Der Brief des Paulus an die Philipper 9783417297331, 9783765597329, 3417297338

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Der Brief des Paulus an die Philipper
 9783417297331, 9783765597329, 3417297338

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
I. Einleitung
1. Die Stadt Philippi im ersten Jahrhundert
2. Paulus und die Christen in Philippi
Exkurs: Abfassung und historische Zuverlässigkeit des lukanischen Berichts
3. Anlass, Abfassungszeit und -ort des Philipperbriefes
4. Literarische Integrität des Briefes
5. Charakter und Aufbau
6. Theologische Anliegen
7. Textüberlieferung
II. Auslegung
1. Briefeingang (1,1-11)
1.1 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß (1,1-2)
1.2 Proömium: Dank und Fürbitte in der Partnerschaft am Evangelium (1,3-11)
Exkurs: Evangelium im Philipperbrief
2. Der Fortschritt des Evangeliums und die Ausrichtung auf Christus (1,12-26)
2.1 Der Fortschritt des Evangeliums (1,12-18a)
2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)
Exkurs: Das Sein bei/mit Christus (σὺν Χριστῷ εἶναι [syn Christō einai])
3. Leben würdig des Evangeliums (1,27–2,18)
3.1 Gemeinde und Leiden (1,27-30)
3.2 Einheit durch Demut (2,1-4)
3.3 Selbsterniedrigung und Erhöhung Jesu Christi als Vorbild (2,5-11)
3.4 Bewährung und Vollendung des Heils (2,12-18)
4. Vorbild und Sendung der Mitarbeiter des Paulus (2,19-30)
5. Die Ausrichtung auf Christus, das Ziel des Lebens (3,1-21)
5.1 Die überragende Bedeutung Christi (3,1-11)
Exkurs: ἐν κυρίῳ (im Herrn) und ἐν Χριστῷ (in Christus) im Philipperbrief
Exkurs: Phil 3,2-11 und die New Perspective on Paul
5.2Warnung vor falschem Vollkommenheitsdenken (3,12-16)
5.3 Die Nachahmung Christi, des Retters (3,17-21)
6. Ermahnungen (4,1-9)
Exkurs: Freude bei Paulus und im Philipperbrief
7. Paulus und die Philipper: Partnerschaft in der Mission (4,10-20)
8. Postskript: Grüße und Segen (4,21-23)
Abkürzungen
Bibliographie
Quellen
Kommentare zum Philipperbrief
Weitere Literatur
Verzeichnisse
Autorenverzeichnis
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
M
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Stichwortverzeichnis
A
B
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Z
Verzeichnis griechischer Wörter

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Historisch-Theologische Auslegung

———————————————————————————————————

Neues Testament Herausgegeben von Gerhard Maier ٠ Heinz-Werner Neudorfer ٠ Rainer Riesner ٠ Eckhard J. Schnabel

Der Brief des Paulus an die Philipper

Detlef Häußer

SCM R.BROCKHAUS, WITTEN BRUNNEN VERLAG, GIESSEN

© 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten Internet: www.scmedien.de; E-Mail: [email protected]

Umschlaggestaltung: agentur krauss GmbH, Herrenberg Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg Druck und Bindung: Finidr s.r.o. Gedruckt in Tschechien SCM R.Brockhaus ISBN 978-3-417-29733-1 Bestell-Nr. 229.733 Brunnen ISBN 978-3-7655-9732-9 Bestell-Nr. 229.732 Datenkonvertierung: Stephan Maier, Achern

INHALT

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1. Die Stadt Philippi im ersten Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

2. Paulus und die Christen in Philippi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Exkurs: Abfassung und historische Zuverlässigkeit des lukanischen Berichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

3. Anlass, Abfassungszeit und -ort des Philipperbriefes . . . . . . . . .

20

4. Literarische Integrität des Briefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

5. Charakter und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

6. Theologische Anliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

7. Textüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

II. Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

1. Briefeingang (1,1-11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

1.1 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß (1,1-2) . . . . . . . . . . .

47

1.2 Proömium: Dank und Fürbitte in der Partnerschaft am Evangelium (1,3-11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Exkurs: Evangelium im Philipperbrief . . . . . . . . . . . . .

65

2. Der Fortschritt des Evangeliums und die Ausrichtung auf Christus (1,12-26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

2.1 Der Fortschritt des Evangeliums (1,12-18a) . . . . . . . . . . . . .

81

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Exkurs: Das Sein bei/mit Christus (σὺν Χριστῷ εἶναι [syn Christō einai]) . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3. Leben würdig des Evangeliums (1,27–2,18) . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.1 Gemeinde und Leiden (1,27-30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

3.2 Einheit durch Demut (2,1-4 ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.3 Selbsterniedrigung und Erhöhung Jesu Christi als Vorbild (2,5-11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.4 Bewährung und Vollendung des Heils (2,12-18) . . . . . . . . . . 174 4. Vorbild und Sendung der Mitarbeiter des Paulus (2,19-30) . . . . . 194 5. Die Ausrichtung auf Christus, das Ziel des Lebens (3,1-21) . . . . 211 5.1 Die überragende Bedeutung Christi (3,1-11) . . . . . . . . . . . . 211 Exkurs: ἐν κυρίῳ (im Herrn) und ἐν Χριστῷ (in Christus) im Philipperbrief . . . . . . . . . . . . . 214 Exkurs: Phil 3,2-11 und die New Perspective on Paul . . . 239 5.2 Warnung vor falschem Vollkommenheitsdenken (3,12-16) . . 247 5.3 Die Nachahmung Christi, des Retters (3,17-21) . . . . . . . . . . 261 6. Ermahnungen (4,1-9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Exkurs: Freude bei Paulus und im Philipperbrief . . . . . . 287 7. Paulus und die Philipper: Partnerschaft in der Mission (4,10-20) . 305 8. Postskript: Grüße und Segen (4,21-23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Kommentare zum Philipperbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Verzeichnis griechischer Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

Vorwort der Herausgeber Die Kommentarreihe „Historisch-theologische Auslegung des Neuen Testaments“ will mit den Mitteln der Wissenschaft die Aussagen der neutestamentlichen Texte in ihrer literarischen Eigenart, im Hinblick auf ihre historische Situation und unter betonter Berücksichtigung ihrer theologischen Anliegen erläutern. Dabei sollen die frühere wie die heutige Diskussion und neben den traditionellen auch neuere exegetische Methoden berücksichtigt werden. Die gemeinsame Basis der Autoren der einzelnen Kommentare ist der Glaube, dass die Heilige Schrift von Menschen niedergeschriebenes Gotteswort ist. Der Kanon Alten und Neuen Testaments schließt den Grundgedanken der Einheit der Bibel als Gottes Wort ein. Diese Einheit ist aufgrund des Offenbarungscharakters der Heiligen Schrift vorgegeben und braucht nicht erst hergestellt zu werden. Die Kommentatoren legen deshalb das Neue Testament mit der Überzeugung aus, dass die biblischen Schriften vertrauenswürdig sind und eine Sachkritik, die sich eigenmächtig über die biblischen Zeugen erhebt, ausschließen. Wo Aussagen der biblischen Verfasser mit außerbiblischen Nachrichten in Konflikt stehen oder innerhalb der biblischen Schriften Spannungen und Probleme beobachtet werden, sind Klärungsversuche legitim und notwendig. Bei der Behandlung umstrittener Fragen möchten die Autoren vier Regeln folgen: 1. Alternative Auffassungen sollen sachlich, fair und in angemessener Ausführlichkeit dargestellt werden. 2. Hypothesen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen auch dann nicht als Tatsachen ausgegeben werden, wenn sie weite Zustimmung gefunden haben. 3. Offene Fragen müssen nicht um jeden Preis entschieden werden. 4. Die Auslegung sollte auch für denjenigen brauchbar sein, der zu einem anderen Ergebnis kommt. Unser Kommentar will keine umfassende Darstellung der Auslegung eines neutestamentlichen Buches in Geschichte und Gegenwart geben. Weder bei der Auflistung der Literatur noch in der Darstellung der Forschungsgeschichte oder der Auseinandersetzung mit Auslegungspositionen wird Vollständigkeit angestrebt. Die einzelnen Autoren haben hier im Rahmen der gemeinsamen Grundsätze die Freiheit, beim Gespräch mit der früheren und aktuellen Exegese eigene Akzente zu setzen. Die Kommentarreihe unternimmt den Versuch einer „geistlichen Auslegung“. Über die möglichst präzise historisch-philologische Erklärung hinaus soll die Exegese die Praxis von Verkündigung, Seelsorge sowie Diakonie im Blick behalten und Brücken in die kirchliche Gegen-

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Der Brief des Paulus an die Philipper

wart schlagen. Die Autoren gehören zu verschiedenen Kirchen und Freikirchen der evangelischen Tradition. Unterschiede der Kirchen- oder Gemeindezugehörigkeit, aber auch unterschiedliche exegetische Meinungen wollen sie weder gewaltsam einebnen noch zum zentralen Thema der Auslegung machen. Der Nähe zur gemeindlichen Praxis wird dadurch Rechnung getragen, dass neben griechischen bzw. hebräischen Texten die entsprechenden Begriffe noch einmal in Umschrift erscheinen. Auf diese Weise kann auch dem sprachlich nicht entsprechend ausgebildeten Laien zumindest eine Andeutung der Sprachgestalt der Grundtexte vermittelt werden. Die Auslegung folgt einem gemeinsamen Schema, das durch römische Ziffern angezeigt wird. Leserinnen und Leser finden unter I eine möglichst genaue Übersetzung, die nicht vorrangig auf eine eingängige Sprache Wert legt. Unter II ist Raum für Bemerkungen zu Kontext, Aufbau, literarischer Form oder Gattung sowie zum historischen und theologischen Hintergrund des Abschnitts. Unter III folgt dann eine Vers für Vers vorgehende Exegese, die von Exkursen im Kleindruck unterbrochen sein kann. Abschließend findet man unter IV eine Zusammenfassung, in der das Ziel des Abschnitts, seine Wirkungsgeschichte und die Bedeutung für die Gegenwart dargestellt werden, soweit das nicht schon im Rahmen der Einzelexegese geschehen ist. Alle Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift ist letztlich Dienst in der Gemeinde und für die Gemeinde. Auch wenn die „Historisch-theologische Auslegung“ keine ausdrückliche homiletische Ausrichtung hat, weiß sie sich dem Ziel verpflichtet, der Gemeinde Jesu Christi für ihren Glauben und ihr Leben in der säkularen Moderne Orientierung und Weisung zu geben. Die Herausgeber hoffen, dass die Kommentarreihe sowohl das wissenschaftlich-theologische Gespräch fördert als auch der Gemeinde Jesu Christi über die Konfessionsgrenzen hinaus dient.

Im Frühjahr 2004 Bischof i. R. Dr. Gerhard Maier Dr. Heinz-Werner Neudorfer Prof. Dr. Rainer Riesner Prof. Dr. Eckhard J. Schnabel

I. Einleitung

1. Die Stadt Philippi im ersten Jahrhundert Philippi (Φίλιπποι [Philippoi]) liegt in Makedonien, das unter Philipp II. (382–336 v.Chr.) eine Vormachtstellung in der griechischen Welt errang. 148 v.Chr. wurde Makedonien römische und 27 v.Chr. senatorische Provinz. Ab 15 n.Chr. wurde Makedonien vom kaiserlichen Legaten Moesiens verwaltet, bis es 44 wieder senatorische Provinz wurde.1 Philippi lag unweit des Flüsschens Gangites in der Ebene Daton in Ostmakedonien an der bedeutenden Handelsstraße Via Egnatia (Strabo VII,7,4), über die es mit dem knapp 15 km entfernten Neapolis verbunden war.2 Dies entspricht der Notiz in Apg 16,12, nach der Philippi in dem ersten von vier Distrikten lag, in die Makedonien 167 v.Chr. vom Konsul L. Aemilius Paullus aufgeteilt worden war (Livius XLV, 29) und die von Ost nach West durchgezählt wurden.3 Die Via Egnatia war von herausragender politischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Sie verlief von der Adria bis nach Byzanz und stellte die Verbindung zwischen Rom und seinen östlichen Provinzen her; auf ihr marschierten römische Heere.4 Die strategische Bedeutung Philippis resultierte aus der Lage zwischen Berghängen und der sumpfigen Ebene (Strabo VII, Fragm. 34. 41-42), wodurch sich der Weg leicht abriegeln ließ. Gegründet wurde der Ort, der früher Krenides („kleine Quellen“) hieß, 360 v.Chr. von dem aus Athen verbannten Redner Kallistratos.5 Nach der Besetzung durch Philipp II. (356 v.Chr.) siedelte dieser viele neue Bürger an, baute die Stadt aus (Diodorus XVI,3,7f ) und benannte sie um in Philippi. Nachdem die Bergwerke und Goldminen erschöpft waren, bildete Philippi im 1. Jh. v.Chr. nur eine relativ kleine Ansiedlung. Aber im Oktober 42 v.Chr. war Philippi Schauplatz der gewaltigen Doppelschlacht zwischen den Cäsarmör1 Vgl. G. Neumann, Art. Makedonia, KP III (1969), 917. 2 Für eine antike (Orts-)Beschreibung Philippis vgl. Appian, BellCiv IV,105f. 3 Vgl. Omerzu, Prozeß, 117f. Zu den textkritischen Problemen in Apg 16,12 und der Berechtigung der von NA28 vertretenen Konjektur vgl. Omerzu, Prozeß, 116-118; Pilhofer, Philippi I, 164, Anm. 17. 4 Vgl. Bormann, Philippi, 27. 5 Vgl. R. Riesner, Art. Philippi, GBL III (1989), 1196.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

dern Brutus und Cassius einerseits und den damals noch verbündeten Antonius und Octavian (später Augustus genannt) andererseits und fand so Eingang in die Geschichtsbücher.6 Noch im gleichen Jahr wurde auf Betreiben von Marcus Antonius die Colonia Victrix Philippensium7 (CIL III, 660) gegründet und Veteranen der römischen Armee wurden angesiedelt. Augustus siedelte 31 v.Chr. Veteranen der Prätorianer8 und italische Bauern an. Augustus sah sich als Neugründer der Kolonie an und benannte sie um in Colonia Iulia (Augusta) Philippensis.9 Damit wurde zugleich die unmittelbare Erinnerung an den nun als Staatsfeind angesehenen Antonius eliminiert. Nach dem siegreichen Kampf gegen Antonius wurde für Augustus eine deutliche Reduzierung der Truppe vordringlich. Mit dem Ziel, einen Teil der ausscheidenden Soldaten in Italien ansiedeln zu können, wurden mangels frei verfügbaren Landes Zwangsenteignungen nötig, die Italiker mit antoniusfreundlicher Gesinnung trafen. Um die Entstehung eines besitzlosen Proletariats zu verhindern, wurden sie mit Land in den Provinzen, insbesondere Makedonien, entschädigt. Da Philippi Antonius sicher nahegestanden haben dürfte, könnte eine Umsiedlung seiner Anhänger nach Philippi als vorteilhaft erschienen sein (vgl. Vittinghoff, Kolonisation, 1240. 1344f ). Auch manche Augustus treue Soldaten bekamen ihr Abfindungsland in Philippi, möglicherweise auch, um die „Antonianer“ zu überwachen.

In Philippi existierte ein Bevölkerungsgemisch aus Thrakern, Griechen und Römern.10 Die Thraker als die alteingesessene Bevölkerung siedelten kaum in der Stadt selbst, sondern mehr im Umland. Die Griechen bildeten über die Länge der Zeit gesehen das beherrschende Bevölkerungselement. Im 1. Jh. stellten jedoch die Römer bzw. die italischen Einwanderer die einflussreichste Gruppe dar, denn sie hatten die Macht. Theater und Forum wurden im römischen Stil umgebaut bzw. errichtet. Aufgrund der Größe des Theaters schätzt Peter Pilhofer, dass zu dieser Zeit ca. 5000 bis 10 000 Menschen in der Stadt Philippi lebten.11 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sowohl Veteranen als 6 Für antike Berichte dieser Schlacht vgl. Cassius Dio XLVII,42-49 und Appian, BellCiv IV,106-114. Zu Philippi in der antiken Geschichtsschreibung vgl. Bormann, Philippi, 6884. 7 Nach Omerzu, Prozeß, 122, lautete der Name Colonia Victoria Philippensis. 8 Für die Ansiedlung von Soldaten der Prätorianergarde in Philippi unter Augustus vgl. Vittinghoff, Kolonisation, 1239. 9 Vgl. M.A. Errington, Art. Philippoi, DNP IX (2000), 795. Der Zusatz Augusta erfolgte erst 27 v.Chr. nach der Verleihung des Titels Augustus an Octavian durch den Senat, vgl. Omerzu, Prozeß, 122, Anm. 49. Zur Abgrenzung des Territoriums der Colonia Iulia Augusta Philippensis vgl. Pilhofer, Philippi I, 52-73. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Pilhofer, Philippi I, 87-92. 11 Vgl. Pilhofer, Philippi I, 76.

I. Einleitung

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auch italische Bauern angesiedelt wurden, wobei die Besiedelung der Ebene von Philippi durch römische Bauern wohl über einen längeren Zeitraum erfolgte.12 Elliger konstatiert: „Gerade dieser doppelte Charakter von Veteranenkolonie und Bürgerkolonie ist für Philippi bezeichnend.“13 Nach 27 v.Chr. war in Philippi zwar keine Einheit des stehenden Heeres mehr stationiert, jedoch trugen die kontinuierliche Versorgung von Soldaten und die Unterstützung der Truppe durch die römischen Kolonien dazu bei, dass das Leben auch von militärischen Aspekten mitgeprägt wurde.14 Die politische Ordnung15 in Philippi wurde dadurch geprägt, dass es das römische und städtische Bürgerrecht und das italische Bürgerrecht gab. Letzteres erhielten die Kolonien der Italiker, da ihre Städte den italischen gleichstehen sollten, damit sie ebenfalls die Vorrechte genießen konnten, die das italische Land gegenüber den Kolonien hatte.16 Das ius Italicum gestattete eine selbstständige Kommunalverwaltung, und es implizierte die Befreiung von Kopf- und Bodensteuern. Koloniestädte wurden jeweils geschlossen einer der römischen Tribus (Abteilung der Bürgerschaft) zugeteilt und waren somit Teil der Stadt Rom. Die Kolonisten galten als Bürger der Stadt, ohne in ihr zu wohnen. Philippi war der tribus Voltinia zugeteilt. Wer das Bürgerrecht (πολίτευμα) von Philippi besaß, war in der tribus Voltinia eingeschrieben und besaß somit auch das römische politeuma. Da Reichsbewohner ohne römisches Bürgerrecht privatrechtlich benachteiligt waren, war der Besitz des Bürgerrechts sehr begehrt. Erhalten konnte es ein Angehöriger der unteren Bevölkerungsschicht nur, wenn er sich mindestens 25 Jahre in den Dienst des römischen Reiches stellte, z.B. in der Truppe. Aufgrund intensiver Ausgrabungen im 20. Jh. sind heute etliche archäologische Reste des antiken Philippi zu sehen, die teilweise (z.B. die ausgegrabene Gestalt des Forums) allerdings erst dem 2. Jh. angehören.17 Außerdem sind viele Inschriften erhalten. Wenn man auf der Via Egnatia nach Philippi reiste, fiel die alles beherrschende Akropolis ins Auge. Die Via Egnatia durchquerte 12 13 14 15 16 17

Vgl. Pilhofer, Philippi I, 52. Elliger, Paulus, 43. Vgl. Peterlin, Disunity, 160-162. Vgl. Vittinghoff, Kolonisation, 1223-1243; Pilhofer, Philippi I, 122f. Vgl. Vittinghoff, Kolonisation, 1345. Für eine umfassende und aktuelle Darstellung der archäologischen Befunde für Philippi vgl. Pilhofer, Philippi I, 15-34. 74-77 (für eine sehr gute Karte vgl. a.a.O., 75). Auf seiner Untersuchung basiert die folgende Darstellung. Im Übrigen ist es lohnend, sich die Ausgrabungen von Philippi (unmittelbar westlich von Κρηνίδες/Krinides ca. 12 km nordwestlich von Καβάλα/Kavala) z.B. bei Google Maps (https://www.google.de/maps [Geodaten: 41.012102,24.284661]) anzusehen.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

die Stadt als Hauptstraße weitgehend geradlinig vom Neapolistor im Osten bis zum Amphipolistor im Westen. Nördlich der Straße, nahe beim Neapolistor, befand sich das Theater, das sicherlich markanteste Bauwerk innerhalb der Stadtmauern. Es war von Philippus errichtet und später in mehreren Phasen ausgebaut worden.18 Das Forum erstreckte sich in der Stadtmitte südlich der Via Egnatia und lag zwischen dieser und der an dieser Stelle parallel verlaufenden Geschäftsstraße (Emporiki Odos). Es war von einigen öffentlichen Gebäuden (z.B. Bibliothek, Bema [Rednertribüne]), Tempeln und Säulenhallen umgeben. Die beiden genannten Straßen wurden durch Querstraßen (gr. πάροδος) verbunden. Wahrscheinlich gab es noch eine dritte Parallelstraße, die zum dritten Stadttor führte. Südöstlich des Forums sind Überreste eines Bades (balneum, 1. Jh. v.Chr.), der frühchristlichen Basilika des Paulus (1. Hälfte des 4. Jh.s), des Oktogons (achteckiger Sakralbau, ca. 400 n.Chr.) und des Episkopeions (Bischofspalast) erhalten. Mit einem in diesem Bereich gelegenem Kammergrab verband sich bis zur Zerstörung des Oktogons im 9. Jh. die kultische Verehrung des Märtyrers Paulus. Allerdings ist die Basilika des Paulus wohl nicht nach dem Apostel, sondern nach einem philippischen Märtyrer dieses Namens benannt.19 Nördlich der Via Egnatia hat man Überreste einer Basilika gegenüber dem Forum und einer zweiten Basilika 150 m weiter in der Nähe des heutigen Museums rekonstruiert. Diese beiden christlichen Bauten sind um 500 n.Chr. zu datieren. In Philippi hat man auf dem östlichen Friedhof (Nekropole) bei der Basilika extra muros (4. Jh.), die schon im heutigen Krinides liegt, zwei Inschriften aus dem 4./5. Jh. n.Chr. gefunden, in denen der Name Paulus erwähnt wird.20 Die eine findet sich auf einem Grabstein eines Paulus, der als Presbyter und Arzt der Philipper (πρεσβύτερος καὶ ἰατρὸς Φιλιππησίων) bezeichnet wird. Auch die zweite Inschrift findet sich auf einem Grabstein. In ihr wird Paulus als der Protopresbyter (πρωτοπρεσβύτερος), also wohl als Vorsitzender des Presbyteriums bezeichnet. Eine Verbindung zum Apostel Paulus kann schon aufgrund des zeitlichen Abstandes der Inschriften zum 1. Jh. nahezu ausgeschlossen werden. Noch mehr Sicherheit ergibt sich aus folgender Überlegung: 18 Die in der Literatur (z.B. von Davies) genannte Größenangabe (Platz für ca. 50 000 Menschen) ist sicherlich nicht korrekt. Die ausgegrabenen Zuschauerränge mit einem Bogenradius von nicht mehr als 35 m lassen darauf schließen, dass für die Besucher maximal ca. 1 500 m2 zur Verfügung standen. Kritisch zu Davies auch Pilhofer, Philippi I, 45. Nach Schnabel, Mission, 1102, hatte das Theater 8 000 Sitzplätze. 19 Vgl. Pilhofer, Philippi I, 19, Anm. 54. 20 Vgl. Pilhofer, Philippi II, 107f und 111f.

I. Einleitung

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Wenn die Philipper im 4. oder 5. Jh. n.Chr. mit der Aufstellung eines entsprechenden Grabsteins den Anspruch erhoben hätten, dass an ihrem Ort der Apostel seine letzte Ruhestätte gefunden hat, dann wären sie damit in eine Konkurrenz mit Rom getreten. Die daraus resultierende Diskussion mit derartig viel Konfliktpotenzial hätte fast zwingend irgendeinen Niederschlag in der Literatur dieser Zeit finden müssen. Solch einen Beleg gibt es aber nicht.21 Einen weiteren Friedhof gab es im Westen der Stadt, der aber bisher nur zu einem kleinen Teil ausgegraben wurde. Aufgrund äußerst günstiger infrastruktureller Voraussetzungen konnte sich Philippi zu einem blühenden Handelszentrum entwickeln. Die Via Egnatia war für den Handel von immenser Bedeutung, vor allem in den Monaten, in denen die Schifffahrt ausgesetzt werden musste. Außerdem hatte man von Philippi aus einen Zugang zum Meer via Neapolis, deren Funktion in der Kaiserzeit zu einem bloßen Hafen von Philippi herabgesunken war. Die Ebene von Philippi bestand aus fruchtbarem Boden, sofern das Land trockengelegt worden war. So war die Landwirtschaft prägend, zumal sie durch das nordägäische Klima mit seinen nicht zu heißen Sommern und niederschlagsreichen Wintern begünstigt wurde. Außerdem gab es bedeutende handwerkliche Betriebe, z.B. in der Purpurfärberei. Die Tatsache, dass Purpurfärber aus Thyatira in Philippi bekannt waren, ist inschriftlich belegt, zumindest wenn die Inschrift 697/M580 echt ist, was Pilhofer mit guten Gründen behauptet.22 Die Inschrift lautet übersetzt: „Den ersten der Purpurfärber, Antiochos, (den Sohn) des Lykos, den Thyateirener, den 21 Schon allein aus diesem Grund ist H. Koesters (Paul, 70-79) These von einem Martyrium des Paulus in Philippi nicht überzeugend. Ausgehend von einer Dreiteilung des Philipperbriefes argumentiert er damit, dass der Redaktor den Briefteil, der am stärksten die Thematik des Martyriums betont, an den Anfang gestellt habe und dass somit nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Komposition des Philipperbriefes durch den Anspruch Philippis auf das Martyrium des Paulus nahegelegt wurde (vgl. a.a.O., 74f ). Koester hält es für möglich, dass das offene Ende der Apg im Wissen von Lukas von einem Martyrium des Paulus im Osten begründet liegt. Koester sieht eine Entsprechung zu seiner Rekonstruktion der historischen Einordung der (nach Koester deuteropaulinischen) Pastoralbriefe, wobei er besonders mit Blick auf 2Tim 4,13 Philippi für den wahrscheinlichsten Haftort von 2Tim und Ort des Martyriums hält. In der Tat ist in 1Clem 5,57; IgnRöm 4,3 nicht der Ort des paulinischen Martyriums genannt – obwohl beide Schriften mit Rom zu verbinden sind –, aber wenn Philippi der Ort gewesen sein sollte, bliebe die Frage ungeklärt, warum dies (abgesehen von vermeintlichen Indizien) ohne einen literarischen Niederschlag blieb, Rom aber in patristischen Schriften, z.B. Eusebius, Hist.eccl. II,25,5-8, genannt wird. 22 Vgl. Pilhofer, Philippi I, 177-182, und ders., Philippi II, 857f. Der Text der Inschrift lautet nach der Rekonstruktion von Pilhofer, ebd.: Tὸν πρῶτον ἐκ τῶν πορϕυροβάϕ[ων Ἀν]τίοχον Λύκου Θυατειρ[ην]ὸν εὐεργέτ[ην] καὶ […] ἡ πόλις ἐτ[ίμησε].

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Wohltäter und …, ehrt die Stadt.“ Damit werden die biographischen Angaben zu Lydia (Apg 16,14) durch den epigraphischen Befund gestützt. Blickt man auf die Religionen in Philippi, wird der Ort als ein Beispiel für den antiken Synkretismus erkennbar.23 Es gab einen Tempel für Artemis und Tempel für andere Gottheiten, darunter auch ägyptische Götter. Außerdem existierten Tempel für den Kaiserkult, deren archäologische Zeugnisse zwar aus dem 2. Jh. datieren, wobei aber Vorgängerbauten angenommen werden können. Verschiedene Inschriften sprechen von flamines bzw. sacerdotes (Priester)24 und weiblichem Kultpersonal25. Über die vorherrschende religiöse Prägung von Philippi im 1. Jh. gehen die Meinungen der Forscher teilweise auseinander. Nach Pilhofer waren in Philippi die wichtigsten Gottheiten: Ἥρως Αὐλωνείτης [Hērōs Aulōneitēs], Dionysos, Silvanus (Gott des Waldes).26 Dabei kam der thrakischen Gottheit Hērōs Aulōneitēs, dem thrakischen Reiter, eine „Schlüsselstellung“27 für Philippi zu. Dieser Kult wurde staatlich gefördert. Dionysos fand Anhänger bei Thrakern, Griechen und Römern. Der Kult des Silvanus hatte vornehmlich römische Anhänger, und zwar Sklaven, Freigelassene und Freie. Nach Bormann dagegen „ist für Philippi von einer primär römisch geprägten religiösen Identität auszugehen, in deren Mittelpunkt neben dem traditionellen griechischen Pantheon die Verehrung des Prinzeps und seiner divinisierten Ahnen bzw. Vorgänger steht.“28 In jedem Fall ist ein gewisser religiöser Synkretismus anzunehmen, in dem neben dem Kaiserkult auch griechische, römische, ägyptische (Isis29 und Serapis) und thrakische Kulte Anhänger fanden. Umstritten ist, welche Rolle jüdische Religiosität in Philippi spielte. In Apg 16,13.16 wird eine προσευχή [ proseuchē], eine Gebetsstätte, erwähnt. Nach Hengel handelte es sich bei dieser vermutlich um ein Gebäude, also gemäß dem Sprachgebrauch antiker Autoren (Philo, Apion, Kleomedes u.a.) um eine

23 Vgl. Elliger, Paulus, 62-66. 24 Vgl. Pilhofer, Philippi I, 109f; Philippi II, 205-210 (Inschrift aus dem 2. Jh.). 25 Vgl. z.B. die Weihinschrift für Liber, Libera und Herkules (vgl. Pilhofer, Philippi II, 406f, und Kloppenborg/Ascough, Associations, 333-335). 26 Vgl. Pilhofer, Philippi I, 92-113. 27 Pilhofer, Philippi I, 94. Zur großen Bedeutung des thrakischen Reiters vgl. auch Elliger, Paulus, 65f. 28 Bormann, Philippi, 63f. 29 Sicher nachweisen lässt sich der Isiskult nach Bormann, Philippi, 57, aufgrund der Inschriften erst für das 2. Jh., da die Datierung des Isisheiligtums mittels Münzfunden, die von den Vertretern einer Entstehung im 1. Jh. herangezogen werden, nicht gesichert werden kann.

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Synagoge.30 Inschriftlich ist für Philippi zwar keine Synagoge sicher belegt,31 aber allein deshalb sollte die Existenz einer solchen nicht ausgeschlossen werden. Auffällig ist, dass die Existenz von Juden in Philippi überhaupt nur in einer der über tausend Inschriften aus dieser Stadt belegt ist, und diese stammt aus der späteren römischen Zeit (3./4. Jh.). Von daher dürften die Juden im 1. Jh. allenfalls eine kleine Minderheit dargestellt haben. Explizit erwähnt werden im Bericht der Apg nur jüdische Frauen (Apg 16,13). Allerdings gab es schon beim Erstbesuch auch männliche Christen (Apg 16,40), ob diese aber einen jüdischen Hintergrund hatten, lässt sich nicht sicher sagen.

2. Paulus und die Christen in Philippi In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s wurde die Echtheit des Philipperbriefes von manchen Forschern infrage gestellt,32 heute ist die paulinische Verfasserschaft jedoch allgemein anerkannt.33 Paulus’ Beschreibung seiner Leiden, die Entfaltung der Theologie, die ethischen Anweisungen und sein Vorgehen gegen Irrlehrer entsprechen den anderen allgemein als paulinisch anerkannten Briefen.34 30 Vgl. Hengel, Proseuche, insbesondere 175. Anders Becker, Paulus, 323, und Wojtkowiak, Christologie, 62. Claußen, Versammlung, 116-118, hält ein Synagogengebäude für theoretisch denkbar, einen Gebetsort unter freiem Himmel aber für wahrscheinlicher. 31 Die einzige Ausnahme ist eine Stele, die eine συναγωγή erwähnt, freilich aber aufgrund des zeitlichen Abstands keine sicheren Rückschlüsse auf das 1. Jh. zulässt, vgl. Pilhofer, Philippi I, 232. Ausführlicher zu dieser Inschrift und ihrem Wortlaut vgl. Pilhofer, Philippi II, 465-467. Eine Fotografie der Stele findet sich unter www.philippoi.de. 32 Die Echtheit des Philipperbriefes wurde zunächst von F. C. Baur, Paulus I, bzw. Paulus II, 50-88, in Zweifel gezogen und ihm folgend auch von anderen Vertretern der alten Tübinger Schule. Aber schon Polykarp von Smyrna berichtet von Briefen des Apostels Paulus an die Philipper (Polyc 3,2; im Sing. Polyc 11,3). Für eine Darstellung der Diskussion und eine kritische Auseinandersetzung mit Vertretern einer Pseudepigraphie vgl. Zahn, Einleitung I, 396-402; Martin/Hawthorne xxviii-xxx; Mengel, Studien, 119-127. 33 Vgl. Pokorný/Heckel, Einleitung, 275; Schnelle, Einleitung, 153; Hansen 15; Bormann, Philippi, 87. 34 Neuerdings hat G. Schwab diesen Konsens neu hinterfragt. Er kommt in seiner Untersuchung zu Philemon, Philipper und Galater zu dem Ergebnis, „dass ihre Echtheit beträchtlich fragwürdiger ist, als in der heutigen Bibelwissenschaft vorausgesetzt und gelehrt wird“ (Schwab, Untersuchungen, 75). Schwab vergleicht die jeweiligen Texte mit Nachbartexten hinsichtlich des Wortschatzes, der Syntax, der Motive, des Inhalts, der rhetorischen Funktion usw. Für Phil kommt er aufgrund der seiner Meinung nach zu eruierenden Parallelen und ihrer Anordnung zu dem „Verdacht einer literarischen Fabrikation durch einen Imitator“ (a.a.O., 79). Schwab nimmt an, dass Phil von einem oder mehreren pseudepigraphischen Imitatoren mosaikartig zusammengesetzt wurde (vgl. Schwab, Untersuchungen, 209) und geht damit über die üblichen Briefteilungshypothe-

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Der Bericht über die Gründung der Gemeinde in Philippi während der zweiten Missionsreise fällt in Apg 16,12-40 relativ ausführlich aus. Auffällig ist, dass er fast deckungsgleich mit dem ersten der sogenannten Wir-Berichte ist, der in Apg 16,10 mit der Abreise aus Troas nach Makedonien beginnt. Nach der Passage über Philippi wird der weitere Reisebericht der Missionare ab Apg 17,1 wieder in der dritten Person formuliert. Exkurs: Abfassung und historische Zuverlässigkeit des lukanischen Berichts Bevor die Schilderung der Gründung der Gemeinde in Philippi näher analysiert und ausgewertet wird, ist angesichts der Forschungslage die Frage der historischen Zuverlässigkeit des lukanischen Berichts in Apg 16 zu bedenken. Dabei ist eine Konzentration auf das über die Ereignisse in Philippi dargebotene Material möglich, auch wenn für die angesprochene Fragestellung das Buch als Ganzes im Blick sein muss. Der Bericht über das Geschehen in Philippi ist zumindest im ersten Teil ein „Wir-Bericht“, in welchem der Autor ad Theophilum eigenes Erleben zu berichten beansprucht. Da der Narrator (Erzähler der „Wir-Berichte“) nicht namentlich genannt wird, ist mit Thornton davon auszugehen, dass er mit dem Autor der Apg („ich“ in Apg 1,1) identisch ist.35 Da die intendierten Leser den Narrator wohl identifizieren können mussten und da aufgrund des Prologs der Apg anzunehmen ist, dass dieses Buch nicht anonym erschienen sein kann, muss der Verfasser und damit der Narrator bekannt gewesen sein. Die altkirchliche Tradition (angefangen bei Irenäus, Adv.haer. I,23,1; III,1,1; III,14,1-2) sieht in ihm einhellig Lukas, dem schon im ersten Drittel des 2. Jh.s das Attribut „Paulusbegleiter“ zugelegt wurde.36 Wäre jemand anderes als Lukas der Verfasser gewesen, wäre kaum zu erklären, wie die ursprüngliche Verfasserangabe völlig spurlos ersetzt worden sein sollte. Wenn aber das Buch – Thornton sagt einschränkend „höchstwahrscheinlich“ – „unter dem Namen Lukas erschien, so mußte sich der Nachweis von Augenzeugenschaft von vornherein erübrigen, denn Lukas, der Paulusbegleiter, dürfte sen weit hinaus. Zu kritisieren ist bei ihm, dass er von Parallelen auf literarische Abhängigkeiten schließt. Exemplarisch lässt sich dies daran verdeutlichen, dass Schwab (vgl. a.a.O., 225-229) Ps 21,17 LXX als mutmaßliche Quelle für Phil 3,2 ansieht. An beiden Stellen wird der Begriff κύνες (Hunde) verwendet, aber die Entsprechung von συναγωγὴ πονηρευομένων und κακοὶ ἐργάται ist nicht plausibel. 35 Vgl. Thornton, Zeuge, 131. Thorntons Untersuchung bietet eine umfassende Darstellung zu den Fragen nach den „Wir-Berichten“ und den Abfassungsverhältnissen der Apg insgesamt. Porter, ‚We‘ Passages, 545-574, dagegen sieht in den „Wir-Berichten“ eine unabhängige Quelle, die der Verfasser der Apg benutzt habe, ohne dass diese Quelle notwendigerweise auf Augenzeugenschaft hinweise. 36 Vgl. Thornton, Zeuge, 8ff.69. Für eine neuere Verteidigung der lukanischen Verfasserschaft, besonders auch der Wir-Berichte, vgl. Hemer, Acts, 308-334; Bock, Acts, 15-19; Schnabel, Acts, 22-23; Hengel/Schwemer, Paulus, 9-27.

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einigermaßen bekannt gewesen sein (vgl. II Tim 4,11).“37 Bei einem Autor aber, der aus eigener Anschauung berichtet, kann man von einem hohen Grad historischer Zuverlässigkeit ausgehen, wenn man bei ihm nicht irgendwelche Motive für eine Geschichtsfälschung vermuten muss, was bei Lukas im Hinblick auf den Philippi-Abschnitt aber nicht naheliegt. Lukas stammt allerdings wohl nicht aus Philippi, denn sonst könnte man erwarten, dass das Haus bzw. die Familie des Lukas in irgendeiner Weise erwähnt worden wären bzw. die Missionare nicht nur im Haus der Lydia eine Bleibe gefunden hätten.38 Die Tradition, dass Lukas aus Antiochien in Syrien stammte, die sich in einigen Handschriften des westlichen Textes von Apg 11,28, im Prolog zum Lukasevangelium39 und bei Eusebius, Hist.eccl. III,4,6 findet, ist ernst zu nehmen,40 beweist aber nicht, dass Lukas schon ab Antiochien Begleiter des Paulus war, denn er hätte zu dieser Zeit auch woanders wohnen können. Spätestens ab Troas gehörte Lukas aber zu den Begleitern des Paulus. Unter der Voraussetzung der lukanischen Verfasserschaft der Apg bzw. der Wir-Sequenzen ist aus der Verteilung derselben zu schließen, dass Lukas auf der zweiten Missionsreise mit Paulus nach Philippi kam (Apg 16,10) und dort blieb, als Paulus weiterreiste (Apg 17,1). Der nächste Wir-Bericht beginnt auf der dritten Missionsreise in Makedonien im Zusammenhang mit der Rückreise des Paulus von Griechenland nach Syrien (Apg 20,5),41 wobei Philippi in Apg 20,6 genannt wird. Dies macht es sehr wahrscheinlich, dass Lukas in der zwischen Apg 17,1 und 20,6 liegenden Zeit in Philippi wirkte (zumindest zeitweise)42 und damit auch zur Zeit der ephesinischen Gefangenschaft von Paulus und der hier als am wahr37 Thornton, Zeuge, 193. Dass Lukas nicht eigens Autopsie beanspruchte, wahrscheinlich weil die Leser ohnehin um sein Verhältnis zu dem Geschehen wussten, unterscheidet ihn von anderen antiken Historikern, vgl. Thornton, a.a.O., 361.366. Für überzeugende Argumente gegen die These der Apg als Pseudepigraphon vgl. Thornton, a.a.O., 196f. 38 Pilhofer vertritt die These einer Herkunft des Lukas aus Makedonien, vgl. Pilhofer, Philippi I, 248-254, vermutlich aus Philippi, vgl. Pilhofer, Lukas, 106-112. Pilhofers Begründung, dass der Verfasser der Apg über außerordentlich gute Ortskenntnisse von Makedonien und außerdem über zahlreiche Detailkenntnisse über Philippi verfügte, ist nicht zwingend. Diese lassen sich auch erklären, wenn Lukas sich mehrere Jahre in Philippi aufgehalten haben sollte. Es ist zumindest auffallend, dass der Name Λουκᾶς für Makedonien laut Fraser/Matthews, LGPN IV, 212, nur einmal belegt ist, und zwar für Amphipolis. Allerdings ist Lukas eine griechische Kurzform der lateinischen Namen Lucanus, Lucianus oder Lucius (vgl. Schnabel, Acts, 23). 39 Der Text ist leicht zugänglich in Aland, Synopse, 533. 40 Vgl. dazu Strobel, Lukas, 131-134; Riesner, Jesus, 24-25; Schnabel, Acts, 24. 41 Vgl. Thornton, Zeuge, 271, und Schnabel, Mission, 1369f. 42 Schnabel, Mission, 1369f, weist darauf hin, dass es nicht sicher ist, dass Lukas die gesamte Zeit zwischen diesen beiden Reisen, also von 50 bis 57 n.Chr. in Philippi war, da im Römerbrief (16,21), den Paulus 57 von Korinth aus schrieb, Lukas-Lucius Grüße sendet. Voraussetzung ist freilich, dass Lukas und Lucius dieselbe Person bezeichnen. Dies ist zumindest möglich, da die Koseform von Lucius Lukas ist (vgl. Stuhlmacher, Römer, 224).

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scheinlichsten angenommenen Abfassung des Philipperbriefes. Lukas könnte gut der Kollektenvertreter der Gemeinde in Philippi gewesen sein, denn in Apg 20,4 ist kein Vertreter der Lieblingsgemeinde des Paulus genannt, sodass er in dem „Wir“ inkludiert sein dürfte.43

Zur zweiten Missionsreise bricht gemäß dem lukanischen Bericht Paulus mit Silas (in 2Kor 1,19; 1Thess 1,1 und 2Thess 1,1 wird er Silvanus genannt) auf, nachdem Paulus sich mit Barnabas, seinem Gefährten auf der ersten Reise, nicht über die Zusammensetzung des Teams hat einigen können (Apg 15,3641). Außerdem war es zu einem schwerwiegenden Konflikt über den Umgang mit Heiden(christen) gekommen (Gal 2,13). In Lystra in Kleinasien wird das neue Team durch den jungen Timotheus vergrößert (Apg 16,1-3). Da die Missionsabsichten in der Provinz Asia und in Bithynien aufgegeben werden müssen bzw. nach lukanischer Darstellung vom heiligen Geist nicht zugelassen werden (Apg 16,6-7), gelangen Paulus und seine Mitarbeiter nach der Reise durch Phrygo-Galatien44 nach Mysien und schließlich nach Troas, einer bedeutenden Hafenstadt an der Mündung des Hellespont am Ägäischen Meer. Angestoßen durch eine Vision (ὅραμα, Apg 16,9f ) und nach einer zweitägigen Schifffahrt landen Paulus und seine Mitarbeiter (inklusive Lukas) in Neapolis, von wo aus sie offenbar sofort in die römische Kolonie Philippi weiterreisen. Im Jahr 49 n.Chr. beginnt also die Mission des Paulus auf europäischem Boden, wobei für Paulus die kontinentalen Grenzen weniger bedeutend gewesen sein dürften als die Grenzen der Provinzen bzw. die erstmalige Ankunft in einer römischen Kolonie. Die Dauer des Aufenthalts in Philippi lässt sich nicht genau festlegen. In Apg 16,12 ist von einigen Tagen die Rede, die aber nicht die Gesamtdauer bezeichnen dürften, sondern eher als Hinweis auf eine Ankunft am Wochenanfang zu deuten sind, denn erst am Sabbat suchen Paulus und seine Mitarbeiter die Gebetsstätte (προσευχή [ proseuchē]) am Fluss auf. Die Auseinandersetzung mit der Magd mit dem Wahrsagegeist dauert viele Tage (Apg 16,18). Die geschilderten übrigen Ereignisse in Philippi (Festnahme, Anklage, Stockschläge, Inhaftierung, Befreiung, Taufe des Aufsehers, Begleitung aus dem Gefängnis durch die Stadtoberen, Abschied von der Gemeinde) können allesamt innerhalb von zwei Tagen geschehen sein. Der Aufenthalt in der Stadt

43 Siehe S. 28, vgl. auch Thornton, Zeuge, 271. Thornton erwägt weiter die Möglichkeit, dass Lukas eine Art Helfer des Titus bei der Organisation der Kollekte gewesen ist, räumt aber mit Recht ein, dass sich die Rolle des Lukas nicht eindeutig bestimmen lässt. 44 Zur Reiseroute des Paulus in Kleinasien vgl. Riesner, Frühzeit, 250-261.

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dürfte also nicht weniger als zwei Wochen gedauert haben, sicherlich aber nicht einige Monate45. Die Apg berichtet von den Ereignissen in Philippi als Erstes über die Verkündigung an einem Sabbat bei einer proseuchē, wo die Missionare einige Frauen, unter ihnen Lydia, vorfinden. Nach Apg 16,13 ist die proseuchē an einem Fluss lokalisiert. Nach Pilhofer befand sich diese nicht bei einem der beiden Stadttore der Via Egnatia, sondern nahe bei dem dritten Stadttor, das ca. 300 Meter südlich des Amphipolistores und zum hier nahen Fluss Gangites hin lag.46 Wenn Hengel recht hat, dass es sich bei der proseuchē um eine Synagoge handelt,47 ist es erstaunlich, dass Paulus nur Frauen antraf (Apg 16,13). Er musste dann wohl erwartet haben, auch Männer zu treffen. Möglicherweise trafen sich Frauen und Männer auch zu unterschiedlichen Zeiten. Ob Paulus bei weiteren Besuchen der proseuchē auch Männer antraf, lässt der lukanische Bericht offen. Immerhin ist aufgrund der oftmaligen Belästigung durch eine Magd auf dem Weg zwischen dem Haus der Lydia und der proseuchē davon auszugehen, dass Paulus diesen Weg öfters und regelmäßig zurücklegte. Wenn aber Paulus regelmäßig an einem „Frauenkreis“ teilgenommen hätte, wäre dies zumindest ungewöhnlich gewesen. Die Bekehrung der Lydia wird ausführlich geschildert und als eine herausragende Szene gestaltet (Apg 16,14). Selten bietet Lukas so viele Detailinformationen über einen bekehrten Menschen. Lydia ist Purpurhändlerin48, stammt aus Thyatira und ist gottesfürchtig (ist sie eine Proselytin?), ihr öffnet Gott das Herz, sie wird (offenbar ohne Zeitverzug) zusammen mit denen getauft, die zu ihrem Haus gehören, sie ist gut situiert und besitzt ein Haus, in das sie die Missionare einladen kann (Apg 16,15). Offenbar bietet dieses genügend Raum, auch für eine Versammlung der Geschwister (ἀδελϕοί) bzw. der Hausgemeinde der ersten Christen in Philippi (Apg 16,40). Aufgrund des zu vermutenden Reichtums von Lydia als Unternehmerin erscheint Letzteres durchaus plausibel.49

45 Vgl. Riesner, Frühzeit, 278. 46 Vgl. Pilhofer, Philippi I, 165-174. Pilhofer, a.a.O., 171f, will in Apg 16,13 παρὰ ποταμόν als genauere Bestimmung des Tores (πύλη) verstehen, und er schlussfolgert, dass die προσευχή selbst nicht zwingend unmittelbar am Fluss gelegen haben muss, sondern lediglich der Bereich außerhalb des dritten Stadttores. 47 Vgl. Hengel, Proseuche, 175. 48 In einer römischen Kolonie wurde Purpur schon deshalb nachgefragt, weil Purpur für Togen und auch sonst für (luxuriöse) Kleider verwendet wurde (vgl. Pilhofer, Philippi I, 175). 49 Nach Gehring, Hausgemeinde, 361f, hat möglicherweise Lydia in der Anfangszeit die Gemeinde auch geleitet. Gegen Gehring, a.a.O., 240f, vgl. a.a.O., 228f, kann man aus Apg 16,25-34 nicht sicher schließen, dass es in Philippi zumindest noch eine zweite

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Die zweite ausführlich geschilderte Begebenheit in Philippi beginnt damit, dass eine Magd mit einem Wahrsagegeist beharrlich die Missionare als Diener des höchsten Gottes (δοῦλοι τοῦ θεοῦ τοῦ ὑψίστου) bezeichnet (Apg 16,17). Nach Trebilco ist θεὸς ὕψιστος [theos hypsistos] im römischen Reich ein Name für pagane Gottheiten,50 ohne dass ein jüdischer Einfluss anzunehmen ist. Die Aussage der Magd musste von den (heidnischen) Hörern geradezu falsch verstanden werden. Indem Paulus den Dämon austrieb, beendet er zugleich auch die Gefahr dieses Missverständnisses. Außerhalb der Synagoge dürfte die Aussage der Sklavin ohnehin immer nur auf alle möglichen paganen Gottheiten gedeutet worden sein. Die Eigentümer der Frau verloren durch den Exorzismus eine lukrative Einnahmequelle und schleppten Paulus und Silas zum Forum (ἀγορά) vor die städtische Behörde (ἄρχοντες). Lukas nennt diese στρατηγοί [stratēgoi]51 (Apg 16,20.22.35), in Philippi war freilich die lateinische Bezeichnung duumviri (iure dicundo) gebräuchlich.52 Nach einer eher politisch gefärbten Anklage als jüdische Unruhestifter, die für römische Bürger ungesetzliche Bräuche (ἔθη [ethē]) einführen (Apg 16,20f ),53 werden Paulus und Silas kurzerhand ausgepeitscht und in Untersuchungshaft genommen. Die Inhaftierung war eine übliche Maßnahme für kurzfristige Strafen, „jedoch in erster Linie Untersuchungshaft oder Verwahrung bis zur Vollstreckung der Strafe.“54 Möglicherweise nimmt Paulus in Phil 1,30 (sicher aber in 1Thess 2,2) auf diese Ereignisse Bezug. Nach einem Erdbeben, das Paulus und Silas die Flucht ermöglicht hätte, fragt der Gefängniswärter (δεσμοϕύλαξ) typisch heidnisch, was er tun muss (Apg 16,30) – eventuell in der Absicht, die Götter der Gefangenen zu besänftigen. Die Missionare verweisen auf den rettenden

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Hausgemeinde im Haus des Kerkermeisters gab. Von einem weiteren Treffen in dessen Haus findet sich im NT nämlich keine Notiz mehr. Vgl. Trebilco, Paul and Silas, 52. Den paganen Hintergrund der Bezeichnung belegt Pilhofer, Philippi I, 182-188, mit makedonischen und thrakischen Zeugnissen. Zu θεὸς ὕψιστος vgl. auch Ascough, Associations, 196-201. Dagegen deutet Haenchen, Apostelgeschichte, 483, θεὸς ὕψιστος als Bezeichnung der Nichtjuden für den jüdischen Gott. Ähnlich Roloff, Apostelgeschichte, 245; Schneider, Apostelgeschichte, 215. Zu den στρατηγοί und zur Gleichsetzung von στρατηγοί und ἄρχοντες vgl. Pilhofer, Philippi I, 195-197. Vgl. auch Weiß, Lokalkolorit, 23. Für das Selbstverständnis der römischen Bürger in Philippi als Ort der Schlacht zwischen den Cäsarmördern einerseits und Antonius und Octavian andererseits war eben dieses Ereignis prägend, in dem eine der historischen Wurzeln des Prinzipats der julisch-claudischen Dynastie lag. Daraus folgert Bormann, Philippi, 83: „Seit der Neugründung durch Augustus ist Philippi eine Stadt, in der sich das römische Selbstbewußtsein als Vertrauen in das göttergewollte Recht und in das begnadete Können der julisch-claudischen Familie formiert.“ Schnabel, Mission, 1105. Zum Prozess in Philippi vgl. Rapske, Paul, 115-134.

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Glauben und halten eine Missionspredigt (Apg 16,31f ), woraufhin der Gefängniswärter und seine ganze Familie (οἱ αὐτοῦ πάντες) getauft werden. Das Verhalten des Gefängniswärters (Aufnahme von Paulus und Silas in sein Haus, Verköstigung usw.) dürfte sehr unüblich, wenn nicht illegal gewesen sein. Erst am Morgen, als die Gerichtsboten (ῥαβδοῦχοι, lat. lictores) eintreffen, beruft sich Paulus auf sein römisches Bürgerrecht.55 Den stratēgoi bleibt nichts anderes übrig, als Paulus (und Silas) zu beschwichtigen, denn Paulus hätte das Fehlverhalten der Behörden beim Gouverneur anzeigen können. Bevor die Missionare der Bitte der städtischen Magistrate nachkommen, die Stadt zu verlassen, wobei es sich freilich fast um eine Ausweisung handelt, besuchen sie noch die Gemeinde (ἀδελϕοί) im Haus der Lydia (Apg 16,40). Die genaue Zusammensetzung der philippischen Gemeinde lässt sich nicht klären. Der lukanische Bericht von der Gründung der Gemeinde (enger Kontakt zur jüdischen προσευχή bzw. zur Synagoge) legt nahe, dass auch Juden zur Gemeinde gehörten. Da aber die Juden in Philippi damals nur eine verschwindend kleine Minderheit der Bevölkerung darstellten, dürfte die Gemeinde sehr bald, wahrscheinlich schon von Anfang an, stärker hellenistisch bzw. von Griechen geprägt gewesen sein. Dies ist aus den im Philipperbrief genannten Namen (Phil 2,25; 4,18: Epaphroditus; 4,2: Euodia, Syntyche) und aus den frühen christlichen Inschriften zu schließen.56 Klemens (Phil 4,3) ist ein lateinischer Name. Bei dem Gefängniswärter handelte es sich vermutlich um einen römischen Veteran. Auch seine Familie wird wohl römisch-lateinisch geprägt gewesen sein. Thraker dürften allenfalls in Einzelfällen zur Gemeinde gehört haben.57 Gegen 135 schrieb Polykarp, der Bischof von Smyrna, einen Brief an die Philipper, offenbar nach einem eigenen Besuch in Philippi (Polyc 14). Diesem Brief ist zu entnehmen, dass die Gemeinde von Philippi in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts in hohem Ansehen stand (Polyc 11,3).58 55 Dass Paulus sich nicht schon vor der Auspeitschung auf sein römisches Bürgerrecht berief, kann mehrere Gründe gehabt haben. Zum einen wäre der Beweis zeitaufwendig und evtl. auch kostspielig gewesen, und zum anderen hätte die Berufung auf das Bürgerrecht eine gewisse Distanzierung zum Judentum dargestellt, die Paulus aufgrund seiner eigenen jüdischen Identität fernlag und die außerdem die dem Judentum nahestehenden Christen (Lydia) und erst recht evtl. schon bekehrte Judenchristen vor den Kopf gestoßen hätte. Ausführlicher dazu Rapske, Paul, 129-134; vgl. auch Schnabel, Mission, 11051107. 56 Vgl. Pilhofer, Philippi I, 241-242. 57 Ähnlich Wojtkowiak, Christologie, 62f, nach dem die Thraker vorwiegend im Umland von Philippi lebten und deshalb in der Stadtgemeinde unterrepräsentiert waren. 58 Die Textüberlieferung des Polykarpbriefes ist eher schlecht. Die griechischen Handschriften brechen mit 9,2 ab. Für die Kap. 9 und 13 steht eine Überlieferung bei Eusebius,

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3. Anlass, Abfassungszeit und -ort des Philipperbriefes Der äußere Anlass des Philipperbriefes wird in Phil 2,19-30 geschildert. Mit der Sendung des Epaphroditus sollen die Philipper sich von seinem gesundheitlichen Wohlbefinden nach überstandener schwerer Krankheit überzeugen können (2,28). In Verbindung damit kündigt Paulus auch die baldige Sendung von Timotheus an, von der sich Paulus eine genauere Unterrichtung über die Situation der Gemeinde erhofft (2,19). Paulus nutzt die Gelegenheit, um erstens auch seine theologischen Anliegen (vgl. I.6) der Gemeinde nahezubringen – dazu gehören auch die Warnung vor judenchristlichen Arbeitern/ἐργάται (3,2-21) und die Ermutigung zur Einheit (1,27; 2,1ff; 4,2) – und zweitens den Philippern für die erhaltene Unterstützung (4,10-20) zu danken. Schließlich informiert Paulus die Adressaten über seine persönliche Situation. Die Frage nach dem Abfassungsort ist unmittelbar verknüpft mit der nach der Abfassungszeit und der nach den Gegnern des Paulus, gegen die sich die Polemik in Kap. 3 richtet. Der Abfassungsort wird im Philipperbrief nicht explizit genannt, es gibt aber einige aufschlussreiche Indizien. Paulus ist mit Timotheus zusammen (Phil 1,1; 2,19), den er in Kürze zur Gemeinde senden will (2,19-23). Außerdem ist Epaphroditus am Haftort (2,25ff ). Paulus schreibt den Brief aus einer Gefangenschaft (1,7.12ff; 2,17).59 Der Ausgang des Prozesses ist keinesfalls sicher (1,19ff; 2,17). Jedoch ist Paulus optimistisch und hoffnungsvoll (1,25), und er äußert die Absicht, bald nach Philippi zu reisen (2,24). Paulus befindet sich in leichter Haft60 und kann z.B. Besuch empfangen (2,19ff; 4,10ff ). Weiter erwähnt Paulus ein Prätorium (πραιτώριον) am Haftort (1,13), und er grüßt von den „Heiligen aus des Kaisers Haus“ (4,22). Schließlich sind im Philipperbrief mehrere Reisen zwischen dem Haftort und Philippi implizit vorausgesetzt, wobei die Anzahl unterschiedlich bestimmt wird. Vor allem Gegner der Rom-Hypothese gehen von bis zu acht Reisen zwischen dem Abfassungsort und Philippi aus.61 Broer nimmt fünf Hist.eccl. III,36,13-15 zur Verfügung. Die Kap. 10–12 und 14 sind nur lateinisch überliefert. Zu den Teilungshypothesen für Polyc (13 und 1–12;14) aufgrund der Spannung zwischen Polyc 9,2 und 13,2 vgl. Pilhofer, Philippi I, 206-212. 59 Nahezu singulär dürfte die Position von Manson, Date, 151-158, sein, dass Paulus den Brief als freier Mann schrieb, und zwar aus Ephesus. 60 Zu den Haftbedingungen in der frühen Kaiserzeit vgl. Michaelis, Gefangenschaftsbriefe 589-591; Standhartinger, Welt, 146-155. 61 Beispielsweise wurde nach Michaelis, Einleitung, 206, die Strecke zwischen Philippi und dem Ort der Haft vor dem Brief viermal zurückgelegt und vier weitere Reisen waren geplant.

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Reisen an, Reicke sogar nur zwei.62 Folgende Anlässe zu Reisen zwischen den beiden Orten liegen nahe: a) die Nachricht von der Haft des Paulus nach Philippi; b) die Sendung des Epaphroditus mit einer Gabe zu Paulus; c) die Benachrichtigung der Gemeinde über die Erkrankung ihres Gesandten; d) die Kunde über die Sorge der Gemeinde erreicht Paulus; e) die Sendung des Epaphroditus mit dem Brief; f ) der Plan, Timotheus zu senden; g) die Hoffnung auf die Rückkehr des Timotheus mit ermutigenden Nachrichten; h) die Absicht, selbst nach Philippi zu reisen. Demnach gehen dem Absenden des Briefes mindestens vier Reisen voraus. In 3,2ff ist eine Auseinandersetzung mit judenchristlichen Gegnern vorausgesetzt, die aber nicht genau zu bestimmen sind, sodass sich kein wirklich verwertbares Argument ergibt. Mit Hinweis auf Phil 1,26.30; 4,15f wird behauptet, dass Paulus seit Gründung der Gemeinde nicht mehr dort gewesen war.63 Meines Erachtens sind die Stellen nicht eindeutig. Die Notwendigkeit, den Brief in eine Gefangenschaft des Paulus zu datieren, schränkt die Diskussion weitgehend ein. Als mögliche Haftorte werden Rom (Apg 28), Cäsarea (Apg 23,23ff ) und Ephesus diskutiert.64 Seit dem 2. Jh. bis zum 18. Jh. war es nahezu unbestritten, dass Paulus den Philipperbrief während seiner Gefangenschaft in Rom schrieb, womit der Brief auf ca. 60 n.Chr. zu datieren wäre.65 Es gibt jedoch zumindest einzelne abweichende altkirchliche Zeugnisse. Der Kanon Muratori datiert die Gefangenschaftsbriefe auf die dritte Missionsreise.66 Origenes geht in seiner Einleitung zum Römerbriefkommentar offenbar nicht von einer römischen Abfassung des Philipperbriefes aus.67 Grundsätzlich ist die altkirchliche Tradition zwar ein zu berücksichtigendes Argument, aber worauf diese Tradition 62 Vgl. Broer, Einleitung, 363; Reicke, Caesarea, 284. Silva 6 geht von drei Kontakten zwischen der Ankunft des Paulus in Rom und der Abfassung des Philipperbriefes aus, die mühelos innerhalb ca. eines halben Jahres möglich gewesen seien. 63 Vgl. Schenk 338; Müller 17; Michaelis, Einleitung, 207. Aus dieser Behauptung sollte man kein Argument für Ephesus als Abfassungsort ableiten. So auch Kümmel, Einleitung, 286; Broer, Einleitung, 364. 64 Vergleichsweise ausführlich ist die Forschungsgeschichte zum Abfassungsort des Philipperbriefes dargestellt bei Michaelis, Datierung, 7-63; Michaelis, Einleitung, 204-211. In neuerer Zeit hat Dockx, Lieu et date, 238-243, die These einer Abfassung des Briefes in Korinth vertreten. Diese Außenseiterposition hat zu Recht keine weitere Zustimmung gefunden. Zur Auseinandersetzung mit Dockx vgl. Martin/Hawthorne xlv-xlvi. 65 Vgl. Kümmel, Einleitung, 284, Anm. 5. Unter den zahlreichen Vertretern der Rom-Hypothese sind u.a. Bengel, Bockmuehl, Bruce, Dodd (Studies, 83-128), Fee, Holsten, Meyer/ Franke, O’Brien, Reicke, Schmid (Zeit und Ort, 132), Schnelle, Silva, Wick, Zahn. 66 Vgl. Michaelis, Datierung, 56-58. 67 Vgl. Origenis Commentariorum in epistolam S. Pauli ad Romanos praefatio (Einleitung des Kommentars zum Römerbrief ), in: PG 14, 833f.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

basierte, ist nicht mehr zu erkennen, möglicherweise ebenfalls auf den im Phil zu findenden Indizien.68 Schon J. Schmid, selbst ein Vertreter der Rom-Hypothese, konstatierte im Hinblick auf die altkirchliche Behauptung einer Abfassung des Philipperbriefes in Rom: Es „läßt sich nicht nachweisen, daß dieser Anschauung eine alte Überlieferung von geschichtlichem Wert zugrunde liegt.“69 Vielmehr wurden dabei offenbar Phil 1,13 und 4,22 auf Rom gedeutet. Für eine Abfassung des Briefes in Rom werden folgende Argumente ins Feld geführt. Die Erwähnung des Prätoriums (πραιτώριον [ praitōrion]) in Phil 1,13 lässt sich mit Rom verbinden, wobei nicht in erster Linie an die Prätorianerkaserne zu denken ist (dagegen spräche Apg 28,30), sondern eher an die prätorianische Garde,70 wobei der Begriff in diesem Sinne allerdings im NT sonst nicht verwendet wird. Da die Prätorianergarde aus mehreren tausend Soldaten bestand,71 stellt sich die Frage, wie ὅλος [holos] (ganz) in Phil 1,13 verstanden werden soll. Dass οἱ ἅγιοι … οἱ ἐκ τῆς Καίσαρος οἰκίας [hoi hagio i… hoi ek tēs Kaisaros oikias] (die Heiligen aus des Kaisers Haus; Phil 4,22) erwähnt werden, lässt sich bei der Annahme von Rom als Abfassungsort sehr einfach erklären. Weil die Wendung aber in einem weiteren Sinne für Mitglieder der kaiserlichen Familie und für Kaisersklaven (auch ehemalige) steht, ist mit Personen aus dem kaiserlichen Haus im ganzen römischen Reich zu rechnen. Freigelassene Kaisersklaven sind ohnehin nirgends auszuschließen.72

68 Ein Beispiel aus der patristischen Literatur findet sich bei Theodoret, Interpretatio XIV epistolarum Sancti Pauli Apostoli, Praefatio, 41, der für die römische Abfassung des Philipperbriefes auf Phil 4,22 verweist. Vgl. auch Chrysostomus, In epistolam ad Philippenses commentarius, 178. Letztlich ist für Silva 7 die Bezeugung durch die Tradition das ausschlaggebende Argument, Rom den Vorzug zu geben. Schon in der subscriptio des Briefes wird in manchen Handschriften Rom als Abfassungsort genannt (ἐγράϕη ἀπὸ Ῥώμης), u.a. in B1 und 1739, in den wichtigsten allerdings nicht (î46, B*, ‫א‬, A usw.). Gegenüber einer zu starken Gewichtung der subscriptiones ist Vorsicht geboten, da auch bei Gal und 2Thess in der subscriptio jeweils Rom in einigen Handschriften als Abfassungsort genannt ist, was nach einhelliger Auffassung nicht richtig ist. 69 Schmid, Zeit und Ort, 1. 70 So u.a. O’Brien 20f; Fee 34f. 71 Nach J.B. Campbell, Art. Prätorianer, DNP X (2001), 262-263, installierte Augustus zunächst mindestens neun cohortes praetoriae (vermutlich jeweils 500 Mann stark) als stehende Truppe. Diese wurde bis zur Zeit Caligulas auf 12 Kohorten verstärkt und umfasste unter Vitellius 69 bis zu 16 Kohorten à 1000 Mann. Seit 23 n.Chr. waren die Prätorianer in einer einzigen Kaserne in Rom stationiert. 72 Vgl. Michaelis 74-75; Feine, Abfassung, 88-98; Deissmann, Licht vom Osten, 202, Anm. 3, und insbesondere die Auslegung zu 4,22.

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Für Rom wird weiter damit argumentiert, dass Paulus nur vor dem Kaiser ein Todesurteil als Möglichkeit einkalkulieren musste, denn überall sonst hätte Paulus sich durch die appellatio der drohenden Verurteilung entziehen können.73 Dass Festus sich nach Apg 25,12 erst berät, ist ein Indiz dafür, dass es für ihn einen gewissen Ermessensspielraum gegeben haben könnte, die Berufung auf den Kaiser zuzulassen oder abzulehnen,74 sodass Paulus nicht nur erst in römischer Haft mit der Möglichkeit eines baldigen Todesurteils rechnen musste. Die Kollekte wird im Philipperbrief nicht erwähnt. Dies könnte man damit erklären, dass sie schon abgeschlossen ist,75 wobei dann auch Cäsarea als Abfassungsort infrage käme. Dieses Argument spricht aber auch nicht zwingend gegen Ephesus, denn es wäre möglich, dass die Kollekte (zumindest hinsichtlich Makedonien) erst nach dem Brief in Gang gekommen ist.76 Gegen die Annahme einer Abfassung des Briefes in Rom spricht die Tatsache, dass es keinen Hinweis gibt, dass Timotheus mit Paulus in Rom war, was man dann voraussetzen müsste. Phil 2,24 passt nicht zur Absicht des Paulus, von Rom nach Spanien zu reisen (Röm 15,22ff ). Freilich könnte man eine Änderung der Reisepläne des Paulus postulieren, aber überzeugende Gründe dafür fehlen.77 Wenn gegen Rom damit argumentiert wird, dass die Irrlehrer von Phil 3,2ff für die Zeit der römischen Gefangenschaft unwahrscheinlich sind, ist Vorsicht geboten. Es ist schwer zu bestimmen, gegen wen genau sich die Polemik in Phil 3 richtet, sodass dieses Argument wenig Gewicht hat.78 73 So u.a. O’Brien 22f. Nach C. Paulus, Art. Appellatio, DNP I (1996), 900, bewirkte die appellatio wie auch die provocatio „die sofortige und unabänderliche Einstellung des laufenden Verfahrens oder Vorgehens sowie gegebenenfalls die Überweisung an den Angerufenen“. 74 Vgl. Rapske Paul, 188. Auch Broer, Einleitung, 362, meint mit Hinweis auf Sueton, Galba 9,1 und Josephus, Bell II,308, dass ein Statthalter nicht jede appellatio zulassen musste. 75 Vgl. u.a. Schluep-Meier 15. 76 Thornton, Zeuge, 232, geht davon aus, dass zum Zeitpunkt der Abfassung von 1Kor die Kollekte noch allein Sache der Korinther war und noch nicht die makedonischen Gemeinden betraf. Wenig überzeugend ist Schnelles These, dass die sprachlichen Eigentümlichkeiten im Proömium auf Rom hinweisen (Schnelle, Einleitung, 154). Schnelle selbst nennt mehrere Parallelen zwischen Phil und 2Kor, der unumstritten nicht aus der römischen Zeit stammt. Aus dem Begriff ἐπίσκοποι (1,1) sollte man nicht vorschnell auf eine Nähe zu den Pastoralbriefen schließen (gegen Schnelle, Einleitung, 154). Die ἐπίσκοποι sind vermutlich leitende Mitarbeiter der (Haus-)Gemeinde(n) in Philippi (vgl. zu 1,1). 77 Gegen Schnelle, Einleitung, 155, mit Broer, Einleitung, 364. Ob Paulus hoffte, nach seiner Reise nach Spanien Philippi besuchen zu können, so Reicke, Caesarea, 284, entzieht sich unserer Kenntnis. 78 Ähnlich Kümmel, Einleitung, 287.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Wenn auch in jüngster Zeit weniger stark vertreten, sprechen gute Gründe für eine Abfassung in Cäsarea.79 In Cäsarea gab es ein πραιτώριον (Apg 23,35), das in ntl. Zeit als Residenz des römischen Prokurators diente. Phil 4,22 könnte sich nach Martin/Hawthorne auf kaiserliche Verwaltungsbedienstete beziehen,80 wobei sich dann die Frage nach der Wahrscheinlichkeit stellt, dass diese in so großer Zahl zur Gemeinde übergetreten waren, dass sie als eigene Gruppe empfunden wurden. Paulus befand sich in leichter Haft (Apg 24,23), was der Schilderung in Phil 2,25-30; 4,10-19 entspricht. Innerhalb der zwei Jahre sind mehrere Reisen zwischen Cäsarea und Philippi vorstellbar. Die antijüdische Polemik in Phil 3 lässt sich nach Robinson am besten mit Cäsarea verbinden, wo Paulus es mit einer fanatischen jüdischen Opposition zu tun hatte, die für den Apostel sogar eine Todesbedrohung dargestellt habe.81 Vor Gericht konnte Paulus mit einem Freispruch rechnen (Apg 26,32).82 Die in Phil 2,24 geschilderte Reiseplanung und Hoffnung ist jedoch zumindest nach der Appellation kaum mehr erklärbar. Man müsste annehmen, dass Paulus hoffte, auf dem Landweg nach Rom gebracht zu werden und dabei durch Philippi zu kommen. Freilich könnte Paulus den Brief auch schon vor der Appellation geschrieben haben. Wie groß die Gemeinde in Cäsarea war und ob in ihr eine Aufsplitterung, wie sie in Phil 1,15-18 beschrieben wird, möglich gewesen ist, wissen wir nicht.83 Die Annahme einer Abfassung in Ephesus, die in den Winter 54/55 oder das Frühjahr 55 zu datieren wäre, findet in neuerer Zeit zunehmend Unterstützung.84 Freilich muss die Frage gestellt werden, warum die Apg keine Ge79 Für Cäsarea als Abfassungsort votierte erstmals Heinrich E. G. Paulus (Introductionis in Novum Testamentum capita selectoria. Jena 1799), vgl. Michaelis, Einleitung, 205; Kümmel, Einleitung, 288; Martin/Hawthorne xlvi. Für Cäsarea ausgesprochen haben sich auch Lohmeyer 3f; Hawthorne (1. Aufl. 1983 – in der von Martin bearbeiteten zweiten Aufl. wird zwar eigentlich von einer Abfassung in Ephesus ausgegangen [l], in der Kommentierung von 1,12ff ist aber wie in der ersten Aufl. Cäsarea vorausgesetzt [42ff]); Robinson, Das Neue Testament, 69; Fuchs, Ort, 85. 80 Vgl. Martin/Hawthorne xlvi. 81 Von den Juden in Rom berichtet Lukas keine solche Feindschaft, vgl. Apg 28,21-28. 82 Vgl. Robinson, Das Neue Testament, 69. 83 Gegen Wick, Philipperbrief, 184, der meint, dass Cäsarea so klein war, dass ohnehin jeder über die Haft des Paulus informiert gewesen wäre, weshalb 1,13 wenig Sinn ergeben würde. Cäsarea war aber eine wichtige Hafenstadt an der internationalen Via maris, die nach Damaskus führte, und außerdem Statthaltersitz der römischen Provinz Judäa. Nach Josephus, Bell III,409 gehörte Cäsarea zu den größten Städten Judäas. T. Leisten, Art. Caesarea Maritima, DNP II (1997), 925, gibt die Größe des Stadtgebiets mit 500 ha an. R. Riesner, Art. Cäsarea Maritima, GBL I (1987), 224f, rechnet mit mehreren Tausend Einwohnern. 84 Für eine Abfassung des Philipperbriefes in Ephesus ausgesprochen haben sich u.a. Manson, Date, 157f (schon 1939); Broer, Einleitung, 360-365; (eher zurückhaltend) Carson/

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fangenschaft des Paulus in Ephesus erwähnt. Allerdings ist der paulinische Leidenskatalog in 2Kor 11,23-29 (vgl. 2Kor 6,5 und 1Clem 5,6) sehr viel umfangreicher, als die Apg vermuten lassen würde. Auch wenn 1Kor 15,32 („ich habe in Ephesus nach menschlicher Weise mit wilden Tieren gekämpft“) eher übertragen zu verstehen ist und deshalb nicht als eindeutiger Beleg für eine ephesinische Gefangenschaft dienen kann,85 wird eine solche von vielen Forschern angenommen.86 Als Erster hat A. Deißmann 1897 die These einer ephesinischen Gefangenschaft vorgetragen.87 Auch 2Kor 1,8-11 könnte einen ernsten Konflikt zwischen Paulus und den ephesinischen Behörden voraussetzen.88 Möglicherweise darf man in dem marcionitischen Prolog zu Kol (apostolus iam ligatus scribit eis ab Epheso) einen altkirchlichen Beleg für eine ephesinische Gefangenschaft sehen.89 Bei der Annahme von Ephesus als Abfassungsort lassen sich die im Phil geschilderten Reisepläne relativ gut mit den Nachrichten aus der Apg und dem 1Kor kombinieren.90 Da es im Detail leider unterschiedliche Auffassungen gibt, welche Reisen im Phil vorausgesetzt werden, ist es schwierig zu entscheiden, bei welchen Entfernungen diese vorstellbar sind. Die Reise des Timotheus (Phil 2,19) nach Philippi könnte in Apg 19,22 erwähnt sein. Evtl. ist auch eine Parallele zu 1Kor 4,17; 16,10 zu sehen.91 Danach war Timotheus zum Zeitpunkt der Abfassung des 1. Korintherbriefes auf dem Weg nach Korinth, wird dort aber erst nach Eingang des 1Kor erwartet. Dies ist denkbar, wenn der Brief auf dem Seeweg transportiert wurde und Timotheus auf dem (längeren) Landweg reiste, wobei er leicht eine Zwischenstation in Philippi

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Moo, Einleitung, 610-614; Koester, Paul, 72; Martin/Hawthorne xxxix-l (wobei Hawthorne in der von ihm allein besorgten ersten Auflage für Cäsarea votiert hat); Michaelis, Datierung; Feine, Abfassung; U.B. Müller; Omerzu, Prozeß, 326ff; Pokorný/Heckel, Einleitung, 287f; Schenk 338; Walter; Theobald, in Ebner/Schreiber, Einleitung, 377379; Wojtkowiak, Christologie, 65-73. 287-293; Böttrich, Verkündigung, 84. Vgl. Omerzu, Prozeß, 321; Schnabel, 1. Korinther, 947. Zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten für θηριομαχέω vgl. a.a.O., 947-949. Vgl. zu 1Kor 15,32 auch Michaelis, Datierung, 44-49. Vgl. Riesner, Frühzeit, 189-194. Ob die Annahme einer Gefangenschaft des Paulus in Ephesus durch den Philemonbrief gestützt wird, da es viel leichter vorstellbar ist, dass Onesimus nach Ephesus reisen konnte als nach Cäsarea oder Rom, muss offen bleiben (gegen Müller 21f und Omerzu, Prozeß, 328f ). Auch Cäsarea kommt als Abfassungsort für den Philemonbrief infrage, vgl. Thornton, Zeuge, 204-216. Vgl. Deissmann, Licht vom Osten, 201, Anm. 4. Vgl. Omerzu, Prozeß, 321f. Zur Problematik vgl. Michaelis, Datierung 54-56. Kritisch gegenüber der Annahme einer lebensbedrohlichen ephesinischen Gefangenschaft Schwemer, Stadt, 228, Anm. 158. So auch Michaelis, Einleitung, 208; Ernst 33; vorsichtiger Kümmel, Einleitung, 290. Nach Hyldahl, Chronologie, 25, ist Phil 2,19-23 mit 1Kor 4,17 (und 16,10f ) zu verbinden und Phil 2,24 mit 1Kor 4,18-21.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

hätte machen können. Fasst man ἔπεμψα in 1Kor 4,17 als epistolarischen Aorist92 auf, könnte Timotheus auch der Überbringer des 1Kor sein. Paulus selbst plant nach Pfingsten (1Kor 16,893), zu datieren wäre dies ins Jahr 54, von Ephesus über Makedonien nach Korinth zu reisen (1Kor 16,5). Somit könnte der Philipperbrief vor dem 1Kor und aus Ephesus geschrieben worden sein.94 Wenn es sich aber im 1Kor um eine andere Sendung des Timotheus (nach Achaia) gehandelt hat als im Phil (nach Makedonien) und Timotheus schon wieder zurückgekehrt ist, dann könnte man den 1Kor auf die Passazeit (?) 54 (1Kor 5,7f ) datieren und den Philipperbrief auf Ende 54 / Anfang 55. Für diese Rekonstruktion spricht, dass die Gefangenschaft eher am Ende des Aufenthalts in Ephesus plausibel ist. (Paulus traf in der ersten Hälfte des Jahres 52 in Ephesus ein und blieb drei Jahre [Apg 20,31].) Nach Apg 20,1 reiste Paulus nach den tumultartigen Ereignissen (Apg 19,23-40) von Ephesus nach Philippi, was ganz der in Phil 2,24 geäußerten Absicht entspricht. Wenn sich auch nicht definitive Sicherheit gewinnen lässt, so erscheint doch die zuletzt genannte Rekonstruktion als die wahrscheinlichere.95 Das zweimalige „bald“ (ταχέως [tacheōs]) in Phil 2,19.24 wird als Argument für Ephesus in Anspruch genommen, da eine kürzere Entfernung als von Rom bis Philippi vorausgesetzt sei.96 Der kurze Reiseweg zwischen Ephesus und Philippi (ca. 150 km) lässt den regen Austausch zwischen diesen beiden Orten am leichtesten möglich erscheinen. Allerdings besteht kein Konsens hinsichtlich der durchschnittlichen Reisedauer von Rom nach Philippi. Nach Thompson sind für eine Reise vorwiegend auf dem Landweg knapp 40 Tage anzunehmen. Reiste man überwiegend per Schiff, benötigte man bei günstigsten Verhältnissen für dieselbe Verbindung 20 – 30 Tage und in der Gegenrichtung 20 – 40 Tage, wobei widrige Winde usw. die Reisezeit leicht verdoppeln konnten. Für die Strecke Ephesus – Philippi veranschlagt Thompson ca. 92 Mit dem epistolarischen Aorist nimmt der Verfasser die Perspektive der Empfänger des Briefes ein („ich habe gesandt“ – Vergangenheit), obwohl die Sendung des Briefboten erst noch erfolgen wird, vgl. Siebenthal, Grammatik, § 199j. 93 Die Absicht von Paulus, bis Pfingsten in Ephesus zu bleiben, widerspricht nicht Phil 2,24 (gegen Müller 19), da zwischen beiden Briefen ein größerer Zeitraum gelegen haben kann. 94 Vgl. dazu Thornton, Zeuge, 231, Anm. 53. Er verweist auf Suhl, Paulus, 141-144. 213215, und Hyldahl, Chronologie, 22-26, die diese These (anders als Ollrog, Mitarbeiter, 244f ) vertreten. Thornton selbst will keine Entscheidung treffen. Schon Michaelis, Gefangenschaft, 133, votierte für eine zeitliche Ansetzung von Phil vor den Ereignissen von Apg 19,21f und damit auch vor 1Kor, vgl. Michaelis 6 und ders., Datierung, 62. 95 Vgl. Riesner, Chronology, 19-20. 96 Genau genommen sagt ταχέως in Phil 2,19 nichts über die Reisedauer aus, sondern bezieht sich lediglich auf den Beginn der Reise.

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eine Woche.97 Nach Broer schwanken die Angaben zwischen zwei und neun Wochen, wobei Broer mit Hinweis auf Aristides zwei Wochen für möglich hält, auch wenn man diese nicht unbedingt als Normalfall voraussetzen dürfe.98 Weitere Beobachtungen sprechen für Ephesus. Der Prozess im Phil kann nicht einfach mit dem in Apg 23ff beschriebenen gleichgesetzt werden. Nach dem Phil ist Paulus wegen seiner Evangeliumsverkündigung in Haft. Apg 23ff berichten von einer Haft, die in den Vorwürfen von Verstößen gegen das jüdische Gesetz und von Tempelentweihung begründet ist.99 Lukas war mit Paulus in Rom, er wird aber im Phil nicht erwähnt, was damit übereinstimmen würde, dass in der Apg der Bericht über die Zeit in Ephesus kein „Wir“-Bericht ist.100 Schließlich wird behauptet, dass die Auseinandersetzung mit den Judaisten besser in die frühere Zeit (vgl. 1Kor und 2Kor) passe als in die Spätzeit des Paulus, was gegen Rom und für Ephesus spricht.101 Vorsicht ist geboten, weil zunächst der Charakter der Judaisten genauer bestimmt werden müsste. Die Frage, ob es in Ephesus ein Prätorium gab, wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Da man aber ein weiter gefasstes Bedeutungsspektrum des Begriffs annehmen darf (vgl. zu 1,13), ist es sehr gut möglich, ja sogar naheliegend, dass es in Ephesus ein Prätorium gegeben hat, obwohl die Stadt in einer senatorischen Provinz lag. Die Annahme von Ephesus als Ort der Abfassung wird nicht notwendigerweise dadurch erschwert, dass die Kollekte im Unterschied zu anderen Briefen aus dieser Zeit nicht erwähnt wird.102 Wie schon angemerkt, könnte die Kollekte zunächst Makedonien noch nicht betroffen haben. Das Fehlen eines Hinweises auf die Kollekte könnte aber auch noch eine andere Ursache gehabt haben. Nach 2Kor 8,1ff waren die Gemeinden in Makedonien sehr arm.103 Dennoch hat Paulus auch die Makedonier an der Kollekte beteiligt (2Kor 97 Vgl. Thompson, Holy Internet, 60-65. 98 Vgl. Broer, Einleitung, 363. Leider gibt Broer keine Belegstelle als Begründung an. 99 Vgl. Kümmel, Einleitung, 289f. Er selbst beurteilt dieses Argument allerdings skeptisch. 100 Dabei ist erstens die lukanische Verfasserschaft der Apg vorausgesetzt und zweitens die Annahme, dass Paulus Lukas im Philipperbrief erwähnt hätte, wenn er bei ihm gewesen wäre. 101 So schon Feine, Abfassung, 13-43. 102 Anders Wedderburn, Collection, 102, der wegen der fehlenden Erwähnung der Kollekte eine Abfassung des Philipperbriefes in Ephesus ausschließt. Seines Erachtens wäre die Leerstelle nur zu erklären, wenn der Phil vor dem Start der Kollekte oder nach ihrer Beendigung geschrieben worden wäre. Wedderburn nimmt deshalb eine Abfassung des Philipperbriefes in Rom an. 103 Der Ausdruck ἡ κατὰ βάθους πτωχεία (2Kor 8,2) bezeichnet tiefste/größte Armut.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

9,1ff ). Weil aber die Gemeinde in Philippi Paulus bereits direkt unterstützte, ist es denkbar, dass Paulus diese Gemeinde im Hinblick auf die Geldsammlung für die Jerusalemer Gemeinde überging, um die Philipper nicht über ihre Möglichkeiten hinaus zu belasten.104 Gewissheit gibt es in dieser Frage leider nicht. Außerdem wird in 1Kor 4,17; 16,10f von der Reise des Timotheus gesprochen, ohne die Kollekte zu erwähnen. Wahrscheinlicher dürfte sein, dass Paulus davon ausging, dass er im Phil, den er nach dem 1Kor geschrieben hat, zur Kollekte nichts schreiben muss, da sein enger Vertrauter Lukas in Philippi vor Ort war und sich zuverlässig um die Angelegenheit kümmern würde. In Apg 20,4 sind die Mitarbeiter des Paulus auf der dritten Missionsreise genannt, die Paulus in Makedonien und Griechenland begleiteten und zugleich als Kollektenbeauftragte gelten können. Dabei stehen Sopater für Beröa, Aristarch und Sekundus für Thessalonich, Gajus für Derbe, Timotheus für Galatien oder Korinth und Tychikus und Trophimus für die Provinz Asia. Lukas steht für Philippi, nennt sich aber nicht namentlich, obwohl er ebenfalls die Reise mitgemacht hat, wie anhand der Wir-Berichte zu erkennen ist. Ohnehin könnte Epaphroditus Anweisungen hinsichtlich der Kollekte überbracht haben,105 wobei sich dies nicht weiter verifizieren lässt. In seiner kenntnisreichen, jedoch wenig rezipierten Untersuchung beschreibt Feine viele charakteristische Übereinstimmungen bzw. Parallelen des Philipperbriefes zu den älteren Paulusbriefen, insbesondere zu den beiden Thessalonicher- und den beiden Korintherbriefen.106 Die Parallelen zu Kol und Eph beschränken sich dagegen auf die paulinischen Grundlagen. Einige Forscher lassen die Frage nach dem Abfassungsort des Philipperbriefes bewusst offen, da sich keine sichere Entscheidung gewinnen lässt. Dibelius hält Rom und Ephesus für möglich, Kümmel Ephesus und Cäsarea.107 Ernst sieht zwar gewichtige Gründe für Ephesus, die aber nicht für ein definitives Votum genügen.108 Sicherheit lässt sich bei den Fragen nach Abfassungsort und -zeit in der Tat nicht finden. Ein Wahrscheinlichkeitsurteil ist 104 Omerzu, Prozeß, 327 erwägt, dass Paulus keinen Anlass hatte, auf die Kollekte hinzuweisen, weil die Sammlung in Philippi völlig problemlos verlief. Martin/Hawthorne xliv halten das paulinische Schweigen zur Kollekte für erklärungsbedürftig. Sie versuchen es damit zu begründen, dass für Paulus die Zukunft ungewiss war (vgl. a.a.O., xlvii). 105 Vgl. Michaelis, Datierung, 38-40. 106 Vgl. Feine, Abfassung, 47-60. Exemplarisch seien genannt: Die Nähe von 2Kor 8,9 und Phil 2,6-8 ist offensichtlich. Nur in 2Kor 8,23 und Phil 2,25 bezeichnet ἀπόστολος den Überbringer einer Geldspende. Das Bild vom στέϕανος wird in 1Thess 2,19 und Phil 4,1 sehr ähnlich verwendet, vgl. auch 1Kor 9,25. 107 Vgl. Dibelius 98; Kümmel, Einleitung, 291. 108 Vgl. Ernst 33.

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aber gleichwohl möglich. Aufgrund der gewichtigeren Argumente wird in diesem Kommentar eine Abfassung des Briefes in Ephesus vorausgesetzt. Exegetische Entscheidungen, die eng mit der Frage nach dem Abfassungsort bzw. der Abfassungszeit zusammenhängen, sind aber mit der gebotenen Vorsicht zu treffen. Verfasst wurde Phil nach dem 1Kor und vor dem 2Kor, da Letzterer nicht mehr aus einer Gefangenschaft und wohl auch nicht mehr von Ephesus aus geschrieben worden ist.109 Die Frage der Gegner ist unmittelbar verknüpft mit der Frage nach dem Abfassungsort und der Abfassungszeit. Im Phil sind zwei Gruppen zu unterscheiden, mit denen sich Paulus kritisch auseinandersetzt. Dies sind zum einen in Phil 1,15-18 die rivalisierenden Verkündiger (vgl. die Auslegung z. St.) und zum anderen die eigentlichen Gegner von Paulus, die er in Phil 3 mit aller Schärfe angreift.110 Das Augenmerk hat sich hier auf die Letztgenannten zu richten. Bezüglich der Identifizierung der Gegner gibt es verschiedene Vorschläge,111 u.a.: 1) Gnostisierende Libertinisten, die sich im Hinblick auf ihren Lebenswandel und ihre Verkündigung als Feinde des Kreuzes erweisen.112 Sie haben das Evangelium missverstanden als Legitimation, die Begierden des Fleisches zu befriedigen. 2) Christusverleugner in der Verfolgungszeit.113 3) Juden, die auf Bekehrungen zum Judentum abzielten.114 4) Judaisierende Judenchristen, die entgegen dem Evangelium der freien Gnade die Gesetzesobservanz (inklusive der Beschneidung) für unverzichtbar zur Erlangung der Rechtfertigung erklärten.115 5) Judenchristen, die stolz auf ihre Abstammung waren und auf die Beschneidung und Einhaltung von Speisegeboten insistierten.116

Auf die Gegner kann nur aus der Argumentation des Paulus gegen sie zurückgeschlossen werden. Somit ist bei der genauen Identifizierung Vorsicht geboten. Dass sich Paulus mit jüdisch geprägten Menschen auseinandersetzt, darf man aber ziemlich sicher annehmen (vgl. zu Phil 3,2-6.18f). Es handelt sich um eine Gruppe, die die Philipper von außen bedroht, was eigentlich nur 109 Vgl. Riesner, Frühzeit, 267 und Broer, Einleitung, 365. 110 Eine Minderheit, vgl. z.B. Bloomquist, Subverted, 277, meint, dass es auch in Kap. 3 um die Gegner geht, auf die Paulus wahrscheinlich schon in 1,15-18 anspielt. Dass die Mehrheit dieser These mit Recht nicht folgt, zeigt die Auslegung zu 1,15ff. 111 Vgl. Martin/Hawthorne 221. 112 Vgl. Schmithals, Irrlehrer, 332. 113 Vgl. Lohmeyer 153. 114 Vgl. u.a. Niebuhr, Heidenapostel, 88-92: „nicht-, ja antichristliche Juden“ (92). 115 Vgl. J. J. Müller 105f. 116 Vgl. u.a. Martin/Hawthorne 221.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

möglich ist, wenn sie ein missionarisches Anliegen hat, für das die Bezeichnung „böse Arbeiter“ (3,2) spricht. Die vorauszusetzende Missionsaktivität spricht dagegen, dass die Gegner nichtchristliche Juden waren. Es gibt nämlich keine stichhaltigen Hinweise auf eine vorchristliche jüdische Mission.117 Innerhalb einer römischen Kolonie ist eine solche erst recht nicht vorstellbar. Die Gegner in Phil 3 sind also Judenchristen. Es ist nahezu Konsens, dass diese auch für Heidenchristen die Beschneidung forderten, was insbesondere mit Phil 3,2f (katatomē – peritomē) begründet wird. Niebuhr bezeichnet die Gegner als „Agitatoren für Beschneidung“.118 In der Tat lässt sich Phil 3 relativ gut als eine paulinische Reaktion auf eine gegnerische Hochschätzung der Beschneidung verstehen. Nach Niebuhr war für Christen das Eingehen auf die Beschneidungsforderung insofern attraktiv, als sie sich damit unter den Rechtsschutz der Synagoge bzw. des Judentums als religio licita hätten flüchten können.119 Auch wenn der Konsens außerordentlich breit ist, ist er hier zu prüfen. Zugestimmt werden kann ihm darin, dass sich Phil 3 gegen Judenchristen richtet. Es ist aber keinesfalls sicher, dass diese Judenchristen für Heidenchristen eine Beschneidungsforderung erhoben haben.120 Eine solche wird nämlich nicht explizit erwähnt und stünde in eklatantem Widerspruch zu den Beschlüssen des Apostelkonzils (Apg 15,28f ), wobei natürlich Abweichler einzukalkulieren sind. Wahrscheinlich handelt es sich in Phil 3 nicht um die Judenchristen aus Galatien, für die das Thema Beschneidung zentral war. Der Galaterbrief kann aber zeitlich vor dem Apostelkonzil eingeordnet werden121 und somit vor der Klärung der Beschneidungsfrage. Die These der Beschneidungsforderung in Phil 3 fußt im Wesentlichen auf dem Begriff κατατομή [katatomē] in Phil 3,2. Genau dieses Wort ist jedoch offenbar ein paulinischer Neologismus.122 In der griechischen Bibel ist κατατομή ein Hapaxlegomenon. In den möglichen Parallelstellen, vor allem Gal 5,12, vgl. aber auch Mt 19,12; Deut 23,2 und Jes 56,3f, stehen andere Wörter. Allein aus der Verwendung von κατατομή lässt sich nicht einfach die These ableiten, dass die Gegner für Heidenchristen die Beschneidung forderten.

117 Vgl. Riesner, Jewish Mission, 211-250; ähnlich Schnabel, Mission, 94-175. 118 Niebuhr, Heidenapostel, 88. 119 Vgl. Niebuhr, Heidenapostel, 97. Vorsicht ist m.E. aber geboten, der Synagoge in Philippi, wenn es sie denn gab, allzu viel Einfluss beizumessen. 120 So auch Wolff, 2. Korinther, 7, zum Philipperbrief. 121 Vgl. Carson/Moo, Einleitung, 561-564; Riesner, Chronology, 20. 122 κατατομή ist nach Menge, Großwörterbuch, ein spezifisch ntl. Terminus.

I. Einleitung

31

Zwar nicht zu beweisen, aber zumindest historisch möglich und plausibel, ist folgende Rekonstruktion: In Phil 3 und in 2Kor 11 könnten dieselben Gegner gemeint sein.123 Zumindest vertraten die Gegner in Philippi und die in Korinth offenbar ähnliche Ansichten. 2Kor ist zeitlich hinter Phil einzuordnen, wenn man für Phil eine Abfassung in der ephesinischen Gefangenschaft annimmt. Während Paulus in 2Kor 11 ziemlich genau weiß, wer die Gegner sind, erweckt Phil 3 den Eindruck, dass die Gegner noch nicht in Philippi angekommen sind oder zumindest noch nicht richtig Fuß gefasst haben. Da es in Philippi kaum Juden gab, dürfte es sich um Judenchristen gehandelt haben, die von anderswo herkamen, evtl. sogar aus Korinth. Inhaltlich handelt es sich in Phil 3,2f um eine ähnliche Problematik wie in 2Kor. Die Gegner in 2Kor 11 reklamieren für sich die Zugehörigkeit zum Heilsvolk, die irdische Augenzeugenschaft und apostolische Privilegien (Bezahlung). Das Problem ist das Auftreten der Gegner in apostolischer Autorität und in Konkurrenz zum Apostel Paulus. In 2Kor 11,16-18 spricht Paulus über das „Rühmen“. Die Gegner rühmen sich nach dem Fleisch (2Kor 11,18), während Paulus betont, sich in Christus zu rühmen (Phil 3,3, vgl. 2Kor 10,17). Auch die Argumentation des Paulus weist viele Parallelen auf. Zum Beispiel spricht er nur in 2Kor 5,16 und Phil 3,8.10 von der Erkenntnis Christi. Eine nahe Parallele ist noch Eph 3,19. Insbesondere in 2Kor 11,21f findet sich ein ganz ähnliches Argumentationsschema wie in Phil 3. Das Thema Beschneidung spielt in 2Kor 11 keine Rolle mehr. Dies könnte man damit erklären, dass Paulus in Phil 3 weniger detailliert über die Gegner informiert ist. Seine Abwehr bleibt deshalb allgemeiner und enthält auch das Stichwort Beschneidung. Möglicherweise sind in Phil 3 daneben auch jüdische Speisevorschriften im Blick (vgl. zu 3,19). Explizit gegen eine Beschneidungsforderung argumentiert Paulus nicht. Es wäre nach dieser Rekonstruktion auch nicht nötig gewesen, da sie vermutlich gar nicht erhoben wurde. Paulus geht es aber darum, den Anspruch der Gegner auf jüdische Privilegien abzuwehren.

4. Literarische Integrität des Briefes Die literarische Integrität des Philipperbriefes wurde im 20. Jh., insbesondere seit den 50er-Jahren (u.a. W. Schmithals und F.W. Beare124), vielfach in Zwei123 So auch Friedrich 131-135. Friedrich 134 konstatiert nach einer Analyse der Parallelen zwischen 2Kor und Phil, „daß die Gegner des Paulus in Phil. 3 im großen und ganzen dieselben sind, mit denen er es im zweiten Korintherbrief zu tun hat.“ 124 Vgl. Schmithals, Irrlehrer, 299-309; Beare 1-5.

32

Der Brief des Paulus an die Philipper

fel gezogen.125 Auch wenn in neuerer Zeit die Zahl der Vertreter der Einheitlichkeit wieder zunimmt,126 müssen die Argumente für die Briefteilungshypothesen hier diskutiert werden. Grundsätzlich hat man zu unterscheiden zwischen der These einer Zweiteilung des Briefes und der These einer Dreiteilung. Im Detail gibt es unter den Vertretern der verschiedenen Thesen wiederum jeweils einige Differenzen, wie die nachfolgende tabellarische Übersicht verdeutlicht, die sich auf einige exemplarische Beiträge der letzten circa 30 Jahre konzentriert.127 Dreiteilung

1,1– 2,30

3,1a

3,1b

Standhartinger 2008128

B

B

B

C

B

Reumann 2008

B

B

B

C

C

Koester 2007

B

B

B

C

C

B

B

Eckey 2006

B

B

B

C

C

C

Walter 1998

B

B

Red.

C

C

Bormann 1995

B

B

B

C

Schenk 1984

B

B

B

C

Zweiteilung

3,2- 4,1 4,2-3 4,4-7 4,8-9 4,10- 4,2121 20 23 B

B

C

A

B

A

B

C

A

A (B?)

B

C

A

B

C

B

B/C?

A

A/B?

C

B

B

C

A

A

C

C

B

C

A

A

B/C? B/C? B/C?

1,1– 2,30

3,1a

3,1b

3,221

4,1

4,2-3 4,4-7 4,8-9 4,1020

4,2123

Theobald 2008129

A

A

B

B

B

A

A

B

A

A

Becker 1989

A

A

A

B

A

A

A

B

A

A

125 Die älteste (nachzuweisende) Briefteilungshypothese findet sich 1803 bei J.H. Heinrichs (Paulli Epistolae ad Philippenses et Colossenses graece), nicht schon 1685 bei Stephanus Le Moyne, wie gelegentlich in der Literatur irrtümlicherweise behauptet wird, vgl. Reed, Analysis, 125f. Siehe auch Bormann, Philippi, 109, Anm. 1. 126 Vgl. Pokorný/Heckel, Einleitung, 275f. 127 Für umfassendere Übersichten der Forschungsbeiträge von den 50er-Jahren bis ca. 1990 vgl. Bormann, Philippi, 110; ähnlich Wick, Philipperbrief, 30. Für eine Auflistung der Vertreter der verschiedenen Positionen vgl. Reed, Analysis, 127-130. Vgl. auch seine Tabelle, die Teilungshypothesen von fast fünfzig Forschern von Heinrichs (1803) bis Bormann (1995) berücksichtigt (a.a.O., 146-149). 128 Vgl. Standhartinger, Imitating, 418-420. 129 Vgl. Michael Theobald, in: Ebner/Schreiber, Einleitung, 373.

I. Einleitung

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Allen Hypothesen gemeinsam ist, dass verschiedene Briefteile ineinander verschränkt sind. Der Brief, der 1,1–3,1 enthält, findet in Kap. 4 eine Fortsetzung. Konsens besteht unter den Vertretern der Teilungshypothesen darin, dass in 3,1-2 eine Bruchstelle ist. Bei der Dreiteilungshypothese wird vielfach Brief A als Dankbrief, Brief B als Gefängnisbrief mit der Warnung vor Uneinigkeit und Brief C als Kampfbrief mit dem Angriff auf die Irrlehrer aufgefasst. Man geht weiter davon aus, dass die drei Schreiben von einem Paulusschüler (?) zu einem Brief redaktionell zusammengefasst wurden, evtl. auch zur leichteren Verwendung im Gottesdienst. Ungleich vielfältiger sind die Differenzen (auch wenn man nur die Dreiteilungshypothesen in den Blick nimmt). Freilich wird man den Differenzen unterschiedliches Gewicht beimessen müssen. Besonders umstritten ist die Zuordnung von 4,2-9 und 4,2123. Neuere Forschungsbeiträge, die von einer Einheitlichkeit des Philipperbriefes ausgehen, sind Ogereau 2014, Wojtkowiak 2012, Witherington 2011, Carson/Moo 2010, Hansen 2009, Silva 22005, Schnelle 52005, Martin/Hawthorne 2004, Byrnes 2003,130 Müller 22002 und Bockmuehl 1998. Eine eigene These hat Mengel131 ins Spiel gebracht. Er geht davon aus, dass Paulus den Philipperbrief in mehreren Etappen geschrieben hat. Zum Beispiel sei zwischen Phil 2,24 und 2,25 eine Nahtstelle. Während der Krankheit von Epaphroditus habe Paulus neue Nachrichten aus Philippi erhalten. So könne auch erklärt werden, dass in Kap. 3 eine völlig andere Gemeindesituation vorausgesetzt werde als in den Kapiteln 1–2. Nach Mengel ist der Philipperbrief zwar nicht ganzheitlich, aber literarisch einheitlich. Er ist also über einen längeren Zeitraum entstanden, es handelt sich aber nicht um eine Kompilation verschiedener Einzelbriefe bzw. Brieffragmente.132 Ähnlich vermutet Müller eine Diktatpause während des Schreibens des Briefes, in der Paulus neue Nachrichten aus Philippi erhalten hat. Nach Ansicht von Müller hat Paulus erst nach Abfassung von 1,1–3,1 vom Auftreten gegnerischer Missionare gehört.133 So habe 3,2 eine gewisse überleitende Funktion. Eine Diktierpause, verbunden mit dem Erhalten neuer Nachrichten, lässt sich zwar nicht eindeutig verifizieren, ist aber eine plausible Hypothese, die manche vermeintlichen Probleme zu erklä130 Vgl. Byrnes, Conformation, 164. 131 Vgl. Mengel, Studien. 132 Mit dieser Position zumindest verwandt ist die von H.D. Betz, Literary Genre, 133-154). Er nimmt einen ursprünglichen Brief an (1,1–3,1a; 4,1-9.21-23) und in 3,1b-21 und 4,10-20 zwei „separate attachments“ (a.a.O., 134) bzw. „two, originally non-epistolary, segments“ (a.a.O., 135). Charakteristisch für die These von Betz ist: „Paul’s letter to the Philippians is certainly his own literary composition“ (a.a.O., 153). 133 Vgl. Müller 11. 138-141, vgl. zudem die Auslegung auf S. 212.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

ren vermag. Ohnehin sollte man in Rechnung stellen, dass es unter den Christen der ntl. Zeit mehr Austausch in Form von Briefen oder Besuchen gegeben haben kann, als in den Schriften dieser Zeit erwähnt wird.134 An dieser Stelle sind die wichtigsten Argumente für Briefteilungen im Überblick zu nennen und zu diskutieren.135 Das älteste externe Indiz, das als Begründung für eine Dekomposition des Philipperbriefes angeführt werden kann, findet sich in dem Brief von Polykarp von Smyrna. Er erwähnt in Polyc 3,2 Briefe (ἐπιστολαί, Plural!) des Paulus an Philippi, spricht allerdings in Polyc 11,3 von einem Brief (epistula, Singular). Die pluralische Formulierung muss keinesfalls zwingend für eine Dekomposition des kanonischen Phil sprechen. Es ist vorstellbar, dass Paulus mehrere Briefe an die ihm nahestehende Gemeinde geschrieben, aber nur einer die Zeiten überdauert hat. Denkbar wäre auch, dass Polykarp aus Phil 3,2 abgeleitet hat, dass Paulus mehrere Briefe nach Philippi geschrieben hat.136 Dass Polyc 1,1 Phil 4,10 nachahmt, ist m.E. nicht sicher, weil nur maximal vier Worte übereinstimmen. Damit ist auch Schenks Folgerung, dass Polykarp Phil 4,10 als Briefanfangsteil gekannt hat,137 abzulehnen. Ein externes Indiz für die Einheitlichkeit des Briefes ist, dass der Philipperbrief in den Schriftenkanons des 2. Jh.s (Marcion; Kanon Muratori) ebenso erscheint wie in den altlateinischen Versionen und der syrischen Peshitta.138 Auch der handschriftliche Befund (î46; Zitate und Anspielungen in der patristischen Literatur) des überlieferten Textes bietet keine Hinweise auf irgendeine Teilung. Interne Indizien für die Einheitlichkeit sind die semantischen Parallelen, die sich jeweils über den ganzen Brief, also auch die oft postulierten Teile erstrecken, z.B. Demut und Selbstaufopferung (2,3.7; 3,8.12-15) oder Leidensbereitschaft (1,29-30; 2,17; 3,10).139 Jedoch stößt man, dem Text des kanonischen Phil folgend, auf mehrere Auffälligkeiten, die Exegeten als Argument für Teilungshypothesen gewertet haben.

134 Vgl. zur umfänglichen Kommunikation zwischen den ersten Gemeinden Thompson, Holy Internet. 135 Für weiterführende und vertiefende Analysen und Diskussionen vgl. Reed, Analysis; Bormann, Philippi 108-118; Becker, Paulus, 325-350; W. Schenk, Der Philipperbrief in der neueren Forschung (1945–1984), ANRW II.25,4 (1987), 3280-3286. 136 Hansen 17 nennt noch eine weitere Erklärungsmöglichkeit, nämlich dass Polykarp den Plural benutzte, „to denote an epistle of great importance“. 137 Vgl. Schenk, Der Philipperbrief in der neueren Forschung (1945–1984), ANRW II.25.4 (1987) 3280-3313: 3284. 138 Vgl. Lightfoot, Philippians, 76. 139 Vgl. sehr ausführlich Reed, Analysis, 140f.416f. oder kürzer Hansen 18.

I. Einleitung

35

1. Das Proömium reißt wesentliche Themen des Briefes an: Dank an Gott für den Einsatz der Gemeinde (vgl. 4,10-20) und Mahnung zum rechten Verhalten (vgl. 1,27–2,18). Die Auseinandersetzung mit und die Warnung vor den Irrlehrern (Kap. 3) spielen jedoch keine Rolle. Ohne die Annahme einer Briefteilungshypothese ist dies befriedigend wohl nur zu erklären, wenn man, ähnlich wie Mengel, damit rechnet, dass der Verfasser sie beim Schreiben des Proömiums noch nicht im Blick hatte und wohl auch noch nicht haben konnte. 2. Sendungs- und Reisepläne (2,19-30) stehen gewöhnlich am Ende eines Briefes, wobei freilich noch ein Segen folgen kann. Da sich 2,25-30 wie ein Begleitschreiben lesen lassen, wird von vielen angenommen, dass ursprünglich der baldige Abschluss des Briefes avisiert worden sei, wofür auch auf die Wendung τὸ λοιπόν in 3,1 verwiesen wird. Wie Alexander gezeigt hat, ist dieses Argument jedoch nicht unproblematisch, denn es gibt andere antike Briefe, in denen λοιπόν nicht den Schluss einleitet.140 Insofern kann man λοιπόν auch mit „weiter(hin)“ übersetzen. Wojtkowiak erklärt die frühe Stellung der beiden Empfehlungen mit ihrer Funktion, die voranstehende Paraklese zu veranschaulichen,141 bevor die konfliktbehafteten Fragen in Phil 3 behandelt werden. 3. Als besonders abrupt wird der Bruch zwischen 3,1 und 3,2 angesehen, wo Paulus einen ganz anderen Ton anschlägt. Die hier beginnende heftige Auseinandersetzung ist vorher auch thematisch nicht angeklungen. Offenbar ist in 3,2–4,1 eine andere Gemeindesituation vorausgesetzt. Freilich könnte dieser Wechsel daher rühren, dass Paulus neue Nachrichten über die Situation der Gemeinde in Philippi erhalten hat (s.o.). Mit der fehlenden Erwähnung der paulinischen Gefangenschaft in diesem Briefabschnitt kann nicht argumentiert werden, denn die Situation des Paulus muss nicht in jedem Briefabschnitt erwähnt werden. Es ist zumindest fraglich, ob man von Paulus bei der Behandlung der verschiedenen Fragen bei jedem Themenwechsel eine explizite Überleitung erwarten muss. Weiter kann man in Phil 3,2-4 auch Verknüpfungen zu Phil 2,19-31 entdecken. Die „bösen Arbeiter“ (κακοὶ ἐργάται, 3,2) haben eine gewisse Entsprechung in 2,21 (οἱ πάντες τὰ ἑαυτῶν ζητοῦσιν), wobei Timotheus und Epaphroditus (2,19-30) Beispiele für eine gegenteilige Einstellung sind. Dass Paulus in dieser Passage keinen scharfen Ton anschlägt, liegt auf der Hand. Andererseits finden sich kritische Aussagen auch schon in Phil 1,15.17; 2,21, wobei diese sich natürlich auch auf andere Gegner beziehen können und dürften. Zu beachten ist, dass sich der Ton des Paulus 140 Vgl. Alexander, Letter-Forms, 96-97. 141 Vgl. Wojtkowiak, Christologie, 277.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

gegenüber den Adressaten, also den Philippern, auch in 3,2-11 nicht ändert. Die Kritik richtet sich gegen seine Gegner. Das Nebeneinander von positiver (2,29) und negativer Ermahnung (3,2) in 2,29–3,2 in einer Reihe von sechs (präsentischen) Imperativen (προσδέχεσθε, ἐντίμους ἔχετε, χαίρετε, βλέπετε [dreimal]) passt durchaus in den Argumentationsfluss des Briefes in seiner Endgestalt. Wojtkowiak kommt in seiner Untersuchung sogar zu dem Schluss, dass „sich eine logische Abfolge der Briefabschnitte 1,27–2,18, 2,19-30 und 3,2–4,3“142 ergebe, da der mittlere Abschnitt die vorangehenden Mahnungen veranschauliche, die wiederum in 1,12-26 vorbereitet werden. Dies ist durchaus bedenkenswert. An die Beispiele schließt sich, so Wojtkowiak, die Behandlung des Konflikts an. 4. Phil 4,10-20 hat einen gewissen Nachtragscharakter. Der „Dank für die erhaltene Gabe“ in Phil 4 steht hinter Sätzen (4,7 und 4,9b), die auch Segenswünsche am Briefende sein könnten. So werden von manchen 4,4-7 und 4,8-9 als Fragmente der Schlussmahnungen von zwei Briefen aufgefasst. In 4,1019/20/23 wird dann ein eigener Brief gesehen. Allerdings steht der für Paulus typische χάρις-Wunsch erst in 4,23 und nicht schon in 4,7 oder 4,9. In der Tat bildet 4,10 einen Neueinsatz mit einem neuen Thema. Dieses ist jedoch schon in 1,5 erwähnt, sodass es ein starkes Argument dafür gibt, dass 4,10-20 zum gleichen Brief gehören wie 1,5. Von daher ist der Dank in 4,10-20 auch kein nachträglicher Einfall, sondern ein passender Abschluss des Dank-Themas.143 Nach Müller ist der Übergang von 4,9 zu 4,10 assoziativ.144 In 4,4-9 geht es um das evangeliumsgemäße Verhalten, in 4,10-20 lobt Paulus die Gemeinde dafür. Aus der Tatsache, dass in 4,18 keine Krankheit des Epaphroditus erwähnt wird, kann nicht gefolgert werden, dass es sich um einen anderen Brief als in 2,25-30 handelt, denn in 4,18 liegt eine nochmalige Erwähnung der Krankheit keinesfalls nahe. Auch wenn Dank und Freude im Normalfall in der Briefliteratur am Beginn des Briefes ausgedrückt werden, muss dies nicht immer so sein. Briefeingang und Briefende dienen im Philipperbrief der Stärkung der freundschaftlichen Beziehung, letztlich findet sich dieses Anliegen auch in 2,19-30. Ohnehin stellt sich die Frage, warum man einem Redaktor zugestehen will, den Aus142 Wojtkowiak, Christologie, 277. 143 Der Einwand, dass der Dank relativ spät von Paulus geäußert worden wäre, wenn man die in Phil 2,25-30 vorausgesetzte Zeitspanne berücksichtigt, weshalb man in Kap 4,1020 einen eigenständigen ersten Brief sehen will, ließe sich nur halten, wenn man moderne westliche Konventionen hinsichtlich des angemessenen Danksagens als Maßstab anlegt. Vgl. Peterman, Paul’s Gift, 18; ders., Thanks, 261-270; Hansen 19 und die Auslegung zu 4,10-20. 144 Vgl. Müller 14.

I. Einleitung

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druck von Freude und Dank an das Ende eines Briefes zu platzieren, für Paulus aber diese Möglichkeit ausschließt. Von daher steht das entscheidende Argument für die Annahme eines separaten Briefes in 4,10-20 auf einem sehr fragwürdigen Fundament. Analog bewegt sich die Argumentation mit stilistischen Besonderheiten sehr schnell im Kreis. Die Annahme eines Redaktors, der verschiedene Briefe bzw. Brieffragmente zu einem einzigen Brief zusammengefügt hat, löst die Probleme letztlich auch nicht. Man müsste postulieren, dass er Briefeingänge und ‑schlüsse weggebrochen hat (allerdings nicht alle). Vor allem könnte man von einem Redaktor erwarten, dass er die Sprünge im Gedankengang einebnet.145 Weiter bleibt ungeklärt, warum der vermeintlich älteste Brief (mit 4,10-20) vom Redaktor erst am Ende platziert wurde, obwohl der inhaltlich besser am Anfang passen würde. Das Grundproblem ist, dass der Nachweis einer Einheitlichkeit des Briefes nicht die literarische Integrität beweisen kann, da die Einheitlichkeit das Werk eines Redaktor sein könnte, der verschiedene Texte zusammengefügt hat. Auf der anderen Seite belegt die Uneinheitlichkeit des Briefes keine literarische Vielheit, denn der ursprüngliche Autor kann eine nicht überall zusammenhängende Argumentation geführt haben. Reed kommt zu dem Ergebnis, dass nichts bei der Analyse des Philipperbriefes „definitively proves that something in the canonical form of Philippians either (i) could not have been done by a redactor or (ii) could not have been done by the original author.“146 Der Vergleich mit den ca. 800 erhaltenen Cicerobriefen mahnt zur Zurückhaltung gegenüber komplizierteren Briefteilungshypothesen, die mit Interpolationen rechnen,147 auch wenn bei den Cicero- und bei den Paulusbriefen unterschiedlich vorgegangen worden sein kann. Wie in den ntl. Briefen finden sich auch in den Cicerobriefen Brüche im Gedankengang. Ineinanderfügungen von Briefen oder Briefteilen lassen sich jedoch nicht nachweisen. Zwar gibt es auch bei den Cicerobriefen Kompilationen, aber die Redaktion beschränkte sich weitgehend auf „serielle Addition“148, ohne überhaupt den Ein145 So hält es z.B. Theobald (in: Ebner/Schreiber, Einleitung, 375) für möglich, dass der Redaktor mit Absicht den Kampfbrief mit dem Aufruf zur Freude umrahmt hat. Mit gleichem Recht könnte man freilich auch Paulus die Absicht zuschreiben, die Auseinandersetzung mit den Gegnern in den Aufruf zur Freude einzubetten. 146 Reed, Analysis, 407. 147 So auch Klauck, Compilation, 337: „Partition theories are not a priori implausible, but they should be kept rather simple, serial addition being more probable than interpolation of fragments.” 148 Schmeller, Cicerobriefe, 201. Vgl. dazu und zu Teilungshypothesen insgesamt auch Schreiber in Ebner/Schreiber, Einleitung, 258-260.

38

Der Brief des Paulus an die Philipper

druck von Einheitlichkeit wecken zu wollen. Die Abfassung über einen mehrtägigen Zeitraum hinweg ist aber belegt.149

5. Charakter und Aufbau Die Fragen, welchen Charakter der Philipperbrief hat und welche Elemente für seine Struktur leitend sind, werden in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Nach Witherington ist der Brief insgesamt nach rhetorischen Konventionen zu gliedern, nämlich: 1,1-2 Präskript; 1,3-11 exordium; 1,12-26 narratio; 1,27-30 propositio; 2,1–4,3 probatio; 4,4-9 peroratio; 4,10-20 „concluding arguments“; 4,21-23 Grüße und Briefschluss.150 Aber der Philipperbrief ist sicherlich nicht einfach anhand der Maßstäbe der klassischen Rhetorik zu strukturieren. Ohnehin kann Paulus, wenn das Thema von Kap 3 bei der Abfassung von 1–2 noch nicht im Blick war (vgl. S. 35), den Brief als Ganzen „nicht von vornherein nach rhetorischen Prinzipien komponiert haben.“151 Verschiedene rhetorische Analysen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Zuordnung der rhetorischen Bestandteile.152 Ohnehin ist es zumindest fraglich (Walter hält es für „unwahrscheinlich“153), dass Paulus in einem aktuellen Gelegenheitsschreiben auf spezielle literarische Formalitäten, wie sie die spätantike Rhetorik kannte, Rücksicht genommen hat, zumindest abgesehen von Briefeingang (Präskript [1,1f] und Proömium [1,3-11)]) und Briefschluss. Auch nach Reeds eingehender Analyse der Struktur des Philipperbriefes ist dieser nicht als eine rhetorische Rede aufzufassen.154 Anders als Röm, 1Kor, 2Kor und Gal ist der Philipperbrief sehr per-

149 Vgl. Schmeller, Cicerobriefe, 183. 150 Vgl. Witherington 21-30, zur eigentlichen Gliederung 29f. Bockmuehl 243 sieht 4,4-23 als peroratio. 151 Müller 144. 152 Vgl. Hansen, Philippians, 14, der sich ebenfalls gegen eine rhetorische Analyse von Phil ausspricht. Man vgl. mit Witherington nur die Gliederung von Bloomquist, Function, 120-138: 1,1-2 Präskript: 1,3-11 exordium; 1,12-14 narratio; 1,15-18a partitio; 1,18b26 argumentatio: confirmatio; 1,27–2,18 argumentatio: exhortatio; 2,19-30 argumentatio: exempla; 3,1-16 argumentatio: reprehensio; 3,17–4,7 argumentatio: exhortatio; 4,8-20 peroratio; 4,21-23 Postskript. Auch Watson, Rhetorical Analysis, 57-88, meint, dass der Philipperbrief nach rhetorischen Prinzipien strukturiert ist, in der Zuordnung der einzelnen Abschnitte unterscheidet er sich jedoch signifikant. Zum Beispiel sieht Watson die narratio in 1,27-30, die probatio in 2,1–3,21 (die digressio in 2,19-30 erscheint gewissermaßen als Einschub) und die peroratio in 4,1-20. 153 Walter 18f. 154 Vgl. Reed, Analysis, 153-295.442-454.

I. Einleitung

39

sönlich gehalten.155 Zwar lässt er sich nicht einfach nach den Kategorien Briefeingang – Hauptteil – Briefschluss strukturieren, einige epistolographische Elemente sind aber klar zu identifizieren:156 1,1-2 1,3-11 1,12-26 2,19–3,1 4,2-9 4,10-20 4,21-22 4,23

Präskript und Eingangsgruß Danksagung und Gebet (Proömium) beruhigende Mitteilungen über die Situation des Absenders157 Empfehlungen und Bitten abschließende Bitten bzw. praktische Anweisungen Ausdruck der Freude über die erhaltene Gabe abschließende Grüße Segensgruß

1,27–2,18 enthalten verschiedene Anweisungen, für die teilweise ausführlich auf das Beispiel Jesu (2,6-8) verwiesen wird. 3,2–4,1 enthalten weitere Informationen über den Absender und Anweisungen. Im Vergleich zu anderer Briefliteratur enthalten die paulinischen Briefe viele ethische Ermahnungen. Insofern gibt es nicht für alle Briefteile eine eindeutige Zuordnung innerhalb der antiken rhetorischen Struktur. Etwas untypisch ist weiter die Stellung von 4,10-19/20, wenn auch nicht ohne Beispiel.158 Nach dem antiken Briefformular konnten am Anfang und am Ende Äußerungen stehen, die die Beziehung zwischen Absender und Empfänger begründen bzw. aufrechterhalten sollten. Im Phil könnten 1,1-11 und 4,10-22 diese Funktion gehabt haben. Neben möglichen Anleihen bei der griechisch-römischen Rhetorik ist für Paulus ein Einfluss von der jüdischen Epistolographie zu erwägen.159 Doering sieht Parallelen von den paulinischen Briefen zu der Korrespondenz zwischen den jüdischen Diasporagemeinden wie auch zwischen den diversen Vereinigungen von Sportlern und spricht dabei von einer „inneren Öffentlichkeit“.160 Ob Paulus mit diesen Vorbildern zu verbinden ist, bleibt m.E. unsicher, zumal die Beispiele für die jüdischen Diasporagemeinden primär in Ägypten zu finden sind. Dass sich Aufbau und Charakter des Philipperbriefes nicht allein der jüdischen Epistolographie verdanken, ist schon deshalb anzunehmen, weil der Philipperbrief im Vergleich zu den anderen Paulusbriefen Reed, Analysis 409, sieht den Philipperbrief als „a personal, hortatory letter“. Vgl. Reed, Analysis, 289. Klauck, Briefliteratur, 240, fasst diesen Abschnitt als „Selbstempfehlung“ auf. Vgl. Alexander, Letter-Forms, 97-98. Sie sagt: „There is no need to suspect this section of Philippians of being misplaced or mutilated“ (a.a.O., 98). 159 Vgl. Doering, Jewish Letters, insbesondere 377-428. 160 Vgl. Doering, Jewish Letters, 383-393.

155 156 157 158

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Der Brief des Paulus an die Philipper

dadurch auffällt, dass er nur wenige Anspielungen auf das AT enthält (vgl. aber zu Phil 2,6-11). Ein Zitat könnte man allenfalls in der vorpaulinischen Tradition in Phil 2,10f (vgl. Jes 45,23 LXX) entdecken. Wenn aber die Rolle des AT für den Philipperbrief offenbar nicht allzu gewichtig ist, sind auch kritische Anfragen an die von Wick vorgeschlagene am parallelismus membrorum orientierte chiastische Strukturierung des Philipperbriefes zu stellen, zumal jegliche Vergleichsbeispiele aus der antiken Briefliteratur für eine solche Makrostruktur fehlen. Wick verweist zwar auf atl., durch einen parallelismus membrorum strukturierte Texte, aber bei diesen handelt es sich nicht um Briefliteratur. Auch in manchen Details fehlt es Wicks These an Überzeugungskraft, z.B. wenn 2,12-18 und 4,4-9 oder 2,19-30 und 4,10-20 als einander korrespondierend behauptet werden, ohne die jeweilige Funktion der Abschnitte innerhalb des Briefes näher zu beleuchten.161 Mit Recht weist Fitzgerald darauf hin, dass Paulus in allen Kapiteln des Philipperbriefes Freundschaftsterminologie (μία ψυχή, τὸ αὐτὸ φρονεῖν162, κοινωνία, Komposita mit σύν usw.) verwendet.163 Im Phil sind einige Charakteristika des antiken Freundschaftsbriefes erkennbar.164 In einem antiken Handbuch (vermutlich von dem Sophisten Demetrius aus Alexandria, 2. Jh.) wird der Freundschaftsbrief wie folgt charakterisiert: 1. Zwei Personen sind getrennt. 2. Eine Person versucht Kontakt mit der anderen aufzunehmen. 3. Es besteht eine freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden. 4. Der Schreiber versucht, die Beziehung aufrechtzuerhalten.165 Diese Elemente kann man durchaus im Philipperbrief finden. Hansen sieht in diesem zehn Ausdrucksweisen, die den hellenistischen Freundschaftsbriefen entsprechen, dazu zählen Zuneigung (1,8), Partnerschaft (1,5), Einmütigkeit (1,27; 2,2), Jochgenossen161 Zwar trifft es z.B. für 2,19-30 und 4,10-20 zu, dass es sich in beiden Teilen um „Korrespondenz“ (Wick, Philipperbrief, 52) handelt und beide Abschnitte ähnlich lang sind. Es ist auch nicht zu bestreiten, dass manche Vokabeln nur in diesen beiden Abschnitten vorkommen, aber ist dies literarische Absicht? Für andere wichtige Wörter gilt dies nicht, z.B. für πατήρ, worauf Wick selbst hinweist. Vgl. dazu Wick, Philipperbrief, 5154. Vgl. zur Kritik an Wick auch Reed, Analysis, 292f; Standhartinger, Imitating, 424f. 162 Die Kritik von Standhartinger, Eintracht, 151, dass Fitzgerald mit Platon, Alk 126c127d und Dio Chrys 34,20 Stellen anführt, die die Polis- und nicht die Hausebene von Freundschaft thematisieren, ist nur teilweise berechtigt, weil die paulinische Korrespondenz auch nicht nur der Hausebene zuzuordnen ist. 163 Vgl. Fitzgerald, Philippians, 144-147. 164 Vgl. ausführlich dazu Hansen 6-12; Fee 2-7, bei Letzterem auch zur Freundschaft in der griechisch-römischen Welt allgemein. Metzner, Freundschaft, 111-131, meint, anhand seiner Untersuchung zu Phil 2,25-30 für den Phil den Charakter eines Freundschaftsbriefes nachweisen zu können. Die Gabe der Philipper sei sichtbarer Ausdruck der freundschaftlichen Verbundenheit zwischen Paulus und den Philippern. 165 Vgl. Stowers, Letter, 54.

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schaft (4,3), Geben und Empfangen (4,15), gemeinsame Kämpfe und Freuden (1,30; 2,17f ), Anwesenheit und Abwesenheit (1,27; 2,12). Paulus hat diese hellenistischen Elemente und die für Freundschaftsbriefe charakteristische Terminologie christlich adaptiert. Dennoch lässt sich der Philipperbrief nicht einfach exklusiv in die literarische Gattung „Freundschaftsbrief“ einordnen,166 weil sich in ihm, wie oben beschrieben, auch noch andere Merkmale finden, die nicht unmittelbar kennzeichnend für Freundschaftsbriefe sind. Alexander hält den Phil für einen „Verbindungsbrief“167, der primär zum Austausch persönlicher Nachrichten dient und nicht unbedingt einen Hauptteil über ein bestimmendes Thema enthalten muss. Ein größerer Unterschied zum Freundschaftsbrief besteht dabei aber offenbar nicht. Byrnes bestimmt den Philipperbrief als einen „family letter“.168 Resümierend ist David Aune zuzustimmen: „Most early Christian Letters are multifunctional and have a ‘mixed’ character, combining elements from two or more epistolary types.“169 Von daher ist bei jedem frühen christlichen Brief jeweils sein eigener Charakter zu untersuchen. Im Philipperbrief zeigt sich insgesamt eine Integration von verschiedenen Elementen, die teilweise Freundschafts- bzw. Familienbriefen zuzuordnen sind, teilweise ethisch-moralisch charakterisiert sind und teilweise der theologischen Ausdrucksweise des Apostels entstammen.170 Dies resultiert schon daraus, dass Paulus in seinen Briefen, so auch im Phil, verschiedene Intentionen verfolgt.171 Treffend hat dies J.L. White formuliert: „The Apostle Paul appears to be the Christian leader who was responsible for first introducing Christian elements into the epistolary genre and for adapting existing epistolary conventions to express the special interests of the Christian community.“172 Das Neben- und Ineinander verschiedener Elemente wird verständlich, wenn man bedenkt, dass im Philipperbrief ein jüdischer Apostel an eine heidenchristliche Gemeinde in einer in Griechenland gelegenen römischen Kolonie über den christlichen Glauben an einen jüdischen Messias schreibt.

166 So auch Reumann, Letter of Friendship, 100-106; Briones, Thanks, 49f. Ähnlich auch Ogereau, Koinonia, 234-243, der Freundschaft als „framework“ für den Brief bestimmt, aber nicht ein entsprechendes „set of codes and conventions“ (243) voraussetzt. 167 Vgl. Alexander, Letter-Forms, 95. Für antike Parallelen vgl. a.a.O., 93f. 168 Byrnes, Conformation, 165. 169 Aune, Environment, 203. 170 Nach Kennedy, Interpretation, 77, ist die rhetorische Form im Philipperbrief „largely epideictic“. Dies ist m.E. aber kein bestimmendes Element im Phil. 171 Ähnlich auch Hansen 8, der freilich im Phil primär einen Freundschaftsbrief sieht. 172 White, Light, 19.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Im Philipperbrief lassen sich verschiedene Abschnitte ausmachen, ohne dass diese sich einlinig charakterisieren oder mit einem Stichwort inhaltlich zusammenfassen lassen. Beispielhaft lässt sich dies an 2,19-30 veranschaulichen. Hier stehen biographische Nachrichten im Vordergrund, diese sind jedoch mit Mahnungen verbunden (vgl. 2,29). Das Ineinander verschiedener Elemente wie ethische und ekklesiologische Anweisungen (2,16), biographische Notizen und theologische Überlegungen mahnt zur Vorsicht gegenüber allzu schematisierenden Gliederungen des Briefes. Schwierig zu bestimmen ist innerhalb der Struktur des Philipperbriefes die Funktion von 3,1 und 4,1173. Beide Verse könnte man durchaus für sich allein stellen, in beiden Fällen ist aber auch eine gewisse überleitende Funktion zu erkennen, was letztlich ähnlich auch für 2,5 gilt. In der Gliederung werden sie jeweils dem nachfolgenden Abschnitt zugeordnet. Weiter reichende Überlegungen werden in der Auslegung zu den jeweiligen Stellen dargelegt. Gliederung des Briefes 1,1-11 Briefeingang 1,1-2 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß 1,3-11 Proömium: Dank und Fürbitte in der Partnerschaft am Evangelium 1,12-26 Der Fortschritt des Evangeliums und die Ausrichtung auf Christus 1,12-18a Der Fortschritt des Evangeliums 1,18b-26 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde 1,27–2,18 Leben würdig des Evangeliums 1,27-30 Gemeinde und Leiden 2,1-4 Einheit durch Demut 2,5-11 Selbsterniedrigung und Erhöhung Jesu Christi als Vorbild 2,12-18 Bewährung und Vollendung des Heils 2,19-30 Vorbild und Sendung der Mitarbeiter des Paulus 3,1-21 Die Ausrichtung auf Christus, das Ziel des Lebens 3,1-11 Die überragende Bedeutung Christi 3,12-16 Warnung vor falschem Vollkommenheitsdenken 3,17-21 Die Nachahmung Christi, des Retters 4,1-9 Ermahnungen 4,10-20 Paulus und die Philipper: Partnerschaft in der Mission 4,21-23 Postskript: Grüße und Segen

173 Zur umstrittenen Rolle von 4,1 vgl. den Überblick bei Byrnes, Conformation, 166f.

I. Einleitung

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6. Theologische Anliegen Das zentrale (übergreifende) theologische Thema und Anliegen des Philipperbriefes ist Leben auf der Grundlage des Evangeliums (vgl. 1,27). Schon die relative Häufung des Begriffs εὐαγγέλιον [euangelion] weist auf die große Bedeutung der Christusbotschaft (zusammengefasst in 2,6-11) und ihrer Verkündigung innerhalb des Briefes hin. Das Christus-Evangelium ist das Fundament für das Leben der Glaubenden und der Gemeinde. Dabei sind die lebensverändernde Kraft des Evangeliums bzw. des Christusgeschehens (Phil 3,2-11), die in der Christusbotschaft begründete Hoffnung (1; 3,12-21) und die am Evangelium orientierte Gestaltung des Lebens im Blick, die entscheidend durch die Christusorientierung (1,12-26) bestimmt ist. Aus dieser resultieren die Kampf- und Leidensbereitschaft (1,27-30), die Orientierung an der Gesinnung Jesu im Hinblick auf die Einheit der Gemeinde (2,1-11, vgl. 4,2f ), das Miteinander von Gemeinde und Missionar (2,19-30; 4,10-20) und die grundsätzliche Lebenshaltung und Werteorientierung (4,4-9). Die Ausrichtung auf Christus beschreibt Paulus anhand seiner eigenen Christusbeziehung näher. Paulus selbst hat eine Lebenswende weg vom Vertrauen auf jüdische bzw. persönliche Vorzüge hin zu Christus vollzogen. Im Vergleich zur Christusbeziehung und zum in Christus geschenkten Heil ist alles andere wertlos (3,7-11). Von daher ist für Paulus das Leben (bzw. der Sinn des Lebens) Christus (1,21), der somit sein Leben prägt und bestimmt. Paulus sieht sich gegenüber Christus als Knecht positioniert (1,1), vor allem aber ist seine Christusbeziehung mit der Wendung ἐν Χριστῷ en Christō („in Christus“) beschrieben, die engste Verbundenheit des Glaubenden mit Christus ausdrückt (vgl. zu 3,1). Diese schließt eine tief greifende Partizipation an Christus ein, nämlich an seinem Leiden bzw. Tod und an seiner Auferstehungskraft (3,10). Sie hat eschatologisch Bestand, denn Christen haben das himmlische Bürgerrecht und erwarten den wiederkommenden Herrn (3,20, vgl. 4,5), den sie schon jetzt bekennen können (2,11). Dabei macht Paulus bewusst, dass Christsein ein Wachstumsprozess ist (1,9f; 2,12; 3,12-14), in dem es auf die Ausrichtung auf Christus ankommt, der selbst in diesem Prozess der entscheidend Handelnde ist (2,13; 3,12). Christus ist (neben Gott) als Quelle der Gnade und des Segens in der Gegenwart genannt (1,2; 4,7.19), und er ist außerdem der Grund der Freude (3,1; 4,4). Die Ausrichtung auf Christus ist in ethischer Perspektive insbesondere als Maxime für das Handeln relevant. So ist Jesus das leitende Vorbild (2,5-11) für das innergemeindliche Miteinander, das offenbar in Philippi nicht konfliktfrei war (2,1-11; 4,2f ). Jesu Verzicht auf die Gottgleichheit und seine demüti-

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Der Brief des Paulus an die Philipper

ge Selbsterniedrigung bezieht Paulus beispielhaft auf die Gemeindesituation in Philippi. Angesichts der überragenden Bedeutung Christi (3,1-11) und der unbedingten Ausrichtung von Paulus auf den Herrn ist es konsequent, dass Paulus als Apostel bzw. Missionar der Proklamation des Evangeliums höchste Priorität einräumt (1,18). Mit seiner ganzen Person und seinem Wirken stellt er sich in den Dienst der Förderung der Christusbotschaft, selbst in der Gefangenschaft (1,12-18.25f ). Die Förderung des Evangeliums ist das zentrale Anliegen der paulinischen Mission. Paulus versteht sich dabei nicht als allein arbeitender Missionar, sondern sieht sich in einer Partnerschaft mit der Gemeinde, wobei er seine besondere Beziehung zur Gemeinde in Philippi herausstellt. Was Paulus mit den Philippern verbindet, ist die Partnerschaft am Evangelium (1,5). Diese wird darin sichtbar, dass auch die Philipper nicht nur Anteil am Heil haben, sondern dass sie zeugnishaft in der Welt leben (2,15), wie Paulus sich die Verkündigung des Evangeliums zur Aufgabe machen (2,16 [s. z. St.], vgl. auch 1,5) und (mindestens) einen Mitarbeiter zur Unterstützung des paulinischen Missionsteams senden (2,25-30). Weiter informiert Paulus die Philipper über sein Ergehen und gibt ihnen so Anteil daran (1,12).174 Zwischen dem Missionar Paulus und den Philippern, die letztlich seine Missionspartner sind, besteht ein reger Austausch von Nachrichten. Zudem beteiligen sich die Philipper an den Kosten der paulinischen Mission mit einer (vermutlich finanziellen) Gabe (4,10-18). All dies lässt die intensive und freundschaftliche Beziehung erkennen. Die Verbindung zwischen Paulus und den Philippern basiert auf Jesus Christus, dem gemeinsamen Glauben an ihn und in der gemeinsamen Verpflichtung gegenüber dem Evangelium. Dabei ist das Ziel – wie überhaupt im Leben des Christen – die Ehre Gottes (1,11; 2,11; 4,20). Das auf Christus ausgerichtete Leben und die Evangeliumsverkündigung sind nicht unangefochten. In diesem Kontext hat Paulus’ Aufforderung zur Standhaftigkeit ihren Platz. Sie bezieht sich auf die Situation des Kampfes und Leidens (1,27-30, vgl. 1,20; 3,10) wie auch auf die Auseinandersetzung mit Irrlehrern (3,2f15-17). Paulus ermutigt175 die Christen und vergewissert sie ihres Heils, das sie weder durch äußere Anfeindung oder Leiden noch durch Irrlehrer infrage stellen lassen müssen. Leiden lässt sich angesichts der gottfeindlichen heidnischen Umwelt nicht vermeiden und stellt die Wahrheit des Evangeliums nicht infrage, sondern „das Evangelium erzeugt eine Gegen174 Dies dürfte zumindest ein Anlass des Briefes sein (vgl. H.D. Betz, Cost, 125). Eine ganz ähnliche Absicht wird hinsichtlich Epaphroditus erkennbar (2,26-28). 175 Zwar ist der Philipperbrief nicht nur „ein λόγος παρακλήσεως ἐν Χριστῷ “ (so Holsten, Philipper I, 493), aber dies ist durchaus ein Charakteristikum.

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gesellschaft und existentielle Risiken für die Gläubigen.“176 Aber trotz der Konflikte mit der nichtchristlichen Umwelt wie auch der Auseinandersetzungen mit Irrlehrern schlägt Paulus den Ton der Freude an. In allem, auch in den schwierigen Situationen, kann zur Freude über Jesus Christus aufgerufen werden (3,1; 4,4), der Herr über und in allem ist.

7. Textüberlieferung Der älteste Papyrus, der den Phil enthält, ist der um ca. 200 kopierte Chester Beatty Papyrus II î46, der allerdings für den Phil einige Lücken (1,2-4.1617a.28b-29; 2,13.27b-28; 3,9.21b; 4,1.12b-13) aufweist.177 In î46 findet sich auch schon die Überschrift (inscriptio) ΠΡΟΣ ΦΙΛΙΠΠΗΣΙΟΥΣ [PROS PHILIPPĒSIOUS].178 Zwei weitere Papyri mit Textstellen aus dem Phil, leider mit nur kurzen Passagen, sind erhalten, nämlich î16 aus dem 3./4. Jh. (Phil 3,1017; 4,2-8) und î61, der dem alexandrinischen Text zuzuordnen ist (Phil 3,59.12-16). Die wichtigsten Handschriften179 sind außer den Papyri î46 (ca. 200), î16 (3./4. Jh.) und î61 (ca. 700) folgende: Der Codex Sinaiticus (01 bzw. ‫ )א‬und der Codex Vaticanus (03 bzw. B), beide aus dem 4. Jh., belegen den Text vollständig, ebenso der Codex Alexandrinus (02 bzw. A) aus dem 5. Jh. Weiter zu nennen sind die Minuskeln 33 (9. Jh.) und 1739 (10. Jh.), die ebenfalls den kompletten Text des Philipperbriefes enthalten. Wichtig sind auch folgende Handschriften, die den Text oder Teile des Philipperbriefes enthalten: der Codex Ephraemi Syri rescriptus (04 bzw. C) mit Phil 1,23–3,4, der Codex Freerianus (016 bzw. I) mit Phil 1,1-4.11-13.20-23; 2,1-3.12-14.25-27; 3,4-6.14-17; 4,3-6.13-15 und die Majuskel 048 mit Phil 1,8-23; 2,1-4.6-8, alle drei aus dem 5. Jh.; weiter der Codex Claromontanus (06 bzw. Dp) aus dem 6. Jh. (vollständig) und die (späteren, aber den Text des Philipperbriefes voll176 Popkes, Philipper 4.4-7, 248. Lohmeyer hält es für entscheidend, dass im Phil „ein Märtyrer zu Märtyrern spricht“ (Lohmeyer 5, vgl. a.a.O., 70). Diese Aussage ist zu relativieren, denn die Philipper sind nicht unbedingt mit dem Tode bedroht, und auch Paulus hat, zumindest unter Annahme einer ephesinischen Abfassung, noch nicht in der Haft das Martyrium erlitten, aus der der Brief geschrieben ist. Wenn Lohmeyer nahezu durchgängig den Brief vom Martyriums-Thema bestimmt sieht und ihn primär unter dieser Perspektive liest, dann verrückt dies die im Philipperbrief gesetzten Akzente in unzulässiger Weise. 177 Vgl. Wachtel/Witte, Papyrus. 178 Einige weitere, jedoch spätere Handschriften haben ebenfalls diese oder eine ähnliche inscriptio, u.a. ‫א‬2 A B2 I K D, vgl. Wachtel/Witte, Papyrus, 92. Als subscriptio findet sich diese Angabe u.a. in ‫ א‬A B* 33 1739 (mit weiteren Ergänzungen). 179 Vgl. Aland/Aland, Text, 167-170.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

ständig belegenden) Minuskeln 2464 (9. Jh.), 81 (11. Jh.), 1175 (10. Jh.), 2127 (12. Jh.) und 1881 (14. Jh.). In den Schriften der Apostolischen Väter ist zwar keine Stelle zu finden, für die mit Sicherheit ein Zitat aus dem Phil anzunehmen ist, es ist aber wahrscheinlich, dass zumindest Polykarp den Phil gekannt hat und möglicherweise auch Ignatius und Clemens (1Clem).180 Polyc 3,2 und 11,3 belegen, dass Polykarp wusste, dass Paulus mindestens einen Brief an die Philipper geschrieben hat, sie sind aber kein Beweis dafür, dass Polykarp auch deren Inhalt kannte.181

180 Vgl. Marshall, The Pastoral Epistles, 4, und The New Testament in the Apostolic Fathers, 94-95. 181 Löhr, Philipperbrief, 205, sieht mögliche Hinweise auf eine Kenntnis des Philipperbriefes in 1Clem 47,2 (Phil 4,15) und IgnSm 11,3 (Phil 3,15), aber wichtige Kriterien für die Annahme einer Anspielung sind hier nicht erfüllt (zu den Kriterien vgl. Häußer, Christusbekenntnis, 55-57). Die weiteren von Löhr genannten Stellen, nämlich „Ign., Röm 2,2 (Phil 2,17); 6,1 (Phil 1,23); Ign., Sm 4,2 (Phil 4,13)“, können m.E. nicht als Hinweis auf eine Kenntnis des Philipperbriefes aufgefasst werden.

1.1 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß (1,1-2)

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II. Auslegung

1. Briefeingang (1,1-11)

1.1 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß (1,1-2) I Übersetzung 1 Paulus und Timotheus, Knechte Christi Jesu, an alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi leben, mit den Bischöfen und den Diakonen. 2 Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

II Textkritik, Form Textkritische Anmerkungen. Einige Handschriften (B2, D2 K, einige Minuskeln, unter ihnen die bedeutsamen 33 und 1739, und manche Kirchenväter wie z.B. Chrysostomus) lesen statt σὺν ἐπισκόποις die Zusammenschreibung συνεπισκόποις. Diese ist nicht als ursprünglich anzunehmen, weil ein Bezugspunkt für συν- in dem Wort „Mitbischöfe“ fehlen würde und der Brief an alle Gläubigen in Philippi gerichtet ist, vgl. 4,15. Form. Der Aufbau des Präskripts ist dreigeteilt (Absender [superscriptio], Adressaten [adscriptio] und Gruß [salutatio]) und typisch für die paulinischen Briefeingänge. Diese Dreiteilung folgt der in hellenistischen Briefen des 1. Jh.s üblichen Struktur. Allerdings erweiterte Paulus die einzelnen Elemente üblicherweise, wobei dies in den verschiedenen Briefen unterschiedlich geschieht. So werden hier Absender und Adressaten näher charakterisiert, und auch der Gruß ist länger als üblich und darüber hinaus zu einem Segenswunsch ausgestaltet. Möglicherweise geschah dies unter alttestamentlichen und jüdischen Einflüssen, vgl. Esr 7,12 und 2Bar 78,2.1

1 2. Baruch (= Syrische Baruchapokalypse) ist allerdings erst auf den Anfang des 2. Jh.s n.Chr. zu datieren, vgl. A.F.J. Klijn, in: OTP I, 616-617, könnte aber ältere Quellen verarbeitet haben.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

III Einzelexegese 1 Neben Paulus, der als der eigentliche Verfasser des Philipperbriefes zu gelten hat, ist Timotheus als Mitabsender genannt, vgl. 2Kor 1,1; Kol 1,1; 1Thess 1,1; 2Thess 1,1; Phlm 1. Timotheus, der auf der zweiten Missionsreise im Jahr 49 ab Lystra Paulus begleitete (Apg 16,1-3), war den Philippern schon aus der Zeit der Gründung der Gemeinde bekannt (Apg 16). Er dürfte damals relativ jung gewesen sein. Dies und die Tatsache, dass er, anders als Paulus und Silas, nicht inhaftiert wurde, sprechen dafür, dass er in dieser frühen Zeit nicht besonders hervortrat. Gleichwohl sah Paulus in ihm offenbar einen kompetenten Mitarbeiter, den er zusammen mit Silas in Beröa (Apg 17,14) zurücklassen konnte. Beide folgten einige Zeit später Paulus (Apg 17,15), Timotheus wurde aber bald darauf wieder nach Thessalonich zurückgesandt, um die junge Gemeinde zu unterstützen (1Thess 3,1-5). In Korinth stießen Timotheus und Silas wieder zu Paulus (Apg 18,5, vgl. 2Kor 1,19). Zur Zeit des Philipperbriefes fungiert Timotheus als Bote zwischen Paulus und der Gemeinde in Philippi (2,19-24). Die Beziehung von Paulus und Timotheus entspricht einer Vater-SohnBeziehung (2,22). Paulus ist voll des Lobes über seinen Mitarbeiter, den er mit speziellen Aufgaben betrauen kann.

Timotheus ist sicher nicht gleichberechtigter Mitverfasser des Briefes. Dieser ist nämlich ab Kap. 1,3 im Ich-Stil geschrieben. Über Timotheus äußert sich Paulus in 2,19-24 in der 3. Person. Wenn Timotheus aber als Mitabsender genannt wird, dann könnte intendiert sein, dass Timotheus als Mitverantwortlicher für den Briefinhalt gelten soll, indem die Botschaft des Briefes nicht nur von Paulus bezeugt wird, sondern auch von Timotheus, gewissermaßen als zweitem Gewährsmann, der mit Paulus Dienst am Evangelium leistet (vgl. 2,22). Damit wird verdeutlich, dass der Brief mehr als private Korrespondenz ist. Ohnehin ist es naheliegend, dass Paulus mit seinen engsten und vertrauten Mitarbeitern, z.B. Timotheus, zumindest über den Inhalt des Briefes gesprochen hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Timotheus zugleich auch als Sekretär fungiert hat,2 sicher ist dies aber nicht. Sollte es zutreffen, ist dennoch anzunehmen, dass die Rolle von Timotheus über die eines bloßen Sekretärs hinausging, der nach Diktat Silbe für Silbe (syllabatim) oder mithilfe von Ste-

2 Vgl. Hansen 37. Die subsrciptio nennt Epaphroditus, findet sich aber nur in späteren Handschriften.

1.1 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß (1,1-2)

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nographie3 den Text niederschrieb und üblicherweise nicht als Mitabsender genannt wurde.4 Paulus und Timotheus werden gemeinsam näher bestimmt als Knechte Jesu Christi. Nur in Phil 1,1 bezieht Paulus eine einzige Apposition sowohl auf sich selbst als auch auf einen ebenfalls als Absender genannten Mitarbeiter. In allen anderen Briefen sind die Appositionen für Paulus einerseits (Apostel usw.) und seine namentlich genannten Mitarbeiter (Timotheus eingeschlossen!) andererseits (Bruder, vgl. 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Kol 1,1; Phlm 1,1) unterschiedlich. Die Verwendung einer gemeinsamen Apposition wird möglich durch den Verzicht auf den Apostel-Titel, dessen Fehlen in einem Präskript auffällig ist. Da der Philipperbrief aber an eine Gemeinde gerichtet ist, zu der Paulus eine besondere Beziehung hatte, und außerdem Elemente eines Freundschaftsbriefes enthält, ist der Verzicht auf den Hinweis auf die formelle Autorität leicht erklärbar. Außerdem wurde von den Philippern das Apostolat des Paulus wohl kaum bezweifelt. δοῦλος [doulos] kann übersetzt werden mit „Knecht, Diener oder Sklave“. Assoziationen mit Sklaverei in moderner Zeit sind für die ntl. Zeit nur teilweise zutreffend. Sklaven im 1. Jh. konnten verantwortungsvolle Aufgaben übertragen bekommen, aber sie hatten keine Rechte und unterstanden als unfreie Leibeigene vollkommen dem Willen eines anderen. Paulus verwendet den Begriff Sklave nicht nur zur Beschreibung eines sozialen Status: Wenn Paulus Timotheus und sich selbst als Sklaven Christi bezeichnet, dann ist dies eine neue relationale Bestimmung, neu deshalb, weil der Begriff Sklave als Beschreibung der Beziehung zu einer Gottheit zu seiner Zeit unüblich war. Paulus könnte den Begriff δοῦλος vor seinem atl. Hintergrund verstanden haben. Im AT werden besondere, von Gott auserwählte und beauftragte Personen als „Knechte Gottes“ bezeichnet, z.B. Abraham (Ps 104,42 LXX), Mose (Ps 104,26 LXX), Josua (Jos 24,30 LXX); David (1Sam 3,9f; Ps 88,4.21 LXX), Propheten (2Kön 17,13.23 LXX; Jer 7,25; Hes 38,17; Am 3,7), sodass δοῦλος auch eine Ehrenbezeichnung sein kann. Interessanterweise bezieht Paulus das Substantiv δοῦλος nur auf sich selbst oder seine Mitarbeiter (Röm 1,1; Gal

3 Vgl. N. Giovè Marchioli / G. Menci, Art. Tachygraphie, DNP XI (2001), 1205-1208. 4 Vgl. Richards, Letter Writing, 105. Ausführlich zu Rolle und Befugnissen eines Sekretärs vgl. a.a.O., 59-93. Explizit erwähnt ist ein Sekretär in Röm 16,22 (Tertius). Dieser wird im Präskript des Römerbriefes aber nicht als Mitabsender genannt, sodass ein signifikanter Unterschied zu Timotheus im Philipperbrief besteht. Zur Rolle des Tertius und zu den verschiedenen Möglichkeiten des Beitrags eines Sekretärs vgl. Schnabel, Römer 1–5, 18f.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

1,10; Phil 1,1; Kol 4,12; Tit 1,1) und nicht auf alle Christen.5 Inwiefern die besondere Konnotation von δοῦλος für die Philipper nachvollziehbar war, ist fraglich, weil eine umfassende Kenntnis des atl., also wohl des LXX-Hintergrunds, in einer eher wenig jüdisch geprägten Gemeinde nicht vorausgesetzt werden kann. Ausgeschlossen ist dies freilich nicht, wie die diversen Anspielungen auf z.B. Jes 53, den großen Text über den Knecht Gottes, zeigen. Für die Philipper dürfte es jedenfalls nicht nahegelegen haben, δοῦλος als Ehrentitel zu verstehen. Wichtig ist, dass Paulus für δοῦλος einen neuen Bezugspunkt setzt: Er spricht nicht mehr von einem Sklaven JHWHs, sondern bezeichnet sich selbst und seinen Mitarbeiter als Knechte Christi Jesu (δοῦλοι Χριστοῦ Ἰησοῦ). Die Christuszentrierung tritt in dem Präskript stark hervor. In den zwei Versen ist dreimal von Χριστὸς Ἰησοῦς bzw. Ἰησοῦς Χριστός die Rede. Χριστός ist gerade in der erstgenannten Wendung nicht nur cognomen, sondern eine messianische Konnotation. Paulus und Timotheus unterstehen ganz dem Willen Jesu. Dem entspricht, dass Jesus sich ganz dem Willen Gottes untergeordnet hat (vgl. 2,7-8). Daher kann man die Existenz als δοῦλος Χριστοῦ als ein Privileg auffassen. Es bedeutet Dienst an dem Herrn, der zur höchsten Höhe erhoben ist und von allen als Herr bekannt werden wird (2,9-11). Vorbild ist Jesu eigene Gesinnung (vgl. Mk 10,43-45). „Sklave“-Christi-Sein bedeutet demütigen Dienst nach Christi Vorbild. Es äußert sich in der Hingabe an Jesus und in der Anbetung Jesu als Herr. Mit der Selbstbezeichnung δοῦλος beansprucht Paulus, dass Gott bzw. Christus durch ihn handelt. Der Gedanke der Leibeigenschaft tritt zurück, denn „nicht das Knechtsein, sondern das Werkzeugsein steht im Vordergrund“6. Wenn Paulus diesen „Ehrentitel“ nicht nur auf sich, sondern auch auf Timotheus bezieht, stellt er klar, dass Gott auch durch Timotheus wirkt (vgl. 2,22; 1Kor 16,10; 1Thess 3,2). Somit verdeutlicht er die Einheit in der Beziehung zwischen zwei Christen, die nicht geprägt ist von Autorität oder Überordnung, sondern von Bescheidenheit und Gleichberechtigung. Damit wird ein zentrales Thema des Briefes vorbereitet (vgl. Phil 2,14; 4,2-3). Als Adressaten des Briefes nennt Paulus alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi leben. Auch wenn so die Bezeichnung ἐκκλησία ersetzt ist (wie auch im Präskript von Röm und Kol), ist die Gemeinde in Philippi ge5 Dies gilt ungeachtet von 1Kor 7,22f, wo doch die Thematik Sklave – Freier vorherrschend ist, also keine metaphorische Bedeutung vorliegt, und 2Tim 2,24, wo es nämlich zunächst um Timotheus geht. Eine Ausnahme könnte man in Röm 6,22 sehen, wo δουλοῦν Gott als Objekt hat. 6 Saß, δοῦλος, 31.

1.1 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß (1,1-2)

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meint. Mit alle wird die Einheit der Gemeindeglieder unterstrichen, wofür es im Brief weitere Belege gibt (1,4.7.8.25; 2,17; 4,21).7 Bei der Bezeichnung Heilige für die Christen (vgl. noch 4,21-22) ist nicht primär eine ethische Qualität im Blick, sondern im Hintergrund dürfte vielmehr die atl. Bundesformel stehen (Ex 19,5-6). Aufgrund von Gottes gnädiger Erwählung, die im Bund ihren Ausdruck findet, ist Israel heilig. Von daher ist hier Heilige zuallererst eine Bezeichnung derer, die zu Gott gehören.8 Wie der atl. Bund aber auch einen kultischen und ethischen Anspruch enthielt, so sind die Heiligen im NT ebenfalls zu einer ihrer Gottesbeziehung entsprechenden Lebensgestaltung herausgefordert (vgl. 1,27). Weiter dürfte die Anrede als Heilige implizieren, dass die Christen in Philippi zum eschatologischen Gottesvolk (Dan 7,18.21f.25.27) gehören.9 Zur Präzisierung des Sachverhalts ist die genaue Bedeutung des Ausdrucks in Christus Jesus (ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ [en Christō Iēsou]) zu beachten. Schon hier im Philipperbrief steht die Wendung in Christus (vgl. S. 214-216) in ganz unterschiedlichen Kontexten, vgl. z.B. 2,1.5 (ethische Ausrichtung) mit 3,14 (Teilhabe am Erlösungswerk und Auferstehungsleben Christi). In Phil 1,1 hat in (ἐν) sowohl eine instrumentale als auch eine lokale Bedeutung. Durch Jesus Christus ist die Schuld gesühnt und werden die Christen zu Heiligen. In Christus, d.h. in dem von Jesus Christus bestimmten Herrschaftsbereich, wird das Heil bewahrt. Letztlich ist das ganze Leben des Christen von Christus her bestimmt. Als vom Christusgeschehen Bestimmte sind Christen Heilige, denn „die Heiligung erfolgt … nicht im eigenen Tun oder im Tun des Gesetzes, sondern in dem, was Christus wirkt und gewirkt hat.“10 In der Verbindung mit Christus leben die Christen in einer neuen Existenz als Glieder des neuen Bundes. In Christus steht gewissermaßen in Parallelität zu in Philippi. Für die Briefadressaten gilt also eine zweifache lokale Bestimmung: Sie wohnen in Philippi, sie sind aber zuallererst in Christus (unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer lokalen Bedeutung von ἐν) verortet. Diese Verbindung mit Christus kann als „Differenzkriterium der jungen Christenheit“11 in Abgrenzung von der jüdischen Synagoge und als eine zentrale nota ecclesiae gelten. Der letzte Bestandteil der Adressatenformulierung mit den Bischöfen und den Diakonen wirft komplexe Fragen auf: Ist mit additiv oder inklusiv zu 7 8 9 10 11

So auch O’Brien 46 und Fee 66. Vgl. Martin/Hawthorne 7; Marshall, Theology, 353. Vgl. Stettler, Heiligung, 517. Neugebauer, In Christus, 103. Rehfeld, Ontologie, 313.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

verstehen? Wer ist mit Bischöfen und Diakonen bezeichnet, und sind es dieselben oder verschiedene Personen? Schenk hat mit Verweis auf 1Kor 1,2; 16,19; 2Kor 1,1 insistiert, dass die Präposition σύν (syn) additiv zu verstehen ist. Zweifelsohne kann σύν im additiven Sinne verwendet werden, aber dies ist jeweils im Einzelnen zu prüfen. Da in 1Kor 1,2; 2Kor 1,1 jeweils Christen an anderen Orten genannt werden, ergibt sich keine exakte Parallele zu Phil 1,1, denn entscheidend ist, was σύν miteinander verbindet. Hier liegt ein inklusives Verständnis von σύν nahe, weil andernfalls die Bischöfe und Diakone nicht in der Wendung an alle Heiligen inkludiert wären. Gerade das explizite alle verbietet es, irgendwelche Gemeindeglieder hier auszuklammern, und dies gilt auch für die Leitenden.12 Die Bischöfe und Diakone werden mit der separaten Nennung, die sich so nur im Philipperbrief findet, hervorgehoben. Ob man hier von Ämtern spricht, hängt primär von der eigenen Definition des Begriffs Amt ab. Dass Paulus erst die Gemeinde nennt und dann ihre Leiter, könnte intendieren, dass diese zwar einen besonderen Dienst gegenüber der Gemeinde haben, aber als Teil des Ganzen nicht Herren derselben sind,13 wobei sie zumindest die besondere Funktion der Aufsicht haben. Wenn hier also die ἐπίσκοποι [episkopoi] und διάκονοι [diakonoi] vom Rest der Gemeinde unterschieden werden, dann ist dies am ehesten als ein Hinweis auf einen offiziellen Status zu deuten. Man hat (seit Chrysostomus) vermutet, dass Paulus diese Funktionsträger im Präskript nennt, weil er sich ihnen gegenüber verpflichtet weiß, wobei dann anzunehmen wäre, dass sie die Sendung der Gabe (Phil 4,10-20) initiiert bzw. verantwortet haben. Den Einwand, dass sie in Phil 4 aber nicht erwähnt werden, weist Müller mit dem Argument zurück, dass Paulus sie am Schluss des Briefes nicht nochmals erwähnen muss, weil er sie schon im Präskript genannt hat.14 Wahrscheinlich sind mit Hansen zwei Gründe anzunehmen.15 Paulus nennt die Bischöfe und Diakone, 1. weil sie die Unterstützung (1,5; 4,15-18) veranlasst haben, und 2. weil sie, wie Paulus somit betont, Verantwortung für die Umsetzung der paulinischen Weisungen übernehmen sollen, die ja auch auf die Einheit der Kirche zielen (vgl. z.B. 4,2-3), die, wenn Euodia und Syntyche zur Leitung gehören sollten, selbst innerhalb dieser nicht gegeben gewesen wäre. 12 So auch Ewald 38 (mit Verweis auf die Verwendung von σύν in der klass. Prosa); O’Brien 48 u.a. 13 Ähnlich Hansen 42 und Fee 67, nach denen die Episkopen und Diakone „alongside of the church“ sind. 14 Vgl. Müller 37f, der sich damit z.B. gegen die Skepsis von O’Brien 49 wendet. 15 Vgl. Hansen 41f.

1.1 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß (1,1-2)

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Die Zusammenstellung von Episkopen und Diakonen findet sich im NT nur noch in 1Tim 3, sie ist aber auch in Did 15,1; 1Clem 42,4f belegt. Umstritten ist, ob die beiden Begriffe ἐπίσκοποι und διάκονοι in Phil 1,1 dieselben Personen bezeichnen (so schon Chrysostomus) oder unterschiedliche. Martin/Hawthorne optieren mit der Übersetzung „overseers who serve“ für die zuerst genannte Möglichkeit und meinen, dass Paulus einen Gedanken betont, den die Philipper und ihre Leiter lernen müssen, der zugleich auch seinem eigenem Selbstverständnis entspricht und der Lehre und dem Vorbild Jesu (Mk 10,45; Phil 2,6-11).16 In 1Tim 3 handelt es sich aber eindeutig um zwei verschiedene Personengruppen. Nimmt man für die Pastoralbriefe eine paulinische Autorschaft an,17 ist der zeitliche Abstand auch bei einer ephesinischen Abfassung des Philipperbriefes überschaubar. Hätte Paulus in Phil 1,1 mit den zwei Begriffen nur ein und dieselbe Personengruppe beschreiben wollen, dann hätte dies leicht klar ausgedrückt werden können, am einfachsten durch die Verwendung eines Partizips (σὺν ἐπισκόποις διακονοῦσιν).18 Weiter wäre es möglich gewesen, nur vor das erste Substantiv einen Artikel zu stellen (σὺν τοῖς ἐπισκόποις καὶ διακόνοις), zumal die zwei Begriffe sich dann gegenseitig näher bestimmen würden.19 Stünde jeweils vor jedem Begriff ein Artikel, wären eindeutig zwei Gruppen anzunehmen. Wie später in Did 15,1 und 1Clem 42,45 stehen die beiden Begriffe in Phil 1,1 artikellos, entweder weil sie nicht genauer determiniert sind oder weil bei präpositionalen Wendungen der Artikel ohnehin fehlen kann. Insbesondere die Rede von den Bischöfen (ἐπίσκοποι [episkopoi]) hat der Forschung Rätsel aufgegeben, denn der Begriff findet sich als Bezeichnung eines Amtsträgers im NT nur noch bei Lukas in einer Paulusrede (Apg 20,28) und in 1Tim 3,2 und Tit 1,7. Außerdem wird er in 1Petr 2,25 auf Jesus bezogen.20 Gerade bei einer Datierung des Philipperbriefes in die 50er-Jahre ist diese Stelle singulär. Für diese Zeit sind ansonsten nur Presbyter erwähnt, während von ἐπίσκοποι frühestens ab den Pastoralbriefen gesprochen wird. Nur Apg 20,28 wäre zeitlich nah bei Phil einzuordnen, wenn die Verwendung des Begriffs in dieser Abschiedsrede tatsächlich 16 Vgl. Martin/Hawthorne 11f. Gehring, Hausgemeinde, 355, hält es zumindest für möglich, dass nicht zwei verschiedene Ämter gemeint sind. 17 Vgl. Neudorfer, 1. Timotheus, 15-19. 18 So auch O’Brien 48, der sich damit explizit gegen Hawthorne wendet. 19 Freilich wäre mit einem Artikel nicht zwingend nur eine Gruppe anzunehmen, denn es ist nicht sicher, dass in Polyc 5,3 Presbyter und Diakone (τοῖς πρεσβυτέροις καὶ διακόνοις) nur eine Gruppe bezeichnen sollen. 20 Der verwandte Terminus ἐπισκοπή wird in Apg 1,20 (Zitat aus Ps 108,8 LXX) und in 1Tim 3,1 verwendet. In Lk 19,44; 1Petr 2,12 liegt eine andere semantische Bedeutung (Heimsuchung) vor.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

auf Paulus zurückgeführt werden kann.21 Walter hält es für unwahrscheinlich, dass schon zur Zeit des Philipperbriefes die Gemeinde mit solch einer Ämterstruktur organisiert war (vgl. Walter 32). Ähnlich vermutet Schenk (80) in der Verwendung von ἐπίσκοποι einen „Anachronismus“. Er nimmt hier eine spätere Glosse an. Gerade wenn man wie Schenk und Walter Briefteilungshypothesen vertritt, kann man das Vorkommen des Begriffs relativ einfach dem angenommenen Redaktor „zuschreiben“, sofern man diesen entsprechend spät ansetzt. Mit Fee ist einzukalkulieren, dass es den Titel von Anfang an in der Gemeinde gegeben haben kann, denn schon in 1Thess 5,12-13 ist von Gemeindeleitern die Rede, welche freilich anders benannt werden.22 Der Plural ἐπίσκοποι ist angesichts des später ausgebildeten monarchischen Episkopats auffällig.23 Wer in Phil 1,1 eine Glosse annimmt, muss also die Verwendung des Plurals für eine Zeit erklären, in der einer Einzelgemeinde eigentlich nur noch ein Bischof vorstand. Im Philipperbrief bezieht sich ἐπίσκοποι noch auf eine Gruppe von Leitern. Erstaunlicherweise ist im Polykarpbrief ein Episkop für Philippi noch nicht in Sicht, obwohl zu dieser Zeit in Kleinasien Bischöfe schon bekannt waren (vgl. Pilhofer, Philippi I, 141f, Anm. 10). Zunächst ist zu klären, vor welchem Hintergrund die Verwendung von ἐπίσκοποι im Philipperbrief zu sehen ist. Pilhofer rechnet mit lokalen Einflüssen auf die Organisation der frühen Gemeinden und sieht in den ἐπίσκοποι „spezifisch philippische Funktionsträger“24. In eine ähnliche Richtung zielt die These von Bormann, der eine Übernahme von „griechischen Begriffen für in der römischen Kultur entwickelte Institutionen“ (Bormann, Philippi, 212) vermutet. Andererseits sind aber auch jüdische Vorbilder nicht auszuschließen. Schon im AT (LXX Num 4,16; 2Kön 11,18; 2Chron 34,12 u.ö.) dient ἐπίσκοπος als Bezeichnung für unterschiedliche Funktionen von „Aufsicht“. Auch bei den Essenern gab es den Aufseher (rQeb;m. [mebaqqer]) als Leiter einer Gemeinschaft, vgl. CD 13,7-9; 14,8-9.13; 15,8-11; 1QS VI,12.20; 4Q275 Fragm. 3,3. Der rQeb;m. lehrte das Gesetz, entschied über die Aufnahme in die Gemeinde, übte Seelsorge und verwaltete das Geld für die Fürsorge. Er wird mit einem Hirten der Herde verglichen, weshalb er als geistlicher Vater der Gemeinschaft gelten kann. Es ist zumindest möglich, dass dies Einfluss auf die Episkopen

21 Nach Thornton, Zeuge, 280, ist zwar die Abschiedsrede insgesamt nach dem Tod des Apostels komponiert worden, allerdings können authentische Erinnerungen eingeflossen sein; „gerade 20,28, der einzige Hinweis auf Sühnetheologie in Acta, ist auffällig.“ 22 Vgl. Fee 67. Auch Ewald 39, Anm. 3, sieht in Phil 1,1 keinen Anachronismus. 23 Vgl. IgnSm 8,1-2; 9,1, wo vom Bischof im Singular gesprochen wird. Von den Diakonen ist auch weiterhin im Plural die Rede, vgl. IgnMagn 6,1, ebenso von den Presbytern. 24 Pilhofer, Philippi I, 142. Eine Herleitung des Begriffs aus Qumran schließt er deshalb aus. Nach Pilhofer kann für Philippi damit gerechnet werden, dass ἐπίσκοπος die Übersetzung von procurator ist und dass man in Philippi Funktionären gerne originelle Titel gab (a.a.O., 146f ). Die Überzeugungskraft dieser These leidet m.E. darunter, dass sie gerade auf Parallelen verzichten muss. Pilhofer selbst betont, dass offenbar nur in Philippi procurator mit ἐπίσκοπος übersetzt wurde.

1.1 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß (1,1-2)

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der christlichen Gemeinden genommen hat.25 Von daher ist es denkbar, dass sich schon in der frühen Kirche eine Organisationsstruktur entwickelte (vgl. Martin/ Hawthorne 10), durchaus nach jüdischen Vorbildern.

Nicht zuletzt unter der Prämisse, dass in paulinischer Zeit die Gemeindestruktur noch nicht so weit entwickelt war, hat man insistiert, dass in Phil 1,1 keine institutionalisierten Gemeindeämter zu sehen sind, sondern Funktionen ähnlich wie in 1Kor 12,28, also „Verwalter und Helfer“.26 Müller hält es für möglich, dass Paulus mit ἐπίσκοποι Leitungsfunktionen bezeichnen könnte, die sonst anders heißen.27 Jedoch lässt sich diese These weder verifizieren noch falsifizieren. Berechtigter erscheint Roloffs Vermutung, dass die in Phil 1,1 genannten ἐπίσκοποι „die Vorsitzenden der dortigen Hausgemeinden waren. Es handelte sich also um ein örtliches Leitungsamt mit geistlicher Qualität.“28 Dies ist auch die Position von Gehring, der darauf hinweist, dass Paulus die Bedeutung der Vokabeln als bekannt voraussetzt. Er hält die Episkopen für die Leiter und Gastgeber der Hausgemeinden,29 die wiederum gemeinsam die Ortsgemeinde leiten. Für diese Position kann als Argument ins Feld geführt werden, dass Paulus in 1Tim 3,5 mit ἐπίσκοπος diejenigen bezeichnet, die der Gemeinde vorstehen und für sie sorgen, wobei Letzteres nicht näher spezifiziert wird, aber durchaus Verwaltungs- und pastorale Aufgaben (Hirtendienst, vgl. Apg 20,28) impliziert haben kann. Es gibt keinen zwingenden Grund, für Phil 1,1 ein völlig anderes Verständnis des Begriffs anzunehmen. Bemerkenswert sind die Parallelen zwischen der Apg und den Pastoralbriefen im Hinblick auf die Gemeindeorganisation. Sie kennen jeweils Älteste und Aufseher (Apg 20,17.28; 1Tim 3,1-7; 5,17-19) und sie betonen die Handauflegung für Gemeindeleiter (Apg 6,6; 13,3; 1Tim 5,22). Auch die Diakone werden in beiden Schriften genannt (Apg 6; 1Tim 3,8-13). Da für die Pastoralbriefe eine enge Bezie-

25 Vgl. Jeremias, Jerusalem, 296-297; Thiering, Mebaqqer, 64-74. Zur Verbindung der Essener schon zur Urgemeinde vgl. Riesner, Essener. 26 Vgl. Müller 36. Ähnlich Hofius, Gemeindeleitung, 188, und Bormann, Philippi, 210, der meint, dass die beiden Begriffe „eher organisatorische Funktionen als Ämter bezeichnen“. 27 Vgl. Müller 36. 28 Roloff, Kirche, 142, ähnlich Stuhlmacher, Theologie II, 38. Wenn unter dem Namen Φίλιπποι, einer Pluralform, mehrere kleine Orte subsumiert worden sind (so R. Riesner, Art. Philippi, GBL III [1989], 1196), dann könnte der Plural ἐπίσκοποι für die Leiter der jeweiligen Hausgemeinden in diesen Orten stehen. 29 Vgl. Gehring, Hausgemeinde, 355, Anm. 560; ihm folgend Schnelle, Theologie, 313. Dagegen bezweifelt Bormann, Philippi, 211, dass die Hausgemeinden der Wirkungsraum der Episkopen und Diakone gewesen sind.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

hung zwischen Paulus und Lukas anzunehmen ist (2Tim 4,11) und nach den WirBerichten der Apg der Verfasser derselben längere Zeit in Philippi lebte, kann vorausgesetzt werden, dass Lukas das System von Aufsehern und Diakonen kannte. Da Lukas, vorausgesetzt er ist mit σύζυγος in Phil 4,3 gemeint (vgl. z. St.), offenbar eine leitende, zumindest aber beratende Funktion in Philippi gehabt haben dürfte, ist es sehr gut möglich, dass er auf die Einsetzung von Ältesten hingewirkt hat.

Das Wort Diakon, διάκονος, bezeichnet ursprünglich den bei Tisch Dienenden (so auch noch in Joh 2,5.9), ein erweitertes Bedeutungsspektrum findet sich aber schon in der Profangräzität (soziale Dienste, Hilfsdienste im Tempel) bis hin zur allgemeinen Bedeutung dienen (vgl. Mk 9,35; 10,43). Paulus verwendet den Begriff spezifisch christlich in vielfältigen Zusammenhängen. So spricht er vom Diener Gottes (2Kor 6,4), Christi (2Kor 11,23; Kol 1,7), des neuen Bundes (2Kor 3,6), der Gerechtigkeit (2Kor 11,15), des Evangeliums (Kol 1,23) und der Gemeinde (Kol 1,25). Als Funktionsbezeichnung innerhalb der Gemeinde wird der Begriff möglicherweise in Röm 12,730 und Röm 16,1 und sicher in 1Tim 3,8 gebraucht. Die genaue Funktion der Diakone in Philippi lässt sich kaum ermitteln. Wahrscheinlich hatten sie „organisatorische und karitative Aufgaben in der Gemeinde“31 und waren so zugleich „Assistenten“32 der Episkopen. 2 In allen seinen Briefen erweitert Paulus die salutatio zu einem Segens- und Friedenswunsch, womit er zugleich den griechischen und den jüdischen Gruß aufgreift.33 Üblicherweise formuliert er sie in einem Nominalsatz unter Nennung des Urhebers bzw. Gebers des Friedens und Segens (identisch in Röm 1,7; 1Kor 1,3; 2Kor 1,2; Gal 1,3; Eph 1,2; 2Thess 1,2; Phlm 3; kürzer in Kol 1,2; 1Thess 1,1; leicht variiert in 1Tim 1,2; 2Tim 1,2; Tit 1,4). Gnade ist ein zentrales Motiv in der paulinischen Theologie und Inbegriff der Zuwendung Gottes zu den sündigen Menschen, die in Gottes Heilstat in Jesu Opfertod am Kreuz und der Auferstehung geschehen ist und in der Rechtfertigung gegenwärtig erfahren wird. Aufgrund dieser Tiefendimension ist χάρις [charis] nicht nur ein Ersatz für die zu erwartende und in antiken Briefen übliche Höflichkeitsfloskel χαίρειν (vgl. Apg 23,26; 15,23), an die es jedoch noch erinnert, sondern direkter Zuspruch des von Gott in Christus gewirkten 30 Nach Haacker, Römer, 305, „könnte διακονία hier pauschal die ständigen, mehr oder weniger institutionalisierten und womöglich hauptamtlichen Tätigkeiten für die Gemeinde meinen.“ 31 Müller 37. 32 Gehring, Hausgemeinde, 355. 33 Ähnlich H. Conzelmann, Art. χάρις κτλ., ThWNT IX, 363-405: 384.

1.1 Präskript: Absender, Adressaten, Gruß (1,1-2)

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Heils an die Philipper (euch). Mit dem Friedenswunsch (εἰρήνη [eirēnē]) greift Paulus das hebr. ~Alv' [schālōm] auf, das auch in der LXX meist mit εἰρήνη wiedergegeben wird. ~Alv' meint nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern das umfassende Heil, das sich im ungestörten Lebensverhältnis zu JHWH (Ps 35,27)34 und ganz universal im Wohlsein manifestiert, das allein von JHWH gegeben wird. In Sach 9,1035 wird schālōm noch deutlicher an den erwarteten messianischen Herrscher gebunden, der Frieden für die Völker verkündet. Insofern enthält der Friedenswunsch eine eschatologische Perspektive, wenn er auch nicht auf diese verkürzt werden darf, da Paulus diesen Frieden als gegenwärtige Realität des Christen ansieht (Röm 5,1, vgl. Eph 2,14). Aufgegriffen wird der Friedenswunsch in Phil 4,7 (vgl. V. 9), wo Paulus den Frieden als Heilsmacht jenseits des menschlichen Erfassens beschreibt. Insgesamt ist die salutatio hier also zweifach akzentuiert: Zum einen wird mit χάρις die Heilstat Gottes in Christus in den Blick genommen, zum anderen wird mit εἰρήνη eine eschatologische Perspektive eröffnet. In 2b legt Paulus dar, von wem Gnade und Frieden zu erwarten sind, nämlich von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Zunächst ist die syntaktische Struktur der verschiedenen Genitive zu klären. Der Genitiv κυρίου könnte durch das καί mit ἡμῶν zu verbinden sein, wofür man mit Hinweis auf die fehlende Wiederholung des ἀπό argumentieren könnte. Jedoch ist πάτερ ἡμῶν eine feste Wendung, sodass der Genitiv κυρίου als durch die Präposition ἀπό bedingt anzusehen ist, wofür auch die eindeutige Formulierung am Anfang des Galaterbriefes (Kap. 1,1, vgl. 1Tim 1,2; 2Tim 1,1; Tit 1,4) spricht. Gott, unser Vater, und der Herr Jesus Christus sind die ultimative Quelle von Gnade und Frieden. Die Apposition unser Vater ist ein möglicher Anklang an das Vaterunser (Mt 6,9). Schon im AT finden sich Belege, dass Gott von einem Kollektiv Vater genannt wird (Jes 63,16; 64,7). Dass ein Einzelner Gott als Vater anredet, ist im Judentum des 1. Jh.s n.Chr. ungewöhnlich, jedoch nicht ausgeschlossen, vgl. 4Q372 und 4Q460. Die Bezeichnung Gottes als Vater der Glaubenden steht im Anschluss an die Praxis Jesu für eine persönliche Beziehung zu Gott, die auf „dem Wunder der Zuwendung Gottes zu den Verlorenen, 34 Vgl. F. J. Stendebach, Art. ~wlv, ThWAT 8 (1995), 38. Vgl. weiter Philip J. Nel, Art. ~lv, NIDOTTE 4 (1997), 130-135. Dagegen betont S.E. Porter, Art. Peace, Reconciliation, DPL (1993), 699, stärker den griechisch-hellenistischen Hintergrund. 35 Die in Phil 1,2 enthaltene christologische Komponente lässt für εἰρήνη auch an die Königsideologie denken, wie sie z.B. in Ps 72 zu finden ist, wo Friede auf die rechte Weltordnung bezogen ist, die die Fruchtbarkeit des Landes wie auch das rechte Verhalten und umfassende Wohlergehen impliziert.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

die in der Menschwerdung, dem Kreuzestod und der Auferstehung des Sohnes Gottes Ereignis geworden ist“,36 basiert. Das Pronomen unser signalisiert, dass auch zwischen Paulus und den Adressaten des Briefes eine enge Beziehung besteht, da sie ja denselben Vater haben. Wenn Jesus hier Herr genannt wird, so sind seine Auferstehung und Erhöhung vorausgesetzt, was im corpus Paulinum besonders in 2,9-11 (vgl. z. St.) zum Ausdruck gebracht wird. Hintergrund ist zum einen und vor allem, dass κύριος [kyrios] die Wiedergabe des Tetragramms in der Septuaginta ist, wenn auch erst in den großen Kodizes des 4./5. Jh.s. Jedoch ist zu beachten, dass dies zwar in der vorchristlichen bzw. ntl. Zeit noch nicht üblich war, sondern man das Tetragramm z.B. in hebräischer Quadratschrift oder althebräischer Schrift schrieb, dass aber das Tetragramm von den Septuaginta-Übersetzern als κύριος verstanden und ausgesprochen worden sein dürfte.37 Schon in ntl. Zeit wird man also den Gottesnamen als κύριος gelesen haben. Zum anderen steht die Verkündigung Jesu Christi als κύριος möglicherweise in bewusstem Kontrast zur griechisch-römischen Gesellschaft, in der Gottheiten und auch der Kaiser als κύριος verehrt wurden.38

IV Zusammenfassung Paulus bezeichnet sich (und Timotheus) als Knecht Jesu Christi und beschreibt sich so als Christus und dessen Willen untergeordnet. Zugleich weiß er sich in seinem Leben und Handeln auf Christus angewiesen, der letztlich der in ihm Wirkende ist. Paulus bezieht diese Selbstbezeichnung auch auf Timotheus und beschreibt so die Beziehung zwischen seinem Mitarbeiter und sich als eine von Gleichberechtigten, die nicht geprägt ist von Autorität und Unterordnung. Entgegen seiner sonstigen Praxis verzichtet Paulus auf den Aposteltitel, vermutlich weil er mit den Philippern ein freundschaftliches Verhältnis hat. Diesen wenigen Sätzen im Präskript sind einige Leitlinien für das Selbstverständnis von Mitarbeitern und Leitern (insbesondere hauptamtlichen) zu entnehmen. Oberste Priorität hat die Christuszentrierung, denn es geht um den Dienst an dem erhöhten Herrn. Dies schließt die absolute Hingabe an Jesus ein. Diese ist gegründet in dem Wissen und dem Vertrauen, dass Gott durch seine Diener bzw. Knechte handelt. Weiter ergibt sich für die Beziehungen von Mitarbeitern (auch hauptamtlichen), dass es nicht primär um Autorität und Unterordnung geht, sondern um ein partnerschaftliches Mitei36 O. Hofius, Art. Vater, TBLNT (22010), 1727. 37 Vgl. Rösel, Adonaj, 6. 38 Ausführlicher zum Kyrios-Titel vgl. Hurtado, Lord, 108-118.

1.2 Proömium: Dank und Fürbitte in der Partnerschaft am Evangelium (1,3-11)

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nander in der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus. Die Bischöfe, wahrscheinlich die Leiter der Hausgemeinden in Philippi, und die Diakone werden bei den Adressaten eigens genannt, möglicherweise weil Paulus sie in die Verantwortung nimmt, seine Weisungen in der Gemeinde umzusetzen. Gemeindeleitung lässt sich nicht reduzieren auf Organisation und Management, sondern sie hat Verantwortung für die Lehre in der Gemeinde und die Aufgabe, die Ausrichtung auf Christus und die Orientierung an der biblischen Lehre zu fördern. Die Adressaten spricht Paulus als „Heilige“ an. Sie sind bestimmt vom Christusgeschehen, durch welches ihnen das Heil zuteilwurde. Genauso sind Christen heute darin zu bestärken, sich aufgrund ihrer in Christus bestehenden Gottesbeziehung als Heilige zu verstehen. Hier ist gegen die Begriffsfüllung in der katholischen Heiligenverehrung das ntl. bzw. paulinische Verständnis neu zu entdecken. In dem Gnaden- und Friedenswunsch wird deutlich, dass Paulus das Heil in Christus gewirkt sieht und dass es in der Gegenwart erfahren wird, dass darüber hinaus aber auch eine eschatologische Perspektive im Blick ist. Quelle des Heils sind für Paulus der Vater und Jesus Christus.

1.2 Proömium: Dank und Fürbitte in der Partnerschaft am Evangelium (1,3-11) I Übersetzung 3 Ich danke meinem Gott in allem Gedenken an euch 4 allezeit in jedem Gebet von mir für euch alle, wobei ich mit Freude bete, 5 (und) für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tag an bis heute, 6 weil ich eben darauf1 vertraue, dass der, der in euch ein gutes Werk angefangen hat, (es) vollenden wird bis zum Tag Jesu Christi. 7 Denn es ist recht für mich, dies über euch alle zu denken, weil ich euch im Herzen habe und weil ihr alle in meinen Fesseln und in der Verteidigung und Bekräftigung des Evangeliums meine Teilhaber der Gnade seid.2 8 Denn Gott ist mein Zeuge, wie ich mich sehne nach euch allen in der Liebe Christi Jesu. 9 Und dies bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr wachse in Erkenntnis und allem Verständnis, 10 damit ihr das prüfen könnt, worauf es 1 Vgl. BDR § 290,5. 2 ὄντας ist ein participium coniunctum zum ersten ὑμᾶς in diesem Vers. ὑμᾶς wird wiederholt, wahrscheinlich um die Verbindung mit πάντας zu verdeutlichen. Eine ähnliche Konstruktion findet sich in Mt 9,27.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

ankommt, (und) dass ihr rein und tadellos seid bis zum Tag Christi, 11 indem ihr erfüllt seid mit Frucht der Gerechtigkeit durch Jesus Christus zur Ehre und zum Lob Gottes.

II Textkritik, Struktur und Form Textkritik. Trotz einigen kleineren Abweichungen ist diese Perikope textkritisch unproblematisch. In V. 7 lesen manche westlichen Handschriften des 6. – 9. Jh.s συγκοινωνοὺς τῆς χάριτός μου.3 Auch wenn diesen ein älterer Textzeuge zugrunde liegen mag, spricht die breitere Bezeugung der ältesten Handschriften (î46 u.a.) für den Text von NA28. Die Variante könnte jedoch ein Hinweis darauf sein, wie frühe Leser diese Textstelle verstanden haben. Grammatikalisch ist es ohnehin möglich, μου – dann ausnahmsweise vorangestellt (vgl. 4,14) – als Attribut von τῆς χάριτος aufzufassen, aufgrund der Wortstellung ist dies aber eher unwahrscheinlich. Nongbri versucht dennoch, auch mit Hinweis auf Theodor von Mopsuestia, den Bezug von μου auf τῆς χάριτος zu stärken. Letztlich entscheidet über das Verständnis aber nicht die Zuordnung von μου, sondern die Bedeutung von χάρις. Zu diskutieren ist weiter das Ende von V. 11, für das mehrere sehr unterschiedliche Varianten bezeugt sind, unter denen die Lesart von î46 δόξαν θεοῦ καὶ ἔπαινον ἐμοί am meisten überrascht.4 Im Einzelnen sind die verschiedenen Lesarten aber jeweils nur in wenigen Handschriften belegt, sodass hier mit guten Gründen NA28 (und somit ‫א‬, A, B u.a.) gefolgt werden kann. Struktur und Form. Auf das Präskript folgt das Proömium, das mit einer Danksagung an Gott beginnt. In formaler Hinsicht entspricht dies anderen antiken hellenistischen Briefen, die ebenfalls mit einer Anrufung Gottes oder der Götter beginnen. Die einleitende Danksagung ist aber zumindest für die zeitgenössischen Papyrusbriefe nicht bestimmend.5 Inhaltlich könnte ein eher jüdischer Einfluss vorliegen. So steht in 2Makk 1,10-17 der Dank an Gott am Anfang des Briefes der Jerusalemer an Aristobulus. Das ständige Gedenken findet sich auch in 1Makk 12,11. Beides sind immer wiederkehrende Elemente in den paulinischen Proömien. Allerdings weist der Philipperbrief charakteristische Unterschiede zu den hellenistischen und auch jüdischen Briefeingängen auf. Er beginnt nicht mit einem Dank für Erfolg oder Gesundheit oder das persönliche Wohlergehen. 3 Diese andere Wortstellung von μου ist im NA28 nicht dokumentiert, vgl. aber Nongbri, Variants, 804. 4 Vgl. hierzu Nongbri, Variants, 807f; Witherington 67. 5 Vgl. Arzt, Thanksgiving, 29-46, der Schuberts gegenteilige These (vgl. Schubert, Thanksgivings, 160-169), die vielfach rezipiert wurde (u.a. Müller 39), revidiert.

1.2 Proömium: Dank und Fürbitte in der Partnerschaft am Evangelium (1,3-11)

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Ganz im Gegenteil erwähnt Paulus seine Fesseln. Den Grund seines Dankens sieht Paulus vielmehr in der Gemeinde in Philippi. Weiter betont Paulus sehr stark seine persönliche und innige Beziehung zu den Philippern, die sich insbesondere darin äußert, dass Paulus die Philipper im Herzen hat und sich nach ihnen sehnt (V. 7-8). Hier unterscheidet sich der Phil auch von den anderen paulinischen Gemeindebriefen.6 Schließlich reicht die Fürbitte in eschatologischer Perspektive (V. 9-11) weit über den Dank hinaus. Sie ist mit der Erwartung des Tages Christi (V. 10) verbunden und zielt letztlich auf das Lob Gottes ab (vgl. Eph 1,12). Die Fürbitte im Proömium ist zwar eine briefliche Konvention (1Makk 12,11; 2Makk 1,3-6), aber dies gilt nicht für die eschatologische Perspektive. Ohnehin lassen sich diese Verse nicht einfach mit Kategorien der Rhetorik oder denen von Briefformularen analysieren, da Paulus hier von seinem realen Gebet und dessen Inhalt berichtet.7 Paulus bringt seine Dankbarkeit und Sehnsucht zum Ausdruck. Er gibt Einblick in seine Gebete für die Gemeinde, deren Gaben und Nöte Paulus sehr gut bekannt sind. Wenn man hier also den Anschluss an ein Briefformular annehmen wollte, dann wäre dieser durch die Perspektive der persönlichen Gottesbeziehung und Frömmigkeit grundlegend verändert. Des Weiteren fungieren diese Verse als Einleitung, indem Paulus einige der Themen anspricht, die in dem Brief noch entfaltet werden, z.B. Dank, Bedeutung der Partnerschaft bzw. Gemeinschaft, Wachstum in Liebe und Erkenntnis, Vollkommenheit, die eigene Gefangenschaft usw. Freilich ist dies nicht die eigentliche Funktion des Gebets. Aber weil Paulus situationsbezogen betet, überschneiden sich die Inhalte seines Gebets für die Gemeinde mit den Inhalten seines Briefes an eben diese Gemeinde. Die primäre Funktion ist eine kommunikative, nämlich das gute und herzliche Verhältnis zu der Gemeinde zu bekräftigen.8 Die syntaktische Struktur der V. 3-6 ist komplex, da die Zuordnung der einzelnen Glieder teilweise problematisch ist. Die vier mit πᾶς gebildeten Wendungen sind am besten εὐχαριστῶ zuzuordnen. Die beiden Formulierungen mit ἐπί sind nicht parallel, da die erste den Ort des Dankens und die zweite (V. 5) den Grund des Dankens benennt. V. 6 begründet die Zuversicht noch weiter und führt letztlich einen weiteren Grund für den Dank an. Die V. 7-8 schildern die sehr enge Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde. In 6 Die nächste Parallele findet sich in Röm 1,10f, aber die Gemeinde in Rom war Paulus damals nicht persönlich bekannt. 7 Dass es sich um einen „Gebetsbericht“ bzw. „Selbstbericht“ des Apostels handelt, hat besonders Schenk 91-93 unterstrichen. Ähnlich O’Brien 55, der von „report“ spricht. 8 Vgl. Gebauer, Gebet, 193-195.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

V. 9-11 entfaltet Paulus den Inhalt seiner Fürbitte für die Gemeinde. Dies gilt zumindest für den ersten mit ἵνα eingeleiteten Satz. Der zweite ἵνα-Satz ist diesem sehr wahrscheinlich untergeordnet. Als Gliederung ergibt sich: Dank für die Gemeinde (1,3-6) Persönliche Beziehung zur Gemeinde (1,7f ) Fürbitte für die Gemeinde (1, 9-11)

III Einzelexegese 3 Paulus beginnt das Proömium mit ich danke. Auch wenn im Präskript Timotheus mitgenannt wurde, wird hier ein Wechsel in den Singular vollzogen, sowohl beim Verb als auch beim possessiv gebrauchten Personalpronomen. Meinem Gott steht zugleich für die persönliche Gottesbeziehung des Apostels, die auf der Erfahrung von Gottes verändernder Gnade im eigenen Leben basiert, die Gott in Jesus erwiesen hat.9 Im Weiteren gibt Paulus Einblick in sein intensives persönliches Gebet, für welches liturgische Elemente kaum leitend gewesen sein werden.10 Bei der Wendung in allem Gedenken an euch ist ἐπί temporal bzw. lokal verwendet, gibt also nicht den Grund des Dankens an. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass der Genitiv ὑμῶν [hymōn] als genitivus obiectivus aufzufassen ist. Auch in Röm 1,9; 1Thess 1,2 und Eph 1,16, wo μνεία [mneia] jeweils mit ποιεῖσθαι [ poieisthai] verbunden ist, ist Paulus das gedachte Subjekt für μνεία. Dem entspricht in V. 4 die Wendung τὴν δέησιν ποιούμενος. Grammatikalisch möglich wäre es auch, ὑμῶν als genitivus subiectivus aufzufassen, dass es sich also um das Denken der Philipper an Paulus (vgl. Kap. 4,10ff ) handelt, was O’Brien11 mit der Verbindung von Paulus’ Dank und der Gabe der Philipper zu begründen versucht. Die sonstige Verwendung von mneia mit Genitiv (vgl. zusätzlich 1Thess 3,6; Phlm 4) steht dem aber entgegen. Im Übrigen würde hier andernfalls nicht gesagt, an wen gedacht wird. Die Annahme, dass Paulus (Subjekt des Verbs) nun zum ungenannten Objekt wird, ist nicht zu rechtfertigen. Paulus gibt den Philippern also die einzigartige starke Zusicherung, dass er, wenn er an sie denkt, Gott dankt. Möglicherweise verweist ἐπὶ πάσῃ τῇ μνείᾳ auf vorgegebene Gebetszeiten, wie sie schon im AT bekannt waren

9 Ähnlich betont Paulus im Zusammenhang des Danks für die empfangene finanzielle Gabe der Philipper auch in 4,18f „mein Gott“. Bei Paulus findet sich diese Formulierung nur noch in Röm 1,8; 1Kor 1,4 und Phlm 4. 10 Gegen Lohmeyer 14, der eine gottesdienstliche Abfolge von Eingangssegen und Dankgebet als Hintergrund vermutet. 11 Vgl. O’Brien 58-61. Ebenso auch Briones, Thanks, 55; Peterman, Paul’s Gift, 93-98.

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und in ntl. Zeit noch praktiziert wurden. mneia dürfte auch das Erwähnen vor Gott implizieren.12 4 Den Dank richtet Paulus nicht nur einmalig anlässlich des Schreibens des Briefes an Gott, sondern πάντοτε [ pantote]. Auch wenn in den übrigen Belegen im Philipperbrief eindeutig allezeit gemeint ist, ist zu fragen, welches Verständnis in Phil 1,4 angebracht ist. Vom anhaltenden Gebet oder Danken, auch in Verbindung mit dem Zeitadverb pantote, spricht Paulus des Öfteren, vgl. Röm 1,10; 1Kor 1,4; 1Thess 1,2; Phlm 4 u.a. Die ständige Ausrichtung des Lebens und des Alltags auf Gott ist schon dem AT (vgl. Deut 6,5-7) und dem Frühjudentum (vgl. mBer I,1) bekannt.13 So ist auch für Paulus das ganze Leben des Christen auf Gott ausgerichtet (Röm 12,1) und ein ständiges Gebet. Paulus drückt hier seinen anhaltenden Dank aus, der nur im Gebet zu Gott möglich ist, denn im Gebet richtet sich der Fokus auf Gottes Gnadenwerk im Menschen, unabhängig davon, wie gefallen und bedürftig diese sind. Von daher kann Paulus für alle danken, so wie er schon in V. 1 alle in den Begriff „Heilige“ mit eingeschlossen hat, inklusive derer, die gegeneinander kämpfen (vgl. 4,2). Als Beter kann Paulus die Einheit der Gemeinde sehen, denn Gebet überwindet die Barrieren, die Menschen entzweien.14 Die Wendung in jedem Gebet stellt eine Doppelung zu V. 3 dar und betont erneut die Gebetsverbundenheit. δέησις [deēsis] meint das Fürbittgebet angesichts einer konkreten Not oder eines Bedarfs. Auch für die Erwähnung von Problemen ist im Gebet Raum. Bei Paulus und den Philippern beruht dies auf Gegenseitigkeit, vgl. 1,19. Die Fürbitte ist die grundlegende Antwort der gegenseitigen Liebe innerhalb der Gemeinschaft von Glaubenden.15 Der Ausdruck in jedem Gebet ist mit πάντοτε verbunden und bestimmt das Verständnis dieses Wortes dahingehend, dass Paulus bei jedem seiner Gebete auch immer für die Philipper dankt. Paulus betet mit Freude, obwohl ihm die Probleme der Gemeinde und die vor ihr stehenden Herausforderungen bekannt sind, weil er Grund zum Danken hat, wie er in V. 5-6 beschreibt. Schon die Beziehung des Paulus zu den Philippern macht sein Gebet zur Freude und nicht zur lästigen Pflicht. Diese Spontaneität und Ungezwungenheit des Gebets lässt sich wohl kaum auf feste Gebetszeiten beschränken. Wenn Paulus hier von Freude spricht, dann klingt damit ein Motiv an, das den ganzen Brief durchzieht (vgl. S. 287-290, Exkurs Freude bei Paulus). 12 13 14 15

So auch Gnilka 43. Vgl. Ostmeyer, Gebet, 285. Vgl. Hansen 46. So mit Martin/Hawthorne 20.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Vers 5 ist ebenso wie Vers 6 zu „ich danke“ (εὐχαριστῶ) und nicht zu „mit Freude“ (μετὰ χαρᾶς) zu ziehen.16 Zwar schließt Paulus beim Verb χαίρω [chairō] den Grund der Freude mit ἐπί [epi] an (Röm 16,19; 1Kor 13,6; 16,17; 2Kor 7,13), nicht aber beim Substantiv χαρά [chara]. Ohnehin wäre in Phil 1,4f das ἐπί durch das mit einem Objekt erweiterte Verb weit von χαρά getrennt. V. 5-6 benennen also nicht den Grund der Freude, sondern primär den Inhalt des Danks. Freilich sind Dank und Freude sowieso miteinander verbunden.17 Die Wendung eure Gemeinschaft am Evangelium wird unterschiedlich interpretiert. Um zu einer Klärung des Verständnisses zu kommen, ist neben den beiden Substantiven auch die Präposition zu beachten. κοινωνία [koinōnia] (Gemeinschaft) bezeichnet bei Paulus das Teilhaben bzw. Teilgeben oder einfach die Gemeinsamkeit. J. Hainz hat herausgestellt, dass bei Paulus das Wortfeld für „Gemeinschaft (mit jemanden) durch (gemeinsame) Teilhabe (an etwas)“18 steht. Wenn Paulus von Gemeinschaft im Sinne von Anteilhabe an etwas spricht, dann ist die Konstruktion im Regelfall κοινωνία mit Genitiv, wobei im Genitiv angegeben wird, an wem oder was man Anteil hat (1Kor 1,9; 10,16; Phil 2,1; 3,10). In Phil 1,5 handelt es sich also um die Gemeinschaft mit den Philippern (ὑμῶν, eure). Weiter ist κοινωνία durch die Präposition εἰς bestimmt, die die Richtung angibt, hier die einer gemeinsamen Aktivität, vgl. Röm 15,26 und 2Kor 9,13. Diese beiden Stellen stehen im Zusammenhang mit der Kollekte und betonen ein aktives Element von Gemeinschaft.19 Dies deutet auf ein Verständnis im Sinne einer aktiven Beteiligung an der Evangeliumsverkündigung hin,20 zumal Paulus εἰς (τὸ) εὐαγγέλιον auch in Röm 1,1; 2Kor 2,12 für seine Verkündigungstätigkeit gebraucht. Insofern ist es berechtigt, mit Ogereau von einer Partnerschaft zu sprechen, die auf das Evangelium als gemeinsames Ziel ausgerichtet ist.21 Die Gemein-

5

16 So auch Ogereau, Koinonia, 252. Gegen Martin/Hawthorne 20f, Hansen 47 und Gebauer, Gebet, 196f. 17 Damit soll also nicht gesagt sein, dass das in V. 5-6 Geschilderte etwa für Paulus nicht Grund zum Freuen gewesen wäre. Wenn Müller 49 eine Parallele zwischen 1,3-7 und 4,10ff sieht und folgert, dass die Liebesgabe Anlass für die Freude des Paulus war, dann ist dies auch richtig, greift alleine aber zu kurz. 18 J. Hainz, Art. κοινωνία κτλ., EWNT II (21992), 751, vgl. ähnlich ders., KOINONIA, 25. 19 Ähnlich gilt dies für 2Kor 8,4, allerdings findet sich dort nicht die Präposition εἰς. 20 Vgl. O’Brien 61f. 21 Vgl. Ogereau, Koinonia, 246-260. κοινωνία „expresses the idea of cooperation or partnership“ (a.a.O., 259). Ogereau stützt seine Studie vor allem auf Papyrustexte und epigraphisches Material (vgl. a.a.O., 151-219), in denen κοινωνία meist i.S.v. „Partnerschaft“ verwendet werde, aber nicht bezogen auf religiöse und geistliche Gemeinschaft (a.a.O., 216). Philosophische Texte berücksichtigt Ogereau leider kaum.

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schaft bzw. Partnerschaft am Evangelium ist nicht einfach auf finanzielle Unterstützung zu beschränken, obwohl auch diese im Blick sein dürfte (vgl. 4,10-18),22 sondern betrifft auch das Gebet (1,19), das Leiden (1,27-30), das Zeugnis (2,15) und die Sendung des Epaphroditus (2,25-30). Exkurs: Evangelium im Philipperbrief Im Phil kommt Paulus fast ebenso häufig auf das Evangelium zu sprechen wie auf die Freude. In Relation zur Länge des Schreibens kommt der Begriff Evangelium in keinem Paulusbrief so häufig vor wie im Phil (neunmal an acht Stellen).23 Insofern könnte man den Philipperbrief nicht nur als Brief der Freude, sondern auch als Brief des Evangeliums bezeichnen. Evangelium („Frohbotschaft“) bezeichnet bei Paulus den Inhalt seiner Verkündigung, aber „er kann diesen Begriff auch als metonymische Bezeichnung für die Verkündigung des Evangeliums gebrauchen“ (Wolter, Paulus, 56). Die Bedeutung Evangeliumsverkündigung (vgl. 1Kor 9,14; 2Kor 2,12) ist in 4,15 für εὐαγγέλιον (LÜ sachgemäß „Predigt des Evangeliums“) anzunehmen. Dies ist insofern wichtig, als es auch in 4,15 um den Anfang des Evangeliums bzw. der Evangeliumsverkündigung geht. Die Förderung derselben ist wahrscheinlich auch in 1,12 bei εὐαγγέλιον im Blick. Auch in 2,22 („er hat mit mir gedient der Evangeliumsverkündigung“) und 4,3 („mit mir gekämpft in der Evangeliumsverkündigung“) ist diese Bedeutung sehr gut möglich. Nur in 1,27, der einzigen Stelle im Philipperbrief, wo eine inhaltliche Näherbestimmung mit dem Genitiv τοῦ Χριστοῦ (Christi) erfolgt, ist eindeutig mit εὐαγγέλιον nicht die Verkündigung gemeint. Wahrscheinlich ist dies auch in 1,7 und 1,16 der Fall. Inhaltlich lässt sich die paulinische Evangeliumsverkündigung bestimmen als Christusverkündigung (vgl. Wolter, Paulus, 63f ), wobei „Christus“ zum Ausdruck bringt, dass das Heilshandeln Gottes mit Jesus Christus und seinem Sühnetod (1Kor 1,18) verbunden ist.24 Der Heilsoffenbarung im Kreuz entspricht nach O. Betz die Tatsache, dass „die rettende Wirkung des Wortes vom Kreuz in der Schwäche seines Boten (2Kor 11,30f )“25 offenbart wird, was auch Phil 1,16 erkennen lässt.

22 Betont werden die Liebesgaben bzw. der Bezug zur Gabensammlung u.a. von Mengel, Studien, 227f; Müller 42; Briones, Thanks, 55.58; Lightfoot 81; O’Brien, Thanksgivings 25. 23 Ähnlich gilt dies auch für das Wortfeld Freude (χαίρω steht neunmal an sieben Stellen, χαρά fünfmal in diesem Brief ). 24 Zur sühnetheologischen Deutung des Todes Jesu vgl. Söding, Sühne, 375-396; Stuhlmacher, Theologie I, 294-299; kritisch dagegen Wolter, Heilstod, 304. 25 O. Betz, Art. Evangelium, TBLNT (22010), 438.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Aufgrund der präpositionalen Wendung (εἰς) einerseits und der inhaltlichen Nähe zu 4,15 andererseits liegt es also näher, εὐαγγέλιον im Sinne von Evangeliumsverkündigung zu bestimmen. Selbstverständlich ist im Kontext bei „Gemeinschaft an der Evangeliumsverkündigung“ auch die Gemeinschaft am Evangelium im Sinne eines „vom Evangelium ergriffen sein“ notwendigerweise impliziert. Für eine christliche Gemeinde ist die Anteilhabe am Evangelium konstitutiv. „So ist das bei ihr verkündigte und im Glauben aufgenommene Evangelium der Grund ihrer Existenz.“26 Paulus und die Philipper verbindet der Glaube an die Gnade der Vergebung und die Beziehung zu Gott, die durch das im Evangelium verkündigte Heilswerk Jesu ermöglicht ist. Dabei sollte man Anteilhabe am Evangelium und Anteilhabe an der Evangeliumsverkündigung nicht als sich ausschließende Alternativen markieren. Vielmehr setzt Letztere die Erstere voraus.27 Diese Gemeinschaft der Philipper in der Annahme und in der Verbreitung des Evangeliums erfüllt Paulus mit Freude und Dankbarkeit, sooft er an sie denkt. Die Gemeinschaft von Paulus und den Philippern ist eine beständige vom ersten Tag an bis heute.28 G. Barth schließt aus dieser Näherbestimmung der Gemeinschaft am Evangelium, dass es ausschließlich um die Anteilhabe am Heil geht, also um den Glaubensstand der Philipper, da nur diese von Anfang an vorauszusetzen sei. Er sieht diese Auslegung durch V. 6 bestätigt.29 Dagegen ist aber zu bedenken, dass oft gerade diejenigen, die neu das Heil gefunden haben, eine hohe Motivation zur Verkündigung des Evangeliums haben, von dem sie ergriffen sind. Insofern widerspricht die temporale Angabe keineswegs der Deutung der Gemeinschaft am Evangelium als Anteilhabe an der Verbreitung der frohen Botschaft. 6 Vers 6 liefert die Begründung (das Partizip πεποιθώς ist kausal aufzufassen) für die V. 3-5, also für das Danken, die Freude und letztlich auch die Gemeinschaft am Evangelium, und gibt in dem ὅτι-Satz zugleich den Inhalt des an Gott gerichteten Vertrauens an.30 Im Vordergrund steht hier also nicht die Aktivität der Gemeinde, sondern das Handeln Gottes, denn natürlich ist Gott das (ungenannte) Subjekt des Anfangens und Vollendens. Grundlage des

26 Gnilka 45. 27 So auch Hansen 49. 28 Die Formulierung „vom ersten Tag an“ ist bei Paulus singulär, die nächste Parallele findet sich in Apg 20,18 in einer Paulusrede, vgl. weiter Mk 14,12. 29 Vgl. G. Barth 18f. 30 αὐτὸ τοῦτο bezieht sich nach vorn auf den Dass-Satz.

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Vertrauens ist sein treues Wirken,31 das er angefangen hat, und zwar ἐν ὑμῖν. Für ἐν kommen die Übersetzungen in, „bei“ oder „durch“ infrage. Parallelen innerhalb des Briefes sind vor allem 2,5 und 2,12, wo jeweils der lokalen Bedeutung (in bzw. bei) der Vorzug zu geben ist. Die Verwendung des pluralischen Personalpronomens (euch) schließt eine individuelle Zuspitzung auf den Einzelnen nicht aus, sondern ist aufgrund der Adressatengruppe vorgegeben, jedoch wird hier vorrangig das Kollektiv, die von Gott geschaffene lebendige Gemeinde, im Fokus sein, so berechtigt das individuelle Verständnis auch sein mag. Die Rede vom guten Werk (ἔργον ἀγαθόν [ergon agathon]) greift Schöpfungsterminologie auf, jedoch ist dies nicht die einzige bei der Interpretation zu berücksichtigende Perspektive, zumal die Parallelität nur partiell ist. Paulus bezeichnet das Werk als ἀγαθόν und nicht wie Gen 1 als καλόν, er spricht von dem Werk im Singular (Gen 2,2-3 LXX Plural) und erwartet die Vollendung für die Zukunft, während Gen 2,2-3 LXX auf die Vollendung zurückblickt (συνετέλεσεν). Der Singular von Werk findet sich jedoch in 4Esr 6,38.43 innerhalb eines Lobpreises der Schöpfung.32 Fee sieht in dem guten Werk die ethische Dimension der Rettung in Christus angesprochen (mit Hinweis auf 2Thess 2,17; 2Kor 9,8 u.a.) und hält eine Bezugnahme auf die Schöpfungstheologie für irrelevant.33 Dabei ist aber nicht genügend beachtet, dass in Phil 1,6 von dem guten Werk Gottes (!) die Rede ist. Die genauere inhaltliche Bestimmung des guten Werks ist stark abhängig von der Deutung von V. 5, also davon, ob man dort ausschließlich den Glauben der Gemeinde im Fokus sieht oder die Partnerschaft am Evangelium oder beides. Wollte man V. 5-6 nur auf die Teilhabe am Heil bzw. den Glauben der Gemeinde beziehen,34 könnte man auf 2Kor 5,17, wo Paulus die Erlösung klar als Neuschöpfung (καινὴ κτίσις) formuliert, verweisen. Da es aber in V. 5 offenbar in erster Linie um die Evangeliumsverkündigung geht, zeigt sich, dass Paulus ein weiteres Verständnis des schöpferischen Handelns Gottes hat. Das in V. 6 erwähnte gute Werk der Philipper ist im Kontext von V. 5 zu 31 Gegen Müller 43 besteht hier keine unmittelbare Verbindung zum Erwählungshandeln Gottes oder zu der von Müller so genannten Erwählungstheologie im 1Thess. Auch wenn eine inhaltliche Nähe zu den sogenannten Treuesprüche besteht (insbesondere zu 1Thess 5,24; 1Kor 1,8f ), ist größte Vorsicht geboten, Phil 1,6 diesen zuzuordnen, denn 1,6 ist nicht als Treuespruch formuliert. Anders Müller 43f. 32 In 4Esr 6,54 steht der Plural Werke. 4Esr wurde größtenteils gegen Ende des 1. Jh.s verfasst, vgl. B.M. Metzger, in: OTP I, 520. 33 Vgl. Fee 87, insbesondere Anm. 73. 34 Vgl. Müller 43 und Gnilka 46, der das gute Werk auf den „Glaubensstand der Gesamtgemeinde“ bezieht.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

bestimmen als die Partnerschaft an der Evangeliumsverkündigung.35 Die, die Anteil haben an dem im Evangelium verkündigten Erlösungswerk Christi und die von Gott zur Gemeinschaft der Glaubenden verbunden worden sind, bilden zugleich eine Gemeinschaft von Partnern in dem Dienst und der Verkündigung des Evangeliums. Auch wenn diese Gemeinschaft zur Zeit der Abfassung des Briefes von außen (vgl. 1,28) wie auch durch innere Konflikte (vgl. 4,2) bedroht zu sein scheint, ist Paulus zuversichtlich, dass Gott das gute Werk vollenden wird. Jedoch ist der Fortbestand der Gemeinschaft am Evangelium nicht abhängig von menschlichem Durchhalten, sondern Gott begründet jede wirkliche Gemeinschaft am Evangelium und wird sie vollenden, bis zum Tag Christi.36 Mit ἡμέρα [hēmera] (Tag) wird ein Begriff aus V. 5 aufgegriffen, der dort auf den Rückblick bezogen wurde, nun aber auf die Zukunft gewendet wird. Vom Tag Christi Jesu spricht Paulus an anderen Stellen auch einfach als ἡμέρα (1Thess 5,4; 1Kor 3,13), ἡμέρα Χριστοῦ (Phil 1,10; 2,16), ἡμέρα (τοῦ) κυρίου (1Thess 5,2; 1Kor 5,5) oder ἡμέρα τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ (1Kor 1,8; 2Kor 1,14). Im Hintergrund steht das atl. Motiv vom Tag des Herrn bzw. Tag JHWHs, der als Tag des Gerichts durchaus düster gezeichnet werden kann (vgl. z.B. Joel 2,1-2; Amos 5,20). Die Wendung ἡμέρα κρίσεως (Tag des Gerichts) findet sich auch in der Jesusüberlieferung (vgl. Mt 10,15; 11,22.24). Dass in Phil 1,6 dieser eschatologische Tag des Herrn bzw. Tag des Gerichts gemeint ist, liegt auf der Hand. In ähnlicher Weise wie hier hat Paulus auch in 1Kor 1,8f Anfang und Vollendung als Handeln Gottes markiert.37 Vor diesem Hintergrund stellt Paulus in Phil 1,6 heraus, dass Gott sein Schöpfungswerk zum Ziel bringt. Wenn Gott also die Gemeinde zum Glauben ruft, dann vollendet er sie. Dies beinhaltet zum einen, dass er die Glieder zum Ziel, nämlich zur Rettung ihrer Seelen bringt,38 in unserem Zusammenhang ist aber auch implizit, ja sogar vorrangig im Blick, dass Gott das gute Werk vollendet, das in der Gemeinschaft am Evangelium besteht. Paulus äußert auch später im Brief seine Zuversicht, dass die Philipper (und ihr Werk) auch am Tag Christi sich als gut erweisen werden (Phil 2,16; 4,1). An diesem Tag wird die neue 35 Anders O’Brien 64, der das gute Werk als das Erlösungshandeln Gottes bestimmt. Aber auch O’Brien stellt einen Zusammenhang zur Evangeliumsverkündigung her, indem er die Anteilhabe an Paulus’ Dienst als „evidence of this work of salvation“ (ebd.) bestimmt. Ähnlich wie O’Brien bezieht Stettler, Heiligung, 520, „die absolute Rede von ‚dem guten Werk‘ … auf das Werk der Neuschöpfung am Anfang des Glaubensweges (vgl. Gen 2,2 mit 2Kor 5,17)“. 36 Vgl. Hansen 50. 37 Vgl. 1Thess 5,24. Schon im AT (Jes 48,12f ) sind Anfang und Ende an Gott gebunden. 38 Vgl. Martin/Hawthorne 51.

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Gemeinschaft in Christus perfekt und vollkommen sein (vgl. 1,10). Paulus richtet seinen Blick auf den Tag Christi, wenn auch das, was er später in 2,911 und 3,20-21 schreibt, endgültig realisiert sein wird. Dieser Ausblick bedeutet Hoffnung – für Paulus auch im Gefängnis. Zugleich wird aber auch im Hinblick auf die Partnerschaft am Evangelium deutlich, dass sie keine nur kurzzeitige Beziehung ist. Weiter wird herausgestellt, dass Gemeinschaft am Evangelium, dass Mission in eschatologischer Perspektive geschieht. Dies impliziert auch das Vertrauen auf Gott, dass er das Werk vollenden wird. 7 In Vers 7 führt Paulus nicht mehr den Inhalt seines Danks weiter aus, sondern er leitet mit καθώς [kathōs] zur Begründung für die V. 3-6 über.39 Paulus bezeichnet seine Beziehung zu den Philippern als durch Liebe bestimmt, wobei diese auf reiflicher Überlegung basiert.40 Die Interpretation von Vers 7 wird erheblich dadurch erschwert, dass in mehrerer Hinsicht ganz unterschiedliche Übersetzungsmöglichkeiten bestehen. Dies betrifft den Bezug von τοῦτο φρονεῖν [touto phronein], die Zuordnung von Subjekt und Objekt innerhalb des präpositional eingeleiteten AcIs, die Verknüpfung der beiden ἐν-Konstruktionen und der Bezug von μου. Das Demonstrativum touto weist sicherlich anaphorisch auf den voranstehenden Kontext zurück. Für das Verb phronein hat man eine Aufnahme von πεποιθώς aus V. 6 angenommen.41 Dem steht aber entgegen, dass πέποιθα (ich vertraue) semantisch vom transitiv verwendeten φρονεῖν (bedacht sein auf, vgl. 3,19) deutlich unterschieden ist,42 denn dieses beschreibt eine falsche oder richtige Haltung, aus der wiederum Handlungen hervorgehen. Ewald umschreibt die Bedeutung hier treffend mit „in dieser Richtung zu euren Gunsten gesinnt sein“43. Seine positive Haltung nimmt Paulus gegenüber allen Philippern ein, d.h. seine Liebe ist nicht selektiv, sondern sie umfasst die gesamte Gemeinde mit ihren Gliedern. διὰ τό [dia to] mit Infinitiv ist hier singulär bei Paulus und leitet eine Begründung für die vorausgehende Aussage ein, also für die Einstellung von Paulus gegenüber der Gemeinde. In dem substantivierten AcI ist μέ das Sub-

39 καθώς könnte einfach einen Neueinsatz signalisieren, wahrscheinlich ist es aber kausal gemeint, vgl. BDR § 453,2; Siebenthal, Grammatik, § 277c. Für diese Bedeutung von καθώς, wenn es nicht mit οὕτως fortgeführt wird, vgl. Röm 1,28; 1Kor 1,6 u.ö. 40 So schon in der Alten Kirche, vgl. Chrysostomus 21. 41 Vgl. Dibelius 63; Müller 44. Anders schon Ewald 58. 42 Zehn der 23 Vorkommen von φρονεῖν bei Paulus findet man im Phil. Transitiv gebraucht wird es auch noch in 2,2.5; 3,15 und 4,2 (hier evtl. in der Bedeutung gesinnt sein). 43 Ewald 59f.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

jekt.44 Grammatikalisch könnte theoretisch auch ὑμᾶς Subjekt sein. Außer der Wortstellung45 spricht auch der weitere Argumentationsgang in Vers 8 aber für Ersteres. καρδία [kardia] (Herz) steht hier im üblichen atl. Sinne für die Mitte des Menschen und seines physischen, geistlichen und geistigen Lebens. Es ist das Zentrum des Wollens, des Entscheidens und der Emotion. Wie Paulus im nächsten Vers deutlich machen wird, geht es hier um die persönliche Zuneigung zu den Philippern, die er „mit der ganzen Kraft seines Herzens [liebt]“46. Die beiden folgenden Wendungen sind mit τε … καί eng miteinander verbunden. Nicht eindeutig ist jedoch, ob sie dem voranstehenden Satz oder dem nachfolgenden Ausdruck zuzuordnen sind. Der altkirchliche Exeget Johannes Chrysostomus entschied sich für Ersteres, in den neueren Kommentaren finden sich beide Positionen.47 O’Briens Hinweise auf das τε … καί und auf die Wiederholung von ὑμᾶς sind keine zwingenden Beweise für die Deutung von Chrysostomus. Aber auch für die gegenseitige Position sind bisher keine schlagenden Argumente ins Feld geführt worden. Erstmals in diesem Brief spricht Paulus ausdrücklich von seinen Fesseln, von seiner Gefangenschaft. Paulus erleidet aber nicht nur seine Haft, sondern ihm ist die Möglichkeit zur Verteidigung und Bekräftigung des Evangeliums gegeben. Die beiden juristischen Termini ἀπολογία [apologia] und βεβαίωσις [bebaiōsis] sind durch den nur einmal gesetzten Artikel zusammengefasst.48 ἀπολογία ist die Verteidigung vor Gericht (vgl. Apg 22,1; 25,16; 2Tim 4,1649). Bei der Verteidigung des Evangeliums geht es offenbar um das Zurückweisen von Vorwürfen gegen das Evangelium. Die βεβαίωσις steht für die positive Argumentation für die Wahrheit des Evangeliums. Letztlich, so 44 Gegen Schenk 104f; Martin/Hawthorne 27, mit Bockmuehl 65. Schenk führt für seine Entscheidung u.a. die Parallelität von V. 7 mit V. 3b an („variierende Wiederholung“, 105), wo er allerdings, anders als hier vertreten, das Gedenken der Philipper im Blick sieht. 45 Vgl. Reed, Jeffrey T. The Infinitive with Two Substantival Accusatives. An Ambiguous Construction?, NT 33 (1991) 1-27, hier 10. 46 Ernst 40, im Anschluss an ihn O’Brien 68. Ähnlich Fee 90. 47 Vgl. Chrysostomus 21. Ebenso Ewald 63; O’Brien 68. Für die alternative grammatische Zuordnung vgl. Gnilka 49; Fee 91-93; Martin/Hawthorne 27f. 48 Schon Meyer/Franke 36 stellten aber klar, dass ἀπολογία und βεβαίωσις weder synonym sind noch einen Hendiadyoin bilden. Nach Ewald 63, Anm.1, wurden dem Gefangenen während der Verhandlung die Fesseln gelöst. Dies kann aber nicht als sicher gelten und schon gar nicht mit einem Hinweis auf Mommsen, Strafrecht, 304, belegt werden. Es fehlen Belege aus dem 1. Jh., und außerdem galt diese Praxis offenbar nicht für alle. 49 Paulus verwendet ἀπολογία auch im Sinne der persönlichen Verteidigung gegen seine Gegner, vgl. 1Kor 9,3. Der juristische Hintergrund von βεβαίωσις klingt in Hebr 6,16 an, das einzige ntl. Vorkommen des Begriffs neben Phil 1,7.

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Chrysostomus, sind auch die Fesseln des Paulus eine Bekräftigung des Evangeliums, denn Paulus entzieht sich nicht der Haft, sondern nimmt sie um Gottes willen auf sich. Andernfalls hätte man ihn für einen Betrüger halten können.50 Schließt man sich für die Zuordnung der τε – καί-Konstruktion dem Muttersprachler Chrysostomus an, dann würde Paulus hier sagen, dass er im Gefängnis und selbst noch vor Gericht an die Philipper und also auch an ihre Teilhabe an seinem Leiden denkt und dass er weiß, dass die Philipper „ihm als Mitgenossen der Gnade geschenkt sind“51. In der Wendung συγκοινωνούς μου τῆς χάριτος πάντας ὑμᾶς ὄντας sprechen die gewichtigeren Argumente für eine Zuordnung des μου zum voranstehenden συγκοινωνούς [synkoinōnous]. Gewöhnlich ist das possessiv gebrauchte Personalpronomen (scheinbar prädikativ) nachgestellt.52 Mit der Rede von der Teilhabe an der Gnade nimmt Paulus V. 5 auf, wo er von der Gemeinschaft an der Evangeliumsverkündigung gesprochen hat, die auch die Gemeinschaft am Heil voraussetzt und impliziert. Eine Parallele findet sich in Röm 1,5, wo Paulus ebenfalls Gnade mit seinem apostolischen Dienst (ἀποστολή) verbindet, der hier in der Verteidigung und Bekräftigung des Evangeliums seinen Ausdruck findet, insbesondere wenn man die entsprechende Wendung dem συγκοινωνούς … ὄντας zuordnet. Für Paulus verbindet sich dieser apostolische Dienst aber auch mit Leiden (vgl. zu Vers 7 noch 1,13f.17.22f.30; 2,17; 4,14). Vom Leiden der Philipper spricht Paulus insbesondere in 1,29-30, wo ebenfalls der Wortstamm χαρ- (χαρίζεσθαι) mit Leiden (πάσχειν) verbunden wird. In 4,14 steht das Verb συγκοινωνέω als nächste Parallele zu συγκοινωνός in 1,7 neben θλῖψις. Schon für Chrysostomus bestand die Gnade des Paulus in der Gefangenschaft, im Leiden, was Chrysostomus in 2Kor 12,9 bestätigt sieht.53 Paulus nennt alle Philipper meine Teilhaber der Gnade. Sie haben ihn nicht nur materiell unterstützt (4,10-20), sondern sie haben mit Paulus teil an der Evangeliumsverkündigung (1,5), was eine tiefe innere Verbundenheit begründet, die auch im Leiden trägt, das die Philipper in ihrer römischen Kolonie ebenso betrifft (vgl. 1,29f ) wie Paulus in seinem Gefängnis. Die Art der Verfolgung, die die Philipper erduldeten, bleibt offen, denn die Fesseln bezeichnet 50 Vgl. Chrysostomus 21. 51 Ewald 63. 52 Anders verhält es sich in Phil 4,14. Auch in Phil 1,25 und 2,30 ist das possessive Personalpronomen vorangestellt, steht dort aber attributiv zwischen Artikel und Substantiv. Bockmuehl 63 und O’Brien 70 beziehen ebenfalls μου auf συγκοινωνούς, Chrysostomus 20.22 („die ihr insgesamt Mitteilnehmer an meiner Gnade seid“) dagegen auf τῆς χάριτος, was auch Martin/Hawthorne 27 und Silva 47 für wahrscheinlicher halten. 53 Vgl. Chrysostomus 22.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Paulus als die seinen. Wenn das Leiden als Gnade gedeutet wird, dann erweist sich die Gnade als gemeinschaftsstiftend.54 Es geht hier also nicht um eine auf menschliche Sympathie begründete Beziehung und Partnerschaft, sondern die Gnade (Gottes) ist die Basis und auch das Ziel dieser Partnerschaft. Der Artikel kennzeichnet die Gnade als Gottes Gnade, durch das Fehlen des Substantivs θεός wird aber stärker die Natur und weniger der Ursprung der Gnade betont.55 Ordnet man die Wendungen mit τε … καί grammatisch συγκοινωνούς … ὑμᾶς ὄντας zu, dann wäre damit gesagt, dass die Philipper Teilhaber der Paulus gewährten Gnade sind und damit ähnlich wie Paulus im Leiden und in der Verteidigung und Befestigung des Evangeliums bewährt sind. Weil es hier aber in jedem Fall um Teilhabe geht, sind beide Deutungen letztlich nahe beieinander. 8 Mit dem Hinweis Gott ist mein Zeuge geht es Paulus nicht primär um die Betonung der Intensität oder seiner Redlichkeit (so 1Thess 2,5.10, ähnlich 2Kor 1,23). Ihm liegt vielmehr schlicht an einer starken Vergewisserung (vgl. Röm 1,9), dass diese seine ernsthafte Sehnsucht nach den Philippern besteht.56 Von daher steht die fast schwurartige Formulierung nicht dem herzlichen Verhältnis zu den Philippern entgegen.57 Allenfalls könnte sie die „innere Erregung“58 erahnen lassen. Das Motiv der Sehnsucht passt sehr gut in einen antiken Freundschaftsbrief. ἐπιποθέω (sich sehnen) findet sich im NT neunmal, davon siebenmal bei Paulus. Die vier Vorkommen von stammverwandten Wörtern sind ebenfalls alle paulinisch. Von daher steht die hohe Bedeutung des Sehnsuchtmotivs bei Paulus außer Frage. Es spiegelt die intensive Beziehung von Paulus zu den Gemeinden (vgl. auch Phil 4,1; Röm 1,11; 15,23; 1Thess 3,6) und zu seinen Mitarbeitern (2Tim 1,4) wider. Die Wortgruppe wird aber auch für die Sehnsucht von anderen verwendet (2Kor 7,7; 9,14; Phil 2,26; 1Thess 3,6). Im Proömium des Philipperbriefes wird dies durch die Wendung ἐν σπλάγχνοις Χριστοῦ Ἰησοῦ noch vertieft. σπλάγχνα [splanchna] bezeichnet eigentlich die 54 Die von Lohmeyer 26f begründete These einer Martyriumsmystik, nach der Paulus und die Gemeinde eine exklusive Märtyrerexistenz verband, die so für keine andere Gemeinde bestand, lässt sich damit allerdings nicht begründen und ist zu Recht in der Forschung zurückgewiesen worden, vgl. O’Brien 70; Walter 36. 55 Ähnlich Hansen 54. 56 Anders Hansen 56: „Only God can measure his love, because it exceeds human love.“ Die paulinischen Parallelstellen sprechen aber gegen eine derartige Konnotation. 57 Anders setzen Martin/Hawthorne 28 die Akzente, nach denen es Paulus darum geht, die zu überzeugen, die seine Leitungsautorität und seine Liebe bezweifeln. 58 Gnilka 50.

1.2 Proömium: Dank und Fürbitte in der Partnerschaft am Evangelium (1,3-11)

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Eingeweide, übertragen auch den Sitz der Gefühle bzw. diese selbst, insbesondere Liebe (Phil 2,1; 2Kor 7,15; Kol 3,12).59 Paulus kann σπλάγχνα synonym zu καρδία verwenden. Ohne Zweifel scheidet die Grundbedeutung im vorliegenden Kontext aus, sondern: „Metonymisch steht σπλ[άγχνα] für die Liebe selbst Phil 1,8; 2,1.“60 Diese Liebe wird näher bestimmt als Liebe Christi Jesu. Χριστοῦ Ἰησοῦ ist ein genitivus auctoris. Es geht hier also um die von Jesus Christus geschenkte und motivierte sehnsuchtsvolle Liebe, die Paulus nun den Philippern erweist und erweisen kann und die nur der haben kann, der ἐν Χριστῷ, also in Christus, ist bzw. in der Sprache von 2Kor 5,17 eine neue Kreatur. Treffend sagt Bengel: „In Paulus lebet nicht Paulus, Christus lebet in ihm, deßhalb ist es nicht Pauli, sondern Jesu Christi zarte Liebe, die ihn treibt.“61 Das Leben in Christus bringt auch die Beziehungen in die Sphäre der Liebe Christi. Auch die Präposition ἐν weist darauf hin, dass Paulus die Philipper durch die Liebe liebt, die Christus in ihm wirkt und die Christus selbst zu den Philippern hat. Diese Liebe ist jenseits der menschlichen Begrenzungen. Es ist eine Liebe zu allen. Wie in V. 4 und V. 7 sind mit dem πάντα alle inkludiert. Für einen Menschen ist Liebe so allumfassend letztlich nicht zu leisten, sondern nur vor dem Hintergrund „einer in der Gemeinschaft mit Christus gegründete[n] herzliche[n] Gesinnung“62 Diese Liebe zu allen ist Paulus nur möglich durch Jesus Christus, bzw. weil Christus diese Liebe in ihm wirkt. 9 Nochmals geht es um das Gebet und den Inhalt der paulinischen Bitten. Die Parataxis ist bei Paulus selten, aber wenn er einen Satz mit und anschließt, dann hat dies einen Grund. Hier stellt καί die unmittelbare Verknüpfung des Gebets mit dem voranstehenden Satz her.63 Der angeschlossene ἵναSatz ist ein Objektsatz und kein Finalsatz, denn τοῦτο (dies) muss inhaltlich gefüllt werden. Dies sollte man nicht auf V. 3-6 zurückbeziehen, denn dann müssten die V. 7-8 einen Einschub darstellen, als welcher sie aber nicht erkennbar sind. Selbstverständlich führen aber auch so V. 9-11 die in V. 4 angesprochene δέησις (Gebetsbitte) weiter aus. Liebe steht hier ohne Objekt und ist somit ganz umfassend gemeint. Diese Liebe richtet sich nicht nur auf eine bestimmte Menschengruppe.64 Das Feh59 60 61 62 63

Vgl. Bauer/Aland 1523. Bultmann, Theologie, 222. Bengel, Gnomon, 375. Michaelis 16. Fee 98, Anm. 7, und ähnlich schon Ewald 68, der auch weitere Deutungsmöglichkeiten diskutiert. Gnilka 51 sieht dagegen V. 9 durch das καί von V. 7-8 abgehoben. 64 Ähnlich ist Liebe in 1Thess 3,12 zu verstehen, wo alle eingeschlossen sind. Anders Fee 98, der in Phil 1,9 eine „love for one another“ angesprochen sieht.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

len eines Objekts bei ἀγάπη lässt aber ein noch weiter gefasstes Verständnis zu. Es ist naheliegend, dass es hier um die Liebe zu Menschen – und zwar der Gemeindeglieder zueinander und zu Nicht-Gemeindegliedern – geht und ebenso um die Liebe zu Jesus bzw. Gott. Dabei ist Letztere die Basis für jede andere Liebe. Mit dem Stichwort Liebe knüpft V. 9 an V. 7 (im Herzen haben) und an V. 8 (σπλάγχνα) unmittelbar an. Liebe betrifft hier die affektive Ebene bzw. die Emotion und (!) das Verhalten, wobei Letzteres in V. 10-11 eigens betont ist.65 Paulus spricht den Philippern keinesfalls die Liebe ab. Letztlich ist ein Grund für den Dank des Paulus auch die Liebe der Philipper, denn ihre Liebesgabe ist ja ein Ausdruck ihrer Gemeinschaft am Evangelium. Paulus bestätigt den Philippern ihre Liebe (vgl. 2,1f ), aber ein Stillstand in der Liebe wäre ein Problem. Die (schon vorhandene) Liebe ist steigerungsfähig und soll wachsen.66 Ganz richtig sagt Gnilka, dass „das Christenleben … entweder voranschreitet oder verkümmert.“67 Paulus geht es hier um eine kontinuierliche Entwicklung und ein andauerndes Wachstum, was mit der Wendung mehr und mehr und dem Gebrauch des Präsens betont wird.68 So ist Liebe ein dynamischer Beziehungsprozess, denn wahre Liebe entwickelt und vertieft sich fortwährend. Maßstab und Orientierungspunkt für die Liebe ist Jesus. Seine Haltung und seinen Weg stellt Paulus den Philippern auch für ihre Liebe (Kap. 2,1f ) als Vorbild vor Augen (2,5-8). Das Wachsen der Liebe ist für Paulus ein wichtiges Thema, vgl. z.B. 1Thess 3,12 und 2Kor 8,7 (beide Male in Verbindung mit dem Verb περισσεύειν). Das Wachsen (περισσεύειν) ist nach paulinischem Verständnis möglich, weil Gottes Gnade zu uns übergeflossen ist (vgl. Röm 5,15; Eph 1,8). Aufgrund der Wortstellung ist es sehr wahrscheinlich, dass ἐπίγνωσις [epignōsis] und αἴσθησις [aisthēsis] das Verb wachsen näher spezifizieren. Von daher ist Fee nicht zu folgen, der ἐπίγνωσις und αἴσθησις zum Verb „beten“ zieht.69 Die Erfüllung (πληροῦν) mit Erkenntnis und das Wachsen (αὐξάνειν) in bzw. durch Erkenntnis ist auch in Kol 1,9-10 die Bitte des Paulus für die Gemeinde. Dabei ist die Erkenntnis auf den Willen Gottes gerichtet, und sie hat sich somit in der entsprechenden Lebensführung zu bewähren.70

65 Dagegen sieht Fee 99 hier einen Gegensatz impliziert: „‚love‘ not as ‚affection‘ but as behavior“. 66 Chrysostomus 28: „Das ist das Maß der Liebe, daß sie nirgends stille steht.“ 67 Gnilka 51. 68 Die Lesart mit Aorist ist abzulehnen, auch wenn sie von B bezeugt wird. 69 Vgl. Fee 100. 70 Vgl. W. Hackenberg, Art. ἐπίγωσις, EWNT2 II (1992), 62-64: 63.

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Liebe braucht nach paulinischer Auffassung Leitlinien, wie sie durch das Verhalten ihren Ausdruck finden soll.71 Die beiden Begriffe ἐπίγνωσις und αἴσθησις bedürfen der Klärung. Beide stehen ohne Objekt, das letztere Wort ist mit πᾶς weiter spezifiziert. Der Begriff epignōsis findet sich in allen vier Gefangenschaftsbriefen des Paulus innerhalb eines Gebets (Eph 1,17; Kol 1,9f; Phlm 6; Phil 1,9). Die Übersetzung mit Erkenntnis ist Konsens. O’Brien weist mit Recht darauf hin, dass das paulinische Verständnis vom AT geprägt war.72 Alttestamentlich gesehen beginnt Erkenntnis Gottes mit der Gottesfurcht (Spr 1,7; 2,5, vgl. Jes 11,2) und beinhaltet die Kenntnis bzw. Anerkenntnis seines Willens (vgl. auch Röm 2,20), die sich im Verhalten des Erkennenden niederschlägt.73 Im AT und auch bei Paulus ist Erkenntnis permanent in einem Entwicklungsprozess. Der Begriff Erkenntnis steht ohne Artikel.74 Das genaue Verständnis wird durch das Fehlen eines Objekts zusätzlich erschwert, lässt sich aber gleichwohl im Kontext des Briefes präzisieren. Paulus beschreibt in Phil 3,10 als sein höchstes Ziel, Christus zu kennen, und der Abschnitt Phil 2,1-11 zielt auf eine Orientierung an Christi Vorbild ab. So kann man mit O’Brien in Phil 1,9 Erkenntnis verstehen als „Gott durch Christus persönlich kennen“,75 wobei festzuhalten ist, dass nach Paulus diese Erkenntnis von Gott geschenkt wird, sie also das Resultat eines Offenbarungshandelns Gottes ist und nicht in erster Linie durch die Lehrer der Gemeinde tradiert wird.76 αἴσθησις [aisthēsis] ist ein Hapaxlegomenon im NT. Im klassischen Griechisch bezeichnet der Begriff die Wahrnehmung bzw. (geistig) die Erkenntnis oder das Verständnis, in Phil 1,9 nach Bauer/Aland „das sittl. Verständnis, d. Takt“77. Den Ursprung hat man in der „hellenistischen Moralphilosophie“ ge71 So auch Hansen 58: „Love needs to know how to serve others. Love needs to be instructed by knowledge in order to fulfill its desire to serve.“ 72 Vgl. O’Brien 76. O’Brien diskutiert weiter verschiedene Überlegungen zur Bedeutung der Präposition ἐπί in ἐπίγνωσις gegenüber γνῶσις. Die Präposition könnte hier betonen, dass es um ein genaues Erkennen geht, vgl. Bauer/Aland 589. 73 Schon in der LXX kann γινώσκειν wie das hebr. [dy jādaʿ „das Erkennen dessen, was es zu tun gilt, bezeichnen“ (R. Bultmann, Art. γινώσκω, ThWNT I, 688-719: 696), vgl. Ri 18,14 u. 1Sam 25,17. 74 Nach Lohmeyer 31 ist sie deshalb in ganz allgemeinem Sinn zu verstehen. 75 O’Brien 76. 76 Ähnlich auch Martin/Hawthorne 31. 77 Bauer/Aland 49, mit Hinweis auf Bonhöffer, Epiktet, 105: „sittlicher Takt“. Gnilka 52 ergänzt „das Feingefühl, jene Klugheit, die im praktischen Leben das Rechte zu tun lehrt.“ G. Delling, αἰσθάνομαι κτλ., ThWNT I, 188, deutet αἴσθησις als „das sittliche Unterscheidungsvermögen, die ethische Urteilsfähigkeit“, ähnlich Müller 47: „sittliche Urteilsfähigkeit“.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

sehen.78 Als Hintergrund für die paulinische Verwendung ist aber auch das Verständnis von αἴσθησις in der LXX zu berücksichtigen, wo sich 22 von 27 Vorkommen in den Sprüchen (häufig für hebr. t[;D; [daʿat]) finden. Die αἴσθησις bestimmt und leitet die Taten und Worte des Weisen. Von daher unterscheiden sich die Verwendung des Begriffs in der LXX und in der hellenistischen Philosophie nur wenig. Im Kontext von Phil 1,9 ist die αἴσθησις nötig, damit die Liebe sich auszudrücken weiß. Die Verbindung von Erkenntnis und Verständnis steht für die Verbindung von Christuskenntnis und Verständnis der Menschen. „Knowing Christ and understanding people are both necessary for love to abound more and more.“79 Stettler fokussiert etwas einseitig den Handlungsaspekt. Die Liebe soll „wachsen, indem sie mehr und mehr von der Erkenntnis des Willens Gottes sowie dem umsichtigen Verständnis der Situationen, in denen sie handelt, geprägt ist.“80 Bei der Erkenntnis dürfte es aber auch um die personale Beziehung zu Christus gehen. 10 Mit damit ihr das prüfen könnt, worauf es ankommt wird das Ziel des Wachsens in der Liebe durch Erkenntnis angegeben. Das Verb δοκιμάζειν [dokimazein] steht für ein genaues Prüfen, wie es z.B. im Hinblick auf die Echtheit von Gold vollzogen wird, vgl. 1Kor 3,13; 1Petr 1,7. Basis des Prüfens ist bei Paulus der Glaube an eine absolute Wahrheit.81 Es geht bei dem Prüfen darum, Gottes Willen herauszufinden, vgl. Röm 12,2 (prüfen, was Gottes Wille ist) und Eph 5,10 (prüfen, was Gott wohlgefällig ist). Auch in 1Thess 5,21 ist als Maßstab für das Gute Gottes Wille anzunehmen. τὰ διαφέροντα [ta diapheronta] bezeichnet das Wesentliche, also das, worauf es ankommt.82 Der Gegensatz wären die Adiaphora. Nach Müller ist ta diapheronta ein stoischer Begriff und wohl „aus der Popularphilosophie in die hellenistische Synagoge eingedrungen“.83 Die nächste Parallele findet sich in Röm 2,18 (δοκιμάζεις τὰ διαφέροντα). Dort bezieht sich Paulus auf die jüdische Voraussetzung, dass durch das Gesetz bestimmt wird, was am besten ist. In Phil 1 geht es Paulus letztlich darum, worauf es hinsichtlich der Liebe ankommt, also darum, wie Liebe am besten gelebt werden kann. Von daher entscheidet die Liebe, für die Christus der absolute Maßstab ist, über das Handeln und nicht etwa ein Gesetz, und um das Wachsen dieser Liebe bittet Paulus im Hinblick 78 79 80 81

Gnilka 51f, so auch Dibelius 63f und im Anschluss an diesen Müller 47. Hansen 59. Stettler, Heiligung, 521. Dies findet sich später ähnlich bei Epictetus, Diss I 20,7. Vgl. Bonhöffer, Epiktet, 299. Epictetus’ Lehrtätigkeit fällt zwischen 100 und 130, vgl. a.a.O., 3. 82 Bauer/Aland 382 verweisen für diese Bedeutung auf Pseudo-Platon, Eryx. 6 p. 394 E. Vgl. ebd. auch zum Folgenden. 83 Müller 47, Anm. 67.

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auf die Gemeinde. Weil die Ausrichtung auf Christus entscheidend ist, hat Bengel recht, wenn er sagt: „Diejenigen prüfen nicht, was je das Beste sei, die immer nur fragen, wie weit sie die Freiheit ohne Sünde ausstrecken können.“84 Vielmehr geht es darum, auf der Grundlage der Liebe das Beste vom Guten zu unterscheiden. Mit diesem Insistieren auf einer neuen Orientierung christlichen Handelns in der Ausrichtung auf die Liebe, die an die Stelle des Gesetzes tritt, klingt schon das Thema von Kap 3,2-11 an, auch wenn dort natürlich ein wesentlich umfassenderes Feld beschritten wird. In V. 10b stellt sich zuallererst die syntaktische Frage, welche vorhergehende Aussage der ἵνα-Satz damit ihr seid fortführt. Dies wird kaum der substantivierte Infinitiv sein, denn dies wäre sehr ungewöhnlich. Schwierig zu entscheiden ist aber, ob der zweite ἵνα-Satz dem ersten unter- oder nebengeordnet ist, also als direkter, von προσεύχομαι abhängiger Objektsatz noch eine weitere Gebetsbitte des Paulus formuliert.85 Eine Nebenordnung der beiden ἵνα-Sätze hätte Paulus durch eine Verbindung mit καί eindeutig markieren können. Eine Unterordnung des zweiten ἵνα-Satzes lässt sich zwar nicht beweisen, aber doch sehr wahrscheinlich machen. Das Ziel, rein und tadellos zu sein bis zum Tag Christi, ließe sich sehr gut als Ziel des Wachsens der Liebe begreifen. Auch in diesem Fall ist es natürlich Inhalt des Gebets. Das Adjektiv εἰλικρινής [eilikrinēs] (rein) verwendet Paulus nur hier (im NT noch in 2Petr 3,1), das Substantiv εἰλικρινεία dreimal, in 2Kor 1,12; 2,17 zur Charakterisierung der Motivation in seinem Dienst (außerdem noch in 1Kor 5,8). In der LXX findet sich εἰλικρινής nur in Weish 7,25, und zwar bezogen auf die göttliche Weisheit. ἀπρόσκοπος [aproskopos] (tadellos, unverletzt) meint inhaltlich dasselbe. Das Gebet des Paulus geschieht mit einer eschatologischen Perspektive und zielt auf die Reinheit und Untadeligkeit, also „die möglichste Vollkommenheit“86 der Gemeinde am Tag Christi, an dem das Werk bzw. das Schaffen Gottes zur Vollendung kommt, was Paulus schon in V. 6 im Zusammenhang mit dem Tag Christi gesagt hat. Dabei sind rein und tadellos als Ergebnis des guten Werks Gottes zu verstehen. Fee schließt aus der Wortwahl: Das Verhalten mancher in Philippi hat anscheinend „the latent possibility of ‘mixed motives,’ or at least is a potential source of ‘offense.’ Paul prays 84 Bengel, Gnomon, 376. 85 Für Letzteres vgl. Gnilka 52. Vergleichbare Stellen sind bei Paulus selten. In Kol 1,9f steht aber der Inhalt des Gebets in einem ἵνα-Satz, und die Absicht wird mit einer Infinitivkonstruktion angeschlossen. Ähnlich verhält es sich in Kol 4,3. Allein auf Basis der Kolosserparallele kann die Frage nicht entschieden werden. 86 Schenk 121. Müller spricht angesichts der eschatologischen Perspektive von dem „vollendungsorientiertem Leben“ (Müller 48).

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Der Brief des Paulus an die Philipper

that they may stand blameless on the day of Christ, not having offended others through equivocal behavior.“87 Auch wenn dies nur mit der nötigen Vorsicht gesagt und vermutet werden kann, so sind doch z.B. in den Mahnungen zur Einheit (2,1-5; 4,2) Hinweise in diese Richtung erkennbar. 11 Das modale participium coniunctum πεπληρωμένοι [ peplērōmenoi] (erfüllt) bestimmt den zweiten ἵνα-Satz näher.88 Das verwendete Passiv ist als passivum divinum zu begreifen. Gott ist es, der die Philipper mit der Frucht erfüllt. Zu diskutieren ist, welche zeitliche Perspektive Paulus hier für das Erfüllt-Werden annimmt. Nach Hansen steht peplērōmenoi für eine „future completion of a process“.89 Das futurische Perfekt ist äußerst selten, und es gibt keine Notwendigkeit, es in Phil 1,11 vorauszusetzen. Da aber der übergeordnete ἵνα-Satz die eschatologische Perspektive geöffnet hat, ist ein futurischer Aspekt durchaus zu integrieren, jedoch kann die paulinische Aussage nicht auf diesen reduziert werden. Die Gegenwartsdimension ist in den Blick zu nehmen. Gott verändert die Gemeinde und wirkt an ihr, sodass sie am Tag Christi rein und tadellos und voll Frucht der Gerechtigkeit ist, aber dies ist ein Prozess, der schon in der Gegenwart vollzogen wird, wenn auch nicht zur Vollendung kommt. In diese Richtung weist die Rede von der Frucht90 der Gerechtigkeit. Die schon atl. Wendung καρπὸς δικαιοσύνης [karpos dikaiosynēs] (vgl. LXX Am 6,12; Spr 3,9; 11,30) hat eine inhaltliche Nähe zur Frucht des Geistes in Gal 5,22f.91 Dort geht es um das gegenwärtige Leben der Christen. Und genau so wünscht sich Paulus für die Philipper, dass sie am Tag Christi voller Frucht der Gerechtigkeit dastehen, aber dies erfordert in der Gegenwart, eben diese Gerechtigkeit auszuleben. Von daher ist das Verhalten der Christen im Blick, die zu einem christusgemäßen Leben verändert werden sollen. Gewirkt wird die Frucht durch die Gerechtigkeit. δικαιοσύνης ist als genitivus auctoris aufzufassen.92 Von Phil 3,9 her ist m.E. die Frucht zu verstehen als ein durch Gott in der Beziehung mit Christus gewirktes christusgemäßes Verhalten. Die Gerechtigkeit besteht also nicht in dem Verhalten, sondern sie bewirkt dieses. 87 Fee 103. 88 Theoretisch könnte das Partizip auch ein weiteres Prädikatsnomen zu ἦτε sein, aber in diesem Fall wäre eher eine Verbindung mit καί zu erwarten. 89 Hansen 62. Dies lässt sich jedoch (gegen Hansen) mit Porter, Idioms, 41, nicht begründen. 90 Der Akk. καρπόν steht anstelle des Gen. des Inhalts, vgl. BDR § 172 Anm. 2. 91 Ähnlich auch Müller 48, der sogar von einer Entsprechung ausgeht. 92 Anders offenbar Hansen 64, nach dem Paulus δικαιοσύνη in zweierlei Weise benutzt: „as moral behavior that comes through Christ Jesus (1:11) and as God’s gift of a right relationship in Christ (3:9).“ Hansen müsste δικαιοσύνη als genitivus qualitatis auffassen.

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Die Worte durch Jesus Christus sind aufgrund des Artikels τόν eindeutig auf Frucht und nicht auf Gerechtigkeit zu beziehen. Die Präposition durch (διά) bezeichnet wie z.B. auch in Röm 5,1 den Vermittler. Die Frucht entsteht bei den Philippern bzw. kommt zu ihnen durch ihre Beziehung zu Christus. Damit ist zugleich die Deutung von δικαιοσύνης als genitivus auctoris bestätigt. Das von Paulus genannte Ziel ist die Ehre und das Lob Gottes. Die beiden Worte δόξα [doxa] und ἔπαινος [epainos] finden sich nebeneinander bei Paulus in Eph 1,6.12.14, wo jedoch δόξα jeweils im Genitiv steht. Nach BDR könnten δόξαν und ἔπαινον auch mittels καί als Akkusative koordiniert worden sein zur Vermeidung von Ketten abhängiger Genitive.93 Dem widersprechen aber die Wortreihenfolge (zu erwarten wäre ἔπαινον δόξης) einerseits und die Parallelen in Eph 1 andererseits, wo bis zu vier Genitive hintereinanderstehen. Die Wendung zur Ehre und zum Lob Gottes ist – anders als in Phil 2,11 – keine Schlussdoxologie. Vielmehr handelt es sich um eine ganz umfassend gemeinte Zielangabe. Gott wird die Ehre zuteil aufgrund seines Wirkens in ihrem Leben. Andererseits zielt die Bitte zum Schluss von Paulus’ Gebet darauf, dass die Philipper zur Ehre und zum Lob Gottes leben (vgl. Eph 1,12). „Praise to God or the perfection of the church on the day of Christ gave Paul the ability to rejoice during his dark days in Roman prison.“94 Dies gilt selbst dann, wenn Paulus Nachrichten über Gegner (1,15-17; 3,2ff ) und über Konflikte zwischen Gemeindeleitern (4,2) erhält.

IV Zusammenfassung Man kann das Proömium unter vier Stichpunkten zusammenfassen: 1. Gebet: Wenn für Paulus das ganze Leben des Christen auf Gott ausgerichtet und ein ständiges Gebet ist, dann ist klar, dass dieses nicht auf Worte zu beschränken ist. Es kommt freilich auch nicht ohne Worte aus, sondern wird immer wieder auch in Worten expliziert und artikuliert. Gebauer sagt treffend, „dass das Gebet für ihn [scil. Paulus] nicht nur ein gelegentliches Reden mit Gott ist, sondern ein ständiges Sich-Hinwenden zu Gott, um das gesamte Leben vor ihn zu bringen und von ihm her zu gestalten.“95 Gebet ist nach Paulus also nicht auf einzelne Handlungen zu beschränken, sondern es ist eine auf Gott ausgerichtete Grundhaltung. Für Paulus ist der Christ „seinem Wesen

93 Vgl. BDR § 442, Anm. 28. 94 Hansen 65. 95 Gebauer, Paulus, 150.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

nach ein Beter“.96 Gerade im zwischenmenschlichen Miteinander ist die Liebe Gottes der Ermöglichungsgrund des anhaltenden Gebets, das in konkreten Bitt- und Dankgebeten seinen Ausdruck findet. Dabei geht es nun nicht darum, von morgens bis abends Gebete zu sprechen, sondern um die Grundhaltung, das Leben in der ständigen Hinwendung zu Gott zu führen. 2. Beziehung: Wenn Paulus an die Philipper denkt, ist er zutiefst dankbar für diese Gemeinde, zu der er eine freundschaftliche Beziehung hat. Mit dem Gebetsbericht im Proömium schlägt Paulus eine „Vertrauensbrücke“97 zu den Empfängern. Charakteristisch ist, dass Paulus eine positive Haltung gegenüber allen hat (V. 7), obwohl er sich über manche kritisch äußert (1,15-18; 4,2). Im Gebet erschließt sich seine Sicht der Gemeinde. Es geht nicht darum, über alle Missstände hinwegzusehen, sondern um das Wahrnehmen, dass Gott in der Gemeinde am Wirken ist und dass er das Werk vollenden wird. Diese Perspektive der Dankbarkeit gilt es auch heute immer wieder zu gewinnen. Paulus nennt die Philipper „Teilhaber der Gnade“. Auch damit drückt er eine tiefe Verbundenheit aus, die selbst im Leiden trägt. Paulus empfindet Sehnsucht nach und Liebe gegenüber den Philippern. Dies weist hin auf die intensive Beziehung zwischen dem Apostel und der makedonischen Gemeinde (V. 8), die er so wohl zu keiner anderen Gemeinde hat. So schließt sein Gebet alle ein, d.h. Paulus sieht die in Christus gegebene Verbundenheit (V. 4). Diese ist die Grundlage für die Beziehungen untereinander, die letztlich nicht einfach auf Sympathie beruhen, sondern auf dem Wirken Gottes. Paulus vertraut für das Vollenden des Werks auf Gott. Wer diese Perspektive hat, weiß sich abhängig von Gott und ist sich bewusst, das Werk nicht aus eigener Kraft vollenden zu können. Selbst wenn Rückschläge in der Gemeindeentwicklung verkraftet werden müssen, kann man Gott vertrauen. Paulus tritt fürbittend für die Gemeinde ein und gibt so ein Vorbild, das insbesondere für den Umgang mit Schwierigkeiten oder Konflikten in der Gemeinde wegweisend ist. 3. Mission: Paulus formuliert seine Wertschätzung für die Partnerschaft bei der Evangeliumsverkündigung, die zwischen ihm und den Philippern besteht. Voller Hoffnung vertraut er auf Gott, dass dieser das gute Werk am Tag Christi

96 Ostmeyer, Gebet, 282. Ostmeyer (ebd.) sagt: „Ein gläubiger Christ im paulinischen Sinne kann, egal was er tut oder nicht tut (vgl. Röm 14,6), gar nicht nicht beten.“ Dies müsste etwas vorsichtiger formuliert werden. 97 Schenk 93. Schenks Feststellung eines Testamentscharakters des Proömius (vgl. ebd.) ist vor dem Hintergrund von Phil 1,25f; 2,24 wenig überzeugend.

2.1 Der Fortschritt des Evangeliums (1,12-18a)

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vollenden wird. Mission geschieht also in eschatologischer Perspektive, und am Tag Christi wird die Gemeinschaft mit Christus vollkommen sein. Die Verkündigung des Evangeliums wird auch durch die Inhaftierung nicht verhindert, sondern diese ist als Chance für die Verteidigung des Evangeliums und für die Bekräftigung seiner Wahrheit zu begreifen. Für die Gemeinde heute wird es immer wieder eine Herausforderung sein, die Partnerschaft in der Evangeliumsverkündigung zu gestalten, z.B. mit von der Gemeinde ausgesandten Missionaren. 4. Zielorientiertes Wachstum: Paulus bestätigt den Philippern ihre Liebe, aber er sieht bei ihnen noch Potenzial zum Wachstum. Das Ziel ist, durch Christus Gott persönlich zu kennen. Das Wachsen in der Liebe soll dazu führen, dass die Gemeindeglieder prüfen können, worauf es ankommt, insbesondere hinsichtlich der Liebe, für die Christus der Maßstab ist. Das Ziel ist, am Tag Christi tadellos zu sein. Für diesen Wachstumsprozess vertraut Paulus auf Gott, dass er in der Christusbeziehung der Philipper ein an Christus orientiertes Verhalten wirkt. Dieses Erfüllt-Werden mit Frucht ist ein Prozess in der Gegenwart, dessen Vollendung aber bis zum Eschaton aussteht. Paulus hat die zukünftige Vollendung im Blick und betet um Wachstum in der Gegenwart. Das alles umschließende Ziel ist dabei die Ehre und das Lob Gottes.

2. Der Fortschritt des Evangeliums und die Ausrichtung auf Christus (1,12-26) 2.1 Der Fortschritt des Evangeliums (1,12-18a) I Übersetzung 12 Aber ich will, Geschwister, dass ihr wisst: Meine Lage hat eher zum Fortschritt des Evangeliums beigetragen, 13 sodass dem ganzen Prätorium und allen Übrigen meine Fesseln bekannt geworden sind in Christus 14 und (sodass) die meisten Geschwister, weil sie auf den Herrn (ihre) Zuversicht setzen aufgrund meiner Fesseln, das Wort furchtlos sagen. 15 Einige verkündigen Christus zwar aus Neid und auch Rivalität, andere aber auch in guter Absicht; 16 die einen aus Liebe, weil sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums eingesetzt bin, 17 die anderen aber verkündigen Christus aus Egoismus, nicht aufrichtig, weil sie (mir) Bedrängnis in meiner Gefangenschaft bereiten wollen. 18 Was soll’s? Jeden-

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falls, dass auf jede Weise,1 ob zum Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündigt wird. Und darüber freue ich mich.

II Textkritik, Aufbau und Form Textkritische Anmerkungen. In V. 14 hat die Zufügung von τοῦ θεοῦ hinter λόγον eine gute äußere Bezeugung (‫ א‬A B [D*] P Ψ, einige Minuskeln, lat. Übersetzungen, Peschitta, die koptischen Übersetzungen, Clemens), als weitere Variante ist noch die Zufügung von κυρίου belegt (F G). Auch die kürzere Lesart ist gut bezeugt (î46 D2 K 1739 Û Marcion etc.). Die beiden Varianten lassen sich leicht aus der kürzeren Lesart erklären, anders als eine Auslassung des Genitivattributs. Von daher verdient die kürzere Lesart den Vorzug. Zu den Versen 16-18 gibt es diverse Varianten, aber die überwältigende äußere Bezeugung spricht für den Text von NA28. Beachtenswert ist die Vertauschung von V. 16 und V. 17 in D1 K Û u.a., die die chiastische Struktur (s.u.) in V. 15-17 in eine Parallelität auflöst. Aufbau und Form. Die Einleitung ich will, dass ihr wisst, das aber und die explizite Anrede ἀδελφοί markieren in V. 12 einen Neueinsatz. Die beiden AcI in V. 13-14 sind durch ὥστε [hōste] als konsekutiv bestimmt und beide abhängig von dem ὅτι-Satz. Aus der Tatsache, dass es durch die Lage des Paulus zur Förderung des Evangeliums gekommen ist (resultatives Perfekt), ergeben sich die in V. 13-14 beschriebenen, als tatsächlich gedachten Folgen. Müller will das ὥστε „explikativ“ verstehen, weil in V. 12 schon ein Zustand (Perfekt ἐλήλυθεν – resultativ) erreicht ist. Die Begründung ist nicht zwingend. Müller verweist für seine Interpretation auf Schenk, der sich Ewald anschließt, der sich wiederum auf Kühner/Gerth bezieht.2 Hier ist aber zu größter Vorsicht zu mahnen, denn ein explikativer Gebrauch von ὥστε findet sich nach Kühner/Gerth nur „bisweilen“ und nur nach bestimmten Verben (γίγνεται, συμβαίνει, συμφέρει), unter diesen ist aber nicht ἔρχομαι. Zwar hat in Phil 1,12 die Bedeutung von ἔρχομαι εἰς eine gewisse Nähe zu γίνεται, aber es wird eben nicht dieses Wort verwendet. Ewalds Hinweis auf Isokrates 6,40 (4. Jh. v.Chr.) vermag die These nicht hinreichend zu stützen, da diese Stelle kein Beleg für einen entsprechenden Gebrauch von ὥστε bei ἔρχομαι εἰς in der Koine ist. Gegen Ewalds These spricht, dass hier

1 Inhaltsgleich kann man auch übersetzen: Was kommt denn dabei heraus, außer dass … 2 Vgl. Müller 51; Schenk 133f; Ewald 72, Anm. 1; Kühner/Gerth, Grammatik II/2, § 473.4 Anm. 11. Dieser Gebrauch von ὥστε findet weder in den gängigen Wörterbüchern (Bauer/ Aland, LSJ, Passow, Menge) noch in den ntl. Grammatiken (Siebenthal, BDR, Wallace) Erwähnung.

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dann ein appositionaler bzw. epexegetischer Infinitiv3 zu erwarten wäre, bei dem das ὥστε aber eher störend wäre. Letztlich ist die inhaltliche Differenz nicht allzu groß, da auch von Ewald bis Müller V. 13-14 als mit V. 12 zu verbindende Ereignisse gedeutet werden.

V. 15-18a enthält einen zweifachen Chiasmus, der sich wie folgt darstellen lässt. 15 A Neid/Streit B gute Absicht 16-17 B aus Liebe A aus Selbstsucht 18a A zum Schein B in Wahrheit Mit dieser Struktur wird die Gegenüberstellung der Anhänger und Gegner des Paulus bzw. ihrer jeweiligen Motive verdeutlicht und betont hervorgehoben, wobei beide Seiten zu den in V. 14 genannten meisten Geschwistern gehören. Im Anschluss an das Proömium gibt Paulus eine Art Selbstbericht, der aus anderen antiken Briefen bekannt ist.4 Der Abschnitt unterscheidet sich von einem solchen jedoch dadurch, dass die eigene aktuelle Situation des Paulus kaum geschildert wird, ab V. 18 spricht er primär über Zukunftserwartungen. Bis V. 18 spricht Paulus weniger über sich als vielmehr über das Evangelium, womit zugleich eine Stichwortanknüpfung an 1,5.7 hergestellt wird. Diese wird ergänzt durch die Begriffe δεσμοί [desmoi] (vgl. 1,14 mit 1,7) und ἀπολογία [apologia] (vgl. 1,16 mit 1,7). Paulus informiert nicht einfach darüber, dass er gefangen ist, was die Gemeinde ja schon weiß (vgl. 1,7), sondern er entfaltet, was seine Gefangenschaft bedeutet.5

III Einzelexegese 12 Erstmals im Brief spricht Paulus die Adressaten mit Geschwister an, vgl. noch 3,1.13.17; 4,1.8. Wie in vielen Sprachen und Kulturen wird im ntl. Griechisch für eine gemischtgeschlechtliche Gruppe oft die maskuline Bezeichnung verwendet, so auch der Plural ἀδελφοί [adelphoi].6 Dies belegt 3 Vgl. dazu Wallace, Grammar, 606-607. Für beide gibt es Belege aus unserem Brief, nämlich Phil 1,29 und (möglicherweise) Phil 3,21, und weitere ntl., auch paulinische Stellen, vgl. ebd. 4 Vgl. Wojtkowiak, Christologie, 270. Witherington 71 hält diesen Abschnitt für eine narratio. 5 Vgl. Bloomquist, Subverted, 275. 6 Für die Übersetzung des Plurals ἀδελφοί mit Geschwister vgl. Menge, Großwörterbuch, 11; Passow, Handwörterbuch I/1; Pape Handwörterbuch I, 32; Bauer/Aland 28f. Sicher anzunehmen ist diese Bedeutung in Mk 3,31-35, wo ἀδελφοί in V. 31 Sammelbegriff für die in V. 32 genannten Brüder und Schwestern ist. Ebenso bezeichnet ἀδελφοί in V. 33f

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auch Phil 4,1-3, wo Paulus nach einer mit der Anrede adelphoi eingeleiteten Aufforderung unmittelbar anschließend zwei Frauen, Euodia und Syntyche, zur Einheit ermahnt. Selbstverständlich sind diese bei der voranstehenden Anrede adelphoi inkludiert gewesen. Die Bezeichnung Geschwister erklärt sich daraus, dass die Gläubigen als Kinder Gottes adoptiert sind (Gal 4,4-6). Mit ich will, dass ihr wisst leitet Paulus auf eine gewichtige Nachricht hin (vgl. ähnlich in Röm 1,13; 11,25; 1Kor 10,1; 11,3 u.a.), die es zu bedenken gilt.7 Die Wendung τὰ κατ᾽ ἐμέ [ta kat eme], wörtlich in etwa „was mich angeht“, hier übersetzt mit meine Lage, könnte darauf hindeuten, dass Paulus nun Fragen der Gemeinde nach seinem Ergehen aufgreift.8 Bezeichnenderweise spricht Paulus dann aber weniger über sich als über das Evangelium. Dies ist umso auffälliger, wenn man mit Mengel vermutet, dass Paulus hier erstmals der Gemeinde authentische Nachrichten über seine Haft zukommen lässt9 bzw. lassen kann. Anders als sonst in zeitgenössischen Gefangenschaftsbriefen üblich,10 beschreibt Paulus die Haftbedingungen selbst nicht näher. Seine eigene Lage nimmt er nicht so wichtig. Für ihn ist sein persönliches Ergehen unmittelbar und untrennbar mit dem Fortschritt des Evangeliums verbunden. Deshalb antwortet er auf die Frage nach seinem Ergehen mit einem Bericht über das Ergehen des Evangeliums. Seine eigene Situation wird er später noch genauer ansprechen (4,10-18). Möglicherweise nutzt Paulus hier bewusst ein Wortspiel.11 Eigentlich könnte man erwarten, dass Paulus seine Gefangenschaft als Hindernis (προσκοπή [ proskopē]) für das Evangelium wertet, sie dient jedoch der Förderung (προκοπή [ prokopē]) desselben. Und dies ist entgegen der Erwartung (eher [μᾶλλον]),12 vermutlich der Adressaten, also der Philipper. Möglicherweise fürchteten sie, „mit der Haft des Boten wäre auch die Botschaft schachmatt gesetzt“,13 aber die vermeintliche Sackgasse erweist sich (evtl. überraschend) als neue Vorstoßmöglichkeit und bewirkt eine weitere Verbreitung des Evangeliums. Der Fortschritt und die FörGeschwister, wie die Ausdifferenzierung in Bruder und Schwester in V. 35 zeigt. Analog verwendet auch Paulus den Plural ἀδελφοί. In Gal 6,18 ist er die Anrede für Männer und Frauen, da anzunehmen ist, dass beim Verlesen der paulinischen Briefe in der Gemeindeversammlung auch Frauen anwesend waren. 7 Vgl. Schenk 133, der sich aufgrund der metasprachlichen Funktion dieser „performativen Sprechhandlung“ (ebd.) gegen Gnilka 55 wendet, der die „Dürftigkeit der Mitteilungen“ beklagt. Vgl. auch Ernst 44, ähnlich Witherington 75. 8 Vgl. K. Barth 17; Müller 51; Böttrich, Verkündigung, 86. Ähnlich Witherington 72. 9 Vgl. Mengel, Studien, 229. 10 Vgl. Michaelis, Gefangenschaftsbriefe, 587-589. 11 Vgl. Hansen 79. 12 Vgl. Wojtkowiak, Christologie, 270. 13 Eichholz, Bewahren, 145.

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derung des Evangeliums sind paulinische Grundanliegen. Die prokopē ist verbunden mit der Förderung der Gemeinde (vgl. 1,25).14 Diese missionarische Aktivität von Paulus steht in einem Kontrast zur jüdischen Praxis. Es gibt keine wirklichen Hinweise auf eine Mission von Juden unter Heiden, auch wenn man von einem gewissen Interesse der Juden an der Bekehrung von Heiden zum Judentum sprechen kann, wobei sich dieses offenbar besonders auf höhergestellte Einzelpersonen bezog.15 In jüdischer Perspektive ist die Umkehr der Heiden in erster Linie ein eschatologisches Ereignis. Im Gegensatz dazu richtet Paulus schon in 1,5f den Fokus auf die missionarische Aktivität der Gemeinde, ähnlich in 1,12.14.19f.21-26. Für ihn ist die Verbreitung des Evangeliums – und diese geschieht für Paulus durch die Wortverkündigung – eine grundlegende christliche Aktivität.16 Bei Paulus geschieht die Verkündigung des Evangeliums angesichts des eigenen Leidens; andere am Ort der paulinischen Gefangenschaft verkündigen das Evangelium aus egoistischen Motiven. Paulus schildert im Folgenden relativ ausführlich die Situation am Haftort. Da Paulus direkt involviert ist, ist dies in einem Freundschaftsbrief nicht überraschend. Paulus beschreibt damit negatives und vorbildhaftes Verhalten im Hinblick auf die Evangeliumsverkündigung und bereitet so den Abschnitt 1,27–2,11 vor.17 13 Mit sodass (ὥστε [hōste]) wird die erste Folge des Fortschritts des Evangeliums eingeleitet. Es wurde klar, dass Paulus in Haft ist, weil er Christ ist,18 was bei ihm auch immer das Verkündigen des Evangeliums implizierte. Die Haft und die mit ihr vorauszusetzende öffentliche Gerichtsverhandlung schufen für Paulus die Chance, für das Evangelium vor einem breiteren Publikum, nämlich dem Prätorium (s.u.) einzutreten.19 Paulus nutzt seine Fesseln, die hier stehender Ausdruck für Gefangenschaft sind, zur Verkündigung des Evangeliums, und er deutet seine Gefangenschaft im Sinne der Gemeinschaft mit den Leiden Christi (vgl. 3,10). Mit der Wendung in Christus (vgl. zu 3,1 [Exkurs]) ordnet Paulus das Bekannt-Werden seiner Haft in das Christusereignis ein. Denkbar wäre es auch, ἐν und somit die Wendung in Christus

14 προκοπή findet sich ntl. sonst nur noch in 1Tim 4,15 und dort bezogen auf den Fortschritt von Timotheus. 15 Vgl. Ware, Mission, 47-55.285. Auch Mt 23,15 kritisiert entsprechendes Handeln der Pharisäer, vgl. a.a.O., 53. Zum Fehlen einer vorchristlichen jüdischen Mission vgl. Riesner, Jewish Mission, 211-250. 16 Vgl. Ware, Mission, 287: „general Christian activity“. 17 Ähnlich Fowl 43. 18 So auch Martin/Hawthorne 43. 19 Vgl. Gnilka 58; Müller 52.

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instrumental zu verstehen, dass also Christus der Handelnde beim BekanntWerden ist. Die durch καί hergestellte Verbindung mit τοῖς λοιποῖς πάσιν [tois loipois pasin] (allen Übrigen) spricht dafür, den Begriff Prätorium (πραιτώριον [praitōrion]) weniger auf ein Gebäude, sondern eher auf Personen zu beziehen. Ob und wie Prätorium Ephesus zugeordnet werden kann, nimmt man diese Stadt als Abfassungsort an, ist umstritten. Bruce verneint diese Frage. Paulus benutze praitōrion als Lehnwort aus dem Lateinischen und als terminus technicus. Dieses Wort bezeichne zunächst das Hauptquartier des Prätors oder auch das Hauptquartier eines Feldherrn. Zwar sei praitōrion die Bezeichnung für das Hauptquartier eines Gouverneurs gewesen, jedoch nur in einer kaiserlichen Provinz. Nach Bruce „there is no known instance in imperial time of its use for the headquarters of a proconsul, the governor of a senatorial province such as Asia was at this time.“20 Nach Reicke ist praitōrion in Phil 1,13 nicht auf ein Gebäude, sondern auf eine Menschengruppe zu beziehen. Weil der Begriff aber nicht für das Personal eines Gouverneurs verwendet wurde und zudem in Ephesus ohnehin ein Prokonsul residierte, könne sich praitōrion nur auf die Garde in Rom beziehen.21 Kritisch ist dann aber zu fragen, wie mehrere tausend Prätorianer alle von der Situation des Paulus erfahren haben sollen (so mit Recht Feine, Abfassung, 7273). Nach Reicke sind die aktiven Prätorianer für den Schutz des Kaisers und der Hauptstadt verantwortlich gewesen. „Beside this, Asia was a senatorial province and was therefore ruled by civil authority; for this reason, no troops were stationed there“ (Reicke, Caesarea, 283). Die wenigen Inschriften aus der Gegend von Ephesus, in denen ein praetorianus erwähnt wird, beziehen sich nach Reicke auf einen aus dem Dienst ausgeschiedenen Prätorianer, der Polizeiaufgaben übertragen bekommen hat.22 Gemeinsames Argument von Bruce und Reicke ist, dass Ephesus in einer senatorischen Provinz lag und deshalb in dieser Stadt kein Prätorium anzunehmen ist. Dagegen meint Feine, dass mit Prätorium der Amtssitz eines Prokonsuls oder eines anderen Statthalters bezeichnet werden kann.23 Nach Michaelis kann praitōrion die Paläste der Provinzstatthalter und die Gerichtsgebäude, ja auch die im Prä-

20 Bruce 11, vgl. ders., Makedonia, 263. Ihm schlossen sich O’Brien 22 und Wick, Philipperbrief, 184, an. Dieselbe Position vertritt auch Fee 35, Anm. 87. 21 Vgl. Reicke, Caesarea, 283 (mit einigen Inschriftenbelegen). 22 Vgl. Reicke, Caesarea, 283, mit Hinweis auf CIL, 6085, 7135 und 7136. Ähnlich Bockmuehl 28; Reumann 172; Fee 35, Anm. 86 (mit Verweis auf Bruce 12). 23 Vgl. Feine, Abfassung, 71-74 (und 87-88). Feine weist darauf hin, dass eine Verbindung von πραιτώριον mit Rom nicht ohne sprachliche Schwierigkeiten ist. Auch Müller und Michaelis beantworten die Frage nach einem Prätorium in Ephesus positiv, vgl. Müller 19; Michaelis, Einleitung, 207.

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torium amtierenden Richter bezeichnen,24 nach Pokorný/Heckel auch „Gebäude hoher Beamter und Offiziere“25, nach Broer „sogar jede Beamtenwohnung“ (Broer, Einleitung, 361). Nach Dormeyer könnte praitōrion „die Residenz des Prokonsuls von Asien“26 meinen. Die kurze, aber immer noch wertvolle Untersuchung von Mommsen bestätigt die letztere Position. Mommsen nennt mehrere Belege für ein weitergefasstes Verständnis von praetorium, bei dem die militärische Beziehung zurücktritt.27 Der Begriff kann u.a. stehen für eine Beamtenwohnung außerhalb der Stadt, für die Statthalterresidenz oder für das Landhaus eines Gutsbesitzers. Auch nach Egelhaaf-Gaiser wird praetorium „auch zur Bezeichnung des Amtssitzes oder der staatlichen Herberge verwendet“ und verallgemeinernd für „jedes prächtige Gebäude oder Landhaus“.28 Schließlich bestätigt auch Campbell in der renommierten Enzyklopädie der Antike (DNP) ein weitergefasstes Bedeutungsspektrum des Begriffs praetorium, der u.a. „auch Quartiere entlang der Fernstraßen für in offiziellem Auftrag reisende Beamte“29 bezeichnen konnte. Für Ephesus kann die Annahme einer Statthalterresidenz wahrscheinlich gemacht werden mit Cicero, Att V,13,1. Er berichtet von der Achtungsbezeugung seitens der Untertanen, „als wäre ich der Statthalter von Ephesus (Ephesio praetori)“ (Übers. nach Kasten). Haensch stellt in seiner materialreichen Untersuchung zu den Statthaltersitzen fest: „Die Quellen lassen recht deutlich erkennen, daß der Statthalter schon in der ausgehenden republikanischen Zeit in Ephesus residierte.“30 Sein Amtssitz konnte als Prätorium bezeichnet werden.

Es gibt also genügend Hinweise, dass für Ephesus die Existenz eines Prätoriums anzunehmen ist, wobei Paulus hier stärker die mit diesem verbundenen Personen im Blick hat. In Ephesus war dieses Prätorium – unabhängig davon, was genau hier bezeichnet ist – überschaubar, anders als das Prätorium in Rom (vgl. S. 22). Wenn Paulus also von einem Bekannt-werden in dem ganzen 24 Vgl. Michaelis 18f. Auch Omerzu, Prozeß, 327, meint, πραιτώριον auf die Residenz der Statthalter beziehen zu können (vgl. Mk 15,16 par. Mt 27,27; Joh 18,28.33; 19,9) bzw. auf die Bewohner. Einen Bezug zum Statthalterpalast stellen auch Bauer/Aland 1398 her. 25 Pokorný/Heckel, Einleitung, 287. Ähnlich Kümmel, Einleitung, 286. 26 D. Dormeyer, Art. Prätorium, NBL III (2001) 163-164: 164. Immerhin war Ephesus in claudischer Zeit die neue Hauptstadt Asiens, vgl. D. Knibbe, Art. Ephesos (Historisch), ANRW II.7.2 (1980) 748-810: 768. 27 Vgl. Mommsen, Prätorium, 437-438; so auch Burrell, Praetorium, 252. Zum Zurücktreten der militärischen Bedeutung in der Koine vgl. Omerzu, Prozeß, 327, Anm. 92. 28 Egelhaaf-Gaiser, Kulträume, 454. Sie verweist u.a. auf Cicero, Verr 2,4,65 und auf CIL III,6123: tabernas et praetoria per vias militares fieri iussit. (Er [scil. Nero] befahl, dass Gasthäuser und Praetoria an den Militärstraßen gemacht werden.) 29 J.B. Campbell, Art. Prätorium, DNP X (2001), 264. So auch Burrell, Praetorium, 232. Vgl. ausführlich Egger, Prätorium. 30 Haensch, Capita provinciarum, 312. Vgl. zu Ephesus 18f.312-321.

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(ὅλος [holos]) Prätorium spricht, dann muss dies keinesfalls eine Übertreibung sein. Alle Übrigen umfasst mindestens diejenigen, die außer denen, die zum Prätorium gehören, bei den Verhandlungen anwesend sind.31 Hansen versucht eine noch genauere Bestimmung und bezieht tois loipois pasin auf andere kaiserliche Angestellte (4,22).32 Mit dem einmaligen ἐν [en] lässt sich diese These jedoch nicht belegen. Natürlich können die in 4,22 erwähnten Personen mitgemeint sein, explizit sagt dies der Text aber nicht, schon gar nicht, dass nur an diese Personen gedacht ist. 14 V. 14 benennt die zweite (tatsächliche) Folge von V. 12b und beschreibt die Wirkung auf die Gemeinde bzw. die Christen. Die Gefangenschaft hat Paulus neue Möglichkeiten zur Verkündigung eröffnet, die er auch genutzt hat, sodass das Evangelium fortgeschritten ist. Die Folge ist, dass die meisten, wenn auch nicht alle Christen Zuversicht gewonnen haben, das Evangelium zu bezeugen. Wie in V. 12 verwendet Paulus hier das Wort adelphoi. Dies kann man mit Brüder übersetzen oder mit Geschwister,33 womit bei der evangelistischen Aktivität auch Frauen eingeschlossen wären. In jedem Fall geht es hier um eine positive Charakterisierung, zumindest der meisten Brüder bzw. Geschwister. Die präpositionale Wendung im Herrn (ἐν κυρίῳ [en kyriō]) ist auf das Verb (pepoitha) und nicht auf die Geschwister/Brüder zu beziehen.34 Die Zufügung von en kyriō zu adelphoi wäre eine ungewöhnliche Tautologie. Für die grammatische Konstruktion bei πέποιθα [ pepoitha], dem neben en kyriō auch der Dativ tois desmois zuzuordnen ist, eröffnen sich verschiedene Interpretations- und Übersetzungsmöglichkeiten. Nach Bauer/Aland bezeichnet an dieser Stelle der Dativ desmois die Sache, auf die die Zuversicht gesetzt wird.35 Parallelen wären im Corpus Paulinum nur 2Kor 10,7 und Phlm 21. Aber um anzuzeigen, worauf die Zuversicht gesetzt wird, verwendet Paulus bei pepoitha einige weitere Konstruktionen. Im Philipperbrief findet sich pepoitha mit Akkusativ (Phil 1,6.25) und pepoitha mit en (2,24; 3,3f )36. Von daher ist (sehr wahrscheinlich) auch in 1,14 pepoitha mit en kyriō zu verbin31 Martin/Hawthorne 44 beziehen τοῖς λοιποῖς πάσιν auf Menschen außerhalb des Prätoriums. 32 Vgl. Hansen 68, hier besonders Anm. 115. 33 Vgl. Fowl 39: „brothers (and sisters)“. 34 So auch S. Nägele, Art. Bruder/Nächster. ἀδελφός, TBLNT (22010) 208-212: 211; Martin/Hawthorne 44; Hansen 69. Gegen Müller 50. 35 Vgl. Bauer/Aland 1289. 36 Weitere Belege für πέποιθα mit Präpositionen sind 2Thess 3,4 (ἐν), 2Kor 3,3 (ἐπί) und Gal 5,10 (εἰς).

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den im Sinne von „Zuversicht/Vertrauen setzen auf den Herrn“. Der Dativ tois desmois ist dann als dativus causae aufzufassen, aufgrund meiner Fesseln. Die Gefangenschaft des Paulus ist also der Grund, dass die Christen Vertrauen auf den Herrn gewinnen,37 was eine spezielle Wirkung des Leidens um des Evangeliums willen ist. Die meisten Gemeindeglieder treten angesichts von Paulus’ eingeschränkter Wirkungsmöglichkeit an seine Stelle, um das Evangelium furchtlos zu sagen. Das Adverb περισσοτέρως [ perissoterōs] (noch mehr) impliziert, dass sie schon vorher das Evangelium verkündigt haben, aber dies jetzt noch mit gesteigerter Zuversicht tun. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Inhaftierung des Paulus zu (vorübergehenden) Irritationen und einer Einschränkung der missionarischen Aktivität geführt haben. Die Evangeliumsverkündigung bleibt ein Wagnis (wagen [τολμᾶν]) und erfordert Mut, insbesondere wenn sie, wie hier vorauszusetzen ist, außerhalb des geschützten Raums der Gemeinde geschieht. Wenn nach Paulus das Eintreten für das Evangelium furchtlos geschieht, dann bestätigt dies das große Vertrauen auf Christus, den Herrn. Das Wort sagen (τὸν λόγον λαλεῖν [ton logon lalein]) ist in der Apg (4,29.31; 11,19; 13,46; 14,25; 16,6.32) stehender Ausdruck für die apostolische Missionsverkündigung, wird aber auch von Paulus in diesem Sinn verwendet (vgl. Kol 4,3). Wort (logos) bezeichnet bei Paulus auch sonst das Evangelium bzw. die christliche Unterweisung (Gal 6,6; 1Thess 1,6). Lalein ton logon ist als Synonym zu kēryssein in V. 15 und katangellein in V. 17 zu verstehen, wird also in den nachfolgenden Versen aufgegriffen. 15 Anhand ihrer jeweiligen Motive unterscheidet Paulus bei den Geschwistern zwischen zwei Gruppen: Die eine besteht aus seinen Rivalen, die andere wird von seinen Sympathisanten bzw. Anhänger gebildet. Wesentlich für das Verständnis des Textes ist die Übereinstimmung der beiden Gruppen. Nicht nur die Anhänger des Paulus, sondern auch seine Rivalen verkündigen Christus. Beim Inhalt der Verkündigung besteht sogar ein Konsens mit Paulus selbst, weil auch für ihn Christus der zentrale Verkündigungsinhalt ist, und zwar als der Gekreuzigte (Phil 2,8; 1Kor 1,23, vgl. 1Kor 15,3), Auferstandene (1Kor 15,4.11) und gegenwärtige Herr (Phil 2,10f; 2Kor 4,5). Der Inhalt der Verkündigung, das Evangelium, ist in dem hier zur Debatte stehenden Konflikt nicht betroffen. Schon gar nicht wird das Evangelium verfälscht. Auch die Rivalen des Paulus nahmen das Wagnis der Christusverkündigung auf 37 Legt man das alternative Verständnis zugrunde, das theoretisch ebenfalls möglich ist, wäre zu übersetzen mit „weil sie im Herrn Zuversicht schöpfen aus meinen Fesseln“. Dies führt zu keiner fundamentalen Bedeutungsänderung.

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sich. Von daher ist der „Fortschritt des Evangeliums von der persönlichen Attitude jener Rivalen nicht beeinträchtigt“38. Gegenüber den Adressaten ihrer Verkündigung ist selbst den Rivalen keine Unaufrichtigkeit zu unterstellen, was sie fundamental von den in 2,21 genannten Personen unterscheidet, sodass es sich sehr wahrscheinlich um verschiedene Gruppen handelt.39 Man hat vielfach überlegt, welcher sachlich begründete Konflikt hier vorliegt.40 Grundlegende Lehrgegensätze sind angesichts der Christuspredigt (1,18) nicht anzunehmen. Die Gegner des Paulus sind also weder gnostischhäretische Lehrer41 noch Judaisten.42 Man kann ausschließen, dass die Rivalen des Paulus eine Beschneidungsforderung erhoben, denn dann hätte Paulus kaum den Ton der Freude in V. 18 angeschlagen.43 Wie Paulus auf gravierende theologische Differenzen reagiert, zeigt Kap. 3. Weiter wird als möglicher inhaltlicher Grund der Kontroverse die Beurteilung der Gefangenschaft diskutiert. Paulus sah sie als Ort der Evangeliumsverkündigung und sah sich generell zu dieser bestimmt (1Kor 9,16). Man hat erwogen, dass die Gegner meinten, dass die Gefangenschaft der Verkündigung schade, dass sie evtl. die Haft für vermeidbar hielten oder auch für gar nicht durch das Evangelium verursacht.44 Für all diese Thesen gibt es aber letztlich im Text keine entsprechenden Hinweise. Außer dass die Rivalen Christus predigen, erfahren wir über den Inhalt ihrer Verkündigung nichts. Dies ist eine hinreichende Begründung, dass es sich nicht um dieselben Gegner wie in Kap 3 handelt, denn dort geht es um Judaisten, die ein anderes Evangelium als Paulus verkündigen. Für eine Unterscheidung der Gegner in Kap. 1 und 3 spricht außerdem, dass die Gegner in Kap. 1 am Haftort wirken, die Gegner von Kap. 3 jedoch unmittelbar die Gemeinde in Philippi von außen bedrohen. V. 14 ist sowohl über die Rivalen wie auch die Anhänger ausgesagt, hinsichtlich des Inhalts der Verkündigung besteht also Übereinstimmung, aber die Schlussfolgerungen der beiden Gruppen aus der Haftsituation divergieren. Beide versuchen Paulus zu ersetzen, die einen jedoch primär in der Missionsaktivität, die anderen of-

38 Böttrich, Verkündigung, 88. 39 Anders Jewett, Movements, 365f, nach dem in Phil 1 und 2,21 dieselben Gegner im Blick sind. 40 Vgl. exemplarisch Müller 56-58. 41 Gegen Schmithals, Irrlehrer, 297-341: 311-338; ders., Gnosis, 31-37, dessen These die Annahme einer gemeinsamen Frontstellung in den Paulusbriefen zugrunde liegt. 42 Gegen Meyer/Franke 53-55. Zur Auseinandersetzung mit weiteren von Einzelnen vertretenen Positionen vgl. O’Brien 102-105. 43 Vgl. Wojtkowiak, Christologie, 272. 44 Vgl. Ollrog, Mitarbeiter, 199.

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fenbar (auch) in seiner (innergemeindlichen) Position. Maßgeblich ist also die auffällig unterschiedliche persönliche Haltung der Verkündiger zu Paulus.45 Paulus übt deutliche Kritik an den Rivalen und wirft ihnen Neid, Rivalität, Eigennutz und Unaufrichtigkeit vor. In V. 15 steht vor φθόνος [ phthonos] (Neid) und ἔρις [eris] (Rivalität/„Streit“) nur ein Artikel, sodass beide Wörter miteinander verbunden sind. Nebeneinander, also nicht wie hier als Paar, finden sich die Begriffe noch in Röm 1,29 und Gal 5,20f im Rahmen von Lasterkatalogen als Eigenschaften solcher, die nicht das Königreich Gottes erben.46 Die Rede von Neid und Rivalität richtet das Augenmerk auf einen Konflikt in den sozialen Beziehungen, in dem es um Autorität, Ehre und Einfluss geht.47 Diesen Neid und die mit ihm verbundene Rivalität hat man auf unterschiedliche Weise zu erklären versucht: 1. Die Haft des Paulus wurde als Rückschlag für Verkündigung empfunden, weshalb Vorwürfe gegen den Apostel erhoben wurden, verbunden mit Zweifeln an seiner apostolischen Legitimation.48 Dagegen ist einzuwenden, dass diese Problematik im Phil nicht Thema ist. 2. Unter der Annahme von Spannung zwischen verschiedenen Fraktionen in der Gemeinde werden die Rivalen für Judenchristen gehalten.49 Aber anders als in Kap. 3 äußert Paulus keine inhaltliche Kritik. 3. Lohmeyer sieht eine unterschiedliche theologische Bewertung des Leidens im Hintergrund (vgl. Lohmeyer 38.43-47). Dass die Rivalen Paulus ausgerechnet das Leiden neiden, dürfte jedoch kaum zutreffen. 4. Verschiedentlich wurde vermutet, der Neid sei durch die sozialpsychologische Konstellation motiviert, z.B. den schwierigen Charakter des Paulus. Eine auch im Detail plausible Begründung ist aber nicht gelungen. Nach Kähler will Paulus in Phil 1 warnend aufzeigen, wie Verfolgung die Einigkeit der Gemeinde bedrohen kann, und er will die Philipper dafür sensibilisieren, „daß der Druck von außen im Innern zentrifugale Kräfte wecken kann“ (Kähler, Konflikt, 63).

Grundsätzlicher ist Böttrich die Frage des Neides angegangen. Neid (φθόνος) richtet sich schon in der Antike „gezielt auf das, was andere dem Neider voraushaben und was er von ihnen begehrt.“50 Im Hintergrund steht die Vorstel-

45 Vgl. Böttrich, Verkündigung, 87. Vgl. ausführlicher Kähler, Konflikt, 50-53. 46 Daraus ergibt sich ein Argument gegen die Position von Holloway, Consolation, 101111, nach der Neid den Adiaphora zuzuordnen ist. 47 Vgl. grundlegend dazu Böttrich, Verkündigung, 84-101, hier 86. 48 So Jewett, Movements, 365-371, vgl. Manson, Date, 162. 49 So u.a. Walter 40. Friedrich 142 spekuliert, dass die Rivalen Vertreter des Stephanuskreises sind. 50 Böttrich, Verkündigung, 93. Böttrichs Ausführungen liegt die Studie von Foster, Envy, 165-186, zugrunde.

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lung der Begrenzung aller Güter, Ehre, Macht u.a. eingeschlossen51 Gewinnt also Paulus an Einfluss und Ehre, dann verlieren andere (in der ephesinischen Gemeinde) diese in gleichem Maß. Der Neid der Rivalen könnte sich gut auf die Stellung und den Einfluss des Paulus beziehen, die er seinem missionarischen Erfolg verdankt und hinter denen ihr Glanz und ihre Anerkennung zurückblieben. Paulus’ Missionserfolg führt zu Ehrgewinn, aus Sicht ehrgeiziger52 anderer aber zu ihren Lasten. Für sie war die Inhaftierung von Paulus eine willkommene Gelegenheit, um Ehre und Einfluss zurückzugewinnen, indem sie durch die Evangeliumsverkündigung Paulus jetzt überflügeln. „Sie predigen, weil sie P. den Rang ablaufen wollen.“53 eris bezieht sich in 1Kor 1,11; 3,3; 2Kor 12,20 auf innergemeindliche Rivalität und ist auch hier in diesem Sinn zu verstehen. Schon Lightfoot hat mit Recht über die Rivalen gesagt: „The main-spring of their activity is a factious opposition to the Apostle, a jealously of his influence. They value success, not as a triumph over heathendom, but as a triumph over St. Paul.“54 Letztlich sagt der Text wenig darüber, was die persönliche Rivalität veranlasst hat. Man muss diese Fragen nicht offen lassen,55 sollte aber aufgrund der Knappheit der Information in Rechnung stellen: Dem Anliegen von Paulus dürfte es mehr entsprechen, nicht die genauen Hintergründe der Rivalität zu ergründen zu versuchen – und dies gilt auch schon für die Philipper –, sondern den Fokus ganz auf die Verkündigung Jesu Christi zu richten. Den Rivalen von Paulus werden seine Anhänger und deren Motive positiv gegenübergestellt (tis men … tis de). Sie verkündigen Christus mit gutem Willen bzw. in guter Absicht. Mit εὐδοκία [eudokia] (vgl. 2,13) könnte die positive Einstellung gegenüber Paulus gemeint sein.56 Diese ließe sich über Sympathie hinaus allerdings kaum näher bestimmen. Alternativ könnte man mit O’Brien hier eine positive Einstellung gegenüber Gott annehmen,57 weil sich eudokia meist auf das göttliche Wohlgefallen bezieht (Phil 2,13; Mt 11,26; Lk 2,14; 10,21, Eph 1,5.9; vgl. aber Röm 10,1). Hier wäre dann an Gottes Wohlgefallen am Dienst des Paulus zu denken, das auch durch das Leiden nicht infrage zu stellen ist. Dies würde V. 12f korrespondieren, dass nämlich die Haft in keiner Weise Hinderungsgrund für die Verkündigung und 51 52 53 54 55 56 57

Vgl. Malina, Welt, 88-113; Foster, Envy, 168f; Böttrich, Verkündigung, 94. Nach Aristoteles, Rhetorica II,10-11 ist Ehrgeiz eine wesentliche Wurzel des Neides. Haupt 24. Lightfoot 88f. Vgl. auch Fee 120; Bockmuehl 80; Fowl 40. So aber O’Brien 105. So Meyer/Franke 50; Michaelis 21; Fee 120, Anm. 15. Vgl. O’Brien 99f und (im Anschluss an ihn) Fowl 40.

2.1 Der Fortschritt des Evangeliums (1,12-18a)

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den Fortschritt des Evangeliums ist. Außerdem verwendet Paulus in 1Kor 1,21; Gal 1,15f das Verb εὐδοκέω [eudokeō] mit Gott als Subjekt im Zusammenhang der Verkündigung des Evangeliums und der Bekehrung. Von daher ist in Phil 1,15 die missionarische Aktivität motiviert durch Gottes Heilsabsicht58 und Aktivität. 16 Die nähere Erläuterung der in V. 15 genannten Personenkreise beginnt chiastisch mit den Anhängern von Paulus. Dieser attestiert ihnen das Motiv Liebe (ἀγάπη [agapē]). Weil die Liebe zu Paulus gemeint ist, wird ein Bezug zu ihm selbst hergestellt.59 Zugleich wird das Thema von 1,9 aufgegriffen und hier konkretisiert in Bezug auf die Liebe zu Paulus. Die Liebe gehört zur Frucht des Geistes (Gal 5,22). Dies verschärft den Gegensatz zu den Motiven der Rivalen. Die Aktivität der Anhänger des Paulus ist motiviert durch Liebe, die der Geist gewirkt hat, der sie bevollmächtigt zu einer Verkündigung Christi in Wahrheit, vgl. V. 18. „They identify with him in proclaiming Christ, doing so out of true Christian love.“60 Sie investieren Einsatz, Zeit, möglicherweise persönliche Opfer für die Christusverkündigung. Außerdem sind sie informiert (eidotes) über die Bestimmung von Paulus. Paulus ist zur Verteidigung des Evangeliums eingesetzt. Wie in 1Thess 3,3 (und Lk 2,34) meint κεῖμαι εἰς [keimai eis] die göttliche Bestimmung bzw. Einsetzung, wobei zur Verteidigung eine Zielangabe ist. Evangelium steht bei Paulus für die Missionsbotschaft bzw. die missionarische Verkündigung.61 Die Verteidigung des Evangeliums (Apologetik) geschieht in missionarischer Absicht. Dabei sieht Paulus in erster Linie das Evangelium „angeklagt“, nicht sich selbst. Wie in V. 12 deutet Paulus seine eigene Situation ganz auf das Ergehen des Evangeliums bezogen. Sein Geschick ist nicht vom Ergehen des Evangeliums zu trennen, obwohl sich beide diametral entwickeln können, das Evangelium positiv und das eigene Geschick (scheinbar) negativ. Dem Fortschritt des Evangeliums steht der ungewisse Ausgang der Haft gegenüber. „Paul’s circumstances are both the result and the manifestation of his defense of the gospel.“62 Primäres Ziel des Paulus ist nicht seine eigene Verteidigung, sondern das Eintreten für das Evangelium. Dies geschieht in dem Bewusstsein, zur missionarischen Verkündigung beauftragt zu sein (1,16), und in dem Wis58 59 60 61

Vgl. Ware, Mission, 190. So auch O’Brien 99; Martin/Hawthorne 46; Hansen 73. O’Brien 101. Als Evangelium kann Paulus auch den Inhalt von Gemeindekatechese bezeichnen, vgl. 1Kor 15,1ff, vgl. dazu Häußer, Christusbekenntnis, 86-91. In Phil 1,16 geht es jedoch nicht um Gemeindekatechese. 62 Fowl 40, ähnlich O’Brien 102.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

sen um Gottes Handeln bei der Missionsverkündigung (1,15b). Diese beiden Aspekte sind ohne Parallele in den zeitgenössischen jüdischen Quellen.63 17 Gemäß dem chiastischen Aufbau erfolgt nun eine nähere Erläuterung zu den in 15a erstgenannten Rivalen des Paulus. Ihr Motiv ist Egoismus. Allerdings ist die genaue Bedeutung von ἐριθεία [eritheia] umstritten. Als mögliche Bedeutungen werden „Streitsucht“ (mit der Annahme einer Ableitung von eris [Streit]) und „Selbstsucht/Eigennutz“ (mit der Annahme einer Ableitung von eritheuō [als Lohnarbeiter tätig sein]) diskutiert, wobei Letzteres wahrscheinlicher ist.64 Zudem legt die Verwendung zweier verschiedener Wörter in V. 15 und V. 17 eher nahe, dass diese unterschiedliche Bedeutungen haben, vgl. das unmittelbare Nebeneinander in 2Kor 12,20. Paulus wirft seinen Rivalen vor, nicht aufrichtig zu sein. ἁγνῶς (Adverb) [hagnōs] ist ntl. singulär und hier auf die Motive zu beziehen. Unaufrichtig und aus purem Egoismus65 suchen die Rivalen in der Verkündigungsaktivität ihren eigenen Vorteil. Müller plädiert hier für eine sozialpsychologische Erklärung, dass nämlich die Gegner des Paulus sich seiner starken Persönlichkeit nicht gewachsen fühlten und sich unter Druck gesetzt sahen.66 Aufgrund der Knappheit des Textes lässt sich diese Behauptung nicht sichern. Anders als in V. 16 spricht Paulus jetzt nicht von „wissen“, sondern – in bewusster Unterscheidung, wie der hier einzige Gebrauch des Wortes bei Paulus zeigt – von wollen67. Die Rivalen wollen Bedrängnis in meiner Gefangenschaft bereiten. Ihr Ziel ist, dass die Ketten Paulus ärgern bzw. ihm Verdruss bereiten.68 Im NT werden viele unterschiedliche Gründe für θλῖψις [thlipsis] genannt, hier ist sie wohl als innere Not gedacht.69 Wie genau die thlipsis beschaffen ist und wie genau sie geschaffen wird, bleibt allerdings offen. Standhartinger zieht eine völlig andere Interpretation in Erwägung, die auf einem instrumentalen Verständnis des Dativs τοῖς δεσμοῖς [tois desmois] 63 Vgl. Ware, Mission, 199. 64 Vgl. F. Büchsel, Art. ἐριθεία, ThWNT II, 658f; Menge, Großwörterbuch, 286; Bauer/ Aland 626; Haupt 24, Anm. 2; Standhartinger, Eintracht, 165. Vorntl. kommt das Wort nur an wenigen Stellen bei Aristoteles vor (vgl. Büchsel, ebd.; Bauer/Aland ebd.), und zwar i.S.v. „selbstsüchtiges Buhlen“. Vgl. außerdem die Übersetzung von Hes 23,5.12 bei Symmachus (170 n.Chr., vgl. Würthwein, Text, 56). 65 Bockmuehl 80 sagt dazu: „The robe of Christian ministry cloaks many a shameless idolatry.“ 66 Vgl. Müller 56, im Anschluss an Schenk 140 und Haupt 23. 67 οἴομαι bedeutet nicht nur „meinen, denken“ (Bauer/Aland 1140), sondern auch „gedenken … gewillt sein, wollen (mit inf.)“ (Menge, Großwörterbuch, 486). 68 Ähnlich O’Brien 102; Bockmuehl 80; Fowl 41. 69 So auch O’Brien 102, gegen Collange 57f, der diese Bedeutung für θλῖψις im NT ausschließt.

2.1 Der Fortschritt des Evangeliums (1,12-18a)

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basiert, sodass zu übersetzen wäre: „Sie meinen, dass durch meine Fesseln Bedrängnis entsteht.“ Die in V. 17 charakterisierten Personen wären dann objektiv besorgt.70 Offen bliebe aber, wie sich dies sinnvoll zu dem in V. 15 herausgearbeiteten Verständnis von Neid und Rivalität verhalten könnte, weshalb diese Erklärung nicht zu überzeugen vermag. So zielt V. 17 darauf, dass auch durch Neid und Rivalität motivierte Christusverkündigung Fortschritt für das Evangelium bringt, aber zu Lasten des inhaftierten Paulus, weshalb für diesen Bedrängnis (thlipsis) entsteht.71 18 V. 18 setzt die chiastische Struktur fort. Nach der Darstellung der Motive fragt Paulus resümierend Was soll’s? τί γάρ [ti gar] ist eine das Voranstehende relativierende Floskel und leitet zum eigentlichen Thema zurück. Paulus schreibt in großer Sachlichkeit,72 dass die Förderung bzw. der Fortschritt des Evangeliums entscheidend ist, und dies auf jede Weise. Paulus beschreibt die Weise seiner Rivalen mit zum Vorwand. Im NT steht πρόφασις [ prophasis] für das Vorgeben eines guten (ethischen) Handelns (Mk 12,40 par.; Apg 27,30). Der Schein wird gewahrt, aber Paulus’ Rivalen fehlt Transparenz, Authentizität und Ehrlichkeit. In Wirklichkeit geht es ihnen um ihren Vorteil. Entscheidend ist aber, dass auch von ihnen das Christus-Evangelium verkündigt wird. Die Anhänger des Paulus predigen dagegen in Wahrheit. ἀληθεία [alētheia] steht im Kontrast zur Scheinheiligkeit der Rivalen und bezeichnet wahre und aufrichtige Motive. Aufrichtigkeit ist bei Paulus nicht rein subjektiv zu bestimmen, sondern ihr Bezugspunkt ist die Wahrheit Gottes,73 vgl. 2Kor 4,2: „Wir meiden schändliche Heimlichkeit, indem wir nicht hinterlistig handeln und auch nicht Gottes Wort verfälschen, sondern durch Offenbarung der Wahrheit empfehlen wir uns dem Gewissen aller Menschen vor Gott.“ Paulus sagt in V. 18 nicht, dass der Zweck die eigenen Motive heiligt. Sehr dezidiert spricht er seine Kritik aus, aber er ist fokussiert auf das eigentliche Ziel, dass Christus verkündigt wird. Die scheinheilige Aktivität der Rivalen trifft nicht das Evangelium, sondern allenfalls Paulus. Und dieser stellt die eigene Betroffenheit hier der Förderung des Evangeliums hintan. Wo aber die Botschaft des Evangeliums selbst tangiert ist, wie in Kap. 3, wird Paulus scharf. Paulus ist betroffen von dem Konflikt, relativiert dies aber. Nach seinem Selbstverständnis ist er abhängig vom Evangelium, weshalb er auch eigenen Ruhm ablehnt und sich allenfalls der Schwachheit rühmen will (2Kor 70 71 72 73

Vgl. Standhartinger, Welt, 152. Vgl. Böttrich 97. Vgl. Dibelius 66; Eichholz, Bewahren, 148. Vgl. Bockmuehl 81.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

12,9). Paulus lässt sich vom Neid nicht treffen und verweist auf Christus. So stehen die Neider in dem Licht, dass sie Christus die Position streitig machen.74 Wie in 2Kor 4,5 geht es Paulus in seiner Verkündigung nicht um sich selbst, sondern um Christus. Deshalb kann er von den Motiven der Prediger absehen und die Konzentration auf die Christusverkündigung richten. Und wenn diese geschieht, dann ist dies für Paulus ein Grund zur Freude. Die Übersetzung Und darüber freue ich mich geht davon aus, dass ἐν [en] hier den Grund der Freude angibt. Alternativ könnte man auch übersetzen „In diesem (scil. Christus) freue ich mich“ (vgl. zu 3,1).

IV Zusammenfassung Die Situation am Ort der paulinischen Gefangenschaft ist komplex. Der Bericht des Paulus über seine Lage und über die Verkündigung des Evangeliums durch seine Anhänger wie auch durch seine Rivalen zeigt: Gemeindeaufbau ist „immer in die ganz alltäglichen Prozesse sozialer Interaktion eingebunden“.75 Paulus sieht in den unterschiedlichen Parteiungen vor Ort eine Bedrohung für die Einheit der Gemeinde. Dieses Thema hat zentrale Relevanz im ganzen Brief. Die beiden unterschiedlichen Gruppen der Verkündiger sind negatives bzw. positives Beispiel, nicht aufgrund des Inhalts ihrer Botschaft (hier besteht weitreichende Übereinstimmung), sondern aufgrund der Motive ihrer Predigt. Diese Motive betreffen ihre Haltung gegenüber Paulus. Der einen Gruppe von Verkündigern attestiert Paulus, dass sie von Gottes Heilsabsicht und von Liebe motiviert ist und sich in dieser Hinsicht als Vorbild erweist. Diesen Verkündigern sind im weiteren Brief auch Timotheus und Epaphroditus, 2,19-30, und natürlich Paulus selbst, 2,17f; 3,17, zuzuordnen. Dies gilt nicht zuletzt, weil sie sich in ihrer Haltung an der von Jesus (2,6-11) orientieren, die Bedürfnisse der anderen über den eigenen Vorteil zu stellen. Paulus steht dafür ein, der Förderung des Evangeliums Priorität gegenüber den eigenen Belangen zu geben. Dies wird konkret in der Bereitschaft, erhebliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Vor diesem Hintergrund ist kritisch zu reflektieren, was wir heute bereit sind, um der Förderung des Evangeliums willen auf uns zu nehmen. Der Bericht des Paulus macht weiterhin klar, dass das Leben des einen Gefangenen (V. 14) das Leben der Gemeinde verändert.76 Dass Paulus trotz seiner Gefangenschaft und gerade in dieser für das Evangelium eingetreten ist, 74 Vgl. Böttrich 98. 75 Böttrich, Verkündigung, 101. 76 Vgl. Hansen 69.

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)

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hat die meisten Gemeindeglieder motivert, ebenfalls missionarisch und mit gesteigerter Zuversicht die Botschaft des Evangeliums zu verbreiten. Hier zeigt sich eindrücklich die Wirkung ermutigenden Handelns. Die Ausbreitung des Evangeliums und die Christusverkündigung haben für Paulus eine so hohe Priorität, dass er über die durchaus zu kritisierenden Motive seiner Rivalen hinwegsehen kann. Solange der Kern der Botschaft, das Evangelium von Christus, nicht berührt, sondern Christus verkündigt wird, sind die übrigen Diskussionen nachrangig. Heute wird, zumindest im deutschsprachigen Raum, eher wenig über zweifelhafte Motive diskutiert. Dies heißt nicht, dass es solche nicht gäbe, z.B. das Predigen, um Anerkennung zu heischen usw. Viel häufiger diskutiert werden Formen der Verkündigung und ihr Rahmen. Hier ist zu bedenken, dass, solange Christus verkündigt wird, Paulus mit einem weiten Herz und großer Gelassenheit jede Weise akzeptiert. Vordergründig betrachtet scheint Paulus in dem Konflikt der Unterlegene zu sein. Aber Paulus ist es offenbar gar nicht so wichtig, in dem Konflikt zu gewinnen, sondern er ist darauf ausgerichtet, dass Christus groß gemacht wird (vgl. V. 20). Es geht nicht darum, alles gutzuheißen; seine Kritik an der Rivalität der Gemeindeglieder untereinander formuliert Paulus im Brief insgesamt deutlich genug. Rivalität ist oft nicht inhaltlich begründet, sondern entsteht aus Beweggründen wie Neid, Eigennutz usw. Klärungsbedarf besteht dabei hinsichtlich der persönlichen Beziehung gegenüber dem anderen. Zwar spricht Paulus hier eher über innergemeindliche Konflikte, aber eine Übertragung auf Beziehungen von Gemeinden untereinander ist durchaus möglich. So stellt sich die Frage, inwiefern diese von Neid (z.B. bezüglich der Größe, des Wachstums, der Bedeutung, der öffentlichen Wahrnehmung usw.) bestimmt sind. Das paulinische Kriterium der Priorität der Christusverkündigung weist in die Richtung, den anderen und seine Arbeit wertzuschätzen, wenn Christus der Mittelpunkt derselben ist.

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26) I Übersetzung 18 Aber ich werde mich auch freuen, 19 denn ich weiß, dass dies mir zum Heil ausschlagen wird durch euer Gebet und die Unterstützung des Geistes Jesu Christi 20 entsprechend meiner sehnsüchtigen Erwartung und Hoffnung, dass ich in nichts zuschanden werden werde, sondern in aller Offenheit wie allezeit auch jetzt Christus groß gemacht werden wird an

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Der Brief des Paulus an die Philipper

meinem Leib – ob durch Leben oder durch Tod. 21 Denn für mich ist das Leben Christus und das Sterben Gewinn. 22 Wenn (ich) aber weiterhin im Fleisch lebe,1 (bedeutet) dies für mich Frucht des Werkes. Doch was soll ich wählen? Ich weiß es nicht.2 23 Ich bin hin- und hergerissen, weil ich die Sehnsucht habe aufzubrechen und bei Christus zu sein, denn es wäre am allerbesten3; 24 aber das Bleiben im Fleisch ist nötiger um euretwillen. 25 Und weil ich von diesem überzeugt bin, weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen ausharren werde zu eurer Förderung und Freude des Glaubens, 26 damit euer Ruhm wachse in Christus Jesus durch mich bei meiner Rückkehr wieder zu euch.

II Textkritik, Struktur, Form Textkritische Anmerkungen. In V. 23 ist die Ursprünglichkeit von γάρ etwas unsicher. Es fehlt in einigen wichtigen Textzeugen (‫ *א‬D*.2 K L Û Clemens etc.), in anderen nicht (î46 A B C 33 1739 Augustin etc.). Inhaltlich ergibt sich jedoch kein Unterschied. Analog verhält es sich in V. 24, wo die Ursprünglichkeit von ἐν unsicher ist. Die Bedeutung ist unabhängig von dieser Präposition aber dieselbe. Struktur. Die Einleitung aber auch markiert in V. 18b zusammen mit dem Tempuswechsel (Häufung von Futur-Formen) einen Neueinsatz, was durch inhaltliche Aspekte bestätigt wird (s.u.). Zwischen V. 25f und V. 19f besteht eine gewisse Parallelität.4 Beide werden mit ich weiß eingeleitet, dem ein dass-Satz folgt. Abgesehen davon lässt sich strukturell aber nur wenig Übereinstimmung erkennen. Die beiden εἰς sind unterschiedlich verwendet. Für den ἵνα-Satz in V. 26 gibt es keine Entsprechung in V. 19f Außerdem überwiegt im Blick auf das Thema die Verschiedenheit. Mit V. 27 schlägt Paulus ein neues Thema an. Form. Die V. 21-26 zeigen Elemente der antiken rhetorischen Form der Synkrisis, der vergleichenden Bewertung zweier Alternativen.5 Der Gedan-

1 Wörtl.: „Wenn aber das Leben im Fleisch ist …“ Der Infinitiv „leben“ steht im Präsens und hat einen durativen Aspekt. 2 Alternativ könnte man übersetzen: „und was ich wählen soll, weiß ich nicht.“ 3 Alternativ kann man komparativisch übersetzen mit „sehr viel besser“. 4 Eine Parallelität von 25f zu 19f hat z.B. Müller 71 mit Hinweis auf Lohmeyer 66 betont. 5 Vgl. Vollenweider, Waagschalen, 93-102.

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)

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kengang und die Argumentation in V. 21-24 sind strukturiert durch den Wechsel von Aussagen über Leben und über Sterben:6 21a Leben: ζῆν [zēn] 21b Sterben: ἀποθάνειν [apothanein] 22 Leben: ζῆν ἐν σαρκί [zēn en sarki] 23 Sterben: ἀναλύειν [analyein] 24f Leben: ἐπιμένειν/μένειν [epimenein/menein] (explizite Aufnahme von V. 22 [en tē sarki]) V. 24 greift erkennbar V. 22 auf (en sarki) und über diesen auch V. 21a, während V. 23 inhaltlich V. 21 aufnimmt. V. 25 schließt sich mit dem Stichwort menein unmittelbar an V. 24 an. Zugleich stellt der Begriff προκοπή [ prokopē] (Förderung/Fortschritt) eine Art inclusio von V. 25f zu V. 12 her,7 sodass der Gedanke des Fortschrittes des Evangeliums mit dem des Fortschritts der Gemeinde verbunden wird. V. 26 formuliert das eigentliche Ziel und leitet letztlich schon hin auf V. 27. Überhaupt bereitet die gesamte Sequenz 1,12-26 maßgeblich die Aussagen von 1,27, letztlich sogar von 1,27– 2,18 vor.

III Einzelexegese 18b Aber auch (alla kai) ist eine starke Einleitung von etwas, das hinzukommt.8 Schon lange hat man diese Wörter als eine Markierung gesehen für den „Übergang zu etwas Neuem“9. Dass die letzten Wörter von V. 18 zu V. 19 gehören, ist wegen des γαρ (gar) in V. 19 unzweifelhaft. Ab V. 18b geht es nicht mehr um den Fortschritt des Evangeliums und die Freude über die Christusverkündigung, sondern um die persönliche Zukunft von Paulus und um die potenziellen Sorgen der Leser im Hinblick auf diese. Steht χαίρω [chairō] noch für die Freude über etwas [touto], so drückt das Futur charēsōmai (ich werde mich freuen) hier allgemein das Sich-Freuen aus. Mit Fowl ist aber zu beachten, dass die Formen von chairō aufeinander zu beziehen sind.10 Vor diesem Hintergrund ist es zutreffend, wenn Bockmuehl und Silva V. 18 als

6 Vgl. ähnlich O’Brien 117. Der Gliederung Gnilkas 70, die 21b-24 dem V. 21a unterordnet, ist nicht zu folgen, weil sie die Parataxe von 21a und 21b aus dem Blick verliert. Gleiches gilt für das von Schreiber, Zwischenzustand, 337f vorgeschlagene Schema. 7 Vgl. Witherington 73. V. 26 ist nur noch ein von V. 25 abhängiger Finalsatz. 8 Vgl. zu ἀλλὰ καί BDR § 448.6. 9 Ewald 81. Vgl. Haupt 29; Gnilka 65; O’Brien 108; Fee 129; Croy, Die, 518 und viele andere. 10 Vgl. Fowl 43f.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

eine Brücke zwischen dem Voranstehenden und dem Nachfolgenden bestimmen.11 19 Mit Worten aus Hi 13,16 LXX12 (dies wird mir zum Heil ausschlagen) drückt Paulus seine Glaubensgewissheit (ich weiß) aus. Das Wort dies (touto) ist auf die eigene aktuelle Lage von Paulus zurückzubeziehen, die er in V. 12-18a geschildert hat, die nicht nur von seiner Haft, sondern insbesondere vom Ergehen des Evangeliums bestimmt ist. Der Begriff Heil (σωτηρία [sōtēria]) meint bei Paulus das eschatologische Heil (vgl. Röm 1,16; 10,10; 2Kor 7,10; 1Thess 5,8f; 2Thess 2,13), also die Erlösung durch Christus und das Kreuz. Martin/Hawthorne wollen den Begriff sōtēria auf die erhoffte Freilassung des Paulus deuten.13 Auch wenn dies nicht von vornherein auszuschließen ist, spricht nicht nur das Zitat aus Hi 13,16 und der Anschluss an Hiob als den leidenden Gerechten dagegen, sondern vor allem der Hinweis auf die epichorēgia des Geistes (s.u.). Die theologische Grundüberzeugung, dass alles zum Heil ausschlagen wird, ist genuin paulinisch, vgl. Röm 8,28.38f. Paulus nennt für seine Gewissheit der Zukunftshoffnung nicht die Festigkeit des eigenen Glaubens, was für Haupt ein Ausdruck der Demut des Apostels ist,14 sondern zwei andere Gründe, die durch die Verwendung nur einer Präposition, durch (διά), eng miteinander verbunden sind. Paulus weiß erstens um das (fürbittende) Gebet der Gemeinde, das er offenbar als selbstverständlich voraussetzt. Damit ergibt sich auch hinsichtlich der Fürbitte eine wechselseitige Beziehung zwischen Paulus und den Philippern, denn in 1,4 schreibt Paulus von seiner Fürbitte für die Gemeinde. Zweitens ist sich Paulus der ἐπιχορηγία [epichorēgia] des Geistes Jesu Christi gewiss. Die genaue Interpretation wird dadurch erschwert, dass epichorēgia im NT und vorntl. selten ist. Nach Bauer/Aland lautet die Übersetzung „Unterstützung“.15 Zugleich ist die Syntax des Genitivs in den Blick zu nehmen. Man kann hier zum einen an die Unterstützung durch den Geist Jesu Christi denken. epichorēgia wäre dann verstanden als aktivisches nomen actionis (vgl. Eph 4,16) und Geist als genitivus subiectivus. Insgesamt wäre dies dann die Bezeichnung für die Ausrüstung seitens des Geistes,16 vgl. Röm 8,9.14-17. Alternativ könnte man

11 Vgl. Bockmuehl 82; Silva 69, der erwägt, V. 18 insgesamt zum Folgenden zu ziehen, beginnend mit der Frage τί γάρ. 12 Hi 13,16 LXX: τοῦτό μοι ἀποβήσεται εἰς σωτηρίαν (touto moi apobēsetai eis sōtērian). 13 Vgl. Martin/Hawthorne 49f. 14 Vgl. Haupt 29. 15 Vgl. Bauer/Aland 618. Fee, Empowering Presence, 740f, moniert allerdings das Fehlen entsprechender Belegstellen. 16 Vgl. Ewald 83, vgl. auch Haupt 30: „reichliche Unterstützung“.

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)

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Geist als genitivus obiectivus bestimmen und hier an die Darreichung des Geistes denken, vgl. Gal 3,5.17 Diese Deutung wird von Chrysostomus gestützt, nach dem ἐπιχορηγίας τοῦ πνεύματος [epichorēgias tou pneumatos] meint, dass der Geist zum Beistand verliehen wird (vgl. Chrysostomus 44). Dies impliziert dann auch eine Ausrüstung und Unterstützung durch den Geist, z.B. in der Gerichtssituation (vgl. Mt 10,20). Insofern kommt Chrysostomus’ Interpretation eine vermittelnde Position zu. Die Wortverbindung Geist Jesu Christi ist auffällig, denn Paulus spricht sonst vom Geist Christi ohne den Zusatz „Jesu“. Dieser könnte im Kontext begründet sein, dass nämlich Jesus Christus groß gemacht wird. Die Rede vom Geist Jesu Christi stellt klar, dass der Geist von Jesus gesandt ist und zugleich die Gegenwart des Auferstandenen ist (vgl. Röm 8,9f ). 20 V. 20 setzt den Satz fort mit entsprechend meiner sehnsüchtigen Erwartung und Hoffnung. Das Wort ἀποκαραδοκία [apokaradokia] (sehnsüchtige Erwartung) ist selten. Es meint das ängstliche Harren eines Menschen, der sich ungewiss und gespannt dem Kommenden zuwendet, wobei es in Phil 1,20 mit der von Gott geschenkten Hoffnung verbunden ist.18 Das Präfix apo- kann einfach intensivierend sein, es enthält also nicht unbedingt eine negative Konnotation.19 In Röm 8,19-21, der einzigen weiteren Belegstelle in der griechischen Bibel, ist apokaradokia positiv konnotiert mit der Hoffnung auf die Vollendung der Schöpfung. Diese positive Bedeutung ist auch für Phil 1 anzunehmen, weil hier sehnsüchtige Erwartung und Hoffnung (ἐλπίς [elpis]) ein Hendiadyoin bilden. Beide Ausdrücke haben gemeinsam nur einen Artikel und nur ein possessives Pronomen. Paulus formuliert hier den Inhalt seiner Hoffnung, die vollkommen christuszentriert ist. Der dass-Satz enthält zwei parallel gestaltete Aussagen, wobei das zweite Glied doppelt erweitert ist. Beide Glieder greifen Septuagintasprache auf. Zuschanden werden ist ein Anschluss an die LXX-Psalmensprache (24,3; 30,18; 118,80 – αἰσχύνεσθαι [aischynesthai] ist Wiedergabe von hebr. vAB [bōsch]) und umschließt „das Ausbleiben der erbetenen göttlichen Hilfe“20. Paulus bekennt seine umfassende Gewissheit, dass er in nichts zuschanden wird. Schon in der LXX stehen mit derselben Terminologie die Erwartung, nicht zuschanden zu werden (aischynesthai), und die Erwartung, dass der Herr groß gemacht wird (megalynesthai), unmittelbar nebeneinander, vgl. LXX Ps 34,26f; 39,15-17. Eine besondere Nähe besteht dabei zu LXX 17 18 19 20

Vgl. Fee, Empowering Presence, 741. Vgl. Bertram, Ἀποκαραδοκία, 264-270; ihm folgend Gnilka 67. Mit O’Brien 113. Lohmeyer 53; so auch Gnilka 68; Müller 59. Vgl. für eine ähnliche Aussage 1QH 4,23f.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Ps 39,17; 69,5, wo μεγαλυνθήτω ὁ κύριος/θεός [megalynthētō ho kyrios/ theos] (der Herr/Gott soll groß gemacht werden) jeweils erweitert ist mit διὰ παντός [dia pantos] („durch alles“). Insgesamt erweisen sich LXX-Formulierungen, die auf JHWH zielen, als christologisch anschlussfähig. Paulus verwendet sie, um Aussagen über Christus, den kyrios, zu machen (Phil 2,10f ). Signifikant ist der Subjektwechsel von ich werde zuschanden zu er (Christus) wird groß gemacht werden. Dies verstärkt nicht nur den Gegensatz, sondern ist theologisch höchst bedeutsam. Für den alla-Satz ist ein passivum divinum anzunehmen. Christus ist grammatikalisch das Subjekt, an dem Gott handelt. Paulus wird dabei das von Gott gebrauchte Instrument (an meinem Leib). Paulus tritt zurück hinter das Handeln Gottes. Dass Christus groß gemacht wird, liegt nunmehr in Gottes und nicht in Paulus’ Hand. Ganz folgerichtig ist dieses Geschehen nicht mehr abhängig vom Ergehen des Paulus, was Paulus mit ob [eite] durch Leben oder [eite] durch Tod explizit ausdrückt. Angesichts der in 12-18 geschilderten und mit τοῦτο [touto] (dies) in V. 19 aufgegriffenen Situation des Paulus ergibt sich ein Paradox. Eigentlich würde man annehmen, dass die Haft eher den Fortschritt des Evangeliums verhindert, aber hier erscheint die öffentliche Wirksamkeit gesteigert.21 In aller Offenheit (παρρησία [ parrēsia], vgl. die Verwendung in Apg 4,13.31 u.ö.) umfasst den Aspekt der freien und öffentlichen sowie den der mutigen und unerschrockenen Verkündigung. Die Verkündigung en parrēsia ist für Paulus ein wichtiges Anliegen, für das zu beten er die Gemeinde auffordern kann (vgl. Eph 6,19f; ähnlich Apg 4,29). Mit der zweiten Näherbestimmung wie allezeit auch jetzt aktualisiert Paulus eine zeitlos gültige Wahrheit für die Gegenwart, in der sie angezweifelt werden könnte. Die Haft ändert nichts an der Zuversicht, dass Christus groß gemacht werden wird. Die Gegenwart ist die Zeit, in der das Glaubenszeugnis geschehen soll, selbst angesichts von Gefahr (vgl. Est 4,14f; Dan 3,17f; Apg 4,20). Bei der Wendung an meinem Leib sieht Lohmeyer einen Bezug zum Martyrium,22 angesichts der nachfolgenden doppelten Alternative ist dies eine unzulässige Engführung. In jedem Fall aber wird das Christus-Großmachen unmittelbar zur Person des Paulus in Bezug gesetzt. Ähnlich wie in Röm 12,1 umschreibt Leib [sōma] den Menschen als Ganzes und nicht nur einen Teil von ihm.23

21 Vgl. Fredrickson, ΠΑΡΡΗΣΙΑ, 172. 22 Vgl. Lohmeyer 55. 23 Vgl. E. Schweizer, Art. σῶμα κτλ., ThWNT VII, 1024-1091: 1062.

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)

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Paulus sieht im Sinne eines Merismus zwei Möglichkeiten dafür, dass Christus groß gemacht wird, nämlich, durch Leben und durch Tod. Diese beiden Alternativen dürften auch für den Prozessausgang denkbar sein.24 Für Paulus würde Leben die Chance zur weiteren Predigt zum Fortschritt des Evangeliums eröffnen. Tod steht für die Option, mit dem Sterben Christus zu verherrlichen. Mit der Nennung dieser beiden Alternativen bereitet Paulus seine nachfolgende Argumentation vor, die auf dem Abwägen von Leben und Sterben beruht (s.o., II). 21 In V. 21 stellt sich die Frage, was jeweils Subjekt und was Prädikatsnomen ist. In 21b steht κέρδος [kerdos] artikellos und ist somit Prädikatsnomen. Unter Annahme eines Parallelismus’ ist in der ersten Satzhälfte Christos Prädikatsnomen, unter Annahme eines Chiasmus jedoch ζῆν [zēn]. Die Koordination mit kai spricht eher für einen Parallelismus. Weil in der ersten Satzhälfte aber beide Glieder determiniert sind, kann man hier eine völlige Gleichsetzung, also gleichsam eine Definition – und zwar von Leben – sehen.25 Das schon für sich betonte Personalpronomen ἐμοί [emoi] steht hervorgehoben an erster Stelle. Es gilt für 21a und 21b, weshalb man die beiden Versteile nicht als Gegensatz auffassen sollte. Die starke Betonung von für mich weist darauf hin, dass Paulus hier eine eigene Aussage über Leben und Sterben machen will, wohl wissend, dass man Leben und Sterben jeweils auch anders definieren kann. Für mich ist das Leben Christus – so bestimmt Paulus, was für ihn Leben heißt, wobei hier der Infinitiv leben (Präsens) einen durativen Aspekt hat, also den kontinuierlichen Prozess von Leben meint. Für Paulus ist „Christus der konstitutive Inhalt des Begriffs Leben“26 – modern ausgedrückt: An Christus macht sich der Sinn des Lebens fest. Dabei liegt V. 21 ein umfassendes Verständnis von Leben zugrunde, das auch den Tod umgreift, denn V. 22 spricht adversativ vom Leben im Fleisch. Croy sieht in 22a eine Erklärung von 21a und meint: Leben ist Christus, weil im irdischen Leben Christus verkündigt werden kann.27 Dies ist sicherlich ein Aspekt des paulinischen Spitzensatzes, ohne dass man diesen darauf verkürzen könnte. In jedem Fall bildet V. 21a das Zentrum des Textes, auf das die weitere Argumentation aufbaut.

24 Die Konstruktion mit εἴτε … εἴτε relativiert und entschärft das „Entweder – Oder“ von Leben und Tod (vgl. Eichholz, Bewahren, 148). 25 Zum Artikel beim Prädikatsnomen und zur völligen Gleichsetzung referenzidentischer Größen vgl. Siebenthal, Grammatik, § 135.2.c. 26 Haupt 34. 27 Vgl. Croy, Die, 520.

104

Der Brief des Paulus an die Philipper

Für die Aussage das Sterben (ist) Gewinn hat man auf den griechischen Vorstellungshorizont verwiesen. Innerhalb desselben wird der Tod als Gewinn verstanden, weil er aus dem negativ erfahrenen und von Mühen und Leiden geprägten Leben befreit. So lässt Sophokles Antigone sagen: „Wenn ich vor der Zeit sterben werde, nenne ich es nur Gewinn (kerdos). Denn wer wie ich in vielen Leiden lebt, wie trüge er hinsterbend nicht Gewinn davon?“ (Soph., Ant, 461-464). Ähnlich bezeichnet Sokrates den Tod als Gewinn, weil er wie eine traumlose Nacht sei (Platon, Apologie 40c-d). Im Gegensatz zu diesen Todesdeutungen bewertet Paulus das Leben nicht negativ, sondern er sieht das schon im Diesseits durch Christus bestimmte Leben durch das zukünftige syn Christō einai (mit Christus sein, vgl. V. 23) weit überboten. Für Paulus gilt: Weil das Leben im umfassenden Sinn Christus ist, ist Sterben Gewinn, denn der Christ gehört in jedem Fall dem Herrn (Röm 14,8). Für Paulus beinhaltet das Sterben den Gewinn umfassenden Lebens, das in dem „mit Christus sein“ realisiert wird.28 Zusammenfassen lässt sich dies mit Worten von Hansen: „Dying is gain, not because it is an escape from life, but because it leads to union with Christ, the goal of life.“29 22 Die Sprache und Grammatik von V. 22 ist stark elliptisch und ziemlich undurchsichtig. Nach Bockmuehl reflektiert dies möglicherweise „something of Paul’s own inner conflict on the matter“30. Jedenfalls gibt es sehr unterschiedliche Übersetzungsvorschläge. Im Wesentlichen entzündet sich die Diskussion daran, wo der Hauptsatz beginnt. Nach BDR sind die ersten beiden Satzteile konditional und der Hauptsatz beginnt erst mit dem καί, das hier als Einleitung eines Fragesatzes steht.31 Aber auf diese Weise kann man zwar das καί vor τί αἱρήσομαι [ti hairēsomai] erklären, nimmt aber die Schwierigkeit in Kauf, dass der zweite Konditionalsatz weder mit εἰ eingeleitet noch durch καί mit dem ersten koordiniert wäre, was zwar möglich, aber doch störend wäre.32 Man folgt also vermutlich besser der Interpunktion von NA28 und lässt den Hauptsatz mit τοῦτο beginnen, dem sich dann mit kai eine Frage anschließt.33

28 29 30 31

In dieser Hinsicht lässt sich V. 21b mit V. 23 erklären. Vgl. Croy, Die, 520. Hansen 83. Bockmuehl 89. Vgl. BDR § 442.5b, Anm. 16. So auch Haubeck/Siebenthal, Schlüssel II, 172. Auch Chrysostomus, Theodoret, Calvin, Meyer/Franke, Lightfoot lassen den Konditionalsatz bis ergou reichen und den Hauptsatz mit kai beginnen, vgl. Haupt 35. 32 Martin/Hawthorne 57 reflektieren die Ergänzung eines weiteren εἰ vor τοῦτο, votieren dann aber für die Annahme eines kausalen Nebentons, vgl. BDR § 372.1. 33 So auch Müller 62; O’Brien 124; Gnilka 72; Wallace, Grammar, 90.

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)

105

Paulus spricht vom Leben in einem anderen Sinn als in V. 21 und fügt die Näherbestimmung im Fleisch (ἐν σαρκί [en sarki]) ein. Leben im Fleisch meint das irdische Leben, für Paulus in diesem Moment das Weiterleben in der Haft. Paulus erwartet, dass dieses irdische Leben für ihn Frucht des Werkes bedeutet. Damit profiliert Paulus eine positive (und erwartungsvolle) Sicht auf das Leben. Paulus hätte sicherlich manche Gründe gehabt, sich über die Beschwernisse der Haft und die Mühen des Lebens und seines Dienstes zu beklagen. Dies klingt aber nicht einmal ansatzweise an. Paulus sieht sein Leben ausgerichtet auf die Frucht des Werks. Mit Werk (ἔργον [ergon]) im Singular beschreibt Paulus insbesondere im Phil den Missionseinsatz (Phil 1,6, vgl. die Auslegung z. St.; Phil 2,30; vgl. 1Kor 16,10), also die Verkündigung des Evangeliums. Der Dienst von Paulus lässt sich jedoch keinesfalls reduzieren auf Evangelisation, sondern hat auch den Fortschritt des Glaubens der Gemeinde im Blick, vgl. V. 25. Auf das erwähnte Werk bzw. die Frucht des Werkes zielt Paulus’ Leben ab. Von daher ist für Paulus klar, dass Weiterleben weiterhin Missionseinsatz bedeutet. Denn selbst in der Haft ist Paulus ja missionarisch aktiv. Paulus fragt, was soll ich wählen. Das Futur hairēsomai steht anstelle eines deliberativen Konjunktivs. Für Paulus ist dies eine echte Frage, die er im Folgenden einer Antwort zuführt. Hier sagt er noch ich weiß es nicht. Letztlich steht die Wahl nicht in der Macht des Paulus, denn in seiner Position als Häftling kann er nicht wirklich wählen. Insofern geht es darum, was Paulus vorziehen sollte. Croy versucht in seiner Deutung der Textstelle34 anhand eines Vergleichs mit der Rede von Isokrates „Über den Frieden (Peri eirēnēs)“, 38f, zu zeigen, dass Paulus hier in analoger Weise rhetorisch ein Dilemma zeichnet. Seine vorgetäuschte Ratlosigkeit zwischen zwei Optionen sei demnach ein rhetorisches Mittel, denn Paulus’ fortgesetzter Dienst habe außer Frage gestanden. Indem Paulus zwei Alternativen skizziere, könne er (textpragmatisch betrachtet) vorbildhaft diejenige wählen, die zum Nutzen anderer, nämlich der Philipper, ist, auch wenn er auf eigenen Vorteil verzichtet. Anders als Croy annimmt, kann es sich hier um eine wirkliche Frage des Apostels handeln, zumindest eine solche, die er sich ernsthaft gestellt hat, auch wenn er vermutlich schon vor der Abfassung des Briefes eine Antwort 34 Vgl. Croy, Die, 528-531. Eine eigenwillige Interpretation hat Droge, Suicide, 262-286, vorgeschlagen. Er postuliert, dass Paulus in V. 21f. Selbstmord in Erwägung zieht. In seiner ausführlichen Kritik wendet Croy, Die, 521, u.a. ein, dass dies nicht zum Grundthema Freude in dem Brief passt. Vgl. zur Kritik an Droge auch Fee 147, Anm. 37. Außerdem gehören in V. 23 „aufbrechen“ und das Mit-Christus-Sein für Paulus untrennbar zusammen, weil nur ein Artikel bei beiden Infinitiven steht.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

gefunden hat, die er nun den Philippern mitteilt. Croy sieht aber richtig, dass Paulus mit seiner Präferenz eine Einstellung zeigt, die vorbildhaft ist und die in diesem Sinn Kap. 2,1-4 vorbereitet, wo Paulus zu eben solcher Einstellung ermutigt, die auf den eigenen Vorteil zugunsten anderer verzichtet. Für diese Haltung führt Paulus schließlich auch noch Jesus (2,6-11), Timotheus (2,1924) und Epaphroditus (2,25-30) als Vorbilder an, womit sich eine durchgängige Textkohärenz in Kap. 1–2 ergibt. 23 Wörtlich übersetzt sagt Paulus, dass er „von zweien bedrängt“ ist. Gemeint sind die beiden alternativen Optionen. Damit beschreibt er seinen inneren Konflikt, weshalb die Wendung meint: Ich bin hin- und hergerissen. Die beiden schon in V. 21f angesprochenen Möglichkeiten werden nun entfaltet, zumindest grammatisch jedoch nicht parallel. Die erste Möglichkeit wird mit einem kausalen (evtl. auch modalen) participium coniunctum und einem präpositionalen substantiviertem Infinitiv beschrieben, die zweite in V. 24 mit einem nominalem Hauptsatz, was schon andeuten könnte, dass dieser Möglichkeit letztendlich das größere Gewicht zukommt. Mit Sehnsucht ist das Wort ἐπιθυμία [epithymia] wiedergegeben, das Paulus oft im negativen Sinn verwendet (vgl. Röm 6,12; 13,14 u.ö.). Deshalb deutet Collange den Begriff hier als „self-centered desire“35. Dies ist nicht notwendig, weil bei Paulus epithymia auch positiv konnotiert sein kann (vgl. 1Thess 2,17).36 Die Sehnsucht von Paulus richtet sich darauf, aufzubrechen und bei Christus zu sein. Beides gehört unmittelbar zusammen und steht in ein und derselben Infinitivkonstruktion, die mit nur einer Präposition und nur einem Artikel eingeleitet ist. Aufbrechen (ἀναλύειν [analyein]) ist ein euphemistischer Ausdruck für sterben, der in diesem Sinn schon in der Profangräzität verwendet wird.37 In Phil 1,23 steht Aufbruch möglicherweise auch dafür, dass das Sterben nicht das Ende ist, sondern in das Sein bei/„mit“ Christus (syn Christō einai) hineinführt. Das Bei-Christus-Sein ist zu verstehen als das Ziel des „Aufbruchs“. Exkurs: Das Sein bei/mit Christus (σὺν Χριστῷ εἶναι [syn Christō einai])38 σὺν Χριστῷ εἶναι ist eine typisch paulinische Wendung. Die nächste Parallele ist 1Thess 4,17. Darüber hinaus kombiniert Paulus σὺν Χριστῷ (Röm 6,8; Kol 2,20; 3,3) bzw. σύν und eine Bezeichnung für Christus mit verschiedenen ande-

35 36 37 38

Collange 64. Für eine Deutung von ἐπιθυμία als positiven Begriff vgl. Bruce 54; Gnilka 73. Vgl. die Belegstellen aus der Profangräzität bei Bauer/Aland 113. Vgl. grundlegend dazu Rehfeld, Ontologie, 325-363; Wolter, Paulus, 246-252.

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)

107

ren Verben von sterben bis auferstehen (2Kor 4,14; 13,4; Kol 2,13; 1Thess 4,14; 5,10). Das soziative σὺν Χριστῷ εἶναι ist bei Paulus auf die zukünftige Gemeinschaft mit Christus bezogen (vgl. Rehfeld, Ontologie, 288), gehört also in den Zusammenhang eschatologischer Erwartung. Erst mit der Überwindung des hinfälligen Leibes (2Kor 5,6) wird die immerwährende Gemeinschaft mit dem erhöhten Christus realisiert (vgl. Wolter, Paulus, 247). Das Mit-Christus-Sein steht also für die Heilsvollendung. Von daher ist das Sterben zu bestimmen als ein Aufbruch in ein besseres Leben. Nach Wolter ist bei Paulus „das ‚Mit-Christus‘-Sein der Christen als Teilhabe an der himmlischen Leiblichkeit des Auferstandenen verstanden, und nach allen Texten steht die Verwirklichung dieser Teilhabe noch aus.“39 Für den Christen wurde grundlegend durch Christus (διὰ Χριστοῦ ) das Heil gewirkt, er gewinnt Anteil durch den Glauben, er lebt in Christus (ἐν Χριστῷ), also in der Christusbezogenheit, und er geht der eschatologischen Vollendung, dem Sein mit Christus (σὺν Χριστῷ) entgegen, womit zugleich das Ziel des Seins in Christus (εἶναι ἐν Χριστῷ) formuliert ist (vgl. Rehfeld, Ontologie, 315). Beschreibt Paulus die gegenwärtige Christusbezogenheit als ἐν Χριστῷ [en Christō] (vgl. S. 214-216), so erwartet er „mit der Parusie ein Sein σὺν Χριστῷ als neuen Modus der Christusbezogenheit“ (Rehfeld, Ontologie, 357). Es besteht also eine Kontinuität der Christusbezogenheit über den Tod hinaus, und diese impliziert zugleich eine Kontinuität der Identität über den Tod hinaus (vgl. Rehfeld, Ontologie, 361). Im Hinblick auf Phil 1,23 wird oft behauptet, dass Paulus hier die Erwartung äußere, unmittelbar nach dem Tod in die Christusgemeinschaft einzutreten (vgl. Wolter, Paulus, 216). Mit Recht ist dann auf die Spannung zu 1Thess 4,15-17 hingewiesen worden. Nach 1Thess 4,15-17 sind die Auferstehung der Toten und der Eintritt in die eschatologische Christusgemeinschaft erst mit der (in Kürze erwarteten) endzeitlichen Parusie Christi zu verbinden. Der Eintritt in die eschatologische Heilsgemeinschaft mit dem himmlischen Christus erfolgt demnach also nicht unmittelbar nach dem Sterben. Selbst in Phil 3,20f rechnet Paulus mit der Umgestaltung des Leibes erst bei der Parusie. Diese Spannung versucht man auf unterschiedlichen Wegen zu umgehen. Zwei von diesen sollen hier kurz diskutiert werden. Nach Wolter lässt sich zeigen, dass „Paulus in Phil 1,23 in der Tradition der früh-jüdischen Märtyrereschatologie steht, wonach Fromme und Gerechte, die um ihrer Gesetzestreue willen eines gewaltsamen Todes sterben, unmittelbar nach ihrem Tod in den Himmel erhöht werden“ (Wolter, Paulus, 216). Ebenso nimmt Müller die Vorstellung der Auferstehungshoffnung in der jüdischen Märtyrereschatologie (er verweist u.a. auf 2Makk 7,36) als Hintergrundfolie von Phil 1,23 an (vgl. Müller 66-71). Er sieht 39 Wolter, Paulus, 247. Wolter geht von einer Heterogenität der Mit-Christus-Aussagen aus, vgl. a.a.O., 255. Diese ergibt sich aber nur, wenn man alle syn-Christō-Aussagen in den Blick nimmt, unabhängig von dem regierenden Verb.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

hier eine paulinische Erwartung, mit dem Tod unmittelbar in die eschatologische Heilsgemeinschaft zu gelangen. Von daher rechnete Paulus, so Müller, für sich also nicht mit einem Zwischenzustand. Für diesen könne nicht mit äthHen argumentiert werden, da diese Schrift keine expliziten Aussagen dazu mache. Müller 69 verweist auf 1Clem 5,7. Gegen diesen Verweis ist der Einwand zu erheben, dass diese Stelle nicht das Verständnis von Paulus zu klären vermag. Ohnehin wäre sie nur dann ein eindeutiger Beleg für eine vorzeitige Aufnahme in den Himmel, wenn statt des Aorists ἀνελήμφθη [anelēmphthē] („er wurde aufgenommen“) eine Perfektform (resultativer Aspekt) verwendet worden wäre. Einen anderen Weg, die Spannung zwischen Phil 1,23 und 1Thess 4 zu lösen, beschreitet Schreiber. Nach ihm geht es in Phil 1,23 um einen Zwischenzustand, der chronologisch „zwischen den beiden Fixpunkten Tod des Individuums und Anbruch der Endzeit angesiedelt“ (Schreiber, Zwischenzustand, 341) ist. Diesen Zwischenzustand beschreibe Paulus als Sein mit Christus, d.h. er erhoffe in Phil 1,23, „für sich ein zur irdischen Welt zeitparalleles postmortales ‚Sein in Christus‘ (also im Jenseits)“ (a.a.O., 342). Schreiber versucht, das Problem unter Einbezug textpragmatischer Überlegungen dahingehend zu lösen, dass 1,23 eine situationsspezifische Aussage ist, die bei den Rezipienten etwas bewirken will. Deshalb fragt Schreiber nach religionsgeschichtlichen Parallelen, die Zwischenzustand und endzeitliche Totenauferweckung zusammendenken. Diese meint er primär im Frühjudentum finden zu können, und zwar in der Väter-Theorie. Nach dieser ging Adam unmittelbar nach dem Tod ins Paradies ein (ApkMos 37,4-6) und die Väter, also die Gründer des Volkes Israels (Abraham, Isaak, Jakob), leben bereits bei Gott im Himmel (4Makk 7,19; 13,17; 16,25; äthHen 70,4; Philo, Sacr 5-7). Als Gründer der Gemeinde, so Schreiber, erhoffte Paulus ebenfalls eine Aufnahme durch Christus nach dem Tod. Phil 1,23 assoziiere die Väter-Theorie ohne die Zeitspanne zwischen Sterben und allgemeiner Totenauferweckung zu bedenken. Paulus ziele vielmehr auf das christliche Leben ab und setze sich zum Vorbild für eine Haltung, die den anderen über sein eigenes persönliches Verlangen setzt. Es stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit des Postulats, dass Paulus für sich einen Sonderweg reklamiert, unabhängig davon, ob er diesen mit seinem Märtyrertum begründet hätte (dann müsste dieser Weg auch andere christliche Märtyrer betreffen) oder mit seiner kirchengründenden Mission. Die Spannung zu Stellen wie Phil 1,6-10; 2,16, die vom Tag Christi sprechen, mit dem das endzeitliche Gericht und die Totenauferweckung verbunden ist, lässt sich selbst innerhalb des Briefes nicht ganz auflösen. Ähnlich gilt dies in Bezug auf Phil 3,20f. Besser ist es, den Text nur das sagen zu lassen, was er explizit sagt.

Paulus äußert in Phil 1,23 seine Sehnsucht aufzubrechen und bei Christus zu sein. Eine zeitlich genauer zu fassende Erwartung drückt Paulus überhaupt

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)

109

nicht aus. Dass das Sein bei Christus unmittelbar nach dem Aufbrechen erlangt wird, sagt er nicht, zumindest nicht explizit. Paulus spricht nur darüber, was nach dem ἀναλύειν [analyein] kommt, nicht wann dies kommt. Anders als in 1Thess 4,15-17 sind in Phil 1,23 Terminfragen gar nicht im Blick. Sie sollten weder an diese Stelle herangetragen noch von dieser Stelle her beantwortet werden. Außerdem ist mit Fee darauf hinzuweisen, dass die menschliche Kategorie Zeit in der Ewigkeit relativiert ist.40 Treffend formuliert dies Bockmuehl: „for Paul the dead pass into a kind of time beyond time, where judgement and resurrection and full knowledge of the risen Christ are seen to be a present reality.“41 Jedoch ist Paulus vermutlich an solchen metaphysischen Fragen nicht interessiert. Er ist fokussiert auf die Gemeinschaft mit Christus, die als Sein in Christus (en Christō) das irdische Leben und als Sein mit Christus (syn Christō) das himmlische Leben umgreift. Mit einem emphatischen Ausruf begründet Paulus den Vorzug des Seins bei Christus, denn es wäre sehr viel besser. Der Komparativ ist pleonastisch zweifach (durch πολλῷ und durch μᾶλλον) gesteigert und kann auch superlativisch im Sinn von am allerbesten verstanden werden. Die positive Bewertung des Sterbens ist alles andere als selbstverständlich. Nach Wojtkowiak dient die positive Wertung des Todes der Konfliktentschärfung vor dem Hintergrund, dass die Haft des Paulus die Wahrheit seiner Verkündigung infrage stellen konnte.42 Dies mag für Paulus ein willkommener Nebeneffekt gewesen sein, der Ton der Aussage liegt aber darauf, dass das Sein bei Christus eine überragende eschatologische Hoffnung ist. 24 Fast mit nüchterner Sachlichkeit stellt Paulus fest, dass die Fortführung seines irdischen Lebens, das Bleiben im Fleisch, nötiger ist. Paulus selbst würde das Sterben eigentlich vorziehen (V. 23), weil dies zu seinem Vorteil wäre. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Weiterleben – zumindest für die Zeit der Gefangenschaft – auch Fortdauer des Leidens implizieren konnte, zumal in Gefängnissen Hunger, Krankheit und Folter gang und gäbe waren.43 Paulus erwartet aber, irdisch weiterzuleben, weil dies um der Gemeinde willen notwendiger ist. Paulus akzeptiert die Priorität seines Auftrags und stellt seine persönliche Sehnsucht und Vorlieben zurück. Die Kontinuität in seinem Dienst an der Gemeinde (in Philippi, aber auch an anderen Orten) hat Vorrang vor Paulus’ eigenem Eingang in das Sein mit Christus. Paulus weiß, dass er seine persönlichen Ambitionen und Vorteile zurückzustellen 40 41 42 43

Vgl. Fee 149. Bockmuehl 93. Vgl. Wojtkowiak, Christologie, 273. Vgl. Bloomquist, Subverted, 276; Standhartinger, Welt, 146-155.

110

Der Brief des Paulus an die Philipper

hat, und er ist dazu bereit zugunsten dessen, was für die Gemeinde (und ihren Fortschritt und ihre Freude, vgl. 25) wichtig ist. Um euretwillen ist der Hinweis, dass sich die Entscheidung daran orientiert, was für die anderen am besten ist. Insofern ist Paulus hier Vorbild für das in 2,4 angemahnte Verhalten, für das dann auf Jesus verwiesen wird. 25 In V. 25f zieht Paulus die Schlussfolgerungen aus seinen bisherigen Überlegungen zum Ergehen des Evangeliums, zu seiner eigenen Situation und zu Leben und Sterben. In der einleitenden Partizipialkonstruktion weil ich von diesem überzeugt bin bezieht sich τοῦτο (dies) zurück auf V. 24.44 Der Finalsatz in V. 26 formuliert das eigentliche Ziel und schlägt mit dem Thema Rückkehr schon eine Brücke hin zu V. 27. Das Wissen von Paulus (ich weiß) stützt sich auf die Überzeugung von der Wahrheit in V. 24. Paulus ist zu der Erkenntnis gekommen, dass sein Bleiben das Notwendigste ist. Konsequent schlussfolgert er, dass er deshalb auch bleiben und ausharren wird. Insofern ist hier die Begründung der geäußerten Zuversicht ganz anders akzentuiert als in V. 19, sie ergibt sich fast logisch. Lohmeyers Annahme einer besonderen göttlichen Offenbarung bzw. eines speziellen prophetischen Wissens ist überflüssig und wird durch den Text nicht gestützt.45 Die Erwartung zu bleiben, also nicht aufzubrechen, sondern bei der Gemeinde zu sein, impliziert die Überzeugung, dass Paulus den Dienst an den Philippern notwendigerweise fortsetzen muss und deshalb auch kann. Aufbrechen ist damit keine wirkliche Option mehr, auch wenn Paulus diese aus seiner Sicht bevorzugen mag. Aus der Perspektive Gottes (und auch der Gemeinde) verhält es sich anders. Paulus sagt, dass er bleiben wird. Dahinter steht die Gewissheit, dass Gott ihn bleiben lassen wird, denn Paulus selbst hat es ja gerade nicht in der Hand, zumal er noch inhaftiert ist. So ist auch die Frage aus V. 22 einer Antwort zugeführt. Nach Abwägen und Bedenken der beiden Alternativen ist Paulus zur Erkenntnis gekommen, dass er weiterleben wird, um der Gemeinde zu dienen.46 Wie am Beginn des Proömiums (vgl. 1,3f ) schließt bei euch allen die gesamte Gemeinde ein. Paulus sieht sich als Diener für alle Philipper. So ist es bezeichnend und konsequent, dass er an keiner Stelle in dem innergemeindlich offenbar schwelenden Konflikt Partei ergreift. Paulus mahnt zwar zur Einheit, dies aber als neutraler Partner (vgl. 2,1-4; 4,2f ). Das eigentliche Gewicht der Aussage liegt auf der mit der Präposition eis strukturierten Zielangabe in 25b. Die Verwendung nur einer Präposition und 44 Anhand der Wortstellung ist τοῦτο als direktes Objekt des Partizips zu erkennen. 45 Vgl. Lohmeyer 66f. Kritisch auch G. Barth 32. 46 Vgl. Hansen 91, ähnlich G. Barth 32

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)

111

nur eines Artikels lassen Förderung und Freude unmittelbar miteinander verbunden erscheinen.47 Denkbar wäre es auch, das καί epexegetisch aufzufassen. Mit dem Bleiben und dem Dienst von Paulus sind zwei Ziele anvisiert. Erstens die Förderung bzw. der Fortschritt (προκοπή [ prokopē]) der Gemeinde. Dieses Ziel korrespondiert erkennbar dem in V. 12 erwähnten Fortschritt des Evangeliums, dessen Realisierung konkret in Philippi in den Blick kommt. Das Ziel des Fortschritts des Evangeliums wird hier also persönlich zugespitzt auf die eine Gemeinde in der Vielzahl ihrer Glieder. In den nachfolgenden Briefabschnitten entfaltet Paulus verschiedene Aspekte, wie der Fortschritt des Glaubens aussehen kann und soll. Dabei geht es ganz grundsätzlich um die Vollendung des Heils (vgl. 2,12), im Einzelnen um die Liebe zueinander (1,10; 2,2), die Demut und die Orientierung an den Bedürfnissen der anderen (2,3f ), die Mission (1,5; 2,16) und die Einigkeit (2,2.14). Das zweite Ziel ist die Freude des Glaubens bzw. im Glauben. Ist der Fortschritt der Gemeinde eher von einer objektiven Qualität, so ist die Freude eher dem Bereich der subjektiven und persönlichen Erfahrung zuzuordnen. Das genaue Verständnis der Wendung Freude des Glaubens ist abhängig von der syntaktischen Bestimmung des Genitivs τῆς πίστεως [tēs pisteōs] und des Glaubensbegriffs insgesamt. Müller bestimmt den Genitiv als kausal,48 man könnte ihn auch als genitivus auctoris. auffassen. Der Glaubensbegriff lässt sich vom Kontext her verschieden definieren. Glaube kann zum einen den subjektiven Prozess des Vertrauens auf Christus meinen (V. 29) und zum anderen den objektiven Inhalt des Glaubens (V. 27). Es ist durchaus möglich, dass Paulus beides im Blick hat.49 In jedem Fall stellt die Rede von der Freude des Glaubens klar, dass Glaube zur Freude führt, denn Glaube ist zu bestimmen als die Beziehung zu Christus, dem Herrn der Welt und des eigenen Lebens. 26 Man kann V. 26 verstehen als die Angabe eines Ziels (finales ἵνα [hina]) oder einer Konsequenz (resultatives ἵνα).50 Denkbar wäre auch ein final-resultatives Verständnis51, zumal Paulus sich in V. 25 als auf Gottes Handeln angewiesen weiß. Durch die Abhängigkeit von der Zielbestimmung in V. 25 besteht immer zumindest ein finaler Nebensinn. Das Ziel ist das Wachsen des Ruhms (καύχημα [kauchēma]) der Gemeinde [hymōn] (euer), dass diese sich also für das Wirken des Paulus rühmt. Die 47 Ähnlich Hansen 91. Ob der Genitiv „des Glaubens“ auch eine Näherbestimmung zu „Fortschritt“ ist, lässt sich nicht grammatikalisch entscheiden. 48 Vgl. Müller 72. 49 Vgl. Bockmuehl 94; Hansen 91. 50 Für die Angabe eines Ziels vgl. Müller 71f, für die eines Resultats Bockmuehl 94f. 51 Vgl. dazu Wallace, Grammar, 473.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

entgegengesetzte Seite wird Paulus in 2,16 entfalten, wo er sich der Gemeinde rühmt. Ruhm bezeichnet hier das, worauf die Philipper stolz sind bzw. sein können. Die positive Sicht auf das Rühmen ist insofern erstaunlich, als sich Paulus sonst eher kritisch gegenüber dem Rühmen äußert und Glaube und Rühmen sich bei ihm ausschließen (Röm 3,27; 1Kor 1,29. 31). Hier geht es jedoch nicht um einen Selbstruhm, sondern um ein Rühmen in Christus (ἐν Χριστῷ [en Christō]), vgl. Röm 15,17; 1Kor 1,31, ähnlich Röm 5,11 (διὰ Χριστοῦ [dia Christou]). Dies ist ein Rühmen des Heilswerks und der Gnade, die Geschenk bleibt und nicht Anlass zu Selbstruhm sein kann. In Phil 1,26 meint das Rühmen „to regard as a source of strength and encouragement“52, wobei diese Quelle in Christus gesehen wird. Das Konzept des gegenseitigen Rühmens des jeweils anderen findet sich auch in 2Kor 1,14. Das Wachsen (oder auch Überfließen) des Ruhms wird durch zwei Bestimmungen mit ἐν [en] näher charakterisiert, nämlich in Christus durch mich. Zwei unterschiedliche Deutungen dieser präpositionalen Wendungen sind möglich:53 Man kann hier Christus als Objekt des Rühmens begreifen und Paulus als Mittel des Rühmens bestimmen.54 Dafür spricht, dass Paulus καύχημα [kauchēma] bzw. καυχάομαι [kauchaomai], wenn man sich für Menschen rühmt, eher mit ὑπέρ [hyper] verbindet (2Kor 7,14; 8,24; 9,2 und 2Kor 5,12, die einzige Belegstelle für das Substantiv mit hyper), jedoch, wenn Gott Grund des Rühmens ist, eher ἐν [en] benutzt (Röm 2,17; 5,11; 1Kor 1,3; Phil 3,3). Eine klare Trennlinie lässt sich jedoch kaum ziehen, wie Röm 2,23 (en nomō), 2Kor 5,12 (en prosōpō) und andere Stellen und vor allem 1Kor 3,21 (en anthrōpois) zeigen. Insbesondere die letztgenannte Stelle mahnt zur Vorsicht, solche Beobachtungen zum alleinigen Kriterium zu machen.55 Alternativ kann man das Rühmen als in der Beziehung mit Christus geschehend bestimmen. Dann wäre Paulus das Objekt des Rühmens.56 O’Brien führt dazu aus: „The apostle asserts that the Philippians would have ample cause to exult, and that reason would be found in Paul himself – but it would all be in the sphere of Christ.“57 Nach beiden Deutungen ist Christus der entscheidende Grund des Rühmens, denn was bei Paulus zu rühmen wäre, ist ohnehin durch

52 53 54 55 56 57

Bockmuehl 95. Vgl. zusammenfassend Hansen 91f. Vgl. Silva 76; Bockmuehl 95. So aber tendenziell Silva 76, der bezeichnenderweise 1Kor 3,21 unerwähnt lässt. Vgl. O’Brien 141; Lightfoot 94. O’Brien 141.

2.2 Ausrichtung auf Christus und Förderung der Gemeinde (1,18b-26)

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Christus gewirkt.58 Dies gilt umso mehr, als sich Paulus zutiefst mit Christus identifiziert (V. 21). Weil die Beziehung von Paulus zu seinen Gemeinden in dem Evangelium des Gekreuzigten gründet, steht dieses Rühmen nicht in Widerspruch dazu, dass Paulus sich allein des Kreuzes rühmen will (Gal 6,14).59 Vielmehr gründet das Rühmen in der Gemeinschaft mit Christus, und es wird durch ihn gewirkt. Das Rühmen ist gewissermaßen das Resümee von V. 1226. Auch die Haft hat einen Fortschritt des Evangeliums bewirkt, indem dieses einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, und Christus wird groß gemacht werden, durch Leben oder durch Tod. Insofern kann Christus gerühmt werden für sein Handeln an und durch Paulus. Die abschließende Bemerkung bei meiner Rückkehr wieder zu euch lässt zwar den Zeitpunkt im Unklaren, was angesichts der Haftsituation verständlich ist. Die Frage des „Dass“ der Rückkehr ist jedoch nicht offen.60 Allerdings scheint Paulus in Phil 2,17 etwas skeptischer zu sein. Die anvisierte Rückkehr nach Philippi lässt sich vor dem Hintergrund der ephesinischen Abfassung problemlos in die paulinische Chronologie einordnen, kompliziert wird es aber bei einer Annahme einer Abfassung des Briefes in Cäsarea oder Rom (vgl. I.3).

IV Zusammenfassung Paulus betont die Verbundenheit mit der Gemeinde, deren Fürbitte er sich gewiss ist, ebenso wie des Beistands des Heiligen Geistes. Diese beiden Elemente tragen ihn in seiner Situation als Gefangener. Paulus geht es dabei aber nicht so sehr um sich selbst. Priorität hat für ihn, dass Christus groß gemacht wird. Darauf richtet sich seine Sehnsucht. Diese ist nicht losgelöst von seiner Person und seinem Geschick. Paulus hofft, dass an ihm Christus groß gemacht wird, egal ob dies für ihn Leben oder Tod bedeutet. Er ist im Hinblick auf sein eigenes Ergehen äußerst gelassen, was eine herausfordernde Position angesichts (post-)moderner egozentrischer Sinnbestimmung ist. Paulus erweist sich hier als vollkommen auf Christus bezogen und markiert so, wie das Leben als Christ ausgerichtet sein kann. Diese Christuszentrierung betrifft die christliche Existenz insgesamt, denn Leben ist Christus. Im postmodern geprägten christlichen und gemeindlichen Leben stellt sich die Frage, ob Leben nicht oft bestimmt wird als „Leben ist Christus plus …“. Arbeit, Beruf, Familie, Hobby, 58 Vgl. Hansen 92, im Anschluss an Fee 155: „In cases such as this one, where the boast is ‘in someone’ the boast is still ‘in Christ.’ What he has done in and for Paul serves as the ground for their ‘glorying in Christ’ and the sphere in which boasting overflows.“ 59 Vgl. Bruce 52. 60 Gegen Bockmuehl 95.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Freizeit – all dies hat das Potenzial in der Lebenspraxis – gewollt oder ungewollt –, in Konkurrenz zu Christus zu treten. Selbst wenn die Wahrheit, dass Christus der Sinn des Lebens ist, anerkannt wird, heißt dies noch nicht, dass die Leidenschaft nicht doch bei den „Plus-Faktoren“ liegt.61 Für Paulus ist Christus der bestimmende Cantus firmus für das Leben insgesamt. Sein Handeln und seine Existenz sieht er wesentlich durch Christus bewirkt (vgl. 1Kor 15,10), dessen Ruf sein Leben grundlegend neu ausgerichtet hat und dessen Liebe er sich gewiss ist. Dies führt für Paulus auch zu einem neuen Todesverständnis. Sterben ist Gewinn, denn es ist nicht das Verlöschen der Existenz und auch nicht vorrangig Erlösung von Leiden (auch wenn das Sterben bei schwerer Krankheit als eine solche empfunden werden kann). Das Sterben ist vor allem zu begreifen als der Aufbruch zur eschatologischen Gemeinschaft mit Christus, dem Ziel des Lebens. Es ist Hoffnung auf das Leben in der unmittelbaren Gegenwart Jesu. Paulus gibt seine innere Zerrissenheit zu erkennen. Einerseits sehnt er sich nach dieser Gemeinschaft mit Christus, andererseits weiß er sich weiterhin seinem (noch nicht vollendeten) Auftrag gegenüber der Gemeinde und seinen Geschwistern verpflichtet. So nimmt Paulus sich selbst zurück, weil es für ihn keine Option ist, sich vorzeitig dieser seiner Verantwortung für andere zu entziehen. Der Fortschritt der Gemeinde, die Freude und die Förderung des Glaubens erfordern aus der Perspektive von Paulus seinen weiteren Einsatz für das Evangelium. Von daher ist ihm bewusst, dass er jetzt noch im irdischen Dasein verbleiben muss, wobei er sich hier abhängig von Gott weiß, dass nämlich Gott ihn bleiben lässt. Hier ist kein Gegensatz zur paulinischen Sehnsucht nach der Christus-Gemeinschaft zu konstruieren, sondern gerade mit dieser Haltung des Verzichts darauf, schon jetzt sofort bei Christus (syn Christō) zu sein, erweist sich Paulus als zentral durch Christus bestimmt. Zweifelsohne fordert diese vorbildhafte Einstellung zur Reflexion der eigenen Christusbeziehung heraus und zum Nachdenken darüber, wie bestimmend die Ausrichtung auf Christus im eigenen Leben und im eigenen Alltag ist. Angesichts des hohen Lebenstempos im 21. Jh. ist es eine bleibende Herausforderung, Zeiten der Stille im Alltag zu finden, evtl. einzuplanen. Ein Christ darf auf die durchgängige Gegenwart Christi im Alltag vertrauen, jedoch können Zeiten der Besinnung auf Christus ein besonderer Ausdruck sein, dass es bei allem Einsatz für Christus vor allem darum geht, bei Christus zu sein. Im Vordergund steht also nicht eine einseitige Jenseits-Sehnsucht, sondern die paulinische Sicht stellt gerade heraus, dass die Ausrichtung auf Christus sowohl das irdische 61 Ähnlich Fee 150.

3.1 Gemeinde und Leiden (1,27-30)

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Dasein wie auch die eschatologische Perspektive bestimmen kann und soll. In diesem Zusammenhang lässt sich dann auch Paulus’ Rede vom Rühmen einordnen, das innerhalb des Briefes in Bezug auf die Gemeinde und Paulus reziprok konzipiert ist. Bestimmend ist dabei, dass es um ein Rühmen in Christus geht, dass also Christus der Grund des Rühmens ist. Dieses gilt nicht Menschen, sondern stellt Christus und sein Heilswerk in den Mittelpunkt. Jesu Tod am Kreuz ist der entscheidende Inhalt des Evangeliums, und Jesu Auferstehung ist der entscheidende Grund der Hoffnung auf eine ewige Gemeinschaft mit ihm. In dieser Pespektive kann das Rühmen Christi als eine Quelle der Kraft und Ermutigung erfahren werden.

3. Leben würdig des Evangeliums (1,27–2,18) 3.1 Gemeinde und Leiden (1,27-30) I Übersetzung 27 Nur eins: Gestaltet euer (Gemeinde-)Leben würdig des Evangeliums Christi, damit – ob ich gekommen bin und euch gesehen habe oder abwesend bin – ich über euch höre, dass ihr fest steht in einem Geist, indem ihr einmütig mitkämpft (für) den Glauben an das Evangelium 28 und euch in überhaupt nichts einschüchtern lasst von den Widersachern, was für sie ein Zeichen des Verderbens ist, aber (es ist ein Zeichen) eurer Rettung, und dies von Gott; 29 denn euch ist geschenkt das für Christus1, nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden, 30 indem ihr denselben Kampf habt, welchen ihr an mir seht und nun durch mich hört.

II Textkritik, Struktur, Form, Kontext Textkritische Anmerkungen. Statt des Konjunktivs Präsens lesen in V. 27 einige Majuskeln (A C u.a.) und Minuskeln (33 1739 u.a.) und Û Aorist. Ihnen stehen die gewichtigsten Handschriften gegenüber (î46 ‫ א‬B). In V. 28 fügen wenige Handschriften bei ἐστὶν αὐτοῖς ein μέν ein. Dies geschah in der klaren stilistischen Absicht, ein Pendant zum nachfolgenden δέ zu schaffen. Der Û liest statt ὑμῶν δέ im Zuge einer weiteren Parallelisierung ὑμῖν δέ. Diesen Varianten ist gemäß der lectio difficilior nicht zu folgen.

1 Gemeint ist das, was für die Christusbeziehung grundlegend und zentral ist (vgl. z. St.).

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Struktur und Form. Die Verse 27-30 bilden nur einen einzigen Satz. In diesem steht der Hauptsatz ganz am Anfang (27a). Insofern ist der Imperativ πολιτεύεσθε allem Übrigen grammatikalisch übergeordnet und trägt die Hauptaussage. In diesem Abschnitt geht es also um die Lebensführung der Gemeindeglieder. In dem Finalsatz ist als Einschub vermerkt, dass die angemahnte Lebensführung nicht abhängig sein soll von der Anwesenheit von Paulus. Der ὅτι-Satz beschreibt die erste von Paulus erwartete Handlung, nämlich im Geist standfest zu sein. Dieses wiederum soll realisiert werden, indem (participium coniunctum, modal) die Gemeinde einmütig mitkämpft (für den Glauben) und sich nicht einschüchtern lässt (participium coniunctum, modal). Die beiden von στήκετε [stēkete] abhängigen Partizipien implizieren ebenfalls eine Aufforderung. Insgesamt wird also der einleitende Imperativ dreifach entfaltet und konkretisiert. V. 29 formuliert in einem begründenden ὅτι-Satz das, was den Philippern geschenkt ist, nämlich der Glaube an Christus und – etwas überraschend – das Leiden für Christus. Dies erweist sich darin, dass die Gemeinde den Kampf von Paulus teilt. Kontext. Mit 1,27 beginnt der Briefabschnitt, in dem vermehrt Mahnungen enthalten sind, wobei 1,27a als generelles Motto gelten kann (vgl. I.6). Fee hat 1,27-30 als den Auftakt zu einer bis 2,16 reichenden chiastischen Struktur behauptet,2 die er wie folgt skizziert: A 1,27-30: Mahnung zur Standfestigkeit und Einheit angesichts von Gegnerschaft B 2,1-4: Mahnung zur Einheit C 2,5-11: Hinweis auf das Vorbild Jesu B’ 2,12-13: Anwendung der Mahnung auf der Basis der gegenseitigen Beziehung A’ 2,14-16: Weitere Anwendung: Einheit angesichts von Gegnerschaft Diese Schematisierung übersieht, dass die Mahnung zur Einheit in 2,14-16 nicht direkt im Vordergrund steht. Weiter kann man gegen Fee einwenden, dass das Motiv Anwesenheit/Abwesenheit viel stärker 1,27 mit 2,12 verbindet. Von daher könnte man in 2,12 einen Neueinsatz der ethischen Mahnung sehen (vgl. z. St.).

Der Anschluss nach vorn ist eher assoziativ, jedoch bereiten 1,12-26 durch die Schilderung der eigenen Lage und ihrer Auswirkung zum Fortschritt des Evangeliums auf die Paränese vor, Leiden um des Evangeliums willen zu

2 Vgl. Fee 156f.

3.1 Gemeinde und Leiden (1,27-30)

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bejahen, was für die Philipper eine „erhebliche Zumutung“3 war. An die Mahnungen, würdig des Evangeliums das (Gemeinde-)Leben zu gestalten, im Geist fest zu stehen und einmütig mitzukämpfen, schließt sich 2,1ff nahtlos an. Außerdem kann das katechetische Lehrstück in 2,6-11 als Entfaltung des Evangeliums Christi verstanden werden, an dem sich die Gemeinde in ihrem Leben zu orientieren hat.4

III Einzelexegese 27 Μόνον [monon] ist die zuspitzende Einleitung der folgenden Mahnung und hat hier die betonende Bedeutung nur eins5 (ist gefordert). Die Bedeutung des Imperativs gestaltet euer Leben ist umstritten. Das Verb πολιτεύεσθαι [ politeuesthai] ist singulär bei Paulus und findet sich im NT nur noch Apg 23,1. In dem Begriff ist das Wort πόλις (Stadt/Bürgerschaft) enthalten. So erklärt sich die ursprüngliche Bedeutung von πολιτεύεσθαι „sich als Bürger verhalten, den Staat verwalten, politisch tätig sein“. Im hellenistischen Judentum verblasste oftmals die staatsrechtliche Bedeutung, und das Verb wurde verwendet im Sinn von „sein Leben führen, sich verhalten“, vgl. 2Makk 6,1 (τοῖς τοῦ θεοῦ νόμοις μὴ πολιτεύεσθαι); 3Makk 3,4; 4Makk 2,8.23 u.a.6 Maßstab ist in diesen Stellen die Religion bzw. das mosaische Gesetz und nicht das Staatsrecht. An manchen Stellen ist auch die Bedeutung „das Gemeinwesen führen“ denkbar, vgl. 2Makk 11,25. Bei Josephus ist das Bedeutungsspektrum sehr weit, vgl. Josephus, Ant 4,46 (den „Staat leiten“) mit Ant 12,142 („sich verhalten“). Wenn Paulus anders als sonst nicht περιπατεῖν verwendet, sondern πολιτεύεσθαι, und dies nur hier, so ist dieses Verb wohl kaum einfach synonym zu περιπατεῖν zu verstehen,7 auch wenn dies dem Gebrauch bei den Apostolischen Väter entspräche (1Clem 6,1; 21,1; Polyc 5,2 [πολιτεύεσθαι ἀξίως αὐτοῦ] u.ö.). Umstritten ist aber, welche πόλις Bezugspunkt ist, das bürgerlich-städtische Gemeinwesen, das himmlische πολίτευμα (vgl. 3,20) oder die Gemeinde. Aland nimmt „einen in die Sphäre staatsbürgerlichen Lebens reichenden Sinn“8 an, der auch den allgemeinen Lebenswandel innerhalb und außerhalb der Gemeinde betrifft. Hansen stellt einen Bezug auch zur himmlischen Bürgerschaft her, wenn er 3 Walter, Leiden, 432. Walter, a.a.O., 431f, sieht eine enge Verbindung von 1,27-30 mit 1,12 und hält es für möglich, dass sich die Fragen der Philipper auch darauf bezogen, ob man Leiden in Kauf nehmen muss. 4 Ähnlich Bockmuehl 98; Wojtkowiak, Christologie, 126. 5 K. Barth 38. Michaelis 29 gibt μόνον wieder mit „weiter nichts, aber dies umfaßt alles“. 6 Vgl. H. Strathmann, πόλις κτλ. ThWNT VI, 526. Diese Verwendung ist auch in der (allerdings nachpaulinischen) Synagogeninschrift von Stobi belegt (vgl. Hengel, Synagogeninschrift, 178-181). 7 So schon Schenk 167; vgl. Standhartinger, Eintracht, 160. Anders aber Michaelis 29. 8 Aland, Christen, 255. So auch Pilhofer, Philippi I, 136.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

sagt: „Paul’s imperative calls for Christians to be good citizens, worthy of the gospel of Christ, as members of a colony within a colony … As good citizens of Philippi and as good citizens of heaven, live in a manner worthy of the gospel of Christ“ (Hansen 95). Die Deutung von πολιτεύεσθαι auf das Gemeindeleben findet sich schon bei Schlatter, der Phil 1,27 übersetzt mit: „Nur verwaltet die Gemeinde so, wie es der Botschaft des Christus würdig ist.“ 9 Schlatter deutet dies als Aufforderung, die Gemeinde unter die Regel Christi zu stellen.10 Martin/Hawthorne 69 interpretieren die Wendung „πολιτεύεσθαι würdig des Evangeliums“ sowohl im Hinblick auf den irdischen Staat („to live as a good citizen of an earthly state“) als auch, weil die Christen Glieder einer neuen Gemeinschaft sind, im Hinblick auf die Kirche („live as good citizens of this new state, governing their actions by the laws of this unique πολίτευμα“).

Ausgeschlossen ist es nicht, dass Paulus πολιτεύεσθαι [ politeuesthai] in dem auch im hell. Judentum belegten abgeblassten Sinn verwendet hat. In diesem Fall hätte er aber damit rechnen müssen, dass die Philipper den Begriff anders verstehen, da sie den jüdischen Hintergrund sicherlich nicht hatten. Als römischer Bürger dürfte Paulus die Bedeutung des Begriffs im Rahmen des bürgerlichen Gemeinwesens bekannt gewesen sein, ganz abgesehen davon, dass diese ja auch bei Josephus belegt ist. Der Kontext (bes. V. 27b-28) entfaltet dreifach das gemeinsame Handeln. Von daher liegt es nahe, dass ein Bezug auf die πόλις [ polis] mitschwingt, wobei hier aber an die Gemeinde zu denken ist. Das Handeln der Philipper als diese neue Gemeinschaft soll sich am Evangelium als ihrer Basis orientieren. Deshalb fordert Paulus auf: Gestaltet euer (Gemeinde-)Leben würdig des Evangeliums Christi. Dass dies dann auch für das Leben der einzelnen Gemeindeglieder gilt, ist zwar nicht vorrangig im Fokus, ist aber impliziert. Paulus will also die Philipper zu einer christlichen Lebensweise anleiten in Entsprechung zu „their corporate citizenship as constituted in Christ and the gospel“11. Die Zugehörigkeit zu dieser neuen Gemeinschaft und die damit gegebene Würde sind das Fundament, auf dem das Handeln beruht. Das des Evangeliums würdige Handeln erwächst aus dem der Gemeinde gegebenen Evangelium selbst. „Das Evangelium als Zuspruch der Heiligung verpflichtet zu einem ihm gemäßen Wandel.“12 Die Aussage-Intention des Paulus kann folgendermaßen paraphrasiert werden: Ihr seid Bürger 9 Schlatter 71. Ähnlich Müller 75 („Führt euer Gemeindeleben“). 10 Folgt man Ascough, Associations, 148, der πολίτευμα in 3,20 wiedergibt mit „state and constitutive government“, dann wird diese Deutung gestützt. Zu dem Bedeutungsspektrum von πολίτευμα vgl. a.a.O., 77f. 11 Bockmuehl 98. 12 Stettler, Heiligung, 522.

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der neuen πόλις und jetzt lebt entsprechend dem Evangelium, das die Grundlage dieser neuen πόλις ist. Die Tragweite und der je nach Perspektive geradezu revolutionäre Charakter dieser Aussage werden deutlich, wenn man für das Verständnis die Inschrift aus Gazoros aus dem Raum Philippi hinzuzieht, in der die Wendung ἀξίως τοῦ τε βασιλέως καὶ τῶν πολιτῶν [axiōs tou te basileōs kai tōn politōn] enthalten ist.13 Ähnliche Formulierungen, z.B. axiōs tēs (hēmeteras) poleōs, sind in Inschriften häufig bezeugt. Der epigraphische Befund zeigt also, dass in Philippi der Bürger ein der Stadt (polis) bzw. der Kolonie würdiges Leben zu führen hatte, sich also am mos maiorum14 orientieren musste. Vor diesem Hintergrund verwendet Paulus πολιτεύεσθαι ἀξίως [ politeuesthai axiōs], jedoch mit der Bezugsgröße Evangelium Christi, dem nun die normative Funktion zukommt und die in das römische Koordinatensystem des mos maiorum schlechterdings nicht integrierbar ist.15 Für die städtische Obrigkeit hätte dies geradezu revolutionär klingen müssen, bedeutete es doch einen Austausch des Wertemaßstabs. Der Inhalt des Evangeliums (vgl. zu 1,12) ist die Christusbotschaft. Paulus stellt also keine umfangreiche Liste von Regeln zusammen, sondern er verweist auf das Evangelium Christi als den entscheidenden Maßstab. Wesentliche Elemente sind etwas später in dem katechetischen Traditionsstück (2,6-11) enthalten. Bei der Parenthese ob ich gekommen bin und euch gesehen habe oder abwesend bin wird vielfach eine Breviloquenz, also eine sprachliche Unvollständigkeit des Satzes angenommen.16 Demnach müsste der Satz eigentlich lauten: „damit – ob ich komme und euch sehe oder fern bin und über euch höre – ich erfahre …“ Dies würde ein Partizip ἀκούων [akouōn] voraussetzen und ein weiteres Verb. Paulus, so die These, setzt akouō gleich in die finite Form, wodurch allerdings τὰ περὶ ὑμῶν [ta peri hymōn] (über euch) etwas unverbunden zu stehen kommt. Diese Rekonstruktion ist jedoch vollkommen überflüssig, weil hören (ἀκούω [akouō]) ohne Schwierigkeit mit einem Akkusativobjekt zur Bezeichnung des Gehörten stehen kann (vgl. 2Kor 12,4.6; Gal 1,13). In dieser Parenthese beweist sich die intakte persönliche Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde. Unabhängig davon, ob Paulus anwesend ist oder fern, er zeigt sich informiert und nimmt Anteil am Ergehen der Ge13 Für den Text der gesamten Inschrift vgl. Pilhofer, Philippi II, 655f. Vgl. zum Folgenden auch Pilhofer, Philippi I, 137. 14 Der mos maiorum (wörtl. „Sitte der Vorfahren“) bezeichnet die traditionellen Bräuche und Normen. 15 Vgl. Pilhofer, Philippi I, 116. 16 Vgl. Müller 77; Gnilka 99, Anm.17; Dibelius 70.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

meinde, die er zudem bald besuchen möchte, vgl. 1,26; 2,24. Die Wendung ta peri hymōn steht in Phil 2,19 erneut im Kontext des Informationsaustausches zwischen Paulus und der Gemeinde.17 Das Leben würdig des Evangeliums wird durch den Wunsch, dass ihr fest steht in einem Geist konkretisiert. Ganz parallel fordert Paulus in 4,1 auf: „Steht fest (στήκετε [stēkete]) im Herrn.“ Das Verb στήκειν ist eine Metapher aus der Militärsprache und assoziiert die militärische Formation der Truppe, und zwar die Phalanx.18 O’Brien deutet Geist hier anthropologisch, was er mit der Parallelität zu mia psychē begründen will.19 Jedoch ist eben diese Parallelität fraglich. Vielmehr meint πνεῦμα [ pneuma] hier den Heiligen Geist.20 Dies legt sich aufgrund der Parallelität zu 4,1 (Steht fest im Herrn) nahe. Außerdem ist πνεῦμα im Kontext auf den Heiligen Geist bezogen (vgl. 1,19). Schließlich ist auf die nahen Parallelen in 1Kor 12,13 und Eph 2,18 zu verweisen. Die Philipper sollen fest stehen wie der Soldat, der im Kampf nicht weicht.21 Sie müssen und sollen nicht zurückweichen, auch wenn Gegner Druck ausüben. Vielmehr ist das Bekenntnis zu Christus gerade dann wichtig, wenn Glaube von außen angefeindet wird. Durch den Geist wird ihnen das Fest-Stehen möglich. Dabei ist das „Feststehen in einem Geist“ die Basis für die in V. 27b-28 partizipial ausgeführten beiden Verhaltensweisen (gemeinsam kämpfen, sich nicht einschüchtern lassen). Das Fest-Stehen im Geist wird realisiert durch das „Einmütig-Mitkämpfen“. Auch συναθλεῖν [synathlein] (mitkämpfen) entstammt der Militärsprache22 und ist konnotiert mit dem Kämpfen Seite an Seite wie ein Mann. Es wird durch μία ψυχή [mia psychē] (mit einer Seele, also einmütig) näher bestimmt. Paulus verwendet synathlein nur noch in Phil 4,3, wo er Evodias und Syntyches Mitkämpfen für das Evangelium lobt. Das Mitkämpfen geschieht für den Glauben an das Evangelium. τῇ πίστει [tē pistei] ist ein dativus 17 Bezeichnenderweise ist τὰ περὶ ὑμῶν dort Akkusativobjekt zu γινώσκειν, also einem der Verben, die man unter der Annahme einer Breviloquenz in 1,27 einfügen könnte. 18 Vgl. Peterlin, Disunity, 163. Bei der Phalanx wurden die Soldaten in mehreren engen Schlachtreihen hintereinander aufgestellt, um die Stoßkraft des Angriffs zu erhöhen und um sich einander Schutz gewähren zu können, vgl. L. Burckhardt, Art. Phalanx, DNP IX (2000), 724f. 19 Vgl. O’Brien 150, ähnlich Bruce 59. 20 So auch Hansen 96; Bockmuehl 99; Fee 164-166 und mit ausführlicher Begründung Fee, Empowering Presence, 743-746. 21 Vgl. Hansen 96. 22 Alternativ kann man mit Arnold, Telos, 166f, hier eine Sportmetaphorik annehmen. Er begründet dies damit, dass Paulus für „kämpfen“ sonst στρατεύεσθαι verwendet. Die Stellen sind jedoch rar. Für die Verbindung mit der Militärsprache spricht die Verwendung von στήκειν im Kontext.

3.1 Gemeinde und Leiden (1,27-30)

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commodi,23 τοῦ εὐαγγελίου [tou euangeliou] ein genitivus obiectivus.24 Vor dem Hintergrund von Phil 1,15-18a und 4,2-3 gewinnt die Aufforderung an Schärfentiefe. Es geht darum, nicht gegeneinander zu rivalisieren, sondern gemeinsam zu kämpfen,25 wobei eine einheitliche Ausrichtung besteht und einer dem anderen hilft. Paulus sieht offenbar die Gefahr, eher gegeneinander zu kämpfen als für den Glauben an das Evangelium. Mit dem Stichwort Evangelium wird eine Verbindung zu 1,12-26 hergestellt. Paulus setzt sich ein für den Fortschritt des Evangeliums (1,12), er ist für dieses in Gefangenschaft (1,13), er ist bereit zur Fortsetzung seines Dienstes (1,24), selbst wenn sein eigentlicher Wunsch ein anderer ist (1,23). Mit seiner Leidensbereitschaft, seinem Einsatz und seiner Haltung (1,12-26) hat Paulus vorbildhaft gezeigt, was es bedeutet, würdig des Evangeliums zu leben. 28 Zweitens wird „Feststehen in einem Geist“ dadurch realisiert, dass die Gemeinde sich nicht einschüchtern lässt. Das seltene Wort πτυρέσθαι [ ptyresthai] wird eigentlich für das Zurückschrecken von Pferden bei Gefahr verwendet, so z.B. bei DiodSic 17.34.6 (1. Jh. v.Chr.) und Plutarch (1. Jh.).26 Anders als Pferde im Kampf sollen die Philipper sich von den Widersachern in überhaupt nichts einschüchtern lassen, also nicht zurückweichen, sondern sie werden aufgefordert, auch gegen Bedrängnis, Druck oder Bedrohung im Geist fest zu stehen. Es geht darum, die Stellung zu halten, und dies impliziert auch den Verzicht auf faule Kompromisse. Wer die Widersacher sind, lässt sich allein aus dem ἀντικειμένοι [antikeimenoi] nicht schließen. Wie in 1Kor 16,9 handelt es sich um Widersacher von außen, vermutlich Heiden,27 genauer bestimmen lassen sie sich aber nicht. Ihr Instrument ist Einschüchterung, die möglicherweise auf Verunsicherung zielt.28 Dass der neue Maßstab Widersacher auf den Plan ruft, ist verständlich, weil es sich bei den Christen um eine Gruppe, noch dazu mit überregionaler Vernetzung, handelt, die nicht mehr die übliche Ordnung zum Maßstab ihres Handelns macht. Die leicht zu überlesenden Wörter in nichts sind bedeutsam, stellen sie doch eine Parallelität und 23 Der dativus commodi bezeichnet die Sache, zu deren Vorteil etwas geschieht. 24 So mit Ewald 98; Dibelius 70 und den meisten modernen Kommentaren; gegen Calvin 228f, der den Dativ als instrumental auffasst (Calvin, Commentarii, 594: Der griechische Dativ vertritt den „ablatiuo instrumenti“.); Lohmeyer 75f, für den der Glaube der eigentliche Kämpfer ist. Neuerdings hat sich Wojtkowiak, Christologie, 131, für „ein sociatives oder instrumentales Verständnis des Dativs“ ausgesprochen. 25 Bei den Apostolischen Vätern gibt es nur einen Beleg in IgnPol 6,1, ebenfalls im Kontext der Einheit der Gemeinde. 26 Vgl. Geoffrion, Rhetorical Purpose, 67; Hansen 98; Standhartinger, Eintracht, 162. 27 So Müller 78. Zu möglichen Identifikationen der Gegner in 1,28 und ihren Schwierigkeiten vgl. Reumann 278f; Oakes, Philippians, 84-89. 28 So zumindest Schenk 169.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Nähe zu 1,20 her. Wie Paulus in nichts zuschanden wird, brauchen sich auch die Philipper in nichts einschüchtern lassen. Das Feststehen, also gemeinsam zu kämpfen und nicht zurückzuschrecken, stellt eine ἔνδειξις [endeixis] (Zeichen, Beweis) dar. Hinter dem Zeichen steht letztlich Gott (und dies von Gott [ἀπὸ θεοῦ]). Es geht um die „Offenbarung seines Handelns“29. Für die weitere Exegese eröffnen sich im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: 1. Die Einheit und die Zusammenarbeit der Gemeinde sowie ihre Widerstandsfähigkeit gegen Anfeindungen sind für die Gegner ein Zeichen, dass ihre feindseligen Absichten zum Scheitern verurteilt sind.30 Das heißt aber nicht, dass die Widersacher dies auch erkannten. Zugleich ist es ein Zeichen der Rettung der Glaubenden (ὑμῶν [hymōn]). 2. Mit Martin/Hawthorne und Hansen ist folgende Alternative zu erwägen:31 Das Handeln und die Haltung der Gemeinde werden von den Widersachern als ein Zeichen des Verderbens gedeutet, d.h. sie rechnen mit dem Verderben der Gemeindeglieder. Dies ist durchaus begründet, weil die Christen mit ihrem Bekenntnis zu Christus als Herrn mit der römischen Verehrung des Kaisers als Herrn im Konflikt standen und Abweichler hart bestraft werden konnten, bis hin zur Exekution. Für die Christen ist jedoch ihre Standfestigkeit ein Zeichen ihrer Rettung. Ein zu berücksichtigendes Argument von Hansen ist, dass ein Hinweis fehlt, dass es sich bei Verderben (ἀπωλεία [apōleia]) um das der Widersacher handelt. Meines Erachtens ist Hansens Position beim Abwägen der (historischen) Plausibilität leicht im Vorteil, eine definitive Entscheidung ist aber kaum möglich. Egal welche dieser beiden Interpretationen vorzuziehen ist: Positiv kann man festhalten, dass Paulus die Glaubenden ihrer Rettung versichert. Paulus will sie ermutigen, indem er zeigt, dass das einmütige Mitkämpfen und Feststehen ein Zeichen dafür ist, dass sie gerettet werden. Von daher sollen sie sich nicht einschüchtern oder irritieren lassen durch Gegner, die Vernichtung als Konsequenz des Glaubens androhen. Dabei ist Rettung bzw. Heil (σωτηρία [sōtēria]) gegenwärtig und zukünftig gedacht. Mit Recht verweist Müller auf die „eschatologische Dimension“.32 Schon der Kampf ist Zeichen der ewigen Rettung. Zugleich ergibt sich eine Parallele zu 1,19f: Wie 29 Müller 79. Vgl. für ἔνδειξις als Erweis im Kontext des Offenbarungsgeschehens (mit Bezug auf Röm 3,25f ) Kümmel, Πάρεσις und ἔνδειξις, 269. 30 Vgl. Bockmuehl 101. Ähnlich schon Lohmeyer 77: Der Erweis gilt nur den Widersachern, und zwar als Erweis ihres Verderbens und der Rettung der Glaubenden. Letzteren gilt die ἔνδειξις nicht, denn sie kennen den Gegensatz schon aufgrund ihres Gläubigseins. 31 Vgl. Hansen 100-101, ähnlich Martin/Hawthorne 72-75. Hansen verweist u.a. auf die Gegenüberstellung „ihr Verderben – eure Rettung“ in 1Kor 1,18. 32 Müller 79.

3.1 Gemeinde und Leiden (1,27-30)

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Paulus davon ausgeht, dass seine aktuelle Lage ihm zum Heil ausschlägt, so gilt dies auch für die Philipper, selbst durch Leid hindurch. Die Bemerkung und dies von Gott bezieht sich vermutlich auf den ganzen Satz, zumindest aber auf „Zeichen eurer Rettung“. Damit betont Paulus: Die Gewissheit des Heils hängt an Gott. Und er ist es auch, der zu den in V. 27-28 erwähnten Verhaltensweisen befähigt. 29 In einem begründenden Satz spricht Paulus ebenso ermutigend wie elliptisch von dem Geschenkcharakter der Christusbeziehung: denn euch ist geschenkt (wörtlich:) das für Christus. Das, was für die Christusbeziehung (τὸ ὑπὲρ Χριστοῦ [to hyper Christou]) wesentlich und tragend ist, wird als Geschenk zuteil.33 Dass an ihn zu glauben Geschenkcharakter hat, ist für die Leser leicht verständlich und akzeptabel. Nach paulinischer Ansicht wird Glaube in der Verkündigung des von Christus selbst eingesetzten Evangeliums empfangen (Röm 10,17), er hat somit seinen Ursprung extra nos und ist creatura verbi.34 Der Glaube begründet ein Beziehungsverhältnis zu Jesus Christus (Gal 2,20). So wird er für Paulus zur „Bezeichnung für das von Gott in Christus durch das Evangelium gnädig eröffnete neue Leben im Geist“35 und eine „umfassende Existenzbestimmung der Christen“.36 Mit einem steigernden sondern (ἀλλά) leitet Paulus über zu dem zweiten Geschenk, dessen Geschenkcharakter sich nicht so leicht erschließt: das für ihn zu leiden. Paulus will das Leiden als Implikation des Glaubens verstehbar machen. Er parallelisiert das Geschenk des Glaubens und das des Leidens, weil er zeigen will, dass „die Leidenserfahrungen … notwendig mit dem Glauben verbunden [sind].“37 Paulus musste damit rechnen, dass das Leiden um Christi willen den Glauben der Philipper bedrohte. Für diese als Heidenchristen musste es angesichts ihrer religiösen Prägung als Zumutung erscheinen, dass der Glaube an Christus, dessen Botschaft als Evangelium verkündet wurde, Anfeindungen und Leiden mit sich bringt.38 Aufgrund seiner kurzfris-

33 Michaelis 30 deutet τὸ ὑπὲρ Χριστοῦ mit Hinweis auf die Substantivierung als ein „Motto“. Andere interpretieren das doppelte τὸ ὑπέρ dahingehend, dass Paulus nach dieser Formel zunächst den Satz unterbricht und parenthetisch das Geschenk des Glaubens einschiebt, bevor er vom Leiden schreibt. 34 Vgl. Hofius, Wort Gottes, 157. 35 Stuhlmacher, Theologie I, 343. 36 Hahn, Theologie I, 268. 37 Wojtkowiak, Christologie, 132. Nach Kamlah, Leiden, 227, sieht Paulus die Leiden als Auswirkungen von Tod und Auferstehung Jesu, und er kann sie deshalb als Geschenk bezeichnen. 38 Vgl. Walter, Christusglaube, 423f.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

tigen Abreise aus Philippi hat Paulus sie nicht auf das Leiden um der frohen Botschaft willen vorbereiten können.39 In der hellenistischen Antike erwartet man von der Religion nicht das Leiden, sondern eher die Überwindung desselben. Die griechische Literatur von Platon bis Epikur kennt den Tod als einen unheilvollen Abstieg, weil die Seelen der Toten durch die Erinnerung an ihre Verbrechen und die Angst vor der Strafe der Götter gequält werden (vgl. Bloomquist, Subverted, 272). Die griechische Tragödie bedenkt das Leiden unter dem, was die Götter oder das Schicksal verhängt haben. Insofern gibt es für die Tragiker menschliches Leben nicht ohne Leiden.40 Für die Stoiker ist Leiden vorrangig mit dem Schicksal (εἱμαρμένη) verbunden, während der Einfluss der Götter weniger maßgeblich ist.41 Von daher wird Leiden weniger als religiöses Problem eingeordnet. Dem Leiden begegnet der Stoiker mit Unerschütterlichkeit. Für eine positive Deutung von Leiden steht Seneca. Er versteht in De providentia (z.B. II,2.7; III,3) und De constantia sapientis (z.B. IV,1; V,3-5) Leiden als eine Herausforderung für die Bewährung der eigenen Standhaftigkeit und Geduld,42 sodass Leiden letztlich auf die innere Selbstveredelung zielt. Aus dieser Perspektive ist ein gewichtiger Einwand gegen die These von Wojtkowiak zu erheben. Nach Wojtkowiak sind „die Leidenssituation und das Unverständnis für ein Leiden aus religiösen Gründen“43 Auslöser für den Konflikt in Philippi. Deshalb sieht er hier den Anlass der Paraklese in 1,27–2,18, die Paulus in 1,12-26 durch den Hinweis darauf vorbereite, dass die Erfahrung von Leiden keinen Anlass für die Abwendung vom Evangelium darstellt. Dahinter steht die These einer außerordentlich hohen Relevanz von Status und Ehre (vgl. Wojtkowiak, Christologie, 149-157) sowie von Leidensvermeidung.44 Gerade diese scheint höchst zweifelhaft, weil die Stoiker Leiden keineswegs nur negativ gedeutet haben.

In der jüdischen Tradition ist Leiden um Gottes bzw. der Religion willen bekannt,45 z.B. in den Makkabäerbüchern. Nach deren Bericht nehmen manche Juden lieber den Tod in Kauf, als das Gesetz zu übertreten, vgl. 1Makk 1,5764 (Strafaktionen von Antiochus IV. Epiphanes für das Halten des Gesetzes, z.B. bezüglich Beschneidung, Speisegebote), 1Makk 2,29-38 (Verzicht auf die Verteidigung am Sabbat) und 2Makk 6,18–7,42 (Verweigerung des Verzehrs 39 40 41 42

Vgl. Walter, Leiden, 423. Vgl. W. Michaelis, Art. πάσχω κτλ., ThWNT V, 903-906. Nach Seneca, De providentia II,7, kann aber Gott ein Schicksal zur Übung zuweisen. Seneca, De providentia II.2: Omnia aduersa exercitationes putat (alle Widerwärtigkeiten sind für ihn Übungen). 43 Wojtkowiak, Christologie, 269. Vgl. auch a.a.O., 238-253. 44 Genauso problematisch ist die Aussage von Müller 82, dass „in keinem Fall … – antikem Gefühl zufolge – dem Leiden ein positiver Wert zukommen [kann].“ 45 Vgl. Walter, Leiden, 428; Wojtkowiak, Christologie, 235f.

3.1 Gemeinde und Leiden (1,27-30)

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von Schweinefleisch). In 2Makk 7,9.14 ist dies verbunden mit einer Auferstehungserwartung, in 2Makk 7,36 mit der Erwartung des ewigen Lebens (ἀενάος ζωή [aenaos zōē]). Das Leiden für Christus knüpft möglicherweise am Topos des Leidens für andere an, z.B. seitens verantwortlicher Politiker oder Feldherren. Zum Beispiel sichert der hasmonäische Feldherr Simon seine Bereitschaft zu, für die Jerusalemer das Größte zu leiden (πάσχειν ὑπὲρ ὑμῶν τὰ μέγιστα), vgl. Josephus, Ant 13,199.46 Allerdings ist diese Stelle kein Beleg eines Leidens für Gott. Der Gedanke des Leidens für Christus könnte auch an die Jesustradition anknüpfen, die ein Leiden um Gottes willen kennt, vgl. Mk 8,35 parr.; Mt 5,10-12 / Lk 6,22f. Insbesondere zu Lk 6,22f ergibt sich eine signifikante Nähe aufgrund der auch für den Philipperbrief charakteristischen Verbindung von Leiden und Freude. In der Erfahrung des Leides findet Paulus Freude, denn durch das Leid sind Menschen wie die Philipper zum Glauben an und zum Leben in Christus gekommen. Der Realität des Leides begegnet Paulus nicht mit Leidensvermeidung, sondern mit einer kontraintuitiven („counterintuitive“) Haltung „making suffering and death for the gospel the very way to joy and life“.47 Es ist bezeichnend, dass Paulus durch seine Wortwahl das Leiden für (ὑπέρ [hyper]) Christus einerseits und Christi Leiden und Sterben für (ὑπέρ) uns andererseits einander korrespondieren lässt. Weil der Glaube in dem Heilswerk Jesu gründet, sind in dieser Wechselseitigkeit Glauben und Leiden umgriffen, und „in believing and suffering, Christ is the source and center of life.“48 30 In V. 30 ist ein modales oder auch ein kausales Verständnis des Partizips ἔχοντες [echontes] möglich, also ist zu übersetzen indem (oder „weil“?) ihr denselben Kampf habt. In jedem Fall begründet Paulus, wie sich das Leiden für Christus realisiert, nämlich in dem gegenwärtigen Kampf der Gemeinde in Philippi. Dass sie schon vorher einem Kampf ausgesetzt war, ist dem Text nicht zu entnehmen.49 Durch den Begriff ἀγών [agōn] (Kampf) wird das Leidensverständnis speziell akzentuiert. Agōn steht für Wettkampf oder Kampf allgemein. Durch die Zufügung des positiv gefärbten Wortes agōn, erscheint das Leiden als ehrenhafte Haltung,50 denn agōn assoziiert „für griechisches Lebensgefühl das

46 47 48 49 50

Vgl. für weitere Belegstellen Standhartinger, Eintracht, 163, Anm. 77. Bloomquist, Subverted, 280. Hansen 102. Vgl. Lohmeyer 79. Vgl. Walter, Leiden, 431; ders., Christusglaube, 425.

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Ideal des heroischen Wettstreits“.51 Insofern wird das Leiden für Christus dem Kampf für ein edles Ziel zugeordnet. Im hellenistischen Judentum wurde die agōn-Metapher auch auf das Leben nach dem Gesetz (Philo, Agr 113-119; Philo, Praem 4-6; Weish 10,2) und die Auseinandersetzung mit dem Satan (TestIob 4.27) bezogen.52 Philo spricht, offenbar unter Rezeption stoischen Gedankenguts, vom Kampf gegen alles Schmerzliche, in dem man sich gleichgültig verhalten kann (Philo, All III,202). Besonders 4Makk überträgt das agōn-Motiv auf die Märtyrer und stellt eine Parallele her zwischen dem Wettkampf der Athleten und dem Leidenskampf der Märtyrer. Beide ereigneten sich oft in derselben Arena (vgl. ausführlich 4Makk 17,9ff ).53 Indem Paulus Leiden mit dem Terminus Kampf (ἀγών) verbindet, bekommt die Wendung für ihn zu leiden (τὸ ὑπὲρ αὐτοῦ πάσχειν [to hyper autou paschein]) einen „aktiven Klang“, es bedeutet nicht, „wehrlos fremder Auswirkung ausgesetzt sein oder gar unterliegen“.54 Leiden bedeutet Mitkämpfen und Feststehen. Bei diesem aktiven Handeln sind die Gemeinde und der Apostel miteinander verbunden, denn sie stehen beide in demselben Kampf. Nach Lohmeyer „(ist) der Kreis, der beide umschließt, … das Martyrium hier und dort. So sind sie in Leid und Gnade verbunden.“55 Dass die Gemeinde vor dem Martyrium steht, ist hier jedoch nicht gesagt. Es ist das Leiden um Christi willen, das die Philipper mit Paulus verbindet. Paulus verweist die Philipper auf sein Leiden und seinen Kampf für das Evangelium und attestiert ihnen denselben Kampf. Die Betonung dieser Gemeinsamkeit bewirkt zugleich eine Intensivierung und Stärkung der gegenseitigen Beziehung. Die Partnerschaft am Evangelium (1,5) führt nun zur Partnerschaft im Leiden und Kämpfen. Im Kontext von 1,12-26 kann diese Parallelität als Ermutigung in dem gegenwärtigen Kampf aufgefasst werden. Paulus verweist explizit auf sich selbst: welchen ihr an mir seht und nun durch mich hört. Die Philipper haben gesehen, was Paulus in Philippi erlitten hat. Apg 16,16-40 berichtet von der öffentlichen Anklage, der Anfeindung seitens des Volkes, der Entkleidung, der Geißelung mit Stöcken und der schweren Kerkerhaft (vgl. auch 1Thess 2,2). Nicht zuletzt durch Phil 1,12ff waren die Philipper aktuell informiert. Mit seinem Beispiel hat Paulus es vor51 Müller 80. 52 Vgl. G. Dautzenberg, Art. ἀγών/ἀγωνίζομαι, EWNT I, 60. 53 Vgl. E. Stauffer, Art. ἀγών κτλ., ThWNT I, 136. Vgl. auch Müller 82f; Hansen 102f. Nach Hengel/Schwemer, Paulus, 294, ist 4Makk wahrscheinlich mit Antiochien zu verbinden. Von daher ist eine paulinische Rezeption dieser Schrift gut möglich. 54 W. Michaelis, Art. πάσχω κτλ., ThWNT V, 919; ihm folgend Müller 80. 55 Lohmeyer 80.

3.1 Gemeinde und Leiden (1,27-30)

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gelebt, dass Glaube, Kampf und Leiden zusammengehören, weshalb hier ein Rekurs auf V. 29 impliziert ist. Die weiteren Leiden von Paulus nach seinem Erstaufenthalt in Philippi hat die Gemeinde (unter Annahme einer Abfassung in Ephesus) nur hören können. Zwar müssen die Philipper nicht unbedingt wie Paulus unmittelbar mit Gefangenschaft bedroht gewesen sein, aber Paulus schreibt ihnen zur Ermutigung, „that their suffering put them in the same arena, running the same race, and engaged in the same struggle as Paul was“56. Indem Paulus das Leiden mit der Metapher vom Kampf verbindet und implizit zum Annehmen von Leiden nach seinem Vorbild ermutigt, bereitet er schon die Gedanken vor, die er in 3,10-17 weiter entfalten wird.

IV Zusammenfassung In diesem kurzen Abschnitt hebt Paulus darauf ab, dass die Lebensführung der Gemeinde und dabei zunächst die Gestaltung des Gemeindelebens dem Evangelium entsprechen sollen, das selbst die Grundlage der neuen Gemeinschaft der Christen ist. Die primäre und eigentliche Ausrichtung der Gemeinde hat also am Evangelium zu erfolgen. Dies darf sicherlich nicht in einen falschen Gegensatz gesetzt werden zu sozial-diakonischen Anliegen, zu modernen Formen von Gottesdiensten und anderen Gemeindeveranstaltungen, zur Berücksichtigung postmoderner Denkvoraussetzungen bei der Kommunikation des Evangeliums, aber der Maßstab muss klar sein (vgl. Phil 4,8f ). Die normative Funktion kommt dem Evangelium zu. An ihm hat alles andere Maß zu nehmen. Die Gemeinde hat im Evangelium ihren Wertemaßstab, der (zumindest teilweise) in Konflikt steht zum gesellschaftlichen Wertesystem. Paulus entfaltet dies in dreierlei Hinsicht. Die Entsprechung zum Evangelium wird realisiert durch das „Feststehen“ im Geist, der letztlich der Ermöglichungsgrund für die Orientierung am Evangelium ist. Die Ermutigung zum Mitkämpfen für das Evangelium klärt die Ausrichtung und Zielsetzung des Gemeindelebens. Insofern wird sich Gemeinde immer wieder neu auf das Evangelium besinnen müssen und die eigene Zielsetzung auf dieses hin abzustimmen haben. Die Ermahnung zum einmütigen Mitkämpfen nimmt in den Blick, dass Uneinigkeit und Konflikte die missionarische Außenwirkung der Gemeinde lähmen. Oft genug rauben Konflikte und Debatten über eigentlich nachrangige Fragen die Kraft und Zeit, die für die missionarische Durchdringung der Gesellschaft mit dem Evangelium nötig wäre. Diese Situation ist dem Evangelium sicherlich kaum angemessen. 56 Hansen 103.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Die Ermahnung, sich nicht einschüchtern zu lassen, nimmt nüchtern zur Kenntnis, dass die Ausrichtung an der Christusbotschaft die Gemeinde in Opposition setzt zu ihrer Umwelt. Die urchristliche Verkündigung von Jesus als Herrn trat in einen Konflikt zum Kaiserkult. Damit führte das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn auch zum Konflikt mit den religiösen und politischen Führern. Paulus stellt klar, dass Leiden um des Evangeliums willen unter diesen Bedingungen nicht vermeidbar ist. Aber er zeigt zugleich, dass Leiden für Christus den Fortschritt des Evangeliums bewirkt (1,12), dass es Christus groß macht (1,20), dass es ein Zeichen von Gottes Gnadengeschenk ist (1,29), dass es die Teilhabe an den Leiden Christi repräsentiert und so die Gemeinschaft mit Christus bedeutet (3,10) und dass Leiden der Weg von Christus selbst gewesen ist, der sich bis zum Tod am Kreuz erniedrigte (2,8).57 Zweitausend Jahre Kirchengeschichte legen davon ein beredtes Zeugnis ab bis hin zur Gegenwart, in der viele Christen weltweit Verfolgung erleiden. Auch wo das Christentum vermeintlich auf dem Rückzug ist, geht es darum, sich nicht einschüchtern zu lassen, weder von gesellschaftlichem Gegenwind noch von der Macht der Medien noch von irgendetwas oder irgendjemand anderem. In dieser Situation will Paulus den Philippern „auch ihr Leiden als einen Bestandteil ihres Glaubens, ihres Zu-Christus-Gehörens verständlich machen“58. Dabei ist Leiden nicht zu reduzieren auf ein passives Über-sich-ergehen-Lassen, sondern Leiden wird als Kampf verstanden, also als das aktive Ergreifen von Initiative.

3.2 Einheit durch Demut (2,1-4 ) Kap 2,1-11 gehören zu den umstrittensten Abschnitten des Philipperbriefes. Dies rührt daher, dass für die Verse 1-4 schon bei der Übersetzung der Streit beginnt und dass der so genannte Christushymnus (6-11) einer der am ausführlichsten diskutierten Texte im NT ist. Für dessen Interpretation gibt es eine Unzahl divergierender Beiträge. V. 5 verbindet die beiden Teilabschnitte und hat eine gewisse Brückenfunktion.

57 Dies bedeutet nicht automatisch, dass Martyrien „Höhepunkte des gläubigen Lebens“ (Lohmeyer 79) sind. 58 Walter, Leiden, 430.

3.2 Einheit durch Demut (2,1-4 )

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I Übersetzung 1 Wenn (ihr) also Ermutigung in Christus (habt), wenn (ihr) Trost der Liebe (habt), wenn (ihr) Gemeinschaft mit dem Geist (habt), wenn (ihr) liebevolles Erbarmen (habt), 2 macht meine Freude vollkommen dadurch, dass ihr auf dasselbe bedacht seid, indem ihr dieselbe Liebe habt, einmütig (seid), auf das eine den Sinn richtet, 3 indem ihr nichts aus Egoismus oder Geltungsbedürfnis tut, sondern in Demut einander für höher als euch (jeweils) selbst haltet, 4 indem jeder nicht auf das Eigene fixiert ist, sondern auch jeder1 auf das der anderen.

II Textkritik, Kontext, Struktur

Textkritische Anmerkungen. In V. 2 lesen bedeutende Handschriften (‫ *א‬A C 33 u.a.) τὸ αὐτὸ φρονεῖν statt der ntl. singulären Wendung τὸ ἓν φρονεῖν, die jedoch eine bessere externe Bezeugung aufweist (î46 ‫א‬2 B D 1739 Cl u.a.). Die Variante kann als Dittographie erklärt werden. In V. 4 kann die Ursprünglichkeit von καί aufgrund der klaren externen Bezeugung mit î46 ‫ א‬A B C D1 L P u.a. gegen D* F G K u.a. angenommen werden. Weiter ist der Singular von ἕκαστος aufgrund der stärkeren äußeren Bezeugung und gemäß der lectio difficilior vorzuziehen. Die Plural-Variante ἕκαστοι kann mit der Adaption an den Partizip-Plural σκοποῦντες erklärt werden. Das Partizip σκοποῦντες ersetzen einzelne Handschriften mit einem Imperativ Singular (K u.a.) bzw. Plural (L u.a.), die externe Bezeugung spricht aber eindeutig für das Partizip (î46 ‫ א‬A B C D u.a.). Kontext. Phil 2,1-4 steht auch ohne terminologische Übereinstimmung in sachlicher Nähe zu 1,27-30. Dort geht es um die Ermahnung, einig fest zu stehen und einmütig zu kämpfen angesichts der von außen kommenden Anfeindung, in 2,1-4 geht es um die Ermahnung zur Einheit angesichts von innen aufkommender Herausforderungen, vermutlich zumindest auch um die Überwindung von Trennungen. Von daher sind 1,27-30 auch keine Art Auftakt zu 2,1-4, denn jene richten sich nach außen, diese nach innen.2 Für die Mahnung zur Eintracht hat Paulus sicherlich auch aufgrund der Konflikte in Philippi Anlass (vgl. z.B. 4,2f ).3 Die Mahnung ab 2,1 greift das Thema Neid und Uneinigkeit (vgl. 1,12-18) auf. Wie TestSim 4,7 dem Geist des Neides die Bru-

1 „Jeder“ ist hier Wiedergabe des Plurals ἕκαστοι, der im Sinne von „alle Einzelnen“ zu verstehen ist. 2 So auch Walter 51. Ähnlich Gnilka 103; O’Brien 166. 3 Anders Standhartinger, Eintracht, 171, die eine Veranlassung durch konkrete Konflikte in Philippi nicht gegeben sieht.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

derliebe entgegensetzt, so mahnt ähnlich Paulus in 2,2 zur Einheit, die auf Liebe basiert. Struktur. Das Fehlen der Kopula (V. 1) und die Reduktion auf semantisch gewichtige Begriffe führen zu einer außerordentlichen sprachlichen Verdichtung, die der Auslegung erhebliche Schwierigkeiten bereitet hat.4 Die Verse 14 bilden ein Satzgefüge, in dem πληρώσατέ μου τὴν χαράν (2a) mit der einzigen finiten Verbform der Hauptsatz ist. Diesem untergeordnet sind in V. 1 die vier mit εἰ eingeleiteten Wendungen. Von dem Hauptsatz abhängig ist der ἵνα-Satz,5 dem wiederum in V. 2 die beiden Partizipien und das Adjektiv σύμψυχοι untergeordnet sind.6 Die Verse 3-4 sind in einem gedrängten Partizipialstil gehalten. V. 3 ist insgesamt mit dem participium coniunctum ἡγούμενοι dem letzten Partizip von V. 2 untergeordnet.7 Vers 4 ist ebenfalls mit einem participium coniunctum gebildet und wohl als eine untergeordnete nähere Erläuterung zu V. 3b aufzufassen und nicht auf einer Ebene mit diesem zu sehen, denn dann wäre ein Anschluss mit καί zu erwarten.8

III Einzelexegese 1 Mit οὖν [oun] setzt Paulus einfach den Gedankengang fort.9 Die Aus-

legung und Kategorisierung der vier εἰ-Wendungen ist dadurch erschwert, dass in der Protasis kein Prädikat explizit genannt wird, sie sollte aber den konditionalen Charakter im Blick behalten. Die pragmatische Funktion ist, 4 Umso wichtiger ist die genaue Klärung der Semantik der Begriffe. Standhartinger, Eintracht, 163, meint zu Phil 2,1f: „Fast alle Ausdrücke gehören zum Standardrepertoire der Eintrachtsrhetorik“. 5 Die grammatische Struktur spricht somit gegen die Behauptung von Müller 84, dass erst im ἵνα-Satz und noch nicht im Imperativ die konkrete Weisung zu sehen ist. Andernfalls wäre zu erwarten, dass die Aussage des ἵνα-Satzes mit Imperativ gebildet wäre. 6 Für eine andere Strukturanalyse vgl. Black, Unity, 299-304, der, die Analyse von Gnilka 102f modifizierend, eine Gliederung in drei vierzeilige Strophen postuliert und eine chiastische Struktur in V. 2. Ihm folgt O’Brien 165. Ähnlich findet sich dies bei Peterlin, Disunity 59-65; Martin/Hawthorne 81. Die Parallelität von πληρώσατέ μου τὴν χαρὰν ἵνα τὸ αὐτὸ φρονῆτε und τὸ ἓν φρονοῦντες ist m.E. aber nicht überzeugend, wird doch damit eine finite Verbform einschließlich eines abhängigen ἵνα-Satzes mit einem participium coniunctum parallel gesetzt. 7 Alternativ könnte man auch V. 3 noch als Explikation des ἵνα-Satzes auffassen und auf einer Ebene mit den beiden Partizipien und dem Adj. σύμψυχοι, jedoch wären dann die beiden Wendungen mit μηδέν bzw. μηδέ störend. 8 Vgl. Siebenthal, Grammatik, § 231,l. Genau das Gegenteil ergäbe sich jedoch, wenn man BDR § 421 folgen würde. Bezeichnenderweise beziehen sich beide Grammatiken auf Apg 18,23. H. von Siebenthal kann aber für sich reklamieren, dass er Beispiele für die Verbindung mit und ohne καί nennen kann. 9 Vgl. Michaelis 31. Gegen Müller 84 ist bei οὖν keine Anknüpfung an 1,27 im Speziellen im Blick, sondern an 1,27-30 insgesamt.

3.2 Einheit durch Demut (2,1-4 )

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dass die Leser zur Antwort, und zwar zur Zustimmung zur Bedingung, ermutigt werden. Die Logik der Sätze ist also folgende: Wenn Ermutigung etc. vorhanden sind – die Leser sollen dem zustimmen: „Ja, sie sind vorhanden.“ –, dann macht meine Freude vollkommen. Die genannten Elemente sind also in paulinischer Perspektive bei den Philippern vorzufinden. Auf dieser ermutigenden Grundlage10 folgt dann in V. 2 die Ermahnung. Verschiedene Alternativen zu dieser Auslegung wurden diskutiert. Man hat εἰ hier stärker kausal verstehen wollen (z.B., Perterlin, Disunity, 60). Für diese Möglichkeit könnte man sich auf H. von Siebenthal (Grammatik, § 280f und 281a.) berufen. Wallace, Grammar, 692, dagegen bestreitet strikt ein kausales Verständnis, da eine Übersetzung z.B. mit „since“ den konditionalen Charakter nicht genügend berücksichtigen würde. Insofern ist Vorsicht geboten, wenn z.B. Hansen meint, dass die εἰ-Sätze „realities or certainties“ (Hansen 106) formulieren. Dies erschließt sich allenfalls über ihre pragmatische Funktion. Eine völlig andere Auslegung hat Ewald vorgeschlagen.11 Er fasst die ersten drei Glieder als zweiteilig auf, nämlich als Protasis und Apodosis, und das vierte Glied als nachgetragene zweite Beschreibung des dritten Gliedes. Dies führt bei Ewald zu einer inhaltlich ganz anderen Übersetzung: „Kommt irgend Ermahnung in Betracht, … so geschehe sie in Christo.“ „Wenn irgendwelche Gemeinschaft in Betracht kommt, so sei sie geistdurchwaltet, wenn irgendwelche, so sei sie Herzlichkeit und Erbarmen.“ Aus mehreren Gründen ist Ewalds Vorschlag abzulehnen. Es müsste nämlich jeweils zweimal die Kopula ausgefallen sein, wofür Röm 12,6f keine exakte Parallele ist. Das vierte Glied passt nicht in die Reihe, und Ewalds Erklärungsversuch erscheint zu gekünstelt, denn die Gemeinschaft ist eben nicht zu identifizieren mit Herzlichkeit und Erbarmen. Viel eher zu erwarten wäre entweder ein dativus modalis oder ein genitivus qualitatis. Die Genitive im zweiten und dritten Glied passen ohne Weiteres in die Syntax und machen Ewalds komplizierte Lösung überflüssig. Weiterhin strittig ist die grammatikalische Einordnung von τις bzw. τι. Nach BDR wurde εἴ τις als ein Wort gefühlt, womit eine Inkongruenz verbunden wird, die ein durchgängiges εἴ τι ersetzt.12 Fasst man dagegen τις adjektivisch13 und einfach generalisierend auf, gibt es die Probleme nicht. Der Wechsel von τις und τι ist dann nämlich meist nachvollziehbar. Für das letzte τις würde man eigentlich eine

10 Ähnlich Mengel, Studien, 242: „Paulus (legt) mit V. 1 zunächst die gemeinsame Basis fest, der auch die Philipper selbstverständlich zustimmen werden.“ 11 Vgl. Ewald 103-107, für die folgenden Zitate 105f. 12 Vgl. für Ersteres BDR § 475, Anm. 3, und für Letzteres BDR § 137.2. 13 So mit Wallace, Grammar, 347: „If there is any encouragement in Christ.“ Vgl. dazu a.a.O., 690-694.706.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Pluralform erwarten, aber diese Schwierigkeit lässt sich mit der Annahme einer constructio ad sensum lösen. Schließlich wird diskutiert, ob es in V. 1 um das Verhalten von Paulus oder um das der Gemeindeglieder geht. Nach Michaelis und Gnilka geht es in den ersten beiden Gliedern um das Verhalten von Paulus gegenüber den Philippern und in den letzten beiden Gliedern um die Verbundenheit des Apostels und der Gemeinde (vgl. Michaelis 31; Gnilka 104). Dagegen spricht aber erstens der mit οὖν hergestellte Anschluss an 1,27-30 und zweitens, dass alle vier Glieder ähnlich strukturiert sind. Von daher geht es offensichtlich um das Verhalten der Gemeindeglieder zueinander (vgl. O’Brien 169; Müller 85).

Nach O’Brien geht es in einer Gesamtsicht von V. 1 um „supernatural, objective realities“,14 nach Martin/Hawthorne um „deepest experiences common to every Christian“.15 Beide Perspektiven sind miteinander zu verbinden. Im Blick ist Gottes objektives Heilswirken, das in der menschlich subjektiven Heilserfahrung sichtbar wird. Alle vier Sätze vergewissern die Philipper, dass Gott sie durch die Liebe vereint. Die Wendung Ermutigung in Christus (παράκλησις ἐν Χριστῷ [ paraklēsis en Christō]) hat ihre nächsten Parallelen in 1Thess 4,1 und 2Thess 3,12 (parakalein en kyriō Iēsou). Das Bedeutungsspektrum von παράκλησις umfasst Ermahnung16, Ermutigung und Trost.17 παρακαλεῖν [ parakalein] (ermahnen, ermutigen, trösten) und das dazugehörige Substantiv kommen im Philipperbrief in unterschiedlicher Bedeutung vor. In 4,2 ist die Bedeutung „ermahnen“ für παρακαλεῖν gesichert. Für die Übersetzung von παράκλησις mit Ermahnung spricht, dass im Kontext (1,27) eine klare Aufforderung formuliert ist, die man in 2,2.14.18 weiter entfaltet sehen kann. Hansen hat aber gute Gründe für die Annahme der Bedeutung „Trost“ ins Feld geführt.18 In 1,29 geht es um Trost im bzw. angesichts von Leiden. Die Philipper sind miteinander und mit Paulus vereint im Leid (vgl. 2Kor 1,5-7). Paulus berichtet schon vorher in 1,12-26 von seiner Erfahrung des Trostes im Leiden. Die Philipper teilen Paulus’ Leiden (1,30) und Trost (2,1). Insbesondere aufgrund des Kontextes in Kap. 1 ist die Bedeutung Trost bzw. Ermutigung vorzuzie14 15 16 17

O’Brien 167. Martin/Hawthorne 81. So für Phil 2,1 dezidiert Michaelis 32, der die Bedeutung „Trost“ an dieser Stelle ablehnt. Friedrich 148 versucht, die diversen Bedeutungen miteinander zu verbinden, wenn er sagt, dass die Ermahnung, da sie in Christus geschieht, gleichzeitig Zuspruch und Trost ist. Rehfeld, Erbaulichkeit, 132-134, versucht mit der Übersetzung „Ermunterung“ „den Doppelaspekt von Ermahnung und Trost“ (a.a.O., 132) auszudrücken. 18 Vgl. Hansen 107f.

3.2 Einheit durch Demut (2,1-4 )

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hen.19 In Christus ist näher zu bestimmen i.S.v. „dadurch, dass ihr mit Christus verbunden seid“ (vgl. zu 3,1). Wenn Paulus von der Paraklese durch jemanden spricht, verwendet er ansonsten einen genitivus auctoris (Röm 15,4, vgl. 1Thess 2,3) oder eine Konstruktion mit διά [dia] (Röm 15,30; 1Kor 1,10). „In Christus“ bezeichnet also die persönliche Verbindung mit Christus und assoziiert die Wirklichkeit der Präsenz Christi in der Gemeinde, die Grundlage der Freude und Einmütigkeit ist. Das zweite Glied wenn ihr Trost der Liebe habt enthält mit παραμύθιον [ paramythion] ein Hapaxlegomenon im NT, allerdings steht einmal die feminine Variante παραμυθία in 1Kor 14,3.20 Das zugehörige, ebenfalls seltene Verb findet sich bei Paulus nur noch in 1Thess 2,12; 5,14, dazu zweimal im Joh und einmal in der LXX. Das Bedeutungsspektrum umfasst Trost, Zuspruch, Ermutigung. Auffallend ist, dass paramythion bei Paulus nur gemeinsam mit paraklēsis bzw. parakaleō vorkommt, vgl. neben Phil 2,1 noch 1Kor 14,3; 1Thess 2,12; 5,14 (allerdings nicht grammatikalisch auf einer Ebene). Daraus lässt sich aber nicht zwingend auf Synonymität schließen, auch wenn eine klare Trennungslinie zwischen ihren Bedeutungen sicherlich nur schwer zu ziehen ist.21 Hinsichtlich des Wortes ἀγάπης [agapēs] stellen sich zwei Fragen, nämlich welche syntaktische Funktion der Genitiv hat und um wessen Liebe es eigentlich geht. Der Genitiv ist zu bestimmen als genitivus auctoris.22 Nach manchen Auslegern ist hier die Gottesliebe im Blick,23 nach anderen die Liebe von Paulus zur Gemeinde.24 Letztere können damit argumentieren, dass παραμυθεῖσθαι [ paramytheisthai] nicht direkt für den Trost Gottes genutzt wird.25 Bei insgesamt nur sechs Vorkommen der Wortgruppe in der gesamten griech. Bibel ist aber Vorsicht geboten. Außerdem könnte es auch um die Liebe der Philipper untereinander gehen. An verschiedenen Stellen spricht 19 So mit Hansen 108. Seiner Meinung nach steht paraklēsis für „the comfort they experience together in Christ“. Ähnlich O’Brien 171. 20 παραμύθιον ist nicht als Deminutivum gemeint (vgl. BDR 111,9). 21 Vgl. G. Stählin, παραμυθέομαι κτλ., ThWNT V, 819; O’Brien 172. 22 So Müller 85. O’Brien 172 und Martin/Hawthorne 83 bestimmen ihn als genitivus subiectivus, kommen aber in der Interpretation zu einem ähnlichen Ergebnis. Möglich wäre auch die Annahme eines genitivus qualitatis (so offenbar Dibelius 70: „Zureden in Liebe“), aber ἀγάπης wäre als genitivus qualitatis bei Paulus singulär. Allenfalls in 2Kor 13,11 könnte man eine Parallele sehen, dort könnte der Genitiv aber auch anders gedeutet werden, z.B. als pertinentiae. In 1Thess 1,3 wird eher an einen genitivus pertinentiae oder auctoris zu denken sein. 23 So Friedrich 148; Fee 180. Fee begründet dies mit der Annahme einer trinitarischen Struktur, vgl. schon die Hinweise bei Meyer/Franke 82 im 19. Jh. und bei Lohmeyer 82. Die Parallelität zu 2Kor 13,13 ist aber nicht so groß, wie Fee glauben machen möchte. 24 So z.B. Michaelis 32; Martin/Hawthorne 83. 25 Vgl. G. Stählin, παραμυθέομαι κτλ., ThWNT V, 819.

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Paulus im Phil von Liebe, auch von solcher, die in der Gemeinde erfahren wurde. In 1,8 spricht Paulus von seiner Liebe zur Gemeinde, in 1,9 von der Liebe allgemein (evtl. untereinander und zu Gott, vgl. z. St.) und in 1,16 von der Liebe als Motivation der Verkündiger. Von daher kann in 2,1 mit Hansen die Liebe verstanden werden als „inclusive reference to the experience of love within the community empowered by Christ’s love.“26 Dieser Trost der Liebe (2,1) ist die Basis für die Liebe untereinander (2,2). Für das dritte Glied wenn ihr Gemeinschaft mit dem Geist habt gibt es ebenfalls verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, die sich vor allem an der Syntax des Genitivs entscheiden. Weiter ist zu überlegen, ob Geist für den Heiligen Geist steht oder für den menschlichen. Bei dem Begriff Gemeinschaft (κοινωνία [koinōnia]) steht üblicherweise der Genitiv zur Angabe dessen, womit man Gemeinschaft hat (1Kor 1,9; 10,16; 2Kor 13,13; Phil 3,10; Phlm 6; vgl. auch die Auslegung zu Phil 1,5).27 So ist Rehfeld zuzustimmen, der im Hinblick auf u.a. Phil 2,1 sagt, dass koinōnia „die Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist und die darin begründete communio sanctorum“28 bezeichnet. Zwar steht nirgends in der LXX koinōnia für die Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott, jedoch findet sich der Begriff in diesem Sinne in den hellenistischen Mysterienkulten, woher Paulus die Vokabel übernommen haben dürfte.29 Dass πνεύμα [ pneuma] den Heiligen Geist und nicht etwa den menschlichen meint, ist eindeutig.30 Die Gemeinschaft mit dem Geist und die in dieser begründeten Gemeinschaft untereinander sind für Paulus bedeutend, denn sie sind Voraussetzung für die Partnerschaft am Evangelium und in der Verkündigung desselben. Die beiden mit καί verbundenen Begriffe σπλάγχνα [splanchna] und οἰκτιρμοί [oiktirmoi] bilden einen Hendiadyoin.31 Beide Begriffe sind ohnehin 26 Hansen 109. 27 Denkbar wäre aber auch die Annahme eines genitivus auctoris (so Müller 85; Hansen 110; sachlich gleich auch Martin/Hawthorne 84, die von einem genitivus subiectivus sprechen, jedoch darunter einen genitivus auctoris verstehen). Ein genitivus auctoris würde dem zweiten Glied korrespondieren, da sich dort ebenfalls ein genitivus auctoris als wahrscheinlich erwiesen hat. Gewichtiger erscheint aber die Beobachtung zur Verwendung des Begriffs koinōnia mit Genitiv. Ein genitivus qualitatis (geistliche Gemeinschaft) ist mangels Parallelen unwahrscheinlich. Ohnehin wäre inhaltlich kaum ein anderer Akzent gesetzt. 28 Rehfeld, Ontologie, 56. Zum κοινωνία-Begriff insgesamt vgl. a.a.O., 53-62. Für die Deutung als Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist vgl. auch O’Brien 174. 29 Vgl. Gäckle, Die Starken, 267. 30 Vgl. Bockmuehl 106f (mit ausführlichen Argumenten); Fee 181-182; O’Brien 174. 31 Vgl. BDR § 442, Anm. 29; Bauer/Aland 1138. Beide Begriffe stehen auch in Kol 3,12 zusammen, wobei οἰκτιρμός allerdings genitivus qualitatis zu σπλάγχνα ist. An dieser Stelle geht es offenbar um Liebe und Erbarmen untereinander, vgl. Kol 3,13.

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weitgehend synonym. splanchna hat Paulus schon in 1,8 i.S.v. Liebe verwendet. Dibelius übersetzt den Hendiadyoin mit „herzliches Mitgefühl“32. Schwieriger zu klären ist, um wessen liebevolles Erbarmen zu wem es geht. In Röm 12,1 und 2Kor 1,3 benutzt Paulus oiktirmos für Gott,33 anders jedoch in Kol 3,12. splanchna wird als Abstraktum im NT für Gott (Lk 1,78) und für Menschen (2Kor 7,15) gebraucht und des Öfteren als Konkretum. Da in den ersten drei Gliedern jeweils ein Bezug zu Gott hergestellt werden konnte, liegt es etwas näher, für das vierte anzunehmen, dass das liebevolle Erbarmen Gottes zu den Philippern im Fokus ist. Man kann aber wohl weiter sagen, dass damit auch das daraus resultierende herzliche Mitgefühl der Philipper mit in den Bick kommt, von deren Erweisen von Barmherzigkeit Paulus in Phil 2,25; 4,18 explizit spricht. 2 Der Imperativ macht meine Freude vollkommen ist grammatikalisch übergeordnet.34 Paulus freut sich über die Philipper, vgl. 1,5 und 4,1018, aber Uneinigkeit unter seinen Freunden würde seine Freude trüben. Der abhängige ἵνα-Satz zielt darauf, dass die Freude vollkommen gemacht werden soll dadurch, dass die Philipper auf dasselbe bedacht sind. Insofern tragen die dem Hauptsatz folgenden untergeordneten Konstruktionen ein Hauptgewicht der Aussage. Die genaue grammatikalische Bestimmung des ἵνα-Satzes ist schwierig. Es kann ein Objektsatz nach einem Ausdruck des Wünschens sein,35 es kann ein epexegetischer ἵνα-Satz36 oder ein imperativischer ἵνα-Satz37 sein. Die beiden zuletzt genannten Optionen sind eher zu bevorzugen. Eine eindeutige Entscheidung zwischen diesen ist m.E. kaum möglich. Inhaltlich schwingt ohnehin das jeweils andere mit. Die Rahmung bilden die beiden Wendungen mit φρονεῖν [ phronein]. Auch wenn diese grammatikalisch unterschiedlichen Ebenen zuzuweisen sind, bilden sie inhaltlich 32 Dibelius 70. 33 Martin/Hawthorne 85 vermuten hier einen Rückgriff auf das „Höre, Israel“ (Deut 6,4) und auf Qumran, vgl. 1QH X,14; XI,29: „Gepriesen seist du, (Herr,) Gott der Barmherzigkeit.“ 34 Mit diesem Imperativ will Paulus nicht „die Philipper indirekt zu einer Steigerung ihrer Bemühungen gewinnen“ (so aber Müller 85). V. 1 bedarf keiner Steigerung mehr. Außerdem bezieht sich V. 2 auf neue Aspekte. 35 Vgl. BDR §392 1.a und c. Streng genommen handelt es sich bei πληροῦν nicht um ein Verb des Begehrens oder Bittens. Der Wunsch ist lediglich in der Imperativform impliziert. 36 So Wallace, Grammar, 476 („possible“); O’Brien 177. Die Schwierigkeit liegt darin, dass ein epexegetisches ἵνα eigentlich ein Substantiv oder Adjektiv ergänzt. Hier müsste man es aber auf πληροῦν beziehen. 37 So Martin/Hawthorne 80. Imperativisches ἵνα ist aber selten, vgl. Wallace 476; Siebenthal, Grammatik, § 210g.

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eine chiastische Komposition, denn die beiden mittleren Ausdrücke haben ebenfalls eine inhaltliche Nähe zueinander.38 Die inhaltliche Entsprechung könnte man als eine Redundanz auffassen, die das Anliegen besonders betont, weshalb beide Aussagen eben auch nicht unterschiedlich sein müssen. Größere Differenzen lassen sich ohnehin nicht entdecken. Nach Michaelis 32 sind beide Wendungen synonym.

Die eher allgemeine Wendung seid auf dasselbe bedacht (τὸ αὐτὸ φρονῆτε [to auto phronēte])39 zielt darauf, dieselbe Denkrichtung bzw. innere Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel hin zu haben, was jedoch weder die Negation jeglicher persönlicher Unterschiede bzw. jeglichen eigenen Denkens noch eine völlige Unterschiedslosigkeit der einzelnen Personen impliziert.40 Für die Deutung von „bedacht sein auf“ (φρονεῖν) ist die Nähe zum φρονεῖν in V. 5 zu berücksichtigen. Nach Wick muss man τοῦτο φρονεῖτε [touto phroneite] und damit die V. 6-11 „als inhaltliche Bestimmung des τὸ αὐτὸ φρονεῖν verstehen“.41 Es geht also nicht um Einmütigkeit allgemein, sondern es geht darum, sich gemeinsam an der Gesinnung Jesu Christi auszurichten, also den Weg der Selbsterniedrigung zu gehen. Diese Deutung wird durch die dem Imperativ untergeordneten modalen participia coniuncta gestützt. Paulus ist sich bewusst, dass die Zugehörigkeit zur selben Gemeinde nicht automatisch zur Einmütigkeit führt. phronein schlägt weiter eine Brücke zu 1,7, womit die freundschaftliche Liebe des Paulus zu einem Vorbild für die Philipper wird. Im Weiteren präzisiert Paulus, wie „auf dasselbe bedacht sein“ zu realisieren ist, nämlich indem ihr dieselbe Liebe habt. Das griechische Partizip wird hier modal angeschlossen, der imperativische Akzent der übergeordneten Konstruktion schwingt dabei durchaus mit. Wenn Paulus dieselbe Liebe sagt, hat hier dieselbe nicht die Quantität im Blick, sondern die Ausrichtung. Peterlin vermutet, dass es in Philippi zwei Gruppen gegeben hat, die unterschiedlicher Meinungen über die Rolle von Leid waren. So sei ein Teil der Philipper für und ein Teil gegen Paulus gewesen, vgl. 1,15-17 (vgl. Peterlin, Disunity, 31-51). Vor 38 Vgl. Schenk 178; Müller 86. Das Adjektiv σύμψυχοι (einmütig) vertritt auch ohne Verb einen Satz (vgl. BDR 468, Anm. 4). Dabei wäre eine Ellipse des Partizips ὄντες anzunehmen. Dagegen verbindet Collange 79 das Adjektiv mit dem nachfolgenden Partizip. Dann wäre aber eigentlich eher ein Adverb zu erwarten. 39 Vgl. Röm 12,16; 15,5; 2Kor 13,11 und Phil 4,2. Inhaltlich ähnlich ist noch Gal 5,10. 40 So auch Hansen 111f; Martin/Hawthorne 86. Eine große Nähe besteht zu 1Kor 1,10 und Röm 15,5 (teilweise Wortlautübereinstimmungen). Nach Standhartinger, Eintracht, 152159, ist „Eintracht“ bei Platon für die Staatslehre grundlegend und auch bei Aristoteles wichtig. „Das Thema Eintracht wirkt im 1. Jh. n.Chr. geradezu omnipräsent“ (a.a.O., 159). 41 Wick, Philipperbrief, 74.

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diesem Hintergrund sieht Peterlin die Aufforderung zu Einheit und Liebe in 2,1-4 (Peterlin, Disunity, 62f ). Dagegen ist einzuwenden, dass in Phil 1,15-17 die Differenzen zwischen Paulus’ Anhängern und Kritikern am Haftort geschildert werden. Dass es sie in dieser Form auch in Philippi gab, ist damit nicht gesagt. O’Brien beobachtet korrekt, dass die paulinische Ermahnung „no severity of censure“ (O’Brien 167) bemerken lässt, weshalb die Spaltungen wohl noch kein akutes Stadium erreicht haben, auch wenn die Gefahr von Trennungen offenbar real war.

Das Adjektiv einmütig (σύμψυχος [sympsychos]) ist ein Hapaxlegomenon in der griechischen Bibel. Es ist gebildet aus σύν (mit) und ψυχή (Seele). Paulus spricht damit kein neues Thema an, sondern unterstreicht seine Aussage. Ähnliches gilt auch für die letzte Zeile von V. 2. Die Formulierung auf das eine den Sinn richten (τὸ ἓν φρονοῦντες [to hen phronountes]) ist singulär im NT. Sie kann aber als Synonym zu „auf dasselbe bedacht sein“ verstanden werden,42 wodurch das Anliegen von Paulus bekräftigt wird. 3 Vers 3 ist erklärende Entfaltung zu V. 2d. Dabei ist V. 3a eine nominale Konstruktion, in der ein Verb fehlt, denn zu ἡγούμενοι [hēgoumenoi] kann man 3a nicht mehr ziehen. Es ist jedoch klar, dass es hier um zwei zu vermeidende Haltungen geht. Die beiden Begriffe Egoismus (ἐριθεία [eritheia], vgl. zu 1,17) und Geltungsbedürfnis (κενοδοξία [kenodoxia]) könnten möglicherweise andeuten, welche Problematik in Philippi virulent war.43 In jedem Fall zeigen sie, was Uneinigkeit verursacht. kenodoxia44 kann auch mit „eitle Prahlerei“ übersetzt werden. Dabei ist impliziert, dass die für sich reklamierte Ehre (doxa) eine falsche und leere (kenos) Illusion ist. Diese Haltung steht in krassem Kontrast zur Haltung Jesu in 2,6-8 und zur Perspektive der uneingeschränkten Ehre des Vaters in 2,11, die Paulus auch in 1,11 und 4,19f anspricht. Mit dem adversativen sondern leitet Paulus zu der dem Christsein entsprechenden Haltung über, nämlich in Demut einander für höher als sich (jeweils) selbst zu halten. 42 Hansen 113 versucht zu unterscheiden zwischen „being like-minded“ (τὸ αὐτὸ φρονεῖν) und „being of one mind“ (τὸ ἓν φρονοῦντες). Dabei bezieht Hansen ἕν auf Christus. Diese Deutung hat aber gegen sich, dass ἓν ein Neutrum ist und dass im paulinischen Sprachgebrauch andere Formulierungen wahrscheinlicher wären, z.B. τὰ τοῦ Χριστοῦ φρονοῦντες (vgl. Röm 8,5). 43 Vgl. Walter 53, anders Michaelis 33. Nach Müller 86 wirken die Antithesen exponiert, und sie markieren die vermuteten Gefahren für die Gemeinde. Hier sollte man jeweils zurückhaltender sein. 44 Das Substantiv ist ein Hapaxlegomenon. Das Adj. ist noch in Gal 5,26 belegt. Zum Subst. vgl. außerdem Weish 14,14; 4Makk 2,15; 8,19 und 1Clem 35,5; Herm, m VIII,5.

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Im Griechentum wird „demütig“ (ταπεινός [tapeinos]) aufgrund des Ideals des freien Menschen negativ qualifiziert (vgl. W. Grundmann, Art. ταπεινός κτλ., ThWNT VIII, 1-27: 12). „Die Demut als Tugend ist der gesamten antiken Ethik fremd“ (A. Dihle, Art. Demut, RAC III, 735-778: 737). Nach Aristot. Pol VIII,2,1 (1337b) lassen körperlich belastende Handwerkertätigkeiten und Lohnarbeiten nur ein niedriges (ταπεινός) Denken (διανοία) zu. Nach Aristot. Pol IV,9,5 (1295b) lassen der Mangel an Macht und Einfluss einen zu untertänig bzw. niedrig (ταπεινοὶ λίαν) werden. Ähnlich sagt Lucianus, dass der Verzicht auf prächtiges Äußeres, Ehre, Ruhm … einen zu einem in jeder Hinsicht niedrigen Menschen macht (Lucianus, somnium 13). Xenophon verwendet ταπεινός parallel zu ἀνελεύθερον (eines Freien unwürdig) i.S.v. „unterwürfig“ (Xenophon, Mem III.10.5). Im Frühjudentum ist die Perspektive auf die Demut uneinheitlich. In Qumran wird Demut als erstrebenswert gesehen (1QS II,24; 1QS IV,3; 1QS V,24f ), bei Josephus, Bell IV,494 wird sie dagegen negativ gewertet.

Der paulinische Demutsbegriff scheint primär an das AT anzuknüpfen, in dem Demut positiv qualifiziert wird, z.B. in Ps 17,28 LXX; Spr 3,34, Jdt 9,11 (vgl. 4,9; 6,19), und sich mit der Erwartung verbindet, dass Gott den Demütigen erhöht.45 Darüber hinaus ist eine Anknüpfung an die Jesusüberlieferung (Mk 10,35-45) wahrscheinlich. So hat Riesenfeld darauf hingewiesen, dass Paulus in Phil 2,2-4 Mk 10,42-44 auf das konkrete Gemeindeleben übertragen hat.46 In jedem Fall sind die Aussageabsichten an beiden Stellen sehr ähnlich. Vorbild für den paulinischen Demutsbegriff ist Jesus. Anders als in der griechischen Literatur verbindet sich Demut bei Jesus mit Selbsterniedrigung. In dieser Perspektive wird Demut darin verwirklicht, den anderen höher als sich selbst zu sehen. Der Christ hat somit eine veränderte Einstellung zum Nächsten. Das Verb halten für findet sich auch in V. 6, wo es ebenfalls für einen eigenen Entschluss steht, der in Gehorsam gegenüber Gott gefasst wird. Höher ist die Wiedergabe eines Partizips von ὑπερέχω [hyperechō], das in Phil 3,8; 4,7 i.S.v. erheben bzw. übertreffen verwendet wird. Hansen folgert zu 45 Nach Walter 53f konnten die Philipper aufgrund der negativen Konnotation von ταπεινοφροσύνη im nicht-ntl. Griechisch (knechtische Gesinnung) Demut kaum i.S. einer Tugend verstehen. Weil ihnen die entsprechenden atl. Texte unbekannt gewesen seien, habe Paulus mit dem Kontext und mit den parallelen V. 3-4 sein Verständnis klargestellt. Dass Paulus hier sein Verständnis von Demut darlegt, ist richtig gesehen. Jedoch sollte man nicht vorschnell ausschließen, dass er dabei auf atl. Traditionen anspielen konnte, denn die Philipper können diese durch die Erstverkündigung des Paulus und während des längeren Aufenthalts von Lukas kennengelernt haben. 46 Vgl. Riesenfeld, Unpoetische Hymnen, 166, vgl. dazu Häußer, Christusbekenntnis, 252256.

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einseitig, dass es nicht darum gehe, sich niedrig zu machen, sondern darum, den anderen hochzuheben.47 Jesu Beispiel zeigt auch den Aspekt der Selbsterniedrigung, der im Begriff Demut schon deutlich anklingt. Paulus ermuntert zu einer demütigen Haltung, die auf den Vorteil bzw. das Wohl des anderen bedacht ist (vgl. Röm 15,2; 1Kor 9,19-23; 10,24.33; 13,5). Es geht dabei nicht um Minderwertigkeitskomplexe, sondern um die Anerkennung des Mitmenschen und Mitchristen und darum, diesen zu ehren und ihm mit Respekt zu begegnen. 4 V. 4 erläutert V. 3b. Die grammatikalische Struktur von V. 4 ist gerade nicht parallel zu V. 3, denn in der ersten Zeile in V. 3 fehlt ein Partizip. Außerdem spricht die asyndetische Verbindung dafür, V. 4 der zweiten Zeile von Vers 3 unterzuordnen. Somit entfaltet V. 4 die Bedeutung bzw. potentielle Umsetzung von V. 3b. Den anderen hochachten heißt, nicht auf die eigenen Interessen fixiert zu sein, sondern auf die Belange des anderen zu achten. Eine frappierende Parallele findet sich in 1Kor 10,24. Man hat die Rolle von καί (auch) diskutiert. Nach Müller geht es nicht lediglich darum, auch auf das des anderen zu achten, denn dies würde die eigentliche Spitze abbrechen, sondern: „Das fragliche καί dient zur Verstärkung des unmittelbar Folgenden.“48 Dagegen meint καί nach Walter „auch“, was bedeute, dass die Individualität nicht aufgegeben werde und es nicht um totale Selbstverneinung gehe.49 Da nach einer Negation ἀλλὰ καί [alla kai] das Hinzukommende stark einführt,50 ist die Aussageabsicht von Paulus eher folgendermaßen zu paraphrasieren: Seid nicht auf das Eigene fixiert51, und nicht nur dies, sondern achtet auch alle auf das der anderen. In 1Kor 10,33–11,1 gibt es dazu eine enge Parallele: Paulus beansprucht für sich, nicht auf den eigenen Vorteil zu achten, sondern auch das der Vielen im Blick zu haben, mit dem Ziel, damit viele gerettet werden. Und zu dieser Haltung fordert er die Korinther auf. Für diese Haltung ist Jesus das maßgebliche Vorbild, wobei vor allem an das Lösegeldlogion (Mk 10,45) zu denken ist, zumal dieses im unmittelbaren Kontext den traditionsgeschichtlichen Hintergrund darstellt, vgl. zu 2,6-8.52 Paulus ermuntert die Philipper, durch Demut und Achten auf die Interessen der anderen die Eintracht zu verwirklichen. Insofern geht Paulus hier noch einen Schritt wei47 48 49 50 51

Vgl. Hansen 116. Müller 89. Vgl. Walter 53; ebenso auch Hansen 116f. Vgl. BDR § 448.6. Die Grundbedeutung von σκοπέω ist „genau achtgeben“, vgl. Phil 3,17 und das Substantiv in 3,14. 52 Ungeachtet dieser Verbindung ist diese Haltung auch schon in der stoischen Ethik belegt, vgl. Engberg-Pedersen, Altruism, 208-211.

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ter, als Standhartinger meint, die sagt, dass für Paulus Eintracht, „wie bei Aristoteles und in der Stoa, aus der Übereinstimmung der Gleichen und nicht durch die hierarchische Ordnung unter der Führung des einen Besten“53 entsteht. Dass Paulus hier spezifische Gemeindeprobleme im Blick hat, ist gegen Müller54 dem Text nicht zu entnehmen. So erübrigt sich Müllers Hypothese, dass die Unterschiede bezüglich der sozialen Stellung die Einheit infrage gestellt haben könnten, wobei die Erwartung, dass jeder theoretisch aufsteigen konnte,55 maßgebend gewesen sei. Dies habe zu einer Aufsteigermentalität geführt, die sich auch in Rivalitätsverhalten (4,2f ) gezeigt habe. Vielmehr ist mit Michaelis zu konstatieren, dass „2,2-4 … nur Entfaltung einer einzigen Forderung [sind]: einig zu sein oder vielmehr einig zu werden“,56 wobei der Grund der Uneinigkeit nicht genannt wird. Phil 2,1-4 sind aus sich heraus zu verstehen. Dies gilt umso mehr, als zunächst der Anlass der liebevollen, aber ernsten Ermahnung die Erfahrungen von Paulus am Ort seiner Haft (1,17; 2,21) sind. Paulus hofft, dass es bei den Philippern anders ist. Das achten auf zielt auf die Interessen der anderen im Gegensatz zu den eigenen. Hansen deutet das achten auf dahingehend, dass es darum geht, das gute Beispiel der anderen als Vorbild zu nehmen (vgl. Hansen 117). Diese schon von Martin vorgetragene These hat O’Brien zu Recht kritisiert.57 Nach Hansen führt der Vorbildgedanke in V. 4 zugleich hin zum Beispiel Jesu. Aber auch ohne den Vorbildgedanken wird mittels der Stichwortanknüpfung ταπεινοφροσύνη die Brücke zum Vorbild Jesu geschlagen.

IV Zusammenfassung Paulus zeichnet hier anerkennend ein sehr positives Bild der Gemeinde in Philippi. Bei den Philippern gibt es Ermutigung, dadurch dass sie mit Christus verbunden sind. Solche Ermutigung wird dort erfahren, wo Christus im Zentrum ist und die Gewissheit der Verbindung mit Christus, dem Herrn der Welt, besteht. Auf der Basis der Liebe untereinander herrscht bei den Philippern ein Klima des liebevollen Trostes (der zu unterscheiden ist von einem reinen Ver53 54 55 56

Standhartinger, Eintracht, 171. Vgl. (auch zum Folgenden) Müller 89f. Ähnlich schon Lohmeyer 87. Vgl. Theißen, Soziale Erfahrung, 321. Michaelis 33. Wie Michaelis ist auch Gnilka 106f skeptisch gegenüber konkreten Rückschlüssen auf die Situation in Philippi. 57 Vgl. Martin 98; O’Brien 184f. Die Kritik von Hansen 117, Anm. 55, an O’Brien ist weitgehend unberechtigt.

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trösten). Sie haben Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist und bilden deshalb eine Gemeinschaft der Heiligen. Und sie erfahren das liebevolle Erbarmen Gottes, das ihnen auch untereinander liebevolles Erbarmen ermöglicht. Paulus beschränkt sich nicht auf diese äußerst positive Charakterisierung der Gemeinde und die Auflistung ihrer „Qualitätsmerkmale“, sondern er spricht auch den wunden Punkt an, bei dem er Defizite in der Gemeinde ausmacht. Er ermutigt sie dazu, auf dasselbe bedacht zu sein, sich also gemeinsam auf die Gesinnung Jesu auszurichten. In der Tat gibt es keinen Automatismus, nach dem die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde auch zu Einmütigkeit und einer gemeinsamen Ausrichtung führt. Die Abgrenzung geschieht gegenüber Egoismus und Geltungsbedürfnis. Dass solche Motive die Eintracht in der Gemeinde gefährden, ist selbstredend klar und gilt auch heute. Von daher ist in der Gemeinde, speziell im Hinblick auf die Mitarbeiter, darauf zu achten, welche Motive sie antreiben. Nicht selten wird das eigene Engagement von der Frage nach dem persönlichen Nutzen abhängig gemacht. Hier ist schon in den Blick zu nehmen, dass Paulus im Kontext (V. 6-11) Jesus als Vorbild darstellt, der alles andere als egoistisch war. Paulus weist einen anderen Weg zur Eintracht in der Gemeinde, mit dem er sich zugleich der gängigen Auffassung im Griechentum entgegenstellt. Paulus ermutigt dazu, den anderen höher zu achten als sich selbst, denn Eintracht in der Gemeinde wird realisiert durch Demut. Die somit geforderte Haltung stand damals wie heute in einem eklatanten Widerspruch zu den vom Zeitgeist vorgegebenen Normen. Einheit durch Demut bedeutet, die Belange des anderen in den Blick zu bekommen und nicht nur auf die eigenen Interessen fixiert zu sein. Die Basis ist dabei die Liebe. Dagegen lassen sich Selbstsucht, Egoismus und egozentrische Fixierung auf eigene Ziele nicht mit Liebe und Einmütigkeit verbinden. Aufrichtige Liebe aber verbindet und vermag selbst den Einzelgänger zu integrieren. Ein achtsamer Umgang miteinander, einander zuhören und das Bemühen, sich in den anderen hineinzuversetzen, lassen gegenseitiges Verständnis wachsen und sind Fundamentpfeiler für die Einmütigkeit. Von Paulus her sind hier Leitlinien für das Miteinander in der Gemeinde und insbesondere in der Gemeindeleitung zu entfalten. Der Blick auf und das Verständnis für die Interessen des anderen sowie der Verzicht auf Egoismus und Geltungsbedürfnis haben das Potenzial Konflikte zu entschärfen und neue Eintracht zu gewinnen.

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3.3 Selbsterniedrigung und Erhöhung Jesu Christi als Vorbild (2,5-11) I Übersetzung 5 Auf dieses seid untereinander bedacht, was auch in Jesus Christus war, 6 der, obwohl er in der Gestalt Gottes war, es nicht zu seinem Vorteil ausnutzte, Gott gleich zu sein, 7 sondern er entäußerte sich selbst, indem er die Gestalt eines Knechts annahm. Indem er Menschen gleich wurde und im Hinblick auf seine Erscheinung1 als Mensch erkannt wurde, 8 erniedrigte er sich selbst und war gehorsam bis zum Tod, sogar (bis zum) Kreuzestod. 9 Darum hat Gott ihn auch (zur höchsten Höhe) erhöht, und er hat ihm den Namen, der über jedem Namen ist, verliehen, 10 damit in dem Namen Jesu sich jedes Knie beugt derer im Himmel, derer auf der Erde und derer unter der Erde, 11 und jede Zunge bekennt: Jesus Christus ist Herr – zur Ehre Gottes des Vaters.

II Textkritik, Form, Kontext, Struktur, Hintergrund Textkritische Anmerkungen. Der Singular ἀνθρώπου in V. 7 findet sich zwar u.a. in dem sehr alten î46 (neben diesem noch in verschiedenen Vulgatahandschriften, bei Marcion [gemäß Tertullian] und Cyprian), ist aber dennoch die schwächer bezeugte Lesart.2 In V. 11 ist die auch von einigen wichtigen Handschriften (A C D u.a.) bezeugte Variante ἐξομολογήσεται (Futur) nur dann grammatikalisch diskutabel, wenn der ἵνα-Satz mit V. 10 endet und V. 11 einen eigenständigen Hauptsatz bildet. Inhaltlich bliebe V. 11 aber selbst dann von dem ἵνα abhängig. Da die Mehrheit der wichtigsten Handschriften (î46 ‫א‬ B) die Lesart ἐξομολογήσηται (Konjunktiv Aorist) stützt, ist diese als die ursprüngliche anzusehen. Form. Dass Paulus in den Versen 6-11 eine ihm vorliegende Tradition aufgenommen hat, ist seit Langem weitgehend Konsens.3 In diesem Text finden sich mehrere bei Paulus singuläre Termini und sprachliche Besonderheiten, nämlich μορφή (V. 6.7), ἁρπαγμός (V. 6), ἴσος (V. 6), ὑπερυψόω (V. 9), καταχθόνιος (V. 10), die Wendung τὸ ὄνομα τὸ ὑπὲρ πᾶν ὄνομα (V. 10), die 1 σχήματι ist ein Dativ der Beziehung. 2 Metzger, Textual Commentary, 545f, hält den Singular für eine Anpassung an den Singular von δούλου und an das nachfolgende ἄνθρωπος. 3 Diese opinio maior infrage gestellt haben in jüngerer Zeit Riesenfeld, Tradition évangélique, 112; ders., Unpoetische Hymnen, 156-162; O’Brien 198-202; Bockmuehl, Form of God, 1-23; Bauckham, God Crucified, 57; Carson/Moo, Einleitung, 606; Vollenweider, Hymnus, 224; Hellerman, Vindicating, 99f.

3.3 Selbsterniedrigung und Erhöhung Jesu Christi als Vorbild (2,5-11)

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Bezeichnung Jesu als δοῦλος (V. 7), die Konstruktion in σχήματι εὑρεθεὶς ὡς ἄνθρωπος (V. 7), die Zusammenstellung von ἐπουρανίων καὶ ἐπιγείων καὶ καταχθονίων (V. 10) etc. Ein weiterer Hinweis auf die Benutzung eines Traditionsstücks ist die Tatsache, dass die Verse 9-11 keinen unmittelbaren Beitrag zum Argumentationsgang leisten, sondern sie werden von Paulus offenbar einfach nur gemeinsam mit den Versen 6-8 übernommen. Auch wenn Paulus einen Traditionstext zitiert, ist davon auszugehen, dass diese Verse die paulinische Theologie widerspiegeln. Sie sind also vorpaulinisch, aber nicht unpaulinisch. Verschiedentlich wurden paulinische Interpolationen für den Traditionstext behauptet. Besonders die Worte θανάτου δὲ σταυροῦ (V. 8c) werden von vielen Forschern für eine (paulinische) Glosse gehalten.4 Dem widersprechend hat Hofius V. 8c als Anadiplose begründet.5 Kaum zu erklären ist bei der Annahme einer paulinischen Interpolation, dass Paulus das Schema Kreuz und Auferstehung nur halb, nämlich reduziert auf das Kreuz, eingefügt haben müsste. Außerdem hat man bei den Worten ἐπουρανίων καὶ ἐπιγείων καὶ καταχθονίων und bei εἰς δόξαν θεοῦ πατρός paulinische Interpolationen gesehen.6 Meines Erachtens ist Phil 2,6-11 frei von paulinischen Zusätzen (so auch Hofius, Christushymnus, 4-17). Eine Argumentation mit der poetischen Struktur, die durch die (Über‑)Länge der Formulierungen gestört werde, ist nicht tragfähig, da sie methodisch einem Zirkelschluss erliegt (vgl. den Hinweis von Hooker, Philippians 2:6-11, 157f ).

Martin/Hawthorne sehen einen nahezu universellen Konsens, dass es sich bei Phil 2,6-11 um einen sehr frühen Hymnus handelt.7 Dieser Konsens und die ihm zugrunde liegenden Argumente bedürfen allerdings einer Überprüfung.8 Für das Postulat eines Hymnus in Phil 2,6-11 werden meist drei Argumente ins Feld geführt: der Partizipialstil, der parallelismus membrorum und der 4 Vgl. Lohmeyer, Kyrios Jesus, 8; Käsemann, Exegetische Versuche I, 82; Friedrich 153; Müller, Christushymnus, 21; Lohse, Paulus, 79; Walter 58f; Fusco, Communautés, 87; Hahn, Theologie I, 209, mit verschiedenen Argumenten. 5 Vgl. Hofius, Christushymnus, 10. Die Anadiplose wiederholt das letzte Glied einer voranstehenden syntaktischen Gruppe und „dient der nachdruckhaften Steigerung oder der epexegetischen Ergänzung“ (Lausberg, Rhetorik, 314). 6 Jeremias, Abba, 275f.312, stufte beide Wendungen aufgrund ihres typisch paulinischen Sprachgebrauchs als Glossen ein. Dagegen ist einzuwenden, dass die Zusammenstellung in V. 10b unpaulinisch ist. Hunzinger, Struktur, 150-153, der ebenfalls mit einer paulinischen Interpolation rechnet, konstatiert selbst, dass diese Dreigliederung bei Paulus singulär ist. Gegen Hunzinger, a.a.O., 1970, 148f, lässt sich für εἰς δόξαν θεοῦ πατρός kein lediglich formelhafter Gebrauch bei Paulus nachweisen, vgl. Phil 1,11; Röm 15,7. 7 Vgl. Martin/Hawthorne 99f. 8 Vgl. zum Folgenden Häußer, Christusbekenntnis, 223-229.

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Der Brief des Paulus an die Philipper

Rhythmus bzw. die Metrik. Die Partizipien in diesen Versen sind allerdings einfache participia coniuncta und bilden somit keine Nominalsätze, wie sie oft atl. Hymnen kennzeichnen. Grundlegend für die Behauptung des parallelismus membrorum als Struktur gebendes Element ist die Analyse von Hofius, der an Überlegungen von Jeremias angeknüpft hat.9 Jeremias’ Begründung beschränkt sich allerdings auf die Verse 7c.d, 8a.b, 9, 10b, 11a.10 In V. 6 fehlt eine Parallele zu ἁρπαγμὸν ἡγήσατο, und in den Versen 10-11 bilden bestenfalls πᾶν γόνυ κάμψῃ und πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσηται einen parallelismus membrorum. Für ἵνα ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ und ὅτι κύριος Ἰησοῦς Χριστός ist ein solcher nicht erkennbar, für ἐπουρανίων καὶ ἐπιγείων καὶ καταχθονίων ohnehin nicht. Auch wenn bei der Mehrheit der Zeilen in Phil 2,6-11 ein parallelismus membrorum erkennbar ist, so bestimmt er doch den Text nicht durchgängig. Als ein weiteres Kriterium für hymnisches Material gilt der rhythmische Klang.11 Entgegen anders lautender Behauptungen liegt dieser in Phil 2,6-11 nicht vor. Es gibt noch nicht einmal zwei Zeilen, die sich bezüglich der Hebungen und Senkungen bei der Betonung entsprechen.12 Resümierend ist festzustellen: In Phil 2,6-11 fehlen die für hymnisches Material kennzeichnenden Charakteristika und deshalb sollte dieser Text nicht als Hymnus bezeichnet werden.13 Da ein eindeutiger Beleg für eine Rezeption dieser Verse in frühen Bekenntnissen fehlt und es keine Analogie zu einem so langen Bekenntnis im Urchristentum gibt, handelt es sich wohl auch nicht um eine Glaubensformel oder ein standardisiertes Bekenntnis. Wahrscheinlich ist uns in Phil 2,6-11 eine katechetische Formel erhalten, für die mnemotechnische Hilfsmittel wie Parallelismen ein Indiz sind. Dieses katechetische Lehrstück könnte eine frühe Zusammenfassung der Lehrinhalte über Jesus sein, die

9 Vgl. Hofius, Christushymnus, 4. 10 Vgl. Jeremias, Abba, 274f und 311f. 11 Vgl. O’Brien 188. Zwar nennt Vollenweider, Hymnus, 214-218, als literarische Gattung auch den „Prosahymnus“, aber dieser ist bis ins 1. Jh. n.Chr. nur spärlich überliefert und noch kein etabliertes Genre (vgl. a.a.O., 216). 12 Für eine ausführlichere Diskussion der Fragen von Rhythmus bzw. Metrik in Phil 2,6-11 vgl. Häußer, Christusbekenntnis, 225-227. Wenn es sich in Phil 2,6-11 um Übersetzungsgriechisch handeln sollte, kann man zwar nicht unbedingt eine quantifizierende Metrik erwarten. Jedenfalls liegt eine solche nicht vor und kann deshalb die Annahme eines hymnischen Charakters auch nicht stützen. Ähnlich verhält es sich mit griechisch übersetzten Psalmen (vgl. Vollenweider, Hymnus, 220). 13 Vollenweider, Hymnus, 224f, schlägt als Formbestimmung „hymnisches Christuslob“ (225) vor, weil der Text, abgesehen von der Anrufung (Epiklese) bzw. der Sprechrichtung zu Jesus Christus, alle wesentlichen Elemente eines Hymnus erkennen lasse. Weil dies, wie oben gezeigt, nicht zutrifft, ist auch die Bezeichnung „hymnisches Christuslob“ ungeeignet.

3.3 Selbsterniedrigung und Erhöhung Jesu Christi als Vorbild (2,5-11)

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im Unterricht im Zusammenhang der Taufe vermittelt (und auswendig gelernt) wurden. Kontext. Paulus benutzt in Phil 2,6-11 den Traditionstext in einem paränetischen Kontext. Unterschiedliche Auffassungen gibt es hinsichtlich der Verknüpfung mit dem Kontext. Nach Martin ist die Bedeutung der tragenden Begriffe in Phil 2,5-11 unabhängig vom Kontext zu bestimmen. Methodisch ist dies allerdings problematisch, weil uns Phil 2,6-11 nur in seinem jetzigen Kontext vorliegt.14 Die Begriffe φρονοῦν, ἡγεῖσθαι und ταπεινοῦν knüpfen erkennbar an V. 3 an, ὑπήκοος hat eine Verbindung zu V. 12 (ὑπακούειν). Bei anderen Begriffen vermag der Kontext nur wenig zur Klärung beizutragen. An der Einordnung dieses Traditionsstückes in den Kontext, speziell hinsichtlich der Verknüpfung mit 2,1-4, und vor allem an der Interpretation von V. 5 entscheidet sich letztlich die Frage, ob 2,6-11 den Vorbildcharakter Jesu in den Blick nimmt (m.E. zutreffend) oder nicht.15 Nach der Zusammenfassung der Heilstat Jesu und seiner Erhöhung, die mit dem Ausblick auf die universale Akklamation schließt, entfaltet Paulus in 2,12ff paränetisch Konsequenzen für das Leben der Glaubenden. Struktur. V. 5 fungiert als Überleitung, indem φρονεῖν die Brücke zu V. 1-4, speziell zu V. 2 schlägt. Χριστός Ιησοῦς leitet zu den folgenden Versen über und fungiert als Bezugswort für das Relativpronomen ὅς in V. 6, das ja grammatikalisch das Subjekt in V. 6 ist. Die V. 6-11 sind gekennzeichnet durch einen zweiteiligen Aufbau. Die beiden Teile des Abschnitts umfassen V. 6-8 und V. 9-11. Sie werden durch den Wendepunkt zwischen V. 8 und V. 9 und durch den gleichzeitigen Subjektwechsel markiert. Die V. 6-8 sind strukturiert durch drei finite Verben, wobei ἀλλά einen Kontrast zwischen V. 6 und V. 7-8 anzeigt. Den beiden letzteren Verben sind die participia coniuncta untergeordnet. Die Apposition θανάτου δὲ σταυροῦ fällt als ein „überschießendes“ Element aus der Struktur von Partizip plus kurze Ergänzung heraus. In dieser Apposition ist die absolute Steigerung der V. 6-8 enthalten, wobei hier eher von einer Antiklimax zu sprechen ist. Die V. 9-11 sind durch zwei finite Verben in V. 9 bestimmt, die einen Parallelismus bilden. V. 10-11a bilden einen 14 Ähnlich ist von daher auch Skepsis gegen das Postulat von Hübner, Theologie II, 326f, angebracht, dass zwischen der ursprünglichen Aussage des „Hymnus“ und der paulinischen Intention im paränetischen Kontext eine Differenz besteht. 15 Standhartinger, Eintracht, 169-171, hat ein spezielles Verständnis der paradigmatischen Funktion der V. 6-11 vorgeschlagen: Danach ist für DioChrys., Or 40,35f die Ordnung des Kosmos Vorbild der Eintracht. Paulus intendiere denselben Begründungszusammenhang, und zwar gerade „weil … die größten Unterschiede bestehen“ (a.a.O., 170). Die Argumentation gerade mit der Unterschiedlichkeit überzeugt m.E. nicht. Dass Paulus auf diese griechischen Vorstellungen Bezug nimmt, ist alles andere als sicher.

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Finalsatz mit zwei Prädikaten, wobei dem letzteren ein Objektsatz (ὅτι) untergeordnet ist. Auch die Doxologie εἰς δόξαν θεοῦ πατρός ist eine ergänzende Bestimmung. Gerade die jeweils letzten Worte in V. 8 und 11 formulieren entscheidende Zielpunkte des in diesem katechetischen Lehrstück beschriebenen Christusweges. Hintergrund. Von den unterschiedlichen Vorschlägen bezüglich des Hintergrunds von Phil 2,6ff sollen hier nur die einflussreichsten kurz dargestellt werden.16 E. Käsemann, Exegetische Versuche I, 51-95, vermutete einen gnostischen Hintergrund, und er sah eine Anaologie zum Abstieg und Aufstieg des gnostischen Urmensch-Erlösers, wofür er aber nur auf Texte aus dem 2. Jh. verweisen konnte. Im Unterschied zum gnostischen Erlösermythos spricht Phil 2 von der Inkarnation, und die Glaubenden als Objekte der Erlösung werden nicht erwähnt. Gegen die Annahme eines gnostischen Hintergrunds für Phil 2 spricht, dass eine Parallele für den vorauszusetzenden gnostischen Mythos aus vorchristlicher Zeit fehlt (vgl. Hengel, Präexistenz, 484). L. Cerfaux sieht die Hauptquelle von Phil 2,6ff in dem LXX-Text von Jes 53 und den Gottesknechtsliedern überhaupt (vgl. Cerfaux, Christus, 234236). Wichtige Argumente für seine These sind die Annahme einer Bezugnahme von δοῦλος auf παῖς θεοῦ (z.B. Jes 52,13 LXX) und die Parallelität des Gegensatzes von Erniedrigung und Verherrlichung.17 Jeremias sieht ebenfalls Verbindungen von Phil 2,6-9 zu Jes 53, allerdings zum hebräischen Text und dies vor allem bei bestimmten Wendungen, z.B. ἑαυτὸν ἐκένωσεν (vgl. Jes 53,12) und μορφὴν δούλου λαβών.18 Für E. Schweizer stand der Leidende Gerechte des nachalttestamentlichen Judentums im Hintergrund von Phil 2 (vgl. Schweizer, Erniedrigung [1955], 3544.51-55). Analogien sah er in der Rede von der Knechtsexistenz, vom Gehorsam, von der Leidensbereitschaft bis zum Tod und von der Erwartung einer himmlischen Inthronisation. Die Probleme hinsichtlich der Präexistenzvorstellung versuchte Schweizer mit dem Hinweis darauf zu überwinden, dass Judenchristen Jesu Vorstellung vom Leidenden Gerechten mit der Vorstellung vom Menschensohn verbanden. In der zweiten Auflage modifizierte er diese Sicht und verwies auf die jüdische Weisheitsspekulation (vgl. Schweizer, Erniedrigung [21962], 21-33.99-102.173). 16 Für eine detaillierte Darstellung und Diskussion der verschiedenen Alternativen vgl. O’Brien 193-197. Als Außenseiterposition einzustufen ist die These von Beare 75, dass der Hintergrund von Phil 2 wahrscheinlich ein iranischer Mythos vom himmlischen Erlöser ist. 17 Weiter weist Cerfaux, Christus, 236, darauf hin, dass auch in 1Clem 16 eine enge Berührung mit Phil 2 erkennbar ist, bevor ausführlich Jes 53 zitiert wird. 18 Vgl. Jeremias, Abba, 207-208.275, Anm. 22.308-313. Neben den Wortanklängen verweist Jeremias außerdem auf die Entsprechung bezüglich des Gegensatzes Erniedrigung und Erhöhung, der Freiwilligkeit der Erniedrigung, des Gehorsams und des Todes, vgl. Jeremias, Abba, 208-209.

3.3 Selbsterniedrigung und Erhöhung Jesu Christi als Vorbild (2,5-11)

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Nach D. Georgi, Hymnus, 266-292, ist Phil 2,6ff im Lichte der jüdischen Weisheit zu deuten. Hinter Phil 2 stehe ein sich entwickelnder Mythos. Georgi schlägt dabei die Brücke zum Gerechten (Weish 3,1-4). Wie im Buch Weisheit werde in Phil 2 der Tod nicht als End-, sondern als Wendepunkt gesehen. Gegen Georgi ist einzuwenden, dass in der hellenistisch-jüdischen Mystik die Weisheit Schöpfungsmittlerin ist, was in Phil 2 keine Rolle spielt. Zudem fehlt ein plausibler Grund für die Identifikation von Weisheit und Gerechtem. Gegenwärtig sehr einflussreich, insbesondere durch die Arbeiten von J.D.G. Dunn, ist die Position, nach der hinter Phil 2 die Vorstellung eines Kontrasts zwischen dem ersten Adam und Jesus als dem zweiten Adam steht, wobei im Detail die einzelnen Exegeten unterschiedliche Akzente herausstellen.19 In der Rede vom Ebenbild Gottes und in der Entsprechung von dem Wunsch, wie Gott zu sein einerseits und dem bereitwilligen Verzicht auf das Gott-gleich-Sein andererseits, werden Analogien gesehen. Nach Dunn wurde das, was der erste Adam (Gen 1–3) verlor, nämlich die göttliche Herrlichkeit, dem zweiten Adam, also Jesus Christus, gegeben, dessen Herrlichkeit in Phil 2,9-11 beschrieben ist. Diese Position hat komplexe Implikationen und wird im Folgenden als ständiger Gesprächspartner weiter diskutiert werden, wobei sich zeigen wird, dass sie viele Fragen und kritische Einwände unbeantwortet lässt.

O’Brien resümiert nach seiner Darstellung der kontroversen Positionen sachgemäß: „None, however, has won general acceptance and each has been subjected to criticism.“20 Allerdings kann, wie im Folgenden gezeigt wird, ein judenchristlicher Hintergrund einigermaßen wahrscheinlich gemacht werden. Herkunft. Mehrheitlich wird für das Traditionsstück in Phil 2,6-11 eine griechische Ursprungsfassung angenommen.21 Jedoch weist die Wiedergabe des Tetragramms mit τὸ ὄνομα (V. 9) eher auf einen judenchristlichen Hintergrund hin. Nach Joachim Jeremias „(ist) die Wendung ἑαυτὸν ἐκένωσεν … im Griechischen nirgendwo belegt und grammatisch außerordentlich hart“22 und deshalb vermutlich eine Wiedergabe des hebräischen Avp.n: tw