waren ihre Bewohner offenbar als Söldner begehrt, was auch dazu führte, dass auf dem Festland (Ägypten, Kleinasien) kretische Besiedlung entstand.31 Der begrenzte Lebensraum in ihrer Heimat tat ein Übriges hinzu, diese Entwicklung zu fördern. Religiös war man eher konservativ, verehrte die griechischen Götter, wenn auch mit lokalen Varianten. Ab dem späten 4. Jh. v.Chr. drangen dann mit dem sich ausbreitenden Hellenismus auch ägyptische Kulte ein. In starkem Kontrast dazu steht das Selbstbewusstsein der Kreter, die (so Diodorus Siculus, „Weltgeschichte“ 5.64.1 im 1. Jh. v.Chr) von sich glaubten, sie seien die aus der Erde hervorgegangenen wahren Griechen. Die Götter einschließlich Zeus seien in Wirklichkeit verdiente kretische Männer und Frauen gewesen (5.64.2), Zeus sei gar hier begraben (5.77.3; vgl. auch hierzu den Zeushymnus des Kallimachos, Zeile 8f ). Im Jahr 67 v.Chr. nahm der Feldherr Metellus die Insel für Rom ein. Zusammen mit der Kyrenaika bildete sie eine römische (senatorische) Provinz. Es gibt Vermutungen, nach denen die Anfänge der jüdischen Gemeinden auf Kreta in diese Zeit reichen.32 Jedenfalls sind zwei historische Faktoren noch im 1. Jh. v.Chr. für die Zukunft der Insel mitbestimmend geworden: die gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen durch die Römerherrschaft (etwa im Blick auf die rechtlich-gesellschaftliche Stellung der Frauen) und die nennenswerte Ansiedlung von (römischen) Kolonisten, meist Veteranen. Mit der Kaiserzeit hielt dann auch der römische Kaiserkult Einzug, ohne jedoch vorhandene Kulte zu verdrängen. Er war eine „tolerante“ Religionsform, die auf religiöse Koexistenz setzte, aber zugleich auf die eigene Anerkennung achtete. Noch vor der Zeitenwende begann ein wirtschaftlicher Aufschwung der Insel, verbunden mit der Hinwendung zur Produktion von Öl und Wein für den Export. 3. Im biblischen Zusammenhang begegnet uns Kreta in Gestalt seiner Einwohner schon sehr früh, nämlich in König Davids Zeit im 10. Jh. v.Chr. als 29 30 31 32

Belege bei Liddell-Scott S. 995. Chaniotis, Kreta, 95. Chaniotis, Kreta, 88ff.97; vgl. auch Zeph 2,5a (7. Jh. v.Chr.?). Chaniotis, Kreta, 102.

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Söldnertruppe (2Sam 8,18 u.ö.). Trifft es zu, dass auch die biblischen Philister von den Inseln der Ägäis um Kreta kamen33, und handelt es sich bei ihnen um einen Teil der sogenannten „Seevölker“, die seit dem 13. Jh. vom Mittelmeerraum nach Osten vorstießen und im Vorderen Orient für umstürzende Veränderungen sorgten34, dann begleiteten sie die Geschichte des Volkes Israel schon seit seinen Anfängen. Später erscheinen sie wieder im Blickfeld der Propheten Hesekiel (25,16) und Zefanja (2,5) als Element prophetischer Drohworte, schließlich apokryph und eher am Rande in der Makkabäerzeit um 148 v.Chr. (1Makk 10,67). 4. Von der Existenz jüdischer Gemeinden (s.o.) sprechen außer Philo (Leg Gai 282), Tacitus (Hist 5,11) und Josephus (Ant. 27,327)35 wenige Grabinschriften vom 1. Jh. v.Chr. an.36 Eine von ihnen aus dem 4./5. Jh. n.Chr. erinnert an Sophia aus Gortyn(a), die Älteste und Leiterin (!) der Synagoge in Kissamos war.37 Nach Sanders „the literary references depict a peaceful, rich community, if somewhat gullible [leichtgläubig; d.Vf.]“, Letzteres, weil die Juden dort kurz nach dem Tod Herodes des Großen einem Betrüger, der sich als dessen Sohn Alexander ausgab, hereinfielen und ihm Geld gaben.38 Am ersten Pfingstfest sind Leute aus Kreta in der langen Liste der Völkerschaften, die zum Fest in Jerusalem vertreten waren, seltsam abgesetzt wieder dabei (Apg 2,11). Um das Jahr 59 n.Chr.39 betritt mit Paulus eine biblische Hauptperson die Mittelmeerinsel (Apg 27,7ff ) – mit weitreichenden Folgen, wie sich zeigen sollte. Wenn zutrifft, was Ian F. Sanders vermutet, dass die in Apg 2,11 erwähnten, an Pfingsten zum Christentum konvertierten kretischen Juden den Grundstock der christlichen Gemeinden auf Kreta bildeten40, dann konnte Paulus bei seiner dortigen Tätigkeit bereits auf Vorhandenes zurückgreifen. Nach Apg 27,7 wurde die Insel auf der Überführungsreise nach Rom 33 Donner, Geschichte, 203. 34 Donner, Geschichte, 40. 35 Dieses Zeugnis stellt die kretischen Juden nicht gerade im besten Licht dar, weil sie einem Betrüger auf den Leim gingen (s.u.). Übrigens war Josephus nach eigener Angabe mit einer Frau aus einer vornehmen kretisch-jüdischen Familie verheiratet (Vita 427). 36 Sanders, Crete, 43. 37 Vgl. A.C. Bandy, The Greek Christian Inscriptions of Crete, Athen 1970, Anhang 142f, neu veröffentlicht in: D. Noy/A. Panayotov/H. Bloedhorn, Inscriptiones Judaicae Orientis. Vol. I: Eastern Europe (TSAJ 101; Tübingen: Mohr Siebeck, 2004), 252-253. 38 Sanders, Crete, 43. 39 Hemer, Setting, 137, und Riesner, Frühzeit, 286, datieren die Romreise in dieses Jahr. Demnach hätte das in Apg 27,9-11 berichtete Gespräch zwischen dem 6. und 11. Oktober 59 stattgefunden. 40 Sanders, Crete, 43; ebenso Schnabel, Mission, 1226 (mit Hinweis auf Mounce, WBC 386).

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berührt, und zwar offenbar nicht nur für wenige Stunden oder Tage, sondern für längere Zeit (ἱκανοῦ δὲ χρόνου διαγενομένου [hikanou de chronou diagenomenou] V. 9) und (möglicherweise) an mehreren Orten. Auch dies könnte dafür sprechen, dass der Apostel bei seiner späteren Ankunft nach der sog. „ersten Gefangenschaft“ (vgl. Eusebius, H.E. 2,22,6-8) bereits Bekannte vorfand und an alte Kontakte anknüpfen konnte. Der Historiker A. Chaniotis datiert die Landung des Paulus in Kaloi Limenes im Zuge der Überführungsreise erst in das Jahr 61 n.Chr. und geht davon aus, der Apostel habe die Insel „62 oder 63“ ein zweites Mal besucht.41 Allerdings (so schreibt Chaniotis weiter) seien „die ersten Christen Kretas wegen dogmatischer Konflikte gespalten“ gewesen, was die Christianisierung der Insel erschwert habe.42 Diese Datierung und die (in der Literatur meines Erachtens eher übertrieben gewichteten) Konflikte passen gut zu der Einschätzung von Towner, nach der sich die kretische Christenheit zur Zeit des Titusbriefes noch in einem frühen, unreifen und wenig „zivilisierten“ Stadium befand.43 Spuren, die diese Vermutung erhärten, findet Towner an etlichen Stellen im Titusbrief.

Geschichtliche Situation Es ist zum Verstehen eines Textes wie des Titusbriefes außerordentlich wichtig, so viel wie möglich über die Situation des Absenders wie der Adressaten zu wissen. Dazu stehen in der Regel ebenso externe wie interne Nachrichten zur Verfügung, die miteinander verglichen und im Blick darauf, was sie wirklich austragen, abgewogen werden müssen. Anders als z.B. beim 1Tim, als dessen Entstehungshintergrund wir die Gemeindesituation in Ephesus angenommen hatten44 und wo außer dem Brieftext selbst eine Reihe von externen Informationen zur Verfügung stehen (Apg, Eph, Apk u.a.), sind wir beim Tit fast ganz auf die Apg angewiesen. Die Gefahr eines Zirkelschlusses (externe Informationen werden durch interne interpretiert und umgekehrt) liegt nahe und ist zu beachten.

41 Chaniotis, Kreta, 118f. 42 A.a.O. 119; vielleicht schließt Chaniotis hier vom Titusbrief her auf spätere Zeiten. 43 Towner NIC 690; ders. 689: „… the raw situation in Crete called for more rudimentary education in virtue.“ Towner weist an anderer Stelle auf eine Veröffentlichung von R.M. Kidd hin (siehe Bibliografie). 44 Vgl. Neudorfer, 1Tim, 20ff.

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1. Von Bedeutung ist zunächst die Frage, ob und wann Paulus und Titus gemeinsam auf Kreta gewesen sein könnten. Die sogenannte Titus-Legende bzw. die Titus-Akten45 sehen in ihm einen Nachkommen des sagenhaften kretischen Königs Minos, der in Jerusalem Augenzeuge der Kreuzigung Jesu wurde und zu den 120 Personen von Apg 1,15 zählte. Schon in Jerusalem wurde er mit Paulus zusammen (!) zur Missionsarbeit ausgesandt. Gemeinsam machten beide die sog. 1. Missionsreise, gemeinsam kamen sie später (wann?) auch nach Kreta und von dort aus nach Ephesus – so die Legende. Aus den neutestamentlichen Schriften wissen wir von alledem nichts. Im Gegenteil bedeutet das dort Berichtete eher ein Hindernis für die Annahme, Paulus (und Titus) seien vor der Überstellungsreise nach Rom (Apg 27) auf Kreta gewesen. Auf diese Gelegenheit könnte sich allerdings 1,5 beziehen, denn hier war Paulus gegen seinen Willen gezwungen, Kreta in Richtung Rom zu verlassen (Apg 27,10.13). Falls der Aufenthalt im Hafen von Lasäa (Καλοὶ Λιμένες [Kaloi Limenes]) bzw. in der Stadt selbst längere Zeit gedauert hat und sich die vage Angabe des Lukas in Apg 27,9 nicht auf die sich insgesamt verzögernde Reise bezieht, könnte dort tatsächlich wenigstens die Keimzelle einer neuen Gemeinde entstanden sein (s.u. zu 1,5). 2. Die Datierung und die Einpassung der Entstehung des Titusbriefes machen bekanntlich ähnliche Probleme wie bei 1/2Tim; das trifft aber auch auf andere Paulusbriefe zu, deren Entstehungszeit, -ort und -situation umstritten sind. Natürlich macht man sich auf die Suche nach alternativen Situationen, in denen der Brief entstanden sein könnte. 2.1 Paulus war spätestens Apg 27,7, also vermutlich im Jahr 59 n.Chr., erstmals auf Kreta gewesen. Dort ist auch von einem begrenzten, durch das offenbar kurz bevorstehende Ende der Schiffbarkeit des Mittelmeers (mare clausum vom 1. November bis 10. März) bedrohten Aufenthalt auf der Insel die Rede, präziser: im Hafen Kaloi Limenes nahe der Stadt Lasäa etwa auf halber Strecke der Südküste von Kreta (Apg 27,8).46 Die Schiffsbesatzung 45 Text bei F. Halkin, La Légende Crétoise de Saint Tite, An Boll 79, 1961, 241-256. Die Titus-Akten sind frühestens im 5. Jh. entstanden. Aus dem 4./5. Jh. stammt die Notiz des Kirchenvaters Hieronymus, Titus habe Paulus in griechisch sprechenden Gegenden als Übersetzer gedient (Brief 120 ad Hebidiam 11: „… divinorum sensuum majestatem digno non poterat Graeci eloquii explicare sermone. Habebat ergo Titum interpretem: sicut, et beatus Petrus Marcum, cujus Evangelium, Petro narrante, et illo scribente, compositum est.“ („Er konnte die Größe der göttlichen Inhalte nicht in einer Redeweise erklären, die der griechischen Beredsamkeit angemessen [war]. Deshalb hatte er Titus als Übersetzer, so wie auch der selige Petrus Markus [hatte], dessen Evangelium aus dem, was Petrus erzählte und jener schrieb, zusammengesetzt ist.“ Übers. d. Vf.). Zitiert nach: Benoit Matougues, Œvres de Saint Jérôme, Paris 1838). 46 R. Pesch, Die Apostelgeschichte, EKK 5/2, Zürich u.a. 1986,289f.

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und der den Gefangenentransport kommandierende römische Offizier Julius entschieden sich dafür, noch vor Wintereinbruch zu dem für ein Überwintern offenbar besser geeigneten Hafen Phönix (ca. 80 km Luftlinie westlich nahe Anopolis) aufzubrechen – nach dem Bericht der Apg ein folgenreicher Entschluss. Wie lange wird der Aufenthalt bei oder in Lasäa gedauert haben? Vermutlich nicht länger als ein paar Tage, sofern sich die Zeitangabe Apg 27,9 (Ἱκανοῦ δὲ χρόνου διαγενομένου [Hikanou de chronou diagenomenou]) auf die gesamte Reise seit Apg 27,1 bezieht und nicht nur auf die auf Kreta verbrachte Zeit. Sollte allerdings Letzteres der Fall gewesen sein, dann wäre (angesichts der auch dem römischen Hauptmann sicher bekannten Unverdächtigkeit des Paulus) analog zu anderen Anlässen47 eine begrenzte Wirksamkeit und das Entstehen einer christlichen „Zelle“ durchaus denkbar. Das in Tit 1,4 (s. dort!) erwähnte „Zurücklassen“ des Titus wäre dann gut begründet. Zwei Punkte geben zu Bedenken Anlass: Wie soll der vermutlich doch an Lasäa gebundene Gefangene Paulus in „den Städten“ (Tit 1,5) der Insel Gemeindegründungen vollzogen haben? Denkbar ist eine „Selbstausbreitung“ des Evangeliums von einer zentralen Stadt aus in die Umgebung wie in Asia, Makedonien oder Achaja, aber wahrscheinlich ist sie nicht. Außerdem wissen wir aus der Apg nichts von einer missionarischen Aktivität auf Kreta. 2.2 Angesichts der relativ hohen Reisegeschwindigkeiten ist auch die Möglichkeit in Betracht gezogen worden, dass Paulus und Titus „irgendwann“ während der 2. oder 3. Missionsreise von Griechenland, Makedonien oder Kleinasien aus auf Kreta waren.48 Der lange Aufenthalt in Ephesus bietet natürlich gute Voraussetzungen für diese Annahme, zumal wenn Paulus bzw. Titus von dort aus auch Besuche in Korinth gemacht haben und der Apostel selbst in Röm 15,19 davon spricht, er habe „von Jerusalem aus ringsumher bis nach Illyrien das Evangelium von Christus voll ausgerichtet“. Auch davon wissen wir aus den literarischen Quellen (Paulusbriefe, Apg) nichts.49 Haupthindernis bleibt dieses Schweigen der Quellen über eine Zwischenreise nach Kreta, die wir nicht ausschließen können. 2.3 Bleibt schließlich als dritte Option zu prüfen, ob die Entstehung des Titusbriefes wie die des 1Tim in die Zeit nach der ersten römischen Gefangen47 Man denke an die spätere Tätigkeit des Häftlings Paulus auf Malta oder in Rom! 48 In diese Richtung spricht sich z.B. Riesner aus in ders., Epistles, und ders., Chronology 22. Ähnlich hatten sich in letzter Zeit schon van Bruggen, Einordnung, und – ihm folgend – in mehreren Veröffentlichungen R. Fuchs geäußert. Ich habe diese Option im Kommentar zum 1Tim (S. 25ff ) dargestellt und besprochen, mich aber gegen diese Lösung entschieden. 49 Der Satz wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet, z.B. was konkret Paulus mit „Illyrien“ meint; vgl. dazu Haacker, Römer, 342f.

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schaft des Paulus zu datieren sein könnte. Auch sie wurde in der Einleitung zur Auslegung des 1Tim bereits ausführlich diskutiert50 und soll nicht in aller Breite wiederholt werden. Wir halten sie für die wahrscheinlichste Variante, zumal es wenigstens (wenn auch relativ späte) Hinweise auf eine Entlassung aus der ersten römischen Haft im Anschluss an Apg 28 (Eusebius, H.E. 2,22,6-8) und Aktivitäten nach der ersten römischen Gefangenschaft gibt (1Klem 5,5-7). Sie setzt voraus, dass Paulus nach Apg 28, vermutlich nach einem Verfahren vor dem kaiserlichen Gericht, frühestens im Jahr 62 oder 6351 für unschuldig befunden und aus dem Hausarrest entlassen wurde. Er hat dann seine Pläne umgesetzt und ist von Rom aus nach Westen (Gallien, Spanien) gereist oder ist (als römischer Bürger) dorthin ins Exil geschickt worden.52 Plinius der Ältere, ein Zeitgenosse des Paulus, nennt für eine Reise vom römischen Hafen Ostia (oder dem nahe gelegenen, ab 42 n.Chr. unter Kaiser Claudius gebauten neuen Stadthafen Roms Portus Ostiensis Augusti) nach Gibraltar (rund 1000 Seemeilen) nur 7 Tage53 – wobei nicht einmal gesagt, sondern eher sogar unwahrscheinlich ist, dass Paulus bis zur Südspitze der iberischen Halbinsel gereist ist.54 Die Reise ist also von den technischen Gegebenheiten jener Zeit her sehr leicht in den ca. 2-4 Jahren bis zum Tod des Apostels in Rom unterzubringen, auch eine nochmalige kurze Präsenz im östlichen Mittelmeer einschließlich eines kürzeren Verweilens auf Kreta. Freilich 50 Neudorfer, 1Tim, 29-33. 51 Vgl. Riesner, Frühzeit 286; ders., Chronology, s.o.; Ellis, Documents, 424, denkt an das Frühjahr 63. 52 Zur Exilstheorie, die sich auf 1Klem 5,6 (φυγαδευθείς [ fygadentheis] heißt „verbannt“) sowie auf Aussagen von Kirchenvätern stützt (Theodor von Mopsuestia, Argumentum in Eph. 1: „… liberatus, securus abire iussus est“; Pelagius, Expositio in Philemonem 22: „… prima vice sit ex Urbe dimissus“ [J.A. Robinson (Hg.), Texts and Studies. Contributions to Biblical and Patristic Literature 9, Cambridge 1931]) vgl. J.J. Gunther, Paul: Messenger and Exile. A Study in the Chronology of his Life and Letters, Valley Forge 1972, 144ff, und zum Thema insgesamt H. Löhr, Zur Paulus-Notiz in 1Klem 5,5-7, in: F.W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus: historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, Berlin 2001, 197-213. Der Weg ins Exil, der historisch wohl zuerst eher ein Recht und eine Option war, bevor er zur Strafe wurde, könnte manche offenen Fragen zur Paulus-Biografie beantworten. Das Exil hatte verschiedene Formen, Begleitumstände und Folgen. Es wurde auch für Kapitalverbrechen verhängt, konnte befristet und unter Umständen mit dem Verlust des Besitzes bzw. des Bürgerrechts verbunden sein, musste aber nicht. Der Exilsort konnte gerichtlich festgesetzt oder auch (außerhalb Roms) frei gewählt werden. 53 Plinius, nat. hist. XIX 3f (Riesner, Frühzeit, 281). 54 Gunther, Paul, 148f (Anm. 52), vermutet, gestützt von den Kirchenvätern, Tarraco/Tarragona als „first headquarters“, dann Tortosa, Cartagena und Cadiz als Aufenthalte, wobei er mit einem Verbot öffentlicher Verkündigung rechnet (S. 145). Auch Schnabel, Mission, 1226 -1228, stellt Überlegungen über mögliche Arbeitsgebiete dort an.

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– wir wissen auch hiervon aus den synchronen Quellen nichts, außer eben dem Titusbrief. Wenn wir uns dieses Szenario zu eigen machen, dann könnte der Titusbrief nach 3,12 kurz vor Ende der Schifffahrtssaison im Mittelmeer, also wahrscheinlich im Oktober des Jahres 64 oder 6555, spätestens 66 geschrieben worden sein. 3. Gehen die Anfänge der christlichen Gemeinden auf Kreta tatsächlich auf in Jerusalem am Pfingstfest, also wohl Ende Mai 30 n.Chr., bekehrte, aus Kreta stammende Juden zurück, dann gab es zum Zeitpunkt, als der Tit geschrieben wurde, schon eine mehr als dreißigjährige Geschichte von messianischen Juden in den jüdischen Gemeinden dort, deren Faktum und erst recht Einzelheiten uns aber aus den Quellen nicht weiter bekannt sind. Das offensichtliche Fehlen eines wichtigen Leitungsorgans (Gemeindeleiter) spricht Bände. Mag sein (dafür könnte der jüdische Hintergrund der Gegner im Tit sprechen), dass sie im Kontext der jüdischen Gemeinden leben konnten, ohne selbst als Christen rechtlich eigenständige Gemeinschaften bilden zu müssen. Der Besuch des Paulus und seiner Mitarbeiter könnte vor diesem Hintergrund und auch angesichts der sich verändernden politischen Situation in Rom wie ein Katalysator für das Heraustreten aus dem jüdischen Schatten gewirkt haben. 4. Nicht übersehen werden sollte im Zusammenhang mit der geschichtlichen Situation des Titusbriefes der Umstand, dass mit Titus neben dem für sein gesamtes Missionsgebiet zuständigen Apostel Paulus nach unserem Wissen erstmals ein für die jungen Gemeinden einer ganzen Region verantwortlicher Leiter und Organisator benannt ist. Alle uns sonst aus den Paulusbriefen bekannten Missionen von Paulus-Mitarbeitern hatten eher den Charakter von „Kommandounternehmen“, d.h. sie waren mit ganz konkreten Aufträgen versehen, und ihre Aufgabe war de facto für einen sehr begrenzten Zeitraum und (abgesehen von denen, die die Kollekte für Jerusalem eingezogen haben) an eine örtliche Gemeinde gebunden. Nicht so nun Titus, der nach 1,5 (s. auch dort!) ausdrücklich κατὰ πόλιν56 [kata polin] Aufgaben der Personalhoheit zu übernehmen hatte, und zwar die Auswahl und Einsetzung (mit Begleitung und Überwachung?) der örtlich verantwortlichen Leiter. Dies bedeutete natürlich einen Schritt nach vorn in der Organisationsform der Gemeinden und musste spätestens jetzt die Trennung von der Synagoge zur Folge haben. Er ergab sich 55 Schnabel, Mission, 49. Ellis, Documents, 424 mit Anm. 88, meint, dass z.B. 1Tim 2,2 (wir ergänzen: und Tit 3,1) nach Ausbruch der neronischen Verfolgung, den er ins Frühjahr 65 datiert, schwer verständlich wären. Man kann das auch anders sehen. 56 Chaniotis, Kreta, 119, spricht ohne Angabe von Quellen von Gemeinden „angeblich in neun Städten, was allerdings eher unwahrscheinlich ist“.

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aber aus praktischen Notwendigkeiten der Situation: Paulus war offensichtlich anderswo unabkömmlich beschäftigt, die Form der brieflichen Kontakte zu den Gemeinden auf Kreta verbot sich wegen der aus der Ferne undurchschaubaren Lage und, mehr noch, wegen fehlender Ansprechpartner. Zudem war ja Titus gerade deshalb dort, um zu regeln, was noch zu regeln war. Er brauchte dafür jedoch aus der Sicht der Gemeinden und ihrer Leiter offenbar eine Legitimation. Diese erhält er nun in Gestalt des an ihn adressierten, gleichzeitig bzw. eigentlich aber an die Gemeinden gerichteten Briefes der Gattung mandata principis.57 Ihn deshalb in eine wesentlich spätere Zeit zu verweisen, besteht m.E. kein Anlass. Die Einsetzung von Gemeindeleitern scheint mir bisher in der Forschung zu wenig berücksichtigt worden zu sein, wirft es doch auch ein doppeltes Licht auf die Datierungsfrage.58 a) Im Rahmen eines summarischen Berichts wird Apg 14,23 erzählt, Paulus und Barnabas hätten auf dem Rückweg der sog. 1. Missionsreise mit Gebet und Fasten „in jeder Gemeinde Älteste“ eingesetzt.59 Für uns von Interesse ist hier das Faktum, dass Paulus die Einsetzung von verantwortlichen Gemeindeleitern gewöhnlich offenbar ziemlich zeitnah vornahm, wohl spätestens wenn er eine Gemeinde verließ. Er wusste ja auch nicht, ob und wann er wieder die Möglichkeit dazu haben würde. War er auf Kreta gewesen und von dort abge57 Unter „mandata principis“ (vor allem in der englischen Literatur findet sich bisweilen auch „mandata principiis“) versteht man eine Art Beglaubigungs- und Beauftragungsurkunde, in der auch die Aufgaben der Person, der sie gilt, benannt sind. Die Zuordnung des Tit zu dieser Gattung ist nicht unumstritten: zur Kritik, besonders zum Vergleich mit PTeb 703, vgl. David E. Aune, The Blackwell Companion to the New Testament, Malden 2010, 561-563; Mitchell, Margaret M., PTeb 703 and the Genre of 1Timothy, NT 44,2002, 344-370. Auf diese Arbeiten wurde ich leider erst nach Fertigstellung des Manuskripts aufmerksam. Towner NIC 34 möchte lieber von einem „Memorandum“ sprechen. Vgl. zu dem Thema auch O. Roller, Das Formular der paulinischen Briefe. Ein Beitrag zur Lehre vom antiken Briefe, BWANT 4,6, Stuttgart 1933, 148. 58 Zu den unterschiedlichen Leitungsstrukturen und -begriffen in juden-/heidenchristlichen Gemeinden im Einzelnen s.u. in der Auslegung. 59 Mit R. Pesch, Die Apostelgeschichte, EKK 5/2, Zürich u.a. 1986, S. 62f.66f, halten wir gegen Roloff u.a. die Einsetzung der Ältesten hier weder historisch für einen Anachronismus noch theologisch für mit der sonstigen Praxis des Paulus unvereinbar (vgl. J. Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 1981, 220). – Paulus und Barnabas wären damit dem bis dahin und noch länger tonangebenden Beispiel der Jerusalemer Urgemeinde gefolgt. Bestätigt wird die Darstellung der Apg dann später, als Paulus (in der Formulierung des Lukas) „die Ältesten“ von Ephesus (τοὺς πρεσβυτέρους τῆς ἐκκλησίας) zu sich bittet, die Lukas dann im Mund des Paulus selbst als ἐπισκόπους ποιμαίνειν τὴν ἐκκλησίαν τοῦ θεοῦ bezeichnet (Apg 20,28). Das heißt, hier begegnen sich zwei noch parallel existierende Terminologien auf engstem Raum – und Lukas war das offenbar bewusst (s.u. zur Auslegung von Tit 1,5.7!). Übrigens wissen wir auch „nur“ von Lukas (und 1Tim/Tit), dass Paulus Episkopen eingesetzt hat.

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reist, ohne dies zu tun, dann weist das auf eine eilige Abreise hin oder darauf, dass der Gemeindeaufbau sich bei seinem Weggang noch auf einem zu niederen Stadium befand, als dass man Älteste hätte einsetzen können. Die erste Annahme erscheint uns wahrscheinlicher und würde auch das „Zurücklassen“ des Titus zu diesem Zweck (1,5; s. dort!) hinreichend erklären. b) Der Titusbrief lässt angesichts zweier in der Christenheit noch nebeneinander existierender Systeme noch keine endgültig erfolgte begriffliche Klärung zwischen πρεσβύτερος [ presbyteros] und ἐπίσκοπος [episkopos] erkennen. Wenn sich die Christen auf Kreta noch als Teil der jüdischen Gemeinde mit messianologischen Divergenzen zum jüdischen Mainstream verstanden und sich aus diesem Grunde (regelmäßig?) zu eigenen Veranstaltungen trafen, besteht kein Zweifel daran, dass es unter ihnen bereits „Älteste“ gab – jedenfalls was das Lebensalter oder die Dauer ihres Christseins angeht. Titus’ Aufgabe würde dann darin bestanden haben, aus ihnen verantwortliche Gemeindeleiter auszusuchen. Der Punkt, um den es uns hier geht, ist aber ein anderer, nämlich dass die begriffliche Unschärfe auf einen relativ frühen Zeitpunkt für die Abfassung des Tit schließen ließe, nicht auf einen späten. 5. Kreta ist groß. Wo genau hat Paulus Titus zurückgelassen? Es besteht kein Anlass anzunehmen, der Apostel sei von seiner bekannten Strategie abgewichen, seine Arbeit in den Metropolen zu beginnen. Hauptstadt der römischen Provinz Creta et Cyrene war damals Gortyn, das etwa 18 km ostnordöstlich von seinem früheren Landungsort Kaloi Limenes und etwa 11 km nördlich vom vermuteten Lasäa auf der Messara-Ebene liegt. 1Makk 15,23 wird in der 2. Hälfte des 2. Jh. v.Chr. für die Stadt die Existenz einer jüdischen Gemeinde vorausgesetzt. Für eine so lang gestreckte Insel lag es zudem so zentral wie nur möglich, wenn auch nicht an der stärker besiedelten Nordküste. Wenn es nicht Gortyn war, werden wir an einen der Orte zu denken haben, die der Apostel von der Romfahrt her kannte. 6. In den Jahren 64/65, also in jener Zeit, die nach unserer Auffassung (s.o.) für die Abfassung des Titusbriefes infrage kommt, verwaltete der römische Proconsul L. Turpilius Dexter, ein novus homo, ein „Newcomer“ im Milieu der politisch und gesellschaftlich Arrivierten Roms, der immerhin nach 72 n.Chr. Konsul wurde, von Gortyn aus die Provinz.60 Sein Nachfolger war ein gewisser Livi(a)nus.

60 M.A.W. Baldwin, Fasti Cretae et Cyrenarum: Imperial magistrates of Crete and Cyrenaica during the Julio-Claudian Period, Ann Arbor 1983: 203f, wo aber als wahrscheinlichere Datierung 63/64 vorgeschlagen wird. Er wird auch auf kretischen Inschriften erwähnt (IC I.26,2; 28,29; zur Person: RE VII.2,1430 Nr. 9).

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7. Das Szenario, von dem wir bei der Auslegung ausgehen, sieht also etwa so aus61: Nach der Entlassung aus der ersten Haft in Rom (um 62) und einer wohl nach unserem Wissen ziemlich spur-, aber nicht folgenlosen62 Reise nach Spanien bzw. dem Exil dort hat sich Paulus erneut in den östlichen Mittelmeerraum begeben.63 Er ist dann (von Titus u.a. begleitet?) auf die ihm schon von der Überführungsreise (Apg 27) leidlich bekannte, neben Zypern (wo er schon missioniert hatte und das nach Apg 15,39-41 zum Arbeitsgebiet des Barnabas gehörte) zweite große Insel im östlichen Mittelmeer gereist, auf das seit ältester Zeit hochkultivierte Kreta.64 Dort hat er dazu beigetragen, dass sich die christlichen Gruppen von den Synagogen absetzten, was von diesen sicher nicht mit Zustimmung zur Kenntnis genommen wurde. Auch dadurch könnten sich die Konflikte in den Gemeinden und mit ihrem Umfeld erklären. Vermutlich wurde Paulus (auch aus diesem Grund?) zu einer hastigen Abreise veranlasst, bevor er den neu entstandenen Gemeinden eine feste innere Struktur geben konnte. Titus, der dort zurückgeblieben war, erhielt deshalb den Auftrag zu vollenden, was Paulus abbrechen musste. Um seine Position gegenüber den Gemeinden, manchen „Möchtegern-Gemeindeleitern“ in ihnen und manchen Irrlehrern an ihrem Rande zu stärken, ließ der Apostel ihm (wie zuvor schon Timotheus) ein mandata-principis-Schreiben zukommen. Überbringer des Titusbriefes waren wahrscheinlich Zenas und Apollos (Tit 3,13), die Titus zwar die Anweisung überbrachten, sich mit Paulus in Nikopolis zu treffen, aber wohl nicht seine Aufgabe übernehmen sollten – die war mit 61 Auf die Arbeit von R. Fuchs, Unerwartete Unterschiede, Wuppertal 2003, möchte ich noch einmal ausdrücklich hinweisen, auch wenn ich seine Datierung und manche Elemente des Szenarios selbst nicht vertrete. 62 Gunther, Paul, 139 (s. Anm. 52) listet frühe, teilweise umstrittene Zeugnisse über die Verbreitung des Christentums in Spanien vom 2. Jh. n.Chr. (Irenäus, adv. haer. I,10,2; Tertullian, adversus Iudaeos 7,4) bis ins 4. Jh. auf; vgl. zum ganzen Spanien-Komplex auch R. Riesner, The Pastoral Epistles and Paul in Spain (2Timothy 4:16-18), in: Studia Semitica Novi Testamenti 17, 2011, 316-335, sowie den „Spanien“-Art. von J.M. Laboa in TRE 31, Berlin/New York 2000, 610-635, wo es heißt (610): „Keine spanische Gemeinde betrachtet sich als unmittelbar paulinische Gründung, und es gibt keine Überlieferungen oder Spuren seiner Verkündigung.“ 63 Vgl. Schnabel, Mission, 1226. Sollte die Exilstheorie zutreffen und Paulus hätte – aus welchen Gründen auch immer – sein Exil verlassen, in dem er sich sozusagen „auf Bewährung“ befand, dann würde auch seine Wiederverhaftung und Hinrichtung in einem ganz neuen Licht erscheinen. Davon sagen aber die uns bekannten Quellen nichts. 64 Schnabel, Mission, 1226, vermutet, Paulus sei direkt aus Richtung Spanien, also von Nordwesten her, nach Kreta gekommen, was selbstverständlich möglich ist. Da er sich aber in Nikopolis, von der kretischen Provinzhauptstadt Gortyn aus etwa 4 Längengrade weiter westlich, mit Titus treffen will und sich offensichtlich selbst bereits im östlichen Griechenland aufhält, erscheint es uns wahrscheinlicher, dass er sich in Ost-West-Richtung bewegt.

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der Einsetzung der Ältesten ja auch erfüllt. Ein anderer (Artemas oder Tychikus) sollten seine Nachfolge antreten.

Gattung, Gliederung/Struktur und sprachliche Merkmale Der Titusbrief umfasst 46 Verse und, je nach den textkritischen Entscheidungen, etwa 663 Wörter. Schon längst wurde er auf Textmaterial hin analysiert, das dem Verfasser des Briefes bereits vorgelegen hat, und das mit deutlichem Ergebnis. Ellis geht von einem Anteil von rund 46 % traditionellem Bestand aus65, was bedeutet: Fast die Hälfte des Briefes ist nicht in Hinsicht auf die aktuelle Situation der Christen auf Kreta entstanden. Konkret zu nennen sind das Epimenides-Zitat (Tit 1,12b) als krassestes Beispiel, der weisheitliche Satz (1,15a), aber auch die haustafelartigen Ordnungen (2,2-14) u.a.

1. Die Briefgattung Vertreter der Ansicht, die Pastoralbriefe seien erst lange nach Paulus’ Tod entstanden, und zwar als homogene Einheit, betonen den besonderen Charakter und die inhaltliche und literarische Nähe zu den Briefen der Apostolischen Väter.66 Fiore identifiziert den Titusbrief (ähnlich 1Tim) als „official memorandum“.67 In dieselbe Richtung gehen auch Towner und Witherington: Der Titusbrief „most resembles a mandatum principiis – a letter from a ruler or high official to one of his agents, delegates, ambassadors, or governors helping him set up shop in his new post and get things in good order and under control.“68 Er verweist besonders auf den Papyrus Tebtunis 703, eine umfangreiche, im Begleittext (S. 66) als „memorandum (ὑπόμνημα)“, also als Dienstanweisung an einen vom Absender, der wohl die Finanzverwaltung in Alexandria zur Zeit des Ptolemaios III. Euergetes (246–222 v.Chr.) unter sich hatte, selbst angestellten (?) und entsandten Untergebenen.69 Eine wichtige Rolle spielt dabei das Vorbild, das der Vorgesetzte für den Untergebenen sein 65 Ellis, Documents, 116.417f. 66 So z.B. L. Oberlinner, Die Pastoralbriefe: Erster Timotheusbrief, HThK XI, 2/1, Freiburg u.a. 1994, XXIVf. 67 Vgl. Fiore zu Tit 1,5 und zu 1Tim 1,3. 68 Witherington Letters 90. Die Bedeutung für die Pastoralbriefe hatte wohl zuerst Ceslas Spicq in seinem Kommentar Saint Paul, les épîtres pastorales, Paris 1947 herausgearbeitet. 69 Text und Erläuterungen zu diesem unter der Kategorie „Official Documents“ veröffentlichten Papyrus in: A.S. Hunt/J.G. Smyly, The Tebtunis Papyri III 1, London 1933, 66102.

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soll, und wiederum das des Untergebenen für die ihm Unterstellten. Trifft dies zu, so war Titus zwar der offizielle Adressat, und an ihn sind auch die im Brief enthaltenen Anweisungen gerichtet; aber beim Lesen schauten ihm die Gemeinden als die eigentlich Gemeinten quasi über die Schulter. Der Brief diente dazu, Titus zu orientieren und ihn gegenüber den Gemeinden im Blick auf seine Handlungen zu autorisieren.70 Wie wurde der Brief verwendet? Titus las ihn, und er las ihn der jeweiligen Gemeinde im Gottesdienst vor, wenn er den Eindruck hatte, dass das nötig sei.

2. Gliederung und Struktur 1,1-4 Präskript 1,5 – 3,11 Briefkorpus 1,5-9 allgemein: 1,10-16 konkret: 2,1-9 konkret: 2,11-15 allgemein: 3,1-8a

konkret:

Erinnerung an den Auftrag Schilderung der Zustände auf Kreta Was Titus tun soll Begründung für die Anweisungen an die „Stände“ Wie Christen früher waren – was Gott in Christus getan hat Zusammenfassung

3,8b-11 Fazit: 3,12-15 Schluss 3,12-14 Aufträge 3,15 Grüße und Segenswunsch Ein Hauptakzent des Briefes liegt auf 2,1-15, nämlich einerseits der Klärung angemessenen Verhaltens für (Problem-)Gruppen in der Gemeinde (2,1-9) und für Christen allgemein (3,3.8b), andererseits der Grundlegung solch christlicher Ethik von den gnädigen Taten Gottes in Christus her (2,11-15; 3,4-7).

3. Sprachliche Merkmale71 Der Text des Titusbriefes erweist sich bei näherer Betrachtung als weitgehend „durchgestylt“, d.h. mit einer Fülle von sprachlichen und theologischen Verbindungslinien, Aufnahmen, Signalbegriffen, Klammern u.a. versehen. Er ist somit ein für „rhetorisches Lesen“ gemachter Text. Classen definiert „rhetorisch“ gemeinte Texte nicht von einer bestimmten Theorie her, 70 Marshall ICC 111: „Its formality and fulness of content suggest that it is meant not only for Titus but also for the churches for which he is responsible.“ 71 Weiteres dazu s. im nächsten Abschnitt!

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„but an element of deliberation, of systematisation and of planning seems to me to be an essential characteristic of rhetoric. … Rhetorical reading means reading a text as composed by an authoress or an author with a particular intention, addressing a particular audience or individual at a particular moment or a wider public (…) and, therefore, formulated in a carefully considered manner.“72 Classen weist auf Schlüsselbegriffe hin, die der Autor schon im Präskript (1,14) und später erneut gezielt verwendet: πίστις – σωτήρ – ἀλήθεια/ἀψευδής – ἐφανέρωσεν – ζωὴ αἰώνιος.73 Es schließt sich übergangslos und knapp der Abschnitt mit Instruktionen für Titus an (1,5f ), auf den (durch γάρ und die Wiederaufnahme des ἀνέγκλητος von 1,6 in 1,7 signalisiert) Begründungen mit Blick auf das Anforderungsprofil des Episkopen (1,7-9) und die Gefährlichkeit der Gegner (1,10f ) folgen. Das Epimenides-Zitat (1,12b) samt Einführung (1,12a) und Bekräftigung (1,13a) sorgt für „Lokalkolorit“ und stellt sein Urteil zugleich in einen größeren, auch über die Christengemeinden hinaus akzeptierten Rahmen. Vers 1,13b bringt (nach 1,5) eine Anweisung im Imperativ (διʼ ἣν αἰτίαν ἔλεγχε αὐτούς), die mit der eben geschilderten Beschaffenheit der Gegner begründet wird. Vers 15f hebt diese Konkretion auf ein allgemeineres Niveau. In betontem Gegenüber zu den Widersachern wird der Adressat 2,1 direkt und persönlich angesprochen und konkret beauftragt (σὺ δὲ λάλει).74 Solche direkte Anrede, oft in Form von Imperativen, die den Text strukturieren, gibt dem Tit seinen Charakter.

Sprachliche, theologische und kybernetische Aussagen 1. Die sprachliche Verwandtschaft der drei Pastoralbriefe ist bekannt und muss nicht wiederholt werden, ebenso die Besonderheiten und Abweichungen im Vergleich mit den allgemein für „echt“ angesehenen sieben Paulinen. Sie zeigt sich u.a. in der Wortstatistik, die aber so „objektiv“ nicht ist, wie die bloßen

72 C.J. Classen, A Rhetorical Reading of the Epistle to Titus, in: S.J. Porter / T.H. Olbricht, The Rhetorical Analysis of Scripture. Essays from the 1995 London Conference, Journal for the Study of the New Testament (Supplement Series) 146, Sheffield 1997, 427-444. Der Beitrag ist in veränderter Fassung abgedruckt in dem Sammelband: ders., Rhetorical Criticism of the New Testament, WUNT 128, Tübingen 2000, 45-67 (zitiert als „Classen, Titus II“; Zitat S. 46). 73 Classen, Titus II, 63f. 74 Classen, Titus II, 64, sieht das etwas anders und betont die Querverbindungen zum voraufgegangenen Text.

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Zahlenwerte suggerieren.75 Für den Titusbrief bedeutet das immerhin eine erstaunliche Häufigkeit des Vorkommens von πίστις und seinen Nebenformen (12), von ἔργον (12, davon 4 mit ἀγαθός, 2 mit καλός, 2 absolut), σωτήρ[ιος] (7), λόγος (5), διδάσκειν/διδασκαλία/διδαχή (6), von dem Stamm ὑγι- (5 in 1,1 – 2,8), χάρις (5), καθαρός/καθαρίζειν (4) usw., ganz abgesehen vom 13maligen Vorkommen von θεός. Ohne das Gewicht des Vorkommens bzw. Fehlens bestimmter Termini zu ignorieren, weist Classen auf Signale hin, durch die der Verfasser den Rezipienten Hinweise zum Verstehen seines Briefes gibt. Gerade durch „allgemeine“ Überlegungen (so muss man ihn vor dem Hintergrund eines Zitats von Holtz doch wohl verstehen) und durchdachte Strukturen geschehe dies.76 Neun Imperative (plus 2 in 3,12f ) geben dem Brief seinen Charakter: „It is a letter with instructions, mandates, injunctions, admonitions and warnings, particular orders which are justified with the help of general considerations and put forward in a very clear and carefully structured arrangement“, schreibt Classen.77 Diese Tendenz unterstreichen die 13 ἵνα-Sätze bei insgesamt nur etwa 36 Sätzen, was bedeutet: Durchschnittlich leitet mindestens jedes 51. Wort eine zielorientierte Aussage ein.78 Wir haben es demnach mit einem Anweisungsschreiben zu tun, dessen Zweck es ist, bestimmte Ziele zu erreichen. Aus diesem Grund geht der Verfasser auf die nicht im Judentum, sondern in der griechischen Religion aufgewachsenen Leser bzw. Hörer ein, indem er auf bestimmte, nur vom AT her richtig zu verstehende Begriffe verzichtet (z.B. „Sohn“ als Bezeichnung Jesu; s.u.) und andererseits, wenn es möglich ist, ihre eigene religiöse Sprache verwendet. In 1Kor 9,19-23; 10,32f hat er das auch missionstheologisch begründet. Vergleichsweise wenig Anklänge an alttestamentliche/frühjüdische Texte finden sich dementsprechend im Titusbrief, wenn diese Tradition auch – wie nicht anders zu erwarten – immer wieder und strukturell tragend hervorblitzt. Dennoch müssen wir bedenken, dass der Jude Paulus, auch wenn er an einen Heidenchristen und an heidenchristliche Gemeinden schreibt und seine Sprache und die Auswahl seiner Beispiele (Epimenides!) dieser Situation bewusst und gezielt anpasst,

75 Man beachte trotz mancher Überziehungen die berechtigten Bedenken, die E. Linnemann z.B. in ihrem Beitrag „Echtheitsfragen und Vokabelstatistik“ in JETh 10, 1996, 87-109, und R. Fuchs, Unterschiede, bes. 176ff vorgetragen haben! 76 Classen, Titus II, 65 mit Anm. 57. 77 Classen, Titus II, 65. 78 Zum Vergleich: im Röm jedes 244. Wort; 1Kor jedes 136.; Gal jedes 148.; 2Thess jedes 117.; 1Tim jedes 105.; 2Tim jedes 247.; Phlm jedes 83.

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seine eigene „religiöse Sozialisation“ gewiss nicht einfach „abschütteln“ konnte und wollte. 2. Wie spricht Paulus im Tit von Gott? Gleich 3x verbindet er Gott mit dem Vorgang der Erlösung in der Kombination τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ (1,3; 2,10; 3,4), 1x bezeichnet er ihn im Rahmen einer Formel als „Vater“ (1,4), von dem Gnade und Frieden ausgehen. Überhaupt wird Gott als der Freundliche, Gütige, Gnädige dargestellt, auf dessen Gnade Verlass ist. Wichtig ist Paulus vor der Negativ-Folie des den Kretern anhängenden Rufs, Gott als einen zu zeichnen, der nicht lügt. 3. Towner hat den individuellen Charakter der Christologie des Titusbriefes betont, indem er z.B. im Vergleich zum 1Tim schrieb: „Christology in the letter to Titus takes a different stance and strikes a different balance than in 1Timothy. The letter was written specifically and intentionally, not just notionally, to Titus against the background of a nascent Pauline church that had spread to various cities on the island of Crete and was in many ways experiencing stress, frustration, and some uncertainty of commitment …“79 Von Jesus80 spricht der Titusbrief stets in Verbindung mit dem Χριστός-Titel, wobei der Wechsel der Reihenfolge vielleicht auch deutlich machen soll, dass es sich nicht um praenomen und cognomen handelt, sondern um einen Eigennamen und einen Titel. Wie bei Gott-Vater ist 3x von Jesus in Verbindung mit [τοῦ] σωτῆρος ἡμῶν die Rede; es wird also die Erlöserfunktion betont. Towner profiliert die Christologie des Tit im Vergleich mit 1Tim und hebt dabei auf die göttliche Seite Christi ab, wohingegen in 1Tim 1,15; 2,5; 3,16; 6,13f diese Seite eher in den Hintergrund trete. Christus kam von oben zu den Menschen. Sein Kommen wird als „Epiphanie“ bezeichnet. Als Gottheit brachte er den Menschen Erlösung und die Möglichkeit eines Lebens, das vor Gott und den Menschen recht ist. Er wurde nicht umgekehrt aufgrund von Gaben, die er brachte, zur Gottheit erhoben.81 Das bedeutet: Von 1,3 an, also schon im ersten Satz des Briefes (besonders dann in 2,13), wird die Gottheit Jesu Christi betont. Sie erhält ihre Schärfe, indem Paulus sie bewusst mit hochrangiger Begrifflichkeit ausstattet und indem er sie mutig in den Rahmen kretisch-griechisch-hellenistischer Kultur- und Religionsgeschichte stellt. Ein Grund für das Hochhalten des Gottseins Jesu Christi dürfte in der Tatsache

79 Towner, Christology, 234. 80 Zur Christologie vgl. Towner, Christology, besonders 234-242. 81 Towner, Christology, 234.

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liegen, dass die heidnischen Kreter, die vom jüdischen Glauben fast nichts wussten, mit der Bezeichnung „Gott“ natürlich mehr assoziierten als z.B. mit dem jüdischen Messias-/Christus-Titel.82 Damit korrespondiert das Fehlen des sonst bei Paulus gebräuchlichen Hoheitstitels „Sohn (Gottes)“, der die griechisch-hellenistisch aufgewachsenen Leser auf eine völlig falsche Fährte gesetzt hätte. Sie hätten dabei vermutlich an die diversen Heroen oder Halbgötter gedacht, die etwa Zeus, der „Gott-Vater“, in die Welt gesetzt hat. Umgekehrt hätte die explizite Bezeichnung Jesu als „Gott“ die judenchristlichen Leser seiner übrigen Briefe eher irritiert. Towner sieht das christologische Bindeglied zwischen den drei Pastoralbriefen trotz der Akzentuierung der Menschlichkeit Jesu im 1Tim in der Verwendung der Epiphanie-Motive und in dem Thema „Erlösung“, das im Titusbrief von Anfang an (σωτήρος 1,3) eine wichtige Rolle spielt.83 4. Ausdrücklich erwähnt wird der Heilige Geist in 3,5 im Rahmen eines theologischen Textes im Zusammenhang der Rechtfertigungslehre und Taufe. Es heißt dort, der Geist sei durch Jesus Christus „reichlich auf uns ausgegossen worden“. Er ist damit zusammen mit dem „Bad der Wiedergeburt“ im Blick auf dessen menschliche Seite ein wesentlicher Faktor des Erlösungsvorgangs. 5. Die Gemeinden Kretas sind im Blick auf ihre Mitglieder und auf ihre Außenwirkung ein Thema. In sich sind sie offenbar noch ungefestigt, was ihre innere Struktur und Ordnung angeht. Wer es geschickt anfängt, kann sie leicht in die Irre führen. Deshalb fehlen die eigentlich vorgesehenen Gemeindeleiter (1,5), deren Bezeichnung terminologisch noch flexibel scheint (πρεσβύτερος/ ἐπίσκοπος – Schlüsselstelle 1,5/7) bzw. deren Funktion – anders als in dem m.E. nach Ephesus gerichteten 1Tim im „alten“ Missionsgebiet des Paulus – noch nicht klar definiert ist. Fiore schreibt: „The solution on Crete is a structural change in church organization with the introduction of elders/overseers. In Ephesus elders and overseers already exist but need some reform (1 Tim 5:19-22). … While the author of the Pastorals seems to prefer the ‚overseer‘ title in 1 Timothy for the person in a supervisory and teaching role, he might have been drawn to use ‚elder‘ here by the reference to Paul’s establishing elders in Derbe (Acts 14,23). The elders blend with overseers, who are selected from their number.“84

82 Towner, Christology, 243. 83 Classen, Titus II, 50f. 84 Fiore 197.

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Offenbar sind die „natürlichen“ Gruppen der Gemeinde unsicher, wie sie sich untereinander verhalten sollen. Hier gibt der Apostel kybernetische und ethische Anweisungen (1,5-9; 2,1-10). Auch in der Gesellschaft haben die Gemeinden ihren Platz und ihr Profil als eigenständige, von der Synagoge unabhängige Gruppe noch nicht gefunden. Paulus versucht, sie auf eine Spur zwischen Anpassung und Profilierung zu setzen, auf der sie auch angesichts schwieriger werdender Rahmenbedingungen überleben können. 6. Der Glaube, also die Bezeichnung der grundlegenden Beziehung zwischen Mensch und Gott, spielt im Titusbrief eine zentrale Rolle85, was allein schon durch die Wortstatistik belegt werden kann (s.u.). Grundsätzlich wird zwischen Menschen, die zum Glauben gekommen und seither gläubig sind (οἱ πεπιστοικότες θεῷ 3,8), und Ungläubigen (ἀπίστοις 1,15) unterschieden. Es wird weiter differenziert zwischen einem „gesunden“ und einem „kranken“ Zustand des Glaubens86, wobei bei Letzterem auf Genesung gehofft werden kann. Sprechen wir vom Glauben als von einem Beziehungsbegriff, so schließt diese fides qua das Vorhandensein einer zuverlässigen, verbindlichen Grundlage des Glaubens, eine fides quae, nicht aus, die in Richtung einer „Rechtgläubigkeit“ weist (1,9; 3,8). Dies hat mit der Konkretheit des Glaubens zu tun. 7. Die Eschatologie im engeren Sinn kommt lediglich an den Rändern in den Blick. In Tit 1,2 und 3,7 ist von der ἐλπὶς ζωῆς αἰωνίου, der „Hoffnung auf ewiges Leben“, die Rede. In 2,13 richtet sich der Blick erwartungsvoll nach vorn auf den Gegenstand der Hoffnung, nämlich „das Offenbarwerden der Herrlichkeit des großen Gottes, nämlich unseres Herrn Jesus Christus“. Die übliche Unterscheidung zwischen einer „Naherwartung“ und deren „Zerdehnung“ scheint mir der Sache nicht angemessen: Lebendige Erwartung ist immer „Naherwartung“. Es kommt ja schon Jesus darauf an, die Erwartung seiner Jünger lebendig zu erhalten (etwa am Ende der Endzeitrede Mk 13,33ff ). Für den alternden Apostel, der seine Erfahrungen gemacht hat, dessen Lebensende absehbar geworden ist und dem auch die politischen Veränderungen nicht entgangen sind, wird es nun wichtig, den Gemeinden dabei zu helfen, auch unter neuen Rahmenbedingungen ihren Platz zu finden.

85 Vgl. dazu die Untersuchung von Mutschler, Glaube, 215ff, allg. für die Pastoralbriefe 404 (s. Bibliografie). 86 Mutschler, Glaube, 221.

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8. Damit sind wir bei der Ethik: Einen wesentlichen Teil des Titusbriefes machen Aussagen zur Ethik aus.87 Schonungslos erinnert der Briefschreiber seine Leser an die eigenen Verirrungen vor ihrer Bekehrung. Missionarische Kraft kann nun aber nicht entfalten, wer gesellschaftlich auf totalen Konfrontationskurs setzt. Darum ist es für Christen in der verbleibenden Zeit unerlässlich, einen modus vivendi zu finden. Paulus hilft ihnen dabei, indem er auf Überschneidungen zwischen christlich(-jüdisch)er und griechisch-hellenistischer Ethik hinweist und gemeinsame Begriffe, Vorstellungen davon, was „sich gehört“, und Werte aufnimmt. Er unterscheidet zwischen solchen Christen, die eine besondere Verantwortung für die Gemeinde übernommen haben (hier: Älteste und Episkopen 1,5-9), und den durch Alter, Geschlecht und sozialen Stand unterschiedenen Gruppen der Gemeinde (Senioren und Seniorinnen, junge Frauen und Männer, Sklaven 2,2-10). Sie alle sollen durch ihr Verhalten keine Verachtung, keinen Spott der heidnischen Umgebung provozieren. Was für alle Menschen gilt, gilt grundsätzlich auch für Christen, wenn auch mit gewissen Akzentuierungen. Daneben sieht der Apostel die Situation der Gemeinden im Gegenüber zu einem sich von ihnen distanzierenden Staat und ermahnt sie trotzdem zu respektvollem, nicht aggressivem Verhalten (3,1f ). 9. In der Auslegung der vergangenen Jahrzehnte spielte die Gegner-Frage, die schon Thomas von Aquin als das leitende Thema des Titusbriefes betrachtet hatte (s.u.), eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu manchen anderen seiner Briefe kann Paulus im Titusbrief offenbar völlig unangefochten auftreten. Seine „Zuständigkeit“ für die Gemeinden, seine Kompetenz, sein Apostolat muss er an keiner Stelle verteidigen. Das bedeutet nicht, dass er in den Gemeinden (oder an ihren Rändern) keine Gegner gehabt hätte. In der Literatur zu den Pastoralbriefen wird ziemlich durchgängig die m.E. nicht immer ausreichend differenzierende Charakterisierung „der“ Gegner in den Pastoralbriefen als ein inhaltlich-theologischer Schwerpunkt der Forschung behandelt. Gelegentlich kann man den Eindruck haben, aus „Tätern“ würden „Opfer“ gemacht und umgekehrt. Mindestens fehlt es nicht an Versuchen, die Gegner in ein gutes Licht zu stellen.88 Andererseits werden auch Stimmen laut, die vor einer Vereinheitlichung warnen. So schreibt Gerber von ihrer Position aus:

87 Hier sei – neben den Kommentaren – auf das wichtige Buch von P.H. Towner, The Goal of our Instruction. The Structure of Theology and Ethics in the Pastoral Epistles, JSNT.S 34, Sheffield 1989 hingewiesen. 88 Beispiele dafür finden sich in Haslers Kommentar (s. Bibliografie) S. 90f u.ö.

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„Fraglich ist aber auch prinzipiell, ob man der literarischen Fiktion der Briefe gerecht wird, wenn man, wie in der Auslegung üblich, die kritischen und polemischen Aussagen aus allen drei Briefen addiert und eine gemeinsame gegnerische Front rekonstruiert. Für sich gelesen, lässt Tit die jüdische Prägung der Bekämpften eindeutig erkennen …“89 Interessant ist: Paulus argumentiert nicht direkt mit den Gegnern – vielleicht weil sie nicht zur Gemeinde gehören und er ernüchternde Erfahrungen gemacht hatte, vielleicht auch, weil er die Auseinandersetzung den Verantwortlichen auf Kreta überlassen will, die gerade zu diesem Zweck eingesetzt werden sollen. Ist es aber dem Befund angemessen, a) die in den drei Briefen wahrnehmbaren „Schatten“ solcher Personen, die offensichtlich dem Aufbau und geistlichen Wachstum der Gemeinde im Wege stehen, als einen erratischen Block zu behandeln und b) die sehr vielfältigen Aussagen der drei Briefe allesamt auf die Abwehr dieser Gegner zu beziehen? a) Die erste Frage haben wir grundsätzlich schon negativ beantwortet. Natürlich, sofern man sämtliche Charakterisierungen der drei Briefe saldiert, ergibt sich daraus ein (komplexes, teilweise divergierendes) „Feindbild“, das allerdings gerade wegen dieses Vorgehens mancherlei grundsätzliche Fragen aufwirft. Wir gehen den anderen Weg und versuchen, den Aussagen der einzelnen Briefe eine Charakterisierung der jeweiligen Opponenten zu entnehmen, nämlich zunächst für 1Tim in Ephesus90 und nun für Tit auf Kreta. Schon die Tatsache, dass beide Briefe nach unserer Überzeugung etwa zur gleichen Zeit geschrieben wurden, macht es wahrscheinlich, dass es gemeinsame Züge geben wird, die schlicht in der kirchlich-theologisch-weltanschaulichen Gesamtsituation (sofern man davon schon so früh sprechen kann) und in den geschichtlichen Rahmenbedingungen ihren Grund haben. b) Ist dies so entschieden, dann muss in den Texten unterschieden werden zwischen solchen Aussagen, die tatsächlich auf eine klar profilierbare Gruppe von Personen gemünzt sind, und solchen, die sich auf durchgehende, mentalitäts- oder milieubedingte Gemeinsamkeiten beziehen. Zu dieser Unterscheidung gibt besonders der Titusbrief Anlass. Er gibt den Lesern in Gestalt des

89 C. Gerber, Antijudaismus und Apologetik. Eine Lektüre des Titusbriefes vor dem Hintergrund der Apologie „Contra Apionem“ des Flavius Josephus, in: C. Böttrich / J. Herzer (Hg.), Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen, WUNT 209, Tübingen 2007, 335-363: 351. 90 Vgl. Neudorfer, 1Tim, 175.

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Epimenides-Zitats (1,12) zugleich ein deutliches Signal in diese Richtung, das von Paulus gleich im folgenden Satz ausdrücklich in dieser Allgemeinheit bestätigt und im Folgenden auf die konkrete(n) Gemeinde(n) Kretas bezogen wird. Wir beachten des Weiteren die durchaus unterschiedliche Einstellung, die Paulus seinen verschiedenen Gegnern gegenüber einnimmt. Er kann dabei zwischen solchen, die von „innen“ kommen (wie Phil 1,15-18), und solchen, die „draußen“ sind, ebenso unterscheiden wie zwischen Konflikten, in denen es um theologische Positionen geht, und solchen, die persönlich-menschlicher Art sind (vgl. 2Kor 2,5-10), und angemessen damit umgehen. Bei der Rechtfertigungsfrage bzw. der Frage nach der Heilsbedeutung des jüdischen Gesetzes reagiert Paulus in seinen Briefen äußerst empfindlich und kompromisslosabwehrend (Röm 16,17-20; Gal 1,6-9; 2Kor 11). Er kann in ihnen geradezu Protagonisten teuflischer Angriffe auf die Gemeinden sehen. In 1Kor 16,22 bestimmt Paulus den Rahmen des in den Gemeinden zu Tolerierenden anders: „Wenn jemand den Herrn nicht lieb hat, der sei verflucht.“ Auf der anderen Seite nimmt er „innere“ Gegner differenzierend wahr und geht entsprechend mit ihnen um. Er unterscheidet einerseits den seelsorglichen Umgang mit „Einzeltätern“, die die Gemeinde verwirren (1Kor 5,1-5), deren Motive eher negativ sind (Phil 1,15-18) oder die für Unruhe sorgen (Phil 4,2f; 2Thess 3,14f ) und die deshalb zurechtgewiesen werden, deren Christsein selbst aber nicht infrage gestellt wird, und andererseits die Notwendigkeit, klare Fronten zwischen Lehre und Irrlehre zu ziehen (Past). 10. In der Literatur wird hervorgehoben, die hohe Gewichtung der Person des Paulus und der durch ihn (allein) zuverlässig tradierten Glaubensinhalte sei ein typisches Merkmal dafür, dass hier spätere Paulusanhänger versuchten, sein Erbe für ihre Zeit zu sichern. Natürlich kann man so argumentieren; man sollte aber zur Kenntnis nehmen, dass Paulus für sich selbst auch in den allgemein als „echt“ anerkannten Briefen eine Schlüsselstellung beansprucht, und zwar sowohl was das von ihm verkündigte Evangelium angeht (z.B. Gal 1,8f; 1Kor 15,2; 2Kor 11,4) als auch hinsichtlich der Art glaubend zu leben (z.B. mit dem Begriff der μιμηταί:1Kor 4,16; 11,2f; 1Thess 1,6). Für die Situation auf der Insel Kreta kommt hinzu, dass ihm wohl tatsächlich fernab von Jerusalem eine entscheidende Position bei der Vermittlung des Evangeliums zukam, die ihm selbst auch bewusst war.

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Text-, Auslegungs- und Wirkungsgeschichte – einige Momentaufnahmen91 1. Die Pastoralbriefe waren vielleicht schon in P46 enthalten, einer der wichtigen Handschriften aus der Zeit um 200 n.Chr.92 Das ist etwa die Zeit des Canon Muratori, des Irenäus und des Tertullian. Davor verlieren sich ihre Spuren als Originaltexte für unsere Augen im Dunkel der Textgeschichte. Danach, also ab dem 3. Jh., verstärkt sich die Breite der Überlieferung, wie ein Blick auf die Manuskripte jener Zeit zeigt. Noch älter werden Rückbezüge bzw. Zitate aus dem Tit in den Schriften der Apologeten und Apostolischen Väter sein: etwa bei Ignatius (gest. um 115 n.Chr.)93 und seinem Zeitgenossen Polycarp von Smyrna94, der wenige Jahre nach dem Tod des Paulus geboren wurde, bei Athenagoras, Irenäus (ca. 135–202 n.Chr.), Tertullian (ca. 150–230 n.Chr.) und Justin (ca. 100–165 n.Chr.)95 sowie die schon genannte Erwähnung im Canon Muratori. Dort werden die drei Briefe in Zeile 59-63 zwar mit dem Philemonbrief wohl als an Einzelpersonen verfasste Schriften des Paulus von den eigentlichen Gemeindebriefen abgehoben, andererseits aber auch ausdrücklich (Zeile 65) von gefälschten Paulusbriefen, die damals im Umlauf waren, unterschieden. 2. In eine andere Kategorie gehören die angeblich von dem in Tit 3,13 erwähnten Zenas verfassten, in Wirklichkeit frühestens im 5. Jh. entstandenen sog. „Titusakten“, in denen wohl ein geringerer Anteil von historischen Infor-

91 Für eine auch nur annähernd umfassende Darstellung und Analyse der Auslegungsgeschichte ist hier nicht der Ort. Im Kommentar zum 1Tim habe ich dazu knapp etwas geschrieben und auf Literatur hingewiesen (a.a.O. 36-39). Hier sei der Bericht von W. Schenk in ANRW 2,25/4, 3404-3438, und von M. Harding, What are they saying about the Pastoral Epistels? New York/Mahwah N.J., 2000, erwähnt. 92 R. Riesner, Luke-Acts, 257 mit Hinweis auf J. Duff, P46 and the Pastoral Epistles: A Misleading Consensus?, NTS 44, 1998, 578-590; anders noch B.M. Metzger, Der Text des Neuen Testaments. Eine Einführung in die neutestamentliche Textkritik, Stuttgart u.a. 1966, 37f. 93 Auch für Ignatius setzt Merz, Selbstauslegung, 141ff, Bekanntschaft mit den Pastoralbriefen voraus und belegt dies ausführlich. Noch mehr ins Detail geht C. Looks, Das Anvertraute bewahren. Die Rezeption der Pastoralbriefe im 2. Jahrhundert, Münchner Theologische Beiträge, München 1999. 94 Merz, Selbstauslegung, 139 geht von einer Kenntnis der Pastoralbriefe durch Polycarp von Smyrna wahrscheinlich vor 120 n.Chr., vielleicht schon um 105 n.Chr. aus. Umfassend befasst sich damit: C. Looks, Das Anvertraute bewahren. Die Rezeption der Pastoralbriefe im 2. Jahrhundert, Münchener Theologische Beiträge, München 1999. B. Fiore, The Pastoral Epistles, Sacra Pagina 12, Collegeville 2007, bezieht patristische Texte ausführlich in seine Kommentierung ein. 95 Looks, Anvertraute, 489f.

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mationen mit einer größeren Menge von Spekulationen vermischt ist.96 Die vornehme Herkunft als Nachfahre des sagenhaften Königs Minos und der Lebensweg des Titus werden ausführlich beschrieben, ebenso sein himmelfahrtsähnlicher Tod im Alter von 94 Jahren. Aber schon in den sog. Paulusakten (XI,1ff; 2. Hälfte 2. Jh.) findet Titus legendarisch Erwähnung. Der Kirchenvater Hieronymus (4./5. Jh.) schließlich berichtet in seinem Brief an Hebidia (11) von der Beschäftigung des Titus mit der hebräischen Sprache und als Übersetzer des Paulus ins Griechische sowie in seinem Kommentar zu Tit 2,7 über dessen lebenslanges Ledigsein. 3. Wohl aus dem 8. Jh. datiert der lateinische Text eines vielleicht in Spanien entstandenen pseudepigrafischen Brief des Titus, in dem es um Fragen der Keuschheit und die Ablehnung einer „geistlichen Ehe“ geht. An Titus gerichtet ist der neunte Brief von Pseudo-Dionysius Areopagita aus dem 5. Jh. 4. Eine schlichte, treffende Klassifizierung des je unterschiedlichen Charakters und der Zielsetzung der drei sog. Pastoralbriefe nimmt Thomas von Aquin in seinem Kommentar zu den Paulusbriefen vor, wenn er schreibt: „… es sind drei Briefe, zum zweiten drei [Aufgaben], die bei einem Vorgesetzten zusammentreffen: Das erste davon ist, dass er das Volk regieren soll; das zweite, dass er für das Volk leiden soll; das dritte, dass er die Bösen in Zaum halten soll. Das Erste [geschieht] im ersten [Brief] an Timotheus; das Zweite im zweiten, wo er über das Martyrium handelt; im Dritten, im Brief an Titus, wo er darüber handelt und lehrt, auf welche Weise er Irrlehrern ausweichen soll ...“97 5. Mit einem großen Sprung über fünf Jahrhunderte nähern wir uns der Weichenstellung, die die Auslegung bis in die Gegenwart hinein bestimmt. Bis um die Wende vom 18. zum 19. Jh. bestand Einigkeit darüber, dass der Apostel Paulus tatsächlich Verfasser auch des Titusbriefes sei. Beruhte die Begründung der Annahme, die Pastoralbriefe seien aufgrund ihrer von den „echten“ Paulusbriefen abweichenden Sprache als pseudonym, pseudepigrafisch oder fiktiv einzustufen, im 19. und bis weit ins 20. Jh. hinein in erster Linie auf einem Sprachempfinden, seit Schleiermacher festgemacht u.a. an einzelnen Begriffen und Theologumena98, so kamen spätere wortstatistische 96 Näheres dazu bei H. von Lips, Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus, in: Biblische Gestalten 19, Leipzig 2008, 169ff; ders., Die Timotheus- und Titusakten und die Leidensthematik in den Pastoralbriefen. Aspekte zur Entstehungszeit und Intention der Pastoralbriefe, Early Christianity 2, 2011, 219-241. 97 Commentarium in omnes D. Pauli Apostoli Epistolas, ed. Paris 1874, II 52 (in eigener Übersetzung). 98 Schleiermacher, Timotheos (s. Anm. 5), 29ff.

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Untersuchungen dieser Frage zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Es ist deshalb tendenziell nicht verwunderlich, wenn Herzer 2004 in einem rückblickend-zusammenfassenden Artikel zu dem Spitzensatz kommt: „Angesichts der sich zum Teil ausschließenden Ergebnisse der Forschung wird zunehmend fraglich, ob die Past unter pseudepigrafischer Voraussetzung tatsächlich besser verstanden werden können.“99 Unter qualitativen Gesichtspunkten kann man diesen Satz etwa auf neuere Arbeiten zur Christologie der Pastoralbriefe anwenden, die zwar diesen Schluss nicht ziehen, aber doch zeigen, dass die früher oft so deutlich und manchmal sogar mit einem gewissen Abscheu festgestellte Distanz des Zentrums der Theologie zum „echten Paulus“ stark im Schwinden ist. „Eine systematische Darstellung der aktuellen Forschung“ hält Herzer derzeit für „kaum möglich“.100 Aber auch der Weg der quantitativen, also mit mehr oder weniger „objektiv“ erhebbaren Fakten arbeitenden, Forschung wurde seit dem späten 20. Jh. fortgesetzt und durch immer feinere, präzisere Methoden auch intensiviert. Dies geschah mit unterschiedlichen, natürlich teilweise von den Vorgaben abhängigen Ergebnissen z.B. mit Mitteln, die die Literaturwissenschaft zur Verfügung stellt101, aber auch mit computergestützten Methoden der Stilanalyse, wie sie etwa Kenneth J. Neumann im Blick auf die Echtheit der Paulusbriefe insgesamt angewandt hat.102 Es ist nicht erstaunlich, wenn Neumann aufgrund seiner sprachstatistischen Untersuchungen von 1/2Tim zu einer mutatis mutandis ähnlichen Aussage kommt wie Herzer: „Since scholars have generally presumed the Pastoral Epistles are by the same author, one would expect they would exhibit a similar style. The differing results for the Pastorals prompted a re-examination of the samples.“103 6. In den vergangenen Jahrzehnten ist eine ganze Reihe neuer exegetischer Forschungsmethoden entstanden, oft auch dadurch, dass die Methoden und 99 Herzer, Abschied, 1268. Besonders zu beachten sind die „Konsequenzen der Bestandsaufnahme“ (1280f ). 100 A.a.O. 1267. 101 Man vgl. hier die Arbeit von Merz, aber auch die von C.J. Classen, wie die in seinem Sammelband „Rhetorical Criticism of the New Testament“, WUNT 128, Tübingen 2000, erschienenen Aufsätze über „Paul’s Epistles and Ancient Greek and Roman Rhetoric“ (ebd., 1-28) oder „A Rhetorical Reading of the Epistle to Titus“ (ebd., 45-67). 102 K.J. Neumann, The Authenticity of the Pauline Epistles in the Light of Stylostatistical Analysis, SBL.DS 120, Atlanta 1990. Neumann gibt einen Überblick über die schon erfolgte Erforschung seit P.N. Harrison und legt auch sein methodisches Vorgehen ausführlich offen. Hier ist auch zu erwähnen: R. Reuter, Synopse zu den Briefen des Neuen Testaments. Teil 2: Die Pastoralbriefe. Arbeiten zur Religion und Geschichte des Urchristentums 6, Frankfurt u.a. 1998. 103 A.a.O. 200.

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Ergebnisse anderer Wissenschaftszweige (etwa der Literaturwissenschaft oder der Soziologie) in die biblische Exegese eingeführt und für sie fruchtbar gemacht wurden. In der Regel verband sich damit kein systematischer Ansatz, der die Inhalte wesentlich verändert hätte. Die verschiedenen Richtungen der Forschungsgeschichte (Literar- und Redaktionskritik, Religionsgeschichte bis hin zum reader-response criticism, zur „feministischen Theologie“, zur soziologischen Interpretation und zum narratologischen Ansatz) haben je ihren Beitrag zur Fortschreibung der Titus-Forschung eingebracht. Das gilt mutatis mutandis auch für die feministische Exegese. Für sie stellen die Pastoralbriefe insgesamt, aber auch der Titusbrief, ein durchaus spannendes Objekt dar. Sie bemüht sich um „eine Analyse der Briefe, die die Anweisungen für Frauen nicht isoliert, sondern im Kontext der Gesamtkonzeption betrachtet, die Frauen in den Gemeinden der Past auch als Subjekte, d.h. Predigerinnen und Lehrerinnen, in den Blick“ nimmt, schreibt Wagener.104 Nach ihrer Meinung, die sie schon früher ausführlich dargestellt hatte105, ist „das Leitbild vom oikos theou“ für die Ekklesiologie von zentraler Bedeutung: „Als Vergleichspunkt für die Übertragung des oikos-Modells auf die Gemeinde dient nicht die Gemeinschaft der Christinnen und Christen als ‚Familie Gottes‘ (wie in Gal 6,10; Eph 2,19), sondern die Kirche als hierarchisch geordnete Institution, die den einzelnen Gläubigen gegenübertritt (1Tim 3,15) und als Gegenbild zu den Streitigkeiten der Gegnerinnen und Gegner oikonomia theou, ‚planvolle Hauswirtschaft Gottes‘ (1Tim 1,4), genannt wird.“106 Daraus folge dann die zentrale Rolle des Hausvaters, wodurch wiederum „der Episkopat an Männlichkeit als erste Voraussetzung gebunden“ werde.107 Die Konsequenz ist eine Degradierung bzw. deutliche Infragestellung der entsprechenden biblischen Aussagen. 7. Auf eine Auslegung sei – wegen ihrer Eigenart und weil wir ihr im Grundmodell weitgehend folgen werden – besonders hingewiesen: Philip H. Towner hat 2006 im „New International Commentary“ den mit fast 900 Seiten wohl umfangreichsten Kommentar zu den Pastoralbriefen vorgelegt. Seine Auslegung hat insofern Bedeutung, als er ausführlich historische Quellen außerhalb der Bibel und der sonst üblichen Texte hinzuzieht und auf diese Weise unter der Überschrift „Reading the Letters in Historical Context“ und „Sources of Background Information“ im Sinne des reader-response criticism 104 105 106 107

Wagener, Pastoralbriefe, 662. Dies., Ordnung (s. Bibliografie). Dies., Pastoralbriefe, 665. Ebd.

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zu erheben sucht, welche Hintergründe in den Köpfen der Leser und Hörer der Briefe ihr Verständnis beeinflusst haben mögen. Dies geschieht nicht nur in Form von abgeschlossenen Kapiteln, sondern es zieht sich durch seine ganze Kommentierung. Hinzu kommt, dass Towner die drei Briefe konsequent als drei Briefe versteht, hinter denen jeweils eine individuelle und konkrete Situation steht, ohne deren Kenntnis die Auslegung abgehoben im Allgemeinen bleiben und also in die Irre gehen müsste. Was die Situation hinter dem Titusbrief angeht, so findet Towner dort ein noch wenig entwickeltes Christentum vor, auf dessen Niveau sich der Verfasser (Paulus) eingestellt hat. Er kann bei den potenziellen Lesern/Hörern (abgesehen von den judaisierenden Gegnern) kaum Kenntnis des AT oder der jüdischen Tradition voraussetzen. Deshalb bewegt er sich auf dünnem Eis, indem er Begriffe der heidnisch-griechischen Philosophie und Religion verwendet, ihnen aber deutliche christliche Aussagen an die Seite stellt. Die aktuelle Forschungssituation ist m.E. insgesamt dadurch gekennzeichnet, dass zu der paulinischen Theologie kompatible Aussagen stillschweigend in eine Gesamttheologie integriert, die anderen dagegen weitgehend ignoriert werden.

Präskript: Absender, Adressat und Gruß, 1,1-4

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Auslegung Präskript: Absender, Adressat und Gruß, 1,1-4 I Übersetzung 1 Paulus, Knecht Gottes, Gesandter [aber] Jesu Christi108 im Blick auf den Glauben der Erwählten Gottes und die Wahrheitserkenntnis, die zur Frömmigkeit führt 2 aufgrund der Hoffnung auf ewiges Leben, die Gott, der nicht lügt, vor ewigen Zeiten verheißen hat, 3 der aber zu seinen Zeitpunkten sein Wort durch die Botschaft offenbart hat, mit der ich auf Befehl Gottes, unseres Erlösers, betraut wurde, 4 Titus, dem legitimen Kind im Blick auf den gemeinsamen Glauben: Gnade und Frieden von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Erlöser.

II Struktur Durch den Vergleich mit der antiken Briefliteratur und (mehr noch) mit den übrigen Paulusbriefen ist die Abgrenzung des Abschnitts nach vorne klar: V. 1-3 nennen in ungewohnter Ausführlichkeit den Absender, während V. 4 den Empfänger benennt und ihm den Gruß entbietet. Briefe sind ein Ersatzmedium. Sie ersetzen das persönliche Gespräch und (sofern dies nicht möglich war) die von einem Boten persönlich ausgerichtete Botschaft, deren Art und Inhalt sehr unterschiedlich sein konnte.109 Wenn also der Apostel Paulus in seinen Briefen nicht einen einheitlichen „Briefkopf“ verwendet, hat das sicher nicht nur damit zu tun, dass es damals keine vorgedruckten Briefbögen gab. Jeder Brief hat für ihn ein eigenes, besonderes Gepräge, einen persönlichen Charakter, der sich auch im Briefformular und in den in ihnen erwähnten Inhalten widerspiegelt. Sie lassen Rückschlüsse auf 108 Zum Text: Einige Handschriften vereinheitlichen den Text, indem sie die Reihenfolge der Wörter Ἰησοῦ Χριστοῦ in V. 1.4 jeweils ändern. Sie verkennen dabei die literarische Absicht, die der Chiasmus erkennen lässt; s.u. 109 P.T. O’Brien, Art. „Letters, Letter Forms“, in: G.F. Hawthorne u.a., Dictionary of Paul and his Letters, Downers Grove, Ill./Leicester 1993, 550-553 (besonders 550f ).

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den Stand der Beziehungen zwischen Paulus und den Adressaten zu. Zudem spiegeln sich im Präskript bereits Themen, die im Brief aufgenommen und ausgeführt werden. Das Präskript des Titusbriefes gehört „zu den theologisch dichtgewirktesten Abschnitten des Briefes“.110 Sicher nicht zufällig kommt das theologische Hauptwort πίστις/πιστεύειν in den vier Versen gleich 3x vor. Der Apostel nennt hier schon die Themen, die er ansprechen will, und signalisiert auch, in welche Richtung er gehen will. Der literarische Gestaltungswille zeigt sich z.B. an der chiastischen (d.h. nach dem Schema: ab/ba) Gegenüberstellung von Ἰησοῦ Χριστοῦ (Iesou Christou) und Χριστοῦ Ἰησοῦ zu Beginn (V. 1) und am Ende (V. 4) des Präskripts und am gelegentlichen Fehlen des Artikels. Das ist gewiss kein Zufall. Auf den ersten Blick fällt der Umfang der sog. intitulatio auf (V. 1b-3: 46 Wörter, ca. 7 % der Wortzahl des Briefes)111, in der der Absender sich selbst, sein Amt, seine Funktion und seine Legitimation darstellt.112 Vergleichbare Ausführlichkeit finden wir nur noch im Römerbrief mit 66 Wörtern. Es wäre zu fragen, ob der Grund für diese Gemeinsamkeit zweier sonst wenig vergleichbarer Briefe in der mangelnden persönlichen Bekanntschaft zwischen dem Autor Paulus und den Gemeinden auf Kreta bzw. in Rom liegen könnte. Ein weiterer Punkt kommt allerdings hinzu: Die Selbstbezeichnung des Paulus113 als Knecht (δοῦλος [doulos]) im Briefeingang kommt nur noch im Röm (1,1) und Phil (1,1 im Plural gemeinsam mit Timotheus) vor, dort aber jeweils in einer Genitivkonstruktion mit „Christus Jesus“ verbunden.

110 So zuletzt Mutschler, Glaube, 118; dort auch Einzelheiten. 111 Zum Vergleich: Die intitulatio besteht im 1Tim aus 14 Wörtern, im 2Tim aus 13 Wörtern, im Phlm für Paulus aus drei Wörtern. 112 Mit Recht weist Oberlinner 1f in diesem Zusammenhang vergleichend auf das Römerbrief- und das Galaterbrief-Präskript hin. Allerdings erscheint seine Schlussfolgerung im Blick auf den Römerbrief zumindest in dieser Knappheit nicht schlüssig: „Den wesentlichen Unterschied kann man darin festmachen, daß im Röm-Präskript die Themenangabe εὐαγγέλιον θεοῦ durch die Übernahme einer vorgegebenen ‚christologischen Prädikation‘ zum Titel ‚Sohn Gottes‘ in Röm 1,3f weiter entfaltet wird, der Akzent also auf der Christologie liegt, während im Tit-Präskript Dienst, Auserwählung und Beauftragung des Apostels Paulus betont werden, also die personale Beziehung zwischen dem Apostel und seinem Nachfolger im Vordergrund steht“ [Hervorhebung vom Vf.]. Letztgenannte „personale Beziehung“ kann man höchstens mit viel gutem Willen und bestimmter Absicht hineinlesen. Besser könnte man darauf hinweisen, dass im Tit-Präskript synchron die Einbindung der Berufung des Paulus als Apostel und seiner Botschaft in das Ganze der Christenheit (κατὰ πίστιν ἐκλεκτῶν θεοῦ) sowie diachron durch die Zeiten der Heilsgeschichte Gottes hindurch (κατὰ πίστιν ἐκλεκτῶν – ἐπʼ ἐλπίδι ζωῆς αἰωνίου, ἣν ἐπηγγείλατο ὁ ἀψευδὴς θεὸς πρὸ χρόνων αἰωνίων) betont wird. 113 In Kol 4,12 bezeichnet der Apostel den aus Kolossä stammenden Epaphras ebenfalls als δοῦλος Χριστοῦ.

Präskript: Absender, Adressat und Gruß, 1,1-4

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Die syntaktische Struktur der superscriptio (V. 1-3) ist relativ überschaubar: Das Subjekt (Paulus) wird durch zwei Appositionen (Knecht und Gesandter), die ihrerseits je wieder durch einen Genitiv (Gottes bzw. Jesu Christi) bestimmt werden, näher charakterisiert. Man kann darüber streiten, ob die verzweigte Nebensatzkonstruktion aus Präpositional- und Relativsätzen (κατά … ἐπί [kata … epi]) sich lediglich auf die zweite Apposition oder auf beide bezieht. Versteht man das δέ eher als die beiden Appositionen verbindend, dann dürfte das Folgende auf beide Appositionen zu beziehen sein. Sieht man es eher als unterscheidend an, ist der Bezug auf die zweite Apposition deutlich. Wir vertreten die erstgenannte Meinung, nicht zuletzt aufgrund der dreimaligen Nennung Gottes in diesem Komplex. Die Tatsache, dass Paulus Gottes Knecht und Gesandter Jesu Christi ist, entspricht a) der Überzeugung (dem Glauben!) derer, die Gott auserwählt hat, also der Christen, b) der Erkenntnis der Wahrheit, wie sie der Frömmigkeit angemessen ist, und sie beruht c) auf der Hoffnung auf ewiges Leben. Diese letzte Bestimmung wird ausdrücklich und ausführlich auf Gott bezogen und in einen großen heils- und offenbarungsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt (V. 2bc-3a). Mit dem Relativsatz 3b schließt Paulus den Kreis, indem er sich als mit dieser eben geschilderten Aufgabe betraut darstellt. Mag sein, dass der ausführliche Einstieg durch die nur oberflächliche persönliche Bekanntschaft des Apostels mit den Christen auf Kreta begründet ist. Die Adresse (adscriptio und intitulatio) fällt im Vergleich zu der ausführlichen Absenderangabe wesentlich knapper aus – offenbar war hier nicht mehr nötig. Einige Beobachtungen zur Struktur: Dem „Ich“ des Verfassers am Anfang (Παῦλος) steht das ἐγώ (egō) am Ende der superscriptio (V. 3) gegenüber. Dem entspricht das doppelte θεοῦ am Anfang und Ende. Der Kreis schließt sich. Insgesamt steht in den nur 65 Wörtern des Präskripts 5x θεός (davon 4x in V. 1-3): 2x im Genitiv, 1x zentral im Nominativ mit dem Kernwort ἀψευδῆς [apseudēs] und 2x im Genitiv – regelmäßig verteilt über V. 1-4. In Stichworten zum Einzelnen: • Gott als der „Herr“ des Knechtes Paulus (‫[ ֲאֹדנ ָי‬adonaj]). Jesus Christus als der Beauftragende des Boten Paulus. • Gott als der Erwählende (ἐκλεκτῶν θεοῦ [eklektōn theou]). • Gott als der Wahrhaftig-Zuverlässige (ὁ ἀψευδὴς θεός [ho apseudēs theos]). • Gott als der Bestimmende, der Paulus die Botschaft anvertraut hat. • Gott als der Geber von Gnade und Frieden.

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• Glaube (κατὰ πίστιν [kata pistin]), Erkenntnis (ἐπίγνωσις [epignōsis]) und Hoffnung (ἐπ᾿ ἐλπίδι [ep’ elpidi]) folgen aufeinander als eine andere Trias (vgl. 1Kor 13,13). • Der Glaube der Erwählten (κατὰ πίστιν ἐκλεκτῶν [kata pistin eklektōn]) und der gemeinsame Glaube (κατὰ κοινὴν πίστιν [kata koinēn pistin]) entsprechen sich. • Das Thema „Wahrheit/Lüge“ klingt deutlich an: ἐπίγνωσιν ἀληθείας / ὁ ἀψευδὴς θεός. • Das Stichwort ewig (αἰώνιος [aiōnios] V. 2ab) spielt eine Rolle. • Zeitpunkte (καιροί [kairoi] V. 2b) und Zeitepochen (χρόνοι [chronoi] V. 3a) stehen einander gegenüber. • Verheißung (ἐπηγγείλατο [epēngeilato] V. 2b) und Offenbarung (ἐφανέρωσεν [ephanerōsen] V. 3a), mithin AT und NT, stehen sich gegenüber. Gottes Plan bzw. Heilsgeschichte ist ein wichtiges Thema in den Pastoralbriefen. • Schließlich weist das Präskript durch einige narrative Merkmale über sich hinaus: durch eine narrative Klammer 1,2 // 3,7: ἐλπὶς ζωῆς αἰωνίου durch eine Doppelklammer 1,3//1,4 τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ // Χριστοῦ ἰησοῦ τοῦ σωτῆρος ἡμῶν 3,4//3,6 τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ // ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ σωτῆρος ἡμῶν durch die Begriffe ἐπιταγῆς 1,3 // 2,15 am Anfang und χάρις 1,4 //3,15 in der Salutatio und im Schlussgruß

III Einzelexegese 1 Seinen hebräischen

Geburtsnamen „Saul“ (‫שׁאוּל‬ ָ [scha’ul]) hat der Heidenapostel offenbar spätestens seit dem Aufenthalt auf Zypern (Apg 13,9) im nichtjüdischen Umfeld aus verständlichen Gründen nicht mehr verwendet. Paulus war sein römisches praenomen (Vorname) oder cognomen (Beiname). In der römischen Gesellschaft waren drei Namen üblich: praenomen – nomen gentile – cognomen.114 In den meisten seiner Briefe schließt sich an den Namen gleich eine knappe Beschreibung seiner Beziehung zu Jesus Christus / zu Gott bzw. seiner Funk-

114 Hengel, Paulus, bes. 193-208 mit Anm. 73; demnach ist nicht zu klären, ob der bei Juden nur 1x (noch dazu in der Verkleinerungsform „Paulinus“) vorkommende Name praenomen oder cognomen war.

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tion an. Auffällig und für alle Paulinen einzigartig beschreibt Paulus im Tit zuerst seine Beziehung zu Gott als die zwischen einem Knecht (Sklaven) und seinem Herrn, ausgedrückt durch den Genitivus possessoris. δοῦλος [doulos] bezeichnet (verglichen mit bedeutungsähnlichen Synonymbegriffen) den Dienst als Sklave, der als Einschränkung und Abhängigkeit von einem Herrn empfunden wird und in unbedingter Bindung an diesen erfolgt.115 Soziologisch betrachtet stellt der Begriff eine Oben-unten-Beziehung der Abhängigkeit in den Raum. Während allerdings im Denken der Griechen das emotional‑psychologische Moment des Verächtlichen und Verachtenswerten damit verbunden ist, gilt im Judentum die Abhängigkeit von Gott, dem Herrn schlechthin, als positiv im Sinne eines Erwähltseins. „Nicht das Untergebensein, sondern das Zugehören zu dem Herrn und das Geborgensein bei dem Herrn“ ist „die primäre Assoziation bei dem Wort ‫[ ֶעֶבד‬äbäd].116 Für den Griechen undenkbar, können im AT auch hohe Beamte als „Sklaven“ etwa des Königs bezeichnet werden, wodurch ihr Ansehen nicht sinkt und das hierarchische Verhältnis nicht infrage gestellt wird.117 Auf religiösem Gebiet finden wir Parallelen, wenn die „Großen“ des AT bis hin sogar zu der erwarteten Erlösergestalt als ‫[ ֶעֶבד יהוה‬äbäd jhwh] bezeichnet werden können. Diese Sachverhalte spiegeln sich in der Verwendung des Begriffs bei Paulus und stellen ihn in eine Reihe mit Mose, den Patriarchen, Hiob oder David, aber auch mit Werkzeugen Gottes wie Nebukadnezar (Jer 25,9).118 Für ihn ist δοῦλος oft soziologisch der wirkliche Sklave (z.B. Phlm 16, aber auch Tit 2,9: δούλους = „Sklaven“). In der Christologie beschreibt das Wort den Zustand der Erniedrigung (Phil 2,7), in der Anthropologie bzw. der Lehre von der Sünde den Menschen als unfreies Wesen, das „gesteuert“ lebt (Röm 6,17.20). Spricht der Apostel von sich selbst, dann drückt das Wort seine Beziehung zu Gott bzw. Christus als die eines abhängigen, ausführenden Organs aus. Geht es um sein Verhältnis zu den Gemeinden, so sieht er sich (und seine „Kollegen“ Kol 4,12) trotz der Betonung seines Apostelamts gerade nicht als deren „Herren“ (2Kor 1,24), sondern als ihre „Diener“ (2Kor 4,5) und „Gehilfen eurer Freude“ (2Kor 1,24).119 115 R. Tuente, Art. Sklave, ThBNT II, 1139-1149: 1142, zitiert nach A. Weiser, Art. δουλεύω EWNT 2I, 846. 116 C. Westermann, Art. ‫בד‬ ֶ ‫ֶע‬, THAT II, 191; zur Traditionsgeschichte vgl. J. Byron, Slavery Metaphors in Early Judaism and Pauline Christianity, WUNT II/162, Tübingen 2003, 22-59. 117 A. Weiser, Art. δουλεύω, EWNT 2I, 846. 118 Vgl. auch Offb 1,1. 119 Fiore z.St. weist auch auf Apg 16,17 als mögliche Quelle des Titels „Diener Gottes“ hin.

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Die unvergleichbare Herausgehobenheit Gottes, dessen Existenz und Eigenart für Paulus keinem Zweifel unterliegt und neben dem der Mensch nicht anders sein kann als abhängig, öffnet dem Empfänger also die Tür hinein in den Titusbrief. Ein Grund für die vom Gewohnten abweichende Nennung Gottes vor Jesus Christus könnte sein, dass Paulus hier für aus dem Heidentum gekommene Glaubensanfänger schreibt120 und dass die allgemein-religiöse Bezugnahme auf „Gott“ den Gemeinden auf Kreta den Weg in den Brief hinein erleichtern konnte. Diesem „Herrn“ stellt der Apostel den an die Seite, der ihn (im Sinne des antiken Botenrechts) beauftragt und gesandt hat: Jesus Christus. Die Partikel δέ wird hier keine adversative, sondern beiordnendaffirmativ-weiterführende Bedeutung haben121, zumal sich Paulus an anderen Stellen auch als „Knecht“ Jesu Christi bezeichnen kann (Röm 1,1; Phil 1,1). Vielmehr könnte hier im Zusammenhang mit Gott, wo religionsgeschichtlich für den Menschen ohnehin nur ein Verhältnis von Abhängigkeit denkbar ist, die (hierarchische) Kategorie „oben – unten“ im Blick sein, während im Zusammenhang mit der Sendung durch Jesus Christus die (funktionale) Kategorie von „Auftraggeber und Auftragsempfänger“ hervorgehoben wird. Fuchs hat darauf hingewiesen, dass hinter der auf den ersten Blick unsystematischen Verwendung von „Jesus Christus“ bzw. „Christus Jesus“ doch ein Schema stehen könnte, das die Vereinnahmung der Briefe an Timotheus und Titus zugunsten eines einheitlich gestalteten Corpus Pastorale ihrer Selbstverständlichkeit beraubt. Er hat nämlich erhoben, dass in 1/2Tim nur dann „Jesus Christus“ verwendet wird, wenn die Bezeichnung „Herr“ (κύριος [kyrios]) voraufgeht. Titus dagegen bevorzuge „Jesus Christus“ (1,1; 2,13; 3,6) mit der Ausnahme 1,4122, wobei dort die Umstellung als inkludierender Chiasmus zu V. 1 verstanden werden kann. Inhaltlich sieht Fuchs hinter dem Wechsel im Sprachgebrauch des Paulus eine sehr bewusste theologische Strategie, die in Gal 2,16 thematisiert und in Röm 3,21ff angewandt wird: „Nur für Judenchristen ist Jesu Messianität erstrangiges Bekenntnis, nicht aber für Christen anderer Herkunft, für die Jesus nicht Messias, sondern Mensch unter Menschen wurde …“123 Anders als Knecht bezeichnet Gesandter (ἀπόστολος [apostolos]) keine Beziehung, sondern eine Funktion. Als Gesandter Jesu Christi versteht sich Paulus. Er war ein theologisch (und das hieß im antiken Judentum zugleich: 120 Wenn Towner und Fuchs mit ihrer Annahme recht haben; vgl. Fuchs, Unterschiede, 153 u.ö. 121 Deshalb wurde sie in der Übersetzung abgeschwächt; vgl. Mutschler, Glaube, 123. 122 Fuchs, Unterschiede, 110. 123 A.a.O. 110-116: 111.

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juristisch) ausgebildeter Diasporajude, für den der Vorgang des Besuchs von bevollmächtigten Abgesandten aus Jerusalem nichts Fremdes war, ja der selbst in dieser Funktion nach Damaskus gereist war (Apg 9,1f ). Den ‫שִׁליַח‬ ָ 124 [schaliach] machte aus, dass er den Sendenden (nur) repräsentierte, dass also in der Person des Gesandten eigentlich der Sendende selbst gegenwärtig war;125 dass er an dessen Stelle autoritativ und rechtsgültig handelte; dass er an den Willen des Sendenden gebunden war und dessen Sache zu betreiben und zu fördern hatte.126 Wie sollte das sein Selbstverständnis nicht geprägt haben? Nicht zuletzt hat David Wenham beim Vergleich der Theologie des Paulus mit der Verkündigung Jesu gezeigt, dass Paulus damit auch in der Tradition Jesu stand.127 Für den Apostel hing an seinem Apostelsein nicht nur sein Selbstverständnis, sondern auch das Maß an Vollmacht, mit dem er den Gemeinden gegenübertreten und ihnen sogar Anweisungen geben konnte. Kein Wunder, dass seine Gegner daran interessiert waren, seinen Apostolat infrage zu stellen. Gerade im Titusbrief und damit in der Situation in Kreta, in der juristisches Handeln bei der Ordnung der Gemeinden nötig war, verwundert es deshalb nicht, wenn Paulus diese seine Vollmacht gleich zu Beginn des Briefes voll in die Waagschale wirft. Er verstärkt diese Wirkung noch, indem er knapp und hart feststellt, dass er dieses Amt im Blick auf den Glauben der Erwählten Gottes innehabe (und in V. 4 den Adressaten, durch den er ja auf Kreta repräsentiert wird, gleich auch noch mit hineinnimmt; s.u.).128 Im Gal, Röm, den beiden Korintherbriefen und in den drei Pastoralbriefen erläutert bzw. begründet Paulus seinen Anspruch auf je eigene Weise und wohl mit Blick auf die jeweils aktuelle Situation. In drei präpositionalen Wendungen geschieht dies in Tit 1,1. Er ist Gesandter Jesu Christi, und dieser Auftrag zielt auf den Glauben der Erwählten129, also der Gemeinde. Damit ist ein entscheidendes Stichwort gleich im Von hebr. ‫ שׁלח‬II „senden, sich repräsentieren lassen“. Mischna Ber 5,5: „Der Bevollmächtigte eines Mannes ist wie er selbst.“ J.-A. Bühner, Art. ἀπόστολος, EWNT 2I, 345f. Wenham, Paulus, 149f.172-177. Oberlinner, HThK 4, schreibt: „… für die christliche Gemeinde gilt, daß sie diesen Anspruch der Erwählung nur dann erheben darf, wenn sie sich in ihrem Glauben in Übereinstimmung mit dem Apostel Paulus befindet.“ Genau dies steht hier aber nicht: nicht κατὰ πίστιν μου, sondern κατὰ πίστιν ἐκλεκτῶν θεοῦ, also ist nicht ein „Übervater“ Paulus das Maß aller Dinge, sondern (wenn überhaupt) der Glaube der Gemeinschaft der Christen. 129 Mutschler, Glaube, 126-131, sichtet die Bedeutungsmöglichkeiten des Schlüsselworts κατά mit dem Ergebnis, das Wort bezeichne hier „Ziel und Zweck“ des Apostolats, nämlich Glauben zu wirken. Er interpretiert den Text hier gerade nicht nachpaulinisch, sondern paulinisch. Wir schließen uns dem an, ohne freilich von den vier Argumenten,

124 125 126 127 128

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ersten Satz des Titusbriefes gefallen: Glaube. Mutschler weist auf die im Vergleich mit allen anderen christlichen Texten des 1. und 2. Jh., auch dem (übrigen) Corpus Paulinum, herausragende Verwendungshäufigkeit der Wortfamilie „Glaube“ in den Pastoralbriefen hin und schreibt weiter: „In der Folgezeit wird Glaube (und nicht z.B. Liebe, Geist, Erkenntnis, Umkehr, Taufe) zum hervorragenden Begriff im Selbstverständnis des Christentums.“130 Dies hat ja angesichts der festen Verwurzelung und breiten Streuung des Worts und der Sache „Glauben“ im AT und NT gute Gründe. Ohne den Blick auf den alttestamentlichen Hintergrund bleibt die Entstehung des neutestamentlich-christlichen Glaubensbegriffs unverständlich.131 G. Barth schreibt wohl mit Recht, dass der entsprechende hebräische Terminus ‫ אמן‬im AT noch nicht die beherrschende Stellung hatte wie πίστις und seine Wortfamilie im NT. Die Sache aber zieht sich von Adam und Eva an auch schon durch alle Schichten des ersten Teils unserer Bibel. Begrifflich legt ‫ אמן‬das Fundament, indem es beide Seiten beschreiben kann: dass etwas/jemand beständig oder zuverlässig ist und den Akt, sich auf etwas/jemanden zu verlassen. Mehr und mehr bekommt das Wort quasi „theophoren“ Charakter, und beim Übergang ins Griechische des Judentums bringt es diese Eigenart schon mit. Im 2. Jh. v.Chr. findet sich bei Ben Sira (2,6) der Satz: „Vertraue ihm, und er wird dir beistehen; richte deinen Weg gerade aus und hoffe auf ihn!“ Gottvertrauen und entsprechende Lebensführung sind schon hier in weisheitlichem Kontext miteinander verbunden. Allgemeiner könnte man sagen: Glaube umfasst im Leben des Menschen, der ihn „hat“, immer zwei Elemente, vertrauen und gehorchen. Im NT fällt auf, dass Jesus den Aufruf Johannes des Täufers zur Umkehr (Mk 1,4) um den Aufruf zum Glauben (Mk 1,15) erweitert hat. In vielen Facetten bringt Jesus das Thema zur Sprache und macht es schließlich zum entscheidenden Begriff im Blick auf die Gottesbeziehung (Mk 16,16).132 Charakteristisch ist, „dass der Glaube nun in ein unlösbares Verhältnis zu Jesus als dem gekreuzigten und erhöhten Herrn der Gemeinde tritt“, schreibt Barth.133 Nach dem Joh trifft diese Beobachtung schon für den irdischen Jesus zu (Joh 6,35; 12,46; 14,1 u.ö.). Die Urgemeinde nahm diesen Faden auf. Glaube oder Nicht-Glaube wurde zur Demarkationslinie, die die Gemeinde von der Nicht-Gemeinde trennte. Vor allem Paulus hat das Glaubensverständnis vom AT her vertieft und für die Gegenwart seiner Gemeinden in verschiedene Rich-

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die Mutschler S. 129f gegen die Verwendung „zur Bezeichnung einer Übereinstimmung, Norm oder Maßgabe“ anführt, vollständig überzeugt zu sein. Mutschler, Glaube, 2; ähnlich G. Barth, Art. πίστις κτλ., EWNT 2III, 217f.220. Vgl. zum Ganzen den interessanten Überblick, den Mutschler, Glaube, 74-77, gibt. Vgl. G. Barth, a.a.O. 220. „Glauben“ bedeutet die „Annahme der Botschaft von Gottes Heilshandeln in Christus“ (S. 225). Ebd.

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tungen ausgeweitet. Schon vor ihm und bei ihm findet sich beides: πίστις als „Tätigkeit“ und als Inhalt (dogmatisch ausgedrückt: fides qua creditur und fides quae creditur; z.B. Apg 6,7; Röm 12,6 u.ö.), denn ohne Inhalt ist Glaube als „Tätigkeit“ christlich verstanden nicht möglich.

Schlatter weist auf das Fehlen der Artikel im griechischen Text von V. 1f und auf Röm 8,33 hin.134 Er will damit wohl andeuten, es handle sich bei den drei parallelen Präpositionalkonstruktionen möglicherweise um eine geprägte Wendung. Als Erwählte Gottes kann der Apostel sowohl einzelne Christen (Röm 16,13) oder die Christen insgesamt (Röm 8,33; Kol 3,12; 2Tim 2,10), als auch die Engel (1Tim 5,21) bezeichnen. Was die Gemeinde angeht, so geht es für ihn bei ἐκλέγεσθαι [eklegesthai] um „den souveränen Akt göttlicher E[rwählung]“.135 Der Apostel hatte ja rund 10 Jahre zuvor in Röm 9,6ff unter Rückgriff auf das AT am Beispiel des auserwählten Volks Israel Grundzüge seiner Erwählungslehre dargestellt. „Verheißung“ (nicht Äußerliches) – „Gnade“ (nicht Werke) – „Gottes Souveränität“ (nicht das natürlich zu Erwartende) waren Begriffe, die die Richtung andeuteten. Israels Erwählung wird im AT zunächst nicht theoretisch, sondern anhand von Gottes konkret-geschichtlichem Handeln dargestellt (Gen 12,1-3). Erst später folgte die explizit-theologische Bestätigung (z.B. Dtn 14,1f ). Von Jesus heißt es Lk 6,13 ausdrücklich, dass er seine zwölf Jünger „erwählte“ und sie „Apostel“ nannte. Paulus hat die Erwählung der Christen dann in Eph 1,3-14 ausführlich theologisch eingeordnet. Ob der Judenchrist Paulus selbst als Heidenmissionar „Erwählung“ völlig losgelöst vom erwählten Volk Israel und von den im Alten Testament besonders erwählten Personen denken konnte, mag man bezweifeln. Die Verbindung von V. 1b κατὰ πίστιν ἐκλεκτῶν θεοῦ zu V. 4a κατὰ κοινὴν πίστιν ist unübersehbar. Hier schließt sich mit dem Stilmittel der inclusio der Kreis des Präskripts. Paulus nimmt Titus ausdrücklich mit hinein136 in die Glaubensgemeinschaft der Erwählten und erweitert sie geradezu auf alle, die diesen Glauben teilen. Die „Erwählten“ sind also kein exklusiver Kreis innerhalb der Gemeinde, wie auch die Bezeichnung „die Heiligen“ (1Kor 1,2) alle Christen einschließt. 134 Schlatter 175 Anm. 2. 135 J. Eckert, Art. ἐκλέγεσθαι, EWNT 2I, 1013. Ob der Ausdruck an unserer Stelle wirklich nicht mehr ist als eine „formelhafte Bez[eichnung] der Christen“, wie Eckert meint, sei dahingestellt (Art. ἐκλεκτός [eklektos] a.a.O. 1017). 136 Classen, Titus II, 49, schreibt: „… the original function of κατά being to denote the area where an action takes place“.

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Der Apostolat zielt auf den Glauben der von Gott schon längst Erwählten und auch auf ihre Wahrheitserkenntnis. Das griechische Wort für „Wahrheit“ (ἀλήθεια [alētheia]) meint, theologisch verstanden, „die von Gott erschlossene W[ahrheit] …“137, also nicht einen Sachverhalt oder eine Einsicht, auf die man mit geeigneten intellektuellen, wissenschaftlichen oder philosophischen Methoden auch selbst kommen könnte. So gesehen ist es nicht verwunderlich, wenn der Ausdruck „zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1Tim 2,4; 2Tim 3,7) zur Umschreibung der Lebenswende hin zu Gott werden konnte. Daneben ist ἐπεγνωκόσι τὴν ἀλήθειαν 1Tim 4,3 erläuternder Parallelbegriff zu τοῖς πιστοῖς, bezeichnet also jene, die bereits den Schritt der Konversion getan haben. Was dabei Wahrheit genau bedeutet, ist gar nicht leicht zu erfassen. Das Ineinander und Übereinander der griechisch-philosophischen und der hebräisch-alttestamentlichen Wortbedeutung erschweren das Verständnis. Das griechische Wort ἀλήθεια [alētheia] ist durch Verknüpfung des Verbs λανθάνω/λήθω mit der Bedeutung „jemandem etwas verhehlen, verborgen sein“ mit dem sog. privativum entstanden, das (vereinfacht ausgedrückt) die Bedeutung des Wortes, mit dem es sich verbindet, gerade ins Gegenteil verkehrt bzw. es seines Sinnes beraubt. „Ent-bergen“ wäre eine adäquate Übersetzung im Gegensatz zu „verbergen“. „Lethe“ hieß in der griechischen Mythologie ein Fluss in der Unterwelt, von dem man glaubte, dass dem, der aus ihm trinkt, Vergessen (auch seiner Untaten) gewährt werde. Dem steht das hebräisch-alttestamentliche Wort ‫[ ֱאֶמת‬ämät] gegenüber, das eigentlich „Zuverlässigkeit, Beständigkeit“, dann auch (Gottes) „Bundestreue“ bedeutet, ein Wort also, das eine Beziehung bzw. ein Verhalten gegenüber jemandem beschreibt. Schauen wir auf Jesu Verständnis von Wahrheit, so kommt ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu, nämlich dass Wahrheit personal verstanden wird und Jesus sie mit sich, sich mit ihr nach dem Joh identifiziert (z.B. Joh 1,14.17; 14,6). Dieser Aspekt sollte auch bei Paulustexten nicht ausgeklammert werden: Wahrheit ist für ihn nicht in erster Linie die Aussage einer Faktizität, auch nicht etwas, das durch intellektuelle Bemühung erreicht werden kann. Sie ist vielmehr Ziel der Verkündigung des Evangeliums (1Tim 2,4) und arbeitet kraftvoll und wirkmächtig an den Menschen. Hübner weist auf 2Kor 4,2 hin und schreibt: „Allein im Vollzug der Offenbarung der W[ahrheit] verschwindet der Zweifel an der Integrität und Legitimität dessen, der sie verkündet. Der verkündeten W. eignet somit die Kraft ihres Durchgesetzt-Werdens. … ἀ[λήθεια] 137 H. Hübner, Art. ἀλήθεια, EWNT 2I, 140.

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ist demnach kein bloßes Objekt einer Aussage … Als verkündete W. wird sie zur geschehenden W. und als solche zur bestimmenden Macht für den offenen Hörer …“138 Damit ist unsere Stelle gut erfasst: Es geht um die Legitimität und Autorität des Paulus als Apostel, dessen Aufgabe es ist, Menschen zur Wahrheitserkenntnis zu führen – sofern es in den Menschen beim Hören des Evangeliums zu einem Vorgang der Offenbarung kommt. Geschieht dies nicht, können noch so viele für den Redner überzeugende Argumente bei seinem Hörer nichts bewirken. Dasselbe meint Luther, wenn er mit Blick auf die Entstehung des Glaubens im Menschen in seiner Erklärung zum 3. Glaubensartikel sagt: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten ….“ So verstanden, ergreift die geschehene Offenbarung Besitz von dem Menschen, der sie zulässt, und wird dadurch nicht zu einer zu glaubenden Theorie, sondern zu einer Wirklichkeit, die das Leben gestaltet. Die Wahrheitserkenntnis wird weitergehend dadurch charakterisiert, dass sie zur Frömmigkeit führt. Jedenfalls haben wir den Text so zu verstehen, wenn wir κατά auch hier konsequent im Sinne einer Zielbestimmung verstehen. Der ohnehin nicht rein „theoretisch“ verstandenen „Wahrheit“ wird die umgekehrt nicht rein „pragmatisch“ verstandene Lebenshaltung an die Seite gestellt. Der Lexemverband εὐσεβ- [euseb-] gehört bekanntlich zum bevorzugten Wortschatz des Schreibers der Pastoralbriefe139 und der Apostelgeschichte. Er kommt im NT darüber hinaus nur noch im 2Petr vor. Während manche Autoren es weitgehend vom hellenistischen Sprachgebrauch her verstehen möchten, führt Stettler es vorwiegend auf den in den Makkabäerbüchern dahinter stehenden Begriff ‫[ י ְִרָאה‬yir’ah] zurück, der in der Wortverbindung ‫[ י ְִרַאת יהוה‬yir’at yhwh] „Gottesfurcht“ bei Paulus „das neue Gottesverhältnis, mit Paulus gesprochen: den Glauben“ meine.140 Trifft das zu, dann ist mit dem Wort nicht (zuerst) die christliche Lebensweise oder die „Spiritualität“ gemeint. Vielmehr wäre es dem Glauben als der nunmehr Denken und

138 Hübner, a.a.O. 142. Man beachte, dass in 2Kor 4,2 und in Tit 1,1f das Substantiv ἀλήθεια und das Verb φανεροῦν, das den Offenbarungsvorgang meint, miteinander verbunden sind. 139 Genauer gesagt kommen seine Derivate im 1Tim 9x vor, im 2Tim und Tit dagegen nur je 2x. 140 Stettler, Christologie 235; ausführlicher dazu Neudorfer, 1Tim, 16f.

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Tun der Christen bestimmenden Wirklichkeit an die Seite zu stellen.141 In der hellenistischen Kultur bot das relativ breite Bedeutungsspektrum die Möglichkeit, den alttestamentlich-jüdischen Gehalt in einem Wort zu bündeln und es gegenüber den hellenistisch-heidnischen Zeitgenossen zu verwenden. „The εὐσέβεια language met this need because, although in Greek thinking it was a virtue and tied to cultic acts, it was nevertheless broad enough in scope, with the necessary inner and outer dimensions and connotation of loyalty to God, to express adequately an OT/Jewish concept of ‚piety‘ or spiritual life“, schreibt Marshall und fasst später zusammen: „In any case, as employed in the P[astoral]E[pistles], εὐσέβεια expresses a strongly Christian concept of the new existence in Christ that combines belief in God and a consequent manner of life.“142 2 Auch die präpositionale Konstruktion ἐπ᾿ ἐλπίδι ζωῆς αἰωνίου [ep’ elpidi zoēs aiōniou] mit dem angeschlossenen Relativsatz beschreibt, wie Paulus Apostel Jesu Christi ist bzw. worauf sich sein Apostelamt gründet. Neben dem Glauben und der Wahrheitserkenntnis ist es die Hoffnung auf ewiges Leben, die ihn trägt (ἐπί [epi]) und bestimmt. Man könnte auch sagen: Bezieht sich der Glaube auf die in der Vergangenheit geschehenen Taten Gottes in Christus und die Wahrheitserkenntnis auf die in der Gegenwart nötige, von Gott durch Wort und Geist gegebene Einsicht, so richtet sich nun der Blick in die Zukunft, indem die Hoffnung auf ewiges Leben sein und aller Christen Leben bestimmt. Glaube – Wahrheitserkenntnis – Hoffnung wäre dann eine Variante der Trias Glaube – Hoffnung – Liebe (1Kor 13,13). In 1Tim 1,1 nennt Paulus Christus selbst personalisiert „unsere Hoffnung“. ἐλπίς [elpis] Hoffnung ist für ihn mehr als eine vage seelische Befindlichkeit des Menschen im Sinne eines positiven Gestimmtseins oder einer optimistischen Einstellung im Blick auf seine Zukunft. „Sie gründet in göttlicher Verheißung und läßt daher jede Ungewißheit weit hinter sich“143, schreibt Mayer, und Oberlinner spricht von einer dreifachen Begründung der Hoffnung, weil es sich a) um eine Verheißung Gottes, der b) nicht lügt, handelt, die c) schon „‚vor ewigen Zeiten‘ festgelegt“ wurde.144 Ähnliche Gewissheit zeigt sich auch in Tit 3,5-7, also am Ende unseres Briefes. Trifft dies zu, dann ist ewiges Leben gerade nicht (nur) etwas erst im Jenseits zu Erwartendes. Es ergibt sich damit eine 141 Vgl. aber auch Towner NIC 668 und den ausführlichen Exkurs bei Marshall ICC 135144. 142 Marshall ICC 141.144. 143 B. Mayer, Art. ἐλπίς κτλ., EWNT 2I, 1069. 144 Oberlinner 7f.

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gewisse Nähe zum sog. „präsentischen“ Verständnis des ewigen Lebens, wie es uns auch bei Johannes begegnet (Joh 3,36; 5,24; 6,47; 10,28 u.ö.). Das einschränkende „nur“ will sagen: Natürlich ist das ewige Leben für Paulus auch zukünftig und dann unabweisbar zu erwartende Gabe Gottes (Röm 6,22f; Gal 6,8). Woher aber sollte er ewiges Leben als Inbegriff des Heils haben, wenn nicht von Jesus auf dem Weg über Johannes?145 In V. 2b3a erläutert Paulus durch einen zweiteiligen Relativsatz, wie er das ewige Leben als Heils- und Hoffnungsgut heilsgeschichtlich einordnet und darstellt. Er benutzt dazu das Schema „Verheißung – Erfüllung“, hinter dem sich das andere Schema „AT – NT“ verbirgt. Inhalt der Verheißung (ἐπαγγελία [epangelia], davon ἐπηγγείλατο [epēngeilato]) ist das ewige Leben, Geber der Verheißung ist Gott, der nicht lügt, Zeitpunkt der Verheißung ist vor ewigen Zeiten. Bekanntlich kann das griechische Wort ἀιών [aiōn] durch seine Beziehung zu Gott, der weder Anfang noch Ende seiner Existenz kennt, Endlosigkeit bedeuten, muss es aber nicht. Vom hebräischen Parallelbegriff her verstanden, meint es häufig die „fernste Zeit“146, was auch in unserem Zusammenhang einen guten Sinn ergeben würde, wenn man V. 2b nämlich mit Teilen des Johannesprologs (Joh 1,1-18) vergleicht.147 Dort ist das „Leben“, das ja nicht nur im Sprachgebrauch des Joh stets tiefgehende theologische Konnotationen hat, als Bestandteil des „Wortes“ beschrieben, aus dem es sozusagen hervorgeht, während das „Wort“ selbst „im Anfang“ war. Während manche Ausleger es strikt ablehnen, konkrete (alttestamentliche) Verheißungen zu benennen, die hier gemeint sein könnten (z.B. Oberlinner z.St.), machen andere Vorschläge in dieser Richtung. Zum Beispiel denkt man an Gen 3,15 (Lock 125, Holtz 205). Marshall 125 denkt eher an eine vorweltliche Zeit („premundane period“) und weist zur Begründung auf den Folgesatz hin. Könnten nicht auch Sätze wie Ps 36,10 gemeint sein, die über sich hinaus auf den Urgrund des (bleibenden und lohnenden) Lebens zurückweisen? Wenn es auch zutreffen mag, dass die Bezeichnung Gottes als dessen, der nicht lügt, in dieser Form griechischem Denken entspricht, so ist doch die Überzeugung, dass Gott durch und durch wahrhaftig (das bedeutet: zuverlässig) und Gottes Wort „die Wahrheit“ schlechthin sei, biblischem Denken geläufig.148 Bei den Göttern der Griechen hatte dies allerdings sehr menschlichdefizitäre Züge. Towner weist an mehreren Stellen seines Kommentars auf die 145 Damit ist zur Datierung des Joh noch nichts gesagt. Sicher ist doch, dass der in ihm verarbeitete Stoff auch schon vor dessen Verschriftlichung bekannt war. 146 T. Holtz, Art. ἀιών EWNT 2I, 106. 147 Zum Johannesprolog gibt es weitere begriffliche Verbindungen: „Wort“, „Wahrheit“. 148 Man vgl. nur 2Tim 2,12f; Num 23,19; Ps 89,31-34; Röm 3,3f.

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Art und Weise hin, wie der (der Sage nach auf Kreta geborene und begrabene!) Göttervater Zeus sich der Täuschung und der Lüge bediente, um seine Ziele zu erreichen.149 So schreibt er zu 1,2: „The key to deciphering the theological strategy of Titus lies in recognizing the opening reference to ‚the God who does not lie‘ (…) as a polemical challenge to the Cretan story“.150 Trifft dies zu, dann sendet Paulus gleich im Präskript deutliche, für die ersten Leser bzw. Hörer unangenehme Signale hinsichtlich des „charakterlichen“ Gegenübers von Gott und Mensch, speziell den kretischen Menschen151, von ihren Göttern und dem Vater Jesu Christi. 3 Zwischen V. 2b und 3a gibt es offenkundige Entsprechungen: Der Verheißung (ἐπηγγείλατο [epēngeilato]) wird die sie erfüllende Offenbarung (ἐφανέρωσεν [ephanerōsen])152 gegenübergestellt, den ewigen Zeiten entsprechen seine Zeitpunkte153, und der in den Heiligen Schriften des AT zu findenden Verheißung sein Wort durch die Botschaft, nämlich die Paulus anvertraute (ὃ ἐπιστεύθην ἐγὼ), von ihm auch auf Kreta verkündigte und von den Christen dort und anderswo geglaubte.154 Auch V. 3a ist als Relativsatz anzusehen, der in Parallele zu 2b steht (vgl. das δέ), bei dem aber das Relativpronomen entfallen ist.155 Dieses Fehlen macht auch wahrscheinlich, dass sich beide auf die Hoffnung auf ewiges Leben beziehen (V. 2a), die ja durch die beiden Relativsätze im Schema „Verheißung – Erfüllung“ begründet wird. Mit Letzterer ist nun nicht (subjektiv) eine zuversichtliche Erwartungshaltung gemeint, sondern vielmehr (objektiv) der Inhalt solcher Hoffnung, nämlich 149 150 151 152

Towner NIC 670. Towner NIC 74. Er führt das dann hier und S. 64f aus. Vgl. dazu den kleinen Exkurs bei Towner NIC 670! Der sonst seltene Begriff findet sich außer im NT nur einmal bei Herodot und im hellenistischen Griechisch. M.N.A. Bockmühl sagt in Das Verb φανερόω im Neuen Testament. Versuch einer Neuauswertung, BZ 32, 1988, 87-99, es bedeute eher „sichtbar machen“ als „offenbaren“. 153 Den heilsgeschichtlichen Terminus καιρός (kairos) verwendet Paulus etwa Röm 3,26 und 2Kor 6,2. Inhaltlich könnte hier z.B. an Gal 4,4 angeknüpft sein. 154 Man beachte die schillernde Verwendung von πίστις/πιστεύομαι! Was den Gebrauch der Wortarten im Präskript angeht, fällt auf, dass die Verkündigung nicht verbal, sondern durch Substantive ausgedrückt wird, und dass das Subjekt der Verben 2x Gott ist und 1x Paulus im passivum divinum. 155 Es ist nicht ganz sicher, dass V. 3a wirklich an die Relativpartikel anschließt. ἐφανέρωσεν könnte auch neu ansetzen: „… aufgrund der Hoffnung auf ewiges Leben, das Gott, der nicht lügt, vor ewigen Zeiten verheißen hat – er hat aber zu seinen Zeitpunkten sein Wort in der Botschaft offenbart …“ – so als Möglichkeit Marshall NIC 127, der sich aber, anders als Oberlinner 1.9f, gegen diese Option entscheidet. Dann wären die beiden Sätze 2ab // 3 quasi chiastisch verschränkt. Dafür spräche auch das δέ.

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das ewige Leben selbst. Diese hatte ja in der Tat schon einen langen Vorlauf im AT, wenn sie dort auch nicht im Mittelpunkt des Glaubens steht. Nun aber hat Gott durch Tod und Auferstehung Jesu endlich und endgültig den Schleier von diesem Hoffnungsgut weggezogen, es für alle offenbar gemacht156 und lässt es nun in Gestalt des Evangeliums (ἐν κηρύγματι [en kērygmati]) durch Paulus und andere verkündigen (vgl. auch Eph 3,5f ). „The Gospel message is the means of entering into relationship with the saving action of God and Jesus Christ“, schreibt Fiore.157 Interessant ist, dass Gottes Wort (λόγος [logos]) offensichtlich nicht einfach mit der Botschaft (κήρυγμα [kērygma]) identisch ist. Letztere meint wohl über den reinen Inhalt des Wortes hinaus dessen Verkündigung und persönliche Bezeugung, hat also in erster Linie den Vorgang im Blick. Im Vollzug der Verkündigung wird Gottes Wort zeugnishaft weitergegeben. Dagegen steckt im Wort beides: Verheißung und Erfüllung.158 Ist 3a/b ein Anakoluth, wie Blass-Debrunner-Rehkopf (§ 469.2) und Marshall (ICC, 127) meinen? Oder eine constructio ad sensum? Oder ist V. 3b einfach ein weiterer Relativsatz, der genauer erläutert, was für diese Botschaft im Blick auf Paulus, den Absender des Briefes, gilt?159 Letzteres erscheint uns am nächstliegenden. Die Botschaft entspricht nicht nur dem Glauben der Erwählten Gottes (V. 1), vielmehr hat auch er selbst160 ihr Vertrauen und Gehorsam geschenkt und ist mit ihr betraut worden. Denn Glauben ist immer beides: Vertrauen auf Gottes Wort und Gehorsam ihm gegenüber, also eine grundlegende, aus der Beziehung zu Gott bzw. Jesus Christus erwachsende Lebenshaltung. Sie ist dem Apostel auf Befehl Gottes, unseres Erlösers, anvertraut worden. Befehl (ἐπιταγή [epitagē]) verwendet im NT ausschließlich Paulus in seinen Briefen. Von θέλημα (thelēma „Wille“), was 2Tim 1,1 Verwendung Vgl. P.-G. Müller, Art. φανερόω, EWNT 2III, 988. Fiore, 196. So zuletzt Towner NIC 672. Oberlinner 14 schreibt: „Die Einfügung des Personalpronomens ἐγώ in V 3 zeigt, daß Paulus im Mittelpunkt steht.“ Unbestritten bleibt, dass der Apostel bei aller Selbstbescheidung durchaus ein hohes Maß an Selbstbewusstsein hatte, das freilich gerade damit zusammenhing, dass ihm Gott einen Auftrag und Vollmacht gegeben hatte. Andererseits ist m.W. noch niemand auf den Gedanken verfallen zu behaupten, wenn Paulus etwa in 2Kor 10,1; Gal 4,12; 5,2 ein betontes ἐγώ setzt, zeige sich daran, dass Paulus im Mittelpunkt steht. Der Titusbrieftext, in dem es fast nicht um seine Person geht, beweist das Gegenteil. Es ist deshalb sehr fragwürdig, wenn Oberlinner, M. Wolter zitierend, schreibt: „Wenn also Paulus und sein apostolisches Amt zu einem ‚Bestandteil dieses Heilsgeschehens selbst‘ erklärt werden, dann trifft dies genau die Intention der Past (S. 15). So kann man den Text m.E. wirklich nur mit einem übermächtigen „Meta-Text“ in Gestalt einer Pastoralbrief-Theorie im Hintergrund lesen. Zu dem betonten ἐγώ vgl. auch Anm. 162! 160 Das betonte ἐγώ bildet eine inclusio zu seinem Eigennamen in V. 1.

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findet, unterscheidet es sich auch dadurch, dass es ein schärferer Begriff ist, der die Anordnung einer höherstehenden Person beschreibt. Ähnlich spricht Paulus in Röm 16,25f ebenfalls in Verbindung mit seiner Verkündigung. Der Titel ΣΩΤΗΡ (sotēr) findet sich auf ungezählten Inschriften der hellenistischen Periode, und zwar vor allem als Bezeichnung für den römischen Kaiser, andere Herrscher und Politiker, die sich selbst so nannten oder von (dankbaren?!) Untertanen so für ihre Taten gerühmt wurden. Schon früher wurde der Titel für Götter und Philosophen verwendet. Wenn im AT und den frühjüdischen Schriften Juden und in ihrem Gefolge Christen den von ihnen verehrten Gott bzw. Jesus von Nazareth so beschrieben, bewegten sie sich einerseits in schon ausgelegten Bahnen, traten damit aber andererseits faktisch, wenn auch vielleicht ungewollt, in Konkurrenz zu den vorher Genannten, d.h. im 1. Jh. n.Chr. in erster Linie zu den Caesaren. Schon von Geburt an wird dieses Gegenüber das Leben Jesu implizit bestimmen, wie die Engelsbotschaft Lk 2,11 mit ihren beiden Hoheitstiteln σωτήρ und κύριος gegenüber Römern und Juden sowie zusätzlich χριστός gegenüber den Juden signalisiert.161 Im NT wird σωτήρ 8x auf Gott, 17x auf Jesus bezogen. Anders im Titusbrief: Hier kommt der Titel je 3x in Verbindung mit „Gott“ (1,3; 2,10; 3,4 – Titel jeweils vorangestellt) bzw. mit „Jesus Christus“ (2,13 vorangestellt; 3,6 nachgestellt) oder „Christus Jesus“ (1,4 nachgestellt) vor. Inwiefern ist Gott Erlöser? Er ist es, weil er nach 1Tim 2,4 „will, dass alle Menschen gerettet werden, indem sie zur Einsicht der Wahrheit kommen“.162 Und er ist es, weil er tatsächlich aus Todesgefahr in Zeit (Apg 27,44) und Ewigkeit (Röm 5,9) rettet. Denn für diese beiden Bereiche steht das Verb σῴζειν [sōzein] schon von seinem alttestamentlichen Hintergrundwort ‫ ישׁע‬her. „Wovor bzw. woraus gerettet wird (…), sind Todesnot und Tod, Krankheit und Besessenheit, Sündenschuld und Gottferne sowie das ewige Verderben.“163 Während Oberlinner hinsichtlich der Struktur der Verse 2-3 von einer „vom Autor in absteigender Linie gestaltete[n] Abfolge …: Verheißung (ἐπηγγείλα-

161 Ausführlicher dazu mein Aufsatz „Christus oder Caesar. Die christologische Verkündigung der frühen Christenheit und der Herrschaftsanspruch der römischen Kaiser“, in: G. Maier (Hg.), Die Hoffnung festhalten (FS W. Tlach), Neuhausen-Stuttgart 1978,149166. 162 Das καί ist explikativ zu verstehen; vgl. meine Auslegung zur Stelle. 163 W. Radl, Art. σῴζω, 766. Zur Erlösungsterminologie vgl. auch G.M. Wieland, The Significance of Salvation. A Study of Salvation Language in the Pastoral Epistles, Paternoster Biblical Monographs, Bletchley/Waynesboro 2006, zum Titusbrief besonders 181-238.

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το) – Offenbarung (ἐφανέρωσεν) – Verkündigung (κήρυγμα)“ spricht164, erkennt Marshall meines Erachtens richtiger in den Versteilen 2b/3a ein ausbalanciertes Schema (Gottes Verheißung und Erfüllung), das in 3b um das Element, in dem Paulus selbst aktiv wird, erweitert ist.165 4 Mit der adscriptio (Adresse) kommt der Empfänger in den Blick: Titus. Was wir über diesen Mitarbeiter des Apostels Paulus wissen, wurde in der Einleitung in Erinnerung gerufen (vgl. oben S. 5ff ). Wie eng seine Beziehung zu Paulus war, wird in der Apposition dem legitimen Kind sichtbar166, die ihn mit Timotheus (1Tim 1,2; Phil 2,22) auf eine Stufe stellt. Erstaunlich ist dabei die Anwendung auf einen geborenen Heiden (Timotheus war immerhin Sohn einer jüdischen Mutter und galt somit als Jude). Dadurch macht der Heidenapostel erneut deutlich, dass die althergebrachten Unterschiede in Christus überwunden sind (vgl. Eph 2,11-22 u.ö.) und keine trennende Wirkung mehr haben können. Damit keine Unklarheiten aufkommen, ergänzt Paulus (wie 1Tim 1,2) sogleich, es handle sich um eine geistliche VaterSohn-Beziehung nach dem Vorbild seines Verhältnisses zu Onesimus (Phlm 10)167 und nicht etwa um eine biologische Vaterschaft. Allerdings unterscheidet er die Beziehung zu den beiden Mitarbeitern sogleich, indem er nicht (wie bei Timotheus) von einem legitimen Kind „im Glauben“ spricht, sondern von einem Kind im Blick auf den gemeinsamen Glauben. Die Verbindung beider Elemente soll das Vertrauen stärken, das die Christen auf Kreta in Titus als Vertreter des Paulus und dessen Verkündigung setzen können. κοινός (koinos) beschreibt eine Gemeinsamkeit, die zwei oder mehr Personen miteinander verbindet. In diesem Fall ist es der Glaube. Entspricht die Kindschaft des Titus dem, was alle Christen glauben? Oder sind Paulus und Titus der gemeinsamen Überzeugung, dass Titus des Apostels legitimes Kind (im Glauben), also durch ihn Christ geworden oder beauftragt ist? Wir finden hier wieder eine rhetorische Klammer zwischen V. 1 und V. 4: κατὰ πίστιν [kata pistin] // κατὰ κοινὴν πίστιν [kata koinen pistin]. Paulus hebt Titus damit auf eine Stufe mit sich selbst. War in V. 1 der Zweck seines Apostolats der Glaube der Erwählten, so wird Titus nun der gemeinsame Glaube seiner Kreter als Ziel und Aufgabe ans Herz gelegt. „Gemeinsam“ insofern, als sie ihre

164 Oberlinner 10. 165 Marshall ICC 115. Damit wird auch beachtet, dass die drei Verben strukturierende Wirkung haben. 166 γνήσιος kann auch die Tatsache beschreiben, dass jemand als Ausleger eines Philosophen „autorisiert“ ist (etwa Aristoteles im Blick auf Plato). 167 Näheres vgl. im Kommentar zu 1Tim 1,2!

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innere Einheit finden und die Einheit aller Christen suchen oder doch nicht verlassen sollen – eine Spitze gegen die Gegner. Die salutatio (V. 4b) schließt das Briefpräskript ab. Auch sie folgt insgesamt einem Schema, das mit kleinen Abweichungen die Paulusbriefe verbindet. Der Friedensgruß ist im Tit (wie in allen Briefen außer 1/2Tim!) zweigliedrig. Gnade und Frieden wünscht der Absender dem Empfänger formelhaft, aber vom gewöhnlichen griechischen Briefformular jener Zeit abweichend und mit dem in hebräischen Briefen üblichen Friedensgruß ‫שׁלוֹם‬ ָ (schalom) kombiniert. Beide Begriffe haben einen umfassenden Sinngehalt. Gnade (χάρις [charis]) „ist die Ermöglichung des Zugangs zu Gott überhaupt durch diesen Gott selbst“168 und damit „das Heilsgut schlechthin“169, aber immer mit dem Unterton des Unverdienten. Neben dem eschatologischen Aspekt schwingt dabei im Briefpräskript auch der des „bereits gegenwärtig empfangene[n] Heil[s]“ mit.170 Auch Frieden (εἰρήνη [eirēne]) eignet schon vom bei Paulus zweifellos vorauszusetzenden hebräischen Hintergrund her etwas ָ [schalom] Bezeichnung für einen ZuUmfassendes und Heilvolles. War ‫שׁלוֹם‬ stand umfassender Einigkeit und Harmonie, und zwar profan wie religiös, so setzt sich diese Tendenz im NT fort. Frieden mit Gott und Menschen zu haben und zu verbreiten, sind wesentliche Merkmale der Nachfolger Jesu. Paulus nennt „Frieden mit Gott“ geradezu als Ergebnis der Rechtfertigung durch Glauben (Röm 5,1), also ebenfalls als Inbegriff des Heils. Er kann sogar Frieden in der Person Jesu Christus personalisiert sehen (Eph 2,14). Beide Wünsche zielen also nicht (zuerst) auf Glück und Wohlergehen im Immanenten. Sie heben auf eine geheilte Gottesbeziehung ab. Damit kein Zweifel aufkommen kann, von wem Gnade und Frieden zu erhoffen und zu erwarten sind, fügt Paulus gleich und ebenfalls zweigliedrig deren Geber an: von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Erlöser. Von Gott als Vater zu sprechen, ist im AT wie in den Israel umgebenden Religionen durchaus nicht selbstverständlich. Zwar kann schon in einem sumerischen Text gebetet werden: „Mein Gott, du bist mein Vater, der mich erzeugte.“171 Hier liegt der Akzent aber deutlich auf der unmittelbaren Abstammung von der Gottheit. Erst Ben Sira betet: „Herr, Vater und Gebieter meines Lebens …“172, und die Qumran-Essener formuliert: „Ja, du bist ein Vater für alle Söhne deiner Wahrheit und freust dich über sie wie eine Mutter 168 169 170 171 172

K. Berger, Art. χάρις. EWNT 2III, 1098. A.a.O. 1100. A.a.O. 1101. In einem sumerischen weisheitlichen Klagegebet ANET Suppl. 590. Sir 23,1; vgl. 51,10 hebr.

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über ihr Kind, und wie ein Pfleger versorgst du auf dem Schoße alle deine Geschöpfe.“173 Schon im Talmud wird aus der hebräischen Anrede ‫[ ָאִבי‬abi] das uns von Jesus (Mk 14,36) und Paulus (Röm 8,15; Gal 4,6) bekannte ‫אבא‬ [abba]. Im NT beziehen sich fast 250 der 414 Belege von πατήρ [patēr] auf Gott. Mit dem Wort verbindet sich Abstammung und biologisches Herkommen ebenso wie Schutz, Versorgung und Hilfe. Entsprechend ist die vorwiegende Haltung dem Vater gegenüber, der diesen Erwartungen entspricht, die des Respekts und der Dankbarkeit. Soziologisch betrachtet ist der Mann und Vater im sozialen System der Antike Sippenoberhaupt und Vertreter nach außen, während die Frau und Mutter ihre Kompetenzen und Rechte innerhalb der Familie hatte. Liegen die Dinge so, dann ist es nicht erstaunlich, wenn „Vater“ zur Bezeichnung vorgeordneter Personen allgemein werden konnte, etwa des Herrschers, des Priesters, des Lehrers. Wird Gott hier als Vater bezeichnet, so gewiss mit besonderer Rücksicht auf seine Beziehung zu Christus Jesus174, der ja in Parallele zum Vorsatz (V. 3), wo Gott so bezeichnet wurde, als unser Erlöser apostrophiert wird. Christus (χριστός [christos]) bzw. ‫שׁיַח‬ ִ ‫[ ָמ‬maschiach] wird im AT und im Frühjudentum auch, aber nicht ausschließlich als eine Erlösergestalt betrachtet. Andererseits zieht sich die Überzeugung von der grundsätzlichen Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen quer durch beide Teile unserer Bibel. Die ganze Heilsgeschichte von Schöpfung und Sündenfall bis zur Erlösung und Vollendung im Eschaton verfolgt eigentlich nur dieses Ziel: die ursprüngliche Gemeinschaft des Schöpfers mit den Geschöpfen (und zwar allen! Röm 8,18-23). Die Kirche ist, auch wenn sie das manchmal vergisst, nichts anderes als eine im Anschluss an Wirken, Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu groß angelegte Rettungs- und Erlösungsaktion Gottes. Auffällig ist, dass Paulus im gesamten Titusbrief das Wort κύριος [kyrios] nicht verwendet, das er sonst auch im Friedensgruß häufig gebraucht. Hahn weist für die (sieben seines Erachtens „echten“) Paulusbriefe auf die Herkunft der Formel κύριος Ἰησοῦς Χριστός [kyrios Jesous Christos] aus der Bekenntnistradition oder der liturgischen Überlieferung hin.175 Welche Gründe könnte die auffällige Auslassung im Tit für Paulus haben?176 Wir könnten nur speku173 1QH 9,35f. 174 Jesus Christus bzw. Christus Jesus wird nie als Doppelname verstanden, sondern immer als Zusammenstellung eines Namens mit einer Funktionsbezeichnung bzw. einem Hoheitstitel; vgl. Hahn, Art. Χριστός EWNT 2III, 1149. 175 Hahn, a.a.O. 176 Vgl. dazu Fuchs, Unterschiede, 98ff, der u.a. an die Wirkung denkt, die das griechische Synonym für das heilige Tetragramm auf jüdische Hörer haben könnte. Die Frage ist, warum Paulus das in den anderen Briefen an Gemeinden mit judenchristlichem Anteil

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lieren. Jedenfalls ist die unterschiedliche Verwendung bzw. Nicht-Verwendung in 1/2Tim und Tit ein Indiz zumindest dafür, dass die drei Briefe je ihr eigenes Profil haben und auch so gelesen werden müssen.

IV Zusammenfassung 1. Das Präskript des Tit erweist sich auch bei näherem Hinsehen als ein überaus durchdacht strukturierter, in den Korpus des Briefes hinüberweisender und mit diesem rhetorisch verlinkter Text. Mit der Trias „Glaube“ – „Wahrheitserkenntnis“ – „Hoffnung“ verbindet der Apostel sein Apostolat und setzt zugleich inhaltliche Akzente. Paulus betont gleich zu Beginn die ungebrochene Beziehung zu Titus und stärkt damit sein Ansehen in den Gemeinden, denn seine eigene Autorität scheint (abgesehen von den Gegnern am Rande) dort nicht bezweifelt zu werden. 2. Durch das fünfmalige Vorkommen von θεός [theos] betont er, in wessen Auftrag er handelt, und trägt zugleich der heidnischen Herkunft des Adressaten Titus und eines großen Teils der diesem anvertrauten Gemeinden Rechnung. In unserer Zeit ist „Gott“ als religionsgeschichtliche Gattungsbezeichnung stark im Kommen. Nicht nur in den säkularen Medien, auch bis in die christlich-gottesdienstliche Gebetsliteratur hinein wird meist nur noch von „Gott“ ohne weitere Spezifizierung geredet, wo früher z.B. noch von „Allah“ für den im Islam verehrten Gott die Rede war. Das Ergebnis könnte die Einschmelzung aller Gottesprofile auf dem Weg zu einer allgemeinen „Es-gibt-jadoch-nur-einen-Gott“-Religion sein. 3. In V. 2b/3a deutet der Verfasser ein heilsgeschichtliches Modell im Sinne von „Verheißung – Offenbarung“ an und nimmt für seine Verkündigung in Anspruch, die Erfüllung zu sein, die das Angekündigte offenbar macht.

Der Zweck des Briefes: Einsetzung einer Leitungsebene, 1,5-9 I Übersetzung 5 Deswegen ließ ich dich auf Kreta zurück, damit du das Übriggebliebene noch dazu in Ordnung bringen solltest, indem du in jeder Stadt Älteste einsetzt, wie ich dir aufgetragen habe: 6 Wenn jemand untadelig ist, Ehemann einer Frau, der gläubige Kinder hat, nicht [solche], denen liederlicher Lebenswandel vorgeworfen wird oder die aufsässig sind. 7 Der (Rom!) nicht gestört hätte. Waren die kretischen Gemeinden vielleicht noch zu fest in die Synagogen integriert?

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Episkop muss nämlich als Gottes Haushalter untadelig sein, nicht eigenmächtig, nicht jähzornig, nicht aus Trunksucht liederlich, kein Raufbold, nicht in schändlicher Habgier, 8 sondern gastfreundlich, ein Freund des Guten, besonnen, gerecht, fromm, beherrscht, 9 der am zuverlässigen Wort, das der Lehre entspricht, festhält, damit er in der Lage sei, durch die gesunde Unterweisung zuzusprechen und die zurechtzuweisen, die widersprechen.

II Struktur 1. Eine Würdigung der Gemeinde, die sonst bei Paulus fast ohne Ausnahme dem Präskript folgt, fehlt hier – warum? Zum einen, weil Titus und nicht eine Gemeinde unmittelbarer Briefempfänger ist, zum andern, weil das gemeinsam mit den kretischen Gemeinden Erlebte vermutlich zu spärlich war, als dass der Apostel daraus einen Übergangsteil hätte gestalten können. Ob er das angesichts der Situation dort gewollt hätte, kann man nur fragen. Wir stehen vor der Tatsache, dass das Präskript direkt in den Hauptteil übergeht. 2. Die Abgrenzung gegen V. 4 ist durch den Beginn des Briefkorpus, also vom Inhalt her, deutlich. Gegen V. 10 ist die das Voraufgegangene begründende Partikel γάρ ein Signal. In V. 10ff wird begründet, warum die Titus aufgetragene Einsetzung von Ältesten/Episkopen so wichtig ist, nämlich weil es Personen gibt, die den Gemeinden gefährlich werden können, wenn man sie machen lässt. 3. In den Versen 5-9 wird zunächst das Mandat des Titus (V. 5) aufgrund des ihm zuvor schon erteilten Auftrags beschrieben. In Listenform werden inhaltliche Kriterien für die Umsetzung genannt (V. 6) und anhand eines Anforderungsprofils begründet (V. 7-9).177 Sie sind säkularen Listen vergleichbar, etwa der Liste der von einem Strategen zu erwartenden Eigenschaften in Onasanders De imperatoris officio I 1, was nicht verwundern sollte, da es in beiden Texten um Führungsaufgaben geht. Aufbau: 5 Erinnerung an den Auftrag 6 Liste positiver, von einem Ältesten zu erwartender Eigenschaften 7a Erklärend-begründender Einschub bezüglich des 1. Kriteriums von V. 6a 7b Liste negativer Eigenschaften 8 Liste positiver Eigenschaften 9 Geistlich-theologische Profilierung 177 Vgl. auch die Liste in Phil 4,8!

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Wie in 1Tim 1,3 knüpft Paulus dort an, wo er sich von dem jeweiligen Adressaten – hier Titus – getrennt hatte. Gleich mit dem ersten Satz (V. 5) kommt Paulus zum Zweck des Briefes, der in einem zweiteiligen ἵνα-Satz in Erinnerung gerufen wird, mit welchen Aufträgen der Apostel seinen Mitarbeiter zurückgelassen hatte. Von dem zweiten ἵνα-Satz hängt eine Erläuterung ab, von dieser wiederum die erste, dreigliedrige Eigenschaftsliste, die den Ältesten gilt (V. 6). Es schließt sich eine zweite Liste an (V. 7b-9a), in der in fünf Gliedern (in Form von jeweils negierten Negativ-Verhaltensweisen) und positiv (6 + 1 =) sieben weiteren Gliedern beschrieben wird, wie Personen beschaffen sein müssen, die für den Episkopat geeignet sind. Dazwischen (V. 7a) steht ein Einschub des Verfassers, der das erste Kriterium von V. 6a (ἀνέγκλητος [anenklētos]) aufnimmt und erklärend begründet und dann auch sprachlich eine andere Fortsetzung nach sich zieht. Wir entdecken also eine planvolle Struktur mit 3 / 5 / 7 Gliedern.178 Mit Marshall179 so verstanden, ist es nicht nötig, zwei (parallele? konkurrierende?) Listen anzunehmen, sondern lediglich einen Stilwechsel, der durch den Einschub bedingt ist. Ob Roloff recht hatte mit der Annahme, „dieser Episkopenspiegel … [sei] durch seine Stellung im Kontext unschwer als Zitat erkennbar“; er sei eingefügt worden, „um die vorhergegangene Presbyterordnung (Tit 1,5f ) im Sinne der von ihm intendierten Angleichung beider Ämter zu interpretieren“180, muss offen bleiben (vgl. aber unten zu V. 7). Es ist aber angesichts des unbefangenen Umgangs des Apostels mit (zeitgenössischen) Texten durchaus vorstellbar, dass er eine im Umlauf befindliche Liste in seinen Bedürfnissen angepasster Form verwendet hat. 4. Paulus sagt selbst, dass in den kretischen Gemeinden bisher noch keine bzw. noch nicht alle Ältesten eingesetzt worden seien (1,5). Dies war aber eine Maßnahme, die Paulus seit seiner sogenannten 1. Missionsreise möglichst bald nach der Gemeindegründung vorzunehmen pflegte (Apg 14,23). Wir haben es also mit solchen Gemeinden zu tun, deren „Organisationsstandard“ sich noch auf einem niedrigen Niveau befindet, weil sie erst seit kurzer Zeit existieren. Immerhin kann andererseits festgehalten werden, dass es nicht nur eine „Muttergemeinde“ gibt, die sich nun nach paulinischer Missionsstrategie um die Missionierung ihres Umlandes zu kümmern hätte. Wenn Titus angewiesen wird, κατὰ πόλιν [kata polin] Älteste einzusetzen, setzt das voraus, dass es in einigen Städten der Insel bereits christliche Zellen gibt. Wer hat hier, 178 Zum Vergleich: Die Listen in 1Tim 3,2-7 bestehen aus 7 / 8 Gliedern. 179 Marshall ICC 149. 180 J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, EKK XV, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1988, S. 150.

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bis das geschehen ist, „das Sagen“? Wer sorgt für Ordnung, wenn Titus nicht vor Ort sein kann? Wer führt das Gespräch mit kritischen Geistern innerhalb und außerhalb der Gemeinde? Wer sorgt dafür, dass die Gemeinde nicht geistlich-theologisch „kippt“? Es entspricht antikem Denken, aber auch gesellschaftlichem Herkommen, dass in solchem Fall erst einmal die (freien) älteren Männer gefragt waren.181

III Einzelexegese 5 Anfang (1,5) und Schluss (3,12) des Briefes erwecken wohl mit Absicht den Eindruck der Dringlichkeit. Titus soll Kreta verlassen (3,12), aber die Ordnung in den Gemeinden ist noch nicht auf dem Stand, den sich Paulus vorgestellt hatte, als er Titus dort zurückließ (1,5). Das macht sie anfällig für Personen, die ihren Weg und ihren Glauben in eine andere, falsche Richtung lenken wollen. Τούτου χάριν [toutou charin] besteht aus dem Demonstrativpronomen und der nachgestellten Präposition, die ebenso das Ziel wie den Grund für eine Aktion angeben kann. In diesem Fall dürfte beides zutreffen: Paulus erinnert Titus an den Grund seines Zurücklassens, der gleichzeitig auch der Zweck ist. Titus soll zu Ende führen, was Paulus unabgeschlossen lassen musste, und er soll Leitungspersonen einsetzen. ἀπέλιπον [apelipon] setzt vermutlich voraus, dass der Apostel und sein Mitarbeiter sich gemeinsam auf der Mittelmeerinsel Kreta befanden.182 Wann könnte das gewesen sein? Es gibt zwei uns bekannte Möglichkeiten: Nach Apg 27,7ff befand sich Paulus etwa im Jahr 59 als Häftling auf der Überstellungsreise nach Rom auf Kreta. Wenn sich die unklare Bemerkung ἱκανοῦ δὲ χρόνου διαγενομένου [hikanou de chronou diagenomenou] auf die Dauer des Aufenthalts auf Kreta bezieht (s. Einleitung), könnten dort neben einer kleinen örtlichen Gemeinde weitere christliche Gruppen entstanden sein. Sie zu gründen, hatte Paulus dann vielleicht Zeit und Gelegenheit, jedenfalls sofern die Haft so locker gehandhabt wurde wie offenbar später auf Malta (Apg 28,8f ) und in Rom (28,17ff ); sie zu ordnen, ließ er seinen Mitarbeiter dann zurück. Wir wissen freilich nicht, ob Titus auf der Überstellungsreise zur Paulus-Grup181 Vgl. dazu Fuchs, Unterschiede 74-76. 182 Mehr zu Kreta in der Einleitung. Fuchs, Unterschiede, 17f, sieht (mit Rückgriff auf Jakob van Bruggen, Die geschichtliche Einordnung der Pastoralbriefe, Wuppertal 1981, 39f, und andere) in ἀπέλιπον einen auch sonst gebräuchlichen terminus technicus für die Beauftragung eines bevollmächtigten Vertreters, die auch aus der Ferne erfolgen könne. Trifft dies zu, so ist eine gemeinsame Anwesenheit von Paulus und Titus auf der Insel kurze Zeit vor Abfassung des Titusbriefes nicht unbedingt anzunehmen. Titus wäre also nicht „zurückgelassen“, sondern „beauftragt“ worden.

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pe gehört hat. Schlatter weist zudem darauf hin, dass sich Paulus beim Schreiben des Tit nicht in Gefangenschaft befinde, sondern sich frei bewegen könne, und dass nichts dafür spricht, dass zwischen dem Zurücklassen des Titus und dem Brief eine mehrjährige Gefangenschaft (Apg 28,30) lag.183 Die Alternative ist die Annahme, Paulus spreche in 1,5 von einem weiteren gemeinsamen Aufenthalt auf der Insel nach der Entlassung aus der ersten Haft in Rom. Darüber, was der Apostel in den etwa 2-4 Jahren bis zu seiner Wiederverhaftung und Hinrichtung in Rom gemacht hat, haben wir wieder nur wenige gesicherte Informationen.184 Dass er in dieser Periode nicht nur nach Westen (Spanien), sondern auch in den östlichen Mittelmeerraum gekommen sein soll (und logistisch auch gekommen sein könnte!), eröffnet der Annahme eines Aufenthalts von Paulus und Titus auf Kreta neuen Raum. Paulus könnte dann entweder allein weitergereist sein, um auch seine anderen Gemeinden noch zu besuchen und angesichts der beginnenden Verfolgungszeit zu stärken. Diese Abreise könnte aufgrund von Konflikten mit den Synagogen (Gegner!) hastig erfolgt sein. Oder er könnte gerade auf Kreta erneut verhaftet und nach Rom gebracht worden, also zur Abreise gezwungen gewesen sein. Für diese letzte Annahme spricht aber nicht viel. Gehen wir von der wahrscheinlichsten Hypothese aus, so ist eine erneute Anwesenheit auf Kreta und die wenig später erfolgte Abfassung des Tit um die Mitte der 60er-Jahre aus unserer Sicht anzunehmen. Wollte und musste Paulus seinen Mitarbeiter an seine Aufgabe erinnern? Das ist möglich, aber nur ein Aspekt, unter dem der Tit geschrieben wurde. Gewiss sollen die nachfolgenden Eigenschaftenlisten seine Arbeit auf sichereren Boden stellen; aber in erster Linie dürfte sich der Apostel mit dem Tit an die Gemeinden auf Kreta wenden. Das bedeutet, dass wir es mit einem Mandatsschreiben zu tun haben, das auch in den Gemeinden gelesen wurde, um die Umsetzung und den Umsetzenden zu unterstützen. Was soll Titus konkret tun? Auch an anderen Stellen macht Paulus Gemeinden und Mitarbeitenden Vorgaben, die das Zusammenleben ordnen. Er verwendet dabei auch Formen von διατάσσεσθαι [diatassesthai] (1Kor 7,17; 11,34; 16,1). Titus nun soll (erstens) das Übriggebliebene noch dazu in Ordnung bringen. Was gemeint ist, ist sofort klar: Titus wird angewiesen, solche Aufgaben, die durch Paulus’ Abreise unerledigt geblieben sind (τὰ λείποντα [ta leiponta]), zu Ende zu führen. Uns würde interessieren, was damit präziser gemeint ist. Wir kön183 Schlatter z.St. 184 Vgl. die Einleitung. Wie der Hinweis 1Klem 5,7 zu verstehen sei, ist nach wie vor umstritten; vgl. aber Riesner, Spain, 316-322.

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nen diese Frage höchstens durch Rückschlüsse aus dem Inhalt des Tit beantworten: Vervollständigung der Leitungsstrukturen durch Einsetzung geeigneter Personen mit dem Ziel der Absicherung gegen Irrlehrer (1,5-16); Ordnung des Zusammenlebens der Gemeinden und Grundlegung ihrer Ethik (2,1-15); Klärung des Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft samt theologischer Begründung (3,1-11) – ein weites Feld also. Sprachlich von Interesse ist das Verb ἐπιδιορθοῦν [epidiorthoun], das in der nichtchristlichen antiken Literatur nur selten belegt ist, aber in einer (Dialekt-)Inschrift in Hierapytna auf Kreta (!) aus dem 2. Jh. v.Chr. vorkommt.185 Ob man daraus weiter reichende Schlüsse ziehen darf, muss offenbleiben. Textgeschichtlich ist die abweichende (leichtere) Lesart ἐπιδιορθώσῃς [epidiorthōsēs] (2. Person Singular Aorist Konjunktiv Aktiv statt Medium) zu beachten. Was die Bedeutung angeht, schlägt Liddell-Scott mit Hinweis auf die eben erwähnte Hierapytna-Inschrift für die Aktivform vor: „correct afterwards“, für die mediale Form „to have deficiencies set right also, complete unfinished reforms“.186 Vom Inhalt her wäre beides denkbar, Letztere würde m.E. der Situation am besten entsprechen. Auch die Bezeugung spricht deutlich für die Textlesart, die u.a. vom Codex Sinaiticus (4. Jh.) und dem Mehrheitstext belegt ist, während die abweichende Lesart später und schlechter bezeugt ist.187

Zweitens und damit die erste allgemeine Formulierung präzisierend188 trägt der Apostel seinem Mitarbeiter auf, in jeder Stadt Älteste einzusetzen.189 In Apg 14,23 wird berichtet, dass Paulus und Barnabas bei der Rückkehr von der sog. 1. Missionsreise „in jeder Gemeinde Älteste“ (κατ᾽ ἐκκλησίαν πρεσβυτέρους) eingesetzt haben. Titus wird diese Kompetenz allein gegeben, d.h. es wird nicht etwa der Spruch eines Propheten oder eine voraufgegangene Wahl zur Voraussetzung gemacht. Auch die Umstände der Bekehrung des Kandidaten oder seine geistliche Einstellung treten hinter der einfachen Frage nach seinem Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart und seine öffentliche Reputation zurück.190 185 H. Collitz u.a., Sammlung der griechischen Dialekt-Inschriften, Nr. 5039,9 (vgl. Bauer, Wörterbuch 592; Liddell-Scott 631). 186 Liddell-Scott 631. 187 Anders Schlatter 181 Anm. 1. 188 Vgl. u.a. Classen, Titus II, 51. 189 Versteht man das vorausgehende καί epexegetisch oder explikativ, also in dem Sinn, dass das nachfolgende zweite Glied das erste nicht ergänzt oder einen zweiten Vorgang daneben stellt, sondern inhaltlich füllt und erläutert, dann wäre klar, was Titus’ Auftrag war: in jeder Stadt Älteste einzusetzen. 190 Vgl. Schlatter 182f mit Anm.

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Dass Titus in jeder Stadt Älteste einsetzen soll, wird man nicht in dem Sinne wörtlich zu nehmen haben, dass es bereits in jeder der zahlreichen Poleis Kretas eine christliche (Haus-) Gemeinde gegeben habe. Diese Aufgabe wäre kaum zu bewältigen gewesen, gab es doch angeblich hundert Städte auf der Insel. Es geht um die Orte, wo durch Wirkung des Paulus Gemeinden entstanden waren, die verantwortlich geleitet werden mussten. In der frühen Christenheit bestanden eine Zeit lang nebeneinander zwei Leitungssysteme: das aus vergleichbaren jüdischen Gemeinschaften übernommene presbyteriale und das eher im hellenistischen Raum beheimatete episkopale System, also ein kollegial-oligarchisches und ein monarchisches. Im Zuge der paulinischen Mission im hellenistischen Gebiet spielten verständlicherweise die Erstbekehrten als erste Leiter einer christlichen Hausgemeinde eine wichtige Rolle. In 1Kor 16,15-17 ist im Blick auf Achaja (Korinth) in diesem Sinne von dem „Haus des Stephanas“ die Rede. Wie im Tit auch wird hier die Gemeinde in Korinth aufgefordert, sich ihnen und jedem, der mitarbeitet und sich plagt, unterzuordnen (ἵνα καὶ ὑμεῖς ὑποτάσσεσθε τοῖς τοιούτοις καὶ παντὶ τῷ συνεργοῦντι καὶ κοπιῶντι). In den Paulusbriefen kommt der Begriff πρεσβύτερος [presbyteros] nur in 1Tim und Tit vor, bei denen wir ja damit rechnen, dass sie von einem Sekretär (Lukas?) formuliert wurden. Über Paulus und Barnabas wird lediglich (von Lukas!) berichtet, sie hätten auf der sogenannten 1. Missionsreise (also noch unter Barnabas’ starkem Einfluss) in jeder Stadt(gemeinde) Älteste eingesetzt (Apg 14,23). Ebenfalls Lukas schreibt, Paulus habe von Milet aus die Ältesten der Gemeinde in Ephesus zu sich gebeten (Apg 20,17). Derselbe Lukas verwendet aber in demselben Zusammenhang und vermutlich für denselben Personenkreis, nämlich für die Gemeindeleiter der Hausgemeinden in Ephesus und Umgebung, als er die Worte des Paulus wiedergibt, den Begriff ἐπίσκοποι [episkopoi] (Apg 20,28), den auch der Apostel kannte und einmal verwendete (Phil 1,1 neben διάκονοις). Das könnte darauf hindeuten, dass Lukas sehr wohl zu unterscheiden wusste zwischen seiner eigenen Terminologie und der des Paulus. Die jüdische Gemeinde und Gesellschaft wurde in neutestamentlicher Zeit durch ein Mischsystem strukturiert: Nach dem Niedergang des Königtums unter den Epigonen Herodes des Großen fungierte zwar noch ein sog. „König“ von Roms Gnaden; faktisch aber hatte er lediglich innen- und religionspolitische Bedeutung, was jedoch nicht wenig war. Die ursprünglich rein religiösen Machthaber (Hoherpriester und Ältestenrat) konnten aber auch im politischen Bereich nicht einfach ignoriert werden, da das alttestamentlich-theokratische Modell in der Staatsform Israels immer noch nachwirkte. In den Synagogen existierte ein (oder mehrere) Synagogenvorsteher, der je nach Konstellation die Macht in Händen haben konnte und in der Regel hohes Ansehen genoss.

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Ob in Apg 13,15 ein dem Ältestenrat vergleichbares Gremium gemeint ist oder ob es mehrere amtierende und nicht mehr amtierende Synagogenvorsteher gegeben hat, ist unklar. Vermutlich ist der synagogale Ortsvorstand gemeint, der in rein jüdischen Orten aus sieben, bei gemischter Bevölkerung aus drei Personen bestand.191

Nimmt man diesen Befund zusammen mit der Tatsache, dass gleich im übernächsten Vers (Tit 1,7) von den Episkopen192 die Rede ist und die Formulierung sehr an die von 1Tim 3,2 erinnert, so verstärkt sich die oben geäußerte Vermutung, dass der Schreiber (Lukas?) terminologisch durchaus zwischen dem Sprachgebrauch einzelner Personen zu unterscheiden wusste, aber in beiden Fällen dieselben Amtsträger gemeint sind.193 Ob es möglich ist, die beiden „Mengen“ noch präziser zu unterscheiden? Ist „Ältester“ vielleicht gar Teilmenge von „Bischof“ – oder umgekehrt?194 ὡς [hōs] bezieht sich wohl auf die in den Versen 6ff folgenden Eigenschaftenkataloge bzw. Anforderungsprofile. Es ist naheliegend, die vergleichbare Liste aus 1Tim 3,2-7 hinzuzuziehen. 6 Der Vers ist ein konditionaler Nebensatz ohne Hauptsatz, also ein Anakoluth, oder der Vers schließt nach der Parenthese wie ich dir aufgetragen habe unmittelbar an die Weisung an, in allen Städten Älteste einzusetzen, und beschreibt dann, wer dazu geeignet sei. An anderen Stellen folgt auf einen εἴ-Satz ein Hauptsatz (1Tim 3,1.5; 5,4.8.16; 6,3), hier nicht. Synoptisch zu vergleichen (s.u.) ist die teilweise (6 Elemente stimmen z.T. wörtlich überein)

191 W. Schrage, Art. ἀρχισυνάγωγος, ThWNT VII, 843,12ff. 192 Wenn wir den Begriff „Episkop“ verwenden, geschieht dies, weil wir nicht an heutige Verhältnisse denken dürfen, in denen ein Bischof der Leiter bzw. Repräsentant einer ganzen Kirche ist, die aus vielen Einzelgemeinden besteht. Damals leitete der Episkop (zusammen mit den Ältesten) eine Einzelgemeinde, die unter Umständen eher mit einem heutigen größeren Hauskreis zu vergleichen ist. Es konnte deshalb in einer größeren Stadt ohne Weiteres mehrere Gemeinden mit je eigenem Episkopen geben (Apg 20,28). 193 Marshall ICC 149: „It is also generally agreed that for the author elders and overseers are two names for the same functionaries, and that the duplication may be due to the amalgamation of two types of church order. The later emergence of monarchical bishops out of the group of elders has not yet taken place.“ 194 Schlatter 181 schreibt: „Ebenso soll Titus Presbyter einsetzen, die dadurch Bischöfe werden“, und weiter: „Damit war gesagt, in welchem Teil der Gemeinde Titus die suchen soll, die er mit der Führung der Gemeinde zu beauftragen hat. Durch diesen Auftrag erhielt ‚der Alte‘ ein Amt; er erhielt es aber, weil er ein Alter war, und wurde nicht durch seine Einsetzung ein Alter, sondern durch sie wurde er Bischof oder Diakon.“

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parallele Liste 1Tim 3,1-7.195 Beide beginnen mit je einem „Oberbegriff“ (ἀνέγκλητος // ἀνεπίλημπτος) und nennen als zweites Element die Ehe sowie später dann den geistlichen und menschlichen Zustand der Kinder. Beide haben das Stichwort δεῖ. Eine stilistische Beobachtung: Paulus hat offenbar gern mit der Verbindung von εἴ und einer Form des Pronomens τίς formuliert.196 53x findet sich dies im Corpus Paulinum, davon 41x in den allgemein als echt anerkannten Briefen und 7x im 1Tim. Häufig ist dabei die Bedeutung „wenn es jemand gibt, der …“ 2x steht der Plural, 1x ist die Wendung verneint, 14x ist ein δέ eingeschoben. Zunächst geht es also um den Kandidaten selbst und sein privates Umfeld (V. 6): Untadelig oder unbescholten klingt sehr blass und lässt viele Möglichkeiten des Verständnisses offen. Der Begriff eignet sich gerade deshalb, als eine Art „Oberbegriff“ zu fungieren, bevor es in die Einzelheiten geht. ἀνέγκλητος [anenkletos] heißt eigentlich „nicht angeklagt“197, beschreibt also in erster Linie den Zustand des Verhältnisses einer Person zur Gesellschaft bzw. zum Staat. Ob es angesichts der für die Gemeinden schwieriger werdenden Situation konkret um einen Menschen geht, der (gerade?) „nicht unter Anklage“ steht? Denn eine solche Leitungsperson wäre eine weitere Belastung für die Gemeinde. Rücksichtnahme auf staatliche bzw. gesellschaftliche Rahmenbedingungen ist für Paulus in einem begrenzten Rahmen offenbar möglich, ja nötig. Wie in 1Tim 3,2 ἀνεπίλημπτος (anepilēmptos) könnte ἀνέγκλητος [anenklētos] der Oberbegriff sein, auf den alle folgenden sich beziehen. Möglicherweise war das auch dem Autor bewusst, weshalb er ihn in V. 7a erklärend aufgreift. Nach Klärung der Beziehung zum Staat geht es nun um die familiären Verhältnisse. Oder füllen die nachstehenden Bedingungen inhaltlich, was mit ἀνέγκλητος gemeint ist?198 Wir meinen: Eher nicht, vielmehr tritt nun der private Lebensraum neben den öffentlichen. Dafür spricht auch die Aneinanderreihung ohne explikatives καί. Ehemann einer Frau soll der Kandidat sein. Marshall diskutiert die verschiedenen Verstehensmöglichkeiten ausführ195 Zum Vergleich: die oben erwähnte Liste in Onasanders Schrift De officio imperatoris I 1 (1. Jh. n.Chr.) nennt und erläutert folgende Begriffe: σώφρονα, ἐγκρατῆ, νήπτην, λιτόν, διάπονον, νοτρόν, ἀφιλάργυρον, μήτε νέον μήτε πρεσβύτερον, ἂν τύχη καὶ πατέρα παίδων, εὔδοξον. 196 Vgl. die kasuistischen Rechtssätze des AT. 197 1Tim 3,2 beginnt das Anforderungsprofil des Gemeindeleiters mit einem vergleichbaren Begriff: ἀνεπίλη[μ]πτος meint wohl jemand, der „unangreifbar“ ist; vgl. Liddell-Scott 134 zu ἀνεπίλημπτος. 198 So z.B. Marshall ICC 154.

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lich.199 Es ist wohl nötig, sich bewusst zu machen, dass die römisch-hellenistische Gesellschaft eine Vielzahl nicht nur von Lebensformen, sondern gerade auch von Mann-Frau-Beziehungen kannte und praktizierte, die die juristische Theorie weit hinter sich ließen. Angesichts dieser Beziehungsvielfalt, aus der ja diese (Heiden-)Christen kamen und die sie (wie uns heute!) als Attraktion und Vorbild umgab, und angesichts des wenig zivilisierten Niveaus auf Kreta wird es nötig gewesen sein, die rechtlich und religiös klare und geschützte Ein-Mann-und-eine-Frau-Beziehung als Ziel für alle Christen und als Voraussetzung für die Ausübung eines Leitungsamts zu betonen. Das jüdische Erbe mit der Wertschätzung der monogamen Ehe in neutestamentlicher Zeit schlägt hier durch.200 Mit der Bestimmung, dass der Älteste Ehemann einer Frau sein soll, verbinden sich die Charaktereigenschaften der Treue, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit, also der persönlichen Integrität. Kommen „Singles“, also Unverheiratete, Verwitwete oder Geschiedene, für Leitungsämter nicht infrage? So könnte es in der Tat gemeint sein, wenn auch die Einbeziehung der Kinder darauf hindeutet, dass kein Leitungsamt übernehmen soll, wer in einer (christlich begründeten!) „Schein-Ehe“ lebt.201 Auch der eigene Familienstand des Apostels (ledig oder verwitwet?) würde dazu im Widerspruch stehen, sofern nicht für ihn als unmittelbar von Christus berufenen Apostel besondere Umstände vorlagen. Geistlich-seelsorgliche Überlegungen und praktische Erfahrungen mögen den Apostel zu der hier erfolgten Regelung veranlasst haben. Wie auch in anderem Zusammenhang (im 1Kor) stärkt der „Single“ Paulus, der die Grenzen der Ehe durchaus gesehen hat (1Kor 7,25ff ), diese verbindliche, anerkannte und rechtlich geschützte Form des Zusammenlebens von Mann und Frau. … der gläubige Kinder hat, nicht [solche], denen liederlicher Lebenswandel vorgeworfen wird oder die aufsässig sind. Längst nicht in dem Maße wie heute war in der Antike das Individuum im Zentrum des Interesses. Vielmehr wurde die Hausgemeinschaft bzw. die Familie als Einheit gesehen und ihre Mitglieder mit der Gemeinschaft identifiziert. So ist es zu erklären, wenn Glaubensstand und Verhalten der Kinder zu einem Kriterium auch für die Beurteilung des Hausvaters werden konnten. Paulus wird dabei aber auch

199 Marshall ICC 157. 200 Häufig wird auf polygame Beziehungen im AT hingewiesen. Dabei ist zu beachten, dass solche Beziehungen an keiner Stelle als erstrebenswert dargestellt, sondern dass stets die in ihnen steckenden Konfliktpotenziale hervorgehoben werden. 201 Zum Bereich „Scheidung/Wiederheirat“ und „Polygamie“ siehe meine Ausführungen zu 1Tim 3,2!

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an die Kraft gedacht haben, die ein Gemeindeleiter aufwenden musste, wenn in seiner Familie Dauerkonflikte um Glauben und Leben ausgetragen wurden. In neutestamentlicher Zeit waren die Rechte und Pflichten der Kinder im jüdischen, griechischen und römischen Bereich durchaus unterschiedlich geregelt. Nach römischem Recht war ein Kind bis zum 7. Lebensjahr nicht, bis zum vollendeten 15. Lebensjahr beschränkt geschäftsfähig202 – was nicht bedeutet, dass Jungen ab 15 Jahren in modernem Sinn „unabhängig“ oder „frei“ handeln konnten. Im griechischen Recht standen Kinder im Blick auf (väterliche) Erziehungsmaßnahmen unter besonderem Schutz.203 Ähnlich wie im Judentum (Ex 20,12 u.ö.) waren auch griechische Kinder zur Fürsorge für ihre Eltern bei Krankheit und im Alter verpflichtet (z.B. Pollux, Onomastikon 3,12; Isaios, Orationes 8,32).

Schlossen sich die (erwachsenen) Kinder nicht (wie in Apg 16,31-34) der Religion des Vaters an, so war der Vater dem Spott der Umgebung ausgesetzt und als Gemeindeleiter kaum tragbar. Daran hat sich trotz aller Differenzierungen und Entwicklungen bis heute wenig verändert. Erneut kommt begrifflich die Situation des Gerichtsprozesses zum Vorschein (κατηγορία [katēgoria]) ist die „Anklage“). Dabei dürfte eher die „soziale Kontrolle“, also die Beobachtung und Verurteilung durch Verwandte, Nachbarn, Kollegen u.a. gemeint sein als ein förmlicher Prozess. Dies muss also damals für Christen wie für Heiden ein echtes Problem gewesen sein. Auch ἀσωτία ist ein bedeutungsmäßig breiter Begriff. Als ἀσώτως [asōtōs] bezeichnet Lukas die Lebensweise des „verlorenen Sohns“ in Jesu Gleichnis (Lk 15,13). „A general lack of self-control and moderation is implied“, schreibt Marshall.204 Eine Variante bringt Bruce W. Winter ins Spiel: Demnach gab es auf Kreta für heranwachsende junge Männer einen (homosexuellen) rite de passage und die (damit verbundene?) Einnahme des Stimulanzmittels Satyrion, das aus Jakobs-Greiskraut (Jacobaea vulgaris) gewonnen wird und zur Erkrankung an Satyriasis/Priapismus führen kann. Winter meint nun, solche Väter seien als Gemeindeälteste nicht geeignet, deren heranwachsende Söhne an entsprechenden Riten teilgenommen hätten.205 Als Möglichkeit ist das nicht auszuschließen. Es wird uns vor Augen geführt, wie völlig anders und schwierig es Christen haben, die aus einem vom Christentum seither unbeeinflussten Milieu kommen. 202 203 204 205

W. Krenkel, Art. Alter. LAW I. Zürich – München 1990, 130. W. Krenkel, Art. Kinder, LAW II. Zürich – München 1990, 1525. Marshall ICC 158. Winter, Wives, 163f.

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… aufsässig: Das griechische Wort ἀνυπότακτος [anhypotaktos] trägt den Akzent der Auflehnung gegen eine übergeordnete Instanz. Gemeint ist hier vermutlich, dass sich die Kinder dem Vater nicht unterordnen wollen. Es geht also offenbar nicht um eine allgemeine „Aufmüpfigkeit“ der jüngeren Generation, die schon Sokrates rügte, sondern um die Bereitschaft, sich in die bestehende (sozial-patriarchale) Ordnung einzufügen. Es ist aus heutiger Perspektive gut, dass derselbe Paulus in Eph 6,4 das nötige Gegengewicht auf die Waagschale legt und die Väter ihrerseits in die Pflicht nimmt. Unter dem Strich bleibt aus der pädagogischen Beziehung des Ältesten zu seinen Kindern die Anforderung, dass er vorbildlich und glaubwürdig sein soll – denn beide Eigenschaften kann man zwar nach außen hin heucheln, nicht aber vor der eigenen Familie, die die Chance einer täglichen Beobachtung hat. In den Versen 7-9 wird mit fünf Begriffen beschrieben, wie der Gemeindeleiter (Episkop) nicht sein soll. Das frühere Stichwort ἀνέγκλητος (vgl. V. 6a) bedarf offensichtlich noch einer Erläuterung.206 Der folgernde Satzanschluss δεῖ γάρ [dei gar] legt nahe, hier nicht an einen Neueinsatz (etwa mit einer weiteren Quelle aus der Tradition) zu denken.207 War zuvor (V. 5) von einer Mehrzahl die Rede, so geht es nun um einen Einzelnen, der ja auch zu den Ältesten der Gemeinde gehört, sich aber durch besondere Verantwortung und Aufgaben von den übrigen Ältesten unterscheidet. Er ist, sofern er sich im kleineren privaten Lebensbereich bewährt hat, auch in der Lage, die Gemeinde zu leiten. Für dieses Verständnis spricht auch die Aufnahme des Lebensbereiches „Haus/Familie“ im zweiten Teil durch den Vergleich mit einem Haushalter Gottes.208 Der noch unscharfe Sprachgebrauch „Ältester/Episkop“ deutet meines Erachtens eher auf eine frühe Abfassungszeit hin, in der die Ämter noch nicht klar gegeneinander profiliert waren.209 Denn erfahrungsgemäß steigt im Laufe der Zeit die Neigung, Unterscheidungen zu profilieren. Fiore schreibt: „The singular does not indicate a monarchical bishop. Rather, it results from the use of the word at the head of a qualification list“ und verweist auf 1Tim 3,2 und 5,9.210 Towner dagegen sieht in beiden sich ergänzenden

206 So auch Marshall ICC 159. 207 Towner NIC meint S. 684: „… the syntax and the repetition and alternation have roughened the logic somewhat.“ 208 Towner NIC 686 verweist auf 1Tim 3,5a, wo ebenfalls in einer Art Einschub die Verbindung von „Haus/Familie“ einerseits und „Gemeinde“ andererseits erfolgt, ebenfalls syntaktisch etwas holprig. 209 Tendenziell anders Marshall ICC 170ff. 210 Fiore 198 zu 1,7.

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Bezeichnungen „two aspects of the one reality of leadership (office/prestige and function)“.211 Marshall hat der Beschreibung des Verhältnisses von πρεσβύτερος und ἐπίσκοπος einen ausführlichen Exkurs gewidmet, in dem er Herkunft und Vorkommen der Begriffe darstellt und dabei eine „allonyme“ Verfasserschaft der Pastoralbriefe kurz nach Paulus’ Tod voraussetzt.212 Mit Blick auf Apg 20 und Tit 1,5-7 hält er es für „plausible that the title ‚overseer‘ views the leader from the general perspective of function (oversight) and ‚elder‘ is more to be associated with office or status … There may then have been a development which led to the overseers becoming a group distinct from the elders.“213 Am Ende bilanziert er zurückhaltend: „The best explanation is that each recognisable Christian group has a group of senior persons out of which is crystallising a leadership group. The term ‚older man‘ or ‚elders‘ is in process of coming to mean the latter group and expresses their status. The term ‚overseers‘ is also coming into use; it expresses their function. … the situation in Crete, where no elders had been appointed previously, is anomalous. … There is a tendency to encourage the overseers to be active in teaching, since sound teaching is so important over against the rise of heresy.“214

211 212 213 214

Towner NIC 686. Marshall ICC 92. Marshall ICC 177. Marshall ICC 181

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Ein unkommentierter Vergleich der Liste mit 1Tim 3,2-4 (und der Strategenliste Onasanders) legt sich nahe: Tit 1,6-8

1Tim 3,2-4

6   

2     

Onasander I 1

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