Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts: Johann Caspar Lavater im Kontext [1 ed.] 9783666565595, 9783525565599

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Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts: Johann Caspar Lavater im Kontext [1 ed.]
 9783666565595, 9783525565599

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Format: BEZ 155x230, Aufriss: HuCo

45mm

Die Herausgeber Christian Soboth ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Leitungs­ funktion im Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Friedemann Stengel ist Professor für Neuere Kirchengeschichte und Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Johann Caspar Lavater im Kontext

Band 68

des 18. Jahrhunderts

  Der bekannteste Unbekannte

Lavaters vielfältige Interessen, die nicht allein durch Lektüre ausgemessen wurden, sondern durch persönliche, nicht selten streitbare Kontakte vitalisierend waren, machen ihn zu einer schillernden Zentralfigur des 18. Jahrhunderts. Entsprechend seinem Diktum vom »Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen« spiegelt sich dieses 18. Jahrhundert mit den Gleichzeitigkeiten des Ungleich(zeitig)en, mit seinen gradlinigen wie krummen Verläufen, seinen Kontroversen und Konflikten in Lavaters komplexer Werk-Physiognomie. Der Band schafft interdisziplinäre Zugänge aus germanistischer Literaturwissenschaft, Latinistik, Russistik, Medizin- und Psychologiegeschichte, Kunstgeschichte, Esoterikgeschichte, Theologien mehrerer Konfessionen, Musikwissenschaft, Philosophie und Frühneuzeitgeschichte. Er bietet einen kulturwissenschaftlich-diskursgeschichtlich orientierten Zugriff. Das ist insofern dem Gegenstand des Interesses angemessen, als es sich bei ­Lavater um einen Autor handelt, der einerseits eine, wenn man so will, kulturwissenschaftlich und anderer­ seits interdisziplinär ausgreifende öffentliche Theologie ­vertreten hat.

Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts

Soboth / Stengel (Hg.)

ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS

AGP 68

Christian Soboth / Friedemann Stengel (Hg.)

ISBN 978-3-525-56559-9

9 783525 565599

9783525565599_Soboth_Stengel_Umschlag_final.indd 1,3

28.02.23 15:02

Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus

Herausgegeben von Thilo Daniel, Manfred Jakubowski-Tiessen und Hans-Jürgen Schrader Band 68

Christian Soboth / Friedemann Stengel (Hg.)

Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts Johann Caspar Lavater im Kontext

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Handschriftenproben aus: Lavater, Johann Caspar, Essai Sur La Physiognomie, Destiné A faire Connoître l’Homme & à le faire Aimer, La Haye, Jacques Van Karnebeek 1781–1786, hier Bd. 3 (1786), 229. (Zentralbibliothek Zürich AWA 185:3, Copyright ZBZ). Umschlaggestaltung und Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0858 ISBN 978-3-666-56559-5

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Literatur und Religion Ursula Caflisch-Schnetzler „Der ich gewißermaßen in einem Mittelpunkt stehe“. Johann Caspar Lavater als Individuum in seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Sabine Gruber Zwischen Selbstbefragung und Publizität – Lavaters Tagebuch . . . . . . . . . . . . 39 Friedemann Stengel Aussichten in die Ewigkeit und Unsterblichkeit der Seele zwischen Empirie und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Daniela Kohler Theologie und Dichtung. Lavaters religiöser Sturm und Drang . . . . . . . . . . . . 87 Bernd Roling Bewohner des Kristallpalastes: Lavater und die Sprache der Seligen . . . . . . . . 103

Physiognomie im Kontext Heinz Schott Schattenrisse der Natur: Lavaters Physiognomik im Kontext von Naturphilosophie und Medizingeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Annette Graczyk Vom Frosch zu den Engeln: Aufklärung und Esoterik in Lavaters Physiognomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Sylvaine Hänsel Lavaters Physiognomik im Kontext der Porträtkunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

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Inhalt

Diskussionen und Diskurse Karl Baier Lavaters Anomalistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Karl-Friedrich Kemper Katholische Aufklärung und Ökumene – Johann Michael Sailer und Johann Caspar Lavater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Gabriela Lehmann-Carli Nikolaj M. Karamzins Lavater-Rezeption und ihr freimaurerischer Kontext .311 Michael Vesper „Wahre“ Aufklärung, Schwärmerei und Obskurantismus. Konfliktfelder der Spätaufklärung am Beispiel eines Briefwechsels zwischen Johann August Starck und Johann Caspar Lavater . . . . . . . . . . . . . . 325

Öffentlichkeit, Pädagogik und Politik Anett Lütteken „Neü sey jeglichen Tag dein Bedürfniss nach ewigen Dingen!“ Johann Caspar Lavater als Seelsorger und öffentliche Instanz in politisch bewegten Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Tilman Hannemann Lavater als Pädagoge an der Waisenhauskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Wolfgang Hirschmann Lavaters Schweizerlieder zwischen musikalischer Utopie, Moralischer Wochenschrift und Nationalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Andreas Pečar Republiken im Streit: Lavaters Aussagen zu Freiheit und Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

Wirkungen als Rezeptionen, Rezeptionen als Wirkungen Baptiste Baumann Am Rande des Beweisbaren. Johann Caspar Lavaters Austausch mit Charles Bonnet über die Auslegung von Wundergaben und die Kraft des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

Inhalt

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Dominique Bourel Johann Caspar Lavater und Moses Mendelssohn: Eine neue These? . . . . . . . . 465 Christian Eger Klapperschlange im Gartenreich? Lavater und das Fürstenpaar Franz und Louise von Anhalt-Dessau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Jana Kittelmann „lavaterisch denke[n]“. Johann Caspar Lavater in Briefen und Schriften Johann Georg Sulzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529

Vorwort

Vorliegender Band veröffentlicht die Ergebnisse einer im September 2019 vom Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg veranstalteten Tagung „Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts. Johann Caspar Lavater im Kontext“. So lautet nun auch der Titel des Bandes. Im 18. Jahrhundert sind es auf den ersten Blick ganz viele, genau betrachtet aber dann doch nicht so viele Persönlichkeiten, die sich in einer solchen thematisch-disziplinären Breite zwischen Theologie, Philosophie, Psychologie, Musik, Malerei, Naturforschung und Naturphilosophie bewegt und dabei auch noch zigtausende Kilometer quer durch Europa zurückgelegt haben – und noch größere Entfernungen als Briefpartner einer gerade unabsehbaren Zahl von Prominenten und weniger Prominenten. Lavater soll geklagt haben, zeitweise anderthalbtausend unerledigte oder unbeantwortete Briefe auf seinem Schreibtisch liegen gehabt zu haben. Die interdisziplinäre Spannweite der Interessen, die eben nicht allein durch Lektüre ausgemessen wurde, sondern dank der zahlreichen persönlichen, wenn auch nicht immer freundlichen, Kontakte vitalisierend und Lebenselixier waren, machen Lavater zu einer schillernden Zentralfigur des 18. Jahrhunderts. Entsprechend seinem redensartlichen Diktum vom „Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen“ spiegelt sich das 18. Jahrhundert mit den Gleichzeitigkeiten des Ungleich(zeitig)en, mit seinen gradlinigen wie krummen Verläufen, seinen Kontroversen und Konflikten in einer komplexen Werk-Physiognomie. Lavater ist Knotenpunkt, Anlass und Auslöser von Diskussionen und Diskursen gewesen, die ihn geprägt und die er mit ausgestaltet und in die er bekannte und weniger bekannte Personen und Personenkonstellationen einbezogen hat. Debatten, die auf den ersten Blick nicht oder kaum miteinander zu tun hatten, sind durch Lavater verbunden worden. Dieses Feld mit seinen – zum Teil auch widerwilligen und unfreiwilligen – Kombattanten des Geistes will der vorliegende Band umreißen und, in Teilen jedenfalls, genauer als eine Produktionsstätte und einen Umschlagplatz zentraler Themen und „Dogmen“ des langen 18. Jahrhunderts beschreiben. Zu dieser dichten Beschreibung gehört es auch, hier nicht oder lediglich am Rande in Erscheinung tretende Akteure und Themen zu benennen. So werden in den vorliegenden Beiträgen nicht wesentlich in Betracht kommen: die Lavater-Korrespondenten Goethe und Herder mit engen freundlichen und dann konfliktuösen Arbeitsbeziehungen; Klopstock, der von Lavater als größter Poet unter

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Vorwort

der Sonne gefeierte Autor des Messias, dem er – wie auch Novalis – einen eigenen Messias zur Seite zu stellen versucht hat; Johann Bernhard Basedow, dessen reformpädagogischen Philanthro­pinismus Lavater förderte, weil und indem er ihn als Vorstufe zur eigentlichen Erziehung nach den Offenbarungsinhalten betrachtete; der jüngere Karl Friedrich Bahrdt, dem sich Lavater erst widmete, um sich dann von ihm zu distanzieren; der Hallenser Johann Salomo Semler, der Lavater fast 500 Seiten Unterhaltungen mit Lavater, über die freie practische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie (1787) widmete, in denen es aber gar nicht um Lavater ging, sondern um Emanuel Swedenborg; Georg Christoph Lichtenberg, der Lavaters Phy­siognomische Fragmente mit einem Fragment von Schwänzen (1783) persiflierte und seinen judenmissionarischen Eifer mit folgender Schrift verspottete: Timorus, das ist Vertheydigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen, den wahren Glauben angenommen haben (1773); Wieland, mit dem Lavater korrespondierte; William Blake, Johann Georg Hamann, Friedrich Oetinger und die deutsche Theosophie und dann die Erweckten im Lande; Lavaters Shaftesbury-Rezeption; schließlich Johann Heinrich Jung-Stilling, der wohl als einer der Begründer des theoretischen Spiritismus gelten kann; die Berliner Aufklärer um Johann Erich Biester, Friedrich Gedicke und Friedrich Nicolai, die Lavater spätestens seit den 1780er Jahren als Hauptgegner betrachteten und ihm das lange wirkungsvolle Diktum der Gegenaufklärung anhefteten – und so weiter. Diese Konstellationen und Beziehungen kommen im vorliegenden Band kaum oder nicht zur Sprache. Doch bietet der Band in einer erheblichen Breite interdisziplinäre Zugänge aus germanistischer Literaturwissenschaft, Latinistik, Russistik, Medizin- und Psychologiegeschichte, Kunstgeschichte, Esoterikgeschichte, Religionswissenschaft, Theologien mehrerer Konfessionen, Musikwissenschaft, Philosophie und Frühneuzeitgeschichte. Kurz und im Ganzen bietet er einen kulturwissenschaftlich-diskursgeschichtlich orientierten Zugriff. Das ist insofern dem Gegenstand des Interesses nur angemessen, als es sich bei Lavater um einen vielgestaltigen Autor handelt, der einerseits eine, wenn man so will, kulturwissenschaftlich fundierte und andererseits interdisziplinär ausgreifende Theologie etabliert hat. Er hat auf den ersten Blick außer-, nicht- und gewissermaßen sogar untheologische Wissensbestände aufgenommen und zu integrieren versucht. In diesem Zusammenhang sind auch die Textsorten und die Vielfalt an literarischen Gattungen zu nennen, die Lavater als Wissenschaftler und Autor aufzuweisen hat. Der spezialistischen Ausdifferenzierung begegnet er mit einer textuellen Umarmungsstrategie. Brief, Tagebuch, Gedicht, Drama, Epos, Traktat usw. werfen immer neue überraschende Blicke auf einen vielgestaltigen und vielgestaltig manifesten Gott, von dem infolge und im Ergebnis der textuell perspektivischen Blicke stets neue Facetten aufgedeckt werden. Die Entdeckung, der Nachweis und die Spiegelung des Antlitzes Gottes im Antlitz des Menschen generiert und zeigt Diversität in kaleidoskopisch-prismatischen Brechungen. Vielleicht darf in Bezug auf die zeitgleiche Versammlung oder besser Reihung und Addition von „Fakta“ bei und für Karl Philipp Moritz im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, die gerade nicht

Vorwort

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mehr gebündelt und auf ein verbindendes integrierendes Moment hin zu beziehen und auslegend zu verstehen sind, für Lavater behauptet werden, eine solche Synthese von Vielheit und Vielgestaltigkeit in Gott versucht zu haben. Wenn bei dieser Vielgestaltigkeit dennoch ein entscheidendes Zentrum der Arbeit Lavaters identifiziert werden sollte, dann wäre es wohl der nachdrückliche Ansatz einer „Christozentrierung“ oder „Christifizierung“ der aufklärerischen Debatten zwischen Naturgeschichte, Anthropologie, Kunst und Theologie, in denen sich die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele als ein Vehikel zur substantiellen Umgestaltung der Theologie erwiesen hatte. Jesus als den Gottessohn Christus (wieder) ins Zentrum zu rücken, scheint Lavaters Hauptanliegen – und zugleich Hauptansatzpunkt seiner Anhänger wie auch Hauptangriffspunkt seiner Gegner – gewesen und geworden zu sein. Wie schon der Aufbau der Tagung so bildet nun auch die Struktur des Tagungsbandes diesen Zugang in seiner historischen wie heutigen wissenschaftlichen Interdisziplinarität ab. Untersucht wird im ersten von fünf Kapiteln mit Beiträgen zu Lavaters Lebens-Werk, seinem Tagebuch, zu seinen religiösen Epen, zu seinem Konzept einer Engelsprache und zu seiner Auseinandersetzung mit der Unsterblichkeit der Seele das im 18. Jahrhundert ebenso dicht wie prominent besetzte Bezugsfeld Literatur bzw. Dichtung und Religion. Die Physiognomik als nach wie vor bekanntester und populärster Beitrag Lavaters zu den Debatten im 18. Jahrhundert wird in vertikal-historischen und horizontal zeitgenössischen naturphilosophischen und medizingeschichtlichen Kontexten im Spannungsfeld von Aufklärung und Esoterik sowie in deren bildkünstlerischen Ausarbeitungen dargestellt. Zur Einbettung in konkrete Diskussionen und in offene Diskurse bei Lavater werden sein Verhältnis zum Mesmerismus, zur sog. Aufklärung, insbesondere zur katholischen Aufklärung, sowie zur russischen Freimaurerei vorgestellt. Untersucht werden dann Lavaters Ämter und Funktionen, seine Wirk-Absichten und tatsächlichen Wirkungen in der Öffentlichkeit, der Pädagogik und Politik seiner Zeit, besonders nach der Französischen Revolution und in der Helvetik. Abschließend werden mit Beiträgen zu Charles Bonnet, zu Moses Mendelssohn und Johann Georg Sulzer sowie zum Fürstenpaar Franz und Louise von Anhalt-Dessau in ihren je besonderen Kontakten Lavaters beabsichtigte und unbeabsichtigte Wirkungen, seine gewollten und ungewollten Rezeptionen greifbar und rekonstruiert. Für die Aufnahme des Bandes in die von der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegebene Reihe „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus“ danken die Veranstalter der Tagung und Herausgeber des Bandes. Damit wird eine Lavater-Publikationstradition fortgesetzt und das Interesse der Pietismusforschung an Lavater als Gegenstand einer integrierten 18. Jahrhundertforschung bestätigt. 1991 erschien als Nummer 25 der AGP die Studie von Horst Weigelt Lavater und die Stillen im Lande – Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert, 1994 als Nummer 31 der von Karl Pestalozzi und wiederum von Horst Weigelt herausgegebene Band Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater.

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Vorwort

Für die zuverlässige redaktionelle Bearbeitung danken die Herausgeber Paulien Wagener und vor allem Sophia Marie Schnoor. Ein besonderer Dank gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern, die dem Projekt durch schwierige Zeiten hindurch zugetan geblieben sind. Halle, im November 2022 Christian Soboth

Friedemann Stengel

Literatur und Religion

Ursula Caflisch-Schnetzler

„Der ich gewißermaßen in einem Mittelpunkt stehe“1 Johann Caspar Lavater als Individuum in seiner Zeit

Der Blick auf eine Epoche und deren Vertreter wird in der Rezeptionsgeschichte durch jeweils gegenwärtige Kontexte beeinflusst. Ohne die Berücksichtigung von fundierten Quellenstudien wird der Fokus häufig einzig auf bestimmte Personen und Aspekte gelegt. Liest man eine Zeit nicht aus sich heraus und werden zumeist nur bereits bekannte Belege berücksichtigt, so tradieren sich festgefahrene Bilder eines in sich geschlossenen Spektrums, das erst über fundierte Quellenforschung eine Öffnung in neue Wissensfelder zulässt. Johann Caspar Lavater (1741–1801) wurde zumeist im Spiegel seines Verhältnisses zu Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) und im Hinblick auf seine Suche nach der Gottebenbildlichkeit des Menschen in seinem Philosophie- und Religionsverständnis gesehen. Beides ließ ihn zumeist in einem eher schlechten Licht erscheinen, indem für seine Religionsphilosophie die kritischen Stimmen aus der radikalen Berliner Aufklärungsbewegung als Belege herangezogen wurden, die ihn als Pietisten und religiösen „Schwärmer“2 bezeichneten. In Bezug auf Goethe strich man deren Unterschiedlichkeit und den Abbruch ihrer Freundschaft von Seiten Goethes heraus.3 Dies führte jedoch dazu, dass auch Goethe in seinem Verhältnis 1

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3

Johann Caspar Lavater an eine Unbekannte [„Liebe R.“], 9.01.1781; Lavater, Johann Caspar, Vermischte Schriften, Bd. 2, Winterthur 1781, 64; Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. V: Vermischte Schriften, Bd. 2, hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2018, 457. Zu den Begriffen „Schwärmerei, Schwärmer/Schwarmgeist“ vgl. Schneiders, Werner (Hg.), Lexikon der Aufklärung, München 1995, 372–375. Lavater selbst hatte sich häufig gegen den Vorwurf der Schwärmerei in seinen Briefen und Schriften zu wehren. Vgl. dazu u. a. JCLW V, 473f; Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Schriften, hg. v. Johann Kaspar von Orelli, Bd. 6, Zürich 1842, 229– 232. Vgl. dazu auch Gottfried Keller an Salomon Hegi, 28.01.1849, in: Keller, Gottfried, Gesammelte Briefe, hg. von Carl Helbling, Bern 1950, 213. (Wehrli, Max, Lavater und das geistige Zürich im 18. Jahrhundert, Basel 2014, 20): „Man spricht dabei immer nur von Goethe, obgleich eine Menge deutscher Nobilitäten wie Herder, Jung-Stilling und dgl. darunter sind, auch unser wackerer Lavater. Es ist etwas Problematisches um die Gesellschaft eines solchen Schlingels, wie Goethe ist, man wird von dem ungeschlachten vordringlichen Herren allzu leicht verdunkelt; doch auch beleuchtet manchmal.“

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Ursula Caflisch-Schnetzler

gegenüber Lavater in der Rezeptionsgeschichte verzerrt dargestellt wurde, indem man seine eigenen Aussagen in Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit in der Rezeptionsgeschichte in Bezug auf den Zürcher Theologen, Schriftsteller und Autor Lavater nicht in der von Goethe intendierten Form berücksichtigte4 und damit auch das von Goethe in Lavater gesehene „Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird“5 lange Zeit nur bedingt erkannte.

1. Lavater und Goethe Im September 1780 schrieb Goethe an Lavater den bekannten, von ihm schriftlich nie wiederholten, in der Goethe-Rezeption jedoch oft zitierten Satz: „Hab ich Dir das Wort Individuum est ineffabile woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?“6 Dieses Hapaxlegomenon und damit diese einzig an Lavater gerichtete Wendung7 leitete Goethe wohl von „Deus est ineffabile“ ab, dem erhabenen, unbegreiflichen und in seiner Macht nicht zu fassenden Gott und ersetzte Deus nun durch Individuum, das sich – nach Goethe – allgemeingültigen Theorien entzieht.8 Der Begriff wird auf die Substanzenlehre von Aristoteles zurück zu führen sein, in welcher Goethe bestimmte mit seinen Aussagen in Dichtung und Wahrheit selbst die Rezeption auf seine Person sowie die ihm in seinem Leben begegnenden Personen, wie u. a. das Beispiel von Jakob Michael Reinhold Lenz deutlich zeigt. Vgl. dazu Caflisch-Schnetzler, Ursula/Richter, Thomas, Lenz in Schinznach, Lenz-Jahrbuch 26:7–39 (2020), 31f. 5 Goethe, Johann Wolfgang, Goethes Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophia von Sachsen [im Folgenden WA I], Bd. 28, Weimar 1890, 264; Goethe, Johann Wolfgang, Dichtung und Wahrheit, hg. von Walter Hettche, Stuttgart 1991, 655; vgl. auch: Pestalozzi, Karl, Zum LavaterPortrait in Goethes Dichtung und Wahrheit, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.), Goethe im Kontext, Tübingen 1984, 283–292; Caflisch-Schnetzler, Ursula, Genie und Individuum. Die Beziehung zwischen Philipp Christoph Kayser und Johann Caspar Lavater, gespiegelt am Genie-­Gedanken der Physi­ognomischen Fragmente, in: Gabriele Busch-Salmen (Hg.), Philipp Christoph Kayser (1755–1823): Komponist, Schriftsteller, Pädagoge, Jugendfreund Goethes, Hildesheim 2007, 117– 138; Pestalozzi, Karl/Weigelt, Horst (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, (AGP 31), Göttingen 1994, 5: „Mit diesem Band Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen verbindet sich die Hoffnung, Lavater einem breiteren öffentlichen Bewußtsein wieder präsent zu machen, als ‚ein Individuum, einzig, ausgezeichnet, wie man es nie gesehen hat und nicht wieder sehen wird‘ (Goethe).“ 6 Goethe an Lavater, [um den 20.09.1780], Universitätsbibliothek Leipzig, Sammlung Hirzel, B 127; Funck, Heinrich (Hg.), Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher, (Schriften der Goethe-­ Gesellschaft 16), Weimar 1901, 138. – Die Zitate aus den handschriftlichen Quellen werden diplo­ matisch getreu wiedergegeben. Gemination wird als Doppelschreibung, Unterstreichung und weitere Hervorhebungen kursiv, lateinische Schrift serifenlos gesetzt. Alle editorischen Eingriffe und Auslassungen stehen in eckigen Klammern. 7 Böhme, Gernot, Goethe Handbuch, Bd. 3: Prosaschriften, Stuttgart 1997, 656: „Der berühmte Satz ‚Individuum est ineffabile‘ (an Lavater, 20.09.1780), von dem ungeklärt ist, ob es sich um ein Zitat oder G.s Eigenprägung handelt.“ 8 Vgl. Hörisch, Jochen, Subjekt oder Sub-jekt nach Schleiermacher, in: Jürg Dierken/Arnulf von Scheliha/Sarah Schmidt (Hg.), Reformation und Moderne, Boston 2018, 256. 4

„Der ich gewißermaßen in einem Mittelpunkt stehe“

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das Individuum als konkret Einzelnes mit einer bestimmten „Eigenheit“ als Vielheit in der Gattung Mensch aufgehoben ist: „Es gibt im Sein das Allgemeine, und es gibt innerhalb des Individuationsprinzips das konkrete Sein, welches sich wiederum in der Vielheit der Individuen widerspiegelt.“9 Dieses individuelle Aufgehobensein als Teil eines Ganzen und die Unmöglichkeit, dieses im Einzelnen zu fassen, zeigt eine weitere Briefstelle,10 in welcher Goethe ein zweites Mal Lavater gegenüber auf das Individuum zu sprechen kommt, ohne auf sein erstes Schreiben Bezug zu nehmen. Er referiert dabei auf Passagen aus dessen publizierten Briefen in den Vermischten Schriften11 und verweist nun Individualität direkt auf Lavater und dessen christozentrisches Gottesbild: Selbst deinen Christus hab’ ich noch niemals so gern, als in diesen Briefen angesehen und bewundert. […] Ich gönne dir gern dieses Glük, denn du müßtest, ohne daßelbe elend werden. Bei dem Wunsch und der Begierde, in einem Individuo alles zu genießen, und bei der Unmöglichkeit, daß dir ein Individuum genug thun kann, ist es herrlich, daß aus alten Zeiten uns ein Bild übrig blieb, in das du dein Alles übertragen, und, in ihm dich bespiegelnd dich selbst anbeten kannst.12

Lavater ging auf Goethes Gedanken des nicht fassbaren Individuums („Individuum est ineffabile“) in seiner Antwort vom 30. September 1780 nicht ein,13 reagierte jedoch ausführlich auf dessen zweite Briefstelle das Individuum betreffend knapp ein Jahr später, indem er Goethe in seiner Aussage der eigenen Bespiegelung recht gibt und dies mit einer Entität zwischen Goethe und Christus belegt. So lange er, Lavater, sich Christus nicht so gewiss sei „wie deiner“, schreibt Lavater am 16. August 1781 nach Weimar, sei alles, was er von Christus sage, eben „nur Anbetung meiner selbst“. Wenn jedoch das, was ich vor mir sehe, nicht in sondern außer mir ist; wenn du ein freyes Wesen in Weymar bist, an welches ich, freyes Wesen in Zürich, izt schreibe – wenn ich izt nicht an mich selber, sondern an dich einen andern außer mir schreibe – so kann’s auch einen Christus

  9 Scholz, Sophie, Vom Individuum aus, Berlin/London 2016, 61. 10 Die Korrespondenz der bis anhin bekannten Briefe zwischen Lavater und Goethe wurde am 14. August 1773 von Lavater mit der Verdankung des „Götz mit der eisernen Hand“ eröffnet (vgl. Zentralbibliothek Zürich [ZBZ], Familienarchiv Lavater [FA Lav] Ms 562; Funck (Hg.), Goethe und Lavater, 3f) und schließt mit einem letzten Billett von Lavater vom 8.09.1800 (GSA_28_556_7_8; bei Funck nicht aufgenommen), in welchem der Zürcher Pfarrer mit den Worten Susanna von Klettenbergs Goethe zu den Auserwählten zählt und den Herrn zwischen sich und Goethe („Herren Zween“) wandeln lässt. Im Briefwechsel zwischen Lavater und Goethe fällt einzig in den beiden Briefen von Goethe an Lavater vom 20.09.1780 und vom 22.06.1781 der Begriff „Individuum“ bzw. „Individuo“. 11 Lavater, Vermischte Schriften, Bd. 2; vgl. JCLW V, 405–765; vgl. JCLW, Ergänzungsband Biblio­ graphie, Nr. 367.2. 12 Goethe an Lavater, 22.06.1781, Universitätsbibliothek Leipzig, Sammlung Hirzel, B 142; Funck (Hg.), Goethe und Lavater, 181f. 13 Lavater an Goethe, 30.09.1780, ZBZ, FA Lav Ms 562a; Funck (Hg.), Goethe und Lavater, 138f.

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Ursula Caflisch-Schnetzler

geben, der so im Himmel ist, wie du in Weimar – mit dem ich mich so unterhalten kann, wie mit dir – der so auf mich zurückwirken kann, wie du auf mich zurück wirkest, wenn du mir einen Brief beantwortest.14

Diese im allgemeinen Einheits- und Analogieprinzip aufgehobene, jedoch eigenständige Individualität des Menschen15 hatte Lavater selbst in einem zum Druck gegebenen Brief in den von Goethe zitierten Vermischten Schriften formuliert, indem er festhält, es gebe nur „Ein Gesetz“, das sich durch alle Naturen ziehe, welches alles zu einem Ganzen verbinde und wieder „jedes trennet von jedem, und aus jeglichem ein besonderes Ganzes, ein selbstständiges Indiviuum“ mache.16 Lavater verstand sich als Gelehrter und als gläubiger Theologe einem Ganzen verpflichtet, das er durch das konkrete Sein seiner Individualität als Mensch und Christ über Verstand und Vernunft im Diskurs mit seinen Briefpartnern zu erkennen suchte. Er wurde damit zu einem Mittelpunkt rund um die Fragen nach der Eigenheit, Stellung und Bedeutung des Menschen und regte das Nachdenken um die Begrifflichkeit des Individuums in Approximation zu Christus in seiner Einmaligkeit mit seinen Werken und seiner Korrespondenz zentral an.17

14 Lavater an Goethe, 16.08.1781, ZBZ, FA Lav Ms 562a; Funck (Hg.), Goethe und Lavater, 185f; vgl. dazu auch Pestalozzi, Karl, Lavaters Hoffnung auf Goethe, in: ders./Weigelt (Hg.), Das Antlitz, 266: „Für Lavater war […] Goethe als Autor des Pastorenbriefs ein Mensch von großer Christusnähe und Christusähnlichkeit und gerade insofern der Inbegriff des Menschen.“ 15 Vgl. dazu auch Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. 4, Leipzig 1778, 186: „Nicht die Errathung einzelner Character, vielmehr die Kenntniß menschlicher Character überhaupt – ist der Zweck der Physiognomik. – Das heißt – allgemeine Zeichen von Kräften und Empfindungen zu finden – die freylich nichts nützen, wenn sie sich nicht wieder auf jedes einzelne Individuum anwenden lassen – zumal da wir immer nur mit Individuen zu thun haben.“; ebd., 325: „Jedes wird sich nur nach seiner ursprünglichen Natur und Bildsamkeit veredeln; nie eine Gattung in die andre, so wenig ein Individuum ins andre verwandeln.“; ebd., 344: „Daß jeder menschliche Körper, so wie jeder Körper überhaupt, auf eine bestimmte Weise aus verschiedenen gleichartigen und ungleichartigen Ingredienzien zusammengesetzt sey; daß sich, wenn ich so sagen darf, in dem großen Dispensatorium Gottes für jedes Individuum eine eigene Mischungsformel, ein besonderes Rezept finden ließe – wodurch der Grad seines Lebens, die Art seiner Empfindlichkeit, Empfänglichkeit, Wirksamkeit bestimmt wird.“ 16 Lavater an Johann Gottlieb Burckhardt, 30.08.1779, ZBZ, FA Lav Ms 555; Lavater, Vermischte Schriften, Bd. 2, 74 (der Text ist im Druck leicht abweichend); JCLW V, 466. 17 Vgl. Lavater, Johann Caspar, Aussichten in die Ewigkeit, Bd. 2, Zürich 1769, 212–214; vgl. JCLW II, 335: „Was ist der Mensch? – Ein freyes, lebendiges, selbstthätiges Wesen, begabet mit empfindenden, denkenden, moralischen, physischen Kräften, die sich unendlich vervollkommnen lassen […] ein Wesen, das dem vollkommensten Wesen in dem unermeßlichen Reiche der Gottheit, dem Gottmenschen ähnlich werden soll.“

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Abb. 1: Johann Caspar L ­ avater, gemalt von August Friedrich ­Oelenhainz, gestochen von Carl Hermann Pfeiffer, Sammlung ­Johann Caspar Lavater.

2. Rezeption und Forschung Johann Caspar Lavater war wohl lange Zeit der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts. Dies hatte mit seiner Rezeptionsgeschichte und der Forschungslage zu tun, die bis weit in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts mehr oder weniger desolat gewesen ist. Im Zusammenhang mit den grossen Geistern der Zeit wurde Lavater zwar immer auch genannt, doch zumeist negativ konnotiert. Man las Lavater zumeist nicht, schrieb jedoch häufig – ohne eigentliche Kenntnis seines Werks – über ihn, was man dachte, dass er gewesen sei und was andere über ihn geschrieben hatten,18 obschon sein Werk19 in Bibliotheken und in Auszügen

18 Vgl. u. a. Matthisson, Friedrich von, Erinnerungen, Wien 1815, 97: „Mag man dieses [Lavaters] Werk auch immerhin als einen Kometen, oder sogar nur als ein flüchtiges Meteor am Himmel der deutschen Literatur beobachten, der, wie man allgemein behauptet, an Sternschnuppen bey weitem reicher, als an Sternen seyn soll, so bleibt es demungeachtet nur als bloße Sprachbereicherung von unermeßlichem Werthe. […] Im Allgemeinen enthalten seine Schriften der Goldkörner zu Tausenden; sie müssen aber, wegen der unglaublichen Schnelligkeit, womit er [Lavater] Bücher zu Tage fördert, aus dem Stromsande gewaschen werden.“ 19 Vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie.

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zugänglich vorgelegen hätte.20 Ebenso sah es mit Lavaters Korrespondenz aus,21 die zumeist nur in Bezug auf dessen Briefpartner beachtet wurde22 und deren Inhalt daher kaum erschlossen war. So konnte Lavater – obschon sein Name in der Zeit in kaum einem Wissenszweig nicht genannt wurde – als Theologe und Autor belächelt und als grosser „bekannter Unbekannter“ leicht und immer wieder als Pietist, Schwärmer, Freund und Feind Goethes und als ein sich mit Physiognomik beschäftigender, etwas abgedrehter Geistlicher aus Zürich abgestempelt werden. Mit der einsetzenden, sich an Quellen orientierenden wissenschaftlichen Forschung wurde Lavaters Werk jedoch als zentraler Bestandteil der Dixhuitième-Forschung erkannt und in den letzten Jahren fundiert erarbeitet.23 So liegen Lavaters wichtigste gedruckte Werke in der historisch-kritischen Edition seit 2019 ediert vor und stehen der Forschung und einem interessierten Laienpublikum zur Verfügung. Seit 2017 wird in einem digital und interdisziplinär angelegten Forschungsprojekt an der Universität Zürich mit Schnittstellen ins Ausland und in enger Zusammenarbeit mit der Zentralbibliothek Zürich24 Lavaters auch für das schreibfreudige 18. Jahrhundert gigantische Korrespondenz in Johann Caspar Lavater: Historischkritische Edition ausgewählter Briefwechsel (JCLB) digitalisiert, mit Metadaten erschlossen und mit den verstreuten Briefbeständen aus Archiven und Bibliotheken aus ganz Europa ergänzt. Aus diesem Netzwerk von weit über 23.000 Briefen mit um die zweitausend Korrespondenzpartnerinnen und -partnern (vgl. Abb. 2)25 werden die bedeutendsten Briefwechsel historisch-kritisch ediert und online und als Print-Edition in JCLB herausgegeben.26

20 Vgl. Lavater, Johann Kaspar, Ausgewählte Werke, hg. v. Ernst Staehelin, 4 Bde., Zürich 1943; Lavater, Ausgewählte Schriften; Lavater, Johann Kaspar, Nachgelassene Werke, hg. Georg Geßner, 3 Bde., Zürich 1801. 21 Vgl. JCLW, Ergänzungsband Korrespondenz. 22 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Ursula, Johann Caspar Lavater im Kreise seiner Korrespondenten, in: C. Eggenberger/M. Stähli (Hg.), Johann Caspar Lavater. Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe (Ergänzungsband: Johann Caspar Lavater (1741–1801), Zürich 2007, 22. 23 Zur Forschungslage vgl. https://lavater.com/ (20.10.2022); JCLW I bis JCLW VIII; JCLW, Ergänzungsband Anekdoten; Stadler, Ulrich/Pestalozzi, Karl (Hg.), Johann Caspar Lavater Studien (JCLst), Bd. 1: Im Lichte Lavaters. Lektüren zum 200. Todestag, Zürich 2003, (vgl. https://lavater. com/werke/bisher-erschienen, 20.10.2022). 24 Rund 23.000 Briefe von und an Johann Caspar Lavater liegen im Familienarchiv Lavater (FA Lav) der Zentralbibliothek Zürich. 25 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Korrespondenten, 21: „Die über 1890 Korrespondenten (ungefähr zwanzig Prozent davon sind Frauen) umfassen beinahe das gesamte geistige und geistliche deutschsprachige Europa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.“ 26 Vgl. https://lavater.com/briefwechsel; https://lavater.com/netzwerk (20.10.2022). Hauptantrag­ stellerin des Forschungsprojektes Johann Caspar Lavater: Historisch-kritische Edition ausgewählter Briefwechsel ist die Forschungsstiftung Johann Caspar Lavater (Dr. Ursula Caflisch-Schnetzler). Die Edition hat ihren Sitz am Deutschen Seminar der Universität Zürich (seit 2020 am Lehrstuhl von Prof. Dr. Davide Giuriato). Die Edition JCLB geht am 15.11.2022 mit ersten Briefwechseln sowie der Netzwerkstruktur online (www.jclavater-briefwechsel.ch); die Printausgabe erscheint 2024ff.

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Abb. 2: Sechzig der bisher nachgewiesenen 1890 Korrespondenzpartnerinnen und ­Korrespondenzpartner von Johann Caspar Lavater.

Ein weiteres Forschungsprojekt wurde von der Forschungsstiftung Johann Caspar Lavater in Zusammenarbeit mit der Zentralbibliothek Zürich 2019 initiiert.27 Es digitalisiert und erschließt bis Ende 2020 deren Bestand von ungefähr 1500 Blättern aus Lavaters Physiognomischem Kabinett. Lavaters Kunstsammlung, bestehend aus weit über 22.000 Blättern, die zumeist von Lavater in „kabinettlichen Stand“ gebracht worden sind,28 wurde nach seinem Tod als wertvoller Bestand verkauft und ging an Kaiser Franz I. von Österreich über, der sie in seine Privatsammlung integrierte.29 Der Hauptbestandteil dieser einmaligen Sammlung der zumeist von Lavater beschrifteten Ölgemälde, Kupferstiche, Radierungen, Holzschnitte, Kreide27 Vgl. https://lavater.com/kabinett (20.10.2022); vgl. dort den Link auf den Mirador Viewer der Zentralbibliothek Zürich. 28 Vgl. dazu auch Matthisson, Erinnerungen, 100: „Lavater besitzt in den hundert und fünfzig Bänden von Handzeichnungen, die er sein physiognomisches Cabinet nennt, einen der wichtigsten Kunstschätze, deren ein Privatliebhaber sich rühmen kann. Das Meiste darin rührt vom Seelenzeichner Chodowiecki her, und selbigem zunächst lieferten Heinrich Füßli, Lips, Freudenberger und Schellenberg die erheblichsten Beyträge. Möge diese treffliche Sammlung in irgend einer Kaiser= oder Königs=Kunstschule sich dereinst recht vielen talentweckenden Wirkungen zu erfreuen haben!“ 29 Vgl. Poch, Patrick, Ein Zürcher Kunstschatz in Wien, in: NOLI ME NOLLE. Jahresschrift 2020 der Sammlung Johann Caspar Lavater, Zürich 2020, 6–20; Mraz, Gerda/Schögl, Uwe (Hg.), Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, Wien 1999.

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und Federzeichnungen sowie Druckgrafiken liegt daher im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien; weitere Blätter finden sich verstreut in Archiven und Bibliotheken in ganz Europa und Amerika. Das Kunstkabinett in Wien sollte in den nächsten Jahren in einem Länder übergreifenden Forschungsprojekt digital aufgearbeitet und im Anschluss an das Projekt mit der Zentral­ bibliothek Zürich mit der Briefwechseledition JCLB verbunden werden, um auch diesen Aspekt aus Lavaters Werk und damit eine bis anhin nicht erschlossene Wissenskultur von europäischer Bedeutung evident zu machen. Johann Caspar Lavater ist heute in der Forschung kein Unbekannter mehr.30 Er steht mit seinem Werk und Wirken in der Zeit der Aufklärung, des Sturm und Drangs und der Empfindsamkeit im Mittelpunkt des Geschehens. Aus der als „Limmat-Athen“31 bezeichneten Stadt Zürich heraus prägte er mit seinem Werk und seiner Korrespondenz, in denen die zentralen Themen der Zeit aufgenommen oder selbst von ihm angeregt und diskutiert wurden, das Europa des 18. Jahrhunderts mit. Als Individuum und als immer reger Geist stellte Lavater „gewißer­maßen“ einen Mittelpunkt dar, „in dem so viele hundert Linien individueller Menschen zusammenlaufen“.32

30 Zur Wiederkehr von Lavaters 250. Geburtstag fand vom 3. bis 5.11.1991 in Zürich ein Symposium mit namhaften Referentinnen und Referenten statt, organisiert vom Zwingliverein Zürich und der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus mit Unterstützung des Kirchenrates der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Dieses hatte zum Ziel, das vielfältige Interesse an Lavaters Person, Werk und Wirkung einer breiteren Öffentlichkeit wieder präsent zu machen. Vgl. Pestalozzi/Weigelt (Hg.), Das Antlitz (Vorwort), 5f. – Im Sommer 1999 zeigte die Österreichische Nationalbibliothek erstmals öffentlich im Prunksaal der Hofburg in Wien Johann Caspar Lavaters Kunstkabinett. Vgl. den Begleitband dazu von Mraz/Schögl, Das Kunstkabinett. – Vom 9.02. bis 21.04.2001 zeigte das Kunsthaus Zürich im grossen Saal anlässlich Lavaters 200. Todestag die Ausstellung Johann Caspar Lavater. Das Antlitz – Eine Obsession. Die begleitenden Vorträge zur Ausstellung finden sich in JCLSt, Bd. 1. – 2012 wurde die Sammlung Johann Caspar Lavater gegründet (vgl. https://lavater.com/sammlung), welche sich in Lavaters ehemaligem Wohn- und Amtshaus an der St. Peter-Hofstatt 6 in Zürich befindet. Zu Johann Caspar Lavater, vgl. Caflisch-Schnetzler, Johann Caspar Lavater; dies. Netzwerkstrukturen und Digitale Edition, in: Lavater vernetzt. Gelehrtenrepublik und Digital Humanities, Schweizerische Zeitschrift für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, xviii (2022), hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler (Gastheraus­geberin), Basel, 2020, 7–17. Luginbühl-Weber, Gisela, Johann Kaspar Lavater, in: Historisches Lexikon der Schweiz (https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010444/2008-11-27; 20.10.2022). Mraz/Schögl (Hg.), Das Kunstkabinett; Pestalozzi/Weigelt (Hg.), Das Antlitz; Proß, Wolfgang, Lavater, Johann Caspar, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982; Sauer, Klaus Martin, Die Predigttätigkeit Johann Kaspar Lavaters (1741–1801), Zürich 1988; Weigelt, Horst, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991; ders., Lavater, Johann Kaspar, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 20, 1991, 506–511; Wysling, Hans (Hg.), Die Literatur (Johann Caspar Lavater), in: ders. (Hg.), Zürich im 18. Jahrhundert, 1983, 131–188; 2023 erscheint von Ursula Caflisch-Schnetzler der erste Band einer dreibändigen Biografie zu Johann Caspar Lavater unter dem Titel Johann Caspar Lavater – Jugendjahre. Vom Wert der Freundschaft. 31 Wysling (Hg.), Die Literatur, 134. 32 Lavater an Christian Gottfried Körner, 9.01.1781, ZBZ, FA Lav Ms 569; vgl. JCLW V, 573.

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Abb. 3: Einzelne Dokumente aus Lavaters Physiognomischem Kabinett aus der Zentralbibliothek Zürich und dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.

3. Europäische Ausstrahlung 1741 in Zürich geboren und daselbst 1801 gestorben, wirkte Lavater als Schriftsteller und Theologe in seiner Heimatstadt Zürich von 1769 bis 1778 zuerst als Diakon, später als Pfarrer an der Waisenhauskirche, ab 1778 bis zu seinem Tod an der Stadtkirche St. Peter.33 Dabei verfügte er mit Zürich als einem Zentrum literarischen und wissenschaftlichen Lebens über einen ausgezeichneten Standort.34 Lavater, der sein Theologiestudium am Collegium Carolinum, der damali33 Zu Lavaters Lebensdaten vgl. https://www.lavater.uzh.ch/de/jclavater.html (20.10.2022). 34 Vgl. Ulrich, Conrad, Die Familie Ulrich von Zürich, Bd. 1, Zürich 2016, Einleitung, 7–105; ­Wehrli, Max, Lavater und das geistige Zürich im 18. Jahrhundert, in: Pestalozzi/Weigelt (Hg.): Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen, 9f.

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gen Zürcher Hohen Schule,35 absolvierte und einen großen Teil seines Bildungswissens unter anderem von Johann Jacob Bodmer (1698–1783) und Johann Jacob Breitinger (1701–1776) empfing,36 gilt zu Recht als eine der bedeutendsten und vielschichtigsten Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts,37 dessen vielfältiges Wirken nicht nur in Zürich und der Schweiz, sondern im ganzen damaligen Europa Bedeutung besaß. Im Lauf seines Lebens verfasste Lavater in kaum je nachlassender Tätigkeit über vierhundert Werke, zahlreiche Sendschreiben, Beiträge, Tagebücher verschiedenster Art und eine der umfassendsten Korrespondenzen sowie kaum mehr zu zählenden Billetts und Kärtchen. Die Ausgewählten Werke in historisch-kritischer Ausgabe (JCLW) stellen mit ihrer Auswahl aus Lavaters theologischem, philosophisch-pädagogischem, poetischem, politischem und physiognomischem Schaffen die Kenntnis von Lavaters Werk auf eine neue Grundlage. Bereits während Lavaters Lebenszeit erregten insbesondere seine frühen Werke, die Schweizerlieder,38 die Aussichten in die Ewigkeit,39 die beiden Tagebücher40 und die Schrift Von der Physiognomik41 sowie die nachfolgenden vier Bände der Physiognomischen Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe42 die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen und bewirkten, dass Lavater bald schon im Brennpunkt verschiedenster Themenbereiche stand. Mit seinem Denken ging Lavater von Beginn seines Schaffens an bis an die Grenzen des noch über Verstand und Vernunft Erklärbaren und verstärkte damit die Diskussionen um die Bedeutung des Menschen innerhalb der göttlichen

35 Vgl. Marti, Hanspeter/Marti-Weissenbach, Karin (Hg.), Reformierte Orthodoxie und Aufklärung, Wien u. a. 2012. 36 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Ursula, „Wegzuleuchten die Nacht menschlicher Lehren, die Gottes Wahrheit umwölkt“ – Johann Caspar Lavaters literarische Suche nach dem Göttlichen im Menschen, dargestellt an den Wurzeln der Zürcher Aufklärung, in: Anett Lüttken/Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.), Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, Göttingen 2009, 497–533. 37 Vgl. Ursula Caflisch-Schnetzler, Die historisch-kritische Edition der Werke Johann Caspar Lavaters, vorgestellt am Beispiel der frühen Werke, in: Annette Sell (Hg.), Editionen – Wandel und Wirkung, Tübingen 2007 (= Beihefte zu editio, Bd. 25), 145. 38 Lavater, Johann Caspar, Schweizerlieder, Bern 1767; vgl. JCLW I, 313–726; vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 318.1. 39 Lavater, Aussichten; vgl. JCLW II; vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 64.1–4. 40 Lavater, Johann Caspar, Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst, Leipzig 1771; vgl. JCLW IV, 21–255; vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 183.1; Lavater, Johann Caspar, Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773; vgl. JCLW IV, 711–1051; vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 183.6. 41 Lavater, Johann Caspar, Von der Physiognomik, Leipzig 1772; vgl. JCLW IV, 515–708; vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 378.1–2. 42 Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig 1775–1778; vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 274.1–4. Die Physiognomischen Fragmente wurden noch während Lavaters Lebenszeit in verschiedene Sprachen übersetzt; vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 274.5–274.44.

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Schöpfung.43 Seine Sicht auf die Physiognomik als empirische Lehre sowie seine sprachlich und stilistisch neu gestaltete Werkform in den Physiognomischen Fragmenten wie in seiner Korrespondenz44 prägten den anthropologischen Diskurs im 18. Jahrhundert denn auch entscheidend mit. Weit über dreißig Jahre lang korrespondierte Lavater mit Repräsentanten der Aristokratie, mit Literaten, Publizisten und Übersetzern, Künstlern, Theologen, Juristen, Ärzten, Philosophen, Pädagogen, Philologen, Mathematikern und Naturwissenschaftlern in der Schweiz, in Deutschland und in zahlreichen weiteren europäischen Staaten. Der überlieferte Briefbestand zeigt ein weit gefächertes Themenfeld und gibt Auskunft über die Wissenskultur sowie Phänomene des intellektuellen Kulturaustausches im 18. Jahrhundert. Lavater hatte Kontakt mit den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren seiner Zeit, unter anderem mit Wieland, Klopstock, Herder, Goethe, Gleim und Claudius; er diskutierte mit ihnen Fragen der Dichtung und Poetik und suchte im Kontext der monumentalen Physiognomischen Fragmente und seines Physiognomischen Kabinetts engen brieflichen Kontakt zu Ärzten und Naturwissenschaftlern, zu Malern und Kupferstechern, Verlegern und Sammlern.45 Lavater war ein Beziehungsgenie. Er lebte mit den geistigen und theologischen Strömungen seiner Zeit in einer intensiven Kommunikation wie nur wenige seiner Zeitgenossen. Sein Leben und Werk war denn auch in einer äußerst engen Weise mit Kultur und Gesellschaft, Theologie, Philosophie, Pädagogik und der Kirche des 18. Jahrhunderts verflochten. Während seines Theologiestudiums am Collegium Carolinum in Zürich wurde er durch seine Lehrer mit den Gedanken und der Literatur der Aufklärung vertraut gemacht. Bei seinem anschließenden neunmonatigen Studienaufenthalt in Johann Joachim Spaldings (1714–1804) „Elysium“ erhielt er bereits in jungen Jahren eine intensive Schulung in gelehrter Freundschaft und Kommunikation.46 Seine Ausbildung in Zürich, das Studienjahr bei Spalding und die auf der Reise erfahrenen Bekanntschaften mit den bedeutendsten Gelehrten in Deutschland sowie sein immer reger Geist bewirkten, dass sich Lavater ein Leben lang zu einer ständigen Auseinandersetzung mit den Gedanken der Zeit veranlasst sah – mit jenen Gedanken, die er in seinem Werk und in seiner schriftlichen und mündlichen Kommunikation selbst entscheidend von Zürich aus mitprägte.

43 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Ursula, Johann Caspar Lavater, in: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.), Handbuch Sturm und Drang, Berlin/Boston 2017, 136–142. 44 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Ursula, Die Bedeutung von Kommunikationsnetzwerken für die Entwicklung der deutschen Sprache im 18. Jahrhundert, in: Michael Prinz/Jürgen Schiewe (Hg.), Vernakuläre Wissenschaftskommunikation. Beiträge zur Entstehung und Frühgeschichte der deutschen Wissenschaftssprache, Berlin/Boston 2018, 87–100. 45 Vgl. Weigelt, Horst, Zum Inhalt der Briefe Lavaters, in: JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, 20. 46 Althaus, Karin, Lavaters Begegnungen und die Formen seiner Kommunikation, in: Mraz/Schögl (Hg.), Das Kunstkabinett, 33; vgl. auch Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebücher, Teil I: Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, hg. v.  Horst Weigelt, Göttingen 1997.

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4. Zürich im 18. Jahrhundert als geistiges Zentrum Zürich ist wirklich ein unvergleichlicher Ort, nicht nur wegen seiner vortrefflichen Lage, die unique in der Welt ist, sondern auch wegen der guten und aufgeweckten Menschen, die darin sind. Statt daß man in dem großen Berlin kaum 3 bis 4 Leute von Genie und Geschmack antrifft, trifft man in dem kleinen Zürich mehr als 20 bis 30 derselben an. Es sind zwar nicht alle Ramlers47; allein sie denken und fühlen doch Alle und haben Genie, Einer zur Poesie, der Andre zur Malerei, Kupferstechen u.s.w., und sind dabei lustige und witzige Schelme.48

Abb. 4: „Prospekt der Stadt Zürich“. Radierung koloriert von Johann Rudolf Holzhalb nach einer Zeichnung von Johann Jakob Koller 1781. Zentralbibliothek Zürich.

Zürich zählte im 18. Jahrhundert um die 10.000 Einwohner und war damit längst aus dem Status einer Kleinstadt herausgewachsen.49 Man nahm die Stadt von außen als reich und dennoch mit einer gewissen „Modestie“ war und bewunderte die Lage

47 Karl Wilhelm Ramler (1725–1798); Dichter und Philosoph, als deutscher Horaz bezeichnet. 48 Ewald von Kleist an Ludwig Gleim, 22.11.1752, in: Kleist, Ewald von, Ewald von Kleist’s Werke, Teil II, hg. v. August Sauer, Berlin 1881, 212; vgl. auch Wysling (Hg.), Die Literatur, 134. 49 Vgl. dazu und im Weiteren, Ulrich, Familie Ulrich, Bd. 1, Einleitung.

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am See und an den beiden Flüssen Limmat und Sihl. In Zürich selbst war man sich bewusst, in einer Republik zu leben, und stolz auf ein Bürgerrecht in dieser Stadt. Dies verpflichtete jedoch zu strikten Umgangsformen, die zum Teil als umständlich, jedoch nicht als servil empfunden wurden. Der „esprit d’égalité“, wie man ihn nannte, und damit der Zusammenhalt des Bürgertums zwischen Kaufleuten, Theologen und Handwerkern war und blieb oberstes Prinzip in Zürich, so dass der „Sohn des grössten Herrn vor dem gemeinsten Bürger nichts zum voraus“50 hatte. Ehre und Standesbewusstsein waren jedoch eng miteinander verbunden und das „Noblesse oblige“51 eine stete Verpflichtung, nach der man handeln musste, wollte man der Gesellschaft in Zürich zugehörig bleiben.52 Um zu der Führungsschicht – zum Patriziat – von Zürich zu gehören, brauchte es Einiges an Anstrengung und verschiedene Anforderungen, sei dies im Ansehen der eigenen Familie, über sein Amt oder auch über den Wohlstand. Aus diesen Gründen und dank dem Egalitarismus sah man in Zürich bis zum Ende des Ancien Régime 1798 die Familien auf oberster Ebene kommen und gehen. Im täglichen Leben eines jeden Zürchers, einer jeden Zürcherin, spielte die Kirche eine absolut zentrale Rolle. Der Zürcher Rat behielt jedoch als weltliche Macht das letzte Wort im Staat. Der geistliche Stand nahm in enger Verbindung zwischen Staat und Kirche seit der Reformation grundlegend Einfluss auf die Bevölkerung. Kirchliches Oberhaupt in Zürich war der Antistes. Er amtete nicht nur als Pfarrer am Zürcher Grossmünster, der ersten der vier Stadtkirchen, sondern hatte auch die Chorherren und das Collegium Carolinum mit seinen Professoren und Studenten unter sich und verwaltete damit eigentlich das gesamte Bildungswesen. Als höhere Ausbildungsstätte gab es bis 1773 in Zürich einzig diese Hohe Schule, welche neben den alten Sprachen und Geschichte in drei Stufen Lehrgänge in Philologie, Philosophie und Theologie anbot.53 Abschließen konnte das Studium nur, wer sich zum Theologen ausbilden ließ und sich damit als Diener des göttlichen Wortes der Zürcher Kirche verpflichtete und als solcher Verbi Divini Minister Exspektant und Anwärter auf ein Pfarramt im Stadtstaat Zürich wurde. Ständige Weiterbildung war im geistigen Zürich des 18. Jahrhunderts nicht nur für die Theologen oberstes Gesetz; Gelehrsamkeit stand allgemein im „LimmatAthen“ des 18. Jahrhunderts in hohem Ansehen. Eine absolut lückenlose Bildung war denn auch Voraussetzung zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Johann Jakob Wilhelm Heinse (1746–1803) spottete zwar 1780 bei seinem Besuch, dass es

50 Hirzel, Hans Caspar, Das Bild eines wahren Patrioten, Zürich 1767, 334; vgl. Ulrich, Familie Ulrich, Bd. 1, Einleitung, 89. 51 Caflisch-Schnetzler, Ursula, Noblesse oblige – Lavater und die europäischen Fürstenhäuser, NOLI ME NOLLE. Jahresschrift 2021, Zürich 2021, 28–39. 52 Vgl. Ulrich, Familie Ulrich, Bd. 1, Einleitung, 11. 53 Zur Ausbildung am Collegium Carolinum in Zürich vgl. Caflisch-Schnetzler, Ursula, Gelehrte Wissenschaft versus nützliche Wissenschaft. Das Collegium Carolinum in Zürich im Spiegel der Ausbildung von Gelehrten, in: Hanspeter Marti/Karin Marti (Hg.), Reformierte Orthodoxie und Aufklärung. Die Zürcher Hohe Schule im 17. und 18. Jahrhundert, Wien u. a. 2012, 305–307.

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in Zürich von Gelehrten nur so wimmle, doch musste er auch bewundernd feststellen, dass man „an die achthundert“ lebende Personen in Zürich zähle, die alle „etwas haben drucken lassen“.54 Der in Zürich geschulte, gebürtige Winterthurer Johann Georg Sulzer (1720–1779) litt denn auch als Pädagogik- und Ästhetikprofessor in Berlin am Niveau dieser Stadt und beklagte sich daher bitterlich bei Johann Jacob Bodmer, dass „in Zürich gewiss zehen lesende und denkende Köpfe [seien] gegen einen in diesen Gegenden“.55 Johann Caspar Lavater wuchs als Spross einer gut bürgerlichen und wohlhabenden Familie in dieser von Geist pulsierenden Stadt auf. Er wurde über seine Familie56 und seine Lehrer in seiner Ausbildung zum Theologen mit dem Gedankengut der Aufklärung vertraut gemacht. Selbst verpflichtete er sich als reger Geist in der Gemeinschaft seiner ebenfalls gelehrten Freunde,57 sich mit den Themen der Zeit intensiv auseinanderzusetzen und immer wieder selbst, wie er an seinen kritischen Freund und Mentor Johann Georg Zimmermann (1728–1795) am 28. März 1766 schreibt, „von neüem alle entflammenden Ideen zusammenzunehmen“, die ihn „aus dem Schlendrian in neüe Reiche mächtiger Bewegungsgründe erheben“ sollen.58

5. Biografie Ich, Johann Caspar Lavater ward gebohren den 15 Wintermonats 1741, nachmittags um 1 Uhr, zu Zürich, im Hause zum Waldreis. Ich kam so unversehns schnell, daß meine Mutter, ohne fremde Hülfe, sich plötzlich von mir entbunden sahe, und in unbeschreiblicher Angst aus dem Bette (der hintern Stube auf dem zweyten Boden) schier die Stimme ausschreyen mußte, daß ihr jemand [Streichung] u: besonders [Streichung] dem erblassenden Kinde zu Hülfe eilen mögte. Ausathmend lag ich zwischen ihren Knieen. Sie hielt mich mit bebenden Armen – Aber Keine Hebamme da! Nur, Anna Körner, der Hebamme Schwester, eine treue Wärterinn, hohlte schnell Knoblauch, kaute ihn, und haucht’ ihn mir in die Nase.

54 Heinse, Johann Jakob Wilhelm, Sämmtliche Schriften, Bd. IX, Briefe II, Leipzig 1838, 85; vgl. Ulrich, Familie Ulrich, Bd. 1, Einleitung, 34. 55 Johann Georg Sulzer an Johann Jacob Bodmer, 17.12.1769, in: Johann Georg Sulzer – Johann Jakob Bodmer. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, 2 Bde., hg. v. Elisabeth Décultot und Jana Kittelmann, Göttingen 2020, Bd. 1, 473. 56 Sein Vater Heinrich Lavater (1698–1774) war Arzt und Apotheker, seine Mutter, eine geborene Escher vom Glas (1706–1773), eine sehr belesene Frau aus bestem Haus. Vgl. dazu auch Farner, Oskar (Hg.), Lavaters Jugend von ihm selbst erzählt. Mit Erläuterungen, Zürich 1939, 11–14. 57 Vgl. die Briefsammlung an die Freunde Felix, Heinrich und Johann Jacob Hess sowie an Heinrich Meister aus den Jahren 1759 bis 1764, in: [Caflisch-]Schnetzler, Ursula, Johann Caspar Lavaters Tagebuch aus dem Jahre 1761, Pfäffikon ZH 1989, 119–292; vgl. dies., Fromme Freundschaften. Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füssli und Felix Hess, PuN 41 (2015), 112–125. 58 Lavater an Johann Georg Zimmermann, 28.03.1766, ZBZ, FA Lav Ms 589b.

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Abb. 5: Lavater, Autobiographie bis 1755, verfasst 1779–1782, ZBZ, FA Lav Ms 1.

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Ursula Caflisch-Schnetzler

Der scharfe Geruch brachte mir endlich die Lebensfarbe, und meiner bestürzten Mutter die Ruhe wieder – und endlich kam die Hebamme, und vollendete, was zu vollenden war.59

Johann Caspar Lavater wuchs in diesem geistigen, jedoch auch von klaren Regeln bestimmten Klima auf. Er durchlief die verschiedenen Schulstufen, wurde 1762 Pfarrer und zeigte sich bald schon mit Werken auch als Autor. Bei seiner ersten Anstellung mit 28 Jahren als Diakon an der Waisenhaus- oder Oetenbachkirche wohnte er noch bei seinen Eltern im Haus „Zum Waldries“ und verließ dieses mit seiner 1766 geheirateten Frau Anna (1742–1815) und den Kindern erst, als er 1778 zum Diakon (Helfer) an die St. Peterskirche (eine der vier Stadtkirchen) gewählt wurde und damit auch eine eigene Amtswohnung, die „Reblaube“ und ein gutes Einkommen erhielt. 1786 wurde Lavater erster Pfarrer an der St. Peterskirche,60 wo er ab 1784 bis zu seinem Tod im auch heute noch so bezeichneten „Lavaterhaus“61 lebte und sich in seinem Studierzimmer offensichtlich sehr gut eingerichtet hatte, wie von einem Besucher berichtet wird: Kein Museum irgend eines Gelehrten […] wird, in Absicht auf den Ordnungsgeist, Geschmack = Bequemlichkeit und Eleganz diesem den Hauptrang so leicht streitig machen. Die Büchersammlung scheint erlesen, besonders im theologischen und artistischen Fache. Für zierlichen Einbinderschmuck, welcher dem Auge jederzeit wohlthut, ward auch die mögliche Sorge getragen. Die Manuscripte sind in etiquettirten Pappenkasten geordnet.62

59 ZBZ, FA Lav Ms 1: Autobiographie bis 1755, verfasst 1779–1782; vgl. Farner, Lavaters Jugend, 11. – Vgl. dazu auch Goethes Beschreibung seiner Geburt, in: Goethe, Dichtung und Wahrheit, 10: „[…] durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte.“ 60 Vgl. Matthisson, Erinnerungen, 96: „In Zürich verweilen, ohne den berühmten Lavater zu begrüßen, das heißt: sich in Rom herumtreiben, ohne das Antlitz des Mannes zu schauen, welcher auf dem Stuhle des heilgen Petrus thront“; ebd., 97: „Lavaters merkwürdiges Profil ist, gleich den Profilen Dante’s und Friedrichs, selbst von der ungeübtesten Hand kaum zu verfehlen.“; Braunschweiger, von, [ohne Vorname], Promenade durch die Schweiz, Hamburg 1793, 67: „Er [Lavater] hat eine scharf gezeichnete Physiognomie; sie ist interessant und gefallend, ohne schön zu seyn. Sein Auge ist braun, und liegt etwas tief, sein Blick durchdringend, wenn er lange auf einem haftet; sein Haar schwarz und rund abgeschnitten in natürlichen Locken. Er trägt eine Kapuze darauf, wie die Pfaffen.“ 61 Im Lavaterhaus an der St. Peter-Hofstatt 6 in Zürich befindet sich seit 2012 die Sammlung Johann Caspar Lavater. Vgl. https://www.lavater.com/sammlung. 62 Matthisson, Erinnerungen, 99f; Ulrich, Familie Ulrich, Bd. 1, Einleitung, 92.

„Der ich gewißermaßen in einem Mittelpunkt stehe“

Vor Lavaters Studierzimmer stand das „fürtreffliche Gemälde“ von ihm „selbst mit seinem Sohne von Lips gemalet“. Dieses überlebensgroße Ölbild, welches sich heute in der Sammlung Johann Caspar Lavater im „Lavaterhaus“ wieder an der St. Peter-Hofstatt befindet,63 stand damals „mit dem Fußboden gleich und statt der Einfassung“ waren „zwei Thüren, wie zum Eingang in ein Kabinett gemacht […] Die Stellung ist vollkommen nach der Natur und die Personen gut getroffen, so daß man, wenn die Thüren geöffnet werden, überrascht wird.“64 Lavater zog als Pfarrer und Autor die Menschen magisch an,65 besonders in Zürich selbst, wo man über eine Verordnung nach seinem Amtsantritt 1779 befehlen musste, dass nur jene Leute die Predigten in der St. Peters-Kirche aufsuchen durften, die zur Gemeinde gehörten wegen des „Zudringens in die Gänge“ der Kirche als auch des „unanständigen Gelärms“.66 Der Zürcher Theologe wurde jedoch auch von ihm unbekannten Menschen auf seinen zahlreichen Reisen bedrängt, so dass er vor und während sei-

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Abb. 6: Ölgemälde von Johann Heinrich Lips, Doppelporträt von Johann Caspar Lavater mit Sohn Heinrich Lavater, gemalt 1785/86, Sammlung Johann Caspar Lavater.

63 Vgl. dazu Caflisch-Schnetzler, Ursula, Sich zum Bilde – Johann Caspar Lavater und Johann Heinrich Lips. Mit 15 Abbildungen, LIBRARIUM. Zeitschrift der Schweizerischen Bibliophilen-­Gesellschaft, Heft 1 (2020), 40–55. 64 Braunschweiger, Promenade, 67; Kruse, Joachim, Johann Heinrich Lips 1758–1817. Ein Kupferstecher zwischen Lavater und Goethe, Coburg 1989, 320. 65 So schrieb er u. a. an Anna Barbara von Muralt, dass ihn „Fremde verschlingen“. Vgl. JCLW, Ergänzungsband Anekdoten, Bd. II (Kommentar), 559. 66 Moos, David von (Hg.), Turicum Septulum & tantum non ignoratum indagatum atque retectum, [s.l.] 1779, 186–187: „Donnerstags den 14. Jenner, erschien in den Donnerstags=Nachrichten von Seiten Lobl. Stillstandes bey St. Peter eine Publikation, daß sich diejenigen, welche keine eigene Oerter in der dasigen Kirche haben, und wirklich keine Gemeinds=Genossen sind, vornehmlich aber die Dienstbotten, Handwerks=Gesellen, und andere Personen aus den Gemeinden um die Stadt herum, des höchstbeschwerlichen Zulaufs in diese Kirche, des Zudringens in die Gänge sowol in der Untern, als auf der Empor=Kirche, besonders aber des aller Orten im Wegstehens, und des daraus erfolgenden höchst unanständigen Gelärms, gänzlich, und bey zu gewartenhabender Verantwortung müßigen soll. – ‚Seye nun (sagt der Verfasser der monatl. Schweizerischen Nachrichten in Zürich gesammelt) Modenliebe, Schwärmerey, oder wahre Erbauungs=Begierde der Grund dieses unerhörten Zulaufs, so ist’s und bleibt’s immer in unsern Tagen ein seltsames Phänomen, und Fremde, und die Nachkommen werden sich einst wundern über Zürich, wo man 1779. befehlen mußte, im Predigtbesuchen Ziel und Maß zu halten.‘“

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ner Predigten geschützt werden musste.67 Goethe führte diese Begeisterung auf das Besondere an Lavaters Predigten zurück, in denen Lavater „jede Terminologie wegschmeisst, aus vollem Herzen spricht und handelt und seine Zuhörer in eine fremde Welt zu versetzen scheint, indem er sie in die ihnen unbekannten Winkel ihres eigenen Herzens führt“.68 Lavater starb am 2. Januar 1801 mit 59 Jahren an den Folgen einer Schussverletzung, die er sich im zweiten Zürichkrieg 1799 zugezogen hatte, als er sich um einen französischen Soldaten kümmern wollte.69 Er hinterließ ein Werk, das unter dem Motto „Nulla Dies sine Linea“70 den ganzen Charakter seines Wesens zeigt, den er selbst bereits mit achtzehn Jahren erkannt und wie folgt beschrieben hatte:

Abb. 7: Schattenriss, Sammlung Johann Caspar Lavater.

Abb. 8: Der junge Lavater von ihm selbst gezeichnet 1766, Sammlung Johann Caspar Lavater.

67 Anna Barbara von Muralt hält in ihren Anekdoten (JCLW, Anekdoten I, 383) betreffend Lavaters Besuch 1786 in Bremen fest: „Müßte immer Mit 6 Soldaten – auf u. von der Canzel begleitet werden – standen bey 3000 Menschen auf dem Kirchhof “. 68 Goethe, Johann Wolfgang, Goethe’s sämtliche Werke in dreißig Bänden. Vollständige, neugeordnete Ausgabe, Bd. 21, Stuttgart 1858, 354. 69 Vgl. Lavater, Nachricht von einem fatalen Vorfall; vgl. JCLW, Ergänzungsband Bibliographie, Nr. 254.1–5. 70 Vgl. dazu Caflisch-Schnetzler, Ursula, Die Brüder Johann Caspar und Diethelm Lavater und ihre Wurzeln in der Zürcher Aufklärung, in: NOLI ME NOLLE. Jahresschrift der Sammlung Johann Caspar Lavater, Zürich 2016, 10.

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Ein langer magrer Mensch, weiblicher Gesichtsbildung – Das Lachen ist eine gemeine Bewegung seiner Lippen = doch das Lächeln seiner Seele entloken ernsthaftere Dinge eher. Seine Blutmischung macht seine Einbildungskraft feürig und wild; und läßt, ihn selten aufs Mittelmäßige fallen. Seine auf allzu viele Gegenstände ziehlende Wißensbegird, beweißt daß er ziemlich flüchtig ist: […] Sein menschenliebendes Herz ist mehr eine Gebuhrt der Natur als der Tugend. Würde das Aug seines Verstandes nur auf seinen Zwek sehen; so dörfte er größerer Dinge würken: Liebt er so liebt er feürig – Lang kann er nicht haßen. Viellicht könte seine zu große Liebe für Freünde Niederträchtigkeit gebähren.71

Lavater war 1759 noch Theologie-Student am Collegium Carolinum, als er diese Selbstanalyse mit achtzehn Jahren an seinen Freund Johann Heinrich Hess (1741– 1770) schrieb. Er pflegte bereits einen kleinen Korrespondentenkreis mit seinen Freunden, hatte sich aber bis dahin öffentlich noch nicht mit einer eigenen Schrift gezeigt. Über seine Lehrer Bodmer und Breitinger wurde er am Carolinum mit der zeitgenössischen theologischen, philosophischen, poetischen und vaterländischen Literatur vertraut gemacht und rezipierte diese in seinem Tagebuch und in seinen Briefen ausführlich.72 Während seiner späteren Studien nahm er dank seiner „ziehlende[n] Wißensbegierd“ und seiner Auffassungsgabe die Themen der Zeit auf und setzte sie vernunftorientiert und christlich konnotiert in seinem Werk und seiner Korrespondenz im Hinblick auf die Bedeutung des Menschen innerhalb der göttlichen Schöpfung um. Die Betrachtung über die Bestimmung des Menschen wurde 1748 erstmals von dem aufgeklärten Reformtheologen Johann Joachim Spalding in seinem gleichnamigen Werk,73 einem Bestseller des 18. Jahrhunderts, theologisch definiert. Diese Lektüre sowie sein späterer Aufenthalt bei Spalding selbst beeinflussten Lavaters Bild des Menschen als Individuum und als Abbild Gottes entscheidend mit. Die Bedeutung des Menschen als Individuum und als Abbild Gottes versuchte er über das „Aug des Verstandes“ in seinen zahlreichen Werken zu erforschen und zu analysieren; seine „Einbildungskraft“ sollte die „größere[n] Dinge [be]würken“.

6. Literarische Strömungen Die Einbildungskraft in der Literatur wurde in Zürich von Bodmer und Breitinger im Zeitalter der Aufklärung auch für die christliche Dichtung forciert proklamiert. Dichtung sollte sich nach deren Verständnis nicht mehr einzig an den Verstand des Menschen richten, sondern auch dessen Einbildungskraft und Phantasie anre71 Lavater an Johann Heinrich Hess, 29.08.1759, ZBZ, FA Lav Ms 565; vgl. [Caflisch-]Schnetzler, Lavaters Tagebuch, 204. 72 Vgl. [Caflisch-]Schnetzler, Lavaters Tagebuch. 73 Spalding, Johann Joachim, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, Greifswald 1748; vgl. besonders auch die 1749 in Berlin erschienene dritte und vermehrte Auflage dieses Werks.

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gen. Die beiden Literaturtheoretiker stellten sich mit ihren Thesen gegen jenen 1730 von Johann Christoph Gottsched (1700–1766) verfassten Versuch der Critischen Dichtkunst74 und damit gegen Gottscheds Regelpoetik. In ihrer Betrachtung stand die ästhetische Wirkung der Dichtung im Zentrum und damit die Frage, wie ein poetisches Gedicht beschaffen sein muss, und nicht, wie es gestaltet ist. Ein Gedicht und Dichtung allgemein sollte vermögend sein, „uns das Hertz zu rühren“ und den Leser in seinem Innersten zu bewegen (movere).75 In Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724–1803) Heldengedicht Der Messias76 sahen die beiden Zürcher Professoren ihre Theorie von christlicher Dichtung umgesetzt, da sich der Schwerpunkt der Dichtung mit dessen Werk vom Wahrscheinlichen zum Wunderbaren verlagerte und damit zur heilige[n] Poesie77 wurde, die der creator spiritus des Dichters erzeugte. Dichter wie John Milton (1608–1674) und Klopstock schrieben die biblische Offenbarung unter diesem Aspekt und animierten jüngere Autoren wie Wieland, Herder, Goethe und auch Lavater, Werke in ihrer eigenen Sprache und in der eigenen Manier zu verfassen und sich nicht mehr einzig ans Diesseits zu halten, sondern über ihre Imagination als Dichter mit ihrem Schöpfergeist in neue Welten vorzudringen.78 In den Aussichten in die Ewigkeit zeichnete Lavater denn auch in fünfundzwanzig fiktiv an seinen Freund und Mentor Zimmermann geschriebenen Briefen in einer einzigartigen Utopie seine Vorstellung von der jenseitigen Welt, die er als Folge der diesseitigen entwickelte, für die Gelehrtenwelt auf.79 Lavater geht dabei von Analogien aus und von dem philosophischen Gedanken bei Charles Bonnet (1720–1793), dass ein jeder Mensch einen Keim besitze, eine Seele, die er in Stufen über seinen Verstand, seine Vernunft und seine Tugend entwickeln könne. Diesen Keim, diese von Lavater nun göttlich konnotierte Seele gelte es zu beobachten, denn wer Gott erkennen wolle, müsse sich zuerst selbst erkennen. Auch das Evangelium bringe nichts in die menschliche Natur hinein, was nicht bereits im Herzen und der Seele eines jeden Menschen vorhanden sei. Nosce te ipsum, erkenne dich selbst, ist Lavaters Forderung an sich und an die Leser seiner Werke, damit sie als Abbild Gottes den göttlichen Teil in sich selber finden und diesen über ihre eigenen Kräfte mit Hilfe ihres Verstandes, ihrer Vernunft und ihrer Tugend möglichst nah hin zum Mensch gewordenen Gott weiter entwickeln. Theologie – so folgert der gläubige Protestant und der der Aufklärung verpflichtete Theologe Lavater – sei „Historie dessen, was Gott“ außerhalb des Menschen getan habe; die Religion ist für ihn der Glaube des Menschen an das, was Gott an ihm selbst „gethan hat, thut und thun wird“. „Alles ist Natur. Der Mensch ist Natur. Was Menschen sind,

74 75 76 77

Gottsched, Johann Christoph, Versuch einer Critischen Dichtkunst, Leipzig 1730. Wysling (Hg.), Die Literatur, 142. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Messias. Ein Heldengedicht, 4 Bde., Halle/Kopenhagen 1751–1773. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Von der heiligen Poesie, in: Ders., Der Messias, Bd. 1, Kopenhagen 1755, IX–XIX. 78 Vgl. JCLW V, 895f. 79 Vgl. JCLW II.

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sind sie ganz durch Gott – oder eigentlicher aus Gott durch Christum. Alles ist in dem Menschen, was aus dem Menschen werden soll.“80 Gott finde sich denn auch „nirgends außer [in] seinen Geschöpfen“. Er sei „das Herz und das Haupt der Schöpfung“ und er sei „die Weisheit, die Liebe, die Kraft dieses Christus“, dem „Ebenbild der ganzen sichtbaren Schöpfung – und insonderheit des Menschen – Gott ist alles in allem“.81

7. Physiognomik – Individualität – Freundschaft „Gott schuf den Menschen sich zum Bilde!“82 ist denn auch das Motto von Lavaters vierbändigem Werk, seinen Physiognomischen Fragmenten, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, welches er von 1775 bis 1778 in der deutschen Ausgabe in Zusammenarbeit mit Goethe, Lenz, Herder, Zimmermann u. a. m. unter seinem Namen in Winterthur bei Johann Heinrich Steiner (1747– 1827) und in Leipzig bei Philipp Erasmus Reich (1717–1787) herausgab. Mit der Suche nach der Bestimmung des Menschen und dem damit verbundenen anthropologischen Interesse setzte im 18. Jahrhundert eine eigentliche Renaissance der seit der Antike bezeichneten Lehre von der Sichtbarkeit der seelischen Eigenschaften ein. Ausdruck fand diese besonders in Lavaters Abhandlung Von der Physiognomik und erreichte ihren Höhepunkt in dessen Physiognomischen Fragmenten und seinem Physiognomischen Kabinett. Physiognomik definierte Lavater in seinem Werk als „die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menschen sein Inneres zu erkennen“.83 Physiognomik wird zum Wissen und zur Erkenntnis „des Verhältnisses des Aeußern mit dem Innern; der sichtbaren Oberfläche mit dem unsichtbaren Innhalt“.84 Verbindet man diese Analogie mit Lavaters Inkarnationschristologie und seiner Forderung nach Selbsterkenntnis, so wird deutlich, dass für ihn jeder Mensch – in perfekterer oder minder ausgebildeter Form – ein Ebenbild des Göttlichen ist. Daher ist für ihn in seiner Lehre von der Physiognomik besonders die „Kenntniß der Gesichtszüge und ihrer Bedeutung“85 zentral, da das menschliche Gesicht der sichtbare Teil und damit von aussen her eine mehr oder minder getreue Kopie des Antlitzes Christi darstellt. Lavater definierte den Menschen nicht nur als Teil der göttlichen Schöpfung, sondern maß ihm auch Kräfte

80 Lavater an Friedrich Jakob Ströhlin, 30.01.1774, ZBZ, FA Lav Ms 583; vgl. JCLW V, 435 (mit leichten Abweichungen im Druck). 81 Lavater an Johann Konrad Deinet, 24.[01.]1772, ZBZ, FA Lav Ms 557; vgl. JCLW V, Anm. 83, 95. Vgl. dazu auch Pestalozzi, Hoffnung auf Goethe, 267. 82 Gen 1,27. 83 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, Leipzig 1775, 13. 84 Ebd. 85 Ebd.

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zu, sich selbst dem „vollkommensten Wesen in dem unermeßlichen Reiche der Gottheit, dem Gottmenschen“ – also Christus – anzunähern.86 Um seine Gedanken zur Physiognomik möglichst präzise und allgemein gültig ausdrücken zu können, bedurfte es einer differenzierten Sprache, deren Wörter und Form im Deutschen erst noch erschaffen werden mussten.87 Den Diskurs um die notwendige Ausdehnung der Sprache zur Beschreibung der Bedeutung des Menschen innerhalb der göttlichen Schöpfung führte Lavater in seiner Korrespondenz88 – unter anderem auch mit Goethe, der in Zusammenarbeit mit Lavater die „innre Schöpfungskraft“ im Lied des Physiognomischen Zeichners im ersten Band der Physiognomischen Fragmente ebenfalls noch zu fassen suchte.89 Die Berliner Aufklärer um Friedrich Nicolai (1733–1811) wollten diesen neuen Schöpfergeist, diese junge Sprache in der Literatur nicht verstehen und akzeptieren und so auch nicht Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, welchen sie parodierten und mit ihren Kritiken heftig angriffen.90 Im Gegenteil zu ihnen jubelte Lavater über diese neue Form der emotionalen Dichtung und Sprache, die 86 Lavater, Aussichten, 212–214; JCLW II, 335. 87 Lavater fragte betreffend der Sprachfindung in den Physiognomischen Fragmenten auch Christoph Friedrich Nicolai in seinem Brief vom 20.05.1774 an. Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 576: „Aber die Sprache? Ich wünschte, jemanden [bey] der Hand zu haben, der mir péle méle alle physiognomischen Worte |: u: deren find’ ich welche neüe in Ihrem Briefe:| ausschrieb –“; bereits am 24.01.1766 schrieb er an seinen Freund und Mentor Johann Georg Zimmermann betreffend der sehr schwierigen Beschreibung von Physionomien (ZBZ, FA Lav Ms 589b): „Deine Anmerkung über die Physionomie der Kindern leüchtet mir sehr ein. Du hast recht. Da laßen sich die Linien der Unschuld etc. abnehmen. – Wenn mir nicht die Sprache zu dieser Kunst fehlte, so wäre es mir sehr leicht etwas darüber aufzusetzen. Aber, wie unendlich delicat muss die seyn! wie bestimmt, wie nüanciert!“ 88 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Die Bedeutung von Kommunikationsnetzwerken. 89 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, 272. 90 Vgl. dazu Nicolai, Friedrich, Freuden des jungen Werthers, Berlin 1775; vgl. Johann Georg Sulzer an Johann Jacob Bodmer, 4.11.1774, in: Sulzer, Briefwechsel, Bd. 1, 939: „Aber ich sehe eine noch schlimmere Kezerey [als den Beaux-esprit, UC-S] aufkeimen, die gewiß in kurzem allgemein werden wird. Empfindung, Gefühl, rein von aller pedantischen, kalten, dem Geschmake tödtlichen Überlegung; dieses ist izt der Wahlspruch derer, die das Ohr des Publicums haben. Sie werden diese Lehre in mancher Stelle der Leiden des jungen Werthers finden. Aber eben diese Wärme des Gefühles, von aller Vernunfft verlaßen, das nach dieser Leüte Sinn, das höchste und wünschbarste ist, jagte dem jungen Werther die Kugel durch den Kopf, nach dem es ihm unbeschreibliches Leiden verursachet hatte: eben diese Hize der Empfindung verführte den Göthe durch diese recht unbesonnene Schrifft dem Verehrungwürdig alten J. allen Freünden des jungen Werthers, und der guten Lotte selbst, eine Wunde zu schlagen, die noch tieffer und schmerzhafter seyn muß, als die, welche die tragische That des jungen Mannes selbst, ihnen geschlagen hatte. Zu solchen Dingen verführet diese Leüte ihr eigener Grundsaz auf den sie sich so viel einbilden.“ Gedruckt zu finden auch in, Caflisch-Schnetzler, Zürcher Aufklärung, 229. – Goethe seinerseits hatte bereits 1772 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen Sulzers Schöne Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur aufs Schärfste verurteilt (101, 18.12.1772, 801–807) und schmetterte nun den Kritikern seines Werthers den Prometheus entgegen: „Hier sitz’ ich, forme Menschen | Nach meinem Bilde, | Ein Geschlecht, das mir gleich sei, | Zu leiden, weinen, | Genießen und zu freuen sich, | Und dein nicht zu achten, | Wie ich!“ Vgl. dazu Caflisch-Schnetzler, Ursula/Richter, Thomas, Zwei Perspektiven auf Goethes Gedicht „Diné zu Coblenz“, in: Stéphane Boutin/Marc Caduff u. a. (Hg.), Festschrift für Barbara Naumann, Bielefeld 2019, 281f.

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Abb. 9: Goethe-Porträt von Johann Gottfried Saiter mit Lavaters Kommentar: „Goethe. Kraft des Auges fehlt, doch durchscheint Laune, Verstand, Geist.“ Sammlung Johann Caspar Lavater.

nur von einem genialen Schöpfergeist geschrieben werden konnte. „Goethes Werther (mir ganz unschädlich) halt ich fürs beste Buch, das Deutschland für mich hervorgebracht hat.“91

8. Bedeutung des Menschen Im 18. Jahrhundert stand die Frage nach der Bedeutung und dem Wesen des Menschen und nach dessen Glückseligkeit im Zentrum und damit auch jene nach dem Zusammenhang zwischen Körper und Seele, Natur und Gott, Philosophie und Theologie92 und nach der Form von Dichtung und Sprache, welche diese Gedanken ausdrücken sollten. Mit dem Aufbruch der Aufklärung, dem reinen Verstandesund Vernunftdenken, in die Empfindsamkeit des Sturm und Drangs trübte sich 91 Lavater an Marquise Antonia de Branconi, 8.06.1779, in: Ludwig Hirzel (Hg.), Lavaters Briefe an die Marquise Branconi, Leipzig 1877, 685; vgl. Caflisch-Schnetzler, Sulzer, 238. 92 Lavater an Gottlob David Hartmann, 24.03.1773, ZBZ, FA Lav Ms 563: „Vergeßung aller theologischen Lehrmeynungen und einfältiges Lesen der Schrift, besonders der biblischen Geschichte – ist der Weg, den ich zur Theologie wandle – Vergeßung aller philosophischen Lehrgebäude, und einfältiges Beobachten der Natur, und meiner selbst ist der Weg, den ich zur Philosophie wandle.“

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der Blick auf die Gemeinschaft der Sozietät und fokussierte sich verstärkt auf die Idiosynkrasie einzelner Personen und deren Werk. So richtete auch Lavater den einzelnen Menschen und dessen Glauben93 individuell auf die Ebenbildlichkeit Gottes aus und wurde dabei selbst als Individuum wahrgenommen, das in seiner ganz eigenen Anlage als solches in seiner Individualität einmalig und damit nicht fassbar ist. Goethe hatte mit seiner 1780 einmalig formulierten Frage an Lavater nach dem nicht fassbaren Individuum („Individuum est ineffabile“) in ihm dieses bereits zu dessen Lebzeiten gesehen und seine Antwort auf die Unfassbarkeit der Individualität in der Rezeption auf den Zürcher Theologen und Autor Lavater in Dichtung und Wahrheit gegeben.94 Johann Caspar Lavater prägte mit seiner Suche nach der (Selbst)Bestimmung des Menschen und nach den Fragen der göttlichen Schöpfung in der Natur während gut 30 Jahren mit seinem Werk und Wirken und mit seiner Korrespondenz die Zeit der Aufklärung, des Sturm und Drangs und der Empfindsamkeit. Das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts ließ im Diskurs denn auch solche Fragen kritisch, offen und interessiert zu, so dass literarische, gesellschaftliche und politische Umbrüche mit all ihren Folgen und unterschiedlichen Antworten stattfinden konnten. Mit seinen Werken, die Lavater auch als Fragmente, als fiktive oder reale Briefe, als Tagebücher oder Manuskripte gedruckt herausgab, regte er die ihn und die Zeit bewegenden Fragen bewusst an. Aus der Gemeinschaft seiner denkenden Leser, aus den gezielt daraufhin geführten Korrespondenzen und aus den persönlichen Gesprächen erfuhr er die verschiedenen Aspekte eines möglichen Ganzen. Er sah sich damit als ein Mensch, der als Individuum in seiner Zeit „gewißer­maßen in einem Mittelpunkt“ stand.

93 Lavater, Ausgewählte Schriften, Bd. 6, 228: „Keiner soll des Andern Glauben, Jeder soll einen eigenen individuellen Glauben, wie ein eigenes Gesicht, haben.“ 94 Goethe, WA I, Bd. 28, 264; Goethe, Dichtung und Wahrheit, 655: „Unser erstes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns aufs freundlichste, und ich fand ihn gleich wie mir ihn so manche Bilder überliefert hatten. Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir.“

Sabine Gruber

Zwischen Selbstbefragung und Publizität – Lavaters Tagebuch

Ich weiss mir kaum Schriften zu denken, die mit mehrerm Recht den Namen „Erbauungsschriften“ führten, die der ächten sittlichen Gemüthserbauung förderlicher wären, als moralisch-psychologische Bemerkungen über den Menschen, ernst und verständig angestellte Beobachtungen über sich selbst. Die wirksamsten unter allen würden unpartheiische und auf Hervorbringung wahrer Moralität abzweckende Tagebücher seyn: wenn sie gleichsam die Stelle eines vertrauten Freundes, eines treuen Gewissensraths vertreten, dem man auch die geheimste Regung des Herzens, den leisesten Wunsch, die vielleicht nur geahndete Begier offenbart. Streng und unerbittlich der Wahrheit gemäss, ohne sich selbst nachsichtig oder mitleidig zu schonen, aber auch ohne sich gleichsam eine schriftliche Büssung aufzulegen, ohne sich in den Schilderungen seiner selbst Unrecht zu thun, und – zum wenigsten in der Vorstellung – Sünde auf Sünde häufen zu wollen; sollte ein solches Tagebuch eine ernste Rücksprache mit sich selbst, mit seinem Gewissen enthalten. […] Je treuer das Gemählde, das vor uns lebt, ist, um so öfter werden wir unser eignes Selbst darin zu erkennen meinen, die angeführten Züge werden durchaus passend und anwendbar auf uns scheinen, wir werden glauben, dass unser Ich, und kein fremdes, das Wort führe. Wir werden bewegt, wir werden ermuntert, wir lernen uns selbst mehr erkennen, wir werden sittlicher, weil wir aufmerksamer auf unser Inneres geworden sind. – Man verzeihe mir diese Ausherzigung. Lavaters geheimes Tagebuch hat mich sehr natürlich darauf geführt. Man erkennt darin den aufmerksamen religiös-moralischen Selbstbeobachter, der sich auf jedem Tritt und Schritt belauscht, der den Gang seiner Gedanken und Empfindungen mit sorgsamer Strenge verfolgt, den ein weises Mistrauen zu sich selbst eher vielleicht sich Unrecht thun liesse, als dass er ein grader oder versteckter Schmeichler seiner selbst würde.1

Der Verfasser der überwiegend lobenden Besprechung von Johann Caspar Lavaters Tagebuch, aus der diese Zeilen stammen, war der Theologe und Pädagoge Johann August Nebe (1775–1854), der während seiner langen beruflichen Laufbahn von

1

Nebe, Johann August, Johann Kaspar Lavater. Ueber ihn und seine Schriften. Mit Erinnerungen aus meiner Reise in die Schweiz im Sommer 1800 in Beziehung auf Lavater und seine letzten Tage, Leipzig 1801, 35–38 [Hervorh. i. O. gesperrt], hier 36.

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Sabine Gruber

1801 bis 1802 Inspektor am Halleschen Waisenhaus war. Während einer Reise in die Schweiz im Jahr 1800 hatte Nebe den bereits schwer kranken Lavater kennengelernt und daraufhin das Werk veröffentlicht, dessen Bestandteil die oben zitierte Rezension ist: Johann Caspar Lavater. Ueber ihn und seine Schriften. Mit Erinnerungen aus meiner Reise in die Schweiz im Sommer 1800. Der zitierte Ausschnitt aus Nebes Text nennt mehrere Stichworte, die für die spätere Rezeption von Lavaters Geheimem Tagebuch von Bedeutung waren: Ȥ Das Geheime Tagebuch wird hier nicht als Ego-Dokument interpretiert, sondern der Gattung der Erbauungsschriften zugeordnet. Ȥ Nach Ansicht Nebes kann ein Tagebuch die Rolle eines vertrauten Freundes einnehmen. Ȥ Der Verfasser des Geheimen Tagebuchs ist, laut Nebe, streng und unerbittlich mit sich selbst. Ȥ Er hält im Tagebuch Rücksprache mit sich selbst und mit seinem Gewissen. Ȥ Die Lektüre eines fremden Tagebuchs kann auch Rezipienten aufmerksam auf ihr eigenes Inneres machen.

1. Das Geheime Tagebuch und das Tagebuch von 1761 Inwieweit diese Vermutungen Nebes zutreffen, wird im Folgenden zu diskutieren sein. Zunächst sollen jedoch noch einige Fakten über Lavaters Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst rekapituliert werden. Das Werk erschien bis 1773 in vier deutschsprachigen Auflagen. Die ersten beiden Auflagen aus den Jahren 1771 und 1772 erschienen im Leipziger Verlag Weidmanns Erben und Reich. Die erste Auflage, und nur diese, war mit einem Titelkupfer und 15 weiteren Kupferstichen versehen, war also sehr hochwertig ausgestattet. Bereits wenige Jahre später wurde das Tagebuch ins Niederländische übersetzt und erschien 1780 in Amsterdam im Verlag De Bruyn. Auch diese Ausgabe enthält – im Gegensatz zu den späteren deutschsprachigen Ausgaben – die Kupferstiche, die das Buch aufwerteten. Im Jahr 1795 erschien eine Übersetzung ins Englische.2 Johann Caspar Lavater begann 1769 mit der Niederschrift des Geheimen Tagebuchs und gab das Manuskript im Anschluss an einen unbekannten Freund weiter.3 Das geschah vermutlich mit der Intention einer Veröffentlichung, wenn auch Lavaters Name auf dem Titel des Erstdrucks fehlt. Herausgegeben wurde das Geheime Tagebuch dann von dem Leipziger Theologen Georg Joachim Zollikofer (1730–1788), der Veränderungen an Lavaters bald verschollenem Originaltext vor2

3

Zusammengestellt nach den Angaben von Caflisch-Schnetzler, Ursula, Einführung zu Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst, in: Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. IV: Werke 1771–1773, hg. v. U. CaflischSchnetzler, Zürich 2009, 23–55, hier 23f. Caflisch-Schnetzler, Einführung, 28.

Zwischen Selbstbefragung und Publizität – Lavaters Tagebuch

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nahm,4 was hinsichtlich der Autorschaft Lavaters mit bedacht werden muss. Mit dem Tagebuchschreiben begann Lavater allerdings nicht erst im Jahr 1769, sondern bereits einige Jahre zuvor, 1761. Sein früheres, 1761 begonnenes Tagebuch unterscheidet sich im Stil noch stark vom später veröffentlichten Geheimen Tagebuch. In diesem frühen Tagebuch ging es ihm noch nicht um Selbstbeobachtung, sondern vielmehr um eine Auseinandersetzung mit seiner täglichen Lektüre und um das schriftliche Festhalten seiner Tätigkeiten im Laufe eines Tages.5 Es war also noch kein introspektives Tagebuch, das Lavater hier führte, sondern ein Tagebuch, das als persönliche Chronik verwendet wurde und somit der ältesten bekannten Form von Tagebüchern entsprach. Erlebnisse während eines Tages sollten festgehalten und bei Bedarf rekapituliert werden können.6 Manchmal dienten solche chronikalischen Tagebücher auch als Grundlage für Memoirenliteratur. Erst beim Verfassen des Geheimen Tagebuchs vollzog sich für Lavater dann die Wende vom Tagebuch als einer Chronik täglicher Erlebnisse und Eindrücke zum Tagebuch als einem Medium der Selbstbeobachtung. Jetzt ging es Lavater vor allem darum, die Tiefen seines Herzens zu ergründen.7 Wie viele elaboriertere Tagebücher hat auch das Geheime Tagebuch eine dialogische Grundstruktur, und es sind latent Adressaten vorhanden.8 Elias Canetti (1905–1994) betonte diese dialogische Anlage von Tagebüchern in einem Essay und bezeichnete „ein Tagebuch, das nicht diesen konsequent dialogischen Charakter hat“, sogar als wertlos, er könne seines „gar nicht anders als in Form eines Selbstgesprächs führen.“9 Im Geheimen Tagebuch Lavaters spricht das Ich sein eigenes Herz an, aber auch Untugenden wie die Bequemlichkeit – „Bequemlichkeit, warst du Schuld daran?“10 heißt es im Tagebuch –, andere Adressaten, die innerhalb des Tagebuchs angesprochen werden, sind Gott und Lavaters verstorbener Freund Felix Hess (1742–1768). Das wichtigste Medium der Orientierung beim Tagebuchschreiben ist für Lavater die Bibel. An aus der Bibel übernommenen Grundsätzen und Vorbildern will er sich als Verfasser des Geheimen Tagebuchs messen, der „Gottestext [wird] zum Vorbild für den eigenen Lebenstext“.11 Deshalb sind den meisten Tageseinträgen Bibelstellen zugeordnet.

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Ebd., 29. Vgl. ebd., 33f. Boerner, Peter, Tagebuch, Stuttgart 1969, 16. „Du aber, mein Herz, sey redlich! Verbirg deine Tiefen nicht vor mir! Ich will Freundschaft mit Dir machen und einen Bund mit Dir aufrichten […].“ (Vgl. JCLW IV, 59–255, hier 79). Vgl. Holm, Christiane, Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen, in: H. Gold u. a. (Hg.), @bsolut? privat! Vom Tagebuch zum Weblog, (Eine Publikation der Museumsstiftung Post und Telekommunikation), Heidelberg 2008, 10–50, hier 31. Canetti, Elias, Dialog mit dem grausamen Partner, in: Ders., Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen einer Reise. Das Gewissen der Worte. Essays, (Gesammelte Werke 6), München/ Wien 1995, 142–158, hier 150. JCLW IV, 52. Caflisch-Schnetzler, Einführung, 40.

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2. Raffung und literarische Überformung Das Geheime Tagebuch beginnt mit dem 1. Januar 1769 und endet mit dem 31. Januar desselben Jahres. Tatsächlich entsprechen die den Tagen zugeordneten Erlebnisse jedoch nicht den Erlebnissen Lavaters an diesen Tagen. Begebenheiten, die er erlebte, erscheinen im Geheimen Tagebuch vielmehr zeitlich gerafft und auf die Tage eines einzigen Monats verteilt.12 Das Tagebuch gibt also nicht die Lebensrealität Lavaters wieder, sondern diese wurde von ihm literarisch überformt. Ziel der zeitlichen Raffung und Komprimierung seiner Erlebnisse auf einen Monat war wohl einerseits die Absicht, künftige Leser nicht durch Weitschweifigkeit zu langweilen – denn es ist zu vermuten, dass Lavater diese beim Verfassen seines Textes im Blick hatte, ungeachtet der Beteuerung „so will ich mir fest vornehmen, diese meine Beobachtungen niemals irgend einem Menschen, wer er auch immer seyn mag, zu zeigen“13, auf den ersten Seiten des Tagebuchs. Vor allem aber hatte die Konzentration auf das Wesentliche der Erlebnisse die Intention, das Allgemeingültige, auch auf andere Übertragbare am persönlichem Erleben hervorzuheben. Sibylle Schönborn stellt in diesem Zusammenhang fest, Lavater habe „aus den Erfahrungen seiner eigenen Praxis ein exemplarisches Tagebuch mit existentiell bedeutsamen Situationen aus dem Leben eines Christen“14 zusammenstellen wollen. Insofern als Lavater im Geheimen Tagebuch seine persönlichen Erlebnisse veränderte und neu arrangierte, um damit einen von ihm gewünschten Effekt zu erzielen, könnte man in Bezug auf das Tagebuch auch von Autofiktion sprechen – ein Begriff, der bisher vor allem für Autobiographien verwendet wird.15 Freilich geht die Komprimierung von Erlebnissen und Gedanken in nur einem Monat vor allem in zeitlicher Hinsicht noch über das meistens mit dem Terminus Autofiktion Bezeichnete – „Kombination von Autobiographie und Roman“16 – hinaus. Nach Sibylle Schönborn ist Lavaters Geheimes Tagebuch über die der Gattung Tagebuch inhärente Gliederung in Tage hinaus strukturiert und in drei Abschnitte unterteilt:17 in einen Mittelteil, der die ausführliche Schilderung des christlichen Sterbens von Lavaters Freund Felix Hess enthält, in einen davor liegenden Teil, der eine tägliche „Gewissensprüfung als Konfrontation von Ideal und Wirklichkeit“18

12 Vgl. hierzu: Caflisch-Schnetzler, Einführung, 40, 42. 13 JCLW IV, 79. 14 Schönborn, Sybille, Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999, 96. 15 Vgl. hierzu: Zipfel, Frank, Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? in: S. Winko/F. Jannidis/G. Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zum Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York 2009, 285–314. 16 Zipfel, Autofiktion, 286. 17 Vgl. Schönborn, Das Buch der Seele, 96. 18 Ebd.

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darstellt und in einen dritten, abschließenden Teil mit Ereignissen des Geburtstages des Protagonisten/Lavaters und einem Erweckungserlebnis.

3. Radikale Selbstbeobachtung Als Autor des Geheimen Tagebuchs ist Lavater „einer der ersten introspektiven Diaristen Europas“19. Darüber hinaus nahm er mit der wenn auch nicht explizit von ihm autorisierten Veröffentlichung des Geheimen Tagebuchs eine Praxis vorweg, die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für das Führen von Tagebüchern relevant wurde, nämlich deren bereits beim Schreiben intendierte und damit dieses Schreiben auch beeinflussende Veröffentlichung. Das Geheime Tagebuch wurde häufig als typisches Beispiel eines empfindsamen Tagebuches gelesen und so auch vom Herausgeber Zollikofer eingeordnet,20 und tatsächlich ist es in seiner Betonung von Emotionen durch die Empfindsamkeit geprägt. Die Etikettierung als „empfindsam“ bedeutet aber doch eine Verkürzung der hier als Vorbild postulierten Praxis einer radikalen Selbstbeobachtung. Johann August Nebe ordnet das Geheime Tagebuch in seiner eingangs zitierten Publikation der Gattung der Erbauungsschriften zu, die ja ihrerseits an der Schwelle zwischen religiösem Schrifttum und Belletristik stehen. Darüber hinaus kann es seiner Ansicht nach die Rolle eines vertrauten Freundes einnehmen. Der Verfasser ist, so Nebe, streng und unerbittlich mit sich selbst, hält im Tagebuch Rücksprache mit sich selbst und seinem Gewissen, und die Lektüre des fremden Tagebuches macht die Leser aufmerksam auf ihr eigenes Inneres. Diese Feststellungen Nebes, aus denen sich schließen lässt, dass das Geheime Tagebuch mehr ist als ein von den Idealen der Empfindsamkeit geprägter autobiographischer Text, sollen im Folgenden an einigen Textauszügen überprüft werden. Der Schreiber oder – wenn man das Geheime Tagebuch als das literarische Werk liest, das es durch die Raffung und Stilisierung der tatsächlichen Ereignisse ist – der (homodiegetische) Erzähler des Tagebuchs stellt sich zu Beginn einen Zwölf-Punkte-Plan auf. Sein tägliches Erleben soll im Folgenden immer unter dem Signum der Sterblichkeit und der christlichen Morallehre betrachtet werden. Deshalb lautet der erste und damit in seiner Bedeutung hervorgehobene der dem Tagebuch vorangestellten Grundsätze: „Ich will des Morgens nie ohne Dank und Gebeth zu Gott, und ohne den Gedanken aufstehen, daß es vielleicht zum letzten male geschehe.“21 Der zwölfte dieser zu Beginn des Tagebuches aufgestellten Grundsätze bezieht den Tagebuchtext autoreflexiv mit ein und lautet:

19 Caflisch-Schnetzler, Einführung, 25. 20 Vgl. ebd., 46. 21 JCLW IV, 81.

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Ich will mich alle Abende nach diesen Grundsätzen prüfen, in meinem Tagebuche die Numern redlich bemerken, welche ich etwa übertreten habe; desgleichen a) was ich gelesen, b) was ich verrichtet, c) worinne ich gefehlt, d) was ich gelernt habe?22

Bemerkenswert ist im Folgenden, dass der Erzähler des Tagebuches bereits nach kurzer Zeit sich und seinen Lesern eingestehen muss, dass er trotz aller Bemühungen nichts von seinen zu Beginn aufgestellten Grundsätzen verwirklichen konnte, sondern an ihnen gescheitert ist: „Ein entsetzlich zerstreuter Tag! – Ich konnte weder lesen, noch denken, noch arbeiten, aber durch meine eigene Schuld. Ich schlief in den Morgen hinein, mit einer Trägheit, die unverantwortlich war“.23 Wenigstens, dass der Erzähler, wie von Nebe bemerkt, streng und unerbittlich mit sich selbst ist, wird in diesen Zeilen deutlich. Dass er sich an religiösen Grundsätzen und nicht an allgemeinen moralischen Forderungen misst, zeigt darüber hinaus die ebenfalls von Nebe beobachtete Nähe des Geheimen Tagebuchs zur Erbauungsliteratur. Der Erzähler sieht sich im Folgenden einer ständigen Konfrontation von Ideal und Wirklichkeit ausgesetzt, wie sie sich beispielsweise bei der Nachricht von der lebensgefährlichen Erkrankung eines Freundes zeigt. Der Name von Lavaters realem, 1768 verstorbenem Freund Felix Hess wird in diesem Kontext verschwiegen (er wird vielmehr als „*** in H**“24 bezeichnet), einerseits aus verständlicher Diskretion einem Verstorbenen gegenüber, andererseits aber sicher auch, um die Allgemeingültigkeit des Erzählten hervorzuheben und seine Übertragbarkeit auf die Lebenssituation anderer zu erleichtern. Die Reaktion des Erzählers auf die Nachricht von der Erkrankung des Freundes hätte – wenn er sich denn an die zu Beginn aufgestellten Grundsätze, an denen er sich messen wollte, gehalten hätte – eindeutig sein müssen. Als Christ hätte er Mitleid empfinden und darüber reflektieren müssen, wie in dieser Situation am besten zu helfen sei. Stattdessen ist die Reaktion des Erzählers aber zwiespältig und der ernsten Lage unangemessen. Es befällt ihn eine Aufgeregtheit, in der sich vordergründiges Erschrecken mit einer geheimen Freude mischt. Der Erzähler ist deshalb über sich selbst erschrocken. Anders als es im Alltag oder in chronikalischen Tagebüchern üblich ist, wird das Erschreckende dieser Reaktion aber keinesfalls verdrängt, sondern ihm wird bis in seine feinsten Verästelungen und bis in die verstecktesten der damit assoziierten Gefühle nachgespürt. Der Erzähler, so scheint es, will sich nicht schützen, sondern setzt sich uneingeschränkt dem Nachdenken über seine defizitären Verhaltensweisen und unangemessenen Reaktionen aus:

22 Ebd., 85 [Hervorh. i. O.]. 23 Ebd., 99. 24 Ebd., 118.

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Sonntags den 7. Januar. Als ich erwachte, war ein Expresser da, der mir einen Brief von meinem lieben *** in H** überbrachte. Ich solle doch, wo möglich, zu ihm kommen, er befinde sich gar nicht wohl. Ich erschrack, und dennoch war in dieser Nachricht etwas Angenehmes für mich, und Gott weiß es doch, daß ich meinen Freund aufrichtig liebe, und daß mir sein Tod immer tiefer zu Herzen gehen wird. Aber es ist nicht das erstemal, daß sich unter den Schrecken bey niederschlagenden Nachrichten immer einige geheime Freude zu mischen scheint. Ich erinnere mich einmal bey einem plötzlichen Gerüchte, daß es in der Stadt brenne, so was Angenehmes mit empfunden zu haben, wovor ich bey ruhigem Nachdenken zitterte. Ob vielleicht das Neue, das Unerwartete davon die Ursache seyn mag? oder die Vorempfindung des Antheils, welchen diejenigen, mit denen ich davon zu reden Gelegenheit haben werde, an Erzählungen von dieser Art zu nehmen pflegen, und welcher immer dem Erzählenden auf eine gewisse Weise schmeichelt? – oder ist es überhaupt der verworrene Anblick der Veränderungen, wodurch eine bisherige Einförmigkeit in meinen Gedanken, oder meiner Lebensart unterbrochen wird – oder ist es endlich, welches vielleicht am wahrscheinlichsten ist, die frohe Empfindung von dem Unglücke, das andere trifft, oder ihnen drohet, frey zu bleiben? – Ich möchte wohl wissen, wie es andern, und insonderheit rechtschaffenen und menschenliebenden Gemüthern, wenn sie von wichtigen und zugleich traurigen Nachrichten überraschet werden, zu Muthe ist – aber ich fürchte, die mehresten geben entweder nicht Achtung auf dergleichen Situationen, oder sie sind sorgfältig, dieselben andern, vielleicht auch sich selber, zu verhehlen.25

An dieser Stelle wird einerseits erkennbar, wie streng und unerbittlich der Erzähler des Tagebuchs mit sich selbst ist, um mit der Rezension von Nebe zu sprechen, und in der Wendung am Schluss, in der der Erzähler auf mögliche Reaktionen von anderen Christen Bezug nimmt, wird andererseits deutlich, dass das Tagebuch auch andere auf ihr eigenes Inneres aufmerksam machen will, sie zu einem ebenso intensiven Nachsinnen über ihre eigenen geheimsten Gedanken und Gefühle bewegen will, wie der Erzähler es praktiziert. Im Anschluss an das oben zitierte erschreckende Erlebnis versucht sich der Erzähler des Tagebuchs wieder zur Ordnung zu rufen: Ich entschloß mich, ordentlich zu denken, so zu denken, daß ich Gott und meinem Gewissen alle meine Gedanken, ohne einige Zurückhaltung sagen dürfte. Ich fieng mit Gebethe an: „Ach! Mein Gott, wie ausschweifend und unlauter sind meine Gedanken! wann wird einmal mein Herz so beschaffen seyn, daß ich mich selbst ohne Erröthen ansehen darf! – Bester Gott! lenke du, insonderheit itzt meine Gedanken und Empfindungen! u. s. f.26

25 Ebd., 118–120. 26 Ebd., 121.

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Aber auch dieser Versuch, seine Gedanken und Gefühle wieder in geordnete Bahnen zu lenken, scheitert bereits nach kurzer Zeit. Eine weitere problematische Situation, in der sich der Erzähler in einer Begegnung mit bettelnden Kindern erneut inadäquat verhält, folgt.27 In Lavaters Geheimem Tagebuch geht es, anders als Elias Canetti in Bezug auf Tagebücher feststellte, offensichtlich nicht darum, im Rahmen eines Tagebuchs „alle die Gespräche, die man in der Wirklichkeit nie zu Ende führen kann […], alle die absoluten, schonungslosen, vernichtenden Worte, die man anderen oft zu sagen hätte“,28 niederzuschreiben, sondern vielmehr darum, die schonungslosen Worte niederzuschreiben, die man sich selbst zu sagen hätte, die man aber in der Regel vor sich selbst verschweigt.

4. Lavater und das Introspektive Tagebuch Durch seine schonungslose Schilderung der Überschreitung von als richtig erkannten Normen, auch bei den allerbesten Absichten, was über eine durch die Empfindsamkeit beeinflusste Betonung von Emotionen weit hinausgeht, wurde Lavater zum wichtigsten Impulsgeber, ja zum Schöpfer, der Untergattung des Introspektiven Tagebuchs. Er wirkte maßgeblich daran mit, Tagebücher als ein Medium zu etablieren, das es erlaubt, rückhaltlos auch all das Böse zu schildern, das das Ich umtreibt, und sein oft vergebliches Ringen um moralisch adäquates Verhalten darzustellen. Lavater bot in seinem Geheimen Tagebuch das Tagebuch möglichen Nacheiferern als Gattung an, die es ihnen ermöglicht oder sie fast dazu auffordert, unzensierte Gefühle zur Sprache zu bringen. Nicht ihre täglichen Erlebnisse sollten Lavaters Nacheiferer wie bisher üblich in den Fokus ihrer Diarien stellen, sondern die Schwankungen und Verirrungen ihres Gefühlslebens. Und nicht eine chronologisch korrekte Abfolge von autobiographischen Erlebnissen war dabei zu beachten, sondern die Authentizität im Sinne einer Ehrlichkeit auch den verdrängten eigenen Gefühlen gegenüber. Diese Absicht überschreitet die üblichen Intentionen von Erbauungsliteratur, als die Nebe das Tagebuch etikettierte, auch wenn Lavaters Geheimes Tagebuch durchaus einige von deren Kennzeichen aufweist, wie etwa seinen engen Bezug zur Bibel. Das Tagebuch wurde bei Lavater nicht nur zu einem Medium, das die Beobachtung der eigenen Seele ermöglicht,29 sondern darüber hinaus auch zu einer Gattung, die offen für literarische Bearbeitung ist oder bereits bei der Entstehung als literarisches Werk entworfen werden kann. Das hatte Nebe in seiner dennoch zukunftsweisenden Beurteilung des Geheimen Tagebuchs übersehen.

27 Vgl. ebd., 121f. 28 Canetti, Dialog mit dem grausamen Partner, 151. 29 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Einführung, 52.

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5. Das Geheime Tagebuch als Modell Lavaters Zeitgenossen rezipierten das Geheime Tagebuch in Unkenntnis seiner literarischen Überformung und seiner Bearbeitung durch den Herausgeber dennoch als authentisches biographisches Zeugnis und nutzten es als Modell für das eigene Verfassen von Tagebüchern.30 Mit dem Geheimen Tagebuch Lavaters beginnt, zumindest im deutschsprachigen Bereich, die Geschichte des Tagebuchs als Lesestoff und mit seinem Werk, das selbst Erlebtes straffte und literarisch überformte, wurde Lavater auch ein wichtiger Impulsgeber für spätere, rein literarische Tagebücher. Es gab im deutschsprachigen Bereich, aber auch darüber hinaus kaum spätere Tagebuchschreiber, die nicht zumindest das Tagebuch Lavaters rezipiert hatten.31 Viele spätere Diaristen nahmen in ihren Tagebüchern auch explizit auf das Geheime Tagebuch Bezug. So schrieb André Gide (1869–1951) im September 1894, den damals vielleicht schon etwas verblassenden Einfluss des Geheimen Tagebuchs auf die Gattung reflektierend, in sein Tagebuch: J’ai fait venir d’Allemagne un petit volume de Lavater. Pourquoi n’est il pas connu, cet esprit si ardent, et si tendre, dont Goethe disait qu’il était ‚irremplaçable‘, et que Novalis malade lisait dans ses dernières années?32 (Ich habe aus Deutschland einen kleinen Band von Lavater kommen lassen. Warum ist er nicht bekannt, dieser so feurige und so zärtliche Geist, von dem Goethe sagte, er sei ,unersetzlich‘, und den der kranke Novalis in seinen letzten Jahren las?).

Nach der Publikation von Lavaters Tagebuch und nachdem bekannt geworden war, um wessen Tagebuch es sich dabei handelte, wurde auch Kritik an der Praxis geübt, intimste Gedanken zu publizieren und dieses schonungslos selbstentlarvende Schreiben künftigen Lesern offenbar auch als Muster für ihre eigenen Texte zu empfehlen33, eine Frage, die sich in Zeiten wachsender Präsenz von Privatem im Internet umso dringlicher stellt. Johann August Nebe, aus dessen Buch über Lavater eingangs zitiert wurde, schreibt Folgendes über die zeitgenössische Rezeption von Lavaters Tagebuch:

30 Vgl. ebd., 54. 31 Z. B. stellt Sibylle Schönborn in ihrer Publikation über Tagebuchliteratur zurecht fest: „[…] kein Tagebuchschreiber, der nicht Lavaters Tagebuch gelesen hat, sein eigenes Diarium zu diesem Urtext in Beziehung setzt und an diesem Vorbild mißt“ (Schönborn, Buch der Seele, 92). 32 Gide, Andrè, Journal I. 1887–1925. Édition établie, présentée et annotée par Éric Marty, Paris 1996, 180. 33 Vgl. Messerli, Alfred, Der papierne Freund. Literarische Anregungen und Modelle für das Tagebuchführen, in: K. von Greyerz u. a. (Hg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850), Köln u. a. 2001, 299–320, hier 312f.

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Auf eine bedeutende Zeit hin gab dieses Buch, das, wegen der neuen Form und wegen der grossentheils anziehenden Darstellung, sehr allgemein gelesen wurde, den Ton an zu moralischen Tagebüchern aller Art und aller Alter und Stände. Einige wurden gedruckt, die meisten blieben Manuscript. Es wurde Mode, moralische Tagebücher zu halten: aber sey dies, – es war wenigstens eine ganz heilsame Mode, welche auf die Sittlichkeit vortheilhaft wirken konnte, und gewiss oft wirkte. Es ist wahr, häufig enthielten diese Tagebücher keinesweges einen reinen Abdruck des Gemüths. Man redete darin nicht selbst, sondern liess statt seiner einen bestechlichen und bestochenen Wortführer reden. Man entblödete sich nicht, Heuchelei vor sich selbst zu treiben; man ergoss sich gar herrlich und schön in moralischen Declamationen und – das Herz blieb kalt und hatte oft nicht einmal eine Ahndung von dem, was die Feder niederschrieb. Bei vielen indess – wovon mir selbst mehrere Beispiele bekannt sind – wurden die Tagebücher die wirksamsten Hülfsmittel zur Besserung, zur Reinigung des Gemüths, zur sittlichen Vervollkommnung. Sie waren in der That, was ich vorher sagte, – vertraute Freunde, aufmerksame Erinnerer, treue Berather.34

34 Vgl. Nebe, Lavater, 39f [Hervorh. i. O. gesperrt].

Friedemann Stengel

Aussichten in die Ewigkeit und Unsterblichkeit der Seele zwischen Empirie und Dichtung 1. Lavater zwischen den Fronten Genau am ersten Tag des „Unternehmens Barbarossa“, am 22. Juni 1941, rückte eine Division der Wehrmacht an den Bug bei Sokal in der Ukraine vor, später ging es weiter nach Berditschew, Uman, Nikolajew, Kriwoi Rog. Der Divisionspfarrer berichtete in seinem bereits im Folgejahr 1942 erschienenen „Erlebnisbericht“ über „die religiöse Lage in der Ukraine“. Darin kamen zwar die berüchtigten Massaker der Einsatzgruppen, vor allem der Einsatzgruppe C, etwa bei Berditschew am 7. Juli 1941, nicht vor, aber der Divisionspfarrer war beeindruckt von, wie er ein Kapitel nannte, dem „geschändete[n] Gottesbild im Menschen“, das er in der Ukraine erblickte, von der „Physiognomie der Russen“ und ihrer „gesichtslosen Masse“, die für ein „kommunistisches Menschenbild“ stehe, das nach außen gekehrt sei, ohne Spuren von dem „unverlierbaren einzigartigen Wert und der Unsterblichkeit“ des Menschen. Wer nicht an die Gottebenbildlichkeit des Menschen glaube, an seine Erlösung und, man höre, an seine Wiedergeburt, wem dieser Glaube ausgetrieben worden sei und wer seine Herkunft im Schimpansen erblicke, dem präge sich das auch physiognomisch ein. „Das verlorene Gesicht ist das sichtbare Zeichen des zerstörten Gottesbildes und der Zerstörung des Glaubens an Gott“; die Bolschewiken hätten das Antlitz zerstört, Juden hätten tatkräftig daran mitgewirkt. Auch die Volksdeutschen seien durch die Sowjets vergewaltigt, durch jüdische Lehrer und Kommissare verfolgt und vergiftet worden. Die „jahrzehntelange Vernichtung der christlichen Religion und die Ausrottung des christlichen Menschenbildes“ habe zweifellos auf die Physiognomie der Menschen Russlands zurückgewirkt.1 Das schrieb der Kirchenhistoriker, Religionswissenschaftler, Eranos-Mitglied, seit 1937 NSDAP-Mitglied und als Schüler der Halleschen Fakultät 1937 in eine ordentliche Professur nach Marburg berufene Ernst Benz (1907–1978). 1938, drei Jahre vor „Barbarossa“, hatte er seinen physiognomiegeschichtlich angelegten Auf-

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Benz, Ernst, Die religiöse Lage in der Ukraine. Erlebnisbericht eines Divisionspfarrers, Marburg 1942, 20–22; zu Benz vgl. Bauschulte, Manfred, Straßenbahnhaltestellen der Aufklärung. Studien zur Religionsforschung 1945–1989, Marburg 2012, 110–113.

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satz über Swedenborg und Lavater. Über die religiösen Grundlagen der Physiognomik in der Zeitschrift für Kirchengeschichte veröffentlicht, die theoretische Vorarbeit für dasjenige, was Benz als einer der wichtigsten Religionshistoriker und Esoterikforscher des 20. Jahrhunderts dann als Divisionspfarrer in der Ukraine zu erblicken meinte.2 Die Physiognomik ist nicht Thema dieses Beitrags, wenngleich sich Person und Werk Benz’ bestens eignen würden, um die esoterische und eben verhängnisvolle Seite der Rezeptionsgeschichte der Physiognomik im 20. Jahrhundert mit Vorlauf und Wirkungsgeschichte, insbesondere in der NS-Zeit, am Beispiel eines Forschers zu betrachten, der seine politischen Positionen mit seiner theologisch-esoterischen Agenda verband. Auch scheint mir Benz die Bedeutung Emanuel Swedenborgs (1688–1772) für die Physiognomik Lavaters zweifellos überschätzt zu haben. Zu unausgearbeitet, zu splitterhaft sind die physiognomischen Paragraphen in Swedenborgs Büchern im Gegensatz zu der elaborierten und zugleich christozentrisch eingeschränkten Konzeption und Reichweite der Physiognomischen Fragmente Lavaters, sieht man einmal davon ab, dass die wenigen Paragraphen in Swedenborgs Arcana coelestia in Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782) populärer deutscher Zusammenfassung von 1765 gar nicht enthalten waren.3 Mir geht es hier nicht darum, die Physiognomik Lavaters aus der Perspektive von Benz und seinem Kriegserleben zu betrachten, wiewohl selbstverständlich zur Debatte steht, inwieweit Swedenborgs massiver essentialistischer, theologischer und physiognomischer Antijudaismus4 bis in den Nationalsozialismus rezipiert worden ist. Von Lavater ist er – trotz und vielleicht sogar wegen seiner ambivalenten Beziehung zu Moses Mendelssohn (1729–1786)5 – nicht geteilt worden, womöglich auch, weil er das Judentum in seiner chiliastischen Konzeption

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Benz, Ernst, Swedenborg und Lavater. Über die religiösen Grundlagen der Physiognomik, ZKG 57 (1938), 153–216. Wouter Hanegraaff hat die physiognomischen Stellen in den Arcana colestia aufgelistet und den von Ernst Benz und Horst Bergmann behaupteten Einfluss Swedenborgs auf Lavater im Bereich der Physiognomik infrage gestellt, vgl. Hanegraaff, Wouter J., Swedenborg, Oetinger, Kant: Three Persepectives on the Secrets of Heaven, West Chester 2007, 110f. Dass diese Stellen aber nicht enthalten sind in: Oetinger, Friedrich Christoph, Swedenborgs irdische und himmlische Philosophie, Stuttgart 1977 [1765]; muss nicht heißen, dass Lavater Swedenborgs allerdings nur geringe Ausführungen zur Physiognomik nicht gekannt hat, da in der Zeit seiner Arbeit an den Aussichten in die Ewigkeit und an den Physiognomischen Fragmenten noch andere Übersetzungen Swedenborgscher Bücher wie Himmel und Hölle erhältlich waren und in vielen Zeitschriften und Büchern besprochen worden sind. Vgl. zum Überblick: Stengel, Friedemann, Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2011, 521–523. Mit Himmel und Hölle ist Lavater nach eigenem Zeugnis bei seinem Aufenthalt mit Felix Hess in Barth durch Johann Joachim Spalding bekannt gemacht worden, vgl. Ebd., 48, 653f. Vgl. dazu Poliakov, Léon, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 6, Worms 1987, 70f passim; Stengel, Aufklärung, 280–282, 388–390, 609. Vgl. dazu Bourel, Dominique, Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums, Zürich 2007. Sowie Bourels Beitrag in diesem Band.

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als Volk erblickte, das durch den wiederkehrenden Messias selbst missioniert werden würde – im Gegensatz zu manchen sogenannten ‚neologischen‘ Zeitgenossen, die die Offenbarung des Johannes für unkanonisch und den Chiliasmus für jüdisch-abergläubisch oder jüdisch-materialistisch hielten wie Johann Samuel Semler (1725–1791) und dann auch Immanuel Kant (1724–1804) oder Hermann Samuel Reimarus (1694–1768).6 Benz selbst äußerte sich in seinem Bericht über die Ukraine nur marginal über jüdische Einflüsse, vielleicht auch wegen seiner eigenen kabbalistischen und theosophischen Interessen, mit denen vor allem bei Benz’ Referenzautor Friedrich Christoph Oetinger judenfreundliche Texte verbunden waren, nicht nur im Blick auf die endzeitliche Heilsbedeutung des Judentums, sondern auch auf dessen singuläre Bedeutung als klandestiner Wahrheitsträger.7 Immerhin befand sich Benz später im Eranos-Kreis in der wenigstens korrespondierenden Gesellschaft von Forschern wie Gershom Scholem (1897–1982).8 Die Stichworte sind in Benz’ Ukraine-Bericht gefallen: erstens der Zusammenhang von Innen und Außen: das Gesicht als index animae9 bei Swedenborg, als ‚Anzeiger‘, ‚Vorzeiger‘, Register oder Spiegel der Seele, deren Grundausrichtung sich in den Gesichtszügen niederschlägt, eher eine reale, ‚konsubstantiierte‘ Beziehung zwischen Körper/Gesicht und Seele, nicht nur als Allegorie oder Entsprechung, und zweitens die im Kern unsterbliche Seele. Der unendliche Wert des

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Vgl. Stengel, Friedemann, Seele, Unsterblichkeit, Auferstehung. Luther im Aufklärungsdiskurs, in: W.-F. Schäufele/C. Strohm (Hg.), Das Bild der Reformation in der Aufklärung, Gütersloh 2017, 98– 130, hier 120–123, 128f; Stengel, Friedemann, Mit wem sprach Semler? Unterhaltungen mit Lavater oder Johann Salomo Semler und das Ende der Aufklärung, in: R. Geffarth/M. Meumann/H. Zaunstöck (Hg.), Kampf um die Aufklärung? Institutionelle Konkurrenzen und intellektuelle Vielfalt im Halle des 18. Jahrhunderts, Halle 2018, 300–334, hier 320–322; Gronke, Horst/Meyer, Thomas/ Neißer, Barbara (Hg.), Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung. Prämierte Schriften des wissenschaftlichen Preisausschreibens „Antisemitische und antijudaistische Motive bei Denkern der Aufklärung“, Würzburg 2001. Darin: Stangneth, Bettina, Antisemitische und Antijudaistische Motive bei Immanuel Kant? Tatsachen, Meinungen, Ursachen, in: Ebd., 11–124. Vgl. Stengel, Aufklärung, 506–635, besonders 514–517, 556, 570, 575, 609; Stengel, Friedemann, Theosophie in der Aufklärung. Friedrich Christoph Oetinger, in: W. Kühlmann/F. Vollhardt (Hg.), Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin/Boston 2012, 513–547. Vgl. Bauschulte, Straßenbahnhaltestellen, 114–118; zu Scholem jetzt: Biale, David, Gershom Scholem. Master of the Kabbalah, Jerusalem 2019 [New Haven 2018]; Zadoff, Mirjam, Scholar and Kabba­list. The Life and Work of Gershom Scholem, Leiden/Boston 2018; Weidner, Daniel, Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben. München 2003. Swedenborg, Emanuel, De Coelo et ejus mirabilibus, et de Inferno, ex auditis et visis, Londini 1758 [deutsch: Himmel und Hölle. Visionen und Auditionen, übers. von Friedemann Horn, Zürich 1992], Nr. 91; Swedenborg, Emanuel, Arcana coelestia, quae in scriptura sacra, seu verbo domini sunt, detecta: nempe quae in Genesi et Exodo una cum mirabilibus quae visa sunt in Mundo Spirituum et in Caelo Angelorum, 8 Bde., Londini 1749–1756 [deutsch: Himmlische Geheimnisse, übers. von J.F. Immanuel Tafel, 9 Bd., Zürich 1975], Nr. 8294, 10587, 10837 [im Folgenden AC]. Swedenborgs Werke sind zum Teil verfügbar unter: https://www.wlb-stuttgart.de/referate/ theologie/swedvotx.html (Stand: 10.03.2020).

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Menschen, den Benz bei den Bolschewisten nicht mehr erblicken kann, ist mit der Unsterblichkeit verbunden. Da sind wir bei den zentralen Debatten der Theologie- und Philosophie­ geschichte des 18. Jahrhunderts, in die Lavater als Zeitgenosse nicht nur eingebunden war, sondern in denen er Impulsgeber und Popularisierer gewesen ist, in einem, wie es scheint, geradezu nie dagewesenen Ausmaß, vor allem hinsichtlich der Breite der Adressaten- und Diskutantenkreise und im Blick auf die Interdisziplinarität und einer beharrlichen Suche nach Verbindung zwischen gelehrter Diskussion, schöner Literatur und erfahrbarer Praxis.

2. Das Zentraldogma der Aufklärung 2.1 Die „Idee der Unsterblichkeit“ Dass „die Idee der Unsterblichkeit auch in ihrer transzendenten Form das eigentliche Zentraldogma der Aufklärung“ sei, hat Carl Stange 1925 festgehalten.10 Blickt man auf die Buchtitel und in die Gelehrtenzeitschriften nicht nur, aber besonders im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, so wird das besonders deutlich.11 Insbesondere Titel und Themen über den status post mortem, der entweder als Zwischen- oder Endzustand der verstorbenen Seelen betrachtet worden ist, fallen dabei ins Auge. Lavaters Aussichten in die Ewigkeit avancierten dabei zu einem Standardwerk, das literarisch, fachtheologisch und fachphilosophisch wahrgenommen worden ist. Schon im 7. Band der Vollständigen Einleitung in die Religion und gesammte Theologie des Tübinger Professors der Theologie und früheren Professors der Mathematik Heinrich Wilhelm Clemm (1725–1775) war Lavater umfangreich verarbeitet.12 Welche Speisen in der anderen Welt genossen werden,13 wie Engel existieren, ob als eigene Geistgattung oder als Menschenseelen, ob auch Kinder, Embryonen, „Mißgeburten“ und menschliche Keime auferstehen werden

10 Stange, Carl, Die Unsterblichkeit der Seele (Studien des apologetischen Seminars in Wernigerode 12), Gütersloh 1925, 105. Mit der Zuschreibung dieses „Zentraldogmas“ meinte Stange einen unchristlichen, nämlich griechischen, oder römisch-katholischen Kern der gesamten Aufklärung ausgemacht zu haben, vgl. dazu Stengel, Seele, 101f. 11 Vgl. dazu insgesamt Stengel, Seele. 12 Clemm, Heinrich, Vollständige Einleitung in die Religion und gesammte Theologie, Bd. 7, Tübingen 1773, u. a. 28, 63f, 67, 71, 74f, 76, 438. 13 Vgl. ebd., 82–84.

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wie Lavater vermutet,14 wie deren Sprache beschaffen sei,15 inwieweit dort Gesellschaften nach Religionen eingeteilt sind, nach Völkerschaften und nach der moralischen Gesinnung, ob die Menschen nach dem Tod Berufe ausüben, Philosophie treiben,16 ob sie noch Verkehr zur Fortpflanzung haben werden17 und inwiefern die „gegenwärtige Erde“ eine „Lehrzeit für die Ewigkeit“ sei, so hatte es Lavater in den Aussichten18 ausgedrückt, oder in der Sprache Oetingers, die Clemm zitiert: „Pflanzschule der Geister“,19 bei dem wohl dahinterstehenden Referenzautor Swedenborg seminarium caeli.20 Gegner und Befürworter dieser Spekulationen meldeten sich massenhaft zu Wort. Schon Johann Joachim Spalding (1714–1804) hatte in den elf Auflagen seiner populären Schrift Bestimmung des Menschen seit 1753 das Kapitel über die Unsterblichkeit zu einem theologisch-anthropologischen Zentrum ausgebaut.21 Dann nehmen Schriften wie Wir werden uns wiedersehen des Arztes Karl Christian Engel von 178722 oder Vernünftige und schriftmässige Gedanken über den zweifachen Zustand der Menschen nach dem Tode, den alten und neuen Träumen von der Ewigkeit entgegengesetzt23 seit den 1770er Jahren massiv zu. Häufig und mehr als alle anderen wird Lavater zitiert.

14 Vgl. ebd., 74f. Nur menschliche Keime werden laut Clemm nicht auferstehen, aber alle Seelen. Vgl. Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. II: Aussichten in die Ewigkeit 1768–1773/78, hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001, 126–128. 15 Vgl. Clemm, Einleitung 7, 438. Von Lavaters Behauptung einer postmortalen physiognomischen Sprache grenzt sich Clemm ab. 16 Vgl. ebd., 79–82. 17 Vgl. ebd., 84. 18 JCLW II, 63. 19 Clemm, Einleitung 7, 84. Oetinger spricht in einem Brief an Swedenborg von der „Pflanzschule der Geister“, zitiert nach Groth, Friedhelm, Die „Wiederbringung aller Dinge“ im württembergischen Pietismus. Theologiegeschichtliche Studien zum eschatologischen Heilsuniversalismus württembergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1984, 132. Andernorts ist von der „Pflanzstadt für die künftige geistliche Innwohner der vierten unsichtbaren Region“ die Rede vgl. Oetinger, Friedrich Christoph, Die Metaphysic in Connexion mit der Chemie, worinnen sowohl die wichtigste übersinnliche Betrachtungen der Philosophie und theologiae naturalis & revelatae, als auch ein clavis und Select aus Zimmermanns und Neumanns allgemeinen Grundsätzen der Chemie nach den vornehmsten subjectis in alphabetischer Ordnung nach Beccheri heut zu Tag recipirten Gründen abgehandelt werden, samt einer Dissertation de Digestione, ans Licht gegeben von Halophilo Irenäo Oetinger, Schw. Hall o. J. [1770], 531f. 20 Vgl. AC 6697, 9441; weitere Stellennachweise bei Stengel, Aufklärung, 233. 21 Vgl. Stengel, Seele, 117–120. 22 Engel, Karl Christian, Wir werden uns wiedersehen. Eine Unterredung nebst einer Elegie, Frankfurt/Leipzig 1787 [Göttingen 1788; Frankfurt/Leipzig 1789; schwedisch: Stockholm 1795; Leipzig 1797; Leipzig 1810]. 23 Stendal 1785. Vgl. Rezension, Frankfurter gelehrte Anzeigen (1786, 9. Mai), 289–293.

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2.2 Unsterblichkeit und Rationalismus Lavater steht als theologischer Popularisierer mitten in einer Debatte, die ihre Hauptquellen im philosophischen Rationalismus hatte. Leibniz, Malebranche, Wolff, die Wolffianer Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750), Israel Gottlob Canz (1690–1753) und Johann Gustav Reinbeck (1683–1741), der Postwolffianer und Präkantianer Georg Friedrich Meier (1718–1777) und selbstverständlich Johann Joachim Spalding und sein Umfeld sind als theologische und philosophische Autoritäten auf dem Feld des Zentraldogmas der Aufklärung tätig gewesen.24 Unsterblichkeit und eine sich erst postmortal erfüllende Glückseligkeit gehören zu Spaldings Hauptthemen, er kann als „Prototyp aller Unsterblichkeitsliteratur im 18. Jahrhundert“ gelten.25 Mit Albrecht von Haller (1708–1777), der ans Ende seiner vielfach gedruckten Physiologievorlesung die Unsterblichkeit der Seele setzte,26 oder Johann August Unzer (1727–1799)27 sind zwei Mediziner benannt. Für Moses Mendelssohn war Unsterblichkeit religionsübergreifend und Konfessionalismus abmildernd, Charles Bonnet (1720–1793), einer der wichtigsten Autoren für Lavaters Aussichten, stach damit hervor, dass er die Seele physiologisch fasste und sie zugleich für unsterblich hielt, dass er also von der Unvergänglichkeit der im Keim und Kern nicht immateriellen, sondern subtil- oder semimateriellen Seele mit den irdisch erlangten Erinnerungen und Prägung überzeugt war.28 In Christian Wolffs Psychologia rationalis von 1734 oder Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik von 1750, dem jahrzehntelang an den Universitäten für alle Fächer verwendeten philosophischen Lehrbuch, das noch Kant bis in die 1790er Jahre als Grundlage seiner Metaphysik-Vorlesung verwendete, findet man die in Paragraphen gefasste axiomatisch formulierte Demonstration der Seelenlehre: die menschliche Seele ist ein Geist, sie ist eine einfache Substanz, sie kann niemals annihiliert werden, in der besten aller möglichen Welten nicht einmal von Gott; sie bleibt nach dem Tod des Körpers übrig und behält ihr Gedächtnis; sie ist unsterblich, ihr Zustand nach dem Tod ist mit dem irdischen Leben engstens 24 Vgl. insgesamt Stengel, Seele. 25 So Luginbühl-Weber, Gisela in: Johann Caspar Lavater: Briefe, 1. Halbband, Bern 1997, XLVIII. 26 Haller, Albrecht von, Grundriß der Physiologie für Vorlesungen, Berlin 41788, 710 (§ 974): „Die Seele aber geht an den ihr von Gott angewiesenen Ort. Daß sie im Tode nicht vernichtet werde, läßt sich aus einer häufigen Erscheinung schließen. Sehr viele Menschen nemlich, geben, wenn die Kräfte ihres Körpers aufgelöst sinken, Zeichen eines sehr heitern, lebhaften, und selbst frohen Gemüths.“ 27 Vgl. etwa Unzer, Johann August, Sammlung kleiner Schriften, Bd. 2: Zur speculativischen Philosophie, Rinteln/Leipzig 1766. Darin: Gedanken vom Zustande der Seele vor diesem Leben (105– 111), Betrachtungen vom Tode (157–165), Gedanken von der Unsterblichkeit der menschlichen Seelen (167–180) Gedanken von der Seelenwanderung (181–188), Untersuchung des Meierischen Beweises von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele (285–349), Prüfung eines neuen Beweises von der Unsterblichkeit der Seele (350–375). 28 Vgl. dazu Stengel, Aufklärung, 165–167; Stengel, Friedemann, Lebensgeister – Nervensaft. Cartesianer, Mediziner, Spiritisten, in: M. Neugebauer-Wölk/R. Geffarth/M. Meumann (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne, Berlin/Boston 2013, 340–377, hier 362–364.

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verbunden, sie ist individuum morale und als solches die Person; sie besitzt unabhängig vom Körper Erinnerung, Verstand, Willen und potentiell sogar Weisheit – anders als die zwar ebenso unsterblichen, aber entwicklungsunfähigen Tierseelen. In einem progressus infinitus vervollkommnet sie sich nach dem Tod ohne Leib – hin zum Höchsten Gut, so ergänzte es Kant in der zweiten Kritik.29 Das Gewicht dieser Seelen-Unsterblichkeitslehre für die gelehrten Debatten und die mit ihnen zusammenhängenden Literaturtransporte in Zeitschriften und Salons im gesamten 18. Jahrhundert dürfte kaum zu überschätzen sein. Dass die Unsterblichkeitslehre Zentraldogma der Aufklärung geworden ist, in Abwehr als atheistisch attackierter materialistischer oder spinozistischer, darunter auch christlich-materialistischer Autoren,30 ist ihrer Position im schul- und normbildenden philosophischen und theologischen Rationalismus zu verdanken.

2.3 Umformung der Theologie Mit Hilfe des Zentraldogmas von der Unsterblichkeit der Seele wurde die gesamte konventionelle Theologie der Bekenntnisschriften massiv umgeformt und teilweise eliminiert; ich habe das an anderer Stelle ausführlich dargestellt und skizziere knapp: Wo die Selbstverantwortlichkeit und moralische Autonomie eines Menschen behauptet wurde, der sein irdisches und sein postmortales Schicksal auf der Basis seiner Freiheit und seiner Fähigkeiten selbst gestaltete, da fielen nach und nach die Rolle Jesu Christi und seines stellvertretenden Sühnetods dahin. Wo der allweise und allgütige Gott die beste aller möglichen Welten erschaffen hatte, entfiel der Richter und auch das Ende einer natürlichen Welt oder Erde, deren Eigenschaften denen Gottes selbst analog waren. Aus Jesus Christus wurde der Weisheitslehrer und das moralische Vorbild Jesus von Nazareth; der Mensch geriet ins Zentrum. Die Heilige Schrift wurde in ihrer Inspiriertheit infrage gestellt und zunehmend historisiert, auch wenn die allermeisten theologischen Autoren modifiziert an ihrer göttlichen Dignität festhielten. Das betraf vor allem als jüdisch diskreditierte Schriften wie die Offenbarung des Johannes, die Vorstellung eines irdischen Messias und die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung, an deren Stelle die Unsterblichkeit nur der Seele rückte. Je mehr die Gütigkeit Gottes hervorgehoben wurde, desto stärker waren die Tendenzen, seinen Zorn in den Menschen selbst zu verlagern. Das wurde von vielen Autoren verstärkt, die an der physischen Wirkfähigkeit des Teufels zweifelten – auch wenn nur sehr wenige dazu übergin-

29 Vgl. Stellennachweise in Stengel, Aufklärung, 352. 30 Vgl. ebd., 670; im Falle Joseph Priestleys, gegen den Kant sein Unsterblichkeitspostulat richtet.

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gen, auch dessen Existenz infrage zu stellen.31 Mit der Anthropomorphisierung Gottes und der Welt war bei etlichen Autoren auch die Anthropozentrierung des Jenseits verbunden: zwischen Gott und Mensch war keine eigene Geistgattung; Engel und Dämonen wurden zu Zitaten, zu Chiffren für die Seelen verstorbener Menschen, die ihre irdisch erworbene moralische Qualität und ihre Fähigkeit auch im Leben danach fortentwickelten, nun ohne das Hindernis körperlicher Sinneswahrnehmung – mit dem Ziel höchster Glückseligkeit.

2.4 Apologie der Religion gegen Materialismus Diese holzschnittartig gefassten Tendenzen waren zugleich eine apologetische Abwehr gegenüber Infragestellungen seitens materialistischer Autoren wie Julian Offray de La Mettrie (1709–1751) mit seiner Bestreitung der Unsterblichkeit. Das war zugleich eine Exkulpation gegenüber dem Vorwurf, angesichts moderner rationalistischer Modelle wie dem Christian Wolffs vormodern-rückständig, „jüdisch“ oder, wie Semler es ausdrückte, „mikrologisch“ geblieben zu sein, wie etwa mit der Erwartung leiblicher Auferstehung, eines göttlichen Gerichts oder der Zurechnung von Heilswerten, die Christus am Kreuz erworben habe.32 Es ging dabei um die Verteidigung der Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, so der berühmte Buchtitel von Reimarus von 1766,33 einer natürlichen Religion, die verständlich, vernünftig und damit für den natürlichen Menschen auch akzeptabel war. Die Inhalte der christlichen Religion nach einem bestimmten Verständnis von Vernunft und Rationalität umzugestalten, war Kern dieses Projekts.

2.5 Apologie und Empirie Diese theologisch-philosophischen Transformationen waren mit dem Bedürfnis nach Erfahrung verbunden. Wenn Kant seit 1781 dazu überging, die Grundlagen des philosophischen Rationalismus der Kritik zu unterziehen und sie als Paralogismen der reinen Vernunft zu demaskieren, dann folgte er einer metaphysikkritischen Linie, der die sinnliche Erfahrung der spekulierten Sätze fehlte. Zwischen dem Anspruch auf eine sehr unterschiedlich verstandene Rationalität und der Forderung nach Erfahrung und Erfahrbarkeit befanden sich die theologischen 31 Vgl. Stengel, Friedemann, Leibniz und der Teufel. Zur Leibniz-Rezeption in den Besessenheits­ debatten des 18. Jahrhunderts, in: D. Fulda/P. Stekeler-Weithofer (Hg.), Theatrum naturae et artium. Leibniz und die Schauplätze der Aufklärung, Stuttgart/Leipzig 2019, 137–165. 32 Vgl. Stengel, Seele, 110, passim. Zu Semler vgl. Stengel, Semler, 320–322. 33 Reimarus, Hermann Samuel, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, Göttingen 1985 [1766].

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und philosophischen Debatten um die Qualität, die Form und Gestalt, den Ort, die kosmische Dimension und eben die Unsterblichkeit der Seele.

3. Lavaters Positionierung zwischen Biographie und Empirie Mitten in dieser Gemengelage befindet sich Lavater. Wir sind durch Ursula Caflisch-Schnetzler bestens über die biographische Vor- und Nachgeschichte der Aussichten in die Ewigkeit informiert, deren drei Bände 1768 bis 1773 erschienen sind.34 Wann genau sein Interesse für den status post mortem oder status intermedius entstanden ist, lässt sich zwar nicht genau sagen. Anfang 1765 sandte Lavater allerdings erste Proben an seinen Freund, den Arzt Johann Georg Zimmermann (1728–1795), zur gleichen Zeit ist er nach eigenem Zeugnis um ein Lied von der Vollkommenheit gebeten worden.35 Im Mai 1766 publizierte er in der Moralischen Wochenschrift Erinnerer Gedanken über die andere Welt und die wachsenden Fähigkeiten dort, vor allem gegen die Behauptung des postmortalen Seelenschlafs,36 über den zu dieser Zeit so stark debattiert worden ist,37 dass man die Aussichten durchaus als Abwehr von Seelenschlaf, Seelentod bzw. Seelenmaterialismus lesen kann. Doch schon Jahre vorher, bei seinem neunmonatigen Aufenthalt im Pfarrhaus Spaldings im pommerschen Barth zusammen mit seinen Freunden Johann Heinrich Füssli (1741–1825) und Felix Hess (1742–1768) Mai 1763 bis Ende Januar 1764 ist er nach eigenem Zeugnis inspiriert worden.38 Durch Spalding ist er erstmals im Herbst 1763 mit Swedenborg in Berührung gekommen, offenbar mit verschiedenen Büchern, hierin mit Swedenborgs plastischen Beschreibungen des postmortalen Lebens, mit seiner Behauptung eines kontinuierlichen Gesprächs mit Engeln,39 und dann später sicher auch mit den vielfach mündlich und schriftlich kolportierten angeblichen telepathischen Begebenheiten um Swedenborg, die 1765 von Friedrich Christoph Oetinger mit Swedenborgs irrdischer und himmlischer Philosophie und 1766 von Immanuel Kant mit den Träumen eines Geister­ sehers erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, mit nachweisbar zahlreichen Rezeptionen, wobei Swedenborg und dann bald auch die mit ihm verbundenen Erzählungen mindestens seit 1760 beispielsweise durch Johann 34 35 36 37 38

Vgl. Caflisch Schnetzler, Ursula, Einführung, in: JCLW II, XVII–XLIII. Vgl. ebd., XIX, XXIII. Vgl. ebd., XXXVI. Vgl. insgesamt Stengel, Seele. Siehe dazu Caflisch-Schnetzler, Ursula, Fromme Freundschaften: Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füssli und Felix Hess, PuN 41 (2015), 112–125; Wegener, Franz, Lavater in Barth, Gladbeck/Norderstedt 2008. 39 Vgl. Lavater, Johann Caspar, Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, hg. von Horst Weigelt, Göttingen 1997, 437; Weigelt, Horst, Das Verständnis vom Zwischenzustand bei Lavater. Ein Beitrag zur Eschatologie im 18. Jahrhundert, PuN 11 (1985), 111–126, hier 111f; Wegener, Lavater, 30, 72.

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August Ernesti (1707–1781) der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden sind.40 Nach Oetinger und Kant waren die Gerüchte publiziert: Swedenborgs telepathische Schau eines Stadtbrandes in Stockholm von Göteborg aus, sein gegenüber der schwedischen Königin Luise Ulrike (1720–1782) kundgetanen Kontakt mit der Seele ihres verstorbenen Bruders, des preußischen Prinzen August Wilhelm (1722–1758), und die erst nach einem ebensolchen Kontakt entstandene Auffindung einer verlorengegangenen Quittung.41 1768, als der erste Band der Aussichten erschien, schrieb Lavater in einem Brief an Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) erneut gegen den Seelenschlaf, der manchen lutherischen Theologen in Anknüpfung an Luther selbst als wirksamstes Argument gegen Spekulationen über das Leben nach dem Tod erschien. Und Lavater argumentierte genau mit den „beynahe unläugbaren historischen Beweise[n]“ Swedenborgs, die Kant in den Träumen berichtet hatte, also mit ebendiesen drei Begebenheiten.42 Kant wurde hier als empirischer Beleg für die Tatsächlichkeit des postmortalen Lebens, für die Unsterblichkeit der Seele und der übrigens nicht von Swedenborg selbst, sondern stets von anderen angeführten, Begebenheiten gelesen. Im Gegensatz zum überwiegenden Teil der späteren KantForschung lasen Lavater wie beispielsweise auch Oetinger und Philipp Matthäus Hahn (1739–1790) Kants Träume eines Geistersehers als Quelle und Beleg für die Unsterblichkeit der Seele und Swedenborgs übersinnliche Fähigkeiten, nicht als ironisch-distanzierten Kommentar.43 Im selben Jahr, Anfang 1768, starb Lavaters Freund Felix Hess, ein Ereignis, das ihn zutiefst erschüttert hat. Lavater versuchte selbst, ihn durch Gebet und durch ein Heilungswunder wieder lebendig zu machen.44 Im selben Jahr schrieb er ein Gespräch zwischen Christo und einem Christen über die Kraft des Glaubens und des Gebätes, im Jahr darauf die Drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes, die er an Prominente wie Spalding, Jerusalem, Basedow, Kant, Teller, Zollikofer, Herder, Klopstock, Hamann und Zimmermann sandte, mit dem erklärten Ziel, sie durch aufsehenerregende Wunder für das Christentum zu gewinnen.45 Er meint, dass die Gaben des Heiligen Geistes sich nicht auf intellektuelle Fähigkeiten beschränken, wie nach seiner Wahrnehmung längst auch die meisten Theologen glaubten, und dass sie nicht einfach komplementär oder parallel zu den christlichen Tugenden verliefen. Lavater ist jetzt und auch später überzeugt a) von der physischen Wirk40 Vgl. dazu Stengel, Aufklärung, 454–721. 41 Ebd., 47–50. 42 Lavater an Jerusalem, 22.01.1768, bei Weigelt, Zwischenzustand, 121f. Dort zitiert nach Gessner, Georg, Johann Kaspar Lavater’s Lebensbeschreibung, Bd. 1, Winterthur 1802, 323; Stengel, Aufklärung, 653f. 43 Zu Oetinger und Hahn vgl. Stengel, Aufklärung, 649–652. Weitere Beispiele für eine solche KantLektüre ebd. 44 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Einführung, XXIV. 45 Lavater, Johann Caspar, Drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes (1769). Zugabe zu den drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes, in: JCLW III: Werke 1769–1771, hg. v. M.E. Hirzel, Zürich 2002, 93–113, sowie 25–29, 43, 49 (Einführung).

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samkeit Gottes, Christi und des Heiligen Geistes in die bestehende natürliche Welt und b) von der Fähigkeit aller geistbegabten Christen, wie die Apostel selbst Wunder zu tun und Instrumente und Medien dieser göttlichen Wirkfähigkeit zu sein.46 Es geht Lavater um sinnlich erfahrene und erfahrbare Gottesbeziehung, nämlich darum, „ob der Christ des achtzehnten Jahrhunderts so gut als der des ersten in eine unmittelbare und augenscheinliche Gemeinschaft mit Gott durch Christum gelangen könne“. Das läuft im Grunde auf einen empirischen Gottesbeweis hinaus, denn, so Lavater, könne es etwas Wichtigeres geben für „den Christen, der den Unglauben und das leere, kraft- und geistlose Namenchristenthum allenthalbem triumphieren sieht“?47 Der von ihm gewählte Diskutantenkreis nahm diese Behauptungen ambivalent, aber durchaus nicht völlig abweisend auf.48 Genau in dieser Zeit, um 1768, trat Lavater in Kontakt zu medial begabten Menschen, etwa im Umfeld des Konstanzer Alchemisten Jakob Hermann Obereit.49 Nach Felix Hess’ Tod schrieb Lavater zweimal an Swedenborg mit der Bitte, Kontakt zu dem Verstorbenen aufzunehmen und auch dadurch einen Beweis für das göttliche Wunder, das Swedenborg ja selbst verkörpere, abzulegen.50 Er bat zugleich, ihm mitzuteilen, welche Einwohner Zürichs seiner, Lavaters, Lehre folgen würden und ob er selbst einmal in Kontakt zu Engeln und Geistern geraten würde. Dem zweiten Schreiben legte er eine geheime Ziffernschrift zur Prüfung bei, mit deren Hilfe er offenbar Felix Hess’ Erweckung versucht hatte. Swedenborg antwortete nicht – wie er nie auf solche Bitten geantwortet hatte.51 Der Öffentlichkeit ist das direkte Interesse Lavaters an Swedenborg scheinbar überwiegend verborgen geblieben, in seinen Schriften erwähnt er ihn kaum. 1790 haben die englischen Swedenborgianer das Schreiben Lavaters in ihrem New Jerusalem Magazine veröffentlicht, Swedenborg dürfte es also empfangen haben.52 Mit Hess hatte Lavater noch zu dessen Lebzeiten vereinbart, dass dieser ihm nach seinem Tod erscheinen solle, um ihm über das Leben dort zu berichten.53 Sicherlich kann Lavater über die Lektüre von Henry More etwa die berühmte Geschichte von Marsilio Ficino (1433–1499) und seinem Freund Michele Mer46 Vgl. JCLW III, 97f (vor allem 1.–3. Frage). 47 Lavater, Zugabe, 112. 48 Reaktionen u. a. von Klopstock („Sie haben meinen ganzen u herzlichen Beyfall.“), Johann Heinrich Füssli, Herder, J.F.W. Jerusalem, F. Germanus Lüdke und Zollikofer in: Lavater, Drey Fragen, Einführung, 77–79. 49 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Einführung, 51f. 50 Die Briefe vom 24.8.1768 und 24.9.1769 sind abgedruckt von Caflisch-Schnetzler, Ursula, Lavaters Himmel und Swedenborgs Träume. Die Beziehung zwischen Johann Caspar Lavater und Emanuel Swedenborg, Offene Tore 4 (2006), 171–195, hier 182–185. 51 Lediglich im Falle Oetingers kann von indirekten Antworten durch Aussagen in Publikation Swedenborgs die Rede sein, vgl. Stengel, Aufklärung, 589–594. In einem Schreiben an den hessischdarmstädtischen Landgrafen bestätigte Swedenborg 1771 allerdings die über ihn erzählten hellseherischen Begebenheiten als wahr, vgl. ebd., 50. 52 Vgl. Weigelt, Zwischenzustand, 123. 53 Vgl. Benz, Ernst, Swedenborg in Deutschland. F.C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs, Frankfurt a. M. 1947, 220.

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cati erfahren haben: wer zuerst stürbe, solle dem anderen sagen, wie es dort sei. Bei der Arbeit habe Mercati ein Pferd heranreiten und dann die Worte schreien gehört: „Michele, Michele, Michele, vera, vera sunt illa“. Als er in Florenz nachfragen wollte, wie wohl Ficino das verstand, erfuhr Mercati, dass er in genau dieser Stunde gestorben war.54 Inwieweit solche Kenntnis mit den in den 1760er Jahren massiv und doch vielfach unter der Hand kolportierten Begebenheiten um Swedenborg katalysierend zusammentraf und beim Tod des Freundes Hess zu einem Bedürfnis nach Erfahrung und Beweis kulminierte, lässt sich sowohl kausal als auch konsekutiv womöglich nicht genau aufklären. Dass es 1763/64 um Barth herum begann, dass Lavater mitten in die Debatten der 1760er hineingezogen war und dass ihn dieses Thema bis zum Ende seines Lebens beschäftigte, als er seine Briefe an die Zarin Maria Fjodorowna schrieb, die Gessner 1801 veröffentlichte, kann man mit Sicherheit sagen. „Wie drängt sich so oft das Bedürfniß nach einem fragbaren und antwortenden Gottesorakel mächtig hervor. Wann werden wir unter dem Heer niedrigerer Organe das Organ für die Gottheit entdecken?“,55 so fasste es eine der zahlreichen Korrespondentinnen an Lavater 1796 zusammen. Dass er die Hoffnung auf eine persönliche Begegnung zu dieser Zeit offenbar aufgegeben hatte, geht aus den Briefen an die Zarin Maria Fjodorowna hervor: so wenig auch „der Wissendste und Weiseste“ darüber Auskunft geben könne, „weil keiner noch in diess Land der Unerkennbarkeit hinübergegangen, und von dort wieder zurückgekommen ist“, so könne „doch ein Nachdenkender, der ein Schüler dessen ist, der aus der unsichtbaren Welt zu uns nieder kam, soviel als zu, das ist zu unserer Ermunterung, Beruhigung, Warnung nöthig ist, davon sagen“.56 Nur einige Jahre zuvor jedoch befragte er die Seher von Kopenhagen nach Felix Hess und anderen Verstorbenen.57 Das Gesamtwerk Lavaters durchzieht das geradezu fast erfüllte Bedürfnis nach Erfahrung der Sphäre Gottes. Mit einem bemerkenswerten Satz in den Aussichten scheint er sein eigenes Bedürfnis jedoch konterkariert zu haben. Im 14. Brief 54 Corrias, Anna, L’immortalita individuale dell’anima nel „commento a Plotino“ di Marsilio Ficino, Bruniana & Campanelliana 19 (2013), 21–31, hier 21; sowie: Ficino, Marsilio, Traktate zur Platonischen Philosophie, hg. von E. Blum/P.R. Blum/T. Leinkauf, Berlin 1993, Einleitung, 9. 55 Zitiert bei Hannemann, Tilman, Religiöser Wandel in der Spätaufklärung am Beispiel der Lavaterschule 1770–1805, Göttingen 2017, 236. 56 Lavater, Johann Caspar, Briefe an die Kaiserin Maria Feodorowna. Ein Beitrag zur deutschen Literatur aus Russland, der Universität Jena bei Gelegenheit ihres dreihundertjährigen Stiftungsfestes übersandt von der St. Petersburger kaiserlichen öffentlichen Bibliothek, St. Petersburg 1858 [1798, Reprint 2019], 25f. 57 Vgl. Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebücher, Teil II: Reisetagebuch nach Süddeutschland 1778. Reisetagebuch in die Westschweiz 1785. Brieftagebuch von der Reise nach Kopenhagen 1793, hg. v. H. Weigelt, Göttingen 1997, 350f. („Antworten von Kopenhagen auf mehrere besondere Fragen 13 Julÿ 1792 – von der Gräfin Bernsdorf Hand“). Vgl. zum sogenannten „Nordischen Orakel“ auch Weigelt, Horst, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991, 58–65; Sawicki, Diethard, Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn/München/Wien/Zürich 22002, 78–80.

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spricht er von Christus als dem „Licht der Geisterwelt“;58 das unmittelbare Schauen und den vollen Genuss dessen, was irdisch geglaubt worden ist,59 verlegt er in das Leben nach dem Tod des Körpers, erst dann sei es sicher und „die unmittelbarste Empfindung unserer Abhänglichkeit von GOtt“ werde „unseren Gehorsam so schnell wie GOttes Gedanken und ganz uneingeschränkt machen“,60 so formuliert Lavater wohl in Anknüpfung an die Rede Spaldings von der „gänzlichen Abhänglichkeit“ in der Bestimmung des Menschen und gewiss als Rezeptionsbasis für Schleiermachers berühmtes Diktum vom inneren „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“.61 Hier verlegt Lavater diese Erfahrung als Erfüllung eines Glaubens ins Jenseits: „Wie wir glauben werden, was wir nicht sehen, so werden wir auch hoffen, was wir nicht glauben.“62 Aber das Bedürfnis als irdischer und sinnlicher Empfindung durchzieht sein Werk, sei es bei seinem zwar am Ende enttäuschenden Kontakt zum „Nordischen Orakel“, einem Kopenhagener Kreis, der einen medialen Kontakt zu Christus selbst zu haben meinte,63 durch den 14jährigen Hirten Rudolph Hermann aus Wädenswil, durch den Lavater hoffte, Kontakt wenigstens zum Lieblingsjünger Johannes zu erhalten, wo Hermann doch behauptete, mit Gott selbst und mit Christus zu verkehren.64 „Ohne Geisterseher zu seyn, sprech ich mit Geistern – ohne etwas zu sehen, werd’ ich von ihnen gesegnet.“ So schrieb er 1796.65 Lavaters Bedürfnis erscheint so existentiell und überzeugt, als ob es mit einer tatsächlichen gemachten Erfahrung identisch wäre. Lavater griff nicht nur auf die Geistesgaben der Apostel zurück, sondern auch auf die zeitgenössische Psychologie: in Andreas Rüdigers Physica divina66 und dann später in Baumgartens Psychologie und Ästhetik und bei Baumgartens Schüler 58 JCLW II, 14. Brief, 442. 59 Thema des 13. Briefes ist: „Von dem Anschauen der Gottheit und dem Umgang mit Christo“, ebd., 503–513, besonders 503, 508f, sowie 13. Brief 431, 7. Brief, 93. 60 Ebd., 14. Brief, 442. Die kritische Edition schreibt „Abhängigkeit“ anstelle von „Abhänglichkeit“ in Lavaters Aussichten, 3. Teil, Frankfurt a. M. 1773, 49. 61 Spalding hatte den auffälligen Begriff „Abhänglichkeit“ aus einer Übersetzung des englischen Autors Benjamin Hoadley übernommen, vgl. Beutel, Albrecht, Frömmigkeit als „Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott“. Die Fixierung einer religionstheoretischen Leitformel in Spaldings Gedächtnispredigt auf Friedrich II. von Preußen, ZThK 106 (2009), 177–200, hier 197; Hoadly, Benjamin, Deutlicher Unterricht von der Natur und dem Zwecke des Heiligen Nachtmals […], Berlin 1758 [engl. 1735]. Erst später setzte Spalding Abhängigkeit anstelle von Abhänglichkeit. Vgl. Stengel, Friedemann, Gefühl – Autorität – Religion. Verschiebungen in aufklärerisch-frommen Gefühlsdebatten, in: D. Cyranka/T. Ruhland/C. Soboth/F. Stengel (Hg.), Gefühl und Norm. Pietismus und Gefühlskulturen im 18. Jahrhundert (Beiträge zum V. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2018), Bd. 1, Halle 2021, 3–44. 62 JCLW II, 14. Brief, 442f [Hervorh. i. O.]. 63 Vgl. Ulrich Hegners Abschrift der Notizen Lavaters „Lavaters Verbindung mit den Sehern in Koppenhagen“ in: Lavater, Reisetagebücher, Teil II, 309–363. 64 Vgl. Weigelt, Lavater, 62. 65 Ebd., 63. 66 Vgl. Rüdiger, Andreas, Physica divina recta via, eadenque inter superstitionem et atheismum media, ad utramque hominis felicitatem, naturalem atque moralem, ducens. In praedatione respondetur objectionibus professoris cujusdam Lipsiensis, et appendicis loco adjecta sunt monita

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Georg Friedrich Meier ist die Rede von der vis divinationis oder facultas divinatrix der Seele.67 Lavater bezieht sich an verschiedenen Stellen auf Baumgarten68 und verwendet den Terminus Divination oder Divinator.69 Tilman Hannemann hat die Rolle des pressentiment herausgearbeitet, einer ursprünglich prophetischen Gabe im engeren Sinne, die Lavater aber von prevision und divination unterscheidet und mit biblischen Gaben und Geistwesen kombiniert, die in der somnambulen Praxis erfahrbar werden.70 Auch hier findet sich die organisch-physiologische Dimension, die Lavater sucht und in der er sich insbesondere von Bonnet inspiriert und bestätigt sieht. In den Drey Fragen fragt Lavater, ob es etwas Wichtigeres gebe als eine unmittelbare Gemeinschaft der Christen mit Gott durch Christus für „den Christen, der den Unglauben und das leere, kraft- und geistlose Namenchristenthum allenthalbem triumphieren sieht“.71 Während etwa Johann Bernhard Basedow (1724– 1790) dem widerspricht und alle die für selig hält, die ohne Wunder auskommen,72 wird Lavater nach den Drey Fragen auch entgegengehalten, man solle Gott nicht versuchen.73 In den Aussichten reichen Lavater die vorliegenden Beweise für die Unsterblichkeit und den status post mortem nicht aus, er erwähnt hier ausgerechnet den kritischen Georg Friedrich Meier;74 die Vernunft will Lavater nicht allein überzeugen, auch wenn er sie wie Meier und die versammelte Zeitgenossenschaft auf die drei Erkenntnisquellen abprüft, die zur Verfügung stehen: die eigene Natur, die Analogie und die göttlichen Schriften, die er – in kritischer Manier – aber für verbesserungsnötig hält.75 Doch auch das reicht ihm nicht: „gelehrte Beweise“ machen „in dem Gemüthe des großen Haufens wenig, und wenn ich so sagen dar-

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dominorum censorum, cum Responsionibus Auctoris, Francofurti ad Moenum 1716, § 43, 165, § 46, 165f. Auf diese Stellen bezog sich der Jenaer Philosophieprofessor Hennings, Justus Christian, Von den Ahndungen und Visionen, Bd. 1, Leipzig 1777, 193. Vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb, Ästhetik, Hamburg 2007 [1750; 1758], 33 (§ 36): er betrachtet die „facultas et dispositio divinatrix“ hier nur im Vorübergehen; sie möge, so Baumgarten, in einem solchen „Maße vorhanden sein, dass sie an ihrem Ort und zu ihrer Zeit keiner andersartigen Empfindung und noch viel weniger einer anderen Einbildung (imaginationi) weicht“ und mit den anderen Vermögen zusammenwirken könne. Baumgarten, Alexander Gottlieb, Metaphysica, Halle 1757, § 616, vgl. zur Erklärung § 577; nach der deutschen Ausgabe Halle 1766 [mit Vorrede Georg Friedrich Meiers], § 456, dazu § 430; Meier, Georg Friedrich, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Bd. 2, Halle 21755, 594–601 (§§ 508–510) [ND Hildesheim/New York 1976]. So u. a. in Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Erster Versuch, Leipzig/Winterthur 1775, 52. Vgl. Caflisch-Schnetzler, Lavaters Himmel, 194. Vgl. ausführlich zu Rezeption und Kontext des pressentiment Hannemann, Wandel, 212–214. JCLW III, 112. Vgl. Basedow, Johann Bernhard, Des Bernhardus Nordalbingius altchristliches Schreiben über die Gaben des Geistes, die Glaubensmeister, die Ketzerey und Freyheit an Johannes Turicensis, Bremen 1770, 13, passim. Durch Friedrich Gabriel Resewitz, vgl. Lavater, Drey Fragen, 88. Vgl. JCLW II, 41. Vgl. ebd., 25.

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fur einen erkünstelten Eindruck“,76 sie überzeugen nicht. So sehr Lavater immer wieder darauf beharrt, dass es auch weiterhin Zeichen und Wunder gebe, und so sehr er versucht, denkbare Anknüpfungspunkte bei den unerklärten Seiten der Empirie zu finden – in den Phänomenen des Scheintods und des Nahtods, Träumen, speziell einem Traum Zimmermanns von seiner verstorbenen Frau und trotz des Hinweises auf die hohen Seelenkräfte77 – ihm fehlt die Empirie. Aber Lavater lässt sich auch ohne die eigene Erfahrung nicht beirren, im Gegensatz zu Minna Heineken, einem der bekanntesten somnambulen Medien des frühen 19. Jahrhunderts, die bei Gründung des Magazins für den thierischen Magnetismus Pate stand: 30 Jahre lang will sie Lavaters Aussichten in die Ewigkeit gelesen haben.78 „Vielleicht“ gebe es „Gnadungen verstorbener Freunde“, überlegt er in den Aussichten, die man nicht gleich aus philosophischen Gründen abweisen soll, weil es dafür keine Analogie in unseren eigenen Erfahrungen gebe.79 Aber nirgendwo ließen uns unsere Vernunft und die Heilige Schrift so „in Dunkelheit“ wie über den Zwischenzustand der Seele post mortem bis zur Auferstehung.80 Da habe der Dichter „beynahe ein freies Feld“, so schreibt er im 7. Brief. Und dieses Feld betritt Lavater mit seinen Vorstellungen über Tod und status post mortem, dezidiert unabhängig von theologischen und philosophischen Bedenken. Lavater verbindet als Dichter Glauben, Moral und Hoffnung. In explizitem Anschluss an Klopstocks Messias ist ihm der letzte Endzweck der Poesie „die moralische Schönheit“.81 Und die Basis seiner Überlegungen sieht er, wie ja auch die Physiognomik, in der Nähe einer Wissenschaft: auch die größten Genies Bacon, Kepler, Descartes, Leibniz hätten, wenn sie „metaphysicirten, die Sprache der Einbildungskraft gebraucht“ und „wir“, so meint er sich als Autor und seine Leserschaft mit einem Leibnizzitat zu umfassen, stünden ebenfalls erst am Anfang einer Wissenschaft, in der es in den menschlichen Erkenntnisgrenzen um die Nachforschung der Taten des Schöpfers gehe.82 Bei Lavater bewegen sich Poesie und Wissenschaft in einem gemeinsamen Raum, der Erfahrung ästhetisch sublimiert und zugleich performativ hervorbringt, der an der Stelle der eigenen Erfahrung die Erfahrung anderer spielerisch mit analogischen Spekulationen und imaginierten Projektionen verknüpft. Die Dimensionen fließen unentwegt zusammen. Es scheint so, als würde die Forderung nach Empirie durch das Bedürfnis nach Empirie zu kompensieren versucht.

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Ebd., 60. Vgl. ebd., 80–83. Vgl. Hannemann, Wandel, 239–244. JCLW II, 87. Ebd., 79. Ebd., 149. Ebd., 240f.

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4. Neue Aspekte der Seelen-Theologie Lavater stand mitten in den Debatten um das Verhältnis von Rationalismus und Empirismus und er stand mitten im Jahrhundert der Empfindsamkeit.83 Empfindung und Gefühl werden als physiologische und damit gleichsam organische Erfahrungen aufgefasst.84 Lavater befand sich außerdem mitten in den massiven Transformationen, denen Philosophie und Theologie ausgesetzt waren. Holzschnittartig nenne ich vier Hauptthemen, die er in die zeitgenössische eschatologische Debatte einführte und durch die viel gelesenen und bei aller Ambivalenz der Rezeption weit wirkenden Aussichten in die Ewigkeit in womöglich nie dagewesener Weise popularisierte.

4.1 Auferstehung des ganzen Menschen Gegen die weitverbreitete Auffassung, nur die Seele sei unsterblich, teilte Lavater die etwa in der württembergischen Theosophie um Friedrich Christoph Oetinger vertretene Auffassung von der Geistleiblichkeit des Menschen85 und sprach sich für die Auferstehung auch des Leibes aus. Zwar war es in den gelehrten Debatten gerade umstritten, ob die Seele wirklich immateriell sei und wie Materialität überhaupt zu definieren sei, auch der philosophische Rationalismus war sich darin uneinig. Denn wo Wolff und ein Teil seiner Schüler die Unkörperlichkeit der Seele betonten, beriefen sich andere auf Leibniz’ Theodizee, wo der Seele im Unterschied zum einzig immateriellen Gott Korpuskularität bescheinigt wurde, und zwar pränatal-präformiert und postmortal. Ein corpusculum, in den deutschen Übersetzungen meist „Leibchen“, besitze jede Monade.86 Der wiederauferweckte Leib besaß für Lavater hingegen eine subtile, verwandelte Materialität, die im Vergleich zum höchsten Wesen nahezu vollkommen und durch körperliche Sinne unbeschwert war.87 Aber sie war doch sinnlich wahrnehmungsfähig und unter Umständen auch wahrnehmbar.88 Gegen Wolff, Baumgarten und deren Epigonen betonte Lavater die Materialität und Sinnlichkeit der Seele als Teil des Körpers und über den Körper hinaus. Mit ihnen hielt er an der Kontinuität der Person fest, und zwar a) intelligibel auf der Ebene der Identität und des Gedächt-

83 Vgl. Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit, 2 Bde., Stuttgart 1974/1980; ders., Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, Stuttgart 2003. 84 Vgl. Stengel, Gefühl, 21f, 36–39. 85 Zum Kontext von Oetingers Formel „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes“; vgl. Stengel, Aufklärung, 550–555. 86 Vgl. dazu Stengel, Lebensgeister. 87 Vgl. JCLW II, 85f, 91, 122, 147, 265, 298, 342, 406. 88 Vgl. Lavater, Kaiserin, 29; JCLW II, 320, 505–510.

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nisses89 und b) korporal auf der Ebene sogar der Physiognomie, denn auch der postmortale Seelenmensch besaß die allerdings unendlich verschönerten Gesichtsund Körperzüge des irdischen.90 Anstelle des von Wolff und manchen Wolffianern verwandten Begriffs der Substanz, deren Bestimmungen und Eigenschaften allerdings umstritten waren,91 griff Lavater wie Herder, Linné und Herman Boerhaave auf Bernard Nieuwentijts (1654–1718) stamen zurück, das als Kern des geistleiblichen Individuums verstanden und mit der „Quintessenz“ als fünftem Element oder einer Art vierter Dimension zwischen göttlich und kreatürlich oder geistig und materiell bei Jakob Böhme identifiziert wurde,92 ähnlich wie der archaeus bei Johann Baptista van Helmont. Die Auffassung von der Sinnlichkeit des postmortalen Lebens ist als literarischtheologischer Gegenstand durch diese Figur in der zeitgenössischen Debatte zweifellos verstärkt worden. Nicht einfach nur die postmortale Sinnlichkeit, sondern die Materialität und die Auferstehung des Leibes hat Lavater speziell in den Diskurs eingespeist. Ich sehe keinen vergleichbaren Autor, der so deutlich die Position vertrat, die Vernunft biete genug Gründe für die Unsterblichkeit der Seele, nicht aber für die Auferstehung des Leibes. Zur begründenden Annahme der Auferstehung des Leibes brauche es die Offenbarung, das war für Lavater Zeugnis der Schrift – und eben die eigene Erfahrung, die ihm verwehrt blieb.93 Für das Zeugnis der Schrift bezog er sich auf Arthur Ashley Sykes (1684–1756), der an 100 Stellen klar gemacht habe, dass es in der Bibel nicht nur um die Unsterblichkeit der Seele gehe, sondern um die Auferstehung des Leibes. Die Gegenfront von Sykes war Wilhelm Abraham Tellers Lehrbuch des christlichen Glaubens, das man als geradezu repräsentativ für die wolffianisch geprägte und noch heute zuweilen mit dem missverständlichen Titel Neologie benannte Theologie betrachten kann.94 Lavater zitierte dagegen auch Charles Bonnet aus der Contemplation de la Nature: Das Evangelium habe den Beweis gebracht nicht nur für die Unsterblichkeit der Seele, sondern für die Unsterblichkeit des Menschen.95

89 Vgl. JCLW II, 63, 76f, 90 (in Anknüpfung an Bonnet). 90 Ebd., 237: „Man hat geglaubt, ich läugnete die Identität unsers Leibes bey der Auferstehung. Nichts weniger.“ Er nehme sogar eine „Aehnlichkeit der Gesichtszüge des künftigen Leibes mit dem gegenwärtigen an.“ 91 Vgl. dazu Stengel, Aufklärung, 120–126; 221, 310f, 354f, 378. 92 Vgl. JCLW II, 123, 246–248; Hannemann, Wandel, 185. 93 Vgl. ebd., 97 (sowie insgesamt 8. Brief). 94 Vgl. ebd.; Sykes, Arthur Ashley, A Brief Discourse about the Credibility of Miracles and Revelation, London 21749; Teller, Wilhelm Abraham, Lehrbuch des christlichen Glaubens, Helmstedt/ Halle 1764. 95 Vgl. ebd.; Bonnet, Charles, Contemplation de la Nature, Preface, LXV: „C’est moins l’immortalité de l’Ame, que l’Evangile a mise de l’homme, que l’Evangelile a mise en Evidence“.

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4.2 Chiliasmus Ähnlich wie Oetinger beharrte Lavater auf dem Chiliasmus, das heißt auf der Wiederkehr des Messias, der irdisch mit Auserwählten und Heiligen 1000 Jahre herrschen werde. Er beharrte außerdem auf der Judenbekehrung, die aber durch den Messias selbst vorgenommen werden würde.96 Das verschaffte ihm Distanz zum theologischen Antijudaismus anderer Zeitgenossen wie Reimarus, Swedenborg, Kant.97 Wie Johann Albrecht Bengel (1687–1752) beharrte Lavater auf einer zweifachen Auferstehung in kurzer Folge. Dafür hielt er an der Kanonizität der Offenbarung des Johannes fest,98 die von vielen Theologen wie etwa von Semler – auch unter Berufung auf Luther – angezweifelt wurde.

4.3 Messianismus und Apokatastasis panton Gegen die Auffassung des Chiliasmus und gegen die Wiederkehr eines irdisch herrschenden Messias hatte ein Examinatorenkonvent aufgrund einer Anzeige gleich nach dem ersten Band der Aussichten in Zürich Lavater geprüft, weil er damit gegen die evangelischen Bekenntnisschriften verstoßen habe.99 Dazu gehörte auch Lavaters Votum für eine Apokatastasis panton:100 die Allversöhnung am Ende der Zeit, die wie der Chiliasmus in Artikel 17 der Confessio Augustana als jüdische, in Wirklichkeit jedoch jüdisch-kabbalistische Lehre verdammt worden war. Während Lavater sich mit Messias, doppelter Auferstehung und Millennium gegen die Mehrheit der herrschenden Theologien stellte, teilte er deren Position mit der Allversöhnung, der Aufhebung der Gegensätze, also dem Ende, nicht der Ewigkeit der Höllenstrafen. Es ist aber anzumerken, dass Philosophen wie Leibniz und auch Theologen wie Spalding oder Semler die Frage nach einer Allversöhnung kaum direkt bejahten, sondern dieses Ja durch rhetorische Fragen nahelegten.101

  96 Vgl. ebd., 8. Brief, 97–133.   97 Vgl. Anm. 6.   98 Vgl. ebd., 210, 213–215, 219, 230.   99 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Einführung, XLII; Lavater ging in der Vorrede zum 2. Band selbst auf die Vorwürfe des Examinatorenkonvents ein, vgl. JCLW II, 183f. 100 Vgl. etwa ebd., vor allem 545, sowie 469–478 (18. Brief) 479, 523, 550, 552. 101 Vgl. auch Clemm, Einleitung 7, 426. Oder Leibniz, Gottfried Wilhelm, System der Theologie, Mainz 21820 (ND Hildesheim 1966); hier den Abschnitt „Über die letzten Dinge oder das zukünftige Leben“ mit der These, man müsse zwar Origenes’ Apokatastasis panton nicht folgen, aber einer Wendung gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen. Leibniz traue sich nicht, zu schwören, dass es nichts dem purgatorium Analoges gebe.

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4.4 Christozentrismus Gegen die breiten Tendenzen in Theologie und Philosophie stand Lavater für eine ‚Rechristisierung‘ der Theologie und des Jenseits. Christus ist das „Licht der Geisterwelt“, so hieß es in den Aussichten.102 Vollkommene Erkenntnis und die Wahrnehmung Gottes sogar im Jenseits war nur durch Christus möglich.103 Zum Weisheitslehrer und moralischen Vorbild Jesus fügte Lavater wieder den Christus hinzu. Er betonte stets die Göttlichkeit des Sohnes und formte zugleich die soteriologische Rolle Christi um. Lavater erkannte in den heiligen Schriften über 4000 Jahre hinweg die Rede von dem „ausserordentlichen Mann“ Jesus von Nazareth, der „große Revolutionen“ veranlassen werde, wie später auch Luther und Calvin eine „Revolution in der Denkungsart und dem Gottesdienste ganzer Nationen“ ausgelöst hätten – so hieß es in den Aussichten 25 Jahre vor Kants berühmter Formel „Revolution in der Gesinnung“ in der Religionsschrift.104 Zugleich war Christus Versöhner und inkarnierter Gott. Gott ist als Jesus von Nazareth selbst auf die Welt gekommen; er ist eine Person mit Christus105 – dezidiert gegen adoptianische und arianische Tendenzen in der zeitgenössischen Theologie. Zusammen mit Johann Georg Hamann (1730–1788) erscheint Lavater als vielleicht auffälligster Christozentriker des 18. Jahrhunderts.106

5. Adaption, Poetisierung und Zurückweisung Swedenborgs 5.1 Lavater und Swedenborg bei den Lesern Von den Fronten, zwischen denen Lavater seine Unsterblichkeits- und Auferstehungslehre entwickelt und positioniert hat, sticht diese Linie besonders hervor. Er erwähnt sie selten in seinen Texten direkt, aber sie enthält die meisten der Themen in den Aussichten und sie hat zum schärfsten Widerspruch Lavaters beigetragen. Sie lässt sich als anonyme Negativfolie, als gebrochene Inspiration, mas-

102 Vgl. JCLW II, 14. Brief, 442. 103 Vgl. ebd., 503–513 (21. Brief: Von dem Anschauen der Gottheit und dem Umgang mit Christo). 104 Ebd., 50f, 55; Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (21794), in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 29 Bde., Berlin 1902ff (Akademie-Ausgabe – im Folgenden: AA), Bd. VI, 3–202, hier 47. 105 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Einführung in: JCLW II, XXXIX. Weitere Beispiele für die Göttlichkeit des Sohnes ebd., 70f; dem scheinbar widersprechend 145: Hier ist Christus Ebenbild des höchsten Gottes. Die Benennung Jesu Christi als „Erlöser“ ist häufig bei Lavater. Zum speziellen Verständnis der Erlösung vgl. unten. 106 Zu Hamann vgl. etwa Fritsch, Friedemann, Communicatio idiomatum. Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns, Berlin [u. a.] 1999; Bayer, Oswald, „Geschmack an Zeichen“. Zweifel und Gewissheit im Briefgespräch zwischen Lavater und Hamann, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 53 (2011), 1–15.

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kierte Adaption oder Poetisierung beschreiben.107 Vor allem die Zeitgenossen in den 1780er Jahren haben die Verbindung zwischen Lavater und Swedenborg sehr stark gesehen und gezeichnet, insbesondere Johann Salomo Semler mit seinen fast 500-seitigen Unterhaltungen mit Lavater, in denen es überhaupt nicht um Lavater ging, sondern fast ausschließlich um ein Buch von Swedenborg, das Semler als Dekan der Theologischen Fakultät Halle gerade die Zensur hatte passieren lassen.108 Was Lavater selbst nur gelegentlich öffentlich und dann eher in Briefen kundtat, fiel den Lesern zeitig auf. Der erst 23-jährige Goethe rezensierte in den Frankfurter gelehrten Anzeigen Band 3 der Aussichten und empfahl Lavater die Lektüre Swedenborgs, ohne Namensnennung, denn ihm fehlte bei Lavater die Sprache des Himmels und der Seele, es war ihm zu viel Raisonnement und er wünschte ihm die innige Gemeinschaft mit dem gewürdigten Seher unsrer Zeiten, rings um den die Freude des Himmels war, zu dem Geister durch alle Sinnen und Glieder sprachen, in dessen Busen die Engel wohnten: Dessen Herrlichkeit umleucht ihn, wenns möglich ist, durchglüh ihn, daß er einmal Seeligkeit fühle, und ahnde, was sey das Lallen der Propheten, wenn αρρητα ρηματα den Geist füllen!109

Obwohl sich Goethe empört über derzeit diskutierte Geisterbeschwörungen äußerte, bekannte er noch 1781 Lavater gegenüber, er sei „geneigter“ als andere, „noch [an] eine Welt außer der Sichtbaren zu glauben“ und „Dichtungs- und Lebenskraft genug“ zu haben, sein „eigenes beschränktes Selbst zu einem Swedenborgischen Geisteruniversum erweitert zu fühlen“.110 In den polemischen Texten ab den 1780er Jahren wurde eine theosophisch-antiaufklärerische Einheitsfront geschaffen, insbesondere seitens der Berliner Aufklärung, die dafür umgekehrt ebenfalls den Vorwurf der Schwärmerei und Anti-Aufklärung bekam. Nach Swedenborgs Tod hätten sich „Rosenkreuzer, Geisterseher, Swedenborgianer und Magnetisten“ zusammengeschlossen und man sehe, „wie genau die Lavaterischen Wundergrillen zusammenhängen“, so ein Rezensent in 107 Diese verschiedenen Formen sind in ähnlicher Weise auch bei der Rezeption Swedenborgs durch Friedrich Christoph Oetinger vorhanden, vgl. Stengel, Aufklärung, 555–629: neben kritischer Adaption und Negativfolie finden sich hier subkutane Rezeptionen als 1) negative Konnotation, 2) demonstrative Nichtnennung, 3) anonymisierte Adaption, 4) anonymisierte Zurückweisung und 5) maskierte Adaption. 108 Vgl. Stengel, Semler. 109 Goethe, Johann Wolfgang, Rezension zu Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Zimmermann, Bd. 3, 1773 [sic!], Frankfurter gelehrte Anzeigen (1772, 3.11.), 697–701, hier 701. arräta rhämata = grch. „unaussprechliche Worte“, in Anlehnung an die Entrückung des Paulus in das Paradies, wo er ἄρρητα ῥήματα gehört habe, in 2Kor 12,4. 110 Er wolle jedoch, dass das „alberne und ekelhafte menschliche Exkremente durch eine feine Gährung abgesondert und der reinlichste Zustand in den wir versetzt werden können, empfunden werde.“ Angesichts von angeblichen „Geistern, die solchen Menschen gehorchen“ wolle er Lavater „weder widerlegen noch bekehren“, allerdings „wenden sich die Eingeweide bei solchen Thorheiten um“. Goethe an Lavater, 14.11.1781, in: Goethes Briefe. Bd. 1, hg. v. Karl Robert Mandelkow unter Mitarbeit von B. Morawe, München 31986, 372–374, hier 372.

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der Allgemeinen deutschen Bibliothek 1790.111 1787 rezensierten die Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen ein Buch Ueber Jesuitismus, Lavaterianismus, Urlspergerianismus und deren Ursachen, von Tsienkiang einem Chinesischen Mandarin.112 Von einem Autor, der unter dem Namen Saint-Martins schrieb, wurde 1789 die Berlinische Monatsschrift wegen ihres „ewigen Antistarkischen, Antisemlerischen, Antihirschenschen, Antilavaterschen, Antischwedenborgischen Geschwätzes“ attackiert; geradezu zu „Zionswächtern“ hätten sich deren Herausgeber Gedicke und Biester und auch Friedrich Nicolai aufgeschwungen.113 Damit war, am Ende der 1780er Jahre, als Semler die falschen Unterhaltungen mit Lavater schrieb, eine Frontstellung aufgemacht, die Lavaters Zürcher Freund Johann Konrad Pfenninger (1747–1792) noch schärfer fasste: Eine „zum Erstaunen schnell weit“ ausgebreitete Spaltung erblickte er in der Gelehrtenwelt zwischen den Metaphysikern und Revelationisten. Unter ersteren habe sich der „Kantianismus“, unter den Revelationisten der „Swedenborgianismus“ durchgesetzt. Beide Begriffe stammen von Pfenninger. Und er fährt fort: „Ob jemand, der im Jahre 1766. jene Schrift gelesen, diesen Zustand des Kantianismus und Swedenborgianismus auf 1789. – geweissagt hätte?“ In diesem Jahr, als Kants Träume eines Geistersehers erschienen, begann Lavater mit seinen Vorarbeiten für die Aussichten in die Ewigkeit.114

111 Rezension zu: Schneider, Christian Wilhelm, Nachricht von der sogenannten neuen Kirche oder dem neuen Jerusalem der Anhänger Emanuel Swedenborgs, und von ihren gottesdienstlichen Versammlungen in England, Weimar, bey Hoffmanns Wittwe und Erben, 1789, 78, Allgemeine deutsche Bibliothek 93 (1790), 608–611, hier 608f. 112 Vgl. Rezension zu: Ueber Jesuitismus, Lavaterianismus, Urlspergerianismus und deren Ursachen, von Tsienkiang einem Chinesischen Mandarin, Krakau 1787, Hallische Neue Gelehrte Zeitungen (1787, 14. Juni), 344–346. 113 Diese Stelle ist im Text selbst ein Zitat, dessen Herkunft nicht benannt wird. Vgl. [Saint-Martin, Louis-Claude de,] Apodiktische Erklärung über das Buch: Irthum und Wahrheit vom Verfasser selbst. Nebst Original-Briefen über Katholizismus, Freimaurerei, Schwärmerei, Magie, Starken, Lavatern, Swedenborg, Cagliostro, Schröpfern, Mesmern und Magnetismus. Zur Beruhigung der allarmirten Protestanten, Wittenberg/Zürich/Rom [= Weißenfels] 1789, 62, 12. Ob das anonyme Buch tatsächlich von dem Theosophen Saint-Martin verfasst und danach ins Deutsche übersetzt worden ist, wie es das Anonymen-Lexikon offenbar lediglich der Titelangabe entnommen hat, ist im Blick auf den Inhalt durchaus nicht überall nachvollziehbar und müsste ebenso noch genauer geklärt werden, wie die Frage, ob etwa der Saint-Martin-Übersetzer Matthias Claudius hieran beteiligt war. Vgl. Deutsches Anonymen-Lexikon 1501–1850, Bd. 2, Weimar 1903, 48; Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700–1948, Bd. 5, Baden-Baden 1952, 406. Die Apodiktische Erklärung attackiert ihrerseits die Attacken auf den Kryptokatholizismus des Johann August Starck. Sie moniert die verbreiteten „Antikatholischen Warnungen“, die „größten­theils aus der Luft gegriffen“ seien (V) und von einem „gewissen“ Journal mit „antikatholische[m] Geschrei“ kolportiert würden (9). 114 Pfenninger, Johann Conrad, Ueber Swedenborg und Swedenborgianismus, in: J.C. Pfenninger (Hg.), Sokratische Unterhaltungen über das Älteste und Neueste aus der christlichen Welt, Leipzig 1788, 383–406, hier 387; Stengel, Aufklärung, 648–665, hier 663.

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5.2 Ambivalenz und Hybridität der Rezeption Die Rezeption Swedenborgs durch Lavater ist unübersehbar und zugleich gebrochen. Es ist unklar, wann und wie genau er Swedenborgs Bücher direkt zur Kenntnis nahm und inwiefern er die seit 1765 von Oetinger herausgebrachten Übersetzungen und Paraphrasen Swedenborgs kannte.115 1786 schrieb er in einem unadressierten Brief, er habe von Swedenborg keine Idee genommen, die dem „Totalsystem des Evangeliums zuwider sei“.116 Und 1792 fragte er das schon genannte Kopenhagener Orakel: „Was haltet Ihr von Schwedenborg u. seinen Visionen? Ich halt Ihn für wahrhaft, u. seine Geister für sehr subaltern.“ Und das Orakel antwortete: „Ebenso denken wir von Schwedenborg: doch enthält die Lehre viel Emblematisches, das weder er noch andre ganz verstehen können, u. auch viel uneigentliches.“117 Die Swedenborg-Rezeption durch Lavater scheint der Swedenborg-Rezeption Oetingers, der eine solche Auskunft wortgleich ebenfalls hätte geben können, zu entsprechen: die Übernahme der Themen, die Gewichtung des status post mortem und zugleich die schroffe Abwehr theologischer Aussagen, die Oetinger für ‚neologisch‘, doketistisch oder unbiblisch hielt und die seiner Ansicht nach die Leiblichkeit des Menschen und die Materialität der Schrift leugneten und umdeuteten.118 Für Oetinger und Lavater war Swedenborg ein Offenbarungsträger, der seine göttlicherseits gewährte Kenntnis als Wissenschaftler und daher nicht schriftgemäß ausgelegt hatte. Swedenborgs Name war nach dessen Publikationen und seiner Behauptung, selbst durch eine Offenbarung Zugang in den mundus intelligibilis erlangt zu haben und dort jahrzehntelang mit den Seelen Verstorbener zu kommunizieren, nicht ohne weiteres referierbar. Oftmals wurde Swedenborgs Lehre ohne Namensnennung bei gleichzeitiger Distanzierung von der göttlichen Sendung der Person adaptiert.119 Bei einem Teil der Leser waren Kants Träume eines Geistersehers zudem wie ein „Fluch der Lächerlichkeit“ und geradezu als „Todesurteil“ über Swedenborg gelesen worden.120 Einige frühe Rezipienten, darunter Moses Mendelssohn, Oetinger, Philipp Matthäus Hahn, Johann Gottfried Herder und Johann Georg Heinrich Feder,

115 Zum Überblick über Oetingers Übersetzungen und seine anderen auf Swedenborg bezogenen Texte: Stengel, Aufklärung, 521–524. 116 Zitiert nach Caflisch-Schnetzler, Lavaters Himmel, 194. 117 Lavater, Reisetagebücher, Teil II, 353. („Antworten von Kopenhagen auf mehrere besondere Fragen 13 Julÿ 1792 – von der Gräfin Bernsdorf Hand“). 118 Vgl. Anm. 106. 119 Vgl. Stengel, Friedemann, Aufgeklärte Dämonologie. Fluida und Geister bei Swedenborg und seinen Lesern, in: M. Sziede/H. Zander (Hg.), Von der Dämonologie zum Unbewussten. Die Transformation der Anthropologie um 1800, Berlin/München/Boston 2015, 21–46, hier 22–25; Stengel, Friedemann, Prophetie? Wahnsinn? Betrug? Swedenborgs Visionen im Diskurs, PuN 37 (2011), 136–162. 120 So allerdings zu pauschal Benz, Ernst, Immanuel Swedenborg als geistiger Wegbahner des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 19 (1941), 1–32, hier 2, 12.

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sahen ganz im Gegenteil eher die Verwandtschaft zwischen dem zunächst anonym schreibenden Kant und Swedenborg oder waren sich im Unklaren, wie Kant die Träume gemeint habe. Oetinger glaubte in Kant gar einen Parteigänger Swedenborgs zu erblicken.121 Es schien infolge der Träume trotz ihrer Ambivalenz dennoch unmöglich oder wenigstens riskant und daher war es auch selten, den Namen Swedenborgs positiv zu nennen, und wenn, dann bei gleichzeitiger Distanzierung.

5.3 Spalding und Swedenborg In eben dem Jahr, 1763, in dem Lavater mit Hess in Spaldings Pfarrhaus weilte, hier erstmals auf Swedenborg aufmerksam gemacht wurde und Gespräche über den status post mortem, eine stufenartige Entwicklung nach dem Tod und die postmortale Sprache führte,122 nahm der Hausherr selbst große Veränderungen an seinem Hauptwerk, der Bestimmung des Menschen, vor, das aufgrund seiner Verständlichkeit und einfachen Sprache zu den meistgelesenen theologischen Büchern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehört. Das Kapitel über die Unsterblichkeit wurde in der 7. Auflage ausgerechnet 1763 erheblich verlängert und inhaltlich durch ganz neue Akzente ergänzt. Ganz neu dazu kam ein Kapitel „Wiedersehn, die Wiedervereinigung mit Lieben“.123 Für Swedenborg war die Fortdauer der irdischen Bekanntschaften und Liebschaften nach dem Tod, ja sogar der Ehen, sofern sie nicht irrtümlich geschlossen waren, eines der zentralen und populärsten Elemente seiner Lehre.124 Dies war inzwischen durch zahlreiche Rezensionen bekannt geworden. Und ein weiteres Element aus Swedenborgs Unsterblichkeitslehre tauchte bei Spalding neu auf: Während ein postmortales Gericht und ein endzeitlicher Richter unerwähnt bleiben, wird der Mensch für sein postmortales Schicksal selbst verantwortlich gemacht: Was er irdisch ausgeprägt und inwiefern er seine Neigungen entwickelt hat, wird postmortal und körperlos fortgesetzt. Spalding wollte sich daran gewöhnen, die Ewigkeit und das gegenwärtige Leben beständig als ein Ganzes zu betrachten, dieses in allen meinen Handlungen mit jener zu verknüpfen, von einer Sache jeden immer so zu denken, wie ich einmal in der zukünftigen Welt, und in den letzten Augenblicken des itzigen Lebens davon werde denken müssen, und nimmer zu vergessen, daß Rechtschaffenheit und eine ordentliche Seele das Einzige sey, welches in beyden seinen gleichen Werth behält.125

121 Vgl. Stengel, Aufklärung, 648–665. 122 Vgl. Weigelt, Zwischenzustand, 111f. 123 Vgl. Spalding, Johann Joachim, Die Bestimmung des Menschen, hg. v. A. Beutel/D. Kirschkowski/ D. Prause, Tübingen 2006, 183. Vgl. zu Spaldings Swedenborg-Rezeption insgesamt Stengel, Seele, 117–120; Stengel, Gefühl, 27–36. 124 Vgl. Stengel, Aufklärung, 300–306, 311f, 622–629 (Oetingers Teilübersetzung von Swedenborgs De amore coniugali). 125 Spalding, Bestimmung, 184f [Hervorh. i. O.].

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In der erheblichen Erweiterung dieser Passage in der 11. Auflage 1794 betonte Spalding, die Ewigkeit sei eben nur die Fortsetzung und Vollführung dessen, was ich hier, in der regelmäßigen Richtung und Thätigkeit meines Geistes anfange; sie giebt mir nur zur weitern Ausbildung der Eigenschaften, mit welchen ich hier den Verbindlichkeiten in meinen Angelegenheiten und Umständen nachkomme, der Bedachtsamkeit, der Redlichkeit, dem Fleiße, mehr Raum. Vorbereitung hilft mir zum Hinaufrücken.126

Zugleich entfielen in Spaldings Glückseligkeitslehre genau die Themen wie bei Swedenborg: Imputation, Satisfaktion, Gericht.127 Jesus Christus figuriert vier Mal – aber nur als Urheber einer Lehre und als Vertreter einer bestimmten Form von Gottesverehrung (Religion).128 Gerade die dezidiert umgeformte Soteriologie ist eines der zentralen Lehrelemente bei Swedenborg. Außerdem betont Spalding, dass die Vergeltung nach dem Tod im Sinne von Folgen, nicht von Strafen zu verstehen sei: Wer ein Leben in Bosheit geführt habe, werde die letzte Stunde seines Schicksals herannahen sehen, so dass er das ganze „Bange und Schreckliche schon zum voraus empfinden muß, was die Folgen eines solchen Lebens in sich fassen.“ Demgegenüber werde ein Christ – ab Ausgabe 1763: ein Rechtschaffener [!] – den Übergang ins „Land der Unsterblichkeit so viel näher erwarten“ können.129 Auch dies, die Ersetzung des Richtergottes und eines Gerichts über Gute und Böse durch „positive“, d. h. von einer Richterinstanz verhangene Strafen und Belohnungen, durch die bloße Fortführung des irdisch begonnenen Lebens in Kontinuität zum irdischen Leben, gehört zu den Zentralelementen Swedenborgs.130 Schon bei Spalding ist der subkutane Einfluss Swedenborgs unübersehbar, und es ist anzumerken, dass sich Spalding an vielen Stellen später dezidiert von Swedenborg als Person und von seinem Offenbarungsanspruch distanziert hat, bei gleichzeitiger – partieller und gebrochener – Adaption seiner Topoi.131

126 Ebd., 187. 127 Bis zur Auflage f wird die Soteriologie noch mit Hinweis auf den Richter der sittlichen Ordnung formuliert, der einen Mittler „verordnet“ und „dessen Tod zu einem allgemeinen Opfer für die Sünden der Menschen gedient“ hat und ihnen „zu dem untrüglichsten Pfande ihrer Wiederaufnehmung gereichen soll“. Ab Auflage g (1763) wird diese Passage erheblich reduziert und umformuliert: Nun ist ohne jede Erklärung von der „Vermittelung für den Menschen zur allgemeinen Aufhebung seiner Schuld“ die Rede. Opfermotiv und Imputation entfallen: Spalding, Bestimmung, 208f. 128 Vgl. ebd., 200f, 212f, 219 (k). 214f. 129 Vgl. ebd., 265–267. 130 Vgl. ebd., 271–273. 131 Vgl. vor allem Stengel, Gefühl, 27–36.

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5.4 Rezeption durch Adaption In den Aussichten in die Ewigkeit und anderen Texten Lavaters sind zahlreiche Themen Swedenborgs produktiv aufgegriffen und umgeformt worden, die das postmortale Leben des Menschen und damit seine unsterbliche Qualität betreffen. Hier werden zuerst ausgewählte Beispiele für modifizierende Anknüpfungen und dann für Zurückweisungen aufgeführt.

Das postmortale Leben als Fortdauer Das Leben vor und nach dem Tod ist für Swedenborg unmittelbar verbunden; der Tod ist eine Passage. Der Mensch behält sein Gedächtnis, seine Beziehungen und insbesondere seine moralische und intellektuelle Qualität, ja sogar seine Triebe bei, die er zu Lebzeiten ausprägt und dann weiterentwickelt. Bei Swedenborg sehen die postmortalen Seelensubstanzen aus wie ihre Charaktere. Die Tierphysiognomik spielt hier hinein; manche erscheinen wie Tauben und Schwäne, andere wie Wölfe und Löwen.132 Soweit ich sehe, gibt es in Lavaters Jenseits wirklich Tiere und Pflanzen, entsprechend der verbreiteten, auch etwa von Hermann Samuel Reimarus und Justus Christian Hennings (1731–1815) geteilten Sicht, auch Tiere verfügten über unvergängliche Seelen.133 Da geht Lavater über Swedenborg hinaus. Aber die Menschen sehen bei Lavater nicht wie Tiere aus, er behauptet sogar die Ähnlichkeit der Gesichtszüge des postmortalen gegenüber dem irdischen Menschen. Jedoch werden nicht Fleisch und Blut, sondern der wahre Leib auferweckt, in dieser Kontinuität.134 Swedenborg hatte Wolffs Begriff der Substanz verwendet: die Seele ist eine Sub­ stanz, keine Materie.135 Den sowohl Körper als auch Seele umfassenden Leib-Begriff hatte schon Oetinger gegen Swedenborg und Wolff ins Feld geführt, denen er einen

132 Vgl. Swedenborg, Emanuel, Vera christiana religio, continens Universam Theologiam Novae ­Ecclesiae a Domino apud Danielem VII. 7, 13–14 et in Apocalypsi XXI, 1.2 praedictae, Amstelodami 1771 [deutsch: Die wahre christliche Religion, enthaltend die ganze Theologie der Neuen Kirche wie sie vom Herrn bei Daniel Kap. VII 13,14 und in der Offenbarung Kap. XXI 1,2 vorausgesagt wurde, übers. von Friedemann Horn, 4 Bd., Zürich 1960], Nr. 13, 34, 38, 45, 58, 78, 120, 162, 373, 388 und öfter. 133 Vgl. z. B. JCLW II, 328, 496f, 546. 134 Vgl. z. B. ebd., 237f. Zur Wiederauferweckung des wahren Leibes der Offenbarung beruft sich Justus Christian Hennings schon 1774 auf Lavaters und Bonnets inneren Menschen, der alle Gliedmaßen besitze und dessen Nerven ausgedehnt seien. Vgl. Hennings, Justus Christian, Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere, Halle 1774, 286f. Gleichlautend auch Oetinger, Friedrich Christoph, Gedanken über die Zeugung und Geburt der Dinge, aus Gelegenheit der Bonnetischen Palingenesie von Herrn Lavater in Zürch aus dem Französischen übersetzt, Frankfurt/ Leipzig 1774, 42. 135 Vgl. Stengel, Aufklärung, 234–240, 310f.

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leibfeindlichen Doketismus vorwarf.136 Lavater übernimmt ihn und beschreibt die eschatologische Materie als subtil oder auch einmal als Licht, dann, wie erwähnt, als stamen mit einem pneumatischen Leib.137 Gemeinsam ist diesen Entwürfen das Festhalten an einer personalen Kontinuität über den Tod hinweg.

Seminarium caeli Bei Swedenborg ist das irdische Leben seminarium caeli, bei Oetinger „Pflanzschule für den Himmel“, der Begriff war schon in die Dogmatik von Clemm eingegangen, bei Lavater Erziehung und Lehrzeit.138

Postmortale Perfektibilität Die menschlichen Seelenkräfte und die physischen Kräfte wachsen bei Swedenborg und bei Lavater durch den Wegfall des physischen Körpers im Jenseits. Räumliche Entfernungen und zeitliche Abstände, Zeit und Raum entfallen als Dimensionen, sie gehören zur irdischen Welt. Je ähnlicher wir GOtt seyn werden, desto mehr werden wir in jedem Augenblick leben. Die Ewigkeit wird uns immer wachsen, weil wir immer fähiger seyn werden, in jedem Augenblicke mehrere Lebens-Jahrhunderte zusammenzudrängen. Aber nicht nur wird uns jeder Tag, jede Stunde, jeder Augenblick wie ein irdisches Jahrtausend werden können; sondern auch das, was uns izo ein Jahrtausend wäre, wird uns wie Ein Tag, Eine Stunde, Ein Augenblick vorkommen können. Wenn wir nämlich im Stande seyn werden, so viele succeßive Veränderungen, als wir auf Erden, während tausend Jahren mit klarem Bewußtseyn in uns wahrnehmen würden, mit Einem Blick, wie Ein Gemählde zu übersehen […].139

Die Seelenmenschen sind ‚multitaskingfähig‘ und können vieles gleichzeitig tun. Giovanni Pico della Mirandolas (1463–1494) legendäre Mnemotechnik gilt Lavater als Analogie für die unendlich steigerbaren intellektuellen Potenzen.140 Es herrschen andere Geschwindigkeiten, wie bei Swedenborg die extreme Verfeine-

136 Vgl. ebd., 550–555. 137 Vgl. Weigelt, Zwischenzustand, 119; Lavater, Aussichten, 122, 265, 342; 118–122 (für den mit Licht verherrlichten Leib Christi), zum stamen vgl. oben Anm. 91, 92. 138 Vgl. oben Anm. 14, 19f. 139 JCLW II, 537f [Hervorh. i. O.]. Vgl. den gesamten 24. Brief (Von der Zeit und Ewigkeit), 531–540; für Swedenborg vgl. Stengel, Aufklärung, 219f. 140 „Ficus Mirandulanus“ soll 2000 einmal vorgesagte Wörter aus dem Gedächtnis wiederholt haben können, vgl. JCLW II, 409.

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rung der fünf Sinne, höhere Erkenntnisfähigkeiten, Körper, die penetrabel sind und durch Wände dringen können. Die symbolische Erkenntnis entfällt wegen ihrer Vorläufigkeit; es wird unmittelbar erfahren, auch das Vorstellungsvermögen wächst. Körper können sich ausdehnen und zusammenziehen. Alle Irrtumsquellen werden verschwinden.141 Als Beispiel tauchen bei Lavater immer wieder Namen auf, die in diesem Zusammenhang bereits Swedenborg kennt und die sogar Kant nennt: wie sollen solche Genies wie Newton und Leibniz ihre intellektuellen Fähigkeiten bei dem Hindernis des Körpers zu Lebzeiten voll entwickeln können?142 Es muss ihnen gewissermaßen die Möglichkeit offenstehen, sich auch nach dem Tod des Körpers weiterzuentwickeln. Was noch Kant in den Vorlesungen als teleologischen Unsterblichkeitsbeweis ausführt,143 wird namentlich bei Zeitgenossen häufig mit den genannten „Genies“ und anderen verbunden, deren überragende Geisteskräfte durch die Körpersinne gehemmt würden und erst postmortal zu voller Entfaltung gelangen könnten.

Kontinuität der Beziehungen Die Kontinuität der Person über den Tod hinaus hat Swedenborg zur Wiedersehensfigur gebracht. Er will dort seine Bekannten, die großen Philosophen von Aristoteles bis Wolff und Leibniz, Luther und Zinzendorf, Karl XII., Freunde und Feinde und auch seine – er war Junggeselle – künftige Ehefrau gesehen und gesprochen haben.144 Den Wiedersehenstopos, den man in so vielen Texten und dann in Erlebnisberichten insbesondere über den Kontakt mit verstorbenen Kindern und Ehepartnern findet,145 hat Spalding in die Bestimmung übernommen. Lavater hat sich mit seinem Versuch, Kontakt zu Felix Hess zu bekommen, darauf bezogen. Laut Aussichten hat er die Hoffnung, dereinst eine ganze Phalanx von schon Verstorbenen und noch Lebenden dort zu erblicken: Adam, Henoch, Noah, Abraham, Elias, Petrus, Jakobus, Johannes, Paulus, Timotheus, Stephanus, Kornelius,

141 Vgl. insgesamt ebd. den 11. Brief: Von der Vollkommenheit des himmlischen Cörpers, und den 12. Brief: Von der Erhöhung der physischen Kräfte, 13. Brief: Von der Erhöhung der Geisteskräfte 405–436; Lavater, Aussichten, 243–322, 323–365, 405–436. 417: „Hienieden ist der Geburtsort des Irrthums; dort das Vaterland der Wahrheit.“ Zu Swedenborg Stengel, Aufklärung, 315, 382. 142 Vgl. JCLW II, 418, 435. 143 Vgl. etwa die Metaphysikvorlesungen nach Herder, AA XXVIII,1, 3–166, hier 109; L1, AA XXVIII,1, 193–350, hier 292–294; Metaphysik Mrongovius, AA XXIX,1,2, 745–940, hier 914–916; K2 , AA XXVIII,2,1, 751–812, hier 765–767; Dohna, AA XXVIII,2,1, 613–702, hier 687f; K3 , AA XXIX,1,2, 943–1040, hier 1039. Vgl. dazu: Stengel, Friedemann, Kant, die rationale Psychologie und Swedenborg, in: H. Heidenreich/F. Stengel (Hg.), Kant um 1900, Berlin/Boston 2022, 209–268, hier 243–250. 144 Vgl. Stengel, Aufklärung, 25, 287–291, 302, 334 passim. 145 Vgl. dazu Sawicki, Leben.

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Maria, Maria Magdalena, seine eigenen Freunde: beide Hess und Zimmermann, an den die Aussichten gerichtet waren, sowie mit Initialen abgekürzt: Johann Gerhard Hasenkamp, Eberhard Gaupp, Pfenninger, Mendelssohn, Spalding und ganz am Ende seine „liebenswürdigste Gattin“ und seine Kinder will Lavater einst erblicken.146 Dass er noch zwanzig Jahre später das Orakel in Kopenhagen ausführlich nach dem postmortalen Schicksal Verstorbener wie Felix Hess fragt, zeigt, wie überzeugt Lavater war, diese Personen wiederzutreffen.

Herkunft des Bösen und moralische Gemeinschaften im Jenseits Ein Richtergott und ein Teufel, der am Gericht beteiligt würde, existieren bei Swedenborg nicht. Das Böse ist menschliches Produkt der Willensfreiheit und geht nicht auf eine ontische Gewalt zurück. Es gibt daher auch keine fremde Instanz, die den Menschen bewerten, belohnen oder bestrafen würde. Himmel und Hölle existieren, aber die Menschenseelen begeben sich selbst dorthin und suchen sich ihresgleichen.147 In den Aussichten betont Lavater, das Leben nach dem Tod sei natürliche Fortsetzung der moralischen Beschaffenheit und der Fertigkeiten. Strafen und Belohnungen im Jenseits sind Folgen und werden nicht auferlegt, auch positive Folgen geschehen durch die von Gott eingerichtete „ewige, unwandelbare vorherbestimmte Harmonie“.148 Die Seelen suchen sich auch in den Aussichten Lavaters ihre Gemeinschaften: Tugendhafte zu Tugendhaften und Lasterhafte zu Lasterhaften. Himmel und Hölle sind Folgen des Diesseits. Bei Lavater und bei Swedenborg sind gute und böse „Gesellschaften“ ohne fremde Instanzen natürliche Folgen irdischer Tugend und irdischen Lasters.149 Im Jenseits steigern sich die Grade der „Entzückung“ der Rechtschaffenen und die Grade der „namenlosen unüberwindlichen Verzweiflung“ der Seelen, die sich „gegen das Gewissen und die vorgelegte Offenbarung Gottes empöret und böses gethan haben“.150 Die Verzweiflung quillt nun aus ihnen hervor als „jämmerlichster“ Zustand der „furchtbarsten Selbstanschauung, oder, welches Eins ist, Selbstverabscheüung“ und „mit unwiderstehlicher durch ihren Egoismus elender, verlassener Seelen, die sich selbst unaufhörlich zu verdammen, durch sich selbst verdammt sind, hingerissen werden“,151 während die, die irdisch

146 Vgl. JCLW II, 463f. 147 Vgl. Stengel, Aufklärung, 244–250, 271–291, 309–318. 148 Vgl. JCLW II, 72, 76f. 149 Vgl. ebd., 128–131, 491, 519. Soweit ich sehe, vermeidet Lavater die Ausdrücke „Himmel“ und „Hölle“ im Gegensatz zu Swedenborg. 150 Vgl. ebd., 92. 151 Lavater, Kaiserin, 35.

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geliebt haben, unbeschreibliche Liebe erfahren werden.152 An die Zarin schreibt Lavater 1798, dass lieblose Menschen im anderen Leben sich verfinstern, „materieller, ungeistiger, elementarischer, irdischer, nächtlicher, lichtloser“ werden.153 Einen oder viele Teufel kennt Lavater nicht, auch wenn der Begriff als Zitat gelegentlich auftaucht,154 daneben spricht er von Oberherren.155 Oetinger hatte 1774 an Lavater wie schon vorher an Swedenborg kritisiert, dass in dessen Ewigkeit kein Teufel mehr vorkomme,156 und Oetinger selbst hatte in Anknüpfung an Böhme und Bengel gegen die Tendenzen von Neologen, Doketisten, und Rationalisten mit seiner emblematischen Auslegung der Bibel ein massives Teufelsverständnis in Stellung gebracht – obwohl auch er an der Apokatastasis festhielt und sogar die Versöhnung des Teufels selbst im Auge hatte.157 Weit über Lavater hinausgehend schildert Swedenborg den jenseitigen Zustand von Engländern und Deutschen, Kriminellen, Juden, Muslimen, Afrikanern, Unzüchtigen, die alle ihre Physiognomie, Tätigkeit und Eigenschaften weiterführen.158 Dafür findet sich bei Lavater die Vorstellung, die Befriedigung aller Bedürfnisse sei Seligkeit, dauerhafte Bedürfnisse ohne Befriedigung jedoch die Hölle.159

Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen Swedenborg behauptet die permanente, sinnlich nicht erfahrbare Gemeinschaft der menschlichen Seele mit mehreren Seelen Verstorbener. Sie helfen als Tutoren bei der postmortalen Erziehung verstorbener Kinder und beim Übergang in die andere Welt, sind aber keine eigene Geistgattung, sondern menschliche Seelen.160 Schutzengel und Engelstutoren gibt es auch bei Lavater in den Aussichten, aber er betrachtet sie im Unterschied zu Swedenborg als eigene Geistgattung, denen die „verklärten Menschen“ lediglich sehr ähnlich seien.161 Für diese „Classen seeliger

152 Vgl. ebd., 47. 153 Ebd., 62. 154 So etwa in Lavater, Johann Caspar, Nachdenken über mich selbst, in: JCLW III, 313–352, 318. 155 Vgl. JCLW II, 519. 156 Vgl. Oetinger, Friedrich Christoph, Reichs-Begriffe, Von dem Streit des Teufels und der bösen Geister, wider Christum und das Würmlein Jacob, dem Herrn Lavater in Zürch, zur Prüfung übergeben; und zum Druck befördert, von einigen Freunden in Strasburg, Straßburg 1774, 19. 157 Vgl. Stengel, Aufklärung, 542–544, 561, 585, 608 passim. 158 Vgl. ebd., 277–291, 316–318. 159 „Bedürfniss ohne Befriedigung ist Verdammniss. Bedürfnissbefriedigung – Seeligkeit.“ Lavater, Kaiserin, 31. 160 Vgl. Stengel, Aufklärung, 256, 271–277. Für Oetinger sind Engel und Teufel hingegen eine eigene Geistgattung, vgl. ebd., 540; und das in scheinbar gezielter Entgegensetzung gegen Swedenborg und ihm folgenden Autoren, vgl. ebd., 493, 707, 711. 161 Vgl. JCLW II, 32.

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Geister“ sei nichts anziehender als die „Liebe der Erdensöhne“,162 schreibt er an die aus Württemberg stammende Zarin. Es gebe einen „untrennbare[n] Zusammenhang“ zwischen unsichtbarer und sichtbarer, zwischen „Menschen- und Geisterwelt“ und eine „unaufhörliche Gemeinschaft zwischen den liebenden Einwohnern der Erde und des Himmels – Ein wechselseitiges wohlthätiges Wirken von jeder [sic!] Welt auf die andere.“163

Anthropozentrischer (Garten-) Himmel In Swedenborgs mundus spirituum besteht das Leben nicht aus Lobpreis und Genuss. Es wird gearbeitet; die irdischen Tätigkeiten werden auf höchstem und noch wachsendem Niveau fortgesetzt. Es gibt Herrscher und Diener, Gärtner und Philosophen, Hausstände, keinen Müßiggang.164 Alles dient einem höchsten Zweck. Regnum finium war der Leitbegriff, der Ort, an dem causa und finis zusammenfallen,165 bei Kant wohl in Anknüpfung an Swedenborgs Reich der Zwecke.166 Bei Lavater ist es nicht anders. Es gibt wie bei Swedenborg Berufe, Könige und Tagelöhner, Erzieher und Ausbilder, man beschäftigt sich mit Naturphilosophie, Naturgeschichte, geistigen und anderen Kräften, gesellschaftlichen Verbindungen (Soziologie), Geschichte der Vergangenheit, Beredsamkeit, Poesie und Musik. Es gibt Gärten und Paläste. Man unternimmt Lustreisen in andere Himmels- und Weltgegenden und feiert Feste.167 Alles dient dem universalen Zweck, die unterschiedlichen Fähigkeiten ergänzen sich, niemand schätzt andere gering.168 „Wie sehr wird da das Beßte, was die Erde hat, das, was der Himmel so gern zu seinem Eigenthum haben mögte, – der Mensch, der Mensch – genossen!“, ruft Lavater, das sei der „so unentbehrliche, so beseeligende Menschengenuß“.169 Der Himmel ist anthropozentriert und er ist eine Gartenkultur. Alle arbeiten mit höchstem Effekt in einer Welt, in der alle nur auf Einen Zweck sehen, und mit gemeinschaftlichen Kräften und unauslöschlichem Eifer nur auf Einen arbeiten, wo keine Leidenschaften das Licht des Verstandes verdunkeln, wo sich das Privatinteresse niemals mit einschleicht.170

162 Lavater, Kaiserin, 66. Zu Engeln vgl. JCLW II, 92, 128f, 147, 291, 314, 320, 464, 538. 163 Lavater, Kaiserin, 64f. 164 Vgl. Stengel, Aufklärung, 311f. 165 Vgl. ebd., 233, 391f. 166 Vgl. ebd., 688–695. 167 Vgl. JCLW II, den gesamten 20. Brief: Von den Beschäftigungen der Seligen, 491–501, sowie 334, 445, 519. 168 Vgl. ebd., 141–143, 445, den 17. Brief: Von den gesellschaftlichen Freuden, 459–467. 169 Ebd., 461 [Hervorh. i. O.]. 170 Ebd., 334.

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Gemeininteresse und Gemeinnutz gehen vor dem Privatinteresse, so Lavaters himmlischer Utilitarismus.

Planetenbewohner Auch das Thema der Planeten ist bei Lavater vorhanden, aber nicht im geringsten in der Plastizität wie bei Swedenborg, der Jupiter, Saturn und Mars besucht haben will und sich in detaillierten Beschreibungen ihrer Bewohner ausgelassen hatte.171 Postmortale Himmelsreisen prognostiziert aber auch Lavater.172 Wie bei Swedenborg werden die Himmelskörper immer roher und dunkler, je weiter sie weg sind, und die allerfeinsten Himmelskörper sind postmortal den Christen vorbehalten.173 Wie Swedenborg, Kant, Oetinger und andere spekuliert Lavater über die Beschaffenheit der Bewohner anderer Planeten.174 Dafür verlegt Lavater auch den Aufenthalt der Unseligen auf Planeten oder gar in den finstersten Mittelpunkt der Erde175 und stellt sich damit ebenfalls gegen Swedenborg, für den das Jenseits auch topographisch rein geistig ist, zwar substantiell, aber existent und nicht imaginiert.

Keine unio mystica Wie bei Swedenborg findet keine Vereinigung Gottes mit den Menschenseelen statt, es läuft nicht auf einen transzendenten Pantheismus hinaus, sondern auf einen unendlichen Vervollkommnungsfortschritt, progressus infinitus bei Kant. Bei Swedenborg ist nur eine coniunctio des Menschen mit Gott möglich, keine unio.176 Bei Lavater ist und bleibt Gott selbst unsichtbar, kann aber durch Christus als Mittler

171 Vgl. Stengel, Aufklärung, 319–323, 419–432. 172 Vgl. JCLW II, 497. Justus Christian Hennings vermutet einen Einfluss Andreas Rüdigers auf Lavaters Annahme, die Seele besitze nach dem Tod ein zartes „Leibchen“, das aufgrund seiner Subtilität sogar Planetenwanderungen unternehmen könne. Vgl. Hennings, Justus Christian, Von Geistern und Geistersehern, Leipzig 1780, 255. 173 Vgl. ebd., 135, 138. 174 Beispielsweise müssten die Einwohner der Erde kleiner als die des Saturn und größer als die des Mondes sein, vgl. ebd., 307f. 175 Vgl. ebd., 518, hier (wie 114) offenbar unter Bezugnahme auf Sembeck, Johann Gottlob Lorenz, Versuch, die Versetzung der begnadigten Menschen an die Stelle der verstoßenen Engel schriftmäßig zu beweisen, Göttingen 1759; und dessen Rezension von Ernesti, Johann August, in: Neue theologische Bibliothek 1760, 457–468. Vgl. auch Stengel, Aufklärung, 474f. 176 Vgl. Stengel, Aufklärung, 38, 275, 446, 449, 666, 669, 685f, 692, 694.

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angeschaut werden. Dies vermögen jedoch nur die Vollkommenen, die den Geist Gottes schon irdisch sinnlich und intellektuell wahrnehmen.177

5.5 Rezeption durch Differenz Neben den wichtigsten an Swedenborg angelehnten Topoi sind die auffälligsten und auch bewusst von Lavater positionierten Differenzen gegenüber der zeitgenössischen Theologie, wie er sie empfand, benannt worden. Zu diesen Punkten gehören die signifikantesten Frontziehungen, die Lavater gegenüber Swedenborgs Theologie vornahm:

Kein anthropomorphes Universum Swedenborgs geistiges Universum besteht aus der Figur eines riesigen Menschen, dem homo maximus. Zwar ist Gott selbst nicht identisch mit ihm, aber gerade die Gottebenbildlichkeit des Menschen hatte Swedenborg zu der Annahme geführt, das gesamte Universum bestehe aus Gottes Ebenbild, dem Bild eines Menschen, wenn er auch den Dominus selbst für unerkennbar hält und sich in seiner Gestalt und in seinen Eigenschaften nicht-anthropomorph vorstellt.178 Die drastische Schilderung der Organe und Gliedmaßen dieses homo maximus war von vielen Zeitgenossen mit teils beißenden Kommentaren versehen worden. Lavater stellt sich gegen Swedenborgs Anthropomorphismus, wenn er betont, dass Gott keine menschlichen Gliedmaßen und Organe habe, nicht „Hände, Füsse, Augen und Ohren“. Für Lavater besteht die Gleichheit Gottes mit dem Menschen nur in „einigen wenigen Aehnlichkeiten des Gemüths“ und auch die Ähnlichkeit des Menschen mit Christus möchte er nicht in einem buchstäblichen Sinne verstehen.179

Apokatastasis panton Für Swedenborg wie für Kant ist ein Eingreifen Gottes in das Versöhnungsgeschehen nicht möglich. Es gibt keine Gnade, die den Menschen aus seinen natürlichen und selbst zugezogenen Strafen befreien würde. Gnade und Barmherzigkeit waren 177 Vgl. JCLW II, 93, der gesamte 21. Brief: Von dem Anschauen der Gottheit und dem Umgang mit Christo 503–513. Hierin: „Aber der Unsichtbare hat sich seine Geister-Welt sinnlichsichtbar und unmittelbargenießbar gemacht“ [sic!]. 178 Vgl. Stengel, Aufklärung, 223f, 312–316. 179 Vgl. JCLW II, 251, 256, 259.

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auch Swedenborgs Gott fremd. Die moralische Qualität des Menschen, die dieser sich selbst zugezogen und erworben hat, bringt ihn in sein postmortales Schicksal. Wer böse geworden ist, wird es in Ewigkeit sein, wer gut war, wird glückselig. Eine scharf dualistische Eschatologie ist das Ergebnis. Dass in der künftigen Welt „alles auf einen Haufen“180 sein wird, betrachtet Kant in offenbarer Anlehnung an Swedenborg im Ende aller Dinge (1794) und in den Vorlesungen als unvorstellbar. Die Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen kann durch Gott nicht einmal mit dem Ziel der Erlösung beschnitten werden.181 Schon Oetinger hatte wie nun auch Lavater gegen diese ewig-dualistische Eschatologie Stellung bezogen: es passte nicht zum Bild eines gütigen Gottes, neben dem das Böse eine nur vorübergehende ontische Qualität besitzen konnte.182 Da die Apokatastasis panton in den Bekenntnisschriften aber verdammt worden war, stellte Lavater wie etliche Zeitgenossen die Ewigkeit der Höllenstrafen nur so infrage, dass er die Antwort in der Regel dem Leser überließ oder sich mit tendenziellen Aussagen begnügte. Auf der einen Seite betonte er, dass die Sünder sich ihre Strafen „selbst zugezogen und bereitet“ hätten. Zugleich unterstrich er den göttlichen Erlösungswillen für alle Menschen. Gott hadere nicht ewig183 und Christus sei „nicht ein sechstausendjähriger, sondern ein ewiger Heyland“.184 Das Leiden könne nur erträglich angeschaut werden in der Gewissheit, dass Gott beste Absichten habe,185 zumal nicht alle Menschen dazu „gestimmt“ seien, Gottes Liebe zu empfinden und dadurch seinen Zorn zu erleiden,186 so scheint mir Lavater hier die doppelte Prädestination umzuformulieren. An anderer Stelle meinte er, eine seiner „vornehmsten Vermuthungen“ sei die „Wiederauflebung aller lebendigen Wesen: die Erneuerung aller Dinge“.187 Alle Wesen hätten organisiertes Leben und „lebendigmachende Kräfte“;188 alles, was in Körper- und Geisterwelt geschehe, ziele auf „Lebendigmachung“.189 Christus sei nicht zum Gericht in die Welt gekommen, sondern habe „Leben und Unsterblichkeit“ gebracht, um den Tod zu tilgen.190 Kein Teilchen werde vernichtet, sondern alles ihm näher kommen.191 Von Zeitgenossen wie dem Jenaer Philosophen Justus Christian Hennings wurde Lavater zusammen mit Basedow als Vertreter der Apokatastasis-Lehre rezipiert, denn auch die Lasterhaften würden dort tugendhaft – und die Vernunft könne das Gegenteil nicht

180 Vgl. Metaphysikvorlesung nach Volckmann. AA XXVIII/1, 446f, Zitat 447. Sowie Stengel, Aufklärung, 666–673, hier 669, 689–695, hier 692. 181 Vgl. dazu Stengel, Aufklärung, 250–253, 259–262, 269–271. 182 Zu Oetinger vgl. ebd., 513–515, 535, 552–555, 583f, 587 passim. 183 Vgl. ebd., 521f. 184 Vgl. ebd., 526. 185 Vgl. ebd., 529. 186 Vgl. ebd., 526. 187 Ebd., 545. 188 Vgl. ebd., 546. 189 „Was lebt, soll immer lebendiger werden“, ebd., 550. 190 Ebd., 551. 191 Ebd., 552.

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erweisen. Zeitgenossen rezipierten Lavater ausdrücklich als Vertreter der Allversöhnungslehre.192

Versöhnung und Erlösung als Unsterblichkeit Christus ist bei Swedenborg mit dem Vater im Grunde identisch, er spricht von Jehovah oder Dominus.193 An der Inkarnation hält er fest, aber die Soteriologie wird abgelegt: Christus ist gestorben, aber nicht zu Übernahme der Sünden durch Imputation, sondern vor allem zur Gewährleistung der menschlichen Freiheit durch Niederringung der Hölle und als moralisches Vorbild.194 Für Lavater hingegen herrscht Christus auch im Jenseits, ohne ihn ist keine Gotteserkenntnis möglich.195 Selbstverständlich spricht Lavater von Versöhnung und vom Versöhner,196 aber das ist, soweit ich sehe, ein bloßes Wortzitat. Eine Soteriologie, die mit dem Kreuz als stellvertretendem Sühnetod, mit der Anrechnung des fremden Verdienstes zur Seligkeit der Glaubenden und mit der Satisfaktion Gottes zu tun hätte, ist bei Lavater nicht zu finden. Dass Gott die Sünden vergibt, heißt für Lavater explizit: „er hebt alle schädlichen Folgen der Sünde in uns und ausser uns durch Christum auf “.197 Wenn Lavater betont, Christus sei nicht zum Gericht in die Welt gekommen, sondern um Leben und Unsterblichkeit zu bringen und den Tod zu tilgen, dann wird mit dieser Aussage stillschweigend die Soteriologie umgewichtet. Allen gelte die Möglichkeit zur Rückkehr „zum unsterblichen Ebenbilde“. „So weit ist die Lehre von der Vergebung der Sünden lichtvoll und unzweifelhaft.“198 Der Messias ist „GOttesvollste Person, […] König und Heyland der Welt!“,199 und soll als solcher geglaubt werden. Gott offenbarte sich „im erhabensten unaussprechlichen Verstand“ in der Schechina, so scheint es Lavater von Oetingers kabbalistischen Anleihen übernommen zu haben.200 Er wurde inkarniert und starb, er brachte auch Versöhnung und Erlösung, aber „aus freyer Gnade“ durch die Gabe der Unsterblichkeit, die Lavater im 18. Brief der Aussichten mit der Vergebung aller „schädlichen“ Sündenfolgen in eins setzte,

192 Vgl. Hennings, Justus Christian, Anthropologische und pneomatologische Aphorismen, Halle 1777, 111. 193 Vgl. Stengel, Aufklärung, 198f, 226–228. 194 Vgl. ebd., 262–271. 195 JCLW II, 503–505. 196 Vgl. etwa Briefe über die Schriftlehre von unsrer Versöhnung mit Gott durch Christum in: Lavater, Johann Kaspar, Nachgelassene Schriften, Bd. 2: Religiöse Briefe und Aufsätze, Hildesheim/ Zürich/New York 1993 [1801], 1–108. 197 JCLW II, 469. 198 Ebd. 199 Ebd. 200 Ebd., 145; zu Oetingers Figur vgl. Stengel, Aufklärung, 539.

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weil laut Römerbrief 6,23 der Tod der Sünde Sold sei.201 Christus hat „das Leben und die Unsterblichkeit ans Licht hervorgebracht“,202 formuliert er am Anfang der Aussichten so, als ob es Unsterblichkeit auch vorchristlich schon gab, aber durch Christus erst offenbart worden sei. Dass Christus als Jesus für Lavater moralisches Vorbild, inkarnierte Liebe und zugleich Weisheitslehrer war und als Mann der großen Revolutionen wie seine Nachfolger Calvin und Luther eine „Revolution in der Denkungsart“ bewirkte, ist erwähnt worden.203 Ein weiteres Ziel der Inkarnation ist die Vervollkommnung des Menschen.204 Christus, der bei Lavater oft in Anlehnung an Klopstocks Messias figuriert, ist rührendstes Beispiel für Menschenliebe, Knecht aller, Vorbild für Gehorsam bis in den Kreuzestod, der den Trieb der Eigennützigkeit überwunden hat.205 Er hat sich durch sein Leiden zum Heiland der Welt gemacht und selbst zur Unsterblichkeit vervollkommnet.206 Lavater hat – wie Oetinger – über die physische Wirksamkeit und Performativität von Christi Blut nachgedacht; das Blut selbst ermöglicht als ätherartige Materie die Penetrabilität der Materie der ganzen Natur und des Menschen.207

Endlichkeit der Welt, Millennium, Auferstehungen Für Swedenborg sind Himmel und Erde unendlich und ewig. Ein Weltende gibt es nicht, das Jüngste Gericht ist eine Fiktion. Es hat verschiedene Gerichte in der Geisterwelt gegeben, um das Übergewicht der Hölle zu beenden, zuletzt durch die Inkarnation des Herrn und dann ein Jüngstes Gericht, das Swedenborg 1757 selbst miterlebt haben will und das in der Verkündigung seiner eigenen theologischen Lehre bestand, die ihm der Dominus selbst mitgeteilt habe.208 Die Unendlichkeit und Ewigkeit der Welt als dem Wesen Gottes analoge Eigenschaft teilt Lavater – zusammen mit Oetinger – nicht. Wie die Wiederkunft des Messias, die erste Auferstehung, Judenbekehrung, zweite Auferstehung, irdisches Millennium als Messiasherrschaft, Schlacht von Harmagedon, zweite Auferstehung, so steht auch die große „allgemeine Zerrüttung, wenigstens unsers Erdenballs und der Athmosphäre desselben […] vermuthlich auch aller Planeten“.209 201 Ebd., 469. 202 Ebd., 21. 203 Vgl. Anm. 104. 204 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Einführung in: JCLW II, XXXIX. Sowie dort: Brief Lavaters an Martin Crugot. 205 Ebd., 448. 206 Vgl. ebd., 488. 207 Vgl. Hannemann, Wandel, 166f, 173–175, 178; zu Oetinger: Stengel, Aufklärung, 554, 561, 572, 583, 595, 608, 619. 208 Vgl. Stengel, Aufklärung, 219f, 232, 271–293. 209 JCLW II, der gesamte 8. Brief, 97–133, Zitat 121, sowie 91, 94, 135, 147, 210.

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6. Lavater – Kind der Aufklärung Inwiefern Lavater ein Kind der Aufklärung, des Pietismus oder Vorbote, vielleicht sogar Vater der Erweckung gewesen ist, hängt stets davon ab, wie man diese historiographischen Kategorien versteht. Zwischen einem im zeitgenössischen Diskurs durchaus nicht außergewöhnlichen Verständnis von Rationalität und Vernunft, zwischen einer im Sinne von Aktualität sehr modernen Theologie, der Freiheit und Autonomie des Menschen, der Figur von der besten aller möglichen Welten und einem sehr positiven Gottesbild, zwischen dem vollen Bewusstsein zweier Welten, der Überzeugung eines wirkfähigen Geistes und der ewigen Perfektibilität der Menschen stand Lavater mit seiner als äußerst kräftig empfundenen Re-Implementierung der universal-soteriologischen Rolle Christi. Diese Perspektiven suchte er mit einer an etlichen Stellen geradezu unfassbar optimistischen Anthropologie zu verbinden, mit der „Unentbehrlichkeit und Unersetzbarkeit“ aller Menschen, die zu „Toleranz und Menschenliebe“ führe. Selbst „der schlechteste, verzogenste, verdorbenste Mensch“ sei doch „unentbehrlich in Gottes Welt“ und das ganze Menschengeschlecht sei „aus Einem Blute gemacht“, auch wenn er sich der unbeschreiblichen „Verderblichkeit“ und zugleich „Vervollkommlichkeit des Menschen“ bewusst ist, so notiert Lavater in den Physiognomischen Fragmenten.210 Die Anthropologie des langen 18. Jahrhunderts lässt sich von den Anthropologien vorher und danach schwer abgrenzen, weil in das vermeintlich aufgeklärte Menschenbild unübersehbare Konstruktionsleistungen seit dem 19. Jahrhundert eingeflossen sind, die sich vor allem von vermeintlich un- oder gegenaufklärerischen Humanismen abgrenzen.211 Wenn die Anthropozentrik dennoch als Leitidee der Aufklärung oder eine anthropologische Wende als Kennzeichen von Aufklärung betrachtet würde, dann war Lavater ein Aufklärer oder Kind der Aufklärung mit seiner Verbindung aus Christus, Mensch und Unsterblichkeit – und solchen programmatischen Aussagen: Was ist der Mensch? – Ein freyes, lebendiges, selbstthätiges Wesen, begabet mit empfindenden, denkenden, moralischen, physischen Kräften, die sich unendlich vervollkommnen lassen; ein Wesen, das vermögend ist, die größten Veränderungen in dem Zusammenhang aller Dinge zu bewirken und zu veranlassen; ein Wesen, das bestimmt ist, ohne Aufhören fortzudauren und ohne Aufhören thätig zu seyn; bestimmt zu einer Vollkommenheit, die alle Begriffe übersteigt, und die allemal, so gering man sich dieselbe auch immer vorstellen würde, in dem Plan der Schöpfung von unbestimmlich grosser Wichtigkeit seyn muß, weil sie ohne Aufhören fortwachsen soll; ein Wesen, das dem vollkommensten Wesen in

210 Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Zweyter Versuch, Leipzig/Winterthur 1776, 28, 30 [=Stuttgart 2004, 142f, 145]. 211 Vgl. dazu etwa Stengel, Friedemann, Was ist Humanismus? PuN 41 (2015), 154–211.

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einem unermeßlichen Reiche der Gottheit, dem Gottmenschen ähnlich werden soll; – und ein solches Wesen zu zeugen oder nicht zu zeugen, stehet in der Gewalt und in der Freyheit eines Erdenwurms, und seine Hervorbringung ist das Werk eines Augenblickes. Er, dieser Erdenwurm kann sagen: Ich will! und ein Mensch entstehet, dessen Daseyn alle Ewigkeiten durchschneidet, und dessen Wirksamkeit die Unendlichkeit erfüllet: – und, Er, dieser Erdenwurm sagt: Ich will nicht. – Und dieß Wesen bleibt zurück.212

212 JCLW II, 335f.

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Theologie und Dichtung. Lavaters religiöser Sturm und Drang

„O Herder – ich beschwöre Dich – hilf mir ihn [Christus], ihn darstellen.“1 Diese Bitte fasst in nuce zusammen, was Lavaters Werk und Wirken ausmacht: Beidem liegt das Anliegen zugrunde, hinsichtlich einer zu stark von Rationalismus geprägten weltanschaulich-moralischen Religionsauffassung auf ein biblisch verwurzeltes, auf Jesus Christus abstützendes Christentum zu verweisen, bei dem nicht die logische Erklärbarkeit, sondern die gefühlte Glaubenswahrheit im Vordergrund steht. Lavater will Jesus Christus verkünden, wie er ihn als Grundlage des Christentums versteht: nicht lediglich als historischer Jesus von Nazareth, sondern als Erlöser der Menschheit, durch den das ewige Heil erlangt wird. Um diesem Verkündigungsauftrag gerecht zu werden, nutzt er neben der Kanzel die unterschiedlichsten literarischen Formen. Zu seinen unzähligen Erbauungsschriften gehören auch Werke, die eine biblische Vorlage in einer traditionellen literarischen Gattung nacherzählen. In diesen biblischen Dichtungen, die Dramen, Epen und Bibelparaphrasen umfassen, bringt Lavater seine spezifischen christologischen Ansichten zum Ausdruck, die sich in jeweils eigener Akzentsetzung um die Heilsgewissheit durch Jesus Christus drehen. Zugleich reagiert er damit auf die poetologischtheologischen Diskussionen der Zeit, an denen er selbst in öffentlichen Auseinandersetzungen und in der persönlichen Korrespondenz teilnimmt. Im Folgenden soll anhand des Dramas Abraham und Isaak (1776), der zwei Messias-Epen Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn (1780) und Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen (1782–1786), dem Epos Joseph von Arimathea (1793) sowie der Bibelparaphrase Nathanaél (1786) aufgezeigt werden, wie Lavater auf dem Hintergrund seiner Christologie und in der Auseinandersetzung mit den poetologischen und theologischen Ansichten seiner Zeit zu seinem eigenen religiösen Sturm und Drang fand.

1

Herder an Lavater, 10.11.1772, in: Herder, Johann Gottfried, Briefe. Gesamtausgabe, Bd. 2, hg. v. W. Dobbek/G. Arnold, Weimar 1977, 28.

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1. Lavaters theologische Entwicklung Lavaters theologische Laufbahn begann in den 1760er Jahren zu einer Zeit, als die aufgeklärte Theologie in unterschiedlich radikalen Ausrichtungen bereits weite Verbreitung gefunden hatte.2 Besonders beeinflusst war Lavater von einer gemäßigten Richtung, zu deren bedeutendsten Vertretern Johann Joachim Spalding (1714–1804) zählt.3 Lavater verbrachte 1763/64 auf seiner Bildungsreise mehrere Monate im Hause Spaldings in Barth und lernte dessen religiöse Ansichten aus nächster Nähe kennen.4 Spaldings Theologie baut auf der Frage auf, weshalb und wozu der Mensch auf der Welt sei und, daraus abgeleitet, wie er sich am besten in dieser Welt verhalten solle. In seinem epochemachenden Werk Die Bestimmung des Menschen (1748) versucht Spalding, diese Fragen zu beantworten. Der aufgeklärten Anthropologie entsprechend geht er davon aus, dass der Mensch auf Grund seiner Vernunftbegabung Recht und Unrecht zu unterscheiden vermöge und deshalb dazu berufen sei, sich zu einem immer tugendhafteren Leben emporzuarbeiten, was Spalding mit immer größer werdender Glückseligkeit gleichsetzt. Die vollkommene Glückseligkeit erreiche der Mensch im Jenseits in der größtmöglichen Annäherung an Gott.5 Spaldings Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen umfasst also Gott, Unsterblichkeit und Tugend, womit die drei wichtigsten Aspekte seiner Theologie benannt sind. Auf diese Eckpfeiler baut auch der junge Lavater seine religiösen Ansichten. Sein erstes umfangreiches Werk, die Aussichten in die Ewigkeit (1768–1773/78), ist gewissermaßen die Fortsetzung von Spaldings Bestimmung; hatte Spalding die größtmögliche Glückseligkeit in der jenseitigen größtmöglichen Annäherung an Gott als Ziel des menschlichen Strebens festgelegt und aufgezeigt, wie diesem Ziel im Diesseits entgegenzuarbeiten sei, geht es Lavater um das Ziel selbst. In den Aussichten in die Ewigkeit zeigt er unterschiedliche Aspekte der jenseitigen Weiterexistenz auf, um damit einen besonderen Ansporn für das diesseitige tugendhafte Leben zu schaffen. Lavater geht aber nicht nur in diesen Beschreibungen über Spalding hinaus. Er ergänzt und modifiziert auch dessen Ansicht, dass es allein die menschliche Veranlagung zum Streben nach Sittlichkeit und Glückseligkeit sei, also die Perfektibilität, die dem Menschen die Annäherung an Gott ermögliche. Gemäß Lavater ist der menschliche Verstand zu begrenzt, um Gott erkennen und sich dank dieser Erkenntnis

2 3 4 5

Grundlegend zur Aufklärungstheologie: Beutel, Albrecht, Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006. Die von Spalding vertretene theologische Richtung wird als Neologie bezeichnet. Der Begriff kam im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf und wurde häufig negativ konnotiert verwendet. In der heutigen Forschung hat er sich als wertneutral durchgesetzt (vgl. ebd., 248ff). Zu Spaldings Leben und Werk vgl. Beutel, Albrecht, Johann Joachim Spalding. Meistertheologe im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 2014. Spalding, Johann Joachim, Die Bestimmung des Menschen, in: Ders., Kritische Ausgabe, 1. Abt.: Schriften, Bd. 1,1, hg. v. A. Beutel u. a., Tübingen 2006, 20ff.

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ihm annähern zu können. Seiner Meinung nach führt der einzige Weg zu Gott über eine vermittelnde Instanz: „Gott kann durch keine bessere Weise erkannt werden, als durch Christum und in Christo – es ist nichts in Gott, das nicht in Christo sey – Er ist Gott à la portée des Esprits finis.“6 Für Lavater ist Jesus Christus durch seine menschliche und göttliche Natur die einzige Verbindung zu Gott und zur von ihm verheißenen Seligkeit.7 Er lehnt sich zwar in seinen christologischen Ansichten immer wieder an Spalding an, so etwa in Bezug auf dessen Vergleich von Christus mit einem Linderung und Rettung bringenden Arzt oder Arzneimittel.8 Gleichzeitig betont er aber, wie dies Spalding seiner Meinung nach nicht tut, die soteriologische Bedeutung Jesu Christi. Damit steht er im Widerspruch zu den meisten Strömungen der Aufklärungstheologie. Diese marginalisierten die Bedeutung Jesu Christi als Sohn Gottes oder sprachen sie ihm ganz ab, um in ihm stattdessen einen vollkommenen Morallehrer, den Stifter des Christentums und andere lediglich auf die menschlichen Fähigkeiten zurückzuführenden Tugenden zu sehen.9 Dass diesbezüglich durchaus christentumsapologetisch argumentiert wurde im Bemühen darum, die christlichen Lehren vor philosophischer Kritik, wie sie insbesondere von Frankreich und England herkam, zu retten, ließ Lavater nicht gelten. Für ihn stand immer stärker die Überzeugung im Vordergrund, dass die Erkenntnis des wahren Christentums von der Erkenntnis Jesu Christi als Sohn Gottes abhänge und seine im Neuen Testament vermittelte Botschaft der einzige Weg zu Gott, zur Auferstehung und zum ewigen Heil sei. Diese Überzeugung benötigte eine andere Beweisinstanz als die Vernunft. In Anlehnungen an pietistische Strömungen,10 aber auch an die religiös-literarische Empfindsamkeit,11 wie sie etwa in Klopstocks Werk zum Ausdruck kommt, ging Lavater davon aus, dass die im Glauben an Jesus Christus manifestierte christliche Heilsgewissheit über das Gefühl erschlossen und belegt werden könne. Je stärker die emotionale Ergriffenheit und Bewegtheit sei, die der Christ in Anbetracht des biblisch bezeugten Evangeliums überkomme, desto zweifelloser spüre er deren Wahrheit, brauche sie also nicht vernünftig zu erklären. Dies war die Botschaft, die Lavater ab Ende der   6 Lavater an Johann Joachim Spalding, 30.05.1772, Familienarchiv Lavater Ms 581.74, Zentralbibliothek Zürich.   7 Zu Lavaters Theologie vgl. Ebeling, Gerhard, Genie des Herzens unter dem genius saeculi – J.K. Lavater als Theologe, in: K. Pestalozzi/H. Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen: Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, (AGP 31), Göttingen 1994, 23–60; Weigelt, Horst, J.C. Lavater, Göttingen 1991, 75–81.   8 Opitz, Peter, „Fortgekämpft und fortgerungen …“ – J.C. Lavaters Verkündigung der Gnade im Rahmen seiner Christusreligion, Zwingliana 33 (2006), 169–203, 175f.   9 So etwa Wilhelm Abraham Teller in seinem Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre (1773) oder Gotthilf Samuel Steinbart in seinem System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums (1778). 10 Lavater pflegte zahlreiche Kontakte zu führenden Pietisten, vgl. dazu: Weigelt, Horst, Lavater und die Stillen im Lande – Distanz und Nähe: Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert, (AGP 25), Göttingen 1988. 11 Grundlegend zur Epoche der Empfindsamkeit: Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit, 2 Bd., Stuttgart 1974–1980.

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1760er Jahre in allen seinen theologischen Schriften und insbesondere auch in seinen biblischen Dichtungen verkünden wollte. Damit knüpfte er an poetologisch-­ theologische Diskussionen an, die im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts für viel Wirbel sorgten und auch Lavaters Werk prägten.

2. Biblische Dichtung im Kontext der poetologischen Entwicklungen im 18. Jahrhundert Obschon Lavater weder in den Einleitungen seiner Werke noch in gesonderten Abhandlungen ausführliche Reflexionen zur Bibeldichtung macht, finden sich immer wieder einzelne Hinweise, aus denen sich schließen lässt, dass er mit den zeitgenössischen Auseinandersetzungen vertraut war und sich seine eigenen Gedanken dazu machte. In der Vorrede seiner ersten biblischen Dichtung Abraham und Isaak reflektiert er über die geeignete Gattungswahl. Er könne weder beantworten, ob es schicklich sei, eine biblische Vorlage in Form eines Dramas nachzuerzählen, noch wisse er, ob es geeignete Schauspieler für die Figuren gebe. Deshalb würde er weder diese noch „hundert andre Fragen, die man unfehlbar machen wird“,12 beantworten. Lavater rekurriert hier wohl auf die seit John Miltons (1608–1674) Paradise Lost (1667), resp. Johann Jakob Bodmers (1698–1783) Übersetzung Johann Miltons Verlust des Paradieses (1732) im deutschsprachigen Raum entbrannte, als deutsch-schweizerischer Literaturstreit bekannt gewordene Diskussion um poetologische Konzepte, die auch die dichterische Ausgestaltung biblischer Erzählungen betraf.13 Milton schildert in seinem in Blankversen verfassten Epos den Sturz der gefallenen Engel aus dem Himmel und die Ereignisse rund um Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies. Seine Darstellung geht weit über die biblische Vorlage hinaus, so etwa, wenn er die Kampfszenen der Engel im Himmel nacherzählt oder den zornentbrannten Satan in der Hölle bei seinen Racheplänen beschreibt. Diese Ausschmückungen galten sowohl religiös als auch poetologisch als problematisch. Einerseits missachteten sie die Unantastbarkeit der Bibel als göttliche Offenbarung, andererseits verstießen sie gegen die dichterische Naturnachahmung, wie sie Johann Christoph Gottsched (1700– 1766) in seinem poetologischen Regelwerk Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1727) festgehalten hatte. Bodmer und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) erarbeiteten auf der Grundlage von Miltons Epos poetologische

12 Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. V: Werke 1771–1787, hg. v. U. Caflisch-Schnetzler, Zürich 2018, 878. 13 Vgl. Wilke, Jürgen, Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, in: S. Schöne (Hg.), Kontroversen, alte und neue, Bd. 2, Tübingen 1986, 140–151. Zu Bodmers Übersetzung vgl. Kohler, Daniela, Der Weg von Bodmers Milton-Übersetzungen zu Klopstock und einer neuen Ästhetik, in: B. Mahlmann-Bauer/A. Lütteken (Hg.), Die Zürcher Aufklärung. Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis, Zürich 2007, 441–461.

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Regeln, welche die dichterische Einbildungskraft nicht mehr wie bei Gottsched zur Reproduktion des Vorgegebenen, sondern zur widerspruchslosen Imagination des Möglichen legitimierten. Poetische Erhabenheit entsteht gemäß Bodmer und Breitinger, indem wunderbare, die Leserschaft überraschende und dergestalt Affekte produzierende Ereignisse geschildert werden.14 Klopstock übertrug dieses Konzept auf biblische Dichtung, indem er die poetische mit der biblischen Erhabenheit verband und daraus seine Theorie der Heiligen Poesie ableitete.15 Biblische Ereignisse seien auf Grund ihrer Göttlichkeit per se erhaben, sie in der adäquaten Form dichterisch so zu gestalten, dass sie die von Bodmer und Breitinger postulierte emotionale Wirkung auslösen würden, führe zu inhaltlich und formal erhabenster Poesie.16 In diesem Sinne war es für Klopstock unproblematisch, die biblische Vorlage zu verändern und auszuschmücken, wie er in seinem Epos Der Messias (1748–1773) umfangreich vorführt. Die ersten drei Gesänge des Werks, die 1748 erschienen, verschärften zwar die Fronten im deutsch-schweizerischen Literaturstreit und lösten eine Welle der theologischen Kritik aus. In den folgenden Jahrzehnten verflachte jedoch sowohl die poetologische wie auch die theologische Diskussion um den Messias. Die literarischen Strömungen der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang überwanden die Regelpoetik zugunsten der Genieästhetik. Von theologischer Seite her warf die historisch-kritische Bibelexegese ein neues Licht auf die Frage nach der dichterischen Ausgestaltung einer biblischen Vorlage. Indem die Bibel als historisch gewordenes Zeugnis betrachtet und in ihrem geschichtlichen Kontext gedeutet wurde, wie dies bahnbrechend Johann Salomo Semler (1725–1791) in der Abhandlung von der freien Untersuchung des Canon (1771–1776) tat, galt auch das Wort der biblischen Autoren nicht mehr als unantastbar und unveränderbar.17 Ohne dies explizit zu machen, knüpfte Lavater an die von Bodmer und Breitinger initiierte und von Klopstock weitergeführte freie Ausgestaltung biblischer Inhalte in einer literarischen Gattung an; auf dem Hintergrund der eben skizzierten Entwicklung empfand er es aber wohl als überflüssig, ausführlich über die Legitimation sowie die Art und Weise von Bibeldichtung nachzudenken. Was ihn jedoch beschäftigte und wo er ständig Rat, Inspiration und Anregung suchte, war die möglichst wirkungsvolle Umsetzung seines selbstgestellten Auftrags, die soteriologische und eschatologische Bedeutung Jesu Christi zu verkünden. So ist Abraham und Isaak in enger Anlehnung an die briefliche Korrespondenz mit

14 Vgl. Bodmer, Johann Jacob, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie [1740], Stuttgart 1966; Breitinger, Johann Jakob, Critische Dichtkunst, Zürich 1740; Bodmer, Johann Jacob/Breitinger, Johann Jacob, Schriften zur Literatur, Stuttgart 1980. 15 Vgl. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Von der Heiligen Poesie [1756], in: Ders., Der Messias. Ges. I–III. Text des Erstdrucks von 1748, Stuttgart 2000, 114–127. 16 Zu Klopstocks Verständnis der Heiligen Poesie: Jacob, Joachim, Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997, 111–171. 17 Vgl. Hornig, Gottfried, Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen, Berlin 1996.

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Johann Gottfried Herder (1744–1803) um die dichterische Umsetzung biblischer Jenseitserwartungen entstanden.

3. Lavaters Abraham und Isaak und Herders Vorstellungen von dichterischer Jenseitsdarstellung und biblischer Poesie Im Drama Abraham und Isaak erzählt Lavater in drei Akten die Verkündigung des Engels, den Abschied Abrahams und Isaaks von der Familie, die Reise nach Moria und Abrahams Opferung von Isaak nach Gen 22,1–19.18 Mit Gen 22,1–19 wählte er zwar eine biblische Vorlage aus, die schon vor ihm vielfach dichterisch bearbeitet wurde.19 Die Wahl überrascht aber insofern, als der Fokus auf die christliche Heilsgewissheit, die Lavater seinen Dichtungen zugrunde legte, nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Hauptmomente von Lavaters Drama sind eine fromme Familienidylle, ein auch in den schlimmsten Augenblicken starker, sich in unzähligen Gebeten äußernder Glaube und die Bereitschaft, alles im Namen dieses Glaubens zu tun. Getragen wird das Geschehen von der Emotionalität der Figuren, deren Gefühle immer wieder in den Reden oder in den in Klammern gesetzten Regieanweisungen zum Ausdruck kommen.20 Lavater geht es darum, die Ergriffenheit in Anbetracht Gottes zu illustrieren und Vertrauen einzuflößen auf die Kraft des Gebets, wie er dies bereits in den Drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes (1769) erörtert hat. Zusätzlich ist sein Drama aber auch eine Auseinandersetzung mit der dichterischen Darstellung des Jenseits. Die diesbezüglichen Fragen und Probleme diskutierte er ausführlich im Briefwechsel mit Herder. Herders und Lavaters Korrespondenz begann zu Beginn der 1770er Jahre. Zu dieser Zeit wendete sich Herder wie Lavater gegen diejenigen Theologen, welche die Heilsbotschaft zugunsten von moralischen Lehren in den Hintergrund rückten und damit Herders Meinung nach dem Christentum die eigentliche Substanz nahmen.21 Besonders deutlich kommt dies in Herders Schrift An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter (1774) zum Ausdruck, in der er u. a. anhand von Spaldings Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes (1772) heftig gegen die an der „Krankheit

18 Vgl. Pestalozzi, Karl, Dichtung als verborgene Theologie im 18. Jahrhundert. Lavaters religiöses Drama Abraham und Isaak und Schillers Operette Semele, (Litterae et Theologia 3), Berlin/Boston 2012, 8–19. 19 Vgl. Mahlmann-Bauer, Barbara, „Abraham, der leidende Vater.“ Nachwirkungen Georgs von Nyssa in Exegese und Dramatik (im 16. bis 18. Jahrhundert), in: J.A. Steiger/U. Heinen (Hg.), Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit, Berlin 2006, 309–398. 20 Vgl. Pestalozzi, Dichtung als verborgene Theologie, 12. 21 Vgl. Zippert, Thomas, Bildung durch Offenbarung. Das Offenbarungsverständnis des jungen Herder als Grundmotiv seines theologisch-philosophisch-literarischen Lebenswerks, Marburg 1994.

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Zweifelsucht“22 leidende Aufklärungstheologie polemisiert.23 Lavater war begeistert von Herders Schrift und sah in ihm einen Mitstreiter im Kampf um das wahre Christentum. Allerdings zeigte sich schon bald, dass es trotz der gemeinsamen Stoßrichtung erhebliche Differenzen gab, insbesondere in Bezug auf biblische Dichtung. Ausgangspunkt war Lavaters Bitte um Rat bezüglich der Fortsetzung der Aussichten in die Ewigkeit. Herder äußerte sich kritisch über das Werk, er wolle Lavater davor behüten, in Bezug auf das Jenseits ein allzu „willkürlicher Baumeister eigner, oft sehr subalterne[r], unwesentliche[r] und kleine[r] Ideen“24 zu sein. Das Jenseits übersteige das Fassungsvermögen des Menschen, deshalb gebe es in der Bibel keine konkreten Bilder: „Die Ewigkeit ist eine große, und ja die größte Sache Gottes, die wir, liebster Lavater, am ersten dadurch ehren, daß wir sie mit aller Resignation von Selbsterfindung anschauen, also Maß halten, auch zu rechter Zeit die Augen niederschlagen und nicht wissen wollen.“25 Im Zusammenhang mit der Sündhaftigkeit des Menschen und des ersten biblisch bezeugten Mordes von Kain an Abel (Gen 4,1–16) sei es aber für die biblischen Autoren, gewissermaßen als Motivation für ein gottesfürchtigeres Leben, notwendig geworden, stärker auf das jenseitige Heil zu verweisen. Dies würde jedoch immer noch ohne konkrete Bilder geschehen. Vielmehr stehe das Gottesvertrauen im Vordergrund, wie etwa Abrahams Opferbereitschaft zeige.26 Die biblisch angedeuteten Jenseitsvorstellungen seien mit einer Raupe und deren zukünftigen Verwandlung in einen Schmetterling vergleichbar: Was hat für uns der Schmetterling mit der vorigen Raupe gemein? Welcher Seher hat denn die künftigen Flüge in ihm entdeckt? Welcher Speculant wird unter 100.000 Gestalten, zu denen er verwandelt werden kann, die rahten, die – grosses Wort, was alles abschneidet! – nachher wird!27

Herders umfangreiche Erörterungen zu in der Bibel ausgedrückten Vorstellungen vom Jenseits erwiesen sich als fruchtbar für Lavaters Arbeit an Abraham und Isaak. Dies zeigt sich schon darin, dass ein aus einer Larve schlüpfender Schmetterling die Titelvignette des Dramas bildet. Zudem entspricht Lavaters Ausarbeitung durchaus gewissen Forderungen, die Herder in Bezug auf die Unsterblichkeit äußerte. Im Gegensatz zu den Aussichten in die Ewigkeit ist Lavaters Abraham und Isaak der Rückbezug auf das Diesseits, auf das irdische Fassungsvermögen des

22 Herder, Johann Gottfried, An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter, in: Ders., Werke. Zehn in elf Bänden, hg. v. G. Arnold/M. Bollacher/J. Brummack u. a., Bd. 9/1, Frankfurt a. M. 2000, 71. 23 Vgl. Kohler, Daniela, Predigen, Beten: Jesus verkünden. Lavater Rezeption von Spaldings Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und Herders An Prediger in seiner Predigtreihe zur Apokalypse, Zwingliana 40 (2013), 165–187, 175f. 24 Herder an Lavater, 30.10.1772, in: Herder, Briefe, Bd. 2, 253. 25 Ebd., 254. 26 Herder an Lavater, Ende März/Anfang April 1773, in: Herder, Briefe, Bd. 2, 332. 27 Herder an Lavater, 30.10.1772, in: Ebd., 254f.

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Menschen, der nur Ahnungen und keine klaren Vorstellungen vom Jenseits hat, aber dank diesen Ahnungen stark genug ist, den Tod hinzunehmen. So ist Isaak stets bereit zum Opfertod, weil er die Annäherung an Gott im Jenseits fühlt. Er ist von „Auferstehungsfreude“28 getragen und sieht in Abrahams Blick das zukünftige Heil: „O Vater! was sagt mir dein inniger, herrlicher, Gottes voller Blick – dein Blick in die bessre Welt – Dein Blick voll Auferstehung und ewigen Lebens!“29 Lavater findet also auch in der alttestamentlichen Erzählung das christologische Heilsversprechen des Neuen Testaments und vermag es höchst emotional und emphatisch, aber Herders Rat gemäß nicht über das irdische Vorstellungsvermögen hinausgehend nachzuerzählen.30 Trotzdem erhielt Abraham und Isaak nur bedingtes Lob von Herder. Lavater schickte ihm das Drama kurz nach der Fertigstellung im Manuskript, worauf ihm Herder mit allgemeinen Anforderungen an Bibeldichtung antwortete: Ein biblischer Dichter muss offenbar der Bibel ganz treu, nur Uebersetzer, Dollmetscher, Ausleger seyn, aber Ausleger im innigsten großen Verstande, für Herz u. Sinn, aus der Zeit u. (für seine Zeit wahrhaftig nicht allein, die kann zum Unglück eben ein Monstrum seyn) für jede Zeit. Ist das Ihr Abraham? Sind das alle biblischen Gedichte unsres Vaterlands u. Jahrhunderts?31

Herder kritisierte also nicht mehr die Ausschmückung des Jenseits, sondern die sprachlich-stilistische Umsetzung der biblischen Vorlage. Gemäß Herder verfügt die biblische Sprache über einen besonderen ästhetischen Wert, den er in ihrem einfachen, nicht von Abstraktion und Verstand geprägten Stil sieht. Wie er in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774) und Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/1787) erläutert, enthalte die Bibel und insbesondere das Alte Testament die älteste und ursprünglichste menschliche Dichtung, die es zu betonen und zu erläutern und nicht in moderne Sprache umzugestalten gelte.32 Auf diesem Hintergrund ist seine Kritik an Lavaters Abraham und Isaak verständlich. Anstelle der einfachen, bildlichen Sprache des Alten Testaments setzt Lavater den von übersteigerten Gefühlen und innerer Bewegung geprägten Duktus des Sturm und Drang. Lavaters und Herders brieflich geführte Diskussion über biblische Poesie und über in der Bibel zu findende Jenseitsvorstellungen riss trotz der Kritik an Abraham und Isaak nicht ab und führte zu Herders dichterischer Nacherzählung der

28 JCLW V, 971. 29 Ebd., 967. 30 Dem entspricht Pestalozzis Befund, dass Lavaters Abraham Gott mit vielen neutestamentliche Prädikaten anspricht (vgl. Pestalozzi, Dichtung als verborgene Theologie, 15). 31 Herder an Lavater, 7.08.1773; in: Herder, Briefe, Bd. 3, 38. 32 Vgl. Bultmann, Christoph, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung: Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999; Cordemann, Claas, Herders christlicher Monismus. Eine Studie zur Grundlage von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal, Tübingen 2010.

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Apokalypse. Das Eingeständnis an Lavater, dass das letzte Buch des Neuen Testaments um einiges konkreter, wenn auch schwer verständlich, Auskunft über das Jenseits gebe als die übrigen biblischen Zeugnisse, und der Versuch, die eigenen stilistischen Anforderungen an Bibelpoesie umzusetzen, dürften Herder dazu veranlasst haben. 1779 erschien Maran Atha, das Buch von der Zukunft des Herrn, des neuen Testaments Siegel. Darin erzählt Herder in jambischer Prosa die Apokalypse nach.33 Herder überträgt seine Überlegungen zum Ursprung der Poesie und der biblischen Sprache auf die Johannes-Offenbarung. Wie die Verfasser der alttestamentlichen Zeugnisse nur die sinnlichen Erfahrungen ihrer unmittelbaren Lebenswelt beschreiben konnten, sehe auch Johannes seine Visionen im Zusammenhang seiner Erfahrungen. Diese seien geprägt vom jüdisch-römischen Krieg, der Christenverfolgung und der Zerstörung Jerusalems, was sich in den furchtbaren Bildern seiner Visionen niederschlage, so Herders Deutung. In seiner Nacherzählung versucht er, die Sprache der Vorlage weitgehend zu übernehmen und die einzelnen Visionen dergestalt mit bibelpoetologischen und exegetisch-historischen Kommentaren zu erläutern, dass sie als Bilder von Johannes’ Empfindungen verständlich werden. Lavater erwartete Herders Nachdichtung mit Sehnsucht, bereits vor der Veröffentlichung ließ Herder ihm eine erste Version durch Goethe übersenden.34 Nun war es Lavater, der nichts mit Herders biblischer Dichtung anfangen konnte: „Mir ist sie, mir ewigem Lichtspalter, noch nicht paraphrastisch genug. Hätt’ auch ein paar Fundamentalgedanken mehr erwiesen gewünscht, z.E. das Datum der Apocalypse.“35 Obschon Herder in der vier Jahre später erschienenen, vielfach überarbeiteten Druckversion eine Datierung angab und auch sonst wesentliche Veränderungen vornahm, konnte er Lavater nicht überzeugen. Eine fast ausschließlich dem biblischen Wortlaut folgende Nacherzählung entsprach nicht Lavaters Verständnis von Bibelpoesie. In der Auseinandersetzung mit Herder hat er jedoch seine eigenen bibelpoetologischen Vorstellungen gefestigt.

33 Ausführlich zu Herders dichterischen Bemühungen um die Apokalypse: Kohler, Daniela, Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung. Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder, Berlin u. a. 2015, 196–239. 34 Herder an Lavater, Ende Sept. 1775, in: Herder, Briefe, Bd. 3, 213. 35 Vgl. Lavater an Herder, 8.11.1775, in: Aus Herders Nachlass. Ungedruckte Briefe von Herder und dessen Gattin, Goethe, Schiller, Klopstock, Lenz, Jean Paul, Claudius, Lavater, Jacobi und andern bedeutenden Zeitgenossen, hg. v. H. Düntzer, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1857, 149.

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4. Neutestamentliche Auferstehungshoffnung: Lavaters Messias-Epen Lavaters Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn (1780) ist sowohl eine Antwort auf Herders Maran Atha wie auch auf die zeitgenössische Kritik am letzten Buch des Neuen Testaments. Dieses wurde in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre heftig angegriffen, insbesondere wegen der in Apk 20,4 begründeten Lehre vom tausendjährigen Reich Christi auf Erden. Führende aufgeklärte Theologen wie Semler taten das Millennium als jüdische Irrlehre ab und wollten die Apokalypse aus dem biblischen Kanon streichen.36 Lavater setzte sich 1779 in einer Predigtreihe mit der Johannes-Offenbarung auseinander, im Jahr darauf verfasste er sein Epos.37 Wie bereits bei Abraham und Isaak gibt Lavater auch bei Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn keine Ausführungen zur Gattungswahl. Erst in seiner zweiten Messiade, dem zwischen 1782 und 1786 veröffentlichten Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen, erläutert er seine Motivation, sich an die Gattung Epos zu wagen, und die Anforderungen, die er damit verknüpft. In Anlehnung an Klopstock geht es auch Lavater darum, die formale Erhabenheit mit der inhaltlichen zu verbinden. Für ihn besteht formale Erhabenheit aber bereits im Einhalten der grund­legenden traditionellen Gattungsregeln, also der Verwendung des Hexameters und der Einteilung in Gesänge. Viel stärker als die formalen Anforderungen steht für Lavater der Inhalt im Vordergrund. Dementsprechend kritisch äußert er sich über Klopstocks Bemühungen, das oft für die deutsche Sprache kaum geeignete Metrum des Hexameters in eine deutsche Sonderform zu bringen, wie Klopstock dies in seinem Aufsatz Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses im Deutschen (1756) theoretisch erörtert und im Messias praktisch umsetzt. Lavater schreibt „von der offenbaren Mühsamkeit in der Silbenzählerey – und der Sichtbarkeit des Interesses des Poeten an äußerlichen Formen“,38 die ihn an Klopstocks Messias stören würden, ihm scheine es unangebracht, „prosodische Zergliederung vor den höchsten, allerheiligsten Gesängen“39 zu üben. Lavater gibt zwar zu, dass auch er „auf den Versbau Fleiß gewendet“40 habe. Seine streng daktylischen Hexameter erinnern aber stärker an die mechanischen, oft holprig klingenden Verse in Bodmers Epen als an 36 Vgl. Semler, Johann Salomo, Christliche Untersuchung über die so genannte Offenbarung Johannis, aus der nachgelassenen Handschrift eines fränkischen Gelehrten herausgegeben, Halle 1769; ders., Antwort auf die tübingische Vertheidigung der Göttlichkeit von dem Buche so Apocalypsis genannt wird, Halle 1771; ders., D. Joh. Semlers neue Untersuchungen über Apocalypsin, Halle 1776. 37 Ausführlich zu Lavaters Messias-Epen: Kohler, Eschatologie und Soteriologie, 263–355. 38 Lavater an Johann Arnold Ebert, 20.06.1773, in: Ungedruckte Briefe von Cramer, Gleim, Klopstock, Lavater, Ramler, Uz u. a. an J.A. Ebert, hg. v. A. Glaser, Westermann’s Jahrbuch der Illustrierten Deutschen Monatshefte, Bd. 2, Braunschweig 1857, 563. 39 Lavater an Herder, 12.03.1773, in: Aus Herders Nachlass, Bd. 2, 40. 40 Lavater, Johann Caspar, Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen, Bd. 1, Zürich 1783, 414.

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die abwechslungsreichen, flüssigen in Klopstocks Messias.41 Dies überrascht insofern, als Lavater sein Epos sehr wohl zum mündlichen Vortrag bestimmt sah, hat er doch durchgehend Akzente zur richtigen Betonung gesetzt. Für Lavater ist es aber wohl gerade das strenge Einhalten der Form, das seiner bereits in den Aussichten in die Ewigkeit formulierten Grundabsicht hinsichtlich gebundener Rede ausdrückt: „Verse lassen sich leichter dem Gedächtnis einprägen, leichter und angenehmer zur Erquickung und Ermunterung christlicher Leser recitiren; – Und endlich, lässt sich in Versen gedrängter, rührender und herzerhebender singen.“42 Inhaltlich folgt Lavater in Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn wie Herder chronologisch der biblischen Vorlage, schmückt diese aber mit eigenen Erdichtungen aus. So etwa, wenn er in Anlehnung an Miltons Paradise Lost den Kampf Michaels mit dem Drachen nacherzählt,43 oder ausführlich auf die erste Auferstehung eingeht, bei der er in Anlehnung an die Aussichten in die Ewigkeit die Tätigkeit der Auferstandenen schildert.44 Wie bei Abraham und Isaak ist Lavater darum bemüht, stets die Emotionen der beteiligten Figuren zum Ausdruck zu bringen. Er will die apokalyptischen Visionen des Johannes einprägsam und klar verständlich nacherzählen, um deren Bedeutung als Heilsversprechen und Ausblick in die jenseitige Welt einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die besondere Bedeutung, die er diesbezüglich Jesus Christus beimisst, kommt in den ihn beschreibenden Passagen zum Ausdruck. Immer wieder weist Lavater in neuen Wortschöpfungen und Bildern auf die Erlösungstat Christi hin: Ihm, der Könige Fürsten, dem Herrscher der Erdebeherrscher, Ihm – Wie hat Er geliebt! Dem Ewigliebenden Liebe! Ewige Lieb’ Ihm und Ehr’! Es rann am Pfahle des Opfers Allversöhnendes Blut! Entsündigung floss mit dem Blute! Aller Sterblichen Leben entquoll des Geopferten Tode!45

In seiner zweiten Messiade, dem vierbändigen Epos Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen, verbindet Lavater die Ereignisse aus den vier Evangelien dergestalt, dass sie eine zeitlich und inhaltlich logische Abfolge ergeben, so dass Leben und Werk Jesu Christi vollständig auf der Grundlage der biblischen Zeugnisse nacherzählt werden. Der Fokus seiner zweiten Messiade liegt also noch stärker auf Jesus Christus selbst, Lavaters Absicht besteht in der „Darstellung, oder, welches Eins ist, Verherrlichung, Glaubwürdigmachung, als des Messias, oder des

41 Vgl. Mahlmann-Bauer, Barbara, Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos? In: A. Lütteken/B. Mahlmann-Bauer (Hg.), Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, Göttingen 2009, 231–295. 42 Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. II: Aussichten in die Ewigkeit 1768–1773/78, hg. v. U. Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001, 189f. 43 Vgl. Lavater, Johann Caspar, Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn, Zürich 1780, 90–98. 44 Vgl. ebd., 190–194. 45 Ebd., 8.

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zur höchsten Beseligung der Menschheit Bevollmächtigten und mit jedem Erfordernis ausgerüsteten Ersten Sohnes der Gottheit.“46 Lavater hat sich zwar bereits bei seinem ersten Epos mit Klopstocks Vorgaben für ein Messias-­Epos auseinandergesetzt. Da sich die zweite Messiade aber viel stärker nicht nur formal, sondern auch inhaltlich an das Vorgängerwerk anlehnt, geht Lavater in einem Nachwort darauf ein. Er bewundere zwar Klopstocks Messias, messe ihm aber mehr poetischen als religiösen Wert bei, so Lavaters Urteil. Klopstock besinge nicht eigentlich das Heilsgeschehen und Jesus Christus, sondern stelle höchst kunstvoll mögliche Nebenhandlungen der Passionsgeschichte dar, wie er auch seinem Freund Ebert mitteilt: „Wir sehen tausend schöne Sachen – nur die Hauptsache nicht; nur den Messias nicht.“47 Demgegenüber stellt Lavater seinen Helden in den Mittelpunkt des Geschehens und will nicht nur die äußeren Begebenheiten seines Wirkens, sondern auch sein Seelenleben schildern: Bebend, mit leisem Tritt, und von Ferne wandelt mein Lied Dir, Gottes Erwähltester! Nach, und stammelt von Deinen geheimen, Tiefen Gefühlen, erhabnen Gedanken und heißen Kämpfen.48

Lavaters zweite Messiade weicht in Stil und Duktus nicht wesentlich von der ersten ab. Es geht ihm darum, die neutestamentlichen Bücher in moderne Sprache zu übersetzen und anhand der Emotionen der Figuren das Geschehen affektiv nachvollziehbar zu machen und es über die dergestalt ausgelösten Gefühle zu beglaubigen. Je mehr seelische Bewegung die Rezipienten empfinden, so seine Meinung, desto glaubhafter würden ihnen die Erlebnisse erscheinen und desto ergriffener wären sie von der Wahrheit des Christentums. Um diese Beglaubigung im Gefühl anhand der am Geschehen beteiligten Figuren geht es Lavater auch in seinen weiteren biblischen Dichtungen, die sich nicht mehr auf das gesamte Neue Testament, sondern auf einzelne Personen daraus fokussieren.

5. Das Heilsgeschehen aus der Sicht der Zeugen: Nathanaél und Joseph von Arimathea Zeitgleich mit dem letzten Band des zweiten Messias-Epos verfasste Lavater ein Werk, das sich nicht eindeutig einer Gattung zuordnen lässt, das aber in Motivation, Absicht und im Duktus den Messiaden ähnlich ist. Der 1786 veröffentlichte Natha46 Lavater, Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte, Bd. 1, 299. 47 Lavater an Johann Arnold Ebert, 20.06.1773, in: Ebert, Ungedruckte Briefe, Bd. 2, 563. Zu Klopstocks Wirkungsästhetik vgl. Dieter, Martin, Klopstocks Messias und die Verinnerlichung der deutschen Epik im 18. Jahrhundert, in: K. Hillard/K. Kohl (Hg.), Klopstock an der Grenze der Epochen, Berlin u. a. 1995, 97–115. 48 Lavater, Jesus Messias, oder Evangelien und Apostelgeschichte, Bd. 1, 124.

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naél ist eine Mischung aus Bibelparaphrase und eigenen homiletischen Gedanken. Es geht Lavater nicht mehr um die Erzählung einer einzelnen biblischen Geschichte, sondern um die Aufrufung von an der Heilsgeschichte beteiligten Personen, die gewissermaßen als Zeugen von Jesu Leben und Wirken auftreten. Lavater lässt in Nathanaél fast alle Gestalten des Neuen Testaments zu Wort kommen. Durch ihre Berichte über ihre Erfahrungen mit Jesus, resp. der darin gefundenen Wahrhaftigkeit, soll, wie es im Untertitel heißt, „die eben so gewisse, als unerweisliche Göttlichkeit des Christenthums“49 bezeugt und bewiesen werden. Die Erzählung von Nathanael, der bereits beim ersten Treffen Jesus zweifelsfrei als Sohn Gottes erkennt (Joh1, 45–50), bestätigt Lavaters Grundüberzeugung, dass der Mensch einen speziellen Sinn für göttliche Wahrheit besitzt. Dieser sogenannte Wahrheitssinn, den er auch in seinem Erbauungswerk Pontius Pilatus erläutert,50 führe zu auf der Grundlage von Empfindungen gefällten Urteilen: „Die Wahrheit, den Werth, die Tauglichkeit, Trefflichkeit der Sache unmittelbar empfinden und auffassen […] – Das heiß ich Wahrheitsliebe, Wahrheitssinn, der mir mit dem Sinne für Christus völlig Eins zu seyn scheint.“51 Mit dem Wahrheitssinn hat Lavater also ein Wahrnehmungsvermögen gefunden, das er dem Erkennen durch Vernunft gleichsetzt oder gar darüber stellt, weil dadurch auch über die Vernunft hinausgehende Erkenntnisse erlangt werden können. Lavater nimmt hier Ansätze der empfindsamen Moral­philosophie auf, die Vernunft und Empfindung als gleichberechtigte Urteilsinstanzen betrachtet, und wendet sie auf die Beglaubigung des Christentums an. Lavater widmet sein Buch einem Nathanael, „dessen Stunde noch nicht gekommen ist“,52 der also erst noch zur richtigen Erkenntnis mithilfe des Wahrheitssinns gelangen müsse. Bemerkenswerterweise sah sich kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) von dieser Widmung angesprochen. In einer undatierten Notiz zur italienischen Reise schreibt Goethe: „Du kommst mit deiner Saalbaderey an den unrechten, ich bin kein Nathanael und die Nathanaele unter meinem Volcke will ich selbst zum besten halten, ich will ihnen nach Bequemlichkeit und Nothdurft selbst etwas aufbinden, also pack dich Sophist.“53 Dieser Notiz, die trotz des fehlenden Namens Lavater im Visier haben dürfte, geht der Bruch der langjährigen Freundschaft zwischen dem Zürcher Theologen und dem Weimarer Dichter voraus, was die Heftigkeit der Worte erklärt.54 Lavaters und Goethes vor allem 49 Lavater, Johann Caspar, Nathanaél, in: Kohler, Daniela, Nathanél. Johann Caspar Lavater im poe­ tischen Gespräch mit Goethe über das wahre Christentum, Zürich 2016, 77. 50 Vgl. Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. VI/1: Werke 1782–1785, hg. v. C. Reuter, Zürich 2013, 141. 51 Lavater, Nathanaél, 92. 52 Ebd., 78. 53 Goethe, Johann Wolfgang, Italienische Reise, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I, Bd. 15/2, Frankfurt a. M. 1993, 776. 54 Nach Lavaters Besuch bei Goethe in Weimar im Jahr 1786 schrieb Goethe an Charlotte von Stein: „Ich habe auch unter seine Existenz einen grasen Strich gemacht und weis nun was mir per Saldo von ihm bleibt“ (Goethe an Charlotte von Stein, 21. Juni 1786, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. II, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1997, 641).

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in der Korrespondenz, aber auch in mehrmaligen Begegnungen gelebte Freundschaft war neben zahlreichen anderen Themen, zu deren bedeutendsten Lavaters Physiognomische Fragmente und Goethes Mitarbeit daran gehörten, auch geprägt vom Gespräch über das Christentum.55 Lavater lernte Goethe über dessen Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** kennen, den Goethe 1773 anonym veröffentlichte.56 Im fiktiven Pastorbrief beschreibt ein protestantischer Pastor seine Erfahrungen als Landgeistlicher. Zentral dabei ist ein gefühlter, auf Empfindung beruhender Glaube. Immer wieder betont der Pastor, dass es nur eine Instanz gebe, die über religiöse Wahrheiten richten dürfe, diese Instanz sei das Herz und nicht die abstrakte Vernunft.57 Der Pastor will seiner Gemeinde einen Glauben nahebringen, der nicht von der Klärung spitzfindiger exegetischer Fragen oder der Abschaffung, resp. Beibehaltung problematischer Dogmen abhängt, sondern auf Nächstenliebe, gegenseitiger Wertschätzung und Achtung, auf Humanität im Namen Gottes, beruht. Es erstaunt kaum, dass sich Lavater vom Pastorbrief angesprochen fühlte, zumal der Pastor diese Werte in den direkten Zusammenhang zur Erlösung Jesu Christi am Kreuz stellt: Also lieber Bruder danke ich Gott für nichts mehr, als die Gewissheit meines Glaubens; denn darauf sterb ich, daß ich kein Glück besitze, und keine Seligkeit zu hoffen habe, als die mir von der ewigen Liebe Gottes mitgetheilt wird, die sich in das Elend der Welt mischte und auch elend ward, damit das Elend der Welt mit ihr herrlich gemacht werde. Und so lieb ich Jesum Christum, und so glaub ich an ihn, und danke Gott daß ich an ihn glaube.58

Lavater sah im Pastorbrief viele Aspekte seiner eigenen Christologie ausgedrückt und übertrug die darin vertretenen Meinungen auf dessen Verfasser.59 Zudem

55 Vgl. Götting, Franz, Die Christusfrage in der Freundschaft zwischen Goethe und Lavater, Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft, Bd. 19, Weimar 1957, 28–49; Pestalozzi, Karl, Lavaters Hoffnung auf Goethe, in: Pestalozzi/Weigelt (Hg.), Antlitz Gottes, 260–279. Vgl. auch die Einleitung in Lavater, Nathanaél. 56 Zum Pastorbrief vgl. Willems, Marianne, Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***, Götz von Berlichingen und Clavigo, Tübingen 1995. 57 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang, Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***, in: F. Jannidis/M. Willems (Hg.), Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte, Bd. 2, Frankfurt a. M./ Leipzig 1998, 282f., 376, 387. 58 Goethe, Brief des Pastors, 377. 59 Vgl. Pestalozzi, Lavaters Hoffnung, 262. Der Pastorbrief ist eines der ersten dichterischen Werke des jungen Goethe. Obschon er durch seine Freundschaft mit Susanne von Klettenberg (1723– 1774) eine gewisse Verbindung zur pietistisch-emotionalen Glaubensauffassung hatte, die der Pastor seines Briefes ausdrückt, ist kaum davon auszugehen, dass Goethe dabei eigene Überzeugungen formulierte. Vielmehr hat Goethe anhand des Landgeistlichen verschiedene Frömmigkeits- und Glaubensmuster durchexerziert, die theologisch widersprüchlich und problematisch, aber als Rede des Landgeistlichen durchaus plausibel sind (vgl. Tillmann, Thomas, Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe, Berlin/New York 2006, 94).

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begeisterten ihn Goethes sinnlich-affektive Wahrnehmungsweise, die gesteigerte Naturempfindung und das sensible Gemüt. Umso enttäuschter war er, dass sich Goethe im Verlauf ihrer Freundschaft immer stärker und unmissverständlicher von Lavaters christologischen Ansichten distanzierte. Lavater ging aber stets davon aus, dass Goethes Empfindsamkeit ihn eines Tages den wahren Glauben erkennen lassen würde, wie dies in den Briefen an Goethe immer wieder zum Ausdruck kommt. Diese brieflichen Überzeugungsversuche wie auch Lavaters Pontius Pilatus, den Goethe als missionarisch und intolerant empfand,60 dürften Goethe veranlasst haben zu glauben, dass er der in der Widmung angesprochene Nathanael sei. Nathanaél richtet sich aber nicht nur an einen noch kommenden Nathanael. Das Werk ist dem Untertitel gemäß auch „für Nathanaéle, Das ist, Für Menschen, mit geradem, gesundem, ruhigem Truglosem Wahrheitssinne.“61 Lavater geht also davon aus, dass er mit seinen Bemühungen, die christliche Heilsgewissheit im poetischen Gewand zu verkünden, durchaus auf eine bereits empfängliche Leserschaft stoßen würde. In Nathanaél drückt Lavater einmal mehr seine Überzeugung aus, dass jeder Mensch fähig ist, Gott in Jesus Christus zu erkennen und dank seinem Tod am Kreuz zum ewigen Heil zu gelangen. Diesen Tod am Kreuz behandelt Lavater indirekt in seiner letzten biblischen Dichtung, dem 1794 veröffentlichte Epos Joseph von Arimathea. Lavater nimmt Joseph, den Bestatter von Jesus, als Hauptfigur, und schildert dessen Erlebnisse rund um die Kreuzigung, so dass er dessen bereits in Nathanaél abgelegtes Zeugnis weiter dichterisch ausgestaltet.62 Sowohl inhaltlich wie auch formal nimmt Lavater in Joseph von Arimathea Aspekte auf, die er in seinen früheren biblischen Dichtungen thematisiert hat. Dies kommt bereits in der Vorrede zum Ausdruck, in der Lavater die Relation zwischen Form und Inhalt erläutert: Es kann dem Verfasser und dem Leser völlig gleichgültig seyn, ob man dieß Gedicht – Epopee, oder Darstellung, oder beschreibendes Poem – oder nur Neue Messiade, oder Joseph von Arimathea heisse – wenn nur durch dasselbe der Sinn für biblische Geschichte, für große Charaktere und für den größten Aller, entweder geschärft oder genährt wird.63

Einmal mehr betont Lavater die inhaltliche Bedeutung, die ihm wichtiger ist als formale Kriterien, so dass er weder zur Gattungs- noch zur Verswahl nähere Angaben macht. Joseph von Arimathea ist ein Epos, Lavater verwendet aber nicht den Hexameter, sondern einen fünfhebigen Jambus, wie es auch Milton in Paradise Lost tut. Dieses Metrum entspricht den langen Figurenreden in Joseph von Arimathea und erinnert dadurch an das Drama Abraham und Isaak. Auch inhaltlich 60 Vgl. Goethes Ein Wort über den Verfasser des Pontius Pilatus und die fingierten Briefauszüge an Knebel, in: Funck, Heinrich (Hg.), Goethe und Lavater, Briefe und Tagebücher, Weimar 1901, 201–204; Goethe, Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 2, 990. 61 Lavater, Nathanaél, 77. 62 Vgl. ebd., 175–177. 63 Lavater, Johann Kaspar, Joseph von Arimathea in Sieben Gesängen, Hamburg 1794.

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gibt es Reminiszenzen an Lavaters erste biblische Dichtung. So gestaltet Lavater das Verhältnis von Joseph, seiner Frau Selima und der Tochter Hannah genauso herzlich und auf die gegenseitige Bestärkung im Glauben fokussiert wie dasjenige von Abraham, Sarah und Isaak. Zudem hat Joseph eine Erscheinung von Isaak, der ihm Mut zuspricht, an die Auferstehung Jesu zu glauben.64 Mit dem Tod Jesu am Kreuz ist das für Lavater zentrale Ereignis der Heilsgeschichte im Vordergrund, wodurch er an die Messiaden anknüpft. Im Gegensatz zu Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen jedoch, wo die Leiden und der Tod Jesu am Kreuz ausführlich beschrieben sind,65 deutet Lavater diese Ereignisse in Joseph von Arimathea nur an, indem er stichwortartig umreißt, worüber er nicht erzählt, resp. singt.66 Der Abschluss des Epos nimmt ein Bild aus Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn auf: Lavater erfindet als Zeugnis der Auferstehung eine Szene, in der Joseph den auf einer Wolke erscheinenden Jesus sieht.67 Somit erinnert Lavaters letzte biblische Dichtung in vielerlei Hinsicht an seine vorangehenden Werke und rundet sein bibeldichterisches Schaffen würdevoll ab.

6. Schluss Lavater setzte den Verkündigungsauftrag der christlichen Heilsgewissheit, den er seinen biblischen Dichtungen zugrunde legte, anspruchsvoll und variantenreich um. Er schreckte nicht von den formalen Anforderungen einer bestimmten literarischen Gattung zurück, sondern stellte diese selbstbewusst und ohne lange Erklärungen in den Dienst des Inhalts. Es ging ihm darum, die biblische Vorlage möglichst eindrucksvoll, nachempfindbar und unvergesslich nachzuerzählen. Die Figuren seiner Dichtungen sind in ihren Freuden, Ängsten und Sorgen seiner eigenen Lebenswelt entnommen, sie verkörpern sein anthropologisches Grundideal eines frommen Menschen, der zwar nicht vor Zweifel und Furcht gefeit ist, dessen Gottesvertrauen ihm aber stets darüber hinweghilft und ihn näher an Gott bringt. Dadurch machte er die oft schwer zugänglichen Bibeltexte zu zeitgenössischen, im gefühlsbetonten Duktus des Sturm und Drang geschriebenen Dichtungen. Der Fokus lag auf der Bedeutung Jesu Christi für das ewige Heil. Sowohl in seinem alttestamentlichen Drama wie auch in den Epen und der Bibelparaphrase, die sich am Neuen Testament orientieren, standen der Glaube an Erlösung und die Jenseitserwartung im Vordergrund. So hat Lavater die beschwörende Bitte an Herder, ihm bei der Darstellung Jesu Christi zu helfen, in einer jedes evangelische Zeugnis berücksichtigenden dichterischen Vielfalt eindrucksvoll selbst umgesetzt.

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Ebd., 135, 144–146. Vgl. Lavater, Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte, Bd. 1, 123–126. Ebd., 158–161. Ebd., 209–211.

Bernd Roling

Bewohner des Kristallpalastes: Lavater und die Sprache der Seligen 1. Einleitung Die Offenbarung hatte die christliche Theologie mit einer schweren Hypothek belastet, mit dem Dogma der leiblichen Auferstehung. Alle platonischen Radikalisierungen, alle dogmatische Geistmetaphysik hatte sich dieser Vorbedingung zu stellen. Dennoch war die Eschatologie über Jahrhunderte hinweg zu einem Experimentierfeld geworden, einem Laboratorium, in dem Sprach- und Erkenntnistheorien oder die Definition von Person und Individualität erprobt wurden und sich zu bewähren hatten. Wie sollte sich der Mensch im Jenseits verständigen? Welche Rahmenbedingungen der diesseitigen Welt bewahrten ihre Gültigkeit, welche waren bedeutungslos? Welche Rolle konnte der Körper dabei spielen? Auch Lavater hatte sich als Theologe um Antworten bemüht. Im Folgenden sollen hier drei Dinge geleistet werden. Zunächst wird der allgemeine Problemkontext der Eschatologie umrissen und es werden einige etablierte Antworten vorgestellt, die für die protestantische Orthodoxie ebenso Gültigkeit besaßen wie vorher schon für die katholische Dogmatik. Dann soll mit Lavaters Aussichten in die Ewigkeit versucht werden, Lavaters Modell einer postmortalen Körperlichkeit, Erkenntnistheorie und Sprache zu rekonstruieren. Es wird dabei deutlich werden, dass sich diese drei Bereiche nur schwer voneinander trennen lassen. Zum Ende wird dann nach den möglichen Quellen Lavaters gefragt und versucht, seinen Standort zwischen protestantischer Tradition und den Neuerungen seiner Zeit zu bestimmen.

2. Katholische und lutherisch-orthodoxe Vorstellungen des Auferstehungleibes und der postmortalen Sprache Der Fragenkatalog der Eschatologie war kein Vorrecht der protestantischen Kirchen gewesen; seine Leitmotive waren in den Sentenzenkommentaren und Cursus theologici der katholischen Kirche längst etabliert worden. Wie verhielten sich Form und Materie in der Auferstehung zueinander, was garantierte die Kontinui-

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tät und die moralische Verantwortlichkeit der Person über den Tod hinaus, die Form allein oder Form und Materie gemeinsam?1 Die Mehrzahl der Aristoteliker hatte hier im Gefolge des Aquinaten Form und Materie für den Fortbestand der Person als notwendig betrachtet, der Seele als Form aber zugleich zugestanden, als substantia incompleta und anima separata bis zur endgültigen Auferstehung auch ohne Materie existieren zu können. Je nach Schul- und Ordensrichtung genügten nach der Auferstehung wenige Partikel des alten Körpers oder signifikante Teile, um die Identität des Toten wiederherzustellen. Die Debatten um die Reichweite der Wiederherstellung und ihre Voraussetzungen waren vielfältig. War die Neubelebung des Leibes vollständig Gott zu verdanken oder gab es auch eine natürliche Kausalität, die Leib und Seele wieder zusammenführte, wie die Scotisten glaubten? Ein zweiter Fragenkatalog verdankte sich der Natur des auferstandenen Körpers und seinen Fähigkeiten; sein Vorbild war in der christlichen Tradition der verklärte Leib des Erlösers gewesen.2 Die katholische Seite hatte sich den Glorienleib nahezu organisch vorgestellt, zwar verklärt und befreit von Mängeln wie Verdauung, Sterblichkeit und Reproduktion, doch noch immer mit einer physischen Grundausstattung, die selbst Blut und einen vollkommenen Säftehaushalt miteinschloss. Der Leib sollte über alle Sinne verfügen und entsprechende Objekte auch im Jenseits sehen, hören, schmecken und fühlen können.3 Selbst wenn die Medien fehlten, so hatten Denker wie Suárez (1548–1617) festgehalten, konnten die entscheidenden sinnlichen Informationsträger, die species, ihrem Gegenüber

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Übersichten zur Debatte über die Auferstehung und ihre Rahmenbedingungen im Mittelalter liefern unter anderem Weber, Hermann J., Die Lehre von der Auferstehung der Toten in den Haupttraktaten der scholastischen Theologie von Alexander von Hales zu Duns Scotus, Freiburg 1973, 125–158, 217–253; Heinzmann, Richard, Die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung des Leibes. Eine problemgeschichtliche Untersuchung der frühscholastischen Sentenzen- und Summenliteratur von Anselm von Laon bis Wilhelm von Auxerre, Münster 1965, 6–146; und Walker Bynum, Caroline, The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200–1338, New York 1995, 229–278; oder Solère, Jean-Luc, Was the Eye in the Tomb? On the Metaphysical and Historical Interest of Some Strange Quodlibetal Questions, in: C. Schabel (Hg.), Theological Quodlibeta in the Middle Ages. The Thirteenth Century, (Brill’s Companions to the Christian Tradition 1), Leiden 2006, 507–558, bes. 510–526; zur Diskussion der Auferstehung bei Thomas von Aquin, die Ausgangspunkt der Summenkommentare war, im besonderen: Brown, Montague, Aquinas on the Resurrection of the Body, The Thomist 56/2 (1992), 165–207; und Niederbacher, Bruno, The Same Body again? Thomas Aquinas on the Numerical Identity of the Resurrected Body, in: G. Gasser (Hg.), Personal Identity and Resurrection. How Do We Survive Our Death? Farnham 2010, 145–160. Einen Überblick über die theologischen Debatten, die sich mit der Vollständigkeit des Christuskörpers verbanden, gibt Roling, Bernd, Narben und Blut: Die körperliche Vollständigkeit des auferstandenen Christus zwischen Mittelalter und früher Neuzeit, in: R. Toepfer/T. Bulang (Hg.), Heil und Heilung. Die Kultur der Selbstsorge in der Kunst und Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Heidelberg 2020, 81–104. Zur Natur des Auferstehungsleibes in der Jesuitenscholastik ausführlich Roling, Bernd, Light from Within – the Debate on the Glorified Body in Jesuit Theology: Francesco Suárez, Adam Tanner and Rodrigo Arriaga, in: D. Heider (Hg.), Cognitive Psychology in Early Jesuit Scholasticism, Neunkirchen 2016, 122–156.

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noch immer direkt eingeprägt werden.4 Auch der Himmel ließ sich schmeckend und tastend erfahren und konnte dem Auferstandenen, so hatte es der tschechischspanische Rodrigo de Arriaga (1592–1667) behauptet, noch Vergnügen bereiten.5 Bildreich malten sich viele Angehörige des Jesuitenordens im 17. Jahrhundert aus, wie der ganze Himmel zu einem multisensorischen Erlebnis werden konnte, einem Erlebnis, das den Mehrwert der körperlichen Auferstehung zur rein geistigen Natur der Seele machtvoll unter Beweis stellte. Mit Blick auf den Leib hatte die alte Kirche vier Standardattribute unterschieden, die claritas, die impassibilitas, die agilitas und die subtilitas, Klarheit, Leidensfreiheit, Schnelligkeit und Feinstofflichkeit. Der Körper strahlte und war durchsichtig, ohne dabei an Konsistenz zu verlieren, und er war schlechthin unzerstörbar, denn seine Elemente fanden sich in einer idealen Synkrasie, die jede Irritation ausschloss. Dazu musste er sich, wie man glaubte, instantan, in einem Augenblick mit beliebiger Geschwindigkeit bewegen können. Seine Feinstofflichkeit machte den Körper formbar, auch wenn er gut aristotelisch nicht in der Lage war, eine andere Quantität zu neutralisieren und zu durchdringen. Es gab auch im Himmel kein Vakuum. Die Glückseligkeit der Seele erschöpfte sich zuvorderst in der Gottesschau, im göttlichen Wort, das alle wissbaren Dinge umgreifen konnte. Gleichwohl verfügte die Seele über die Gabe der Kommunikation. Selbst wenn ihr, im göttlichen Lichte erleuchtet, keine Erkenntnisfortschritte mehr zuteil wurden, war die Gemeinschaft der Seligen auf Austausch angelegt.6 Der Glorienleib konnte hier als Werkzeug der Artikulation dienen, der eigentliche Modus der Verständigung musste sich jedoch, wie man einhellig glaubte, ohne den Körper, damit aber auch ohne jedes Medium, ob nun Schall oder sichtbare Zeichen, gedacht werden. Die Seele hatte ohne Körper, im Fegefeuer oder dem Paradies, auf ihre endgültige Auferstehung und das Gericht warten und sich dort verständigen können, also musste sie auch nach der Vereinigung mit ihrem Leib dazu in der Lage sein. Die Sprache der anima separata, wie der Seele überhaupt, entsprach damit der Kommunikationsform der Engel, die vollständig körperlos gedacht wurden.7 Sie war, wie man 4

Suárez, Francisco, Commentarii et disputationes in tertiam partem D. Thomae, in: M. André (Hg.), Opera omnia, Bd. 19, Paris 1860, q. 54, disp. 47, Sectio VI, § 10, 834a–834b. 5 Arriaga, Rodrigo de, Disputationes theologicae in primam partem, Bd. 2, Antwerpen 1643, disp. 47, Sectio II, 570b. 6 Eine ausgreifende Übersicht zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Debatte über reingeistige Formen der Kommunikation, die ebenso Engel wie körperlose Seelen betraf, liefert Roling, Bernd, Locutio angelica. Die Diskussion der Engelsprache als Antizipation einer Sprechakttheorie in Mittelalter und früher Neuzeit, (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 97), Leiden 2008, passim; als Synopse: Ders., Angelic Language and Communication, in: T. Hoffmann (Hg.), A Companion to Angels in Medieval Philosophy, Leiden 2012, 223–260. 7 Zur anima separata bei Thomas von Aquin z. B. Pasnau, Robert, Thomas Aquinas on Human Nature. A Philosophical Study of Summa theologiae, 1a 75–89, Cambridge 2002, 49–51, 66–69; zur späteren Diskussion ihrer Fähigkeiten Roling, Bernd, Die Gleichzeitigkeit aller Gedanken: Debatten zur Erkenntnis der anima separata zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: S. Köbele/C. Rippl (Hg.), Gleichzeitigkeit: Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Würzburg 2015, 53–74, hier 60–73.

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einhellig glaubte, eine mentale, auf den Sprechakt, die locutio, reduzierte Sprache. Über den Charakter dieser Sprachform hatte sich eine rege Kontroverse entfalten können; diverse grundlegende Modelle hatten vorgelegen. Für die Thomisten waren es Begriffe gewesen, die sich durch eine Ausrichtung auf den Adressaten offenbaren ließen. Die Scotisten hatten mentale Gehalte direkt durch einen Übertragungsakt in den Geist des Gesprächspartners überführen wollen. Eine weitere Option war es schließlich, wie man glaubte, durch mentale Zeichen, die in einer semantischen Relation zu dem Gehalt standen, den sie vermitteln sollten, Kontakt mit dem geistigen Gegenüber aufzunehmen. Vor allem die letzte Hypothese, die sogenannten signa intelligibilia, konnte eine erhebliche Schar von Anhängern auf ihrer Seite wissen. Entscheidende Voraussetzung jedoch war, dass alle diese Formen einer idealen Verständigung im Himmel rein geistige Sprechakte konstituierten, die ohne Körper und jede Form eines Mediums zu denken waren oder sie allenfalls als Analogie noch zuließen. Begriffe wurden präzisiert oder erweitert, mentale Symbole gebildet, doch bedurfte es keiner weiteren Hilfsmittel, um sich zu artikulieren. Die großen lutherischen Schuldogmatiker, Abraham Calov (1612–1686) oder Johann Gerhard (1582–1637), unterscheiden sich in den Szenarien, die sie für das Leben nach dem Tod entwerfen, zunächst nur wenig von ihren katholischen Glaubensbrüdern.8 Nur das Fegefeuer war bekanntermaßen mit der Augsburger Konfession gestrichen worden. Ihre Fundierung in der aristotelischen Schulphilosophie, aber auch in der Tradition der großen Summenliteratur des Mittelalters ließ diese Theologen auch für den Glorienleib einen vergleichbaren Eigenschaftskatalog aufstellen. Auch für sie bewegte sich die Sprache der Seligen auf der gleichen Ebene wie die Sprache der Engel; sie war mentaler Natur. Die Verfasser lutherischer, aber auch reformierter Engellehren und Psychologien, die Engel und körperlose Seele gemeinsam behandelten, Girolamo Zanchi, Otto Casmann, Daniel Classen, Johannes Scharff und viele andere, hatten den katholischen Modellen kaum neue Überlegungen hinzuzufügen.9 Gleiches galt für die erstaunlich umfangreiche Menge an Disputationen, in denen diese Frage vor allem an den lutherischen Universitäten des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts wieder und wieder ver-

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Als Beispiele Calovius, Abraham, Systema locorum theologicorum, e sacra potissimum scriptura et antiquitate, nec non adversariorum confessione, doctrinam, praxin, et controversiarum fidei cum veterum, tum imprimis recentiorum pertractationem luculentam exhibens, Bd. 12: Eschatologia sacra, Wittenberg 1677, passim; und Gerhard, Johann, Locorum theologicorum cum pro adstruenda veritate, tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate, per theses nervose, solide et copiose explicatorum, Bd. 9: De vita aeterna, Wittenberg 1622, passim. Als Beispiele Zanchius, Hieronymus, De operibus Dei intra spacium sex dierum creatis, Opera omnia, Bd. 3, Genf 1605, Pars I, Liber 3, c. 18, 155–157; Casmann, Otto, Angelographia, Frankfurt 1597, Pars II, c. 7, q. 10, 359–361; Scharff, Johannes, Pneumatica seu pneumatologia hoc est Scientia spirituum naturalis, Wittenberg 1644, Liber III, c. 5, 180–182.

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handelt wurde.10 Ein Blick in streng protestantische Eschatologien, die auch Lavater geläufig waren, von Brandanus Gebhardi und Eric Pontoppidan, offenbart, wie wenig man hier auch in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch von der katholischen Position abgewichen war.11

3. Lavaters Aussichten in die Ewigkeit Lavater verfasste seine große eschatologische Summe in Gestalt der Aussichten in die Ewigkeit, die der Schweizer im Jahre 1768 begonnen hatte.12 Um Lavaters Modell einer postmortalen Sprache zu würdigen, ist es notwendig, dieses Werk, dessen Ausarbeitung etliche Jahre in Anspruch nahm, als Ganzes in den Blick zu nehmen. Wie begreift Lavater den Leib-Seele-Zusammenhang? Welche Kompetenzen gesteht er dem Leib der Seligen zu, welche ihrem Verstand? Welche Rolle soll Kommunikation im Jenseits spielen? Und hat sie gegenüber der Gottesschau einen Mehrwert? Dass die Aussichten ursprünglich als Begleitschrift zu einem Lehrgedicht angelegt waren, das Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724–1803) Messias und Johann Andreas Cramers Auferstehung noch hinter sich lassen sollte, kann ihre überbordende Phantasie und bildmächtige Sprache vielleicht erklären,

10 Unter wirklich sehr vielen Texten als Beispiele Albert, Valentin – Rancke, Andreas (resp.), Dissertatio de loquutione angelorum, Leipzig 1678; Pasch, Johannes – Oldach, Matthias Jacob (resp.), Exercitatio pneumatico-scholastica de angelorum lingua sine lingua, Wittenberg 1684; Gantesviler, Johann Jacob – Hein, Johann Christoph (resp.), Scrutinium theologicum de loquela angelorum, Duisburg 1685; oder Ellrod, Germanus Augustus – Scholler, Friedrich Adam (resp.), De poesi angelorum lingua, Bayreuth 1738. 11 Gebhardi, Brandanus, Betrachtungen über die christliche Lehre, wie selbige in dem kleinen Catechismus des seel. D. Martin Luthers gefasset ist, zur Erbauung und Befestigung in der Wahrheit mitgetheilet, Greifswald 1746, §§ 10–14, 625–632; und Pontoppidan, Eric, Schrift- und Vernunftmäßige Abhandlung von der Unsterblichkeit menschlicher Seelen, von deren Befinden in dem Tode, von deren Zustand gleich nach dem Tode, bis an das Jüngste Gericht, Kopenhagen 1766, c. 15, 266–291. 12 Zitiert wird im Folgenden nach der exzellenten Ausgabe Lavater, Johann Caspar, Aussichten in die Ewigkeit 1768–1773/78, in: Lavater, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. 2, hg. v. U. Schnetzler-Caflisch, Zürich 2001; dort auch zur Entstehungsgeschichte: Caflisch-Schnetzler, Ursula, Einleitung, in: Ebd., XVIII–XXXIII. Weitere Zusammenfassungen der Eschatologie Lavaters liefern z. B. Nikolitsch, Peter-Michael, Diesseits und Jenseits Johann Caspar Lavaters Werk: „Aussichten in die Ewigkeit“ 1768 bis 1774 – ein Beitrag zum Christologieverständnis Lavaters, Dissertation, Bonn 1978; und Weigelt, Horst, Das Verständnis vom Zwischenzustand bei Lavater. Ein Beitrag zur Eschatologie im 18. Jahrhundert, in: A. Schindler u. a. (Hg.), Hoffnungen der Kirche und Erneuerung der Welt. Beiträge zu den ökumenischen, sozialen und politischen Wirkungen des Pietismus (Festschrift für Andreas Lindt zum 65. Geburtstag am 2. Juli 1985), Göttingen 1985, 111–126; außerdem Dohm, Burkhard, Aussichten in die Ewigkeit. Johann Kaspar Lavater und die Hermetik im Kontext von Pietismus und Aufklärung, in: H.J. Drügh u. a. (Hg.), Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace, Tübingen 2002, 101–128, bes. 105–109.

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für die sich Lavater gelegentlich selbst entschuldigt.13 Ohne Zweifel handelt es sich um eine der originellsten Jenseitsarchitekturen, die je im Kreis der evangelischen Kirchen zu Papier gebracht wurde, poetisch und doch vollständig auf den naturwissenschaftlichen Kenntnistand der Zeit hin ausgerichtet und modern.

3.1 Palingenesie und Auferstehungsleib Wie viele seiner Zeitgenossen orientiert sich der Schweizer in der Ausarbeitung seiner Eschatologie am Leitbegriff der Palingenesie, wie ihn Charles Bonnet (1720– 1793) in seinen von Lavater selbst aufgearbeiteten Betrachtungen entwickelt hatte.14 Alle Keime, Samen, alle selbstorganisierten Zellen der Schöpfung unterlagen einer monadischen Finalursächlichkeit, die sie auf Gott hin ausrichtete und in unterschiedlicher Ausdifferenzierung und Subtilität aufeinander abstimmte. In fortschreitender Perfektion blieb das Universum in seinen Kernbeständen durch alle Phasen seiner Veränderung erhalten und musste sich auch nach dem Tod wieder neu restituieren. Die Schöpfung durchlebte zwar Transformationen, so wie sich eine Raupe in einen Schmetterling verwandelte und ein Same in einen Baum oder einen Menschen, doch kannte es weder eine universelle Auslöschung noch einen individuellen Tod, sondern allenfalls Perioden der Ruhe. Für den Menschen bedeutete dies nicht nur, dass er qua natura eine Auferstehung erwarten durfte, sondern auch, dass er in seinem Leben wieder über eine organische, wenn auch transformierte Naturordnung verfügen konnte. Entscheidend war für Lavater, dass der leibseelische Konnex, damit aber auch die postmortale Kontinuität der Person in einem Form-Materie-Zusammenhang auf diese Weise nie in Frage gestellt wurde. Ein Grundproblem der ganzen Identitätsdebatte der aristotelischen, aber auch cartesianischen Schulphilosophie hatte sich damit bereits erübrigt. Die Ideen und Vorstellungen, die der Mensch im Laufe seines Lebens in seinem Verstand versammelt hatten, blieben seiner Seele, wie Lavater es formuliert, ebenso ‚imprägniert‘, wie seine eingeübten Leidenschaften, seine Tugenden und Laster.15 Je nach Dominanz hatten sie nicht nur die geistige Kontinuität des Menschen zur Folge, sondern auch seine Zuweisung zu Himmel oder Hölle, die der Mensch durch die natürliche Schwerkraft seiner gleichsam in seinen Körper

13 Zu Lavaters Bibeldichtung und -poetik allgemein die wertvolle Studie von Kohler, Daniela, Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung. Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder, Berlin 2015, bes. 263–348; und auch Sigrist, Christoph, Das Lehrgedicht der Aufklärung, Stuttgart 1974, 249. 14 Lavater, Johann Caspar, Herrn Carl Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum, Zürich 1769; und ders., Herrn C. Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, Philosophische Palingenesie, Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen, Zürich 1769–70. 15 JCLW II, Brief 6, 63–78.

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eingeschriebenen Moralität anstrebte. Sein körperlicher Tod war gleichbedeutend mit der Ablösung seines grobstofflichen Leibes. Erhalten blieb der Seele ein feinstofflicher, ätherischer Körper, vergleichbar, so Lavater, der alchemistischen Quintessenz, die aus den rohen Ingredienzen des Caput mortuum destilliert wurde, und dem Inhalt des corpus callosum der Insekten, wie es Bonnet beschrieben hatte.16 Es gab kein Fegefeuer und auch keine in sich subsistierende Seele. Die kontroverse Frage, wie der intermediäre Zustand zwischen Tod und endgültiger Auferstehung zu begreifen war, diskutiert Lavater mit mehreren Optionen. Traumvisionen und Formen der Klarsichtigkeit gerade beim Übergang in den Schlaf konnten ein Indiz für eine Aktivität der Seele auch während des Zwischenstadiums sein, denkbar war aber auch eine Phase der völligen sensuellen Lethargie.17 Die Gerechten erhielten Anteil am tausendjährigen Reich, eine These, für die Lavater arg gescholten wurde, ihr Körper musste daher eine Transfiguration erfahren, vergleichbar der Verklärung Christi nach seiner Auferstehung.18 Ausdrücklich erinnert Lavater hier, wenn auch mit Vorbehalt, an die Theologie Johann Wilhelm Petersens (1649–1727).19 Der erste Auferstehungsleib der Gerechten war von lichthafter Natur und kam ohne Nahrung und Schlaf aus, doch sollte er sich zum Endprodukt der Auferstehung verhalten wie ein Schattenbild zu seinem Original. In der konventionellen Dogmatik hätte sich in diesem Körper das für den Menschen zu Erwartende bereits erschöpft, für Lavater war er nur der Anfang.20 Die universale Palingenesie erfüllte alle selbstorganisierten Entitäten wieder mit Leben und rüstete ihre körperlichen Komponenten, ihre stamina, wie Lavater sie nannte, wieder auf. Alle Seelen, die den Grundstock ihres Körpers als Individuationsprinzip nie verloren hatten, sollten, je nach moralischer Qualifikation, mit einem neuen, subtileren Leib umgeben werden, vielleicht sogar die noch unbefruchteten Ei­­zellen. Schlagartig explodierte der Weltkörper in seiner Ausdehnung, erweitert um Welten, die Welten enthielten, wie Mandelbrotmengen, die in immer komplexerer Ein- und Ausfaltung periodenhaft die eigene Harmonie in myriadenfacher Vervielfältigung reproduzieren konnten. Auf natürliche Weise wäre das unendlich

16 Ebd., Brief 7, 79–90, bes. 88–90. 17 Ebd., Brief 7, 90–96. 18 Ebd., Brief 8, 97–117; dazu für Lavater ausdrücklich, wenn auch mit Reserve, Petersen, Johanna Eleonora/Petersen, Johann Wilhelm, Das ewige Evangelium der allgemeinen Wiederbringung aller Creaturen, wie solche unter andern in rechter Erkäntniß des Mittlern Zustandes der Seelen nach dem Tode tieff gegründet ist und nach Ausführung der endlichen Gerichte Gottes dermaleins völlig erfolgen wird, o. O. 1698, passim. 19 Zur Eschatologie Petersens unter vielen z. B. Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998, 573–585; Meier, Marcus, Der bekräftigte Origenes. Origenesrezeption im radikalen Pietismus, PuN 31 (2005), 137–142; oder Breuer, Dieter, „Der bekräfftigte Origines“ – Das Ehepaar Petersen und die Leugnung der Höllenstrafen, in: H. Laufhütte/M. Titzmann (Hg.), Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006, 413–424. 20 JCLW II, Brief 8, 117–120.

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Große, wie Lavater vermerkt, hier niemals in der Lage gewesen, sein mikroskopisches Gegenüber über alle Dimensionen hinweg zu erkennen.21 Die Eigenschaften des auferstandenen Leibes zweiter Ordnung orientierten sich an seinem neuen Habitat, das für Lavater außer Gott keine Begrenzungen mehr kannte. Seine Eigenschaften wirken wie die fast surreale Potenzierung des traditionellen corpus gloriosum. Von Bedeutung scheint schon hier, dass der ganze sensuelle Apparat dieses neuen Leibes auf Kommunikation und Interaktion ausgerichtet war, also auf allen Ebenen zur Gänze als Instrument der Mitteilung verstanden werden musste. Wie die klassische Eschatologie versucht Lavater, die sinnlichen Fähigkeiten in ihrer Reichweite zu bestimmen. Schon die Lichtnatur des Körpers musste, wie Lavater glaubte, alles Vorstellbare sprengen. War ein Lichtstrahl nicht schon jetzt fünf Billionen Mal feiner als ein Haar, wie sein Landsmann Albrecht von Haller (1708–1777) gezeigt hatte, ein semicorporeum, das permeabel war und zugleich auch selbst alles durchdringen konnte? Eine Kugel aus Diamant, gehängt in die Mitte des Universums, war imstande, die eine Hälfte des Kosmos, verdichtet auf einen mikroskopisch kleinen Punkt, durch sich hindurchzulassen; schon jetzt war auch das menschliche Auge in der Lage, so Lavater, von den entferntesten Gestirnen des Universums noch Lichtstrahlen aufzunehmen. Welche Welten aber konnte sich in den Tiefen eines Sandkorns noch verbergen, wenn man nur in der Lage war, sie zu unterscheiden? Der aus subtilstem Licht bestehende neue Körper des Menschen musste daher mit einem Sehsinn ausgestattet sein, der das ganze Universum, Welten, die immer wieder neue Planetensysteme enthielten oder von ihnen umschlossen waren, zu durchmessen und visuell auszuschöpfen, und unendlich feine Pixel ebenso erfasste wie kosmische Dimensionen. Der ganze neue Leib war von Okularen geschmückt, ja bot sich als einziges Auge dar.22 Gleiches musste sich auch vom akustischen Vermögen des Glorienleibes behaupten lassen. Unzählige Töne aus beliebiger Entfernung, simultan eingespielt, die das normale Ohr niemals hätte wahrnehmen, geschweige denn differenzieren können, konnte das Ohr des Auferstandenen hören und unterscheiden, jeden Wassertropfen in einem majestätischen Katarakt. Fast wie Christus würden wir imstande sein, so Lavater, alle Lieder, Reden und Gebete der Engel und Menschen gleichzeitig aufzunehmen und mit ihnen auch das Geschrei der Raben; wie in einem Schall­kegel wären wir auch in der Lage, alle störenden Sensationen auszuklammern, um allein eine einzige akustische Information zu verarbeiten.23 Fraglich war natürlich, ob der Glorienleib auch über die übrigen drei Sinne, die eher organisch-körperlicher Natur waren, verfügen sollte. Die Tradition hatte diese Frage bejaht; Lavater verleiht diesen Sinnen, wie schon angedeutet, eine Ausrichtung, die ihren kommunikativen Mehrwert in den Mittelpunkt rückt, ja ihre

21 Ebd., Brief 8, 120–133. 22 Ebd., Brief 11, 262–286; dazu auch für Lavater Haller, Albrecht von, Elementa physiologiae corporis humani, Bd. 5, Lausanne 1763, Liber XVI, Sectio III, 443–463. 23 JCLW II, Brief 11, 286–291.

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Fortexistenz, wie mir scheint, überhaupt nur über ihre Interaktion rechtfertigt. Natürlich konnten Ernährung oder Verdauung für den Geschmackssinn keine Rolle mehr spielen, denn sie mussten im Jenseits jede Berechtigung verloren haben. Kollektive Palingenesie jedoch bedeutete, dass nicht nur der Mensch, sondern auch Tiere und Pflanzen im neuen, aus der Asche wiederhergestellten Universum ihren Platz wieder einnahmen und weitere Vollendung erfahren konnten. Bäume trugen Früchte, Vögel legten Eier. Sollte der Mensch wirklich noch von diesen Kreaturen Gebrauch machen? In der konfliktfreien Welt war die Tötung eines Tiers nicht mehr vorgesehen, auch die Domestizierung einer Pflanze musste sich daher verbieten. Geschmacks- und Geruchssinn erhielten also, wie Lavater fortfährt, eine neue Funktion; sie dienten der Kontaktaufnahme, der empathischen Durchdringung der nicht-menschlichen Welt, eine Durchdringung, so Lavater, die für beide Seiten, menschliche wie animalisch-vegetative, Vergnügen und Empfindsamkeit nach sich ziehen musste. Vielleicht konnte der Geruch Gedanken vermitteln, die weder dem Auge noch dem Ohr erkennbar waren. Vielleicht war es möglich, sich auf der Ebene von Gerüchen mit Pflanzen, die in der Perfektionierung ihrer Seelenkräfte vorangeschritten waren, zu verständigen, wurde der Geruch also zur Grundlage einer Sprache. Zu diesen verlockenden und auch leicht verstörenden Perspektiven, die Lavater vielleicht mit gutem Grund nicht weiterverfolgt, kam die Option weiterer Sinnesorgane, deren Aufgabenbereich wir nur erahnen konnten.24 Lavater behält die etablierten Eigenschaften des Glorienleibes, Permeabilität, Schnelligkeit und völlige Unzerstörbarkeit bei, stellt sie jedoch ganz in den Dienst der Kommunikation. Bei der Transfiguration war dem Menschen seine anthropomorphe Identifizierbarkeit nicht verlorengegangen; er sollte jedoch in der Lage sein, sich nach Belieben auszudehnen und zu verkleinern, eine Möglichkeit, die katholische Eschatologen wie Rodrigo de Arriaga einige Dekaden zuvor schon aus Gründen der Schicklichkeit kategorisch ausgeschlossen hatten. Vergleichbar der fast unbegrenzten Elastizität des Lichtes war der Mensch so auch in der Lage, so Lavater, fast instantan und mit nahezu unendlicher Geschwindigkeit nicht nur durch alle Welten einer räumlichen Ebene zu gleiten und Kontakt zu allen erdenklichen Planetenbewohnern aufzunehmen, sondern auch in allen Größendimensionen bis zu den mikroskopisch kleinen Antipoden seiner eigenen Weltordnung vorzudringen. Überall ließ sich Gemeinschaft, die klassische communio sanctorum, herstellen und intensivieren.25 Die Herstellung von Gemeinschaft hatte für Lavater noch eine weitere Komponente, die er im Abschnitt über die schöpferischen Fähigkeiten verhandelt, die dem Menschen in der Seligkeit gegeben waren. Dem Schweizer Pfarrer erscheinen sie wie eine Synthese alchemistischer Modelle und der Seminalhypothese Bonnets; stark erinnern sie darüber hinaus an Bacons Nova 24 Ebd., Brief 11, 291–298; dazu für Lavater Breitinger, Johann Jacob, De principiis in examinanda definienda religionis essentia ex mente nuperi scriptoris Galli adhibendis amica disputatio, Zürich 1741, c. 3, 99–103; und Wieland, Christoph Martin, Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde, Zürich 1753, Vierter Brief, 44–46. 25 JCLW II, Brief 11, 298–322.

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Atlantis26. Die Gabe, durch den lichthaften Körper nahezu allgegenwärtig sein zu können und eine Fülle von Welten epistemisch und realiter zu durchdringen, ja sich mit ihnen, wie gesehen, zu vereinigen, versetzte ihn in den Zustand, die zeugenden Keime der postmortalen Ordnung selbst zu permutieren und damit selbst als Schöpfer aufzutreten. Nach Belieben ließen sich auf diese Weise als Ausfluss der göttlichen Schöpferkraft neue Welten formen und bevölkern, potenziert nach den Maßgaben der prästabilierten Harmonie und nahezu bis ins Unendliche fortschreitend. In einem einzigen Augenblick konnte der Mensch eine Welt erschaffen und, was Lavater wichtig war, ein Lehrgedicht über sie schreiben.27

3.2 Postmortale Sprache Was aber, so die berechtigte Frage, bedeutete dieses fast absurde Wachstum seiner Kräfte für die Erkenntnis des Menschen und für seine Sprache? Für den Verfasser der Aussichten in die Ewigkeit bewahrte der Mensch, wie deutlich geworden ist, auch im Himmel seine Leiblichkeit, genau wie die Engel zum Ende körperlich zu denken waren. Seine Sprache musste daher unter leiblichen Voraussetzungen erklärt werden. Die Kluft zwischen Innen- und Außenwelt, die sinnliche Wahrnehmung und die Notwendigkeit der Artikulation blieben in starker Abgrenzung zu den alten Modellen bestehen und mussten die himmlische Sprache in ihrer Gestalt mitbestimmen. Zunächst stellte sich die Frage, was eigentlich zum Gegenstand eines sprachlichen Aktes wurde. Sollten es Begriffe sein oder mentale Gehalte im weitesten Sinne? Einige Jahre vor Lavater hatte sich der Wolffianer Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750), als er auf die Sprache der Engel einging, noch einmal für eine rein mentale Sprache stark gemacht, die lediglich Begriffe mit unterschiedlicher Reichweite aufeinander abgestimmt sehen wollte.28 Tatsächlich wären reine Geister unter dieser Voraussetzung gar nicht erst mit realer Interaktion konfrontiert worden, Sprecher hätten, wie Bilfinger gezeigt hatte, lediglich die Extension ihrer Begriffe erweitert.29 Vergleichbare Modelle konnten für Lavater keine Attraktivität besitzen. Ein erheblicher Teil des Fragenkataloges, der sich an die Kontroverse um die Engel26 Bacon, Francis, Nova Atlantis, Utrecht 1643, 84–86. 27 JCLW II, Brief 12, 323–364. 28 Zur Monadologie Bilfingers und zu seiner Lehre vom nexus der geistigen Substanzen Liebing, Heinz, Zwischen Orthodoxie und Aufklärung. Das philosophische und theologische Denken Georg Bernhard Bilfingers, Tübingen 1961, 75–80; zu Georg Bernhard Bilfingers an Leibniz und Wolff orientierter Philosophie allgemein Leinsle, Ulrich Gottfried, Reformversuche protestantischer Metaphysik im Zeitalter des Rationalismus, Augsburg 1988, 289–300. 29 Bilfinger, Georg Bernhard, Dilucidationes philosophicae de Deo, anima humana, mundo, et generalibus rerum affectionibus, Tübingen 1725, Nachdruck in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, Abt. 3/Bd. 18, Hildesheim/New York 1982, Sectio 1, c. 5, §§ 119–120, 118–120, Sectio 2, c. 2, §§ 151–152, 150–153.

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sprache gekoppelt hatte, hatte sich auf diese Weise bereits erübrigt.30 Wie ließ sich ein bestimmter Adressat erreichen, wie waren Lügen möglich, wie konnte Aufmerksamkeit erzielt werden? Bei allem Wunsch nach Unmittelbarkeit blieb Lavaters eine Sprache des Mediums. Lavaters Epistemologie entfaltet sich in den Aussichten in die Ewigkeit anders, als man es vielleicht erwarten könnte. Die fast unendliche Menge von gleichzeitig verfügbaren sinnlichen Daten, deren Bestand sich zudem fast exponentiell mit jedem Augenblick zu vermehren schien, sorgte für einen fast unerschöpflichen Speicher an Erinnerungen, die im Gedächtnis jederzeit simultan und ohne Verluste abrufbar waren. Alles war zu jedem Zeitpunkt vollständig gegenwärtig. Kommunikation hieß für uns im gegenwärtigen Leben, wie Lavater erklärt, aus einer Fülle von Daten zunächst einen Gegenstand zu synthetisieren, und das Erfahrungsbündel im Wiederholungsfall im Abgleich mit einem Terminus zu benennen, also z. B. als Turm zu klassifizieren. Das reduzierte Produkt aus sinnlichen Erfahrungen ließ sich dann durch eine akustische Information, ein wahrnehmbares Wort, vermitteln, oder ein anderes Zeichen, das auf den Gegenstand weisen sollte. Verfügte das Gegenüber nicht über die notwendigen Kenntnisse, um dieses Zeichen, also die Tonfolge, zu dekodieren und mit Bedeutung zu füllen, hatte der Sprecher zwei Optionen: Er konnte sich auf ein konkreteres Niveau herabbegeben, also Eigenschaften für den Turm wie hoch, spitz oder Gebäude benennen, oder ihm ein Gemälde eines Turms oder den Turm selbst zeigen, dem Zuhörer also eine intuitive Erkenntnis vermitteln.31 Gewöhnliche Voraussetzung einer solchen Kommunikation war, wie Lavater fortfährt, die Abstraktion. Ähnlichkeiten wurden mit Begriffen überschrieben, die wiederum zu neuen Klassen gebündelt, also mit noch allgemeineren Begriffen überschrieben wurden. Begriffe bildeten die inwendige Grundlage unserer Kommunikation. Tatsächlich aber waren sie, wie Lavater betont, Ausdruck eines Mangels und einer Schwäche unserer Erkenntnis wie unseres Ausdrucksvermögens. Die Abstraktion kompensierte unsere Unfähigkeit, eine Fülle von heterogenen Daten simultan zu bewahren und geschlossen weiterzutragen. Begriffe, mit deren Hilfe wir die Fülle unserer sinnlichen Erfahrungen bändigen und reduzieren konnten, fungierten als Metaphern, als Bilder, die dem ursprünglichen Gegenstand entfernter waren als ihre konkreten Spiegelungen. Offenbarte nicht schon die gewöhnliche Entwicklungspsychologie, so Lavater, dass der Mensch mit fortschreitender Erkenntnis eher zur Fülle der Ausdrücke und zum Konkreten neigte, während Kinder die wahrgenommene Welt noch in wenigen Worten summieren wollten? War Abstraktion also nicht ein Mangel unseres Verstandes? Mit Recht, so Lavater, ließ sich der Einwand geltend machen, dass Mathematik, Philosophie oder Politik als Wissenschaften ohne abstrakte Begriffe undenkbar wären. Auch

30 Zu Lavaters sprachphilosophischen Überlegungen kurz Huizing, Klaas, Verschattete Epiphanie. Lavaters physiognomischer Gottesbeweis, in: K. Pestalozzi/H. Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, Göttingen 1994, 61–79, hier 68–71. 31 JCLW II, Brief 13, 405–412.

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sie rekrutierten sich jedoch aus konkreten Erfahrungen. Waren sie nicht mehr darauf angewiesen, ihre Erkenntnisse in linearer Abfolge zu präsentieren, sondern konnten den gleichen Effekt simultan erzielen, musste sich die Notwendigkeit der Reduktion erübrigen, sie konnten auf die ganze Fülle von Erfahrungen zurückgreifen. Lag überhaupt im Jenseits Abstraktion vor, so Lavater, dann musste sie eine andere Gestalt annehmen. Klassen ließen sich mit solcher Subtilität skalieren, dass sie lückenlos die ganze Hierarchie des Daseins gleichsam durch Individualbegriffe abdecken konnten, ein geschlossener Spiegel einer Kette von Wesenheiten ohne Lücken.32 Zu diesem grundlegenden Unterschied, der Abwesenheit von Abstrakta in der Kommunikation, sollten sich für die jenseitige Sprache noch andere Vorteile gesellen. Große Gelehrte vom Schlage eines Leibniz ließen ihre Umgebung an ihren Erkenntnissen Anteil haben. Christus selbst, die Quelle aller Wahrheit, gewährte den Seligen Einblick in die Beweiskette des Weltganzen. Die Reflektion über die Keimgründe und ihre möglichen Permutationen konnte dem Auferstandenen sogar, wie Lavater noch hinzufügt, einen Einblick in die Zukunft gewähren, wenn auch niemals mit jener Fülle und Sicherheit, wie ihn Christus vermitteln konnte.33 Hinzu kam schließlich noch der Austausch mit den nichtmenschlichen Kreaturen. Eine vollendete Form der Empathie sicherte dem Erlösten die Möglichkeit, so Lavater, die Welt wie eine Milbe, ein Luchs oder ein Cherub wahrzunehmen. Alle diese Erkenntnismodi waren von kontinuierlichem Fortschritt gekennzeichnet, ja mehr noch, gerade in der beharrlichen Vermehrung der Erkenntnis in Auseinandersetzung mit den anderen Erlösten und der ganzen wiederhergestellten Weltordnung verortete sich die wahre Glückseligkeit.34 Gerade in dieser Betonung des beharrlichen Wandels lag ein großer Unterschied zu den alten Modellen postmortaler Erkenntnis und Kommunikation; ihr Zugriff war immer statisch gewesen. Der Erlöste sah Gott und in ihm alle Wahrheit, über die er fortan, je nach Aufnahmevermögen, verfügen konnte. Die Kommunikation, aber auch die sensuelle Erfahrung mit Hilfe des wiederhergestellten Körpers, die weiter möglich blieb, besaßen allenfalls akzidentelle Bedeutung. Natürlich konnte die Erkenntnis einer einzelnen Rose ein Vergnügen sein, doch blieb sie bei aller Bedeutung der Intuition im Vergleich zur im Verbum erschauten Substanz der Erkenntnis, wie ein Jesuit wie Rodrigo de Arriaga festhielt, eine akzidentelle Erfahrung, ein bloßes Surplus, das keinen epistemischen Mehrwert besaß. Wie stellt sich Lavater nun den konkreten Sprechakt vor, wenn nicht mehr Begriffe durch Zeichen vermittelt werden sollten? Willkürliche, akustische Tonfolgen, die in keinem Verhältnis zu den Gegenständen standen, die sie bezeichnen sollten, waren als Grundlage einer Sprache im Himmel undenkbar. Jede Form einer arbiträren Sprache war unmöglich. Die Sprache der Seligen musste in ihren

32 Ebd., Brief 13, 412–416. 33 Ebd., Brief 13, 417–423. 34 Ebd., Brief 13, 423–433.

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Artikulationsformen allgemeinverständlich sein, so Lavater, alle Disharmonie in den Zeichen, alle Unschärfe in den Semantiken, alle Missverständnisse waren kategorisch ausgeschlossen und standen der Glückseligkeit im Himmel nur im Wege. Den Ausgangspunkt der vollkommenen Sprache musste, wie Lavater betont, eine Natursprache bilden, wie sie auch schon andere Sprachtheoretiker beschrieben hatten. Ausdrücke der Freude oder der Trauer, durch Geste oder Interjektion dargeboten, waren eindeutig, so die Behauptung Lavaters, und standen in direktem, repräsentativem Verhältnis zu ihrem Gehalt. Mit gleicher Eindeutigkeit artikulierte ein Tier seinen Schmerz oder sein Verlangen, die Laute des Tiers wurden imitiert und lieferten für die Bezeichnung der Kreatur selbst wieder die Grundlage. Was dem Gefühl oder dem Tier ähnelte, bildete also das Fundament seiner Vermittlung. Aus dieser natürlichen semantischen Relation, so Lavater, mussten zu Beginn alle Sprachen entstanden sein; dann hatte sich ein Prozess der Depravation angeschlossen, der das Imitat von seinem Ausgangspunkt gelöst hatte, das Willkürliche, so Lavater, hatte sich verselbstständigt. An die Stelle der Natursprache war die Tonsprache getreten, die arbiträren Zeichen, schließlich hatten die Buchstaben die Bilder verdrängt.35 Sprache im Himmel bedeutete, wieder zum Naturzustand zurückzukehren, einem Naturzustand allerdings, der durch die vervielfältigten Fähigkeiten im Jenseits selbst eine vollständig erneuerte Gestalt annehmen musste. Der lichthafte Körper sorgte dafür, dass der Reichtum der Erfahrungen und Gedanken ohne verfälschende Zeichen dargeboten wurde. Wir waren nicht mehr auf Worte im alten Sinne angewiesen, sondern sollten in der Lage sein, alle Gefühle und mentalen Gehalte unmittelbar nach außen zu tragen. Lavater vergleicht es mit dem Geld. Für sich stand es in einem repräsentativen Verhältnis zum Reichtum, doch waren die Münzen nie der Reichtum selbst, sondern nur ein Objekt mit Symbolwert; im Himmel war dieser zeichenhafte Vermittler obsolet geworden. Noch ein zweiter Vorteil der himmlischen Sprache war erwähnenswert. Wortsprachen, wie Lavater sie nennt, unterlagen den Maßgaben der Sukzession; sie konnten ihre Gehalte nur in linearer Folge transportieren. Die expressive Sprache des Himmels war in der Lage, ihre Gedanken und Gefühle simultan zu offenbaren. Sie funktionierte wie ein Gemälde, das sich intuitiv betrachten ließ. Fast gewinnt man nach diesen Ausführungen den Eindruck, Lavater würde sich doch noch dem alten Modell der Engelsprache verpflichtet sehen, das nur adressierte Gedanken kannte, doch keine semantischen Relationen. Dies war jedoch nicht der Fall; entscheidend war für Lavater nur, dass die Zeichen eindeutig waren und unmittelbar auf ihren Ursprung referierten.36 Die vollkommene Sprache war, wie vielleicht zu erwarten, so Lavater, physiognomisch, dazu pantomimisch oder musikalisch. Am Vorbild des Schöpfers, der sich in der ganzen Naturordnung zum Ausdruck brachte, ausgerichtet und am Beispiel

35 Ebd., Brief 16, 449f. 36 Ebd., Brief 16, 451f.

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Christi, der sich als sein vollkommenes Abbild begreifen ließ, war die Natursprache das Wesen der Sprache; jede Pflanze artikulierte sich selbst. Nichts anderes leistete auch der Mensch, so Lavater, der sich mit Hilfe seines Körpers zum Ausdruck brachte; durch jede Falte, jedes Haar sprach seine Seele. Hinzu trat die Gebärde, also die pantomimische Sprache. Jede natürliche Bewegung, jeder Ruhezustand, hatte seinen semantischen Wert, jedes Muskelzucken vermittelte eine Bedeutung. Hochgerechnet auf die von Lavater beschriebenen Kapazitäten eines lichthaften Glorienleibes, der in nahezu unendlicher Geschwindigkeit fast jede erdenkliche Form annehmen konnte, musste dies bedeuten, dass der Mensch, wie eine unbarmherzig in alle Richtungen knatternde Kugel, stroboskopartig eine nahezu unendliche Fülle von inneren und äußeren Sachverhalten durch eine ebenso fast unendliche Menge von Akten simultan vermitteln konnte. Zugleich war er in der Lage, mit Hilfe dieser Informationskaskaden, in einem einzigen Augenblick eine ebenso fast unendliche Menge von Adressaten in allen großen und kleinen Weltsystemen zu erreichen, und auf individuelle Weise anzusprechen. Mehr ließ sich kaum erwarten; gelegentlich hatte der Mensch darüber hinaus sicher auch das Recht, den Nachrichtenverkehr einzustellen. Die musikalische Sprache schließlich trat an die Stelle der alten, akustischen Wortsprache. Eine sterbliche Zunge konnte nur eine linear-unterscheidbare Kette von Einzeltönen hervorbringen; der vollkommene Körper jedoch war ebenso zur Gänze Zunge, wie er aus Augen bestand. Als multifunktionales Instrument würde er imstande sein, so Lavater, gleichsam konzertant eine kaum überschaubare Menge von Tönen hervorzubringen, die von allen Hörern verstanden wurde.37 Zu diesen allgemein verständlichen Sprachformen konnten, wie Lavater betont, noch weitere Medien der Artikulation treten. Vielleicht schufen die Seligen durch ihre schon beschriebenen majestätischen performativen Kräfte Bilder, die ihnen als eindeutige Zeichen und Werkzeuge intuitiver Erkenntnis dienten, also gleichsam Welten, die Welten abbildeten, vielleicht waren auch taktile Formen denkbar, um Informationsströme weiterzuleiten, oder, so ruft es Lavater noch einmal in Erinnerung, es ließen sich aus dem Geruchs- und Geschmackssinn weitere Formen der Kommunikation ableiten. Von Bedeutung ist zum Ende, dass Lavater doch noch einmal versucht, an den alten Diskurs von der Engelsprache anzuschließen. Vielleicht, so der Schweizer, war es auch nicht ausgeschlossen, dass der Sprecher seinem Gegenüber unmittelbar, also ohne jedes Medium oder Zeichen, Einsicht in seine Gedanken gewährte, durch, wie es heißt, „Anschauung und Genuss“.38 Wie eine solche Selbstoffenbarung des Geistes vonstattengehen sollte, verrät uns Lavater nicht. Austausch und Gemeinschaft mussten als die Grundlagen der himmlischen Gesellschaftsordnung verstanden werden, gelebte Freundschaft unter tausenden von Seelen und Engeln;39 sie war auch Voraussetzung der Aktivitäten, die sich

37 Ebd., Brief 16, 452–456. 38 Ebd., Brief 16, 456f. 39 Ebd., Brief 17, 459–467.

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Lavater für den Himmel ausmalte, die Paradiese, Lusthäuser, Paläste und Akademien, die erbaut und bevölkert wurden, und die Dichter, Redner, Sänger, Virtuosen, Lehrer und Wissenschaftler, die ihre Existenz rechtfertigten. Man hatte sich Lavaters Jenseits als zutiefst mitteilungsfreudigen Ort vorzustellen.40

4. Lavater und die Eschatologie seiner Zeit Zum Ende ist die Frage berechtigt, aus welchen Quellen Lavater eigentlich schöpft, um sein erschlagendes Jenseitspanorama mit Bedeutung zu füllen. Bereits deutlich geworden war, dass die Kluft zwischen Lavaters Modell einer postmortalen Körperlichkeit und der sensitiven, epistemischen und sprachlichen Kompetenzen, auf die wir im Jenseits hoffen konnten, und dem Modell, das die ältere protestantische Schultheologie etabliert hatte, erheblich war. Lavater hatte es souverän hinter sich gelassen. Bekanntermaßen war Lavater dennoch nicht der einzige Theologe gewesen, der im Gefolge der leibnizschen Monadenlehre und Bonnets Konzept der Palingenesie versucht hatte, Eschatologie neu zu denken. Modelle der universalen Wiederherstellung waren auch schon vor der Lektüre Bonnets, vor allem im Umfeld paracelsisch-alchemistisch beeinflusster Theologen, in eine Jenseitsarchitektur umformuliert worden;41 zu denken ist hier nicht zuletzt an Johann Michael von Loën (1694–1776) oder Eberhard Christian Kindermann (1718–?), die Mitte des 18. Jahrhunderts den lichthaften Phosphor, Salz oder andere Stoffe als Grundlage einer Wiederstellung des menschlichen Körpers gesehen hatten.42 Schon seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert hatten die Paracelsisten die Meinung vertreten,

40 Ebd., Brief 20, 491–501, hierzu auch Stengel, Friedemann, Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2011, 307–319. 41 Eine Übersicht zur Anwendung der Palingenesie-Idee im Umfeld des universitären Paracelsismus geben Telle, Joachim, Chymische Pflanzen in der deutschen Literatur, Medizinhistorisches Journal 8 (1973), 1–34; Roling, Bernd, Die Rose des Paracelsus: Die Idee der Palingenesie und die Debatte um die natürliche Auferstehung zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: P.J. Smith/K.A.E. Enenkel (Hg.), Zoology in Early Modern Culture. Intersections of Science, Theology, Philology and Political and Religious Education, Leiden 2014, 263–297; dazu mit Blick auf Bonnet und seine Rezeption auch schon Unger, Rudolf, Zur Geschichte des Palingenesiegedankens im 18. Jahrhundert, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (1924), 257–274; und jetzt vor allem Stiening, Gideon, Von der Unsterblichkeit des ganzen Menschen zur ewigen Wiederkehr der Seele. Zum Palingenesiegedanken bei Charles Bonnet und Gotthold Ephraim Lessing, Aufklärung 29 (2017), 243–268. 42 Kindermann, Eberhard Christian, Vollständige Astronomie, oder sonderbare Betrachtungen derer vornehmlichen an dem Firmament befindenden Planeten und Sternen, Rudolstadt 1744, c. 23f, 343–393; und Loen, Johann Michael von, Das Geheimniß der Verwesung und Verbrennung aller Dinge: Nach seinen Wundern im Reich der Natur und Gnade, Macro- und Micro-Cosmice als die Schlüssel, dadurch der Weg zur Verbesserung eröffnet, das Verborgene der Creaturen entdecket, und die Verklärung des sterblichen Leibes gründtlich erkandt wird, Frankfurt a. M. 1742, 34–68.

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der leibseelische Zusammenhang sei nie außer Kraft gesetzt worden und könne aus einer eigenen inneren Kausalität heraus die menschliche Unsterblichkeit erklären. Experimente, wie sie von Pierre Borel (1620–1671) oder Robert Fludd (1574–1637) durchgeführt wurden, hatten diese Auffassung noch bekräftigen können.43 Auch unter den direkten Anhängern einer leibnizschen oder wolffianischen Theologie hatten Gelehrte wie Israel Gottlieb Canz (1690–1753),44 Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) oder Georg Ventzky (1704–1757) einen kontinuierlichen Leib-Seele-Zusammenhang gelehrt und mit ihm einen feinstofflich-ätherischen Lichtkörper, der nicht als Alternative, sondern als Transformation des alten Leibes verstanden werden wollte.45 Lavater benennt sie direkt.46 Der Prenzlauer Theologe und Dichter Ventzky, der Lavater scheinbar vorlag, hatte immerhin von einer Universalsprache im Himmel fabuliert, die allen Seligen an den himmlischen Akademien als Verständigungsmittel dienen konnte und auch vollkommene Dichtkunst und Musik ermöglichen sollte. Ihre Termini mussten sich, so Ventzky, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit vermehren lassen.47 Andere von Lavater zitierte Theologen hatten dem Auferstehungsleib durchaus Qualitäten zugeschrieben, die der luminösen Hochleistungsapparatur Lavaters vergleichbar waren. Bei Thomas Burnet (1635–1715) lesen wir von einer volatilen Materie, die wie ein Fluidum aus Äther über exorbitante Fähigkeiten verfügen musste.48 Charles de Villette (1736–1793), den Spalding ins Deutsche übertragen hatte, hatte einen beharrlichen Erkenntnisfortschritt gelehrt, dazu aber auch neue, noch unbekannte Formen der Sinnesorgane und ein nahezu unbegrenztes Gedächtnisvermögen. Jede Pflanze, neu betrachtet, würde sich, so hatte Villette 43 Als Beispiel Borel, Pierre, Historiarum et observationum medicophysicarum Centuria IV, in quibus non solum multa utilia, sed etiam rara et stupenda ac inaudita continentur, Paris 1656, Centuria IV, Observatio 62, 323–328. 44 Canz, Israel Gottlob, Überzeugender Beweis aus der Vernunft von der Unsterblichkeit sowohl der Menschen Seelen insgemein, als besonders der Kinder-Seelen, samt einem Anhange über die Frage: Wie es der Seele nach dem Tode zu Mute sein werde? Tübingen 1742, bes. §§ 196–197, 350–355; dazu ders., De regimine dei universalis sive iurisprudentia civitatis dei publica, Tübingen 1744, Sectio V, c. 2, §§ 2257–2266, 917–921; und ders. – Closs, Georg Friedrich (resp.), Dissertatio theologica de resurrectione corporis eiusdem, quod iam gestamus licet novis qualitatibus vestiti, Tübingen 1747, Sectio II, 19–28. Zu Canz Blomme, Henny, Israel Gottlieb Canz über die Unsterblichkeit der Seele, Aufklärung 29 (2018), 51–72. 45 Baumgarten, Alexander – Goede, Carl Friedrich (resp.), Tentamen demonstrationis mathematicae qua existentiam corporum angelicorum, Frankfurt (Oder) 1741, §§ 83–93, 20–22; dazu Ventzky, Georg, Geschichte des Menschen in seinem Zwischenzustand, vom Tode an bis zu seiner Auferstehung, vornämlich nach den Entdeckungen der Offenbarung, Breslau 1755, passim; ders., Die Herrlichkeit der verklärten menschlichen Körper in jener Welt und die Wohnungen, welche für uns zubereitet worden, Breslau 1752, bes. Erste Abhandlung, § 9, 40–43; ders., Die Herrlichkeit des Ebenbildes Gottes in seinem ganzen Umfange, vornehmlich an dem Menschen, Breslau 1752, § 44, 133–135; und öfter. 46 JCLW II, Brief 11, 317–319. 47 Ventzky, Georg, Die Wissenschaften sind ewig, folglich sind weise Gelehrte vor andern glückselig, Prenzlau 1745, 8. Zu Ventzy ist grundlegend Stengel, Aufklärung bis zum Himmel, 447–450. 48 Burnet, Thomas, De statu mortuorum et resurgentium tractatus, London 21733, c. 7, 160–170.

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behauptet, auf diese Weise wie ein Paradiesgarten ausfalten; die Schönheit der Schöpfung sich in allen Dingen subtiler und subtiler unter Beweis stellen.49 Bei Isaac Watts (1674–1784) stoßen wir auf ein Konzept des Glorienleibes, das Lavater noch näherkommt. Der Sonne vergleichbar, war dieser Leib, so hatte der englische Theologe gelehrt, vollständig permeabel und durchgehend visuell und akustisch begabt und reizbar, dazu so elastisch, dass er fast allgegenwärtig sein konnte.50 Dazu konnte die Seele über ein nahezu unbegrenztes Repertoire an Gedanken und Ausdrücken verfügen.51 Zur eigentlichen Kommunikation im Himmel aber hatten sich Burnet, de Villette und Watts weitgehend ausgeschwiegen. Woher also hatte Lavater seine entscheidende Inspiration bezogen? Im Jahre 1758 war Emanuel Swedenborgs (1688–1772) bekannter Traktat De coelo et inferno erschienen. Lavater benennt Swedenborg in den Aussichten kurz als Exempel der Clairvoyance, doch zitiert seine Schriften in diesem Werk an keiner Stelle explizit.52 Es liegt auf der Hand, dass die systematischen Voraussetzungen für eine Kommunikation im Reich der Seligen im monumentalen theologischen System Swedenborgs, dessen Kathedrale er seit seinen ersten Visionen mit den Arcana coelestia Schritt für Schritt errichtet hatte, andere waren, als für einen noch immer dem Protestantismus verpflichteten Denker wie Lavater. Der Mann aus Uppsala, dessen Bedeutung für die europäische Literatur und Geistesgeschichte gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, hatte seine Theorie einer himmlischen Sprache in vielen seiner Werke entwickelt,53 angefangen schon in seinen Tagebüchern.54 Auch Swedenborgs Engel, wie auch seine Seligen, besaßen einen feinstofflichen Leib, der ihnen als Instrument der Verständigung diente, auch ihre Sprache war, wie Swedenborg glaubte, nicht mentaler Natur, sondern auf Medien angewiesen, die als Entsprechung der irdischen Luft zu verstehen waren. Wichtiger aber war noch etwas anderes: Auch Swedenborgs Engel waren in der Lage, ihre Gedanken

49 Villette, Charles Louis de, Essai sur la felicité de la vie à-venir, en dialogues, Dublin 1748, 197–200. Die deutsche Übersetzung erschien 1766. 50 Watts, Isaac, Drey Abhandlungen von der Herrlichkeit Christi, betrachtet als Gott-Mensch, Frankfurt 1755, Zweite Abhandlung, 163f; ders., Zukünftige Welt, oder Reden von der Freude und dem Elende abgeschiedener Seelen, auch der Herrlichkeit und dem Schrecken der Auferstehung, Halle/Saale 1758, Siebente Rede, 335–337. 51 Watts, Drey Abhandlungen, Zweite Abhandlung, 173. 52 JCLW II, Brief 13, 429. 53 Zu Emanuel Swedenborgs Interpretation der Engelsprache Stengel, Aufklärung bis zum Himmel, 318f; Jonsson, Inge, Swedenborgs Korrespondendslära, Stockholm 1969, 223–232; ders., Visionary Scientist. The Effects of Science and Philosophy on Swedenborg’s Cosmology, West Chester 1999, 147f; Roling, Bernd, Erlösung im angelischen Makrokosmos. Emanuel Swedenborg, die Kabbala denudata und die schwedische Orientalistik, Morgen-Glantz 16 (2006), 385–457, hier 438–440; und kurz z. B. auch Katz, David S., God’s Last Words. Reading the English Bible from the Reformation to Fundamentalism, New Haven/London 2004, 171f. 54 Swedenborg, Emanuel, The Spiritual Diary. Records and Notes made between 1746 and 1765 from his Experiences in the Spiritual World, Bd. 1, London 2002, §§ 1575–1578, 9f; Ebd., Bd. 2, London 2002, § 1645, 29, §§ 1917–1927, 103–105, § 2414, 253, § 2806, 357f; Ebd., Bd. 3, London 2003, § 3356, 34, § 4441, 410f.

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und Gefühle ohne semantische Brüche zum Ausdruck zu bringen; ihre Sprache war, getreu der für Swedenborg so wichtigen Verflechtung von Gefühl und Denken, tönende Neigung und affektives Denken zugleich, so wie Vokale und Konsonanten unsere Tonsprache ermöglichten. Je weiter Engel und Selige sich Gott und seiner Weisheit und Liebe annäherten, desto reiner in Hinblick auf seine Weisheit und Liebe und zugleich auch komplexer musste ihre Sprache werden.55 Als Ergebnis einer Fülle von simultan verarbeiteten Daten war ein angelisches Wort auch für Swedenborg in einem einzigen Augenblick in der Lage, eine majestätische Menge von Sachverhalten weiterzugeben. Auch bei Swedenborg fehlt der Sprache der Seligen jede Form von Arbitrarität; es waren, wie auch im Fall der idealen Kirche der Anfangszeit, Natursprachen, die in direktem Abbildverhältnis zu ihren Sachverhalten standen. Engel äußerten ihre Gefühle, ihre Trauer oder Freude, ohne sie durch Zeichen zu verfälschen. Eine Sprache musste für einen Engel, wie Swedenborg in Himmel und Hölle unterstreicht, auf diese Weise einen fast auratischen Charakter annehmen; sie war jedem Erlösten auf seinem Niveau nachvollziehbar; zugleich sorgte sie für eine sichere Identifikation des Sprechers.56 Vergleichbares musste auch für die himmlische Schrift gelten. Auch sie konnte ohne Bedeutungsverlust die Affekte und Gedanken ihrer Verwender repräsentieren.57

5. Fazit Tatsächlich hatte Lavater also vor allem Swedenborgs Überlegungen in seine Eschatologie integriert. Zugleich aber war es ihm gelungen, die oft eigenwilligen Hypothesen des Orakels aus Uppsala in die Vorgaben der traditionellen Jenseitsszenarien einzubinden, vielleicht auch, um den protestantischen Glauben um eine neue Dimension zu erweitern und ein entsprechendes körperliches Instrumentarium, ohne dabei die Grundgedanken der protestantischen Eschatologie in Frage zu stellen. Die aktuelle Physik in Gestalt von Hallers Einlassungen zur Optik, aber auch anderen naturwissenschaftlichen Hypothesen, hatte hier auf die spekulative Theologie treffen können und auf Erfahrungen von Hellsichtigkeit, wie sie Lavater selbst zuteilgeworden waren. Auch diese Synthese hatte Lavater sicher zu Swedenborg geführt. Lavaters Kreativität im Umgang mit seinen Autoritäten hatten diese Vorbedingungen nicht schmälern können.

55 Swedenborg, Emanuel, De coelo et eius mirabilibus et de inferno ex auditis et visis, London 1758, §§ 235–238, 89–91. 56 Ebd., §§ 239–244, 91–93; ergänzend dazu: Ders., The True Christian Religion, London 1936 (zuerst erschienen als Vera religio christiana, continens universam theologiam novae ecclesiae, Amsterdam 1769–74), nach der Ausgabe von 1936, § 266, 328, § 279, 335f. 57 Swedenborg, De coelo et eius mirabilibus, §§ 260–263, 99f.

Physiognomie im Kontext

Heinz Schott

Schattenrisse der Natur: Lavaters Physiognomik im Kontext von Naturphilosophie und Medizingeschichte

Auch wenn wir nach den historischen Erfahrungen mit der Rassenbiologie des 20. Jahrhunderts heute zurückhaltend sind und physiognomische Spekulationen im öffentlichen Diskurs tabu erscheinen, so spielen sie doch im Alltagsleben nach wie vor eine enorme Rolle. So ordnen wir einen Menschen, den wir nicht kennen, durch einen Blick auf seine Gestalt, insbesondere sein Gesicht, automatisch einer bestimmten Kategorie zu: sympathisch, unsympathisch, anziehend, abstoßend, harmlos, gefährlich usw. Wir kennen alle gewisse Kinderspiele mit dem Schatten und die Kunstform des Schattenrisses. Bis heute populär ist die davon abgeleitete Technik des Scherenschnitts. Die Begeisterung für solche Schattenkunst erreichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Höhepunkt, und Johann Caspar Lavater fungierte dabei als ein wichtiger Impulsgeber. Wie schon Giambattista della Porta (1535–1615) vor ihm und Franz Joseph Gall (1758–1828) nach ihm bezog auch er Tierschädel und -köpfe in seine Studien mit ein. Auch im heutigen Alltag liegt bei der Betrachtung von Köpfen und Gesichtern der Vergleich Mensch-Tier nahe. So ist man (nicht nur) in Bonn beim Anblick bestimmter Köpfe schnell mit der Diagnose „Neandertaler“ bei der Hand, dessen bekannte Schädelkalotte im dortigen Rheinischen Landesmuseum ausgestellt ist.

Abb. 1: Neandertaler (­Modell) im LVR-Museum Bonn.1 1

Mit freundlicher Genehmigung von ViGiLUX Pressefoto (Meike Böschemeyer); Bildquelle: https:// www.rundschau-online.de/region/bonn/bonn-archiv/den-neandertaler-neu-erleben-lvr-landesmuseum-wird-zum-200—geburtstag-barrierefrei-30969206 (24.11.2019).

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Heinz Schott

Es gibt ein köstliches Kinderbuch, das mit englischem Humor vorführt, wie der Schatten des menschlichen Körpers sein tierisches Wesen offenbart. Das Buch2, zeigt den kleinen Hu­­ go, der so gerne in den Zoo gehen möchte. Aber niemand ist bereit, ihm den Wunsch zu erfüllen. Da macht er einen Streifzug durch die Umgebung und entdeckt in den Schatten der Menschen aufregend Tierisches. Als er nach Hause kommt, fragt Abb. 2: Buchdeckel von Hugos Zoo. ihn die „Frau Müller von nebenan“, ob er morgen zusammen mit ihren Kindern in den Zoo gehen möchte. Da lächelt Hugo freundlich und sagt: „Nein, danke, Frau Müller […] im Zoo bin ich eben gewesen“. Das Thema soll in fünf Schritten entfaltet werden.

1. Signaturenlehre und Magia naturalis: Zum wissenschaftshistorischen Hintergrund In der griechisch-römischen Antike wurde eine Naturphilosophie begründet, die für die gesamte Geschichte der Physiognomik von grundlegender Bedeutung ist und die in der frühen Neuzeit besonders intensiv bearbeitet wurde. Sie lässt sich grob mit drei Hauptsätzen charakterisieren: (1) Die Natur zeichnet, prägt alle Dinge, wobei die äußere, sichtbare Seite auf geheimnisvolle Weise auf eine innere, unsichtbare Seite verweist, die das Wesen des betreffenden Dings, etwa seine Wirkung als Heilmittel, ausmacht; (2) insofern verhält sich die Natur wie eine Magierin, Zauberin, die allerdings Alles auf natürliche Weise hervorbringt, weswegen man ihre geheimnisvolle Schöpferkraft als „natürliche Magie“ oder magia naturalis bezeichnet hat; und (3) der Mensch als Naturforscher und Arzt hat die Aufgabe, den Geheimnissen der Natur auf die Spur zu kommen, ihre „Hieroglyphenschrift“ zu entziffern, in der Bibel der Natur zu lesen, da er nur so die Wahrheit erkennen und naturgemäß handeln, das heißt die Naturprozesse nachahmen und vielleicht sogar vollenden kann – ein Gedanke, der für die Alchemie besonders wichtig war.3 2 3

Foreman, Michael, Hugos Zoo. Ein Bilderbuch. Nach einer Geschichte von Georgess McHargue, erzählt v. Hans Manz, Zürich/Köln 1975. Vgl. Schott, Heinz, Magie der Natur. Historische Variationen über ein Motiv der Heilkunst, 2 Bde., Aachen 2014, wo die Bedeutung der „natürlichen Magie“ als Leitidee der frühneuzeitlichen Medizin und Naturforschung ausführlich dargestellt wird (insbesondere in Bd. 2, Kap. 29 bis 42).

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Abb. 3–6: Einige Seiten aus Hugos Zoo.

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Abb. 7: Giambattista della Porta: Menschliche Physiognomy.

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Abb. 8: Giambattista della Porta: Phytognomonica.

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Von überragender Bedeutung für die neuzeitliche Physiognomik wurde das Werk des Naturforschers und Universalgelehrten Giambattista della Porta aus Neapel, mit dem sich Lavater kritisch auseinandergesetzt hat, wie wir sehen werden. Neben seinem Hauptwerk Magia Naturalis – erstmals 1558 auf Lateinisch in Neapel publiziert, mit zahlreichen nachfolgenden Editionen und Übersetzungen in diverse Landessprachen – interessieren hier die beiden physiognomischen Werke della Portas: nämlich den Menschen betreffend De humana physiognomia (1586) und die Botanik betreffend Phytognomonica (1588). Jeweils ein Beispiel soll hier vorgestellt werden; zum einen die Ähnlichkeit des Kopfes eines Spürhunds mit dem von Platon;4 zum anderen die Ähnlichkeit der Orchideenwurzel mit Hoden, weswegen sie als Aphrodisiakum und zur Steigerung der Fruchtbarkeit in Frage käme.5 Neben della Porta haben sich zahlreiche Gelehrte der frühen Neuzeit durchweg positiv zur Physiognomik geäußert, aber keiner von ihnen erreichte auch nur annähernd eine solche Popularität wie dieser. De humana physiognomia wurde ein Best- und Longseller und noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein in verschiedenen Sprachen neu aufgelegt. Im Übrigen liegt die Physiognomik auf dem esoterischen Büchermarkt voll im Trend.

Abb. 9: Beispiel für zeitgenössische Schriften zur Physiognomik.

4 5

Vgl. Porta, Giambattista della, Menschliche Physiognomy […], Frankfurt a. M. 1601 [De humana physiognomonia, Vico Equense 1586], 72. Vgl. Porta, Giambattista della, Phytognomonica […], Frankfurt a. M. 1608, 216.

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2. „unmittelbarer Abdruck der Natur“: Schattenrisse als Forschungsidee Im „Eilften Fragment“ des zweiten Bandes der Physiognomischen Fragmente spekuliert Lavater ausführlich „Ueber Schattenrisse“. Er leitet seine Überlegungen mit einem programmatischen Satz ein, der ganz in der Tradition der frühneuzeitlichen Naturphilosophie und insbesondere der Magia naturalis steht: Das Schattenbild von einem Menschen, oder einem menschlichen Gesichte, ist das schwächste, das leerste, aber zugleich, wenn das Licht in gehöriger Entfernung gestanden; wenn das Gesicht auf eine reine Fläche gefallen – mit dieser Fläche parallel genug gewesen – das wahrste und getreueste Bild, das man von einem Menschen geben kann; das schwächste; denn es ist nichts Positifes; es ist nur was Negatifes, – nur die Gränzlinie des halben Gesichtes; – [zugleich aber] das getreueste, weil es ein unmittelbarer Abdruck der Natur ist, wie keiner, auch der geschickteste Zeichner, einen nach der Natur von freyer Hand zu machen im Stande ist.6

In einer Abbildung veranschaulicht er seine Technik, wie dieser Abdruck der Natur festgehalten werden kann.7

Abb. 10: Silhouettieren aus Physiognomische Fragmente. 6 7

Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig/Winterthur 1775–78 [im Folgenden PF], Bd. 2, 90. PF, Bd. 2, 93.

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Hier ist die Lichtquelle eine brennende Kerze, deren Schein von einem Spiegel verstärkt wird. Lavater betont aber in diesem Zusammenhang, dass sich durch das „Sonnen-Vergrößerungsglas“ der Umriss „noch ungleich schärfer, reiner, trefflicher“ zeichnen lasse.8 An das primäre Licht der Natur reiche also das künstliche Licht kaum heran, um einen Abdruck der Natur zu erhalten. Beispielhaft sei nun die Tafel Vier männliche Silhouetten vorgestellt.9 Ich möchte hier die betreffende Seite mit Lavaters Interpretation hinzufügen.

Abb. 11: Vier männliche Silhouetten aus Physiognomische Fragmente, Bd. 2, vor 105 (Ziffern von H.S. eingefügt).

Abb. 12: Lavaters Deutung der vier Silhouetten. 8 Ebd. 9 PF, Bd. 2, vor 105.

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Abb. 13: Neun weibliche Silhouetten (­Ziffern von H.S. eingefügt).

Der Text ist aufschlussreich für seine ziemlich freischwebende, intuitive Deutung. Mit derselben Methode widmete er sich auch den Schattenrissen von Frauen, hier als Beispiel Neun weibliche Silhouetten.10 Auch hier sei Lavaters Interpretation beigefügt. Lavater ist sich sehr wohl bewusst, wie wenig sich seine Deutungskunst auf ein objektives Regelwerk berufen kann und wie anfällig sie auch für Fehldiagnosen ist. Er verteidigt sie mit einer Doppelstrategie: Einerseits sei sie, indem sie den getreuen Abdruck der Natur fixiere und erforsche, der Wahrheit auf der Spur und nur dieser Wahrheit verpflichtet. Andererseits sei diese Wahrheitssuche selbst mit Unsicherheiten behaf-

Abb. 14: Lavaters Deutung der weiblichen Silhouetten.

10 PF, Bd. 2, vor 123.

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tet, die man sich methodisch bewusst zu machen habe. So sagte er einerseits: „Keine Kunst reicht an die Wahrheit eines sehr gut gemachten Schattenrisses.“11 „Die Physiognomik hat keinen zuverlässigern, unwiderlegbarern Beweis ihrer objektiven Wahrhaftigkeit, als den Schatteriss.“12 „… wenn ein Schatten Stimme der Wahrheit, Wort Gottes ist, wie wird’s das beseelte, von Gottes Licht erfüllte, lebende Urbild seyn!“13 Andererseits vergleicht er die Unsicherheiten mit denen der Harnschau in der praktischen Medizin: Wer alles aus dem bloßen Schattenrisse sehen will, ist so thöricht, wie der, der aus dem Wasser [Urin] eines Menschen alle seine Kräfte und Schwachheiten, würkliche und mögliche Beschwerden errathen will; und wer nichts aus einem Schattenrisse zu sehen für möglich hält, ist dem Arzte ähnlich, der schlechterdings kein Wasser ansehen will.14

Mit dieser Analogie befreit sich Lavater ziemlich elegant vom Verdacht, als Schwärmer eine sektiererische Doktrin zur absoluten Wahrheit zu verklären. Gleichwohl bekennt er sich zu einer theologisch fundierten Naturphilosophie, wie sie lange vor ihm in der frühneuzeitlichen Naturforschung Konjunktur hatte und wie sie schon kurz nach seinem Tod 1801 im Kontext der romantischen Naturphilosophie eine neue Blüte erleben sollte. So zeigte sich, wie er meinte, in den einzelnen Abschnitten eines Schattenrisses das Alphabet der Natur: „Jeder einzelne Theil dieser Abschnitte ist an sich ein Buchstabe, oft eine Sylbe, oft ein Wort, oft eine ganze Rede – der Wahrheit redenden Natur.“15 Insofern bezieht sich auch Lavater auf den gängigen Topos vom Lesen in der Bibel der Natur und den der Geheimsprache („Hieroglyphensprache“) der Natur, die es zu entschlüsseln gelte. Vor allem im dritten Band der Physiognomischen Fragmente hat Lavater geniale Menschen namentlich vorgestellt: Künstler, Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter. Die Silhouette des 28-jährigen Goethe aber hat der 36-jährige Lavater eher beiläufig in seine Sammlung integriert, ohne seinen Namen Abb. 15: Goethes Silhouette aus zu nennen. Physiognomische Fragmente.

11 PF, Bd. 2, 90. 12 PF, Bd. 2, 91. 13 Ebd. 14 PF, Bd. 2, 94. 15 PF, Bd. 2, 97.

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In der Legende freilich finden wir allerdings eine poetische Liebeserklärung an den Freund: 20 – thut alles um Liebe. / Es lohnte sich wahrlich der Mühe, daß jemand – und wer könnt’s, als der letzte, und wie ich glaube, der Größte von allen? – über die Metaphysik und Physik, oder in einem Worte die Physiognomik der Freundschaft ein Buch schriebe. In Einem Fragmente ist’s unmöglich und mir ist’s unmöglich.16

3. „daß Physiognomie Wahrheit ist“: Lavaters wissenschaftlicher Anspruch Die Physiognomie, so möchte Lavater beweisen, sei „Wahrheit, das ist, daß sie wahrer sichtbarer Ausdruck innerer an sich selbst unsichtbarer Eigenschaften ist.“17 Indem Lavater die unhintergehbare individuelle Verschiedenheit zum „Grundstein der Physiognomik“ erklärt, schützt er seine Lehre vor Schematismus und Dogmatismus, vor einer rigiden Typenlehre – entgegen dem Eindruck, den seine Abbildungstafeln mit den detaillierten Erläuterungen bei dem Betrachter oder der Betrachterin hinterlassen. Es ist dieß […] der erste, tiefste, sicherste, unzerstörbarste Grundstein der Physiognomik, daß bei aller Analogie und Gleichförmigkeit der unzähligen menschlichen Gestalten, nicht zwo gefunden werden können, die, neben einander gestellt und genau verglichen, nicht merkbar unterschieden wären. / Nicht weniger unwidersprechlich ist, daß eben so wenig zween vollkommen ähnliche Gemüthscharater, als zwey vollkommen ähnliche Gesichter zu finden sind.18

Zudem sei Physiognomik für alle Menschen etwas Alltägliches. Er zählt eine Reihe von Beispielen auf, wo überall diese intuitive Beurteilung anderer Menschen von Bedeutung ist. Im Grunde gibt es nach Lavater keinen Bereich in der Gesellschaft, in dem die Physiognomik keine Rolle spielen würde: „Es bleibt also dabey, daß die Physiognomie alle Menschen, sie mögen’s wissen oder nicht, täglich leitet – daß, wie Sulzer sagt, jeder Mensch, er mag’s wissen oder nicht, etwas von der Physiognomie versteht […].“19 Wie aber kann die Physiognomik „Wissenschaft“ werden? Seine Antwort ist eindeutig: „so gut als unmathematische Wissenschaften!“ Und er zählt auf: Physik, Arzneykunst, Theologie, Schöne Wissenschaften.20 Das Unbestimmbare gehöre zur Wissenschaft: „[…] wo ist Wissenschaft, wo alles 16 17 18 19 20

PF, Bd. 3, 38f. PF, Bd. 1, 44. PF, Bd. 1, 45. PF, Bd. 1, 50. PF, Bd. 1, 52.

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bestimmbar – nichts dem Geschmacke, dem Gefühle, dem Genius übrig gelassen sey? – Wehe der Wissenschaft, wenn eine solche wäre!“21 Hier führt Lavater den Geniebegriff ins Feld, um das Missverständnis von einer objektiv bestimmbaren Wissenschaft als der einzig möglichen auszuräumen. Es geht eben nicht nur ums Messen, sondern auch ums Fühlen, wie er in einem Vergleich verdeutlicht: „Der bloß wissenschaftliche Physiognomist mißt wie Dürer, das physiognomische Genie mißt und fühlt, wie Raphael“.22 Es fällt auf, dass Lavater erst im letzten der vier Bände der Physiognomischen Fragmente, und zwar im sechsten von zehn Abschnitten, auf die traditionelle Temperamentenlehre zu sprechen kommt – und nicht bereits am Anfang des ersten Bandes, wo er die Physiognomik als eine Art wissenschaftliche Anthropologie begründen will. Es hätte sich angeboten, hier auf das von der antiken Medizin herrührende Konzept der Humaralpathologie, der Vier-Säfte- oder Qualitäten-Lehre, anzuspielen.

Abb. 16: Schema Humoral­ pathologie (nach Eduard Seidler).

Dieses fand ja auch noch im 18. Jahrhundert wissenschaftlichen Anklang, trotz gewisser magischer und alchemistischer Imprägnierungen sowie neuropathologischer Neuerungen in Theorie und Praxis der Medizin. Immerhin stellte Lavater auf einigen Tafeln die vier Temperamente in physiognomischer Eindringlichkeit dar.23 Diese Tafel mit den vier Temperamenten ist die bekannteste von allen physiognomischen Darstellungen Lavaters. Er hat zur Verdeutlichung noch zwei weitere

21 PF, Bd. 1, 55. 22 Ebd. 23 Vgl. PF, Bd. 4, vor 355.

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Abb. 17: Die vier Temperamente aus Physiognomische Fragmente.

Abb. 18: Cholericus und ­Phlegmaticus aus Physiognomische Fragmente.

Tafeln mit je zwei Temperamenten beigefügt: Dem Choleriker stellte er den Phlegmatiker gegenüber24 und dem Sanguiniker den Melancholiker.25

24 Vgl. PF, Bd. 4, vor 351. 25 Vgl. PF, Bd. 4, vor 355.

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Abb. 19: Sanguinicus und Melancholicus aus Physiognomische Fragmente.

In diesem Zusammenhang meint er, das Haupt sei die Summe des Körpers, das Profil oder die Grundlinie der Stirn eine Summe des Hauptes […] Jtzt weiß man schon, daß jede Linie, je mehr sie sich dem Zirkelbogen, oder noch mehr dem Oval, nähert, dem cholerischen Feuer entweicht; – sich hingegen ihm nähert, je gerade und schiefer und gebrochener sie ist.26

Was Lavater allgemein für die Physiognomik feststellt, gilt insbesondere für die Temperamentenlehre: Wie jeder Mensch sein eigenes, individuelles Gesicht hat, so hat er auch sein eigenes, individuelles Temperament. Bei allem Schematismus und allen Abb. 20: Stirnlinie als Zeichen der vier TemperaVersuchen einer gesetzmäßimente aus Physiognomische Fragmente. gen Einteilung in verschiedene Typen, die man bei ihm finden kann, grenzt er sich scharf vom Schubladen-Denken ab. Ja, es gebe die vier Haupttemperamente, aber er habe nicht die geringsten Zweifel, „daß sich diese vier Hauptingredienzien auf so unzählige Weise verändern und versetzen lassen, daß

26 PF, Bd. 4, 350.

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daraus unzählige Temperamente entstehen, und daß oft das prädominirende Prinzipium kaum herauszufinden ist“.27

4. „Thierlinien“, „Gesichtstheile“, „Nationalphysiognomien“: Lavaters Schaukästen Im Folgenden seien einige Beispiele vorgestellt, die Lavaters Bestreben verdeutlichen, die Physiognomie bis in die kleinste Verästelung zu beleuchten. So seien zunächst seine Anmerkungen zur Nase erwähnt, die ja die Physiognomiker zu allen Zeiten beschäftigt hat: Wohl nannten die Alten die Nase honestamentum faciei. / […] Ich halte die Nase für die Wiederlage des Gehirns. Wer die Lehre der gothischen Gewölbe halbwegs einsieht, wird das Gleichnißwort Wiederlage verstehen. Denn auf ihr scheint eigentlich alle Kraft des Stirngewölbes zu ruhen, das sonst in Mund und Wange elend zusammen stürzen würde. / Eine schöne Nase wird nie an einem schlechten Gesichte seyn.28

Er gibt dann neun Kriterien der „vollkommen schönen Nase“ an.29

Abb. 21: Kriterien der schönen Nase (Fasimile) aus Physiognomische Fragmente.

27 PF, Bd. 4, 344. 28 PF, Bd. 4, 257. 29 PF, Bd. 4, 259.

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Aber er relativiert die „schöne Nase“: Es giebt aber unzählige vortreffliche Menschen mit häßlichen Nasen. […] Ich habe die reinsten, verständigsten, edelsten Geschöpfe mit kleinen Nasen von hohlem Profil gesehen – aber diese ihre Vortrefflichkeit besteht mehr im Leiden und Hören, Lernen, Empfangen, Genießen feiner geistiger Wirkungen […].30

Und er nennt in diesem Zusammenhang als namhafte Beispiele Boerhaave, Sokrates, Läreße. Die so genannten „Nationalphy­siognomien“ spielen zwar eine untergeordnete Rolle, werden aber gleichwohl auch bei der kursorischen Betrachtung der Nase bedeutsam. Lavater erwähnt: tartarische Völker („platte, eingebogene Nasen“), afrikanische Schwarze („Stumpfnasen“), Juden („größtentheils Habichts­nasen“), Engländer („mehrentheils knor­pelicht“), Holländer („selten schöne und sehr bedeutende Nasen“), Italiener („große und bedeutende Nasen“) und schließlich: „die großen Franzosen haben […] den Charakter ihrer Größe am meisten in den Nasen“.31 Das Fragment schließt er mit der Zeichnung einer idealen Nase ab.32 Lavater stellt auf einer Tafel eine Reihe von 21 „Thierschädeln“ zusammen33, um sie dann im Einzelnen zu kommentieren.34 Das Verfahren erinnert ein wenig an Rorschachs Projektionstest.35 Er teilt die Schädel in vier Gruppen mit spezifischen Eigenschaften ein, wovon hier nur die erste Gruppe Abb. 22: Das Idealbild der schönen Nase aus skizziert sei: „die Zahmheit der LastPhysiognomische Fragmente. und weidenden Thieren bezeichnet die die langen, ebenen, seicht gegen einander laufenden, einwärts gebogenen Linien“: Pferd (1), Esel (3), Hirsch (5), Schwein (6) und Kamel (7).36 „Geruhige Würde, harmloser Genuß ist der ganze Zweck der Gestalt dieser Häupter. […] An allen bemerke man den schweren und übermäßig breiten Hinterkiefer, und empfinde, wie die Begierde des Kauens und Wiederkauens da ihren Sitz hat.“37

30 PF, Bd. 4, 257f; „Läreße“ bedeutet: Gerard de Lairesse (1640–1711), niederländischer Maler. 31 PF, Bd. 4, 258. 32 Vgl. PF, Bd. 4, 259. 33 PF, Bd. 2, vor 139. 34 PF, Bd. 2, 139. 35 Formdeutungsverfahren nach dem Schweizer Psychiater Hermann Rorschach (1884–1922). 36 Auf der Abb. mit gelben Punkten markiert (H.S.). 37 Ebd.

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Abb. 23: Umrisse von verschiedenen Thierschädeln aus Physiognomische Fragmente.

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Im 15. Fragment des zweiten Bandes geht Lavater auf die Affen ein und zeigt 32 Affenköpfe38, um eine klare Trennungslinie zwischen Mensch und Affe zu ziehen.

Abb. 24: 32 Affenköpfe aus Physiognomische Fragmente. 38 PF, Bd. 2, vor 174.

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Das „Thierische und Untermenschliche“ sei an acht Merkmalen zu finden: Kürze der Stirn, „die bei weitem nicht die schöne Proportion der menschliche Stirn hat“; „Mangel oder Unsichtbarkeit des Weißen am Augapfel“, Nähe der Augen; breitgdrückte Nase, „widrige Höhe“ der Ohren; langer Übergang von der Nase zum Mund; bogenförmige Gestalt der Lippen; dreieckige Form des ganzen Kopfs. Es ist bemerkenswert, dass sich Lavater bei seiner Tierphysiognomik klar von della Porta abgrenzen will, wobei er ihm gleichwohl Respekt zollt. Er habe, indem er „Thiergestalten“ untermische, nicht die Absicht, „um Ähnlichkeit mit Menschen herauszuzwingen“ wie della Porta – „obgleich wir weit davon entfernt sind, ihm Neuheit, Scharfsinn und Witz abzusprechen – und ihm in Ansehung an Gelehrsamkeit nicht die Fersen reichen.“ Und er fährt fort: Vornehmlich möcht’ ich mich nur auf die Allgemeinheit der Physiognomie, auf die Stufenfolgen der Physiognomien, auf die Erhabenheit der Menschennatur über die Thiernatur – und allenfalls erst zuletzt auf Ähnlichkeit von Thier- und Menschenzügen aufmerksam machen.39

Abb. 25: Widder, Ziege, Schaf aus Physiognomische Fragmente.

39 PF, Bd. 2, 192. 40 Vgl. PF, Bd. 2, nach 192.

Gleichwohl ist man beim Anblick der Tiere unwillkürlich an menschliche Charaktereigenschaften erinnert. Widder, Ziegen, Schafe zeigen aus seiner Sicht Zeichen der „thierischen Stumpfheit und Hornkraft“.40 Im IV. Fragment des vierten Bandes „Menschen und Thiere“ setzt sich Lavater noch einmal kritisch mit della Portas Physiognomik auseinander. Sein Vorwurf läuft darauf hinaus, dass man durch eine doktrinäre Feststellung von angeblichen Ähnlichkeiten bestimmter Merkmale von Menschen mit denen von Tieren zu falschen Schlüssen gekommen sei. „Aristoteles und nach ihm am meisten Porta, haben bekanntermaßen viel auf diese Aehnlichkeit gefußet – aber oft sehr schlecht; denn sie sahen Aehnlichkeiten, wo keine – und diejenigen oft nicht, die auffallend waren.“

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Abb. 26: Kritik an della Porta aus Physiologische Fragmente.

Lavater zeigt das an Beispielen auf. Zur Figur 1 auf der oben abgebildeten Tafel41 merkt er an: Soll ohne Zweifel ein fuchsisches Menschengesicht andeuten, denk ich – und nun giebt’s fürs erste – gewiß keine solchen Gesichter; keine solche Disproportion der Nasenlänge

41 PF, Bd. 4, vor 57.

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und der Kinnkürze – und wenn’s ein solches Gesicht gäbe – wo noch die Aehnlichkeit mit dem Fuchse?42

Zur Figur 5 bemerkt er lapidar: „Abermals ein Menschengesicht zur Schaafheit erniedrigt. So stirnlos ist kein Mensch wie das Schaaf.“43 Auch die angeblichen Ähnlichkeiten zwischen Menschen- und Vogelköpfen bezweifelt Lavater.44

Abb. 27: Kritik an della Porta aus Physiognomische Fragmente.

Wenn man etwa im Menschenkopf rechts die unnatürlich spitze Nase abrechne, könne man keine Ähnlichkeit mit dem Vogel finden. „Der Mann an sich betrachtet ist übrigens von furchtsamer, schreckbarer, heftiger, allenfalls neidischer und argwöhnischer Natur, wovon in dem beystehenden Vogel wenig zu sehen ist.“45

5. Schädel, Degeneration, Rasse: Physiognomische Wendungen in der Zeit nach Lavater Während der durchweg enthusiastische Lavater – man denke nur an seine Begeisterung für den animalischen Magnetismus ab 1785 – von Zeitgenossen zumeist als Schwärmer wahrgenommen wurde und seine in den 1770er Jahren entwickelte, ikonografisch und ästhetisch fundierte Physiognomik im wissenschaftlichen Diskurs wenig ausrichten konnte, erlebte eine biologisch ausgerichtete physiogno-

42 PF, Bd. 4, 57. 43 Ebd. 44 PF, Bd. 4, vor 57. 45 PF, Bd. 4, 59.

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mische Forschung im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit. Lavater war Geistlicher, die Pioniere der biologischen Physiognomik waren (vergleichende) Anatomen, (physische) Anthropologen und klinisch tätige Psychiater. Ich möchte hier nur die beiden einflussreichsten Autoren erwähnen: Franz Joseph Gall (1758–1828) und Cesare Lombroso (1835–1909). Franz Joseph Gall war ein Vertreter der vergleichenden Anatomie und um 1800 ein führender Hirnanatom. Durch den Vergleich von Tier- mit Menschengehirnen gelangte er zur Überzeugung, dass die psychischen Eigenschaften an so genannten Hirnorganen erkannt werden könnten, die in den Hirnwindungen auf der Oberfläche des Gehirns säßen und sich dementsprechend in der Form des Schädels abbilden würden, wie auf der folgenden Abbildung eingezeichnet.46 Eine Vorwölbung würde für die Stärke des betreffenden „Hirnorgans“, etwa des musikalischen Sinns, eine Delle für dessen Schwäche sprechen. Gall steht am Anfang der modernen Neurowissenschaft und hat als Erster richtigerweise geahnt, dass die Hirnwindungen von physiologischer Bedeutung sind. Seine Schädellehre, die bis Ende des 19. Jahrhunderts Abb. 28: Gall’scher Schädel mit eingezeichin Laienkreisen als „Phrenologie“ neten „Hirnorganen“. hoch im Kurs stand, hat mit Lavaters intuitiver Schattenriss-Physiognomik methodologisch kaum etwas gemein, ebenso wenig mit der späteren rassistischen und teilweise verbrecherischen Schädeljagd der Hirnforschung im Nationalsozialismus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Rassenbiologie unter dem Vorzeichen der Degenerationslehre. Der italienische Psychiater Cesare Lombroso, selbst ein unter Antisemitismus leidender Jude, ist hier an erster Stelle zu nennen, der die Kriminalanthropologie physiognomisch begründete, wie folgende Tafel belegt.47 46 Ein von Franz Joseph Gall bearbeiteter Schädel eines 1797 verstorbenen Mannes; siehe Hagner, Michael, Das Gehirn als Schlüssel zur Wissenschaft vom Menschen. Die Schädellehre von Franz Joseph Gall und die Folgen, in: H. Schott (Hg.), Meilensteine der Medizin, Dortmund 1996, 276– 283, hier 277. 47 Vgl. Lombroso, Cesare, L’Homme criminel. Étude anthropologique et psychiatrique, Paris 1887, Planche XLIX.

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Abb. 29: Revolutionäre und politisch Kriminelle nach C. Lombroso.

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Bestimmte Degenerationszeichen sollten die körperliche und moralische Minderwertigkeit anzeigen, wobei besonders die Form des Ohrs verräterisch schien. Die folgende Abbildung zeigt entsprechende Modelle aus Lombrosos Sammlung.

Abb. 30: Degenerationszeichen am Ohr.

Der „geborene Verbrecher“ wurde zu einem Topos in physischer Anthropologie und Kriminalpsychologie. Als Gegenpol zum Verbrecher und Geisteskranken rückte wiederum – wie schon im 18. Jahrhundert – das Genie in den Mittelpunkt, wie auf der folgenden Abbildung zu sehen.48 Die damit einhergehenden Stigmatisierungen von Menschen waren besonders im Hinblick auf die Juden gravierend. Die so genannte Judennase war bereits lange vor Anbruch des „Dritten Reichs“ ein solcher Makel, man denke nur an Wilhelm Busch.49 48 Vgl. Lombroso, Cesare, Der geniale Mensch, Hamburg 1890, Tafel 1; Fig. 1–3: Kants Schädel, Fig. 4: Voltas Schädel. 49 Vgl. Busch, Wilhelm, Plisch und Plum, München 1882, Kapitel 5; Busch charakterisierte seine Karikatur u. a. mit den Versen: „Kurz die Hose, lang der Rock, / Krumm die Nase und der Stock, / Augen schwarz und Seele grau, / Hut nach hinten, Miene schlau …“.

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Abb. 31: Schädel genialer Menschen nach Lombroso.

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Abb. 32: Wilhelm Buschs Karikatur eines Juden.

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Sie wurde zu einem frühen Objekt der plastischen Chirurgie, das der geniale Berliner jüdische Chirurg Jacques Joseph (1885–1934) („Nasenjoseph“, „Noseph“) ab 1916 mit großem Erfolg operierte.50 In esoterischen Zirkeln im Zusammenhang mit der Lebensreformbewegung um 1900 waren physiognomische Typologien durchaus geläufig, vor allem, wenn es darum ging, gute Menschen von bösen zu unterscheiden. Als Beispiel sei der religiöse Laienheiler und Wanderprediger Carl Huter (1861–1912) genannt, der als Oberhaupt des Huterischen Weltbundes für psychophysiognomische Welt- und Menschenkenntnis Elemente von Mesmerismus, Phrenologie und Physiognomik miteinander verband. Auf der Tafel „Rangordnung der Geister“ sieht man links vom phrenologischen Ideal in der Mitte die edleren und rechts davon die unedleren Profile.51 Das betreffende Illustrierte Handbuch wurde seit seiner Erstauflage von 1910 vielfach neu aufgelegt. Noch deutlicher wird diese Gegenüber-

Abb. 33: „Rangordnung der Geister“ nach Carl Huter (1928). 50 Vgl. Gerste, Ronald D., Jacques Joseph – Das Schicksal des großen plastischen Chirurgen und die Geschichte der Rhinoplastik, Heidelberg 2015. 51 Vgl. Huter, Carl, Illustriertes Handbuch der praktischen Menschenkenntnis. Nach meinem System der wissenschaftlichen Psycho-Physiognomik; Körper-, Kopf-, Gesichts- u. Augen-Ausdruckskunde, Neue Auflage, Althofnass bei Breslau 1928, 179.

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stellung von Gut und Böse beim so genannten Gottmensch- versus Teufelsmensch-Typus.52

Abb. 34: „Gottmensch-“ versus „Teufelsmensch-Typus“

Schlussbemerkung Mit solch doktrinären physiognomischen Ideologien hatte Lavater nichts im Sinn. Seine Physiognomik sah er religiös in der „Würde der menschlichen Natur“ begründet, wie er in der Einleitung zum ersten Band der Physiologischen Fragmente darlegt: Siehe da, seinen Körper! Die aufgerichtete, schöne, erhabne Gestalt – nun Hülle und Bild der Seele! Schleyer und Werkzeug der abgebildeten Gottheit! wie spricht sie von diesem menschlichen Antlitz in tausend Sprachen herunter! Offenbart sich mit tausend Winken, Regungen und Trieben nicht darinn, wie in einem Zauberspiegel, die gegenwärtige, aber verborgne Gottheit?53

52 Vgl. Huter, Illustriertes Handbuch, 92. 53 PF, Bd. 1, 4.

Annette Graczyk

Vom Frosch zu den Engeln: Aufklärung und Esoterik in Lavaters Physiognomik

Von 1775 bis 1778 veröffentlichte der Züricher Theologe Johann Caspar Lavater in vier reich illustrierten Folianten seine Physiognomischen Fragmente.1 Er war Pfarrer an der dortigen Waisenhauskirche und hatte sich bereits einen Namen als theologischer Schriftsteller mit teilweise esoterischen Neigungen gemacht.2 Seine vorausgegangenen intensiven Studien hatten schon 1772 zu dem einschlägigen programmatischen Aufsatz Von der Physiognomik geführt.3 Die Physiognomischen Fragmente wurden unter anderem ins Holländische, Französische und Englische übersetzt und erlangten nahezu in ganz Europa eine nachhaltige Wirkung. Als Lavater seine Studien begann, besaß dieses seit der Antike tradierte Gebiet allerdings bereits eine äußerst schlechte Reputation: 1765 wurde der Anspruch, aus den Gesichtszügen eines Menschen seinen Charakter erkennen zu wollen, von Louis de Jaucourt (1704–1779) in der aufklärerischen Encyclopédie von Diderot und d’Alembert als grundsätzlich vorurteilsbelastet und die Physiognomik damit als Pseudowissenschaft eingestuft: Die Form der Nase, des Mundes oder anderer Gesichtszüge trage ebenso wenig zum „Naturell“ einer Person bei, wie die Größe oder Dicke ihrer Glieder Einfluss auf ihr Denken habe. Zwar seien die Ambitio-

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Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig/Winterthur 1775–1778. Zitiert wird nach dem Faksimiledruck Zürich 1968–69 (Nachw. v. Walter Brednow, Bd. IV, 3–47). – Die Physiognomischen Fragmente waren eine der teuersten Buchproduktionen der Zeit. Jeder Band kostete 24 Reichstaler. Vgl. Kat. Ausst., Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele: Physiognomische Studienblätter aus der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Städtische Museen Jena/Anhaltische Gemäldegalerie Dessau in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (Hg.), Redaktion: I. Goritschnig/E. Stephan, Galerie im Stadtmuseum Jena/ Anhaltische Gemäldegalerie Dessau, Jena 2001, 8. So veröffentlichte er 1768 bis 1778 seine vierbändigen Aussichten in die Ewigkeit mit esoterischen Spekulationen und Visionen über die postmortale Existenz des Menschen. Lavater, Johann Caspar, Von der Physiognomik, Leipzig 1772. Zitiert wird nach dem Nachdruck in: Karl Riha/Carsten Zelle (Hg.), Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln, Frankfurt a. M./Leipzig 1991, 9–62.

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nen der Physiognomik lächerlich, doch habe es zu allen Zeiten Versuche gegeben, diese „Art von Vorurteil“ zu einer „divinatorischen Wissenschaft“ zu erheben.4

1. Lavaters Abgrenzung von der divinatorischen Physiognomik Die ältere, „divinatorische“ Physiognomik war vor allem wegen ihrer Verbindung zur Astrologie und ihrer Nähe zu den Wahrsagekünsten kompromittiert. Dennoch gingen entsprechende Traditionsbestände noch vier Jahre später in die Physiognomik des Wolffianers Christian Adam Peuschel (1712–1770) ein. Peuschel versprach in seiner Abhandlung von der Physiognomie, Metoposcopie und Chiromantie, „die Gewißheit der Weißagungen aus dem Gesichte, der Stirn und den Händen gründlich“ darzutun.5 Sein Lehrbuch, das weitgehend eine Kompilation der physiognomischen Anschauungen des vorausgegangenen Jahrhunderts war, orientierte sich an der Signaturenlehre und der Astrologie. Es unterscheidet auf der menschlichen Stirn sieben Hauptlinien, die als Einflusslinien der sechs Planeten sowie der Sonne bestimmt werden und die er daher mit den entsprechenden Planetenzeichen versieht. In diese Linien seien nun weiter entweder glückliche Zeichen wie Zirkel, Sterne, Dreiecke oder Kuben eingezeichnet, die alle „reguläre Proportionen“ haben.6 Oder sie bildeten durch krummlinige Überschneidungen unglückliche unreguläre Kreuzfiguren. Diese sollen unter anderem bedeuten, „daß der Mensch bei seinem bösen Leben den Galgen oder die Enthauptung zu besorgen habe“.7 Bei der Hand unterscheidet Peuschel eine „Lebenslinie“ und vier weitere Linien, die u. a. die inneren Organe spiegeln wie z. B. die „Tisch- oder Gedärmlinie“ oder die „Leber-, Lungen- und Magenlinie“.8 Im Weiteren kennt er noch Rillen wie die „Ehestands“- oder „Entscheidungslinien“.

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Jaucourt, Louis de, Art. Physionomie, Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, D. Diderot/J. le Rond d’Alembert (Hg.), Bd. 12, 1765, Paris/Neuchâtel 1751– 1780, 538. Dt. Übers. in: A. Seig/R. Wieland (Hg.), Die Welt der Encyclopédie, Aus dem Franz. v. Holger Fock u. a., Frankfurt a. M. 2001, 324. Peuschel, Christian Adam, Abhandlung von der Physiognomie, Metoposcopie und Chiromantie: mit einer Vorrede, darinnen die Gewißheit der Weißagungen aus dem Gesichte, der Stirn und den Händen gründlich dargethan wird, welcher am Ende noch einige Betrachtungen und Anweisungen zu weißagen beygefügt worden, die zur blossen Belustigung dienen, ausgefertigt von C.A. Peuschel, Leipzig 1769. Zu Peuschels Lesern zählte der junge Goethe. Ebd., 256f. Peuschel stützt sich an dieser Stelle auf Berichte des Arztes, Naturforschers und Mathematikers Girolamo Cardanus, der im 16. Jahrhundert in Pavia und Bologna als Professor Medizin lehrte. Dieser interessierte sich – neben zahlreichen anderen Wissensgebieten – auch für die Physiognomik, die er als Kunst verstand, in den Rillen des Gesichts zu lesen. Vgl. zu Cardanus: Grafton, Anthony, Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen, übers. v. P. Knecht, Berlin 1999. Peuschel, Abhandlung von der Physiognomie, 253. Ebd., 301.

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Zwar wendet sich auch Lavater beim Gesicht vor allem der Stirn zu, die er als „Tempel des Geistes“ für besonders aussagekräftig hält. Und neben dem Gesicht weist auch er den Händen eminente physiognomische Aussagekraft zu. Doch interessiert er sich nicht für die sogenannten Planeten- und Lebenslinien, also die Rillen und Vertiefungen, bei denen Peuschel unpersönliche Schicksalsmächte wie die Gestirne am Werk gesehen hatte. Im Unterschied zu Peuschel beachtet Lavater Stirn und Hand vielmehr, weil er sie als organische Ausdrucksformen einer individuellen Konstitution, Persönlichkeit und Geistesstärke auffasst. So bewegt ihn bei der Stirn die Frage, inwieweit sich in ihren Konturen persönliche Intelligenz oder Dummheit ablesen lässt. Am Umriss und dem Aussehen der Hand diagnostiziert er nicht die Aktivität vitaler Einzelorgane wie Gedärm und Magen, sondern konstatiert konstitutive Eigenschaften schlechthin wie „Plumpheit“ oder „Nervenlosigkeit“.9 Lavater ist in diesem Sinne deutlich bemüht, seine Physiognomik zu personalisieren und zu individualisieren. Peuschel gab zudem in seiner Physiognomik die offenbar weiter verbreitete Meinung wieder, dass insbesondere seine Stirnlesekunst eine Wissenschaft des „Hermes“ sei. Mit dieser üblichen Verkürzung war damals Hermes Trismegistos gemeint, der mythische Begründer und Verfasser der nach ihm benannten hermetischen Wissenschaften. Das bedeutete nichts anderes, als dass die physiognomische Linienleserei als ein auf Geheimhaltung beruhendes esoterisches Wissen und eine magische Praxis im Rahmen dieser alten Weisheits- und Wissensformen aufgefasst wurde, die man ursprünglich im antiken Ägypten angesiedelt glaubte. Die entsprechenden Traktate wurden in der Renaissance (wieder-)entdeckt und man hoffte, mit ihnen Zugriff auf ein uraltes Wissen zu haben. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde die Faszination an ihnen jedoch insofern relativiert, als Isaac Casaubon (1559–1614) sie auf der Basis von textkritischen Methoden auf die alexandrinische Zeit datierte. Trotzdem behielten sie ihre Strahlkraft, mit der auch Peuschel spielt, auch wenn er die Herkunft der Physiognomik nicht genau bestimmen kann.10 Im Gegensatz zur strengen Ablehnung jeglicher Physiognomik durch die französische Encyclopédie fühlte Lavater sich motiviert, die Aufklärung auf das umstrittene Gebiet auszudehnen und die jahrhundertealten Überlegungen zur Physiognomik nach den Standards der zeitgenössischen Wissensansprüche auf neue rationale Grundlagen zu stellen. Lavater versichert: „Ich lehre nicht eine schwarze Kunst, ein Arkanum, das ich hätte für mich behalten mögen, […]. Ich lehre nur […] in einer […] Wissenschaft, die die allgemeinste, die alleroffenste, die das Loos und Theil jedes Menschen ist.“11 Die physiognomischen Schicksalsvorausdeutungen à la Peuschel hatte er schon 1772 im Aufsatz Von der Physiognomik als „Charla-

  9 Lavater, Von der Physiognomik, 37. 10 Peuschel, Abhandlung von der Physiognomie, 243. 11 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. I, 165.

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tanerie und leere Träumerei“ abqualifiziert; diese wollte er aus dem „Reiche der wahren Wissenschaften“ verbannt wissen.12 Doch machen andererseits Lavaters christliche Überzeugungen ihn offen für solche neueren Tendenzen der Esoterik, die ihm zugleich religions- wie wissenschaftskonform erscheinen.13 Das Ineinander von Aufklärung und Esoterik und deren damit entstehendes Spannungsverhältnis soll im Folgenden dargestellt werden. Dabei soll Lavaters Physiognomik im Umfeld sowohl der ästhetischen, ethischen und religiösen Diskussionen sowie auch der vordisziplinären biologischen Erörterungen des 18. Jahrhunderts verortet werden. Das Spannungsverhältnis von Aufklärung und Esoterik spielte in alle diese Bereiche hinein, ohne dass den Zeitgenossen immer klar sein konnte, welche Positionen und Stränge von der späteren Zeit eindeutig der Wissenschaft oder Esoterik zugeordnet würden. Denn die Wissenschaft entwickelte sich historisch selbst aus Grenzbereichen heraus, vor allem des Metaphysischen und des Religiösen. Und die (weitgehend erst später so genannten) Esoteriker führten nicht einfach nur historisch überholte Wissensstände fort, sondern reagierten auch auf aktuelle Tendenzen der Wissenschaften, an die ihr eigenes Denken anschließen konnte. Lavater versuchte, für die menschlichen Charaktere jeweils körperlich-morphologische Ausdrucksäquivalente zu fixieren. Mit diesem Plan war er gezwungen, seinen Untersuchungsgegenstand einzuengen und bei der Charakterfixierung die allgemeinen gesellschaftlich-kulturellen Beziehungen des Betreffenden gering zu halten. So schätzte er notwendigerweise vor allem die konstanten, festen Züge des Körpers, insbesondere des Gesichts und Schädels, für physiognomisch relevant ein und bestimmte daher das Knochensystem (als quasi objektive Basis etwa der Gesichtsbildung) zum Fundament seiner Physiognomik. Weil er Charakterzüge fixieren wollte, musste er überdies den menschlichen Einzelcharakter weitgehend undynamisch, mit anderen Worten: als relativ feste Gegebenheit auffassen. Die Erkennbarkeit eines Charakters mittels feststehender Kriterien setzt im Ergebnis einen konstanten Charakter, ja sogar eine Ontologisierung des Charakters beim 12 Lavater, Von der Physiognomik, 20. Explizit gegen Peuschel spricht Lavater sich in diesem Sinne auf Seite 32f aus. Es ist daher aufschlussreich, wie Lavater Peuschels erwähntes Unglückszeichen eines unregelmäßigen Kreuzes, das darauf vorausdeutet, dass diesem Menschen der Tod am Galgen beschieden sei, in den Physiognomischen Fragmenten aufgreift und verändert. Für Lavater ist das Zeichen nicht mehr eingeschrieben, sondern nur noch eine Hilfsvorstellung des Physiognomen, der sich damit symbolisch Rechenschaft über seinen „Totaleindruck“ gibt. Demnach ließe sich angesichts jenes Kreuzes sagen: „Ich sehe Leidenschaften, Plane, Trugsinn in diesem Gesichte, die zu Thaten führen können – welche des Todes werth sind“ (Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. IV, 132). 13 Vgl. auch meine Studie: Graczyk, Annette, Lavaters Neubegründung der Physiognomik zwischen Aufklärung, christlicher Religion und Esoterik, in: M. Neugebauer-Wölk/R. Geffarth/M. Meumann (Hg.), Aufklärung und Esoterik – Wege in die Moderne, Berlin/Boston 2013, 322–339. Sowie mein breiter angelegtes Kapitel: Annette Graczyk, Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater, in: Dies., Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert: Theorien zwischen Aufklärung und Esoterik, Berlin/Boston 2015, 141–203; hier auch zur Forschungsliteratur (142–146) sowie weitere Literaturhinweise.

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einzelnen Menschen voraus. Lavater gelangte dadurch in einen Gegensatz zum gesellschaftlichen Optimismus der Aufklärung, der auf die Lernfähigkeit und Lernbereitschaft des Individuums setzte. Auch wenn Lavaters Ansatz zu einer schematisierenden Zuordnung führen musste, ist seine empirische Orientierung positiv hervorzuheben. Sie löste seine Physiognomik von den älteren Vorläufern ab und ermöglichte es ihm, ein großes Variantenspektrum von Charakteren und darüber hinaus auch komplexere Charaktere wahrzunehmen und schließlich in ein differenziertes Kurven- und Liniensystem zu übertragen.

2. Lavaters Bildarchiv und seine Nomenklatur Materielle Grundlage von Lavaters Unternehmen war ein großes physiognomisches Bildarchiv, das er in seiner Züricher Wohnung angelegt hatte. Es bestand aus Druckgraphiken, Umrisszeichnungen, Schattenrissen und Gemälden. Im Vollzug seines Werkes wurde es durch die Mitarbeit zahlreicher Maler und Stecher vervollständigt, musste aber auch, soweit es sich um gemalte Bildnisse handelte, für die Buchausgabe umgezeichnet und gestochen werden. Beteiligt waren vor allem Daniel Chodowiecki, der junge Schweizer Künstler Johann Heinrich Lips, der bei Lavater seine Laufbahn begann, und Johann Rudolf von Schellenberg aus Winterthur. Die Sammlung bestand zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus historischen Porträts von Malern verschiedener Epochen, die historische, aber auch mythische bzw. biblisch-religiöse Personen darstellten. Lavater gab darüber hinaus auch Porträts von lebenden Zeitgenossen in Auftrag, die gleich mit dem Ziel physiognomischer Aussagedeutlichkeit verbunden wurden. Ihm kam hierbei die bereits erworbene Kenntnis seiner porträtierten Zeitgenossen zugute. Er weist diese Kenntnis zwar aus, doch hatte er sich bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der Personen bereits ein Vorwissen und eine Einschätzung im Rahmen seiner Typologie verschafft, so dass die in Auftrag gegebenen Bildnisse tendenziell eine Illustration dafür darstellten. Im Unterschied zu den überkommenen Porträts werden die von Lavater in Auftrag gegebenen Porträts nicht etwa vom fruchtbaren Augenblick einer malerischen Komposition bestimmt, in dem das Individuum sich in der Schlüsselsituation eines bedeutenden Ereignisses zeigt. Sie werden auch nicht durch einen zufälligen oder willkürlichen Augenblick im Leben des Porträtierten geprägt. Vielmehr sind sie typisierte Physiognomien, bei denen alle wesentlichen Charaktereigenschaften auf einen Blick erkannt werden sollten. Im Zuge seiner Arbeit wurden Lavater zusätzlich Bildnisse weiterer Zeitgenossen zugeschickt, so dass seine Physiognomischen Fragmente ein Werk im Progress war, an dem die Zeitgenossen nicht nur lebhaft Anteil nahmen, sondern es auch unterstützten und ergänzten. Lavater kommentierte dieses reichhaltige Bild­ material, traf verallgemeinernde Zuordnungen, legte das Material in didaktischen Reihen an und sorgte für deren Vollständigkeit. Darüber hinaus regte er an, auch

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Gipsabdrücke direkt von Köpfen sowie von einzelnen Körperteilen, wie z. B. Mündern, herzustellen und in einem eigenen Kabinett zusammenzustellen.14 Der physiognomische Formenschatz, wie er bislang vor allem in den Kunstmuseen durch Bildnisse und Plastiken überliefert war, sollte nun durch naturgetreue Gipsabdrücke von Zeitgenossen erweitert und verwissenschaftlicht werden. Mehr noch als an die Totenmasken und Reproduktionen antiker Plastiken mochte Lavater an die medizinischen Moulagen von Körperteilen gedacht haben, die im 18. Jahrhundert als wissenschaftliche Schauobjekte entstanden. Darüber hinaus war er offen, auch Medaillen und Münzen einzubeziehen; in diesem Sinne empfahl er dem physiognomisch interessierten Leser bzw. der Leserin, auch „Gipsabdrücke von Medaillen alter und neuer Köpfe“ in die Sammlung aufzunehmen.15 Insgesamt bestand Lavaters Sammlung aus einer breit angelegten, verschiedene bildliche Darstellungsformen zusammenführenden Ausgangsbasis, die als Beleg für seine theoretischen Vorannahmen und auch zu deren Weiterentwicklung dienen sollte. Lavater wollte die Bildersammlung für seine Physiognomik systematisch auswerten und mit Hilfe fixierter Messgrößen und Relationen in eine wissenschaftliche Disziplin überführen. Damit stellt sich das mediale Problem einer Überführung von Bildern in Texte. Lavater löste diese Aufgabe vor allem mit Hilfe analytischer Graphiken. Es entstanden schematische Abbreviaturen, welche der Deutung vorarbeiteten oder sie sogar implizierten. Die Gesichter wurden in ihre markanten Partien aufgeteilt: in Stirn, Nase, Mund und Kinn. Weil Lavater sie als Sitz unterschiedlicher Kräfte und Anlagen verstand, kam er so zu einer physiognomischen Topographie als Ausdruck des inneren Menschen. Mittels der zeichnerischen Formen wird der menschliche Ausdruck in eine bildhafte Semiotik transformiert, die gelesen bzw. entschlüsselt werden kann. Das komprimierte Bild aus formalisierten Umrisslinien und Zügen wird zum Signalement. Im Weiteren konzentriert sich Lavater auf jene Linien, die hauptsächlich den Ausdruck tragen. Er zergliedert sie in (vermeintlich) aussagekräftige Kleinst­ abschnitte und weist auch ihnen entsprechende seelische bzw. moralische Qualitäten zu. Im Sinn der angestrebten Verwissenschaftlichung profitiert er dabei von der Messbarkeit der Abstände und Winkel, die zwischen den Einzelorganen entstehen, so vor allem bei den Augen oder im Profil zwischen Stirn, Nase, Mund und Kinn. Auch die Winkel werden mit Bedeutung aufgeladen. Mit der Messbarkeit der menschlichen Umrisslinien bekommt Lavaters Bestimmungssystem einen exakten, wissenschaftlichen Anschein. Er entwickelte sogar eigene Messgeräte, insbesondere das Stirnmessband. Mit seiner Reduktion des Gesichts in messbare Ausdruckslinien und -kurven fühlt er sich, wie er erklärt, in guter Nachbarschaft zu den elliptischen Bahnen von Newtons Himmelsphysik. Dieser unbescheidene Bezug auf Newton sagt viel: So wie Newton die Planetenbahnen geometrisiert und

14 Vgl. Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. III, 122. 15 Ebd., Bd. IV, 156.

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Abb. 1: Profillinien der Stirnen von „sehr verständigen Köpfen“ in ihrem Verhältnis zu den unteren Teilen. Aus: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur ­Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Zürich, Winterthur: Bey Weidmanns Erben und Reich und Heinrich Steiner und Compagnie, 1775–1778. Bd. IV, 44. Expl. der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke, Sign.: Nn 11692–4.

mathematisiert und damit in modernes Wissen überführt hat, so will auch Lavater den menschlichen Ausdruck geometrisieren und mathematisieren, um damit die Physiognomik als moderne Wissenschaft zu begründen. Lavater legt im Sinne einer morphologisch vergleichenden Anatomie Tableaus und Bestimmungstafeln an, mit denen ein kontrollierter Vergleich möglich werden soll. Im Einzelnen findet man Zusammenstellungen von menschlichen Charakterköpfen, Umrissfiguren und Profilansichten im Schattenriss, aber auch vergleichende Inventare einzelner Gesichtspartien: etwa von Stirnen, Nasen, Augen oder Mündern. Auch die (geschwungenen) Einzellinien (etwa von Stirnen und Mündern), Abstandsverhältnisse (etwa zwischen den Augen) oder Gesichtswinkel werden zu Varianten in der Erkenntnis von Charakteren zusammengestellt. Lavater erforscht den Ausdruck zwar bis in kleinste Einzelheiten und Fragmente hinein, geht aber davon aus, dass der Bezug zum Ganzen immer erhalten bleibt. Die einzelnen Körperpartien repräsentieren den Charakter eines Individuums immer ganzheitlich (dazu noch w.u.). Lavater schärft die physiognomische Bestimmung, indem er Ausdruckszeichen von extremen Veranlagungen hart gegeneinanderstellt: etwa die Gegenüberstellung von Idiot und Genie. Um sicherzustellen, dass er tatsächlich Schwachsinnige zeigt, wählt er, wie er im Aufsatz Von der Physiognomik beschreibt, bevorzugt Insassen eines „Thorenhauses“ zu seinen Studienobjekten aus. Als Genie fungieren

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berühmte Wissenschaftler, Philosophen, Schriftsteller oder Reformatoren, deren Intelligenz, Kreativität und Lauterkeit teils durch ihre Werke, teils durch ihre allgemeine Reputation gefestigt waren. Im Einzelnen nennt er Persönlichkeiten wie Newton, Albrecht von Haller und Herman Boerhaave, Platon und Pope, Homer, Klopstock und Swift sowie Zwingli und Calvin. Auch wenn Lavater in seiner Kommentierung die Charakterphysiognomien in polare Gegensätze auseinandertreten lässt, erarbeitet er sich doch im Ganzen ein System dynamisch gradueller Abstufungen mit fließenden Übergängen. Im Sinne der vorgefassten Interpretation von Porträts sowie verschiedenartiger Ordnungsschemata schafft Lavater eine entsprechende Begrifflichkeit. Zwar möchte er in der empirischen Zuwendung die Physiognomie konkreter Individuen erschließen, doch muss er dazu ein überindividuelles System der wissenschaftlichen Deutung entwickeln. Indem er sich aber von konkreten Individuen abwendet und Merkmaltypen bildet, werden die Gesichter notwendigerweise symbolisch aufgeladen. Zu den bildhaften bzw. graphisch-analytischen Vergleichsreihen treten sprachliche Alltagsbezeichnungen wie „verständig und feingut“, „verständig und roh“ oder „schwachgut“, die Lavater zu eigenen Termini werden lässt. Auf der Suche nach einer geeigneten Nomenklatur ging er die verschiedenen Wörterbücher, Sittenbücher, Schriften der Moralisten und Philosophen durch.16 „Ich habe schon über 400 Namen von Gesichtern aller Art zusammengeschrieben, mit welchen ich noch lange, lange nicht auskommen kann“, resümiert er schließlich im vierten Band der Physiognomischen Fragmente. Dem Anfänger in der Physiognomik rät er, sich zu jedem Gesicht einen „allgemeinen charakteristischen Namen“ zu suchen und ihn auf seine Genauigkeit hin zu überprüfen. So viele Nüancen von Benennungen dir immer beyfallen, so viele trage in dein Buch ein. Aber ehe du die Grundform des Gesichts dazu zeichnest, und nebst der Zeichnung charakteristisch und treffend beschreibst – prüfe siebenmal, daß du nicht eine mit der andern vermischest.17

Zu Lavaters Hauptklassen gehören „Leibeszustände; Gemüthszustände; sittliche Charaktere; Unsittliche“. Hinzukommen dann „Empfindung; Kraft; Witz; Verstand; Geschmack; Religion; Unvollkommenheit“ und als soziale Einteilungen „Lokalgesichter; Standesgesichter; Amtsgesichter; Handwerksgesichter“.18 Rubriken wie „Geist“ oder „Herz“ ordnet er dann in einem polaren Spannungsbogen ein großes Spektrum fein abstufender Einzelbezeichnungen zu. Sie gehen etwa von den Maximalwerten „tiefer Scharfsinn“ und „Genie“ über die Zwischenglieder „mit-

16 Lavater, Von der Physiognomik, 55. 17 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. IV, 157. 18 Ebd.

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telmäßige Einsicht“ und „vermischte Fähigkeit“ bis zu den extremen Gegenpolen „Narrheit, Sinnlosigkeit, Tollheit“.19 Lavaters Nomenklatur, auch deren Verfeinerung, mündet mit Bedacht nicht in eine wissenschaftliche Abstraktion, sondern blieb der Alltagssprache verbunden. Einerseits konnte seine Physiognomik damit nicht schon durch die Terminologie suggerieren, sie sei wissenschaftlich. Andererseits konnte sie umso mehr der täglichen Pragmatik dienen. Lavater preist seine Physiognomik als vielseitig anwendbares Wissen in den verschiedensten Bereichen des Lebens: sie reicht von der Partnerwahl und dem menschlichen Zusammenspiel bis zum Herrschaftswissen und zur polizeilichen Kontrolle. Ein Richter könne etwa, so Lavater, einen Straftäter aufgrund der Physiognomik schnell und zuverlässig einstufen. Damit könne, so Lavaters kruder Aufklärungsoptimismus, auf die Folter als Instrument der Wahrheitsfindung verzichtet werden.

3. Die Physiognomik als Entzifferung der göttlichen Natursprache Grundlage für die Physiognomik als einer Semiotik organischer Ausdrucksformen ist Lavaters Verständnis der Natur als einer zweiten Offenbarung Gottes. Für Lavater ist die Physikotheologie der philosophische Hintergrund, vor dem er seine physiognomische Zergliederungs- und Vermessungskunst als Lobpreis Gottes und zugleich als enthusiastische Naturhermeneutik im Rahmen einer auf Verständlichkeit und Kontinuität angelegten Naturoffenbarung begreift. Die Physikotheologie verband die genaue Beobachtung, Vermessung und szientifische Analyse der Natur mit einer Gottesverehrung, die Gottes Weisheit im Wunderbau seiner Werke sowohl anbeten als auch ergründen wollte. Die mathematische Formalisierung der Natur verband sich so noch mit der religiösen Kontemplation, legte aber gleichzeitig den Schöpfer auf vernünftige Gesetzmäßigkeit, zweckmäßige Teleologie und auf eine Natur ohne Sprünge fest. Gleich in der Vorrede des ersten Bandes der Physiognomischen Fragmente erklärt Lavater im Gestus einer sowohl theologischen wie wissenschaftlichen Bescheidenheit: Ich verspreche nicht (denn solches zu versprechen wäre Thorheit und Unsinn) das tausendbuchstäbige Alphabeth zur Entzieferung der unwillkührlichen Natursprache im Antlitze, und dem ganzen Aeußerlichen des Menschen, oder auch nur der Schönheiten und Vollkommenheiten des menschlichen Gesichtes zu liefern; aber doch einige Buchstaben dieses

19 Vgl. Lavater, Von der Physiognomik, 54.

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göttlichen Alphabeths so leserlich vorzuzeichnen, daß jedes gesunde Auge dieselbe wird finden und erkennen können, wo sie ihm wieder vorkommen.20

Lavater will den Menschen nicht in einer planen Diesseitigkeit als körpersprachliche Maschine begreifen, sondern ihm als Theologe die Würde einer komplexen Leib-Seele-Einheit erhalten. Eine schöpfungstheologische Naturhermeneutik steht im Mittelpunkt, in der der Mensch wesensmäßig durch seine Gottesebenbildlichkeit bestimmt bleibt. Dieser wird damit als ausgezeichnetes Wesen im Rahmen der Schöpfung geadelt, aber auch normativ verpflichtet: Der Mensch muss sich moralisch in seiner ontologischen Rangstufe als Mensch bewahren. Mit diesem Verständnis kann Lavater seine Physiognomik nicht als reine Sachwissenschaft betreiben. Er geht vielmehr von seinem Glauben und von moralischen wie ästhetischen Implikationen aus. Lavater fasst die gattungstypischen und im engeren Sinne physiognomischen Besonderheiten des Menschen als natursprachliches Zeichensystem auf, das Gott den Menschen mitgegeben habe. Seine Arbeit an der Physiognomik ist für ihn daher eine Form der Gotteserkenntnis und des Gottesdienstes. Der physiognomische Ausdruck ist für Lavater auf eine kommunikative Transparenz hin angelegt, die es zu entschlüsseln gilt. Mit dieser Suche stellt sich Lavater in einen Gegensatz zu den kryptisch verschlüsselten Botschaften der früheren Signaturenlehre. Die angestrebte Erkenntnis der vorausgesetzten Transparenz begünstigt einen Bildtypus als Beleg von Transparenz: nämlich die Umrisszeichnung und die Profil­ zeichnung im Schattenriss. Beide sind arm an Kontexten, die zu einer Relativierung führen würden. Beide halten sich zudem an die Konturen, die durch das Knochensystem vorgegeben sind, so dass die Gesichts- und Schädelbildung in ihren markanten Hauptlinien in den Blick kommen.

4. Die Verwissenschaftlichung physiognomischer Intuition Lavater geht von einem physiognomischen „Totaleindruck“ aus, den er bis ins Kleinste zerlegt und vermisst, um zu erkunden, wie sich der Gesamteindruck analytisch rekonstruieren lässt. Damit stellte er sein Programm in den weiteren Rahmen einer empirischen, anthropologischen Erfahrungskunde, die auf Messbarkeit und empirische Überprüfbarkeit aus ist. Es ist allerdings festzuhalten, dass Lavater den systematischen Ort seiner als „Versuche“ vorgetragenen Wissenschaft vom Anfang bis zum Ende seiner Physiognomischen Fragmente allmählich verschiebt. Vor allem in der frühen Phase dürfte ihn die zu seiner Zeit erfolgende Verwissenschaftlichung eines benachbarten Bereiches ermutigt haben. Beim ästhetischen Urteil, das bislang einem willkürlichen Geschmack ausgesetzt zu sein 20 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. I, Vorrede: Schlussparagraph, unpaginiert [6].

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schien, hatte man bisher unter der Formel des je ne sais quoi eingestanden, dass man ästhetische Urteile im Einzelnen nicht genau begründen kann. Seit 1750 war das ästhetische Urteil aber durch Baumgartens Ästhetik philosophisch aufgewertet worden. Nach Baumgarten setzt es sich aus einer Empfindung zusammen, die sich zwar nur den Sinneswahrnehmungen verdankt, die – im Unterschied zur rationalen Erkenntnis – als undeutlich und verworren angesehen wurden. Doch kann das ästhetische Urteil mittels der verstandesgeleiteten Urteilsfähigkeit kritisch expliziert werden.21 Martin Blankenburg setzt Lavaters „dunkle Empfindungen“ – über das Ästhetische hinaus – auch in näheren Bezug zum fundus animae der Baumgartenschen Metaphysik, ein Begriff, unter den Baumgarten die dunklen Vorstellungen fasste.22 Durch diese Begründung aus einer Mischung von dunklen Gefühlsgründen und Verstandesklarheit wuchs auch dem physiognomischen Urteil eine neue Legitimationsbasis zu. Nach Lavater ist bereits jeder Mensch angesichts anderer Menschen unwillkürlich ein Physiognom, es komme allerdings darauf an, die „dunkeln Empfindung[en]“ explizit zu machen.23 Im engeren Sinne vertraute Lavater bei seinen physiognomischen Urteilen aber vor allem auf „den Blitzblick des Genies“24 und „schnelles Menschengefühl“25. Gerade aufgrund des Dilemmas, dass man mitunter „empfinden, aber nicht ausdrücken“ kann,26 wertete er das „Genie“ – im Sinne der enthusiastischen Genieästhetik – zum „Dolmetscher der Natur“ auf. Lavater zufolge sind die Genies durch „die Gottheit [so] organisiert und gebildet“, dass das Göttliche sich durch sie in seiner „Schöpfungskraft und Weisheit und Huld“ offenbare. Im ersten Band bestimmt Lavater die Physiognomik noch in Anlehnung an Baumgarten als eine „unmathematische“ Wissenschaft, wobei er in einer Anmerkung darauf hinweist, dass Baumgarten „die Semiotik unter die Wissenschaften“ gesetzt habe: „Die Physiognomik kann eine Wissenschaft werden, so gut als alle unmathematische[n] Wissenschaften!“27 Bis zum vierten Band nehmen die Vermessungen aber derart zu, dass Lavater gegen Ende seines Unternehmens postulieren zu können glaubt: „Die Physiognomik wird bestimmt noch eine mathematisch bestimmbare Wissenschaft werden“.28 Die auf die Gesamtgestalt und ihre analytische Zerlegung begründete Ausdrucks-Semiotik soll also letztendlich durch geometrische Größen und deren Zahlenverhältnisse kompatibel gemacht werden. 21 Vgl. Schümmer, F., Art. Geschmack (III), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974, 451–456, hier 451f. 22 Blankenburg, Martin, Wandlung und Wirkung der Physiognomik: Versuch einer Spurensicherung, in: K. Pestalozzi/H. Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, (AGP 31), Göttingen 1994, 179–213, hier 182. 23 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. II, 9. 24 Ebd., Bd. I, 144. 25 Ebd., Bd. I, 55. 26 Ebd., Bd. I, 144. 27 Ebd., Bd. I, 52. 28 Ebd., Bd. IV, 155. Vgl. auch Paulus, Jörg, Der Enthusiast und sein Schatten. Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800, Berlin 1998, 64.

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Folgerichtig arbeitet Lavater darauf hin, die anatomischen und vergleichenden Reihen zu einer erlernbaren Diagnostik nach dem Muster der taxonomischen Bestimmungsbücher auszuarbeiten. Doch betont Lavater, dass die Regeln immer nur „Brillen“ bleiben müssen, aber nicht „zu Augen“ werden können.

5. Physiognomien sozialer Gruppen Als Theologe und Pfarrer konnte sich Lavater mit einem reinen anwendungsbereiten Wissen nicht begnügen. Schon auf dem Titelblatt wird der Mensch angesichts seiner Gottesebenbildlichkeit als erhabener Gegenstand der Untersuchung begründet. Darüber hinaus sollen sich die Menschen seiner Zeit in dem physio­ gnomischen Atlas den Reichtum ihres eigenen Menschseins vor Augen stellen und sich andächtig daran erbauen. Doch war nicht nur die große Mannigfaltigkeit göttlicher Ebenbilder vertreten, auch der gleichsam luziferische Teil der Menschheit war präsent. Lavater unterschied zudem die Menschen nach Befehlenden und Gehorchenden, doch sollten die Menschen bei aller Verschiedenheit der klassifizierten Gruppen von Laster und Tugend, Klugheit und Tumbheit, Harmonie und Monstrosität an ihren gemeinschaftlichen Ursprung erinnert werden. Einerseits wurde das Ebenbild Gottes in schwärmerischer Prosa und Gedichteinlagen als ganzer Mensch, Bruder, Mitgeschöpf und Mitgenosse der künftigen Unsterblichkeit gefeiert. Doch andererseits unterschied Lavater nach anatomischen Modellen kleinste Ausdruckspartikel von Charakteren, so dass die einzelnen Menschen nahezu deterministisch festgelegt wurden. Insgesamt entstand eine Durchsemiotisierung der physiognomisch relevanten Merkmale, deren Erklärungen mit philanthropisch-religiösen Erbauungen umrankt und gemildert wurden. Diese Widersprüchlichkeit von Religion und Wissenschaft fällt nicht nur bei Lavater auf; sie ist strukturell bedingt und wurde am Ende des 18. Jahrhunderts allgemein wahrgenommen. Die anatomische Zergliederung irritierte das ganzheitlich-religiöse Selbstverständnis des Menschen seit den Anfängen der Anatomie und der anatomischen Atlanten und wurde z. T. mit Ästhetisierung und morbider Ironie verarbeitet. Im Rahmen seiner Analyse sucht Lavater nach immer neuen Kriterien für zweckmäßige Zusammenstellungen, um die Hieroglyphik der menschlichen Physiognomie durch Verwissenschaftlichung zu erschließen und ihre Rätselhaftigkeit zu überwinden. Die wichtigsten Ordnungskriterien sind, neben dem Lebensalter, das Geschlecht sowie der Beruf. Doch weil Lavater seine Physiognomik auch als religiöse Erbauung und Förderung der Menschenliebe versteht, gehen seine Zuordnungen über eine bloße Klassifizierung hinaus. Bei einem Teil der Abbildungen präsentiert er normativ verstandene Beispiele, bei denen einzelne Individuen durch besondere Tugend, Frömmigkeit oder Begabungen über die Klassifikation hinausragen. Noch darüber hinaus geht er, wenn er Bildenden Künstlern und Schriftstellern einen besonderen Status einräumt. Berühmt etwa ist seine Dar-

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stellung von Goethe, mit der er ein Beispiel des lebendigen Künstlerkults und der persönlichen Huldigung schuf.29 Herder wird, nach einer emblematischen Überhöhung als „Pyramide“ im zweiten Band, im dritten Band als „wetterleuchtendes religiöses Genie“ porträtiert.30 Er zählt für Lavater zu einer weiteren wichtigen Rubrik: zur Gruppe frommer und religiöser Menschen. Lavater versichert im dritten Band, dass „jede Hauptklasse von religiösen Gefühlen […] gewisse Hauptformen“ habe.31 Er spricht u. a. von „Pietisten-Mienen“ und stellt neben vielen anderen religiösen Physiognomien (darunter die von Zwingli, aber auch von der als Madame Guyon bekannten Jeanne-Marie Bouvier de La Motte Guyon [1648–1717]) Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) als „größten Mystiker und Antimystiker“ vor. Im 36. Fragment des zweiten Bandes stellt er „Religiöse, Schwärmer, Theosophen, Seher“ zusammen.32 Sie gehören für Lavater „fast“ der „Idealwelt“ an.33 Er handelt sich mit dieser Gruppe das Problem ein, alternativ etwa zum Genie der Künstler, Formen der inneren Läuterung physiognomisch belegen zu müssen. An einem Bildnis von Platon meint er – trotz der Vergröberungen – viele „unzerstörbare“ Überbleibsel „eines platonischen Geistes“ bemerken zu können.34 An der Abbildung eines „theosophischen Mystikers“ aus Zürich kritisiert er, dass der Maler das Wesentliche nicht eingefangen habe: die Freude im Angesicht einer Gott voll umfassenden Seele.35 Im Hinblick auf das Äußerliche glaubt er am Beispiel des Jakob Böhme-Verehrers Henricus Madathanus Theosophus (d. i. Adrian von Mynsicht, 1603–1638) zeigen zu können, „daß viele mystische, theosophische Köpfe länglicht [sic!], und daß sie flach und lang behaart sind.“36 Er beschließt die Reihe, in die er auch die „Hieroglyphensäule“ Hamann stellt,37 mit einer Charakteristik des Evangelisten Johannes, den er nach Anton van Dyck (1599–1641) abbildet. Im vierten Band stellt er

29 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. III, 218–224. Lavater präsentiert insgesamt fünf Goethe-Porträts, denen er mehrheitlich bescheinigt, dass sie das Original verfehlen. Nur den Stich von Johann Heinrich Lips (nach dem Vorbild einer Büste) lässt er gelten: „Steinern nach Stein gearbeitet; aber äußerst charakteristisch für den Physiognomiker. Immer Larve eines großen Mannes, der das Creditif seiner Vollmacht auf die Menschheit zu wirken auf seinem Gesichte hat […].“ 30 Herder wird – nach dem „nicht vollkommenen“ Schattenriss im II. Band der Physiognomischen Fragmente (vgl. Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. II, 102) – im neunten Fragment des III. Bandes durch einen Kupferstich von Johann Heinrich Lips präsentiert und unter dem Titel „Ein männliches Profil H.“ charakterisiert (vgl. Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. II, 262–264, Zitat 262). 31 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. III, 244. 32 Ebd., Bd. II, 281. 33 Ebd. 34 Ebd., Bd. II, 284. 35 Ebd., Bd. II, 282. 36 Ebd., Bd. II, 283. 37 Lavater charakterisiert Hamann auf der Grundlage einer Vorlage von Herder, wobei er sich eines Stiches von Johann Heinrich Lips sowie einer als ungenügend eingestuften Umrisszeichnung bedient. Vgl. Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. II, 285f.

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noch einmal gesondert „Apostel- und Christusgesichter“ zusammen.38 Besonders in diesem letzten Band interessiert er sich darüber hinaus auch für die heroische Physiognomik der dynastischen Herrscherpersönlichkeiten. Im Rahmen seiner wissenschaftlich inspirierten Zergliederungskunst geriet Lavater in das Dilemma, einerseits gruppenspezifisch physiologische Hauptformen festlegen zu müssen. Andererseits ging er davon aus, dass jeder Mensch eine einmalige, individuelle Physiognomie aufweist. Er war davon überzeugt, dass sich die Individualität eines Menschen erst nach dem Tode unverfälscht in seiner Physiognomie zeigt, weil dann alle Willkür, soziale Akkulturation und vorübergehende Emotionen abfallen.39 In dieser Hinsicht wäre eigentlich die Totenmaske das geeignete Medium für seine Nachforschungen gewesen. Lavater stellt auch die Frage, ob sich vielleicht nicht doch einmal „eine allgemeine Königslinie“ finden lasse, „eine Chifer ins große Alphabet der Physiognomik“. Was er darunter versteht, wird im vierten Band der Fragmente am vorgestellten Beispiel einer Bienenkönigin deutlich, die sich gegenüber den gemeinen Bienen immer durch ihre „Obermacht“, durch ihr „Mehr an Kraft“ ausweisen müsse. Weil die Bienenkönigin keine gemachte, sondern eine geborene Königin ist, versteht Lavater ihr Beispiel als besonderen „Wink“ an den Leser. Er legt nahe, dass sich vielleicht gerade aus dieser „Königslinie“ des herausragenden, hoheitlichen Individuums „eine Grundlinie zur allgemeinen Physiognomik abstrahieren ließe“, und zwar als Linie, die „immer Obermacht über seines gleichen“ anzeige.40 Die Suche nach der „Königslinie“ lässt erkennen, dass Lavater eine physiognomische Grundlinie etablieren will, die zwar von unten her, von den Gemeinsamkeiten aller Menschen ausgeht, aber zugleich ein dynastisches Prinzip etablieren will, so dass sich für ihn ein pyramidaler Aufbau der Gesellschaft ergibt.

6. Das Kontinuum von Leib und Seele und die Stufenleiter der Wesen Lavater teilt in seinen Physiognomischen Fragmenten eine grundlegende Voraussetzung mit Peuschel sowie mit der antiken und neuzeitlichen Physiognomik: die Auffassung, dass sich aus der körperlichen Gestalt mit ihren Einzelmerkmalen die Gemüts- und Charakterbeschaffenheit der unsichtbaren Seele ablesen lasse. Das Innere kann sich in der äußeren Form des Menschen abbilden, weil Seele und Leib, so bereits die grundlegende Setzung der antiken pseudo-aristotelischen Physiognomika, in Korrespondenz zueinanderstehen. In diesem Sinne leitet auch der Arzt Giambattista della Porta am Ende des 16. Jahrhunderts seine

38 Ebd., Bd. IV, 429–456. 39 Ebd., Bd. II, 34. 40 Ebd., Bd. IV, 56f.

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Physio­gnomik mit einem Kapitel zum „Verbündtnis […] des Leibs mit dem Gemüt oder Seelen“ ein.41 Im 18. Jahrhundert wird das Leib-Seele-Problem über das Christentum hinaus vor allem als Verhältnis des physischen zum moralischen Menschen aktualisiert. Für Lavaters Physiognomik ist hierbei der Ausgangspunkt die These, dass Körper und Seele in einem „genauen, unmittelbaren Zusammenhange“, ja sogar in einer Kausalität zueinanderstehen. Das „Äußerliche“, also die wahrnehmbare physische Erscheinung, ist für ihn die „Oberfläche“ eines unsichtbaren „Inneren“. Dabei aber sei das Äußerliche „nichts als die Endung, die Gränzen des Innern“, so wie umgekehrt auch das Innere nur „eine unmittelbare Fortsetzung des Aeußern“ sei.42 Das Verhältnis von „Innen“ und „Außen“ bestimmt er also nicht als bloße Korrespondenz, sondern eher als Pole, zwischen denen ein Kontinuum besteht. Die körperlichen Zeichen können nur deshalb als Ausdruck geistiger und moralischer Qualitäten gelesen werden, weil Lavater, wie gezeigt, den menschlichen Leib als Manifestation der Seele betrachtet. Die Seele steht für ihn in einem holistischen Verhältnis zum Körper, ist aber nicht identisch mit ihm und bleibt selbst unsichtbar und transzendent. Für Lavater, wie für viele seiner Zeitgenossen, wurde das idealgenetische Modell einer hierarchisch-graduellen Stufenleiter der Natur zur Lösung des Leib-SeeleProblems. Das Modell der Scala naturae des Schweizer Biologen und Naturphilosophen Charles Bonnet (1720–1793) konnte – über die Stufe des Menschen hinaus – kontinuierlich in Stufengraden höherer, himmlischer Wesenheiten fortgedacht werden (vgl. auch den Beitrag von Baptiste Baumann in diesem Band). Bonnet vertrat die Vorstellung, dass es eine kontinuierliche Höherentwicklung des Menschen gibt. Demzufolge streben die Menschen sowohl im Diesseits als auch im Jenseits nach Vervollkommnung bis zur Erlösung bzw. zur Unsterblichkeit. Diesen Ansatz hatte Bonnet 1769 in seinen Idées sur l’état futur des êtres vivants, ou Palingénésie philosophique vertreten, einem Werk, das Lavater in Teilen ins Deutsche übersetzt und 1771 in Zürich veröffentlicht hatte. Bonnets graduelles Modell, nach dem sich die Natur generell in immer vollkommeneren Werken optimiert, erlaubt es Lavater auch, im Vorgriff auf die zukünftige seelische Vervollkommnung schon im Diesseits bei den Menschen verschiedene Stufen der Höherentwicklung anzunehmen. Dabei verbindet Lavater die größere Vollkommenheit mit einer Zunahme des geistigen, sublimen Leibs. Je mehr er vom Modell der graduellen Vervollkommnung ausging, umso stärker geriet er aber in einen Widerspruch zu seiner genuinen Sicht der Physiognomik. 41 Hier zit. n. der dt. Ausgabe: della Porta, Giambattista, Menschliche Physiognomy dass ist: ein gewisse weiss und regel, wie man auss der eusserlichen gestalt, statur und form dess menschlichen Leibs […] schliessen könne, wie derselbige auch innerlich […] geartet sey. In 4 unterschiedene Bücher abgetheilet […]. Erstlich in Lateinischer Sprach beschrieben, nun aber durch ein Liebhaber in unsere hochteutsche Sprach verbracht, Frankfurt a. M., 1601. 42 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. I, 33.

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Abb. 2: Bonnets graduelle Stufenleiter der Natur aus dem 1. Band seiner Oeuvres d’Histoire naturelle et de philosophie. Aus: Collection complette des ­Œuvres des Charles Bonnet, Bd. I (Traité d’Insecto­ logie), Neuchâtel: ­Samuel Fauche, 1779.

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Die vom Heilsplan geforderte Entelechie kann nicht mit Lavaters morphologisch ausgerichteter Festlegung auf feste Ausdrucksmerkmale zur Deckung gebracht werden, weil diese einen weitgehend statischen Charakter voraussetzen. Dieser Widerspruch zieht sich kontinuierlich durch Lavaters physiognomisches Werk. Als Theologe fühlte sich Lavater verpflichtet, auch dem künftigen Erlösungswerk Christi seinen Platz zu erhalten. Er stellt daher das Geistige gegen das Fleischliche, das mit Laster und Geschlechtlichkeit verbunden wird. Ferner setzt er Schönheit und harmonische Proportionen gegen Hässlichkeit, Unförmigkeit und Disproportion. Die Zuordnungen von Tugend und Laster zu Schönheit und Hässlichkeit sind somit für ihn nicht nur soziale, sondern auch heilsgeschichtliche Unterscheidungen. Lavaters religiöse Vorstellungen, die hier in das Ästhetische übergehen, stehen gegen die empirisch abgesicherte Merkmalskunde, mit der er seine Physiognomik von den älteren Vorläufern absetzen wollte. Sie steht in dem bislang vorgestellten Ansatz auch im Gegensatz zur dynamischeren Fassung des Charakters, wie sie im 18. Jahrhundert als spannungsreiche Mischung von Anlagen und Kräften diskutiert wurde. Mit einzelnen Modifikationen findet Lavater jedoch Anschluss an eine dynamischere Sicht des Charakters.

7. Lebenskraft, Holismus und Monadologie Im Anschluss an Bonnet und andere Naturforscher gründet Lavater seine Physiognomik auf dem zentralen Gedanken, dass das Lebendige durch eine einheitliche Organisation bestimmt ist, die von der Lebenskraft getragen wird. Die Natur wirkt in allen ihren Organisationen immer von innen heraus; aus einem Mittelpunkt auf den ganzen Umkreiß. Dieselbe Lebenskraft, die das Herz schlagen macht, bewegt den Finger. Dieselbe Kraft wölbt den Schädel – und den Nagel an der kleinsten Zähe.43

Indem die (unsichtbare) Lebenskraft die körperliche Gesamtorganisation hervorbringt, schafft sie sich nach Lavater zugleich auch einen zusammenhängenden, ganzheitlichen Körperausdruck. „Jeder Theil eines organischen Ganzen ist Bild des Ganzen“, schreibt Lavater im vierten Band der Physiognomischen Fragmente. Weil jeder Teil in einem genauen „Verhältnis“ zu dem Körper stehe, „von dem er einen Theil ausmacht“, könne „aus der Länge des kleinsten Gliedes, des kleinsten Gelenkes an einem Finger, die Proportion des Ganzen, [d. h.] die Länge und Breite des Körpers gefunden […] werden“.44

43 Ebd., Bd. IV, 40. 44 Ebd.

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Lavater folgt hier ansatzweise dem „Kanon“ des Polyklet, der im 18. Jahrhundert unter anderem von Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) diskutiert wurde. Diese Kunstregeln sind hauptsächlich durch die Zusammenfassung von Galen im zweiten Jahrhundert überliefert. Ihr zufolge erörterte Polyklet „das Verhältnis des einen Fingers zu dem anderen, alle Finger zu dem der Mittelhand und des Handgelenks, und wieder das Verhältnis dieser zu dem des Unterarmes und des Oberarmes, kurz: alles im Verhältnis zu allem“.45 Ermittelt hatte er seine Maße, wie Plinius berichtet, durch Messungen an normal gewachsenen Körpern in „der freien Haltung“ und unter „Rücksichtnahme auf die richtige Mitte jeden Maßes zwischen zu viel oder zu wenig“.46 Der Kanon basierte also auf der Anthro­ pometrie als Prinzip zur Konstruktion harmonisch empfundener Proportionalität, ausgehend vom kleinsten Teil. Bei Lavater ist es hier aber nicht die Künstlerin oder der Künstler, der die Proportionen festlegt, sondern die Natur bzw. die Lebenskraft. Hinter der Lebenskraft mag für den Theologen freilich Gott als der große Baumeister und Bildner stehen, der jeden Einzelnen auch nach stimmigen ästhetischen Verhältnissen schafft. Weil für Lavater die Lebenskraft entscheidend den Körperbau prägt, gibt sie ihm vermeintlich feste Maßstäbe für seine Wissenschaft. Er behauptet eine ex­tre­ ­me Homogenität und Geschlossenheit der Form: „Alles ist länglicht, wenn es der Kopf ist. Alles rund, wenn der [Kopf] rund ist.“ Alles ist gewissermaßen aus einem Guss. Das geht von der Statur über „Farbe, Haar, Haut, Adern, Nerven, Knochen“ über „Stimme, Gang und Handlungsweise“ bis in den „Styl“ und die „Leidenschaft“ hinein.47 Lavater interessiert sich besonders, wie schon erwähnt, für die Hände als zweitwichtigstes Ausdrucksorgan und versteht auch die Handschrift als ein ins Graphische verlängertes persönliches Ausdruckszeichen. Insofern Lavater aber die individuellen Besonderheiten berücksichtigt – schließlich sind deren Systematik ja das Ziel seines ganzen Projekts –, muss die Lebenskraft vorstellungsweise auch die eigenständige Entwicklung des Individuums ermöglichen; die Lebenskraft muss sie sogar hervorbringen. Die Physio­ gnomie ist, so schreibt er, auch die „vollkommenste und unmittelbarste Anschaubarkeit aller vorangegangenen Gemüthsbewegungen, Gedanken, Begierden“.48 Nach Lavater hat jeder Mensch „einen gewissen Spielraum, in dem sich alle seine Kräfte und Empfindungen regen“. Zwar ändere sich jedes Gesicht alle Augenblicke, aber eben nur in der jedem „eigenthümliche[n] Art von Veränderlichkeit“.49 Mit dieser Kausalität von Lebensimpulsen und ihren Wirkungen gehört Lavaters

45 Zit. n. Herzog, Karl, Die Gestalt des Menschen in der Kunst und im Spiegel der Wissenschaft, Darmstadt 1990, 49. 46 Herzog, Die Gestalt des Menschen, 48. 47 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. IV, 40. 48 Hier zit. n. Bergmann, Horst, Swedenborg und Lavaters „Physiognomische Fragmente“, in: E. Zwink (Hg.), Emanuel Swedenborg: 1688–1772. Naturforscher und Kundiger der Überwelt, Stuttgart, 1988, 121–127, hier 124. 49 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. IV, 41.

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Physiognomik zu einer Vorform des Begriffs von „Kraft“ bzw. von dynamischen Ursachen für „Gestalt“, wie sie auch von Herder und Goethe untersucht werden. Lavater verstand seine Arbeit dementsprechend als „Kraftdeutung“. Doch indem die gattungsspezifische wie die individuelle Gesamtorganisation bis in den kleinsten Teil des Körpers und dessen Ausdrucksgestalten hinein holistisch verankert wird, wird die relative Freiheit individueller Entwicklung in Lavaters Konstrukt deutlich begrenzt. Lavaters Holismus mit seiner Koinzidenz von Individualgestalt und Individualcharakter ermöglicht zwar einen (engen) Spielraum für die individuelle Entwicklung, sieht aber nicht die Möglichkeit pathogener Abweichungen vor und muss daher eine körperliche Deformation als moralische Abweichung bewerten. Er beurteilt Missbildung nicht als körperliches Leiden, sondern rückt sie in die Nähe einer satanisch gedeuteten Monstrosität. So musste sich der Göttinger Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) schon aufgrund seines Buckels von Lavaters diskriminierenden Grundansätzen herausgefordert fühlen. Seine Streitschrift Über die Physiognomik; wider die Physiognomen gilt als die scharfsichtigste Kritik der Zeitgenossen an Lavaters Konzept.50 1783 schreibt Lichtenberg sein antilavaterisches Fragment von den Schwänzen, um mit dem bedeutungsvollen Lineament etwa von Schweine- oder Hundeschwänzen das Gesamtverfahren der Physiognomik satirisch zu unterminieren. Lichtenberg lehnte Lavaters Fixierung auf statische Merkmale und feststehende Wesenssaussagen ab, nicht aber die Möglichkeiten von Ausdruckskunst und Ausdruckskunde. Gegen die Physiognomik setzte er das System der „Pathognomik“, welches auf das bewegliche Minen- und Gebärdenspiel als Ausdruck vorübergehender Gemütszustände zielte. In diesem Sinne veröffentlichte er ab 1784 – und dies letztlich bis zu seinem Tode – ausführliche Erläuterungen zu den berühmten moralsatirischen Bilderserien des englischen Malers und Kupferstechers William Hogarth (1697–1764). Die Forschung hat daher diskutiert, ob nicht auch diese Erläuterungen als gezielt antilavaterisches Unternehmen angesehen werden müssen.51

50 Lichtenberg, Georg Christoph, Über die Physiognomik wider die Physiognomen, Göttinger Taschen Calender für 1778. Abdruck in: Ders., Schriften und Briefe, Bd. 3, München 1972, 256–295. 51 Vgl. meine Studie: Moral zwischen Anthropologie und Witz. Hogarths moralische Bilderserien und ihre Lektüre durch Lichtenberg, in: Manfred Beetz, Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.), Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, 460–481; hier 466, Anm. 9. – Lavater hatte seinerseits (in problematischer Weise) schauerliche Köpfe aus Hogarths Stichen übernommen und zu einem abgestuften Tableau der menschlichen Verkommenheiten zusammengestellt. Mit ihm wollte er demonstrieren, wie die lasterhafte Trinksucht oder das Verbrechen den Einzelnen verunstaltet und auf den „tiefsten Grad“ der Menschheit h ­ erabwürdigt. Lavater bekräftigt seine Aussage, indem er den Lasterphysiognomien zusätzlich ein emblematisches Schwein zugesellt. Auch Hogarth hatte Laster wie die Trinksucht satirisch aufs Korn genommen, dies aber um sie seiner Londoner Stadtgesellschaft als ein komplexeres Sozialproblem vorzuhalten. Lavater hingegen isoliert Trinksucht und Verbrechen aus dem Sozialgeschehen. Gleichwohl bleibt sein Tableau in der Erläuterung nicht ohne mediale Reflexion und ist als drastisches Warnbild zu verstehen (Vgl. Graczyk, Der Körper als göttliche Natursprache, 178f).

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Doch Lavater glaubte, seinen holistischen Ansatz mit den Erkenntnissen der zeitgenössischen Anatomie absichern zu können. So wie die Meisteranatomen seiner Gegenwart schon imstande seien, aus einzelnen Knochen (etwa aus einem Haufen verworrener Skelette) das Skelett eines individuellen Körpers zu rekon­ struieren, könne ein überlegener, physiologisch ausgebildeter Physiognom, der gewissermaßen den Blick der Engel haben müsste, aus einem einzigen „Gelenke oder Muskel die ganze äußerliche Bildung“ und „den ganzen Charakter“ eines Menschen „calculiren“.52 Trotz seines Anschlusses an die biologischen, medizinisch-physiologischen und anatomischen Diskurse über Körper und Organisation ist für Lavater die menschliche Seele weiterhin die übergeordnete Instanz, die über die organische Lebenskraft wirkt. Er begreift diese allerdings nicht mehr als eine einheitliche „einfache Substanz“, sondern als eine Kraft, die aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt ist, die gemeinsam den „unsichtbaren, herrschenden, belebenden Theil meiner Natur“ bilden.53 Während die Denkkraft in der Stirn und die Willenskraft im Herzen zu lokalisieren sind, wirkt die vitale Kraft im ganzen Körper. Sie konzentriert sich Lavater zufolge besonders in Hand und Mund. Da Lavater seine Physiognomik als „Kraftdeutung“ versteht, werden sowohl die höheren moralischen als auch die vitalen Kräfte einbezogen. Damit ist potenziell ein Übergang zur Vorstellung eines dynamischen Kräftespieles denkbar, etwa in dem Sinne, dass ein Gesicht auch als ein spannungsgeladener Ausdruck widersprüchlicher Kräfte lesbar würde. Im konkreten Fall kommt Lavater auch nicht umhin, auf widersprüchliche Tendenzen im konkreten individuellen Ausdruck einzugehen. Je mehr er sich im Verlaufe seiner Studien genötigt sieht, den Charakter als ein komplexes Kräftespiel unterschiedlicher Anlagen zu begreifen, umso mehr untergräbt er seine eigene Vorstellung eines holistisch geschlossenen Charakters. Zumindest am Beginn seines Unternehmens hat Lavater das Verhältnis von moralischen und vitalen Kräften in einem übergeordneten Modell monadischer Perspektivität verankert. So schreibt er schon 1772 im programmatischen Aufsatz Von der Physiognomik: Jede Modification meines Körpers hat eine gewisse Beziehung auf die Seele. Eine andere Hand als ich habe, würde schon eine ganz andere Proportion aller Theile meines Körpers fordern, folglich einen ganz anders modificirten Körper; das heißt, meine Seele würde die Welt durch ein ganz anderes Perspectiv, folglich unter einem andern Winkel ansehen müssen; und dann wäre ich ein ganz anderer Mensch.54

Nicht nur Einzelorgan und Gesamtkörper, auch Einzelorgan und Seele stehen für Lavater in einem holistischen Gesamtzusammenhang: „Daß ich also eine solche

52 Vgl. Lavater, Von der Physiognomik, 26. 53 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. I, 34. 54 Lavater, Von der Physiognomik, 25.

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Hand habe, und keine andere, giebt zugleich zu erkennen, daß ich eine so und so bestimmte Seele habe; und dies geht bis auf jeden Muskel, ja jede Faser fort.“55 Damit wird nicht nur vorausgesetzt, dass am menschlichen Körper alles bis ins Kleinste bedeutsam sei. Es wird auch impliziert, dass man über diese kleinsten Bedeutungsträger – über das emotionale und intellektuelle Leben hinaus – Aussagen über die (metaphysische) Seele in ihrer monadisch-perspektivischen Stellung machen könne.

8. Lavaters eschatologische Scala naturae Eine wichtige Implikation in Lavaters Physiognomik ist das schon erwähnte biblische Vermächtnis, dass Gott sich den Menschen zum Ebenbilde geschaffen habe. Wie aber kommt dann die Vielfalt der menschlichen Ausdrucksgestalten zustande? Lavater führt diese auf einen grundlegenden, proteischen Prototypus zurück, der die göttliche Ebenbildlichkeit gleichsam in reiner Form enthält. Auch diese hypostasierte menschliche Urform sah Lavater durch spezifische geometrische Eckpunkte und Winkel charakterisiert. „Die Natur bildet alle Menschen nach Einer Grundform, welche nur auf unendlich mannichfaltige Weise verschoben wird, immer aber im Parallelismus und derselben Proportion bleibt, wie der Pantagraph oder das Parallellineal.“56 Für Lavater verkörpert Christus das Ideal der vollkommensten Physiognomie. Denn er ist als „Gottmensch“ auch dem Menschen Vorbild für dessen eigene potenzielle Vervollkommnung. In diesem Sinne nehmen Christusphysiognomien eine bedeutende Stellung in seinen Physiognomischen Fragmenten sowie darüber hinaus in seiner physiognomischen Studiensammlung ein. Lavater hat in dieser Hinsicht künstlerische Visionen gesammelt, aber auch selbst welche nach seinen Vorstellungen anfertigen lassen.57 Zwar ist der Mensch als Ebenbild Christi auch ein Ebenbild Gottes. Allerdings spricht Lavater auch davon, dass sich das Göttliche im Menschen nur verschattet zeige: „Die Gottheit, in eine grobe Erdgestalt verschattet!“58 Es gibt also eine Differenz zur Welt des Göttlichen, doch kann der Mensch sie Lavater zufolge durch seine eigene Vergeistigung und Verklärung überwinden. Diese Entschattung kann er allerdings erst künftig, im Jenseits erreichen. Auch in dieser Hinsicht ist Christus die zentrale Mittlerfigur. Denn der Mensch erreicht seine jenseitige Verklärung in der Annäherung an die Vollkommenheit von Christus, eine Vollkommenheit, die Lavater zufolge letztlich nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Leib umfasst. 55 Ebd. 56 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. IV, 459. 57 Zur Christologie und zu den Christusphysiognomien in Lavaters Physiognomik, vgl. die Literaturangaben in Graczyk, Der Körper als göttliche Natursprache, 143, Anm. 10. 58 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, 3.

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Als verschattetes Ebenbild Gottes hat der Mensch eine Physiognomie, die bereits auf seine jenseitige leibgeistige Zukunft verweist. Wie aber verhält sich seine „verschattete Erdgestalt“ zu seinen tierischen Mitgeschöpfen bzw. – wie noch zu entwickeln ist – zu seiner evolutionären Vergangenheit? Wir müssen hier etwas weiter ausholen. Seit Linné hatten sich die großen Naturforscher dem Gedanken angenähert, dass die Affen den Menschen auf der biologischen Stufenleiter am nächsten stehen. Lavater nennt in den Physiognomischen Fragmenten zwar Affen, Pferde und Elefanten als Tiere, von denen man annehme, dass sie dem Menschen am ähnlichsten seien. Eine mögliche Verwandtschaft zwischen Menschen und Affen lehnt er jedoch entschieden ab: „O Mensch, du bist kein Affe – und der Affe ist kein Mensch.“59 Erst in seinen späteren Jahren gibt er diese Abgrenzung auf. Ähnlich wie Robinet, Diderot und zeitweilig Herder von einem dynamischen Prototyp ausgehen, der durch Variation und Selbstoptimierung die Formenvielfalt hervorbringt, geht Lavater nunmehr davon aus, dass sich eine tierische Physiognomie durch allmähliche Modifikationen der anfänglichen Grundform vermenschlichen kann. Im fünften Band der Nachgelassenen Schriften (1802) sowie im vierten Band der ersten französischen Ausgabe seiner Physiognomik, der 1803 posthum von seinem Sohn Heinrich herausgegeben wurde, erschienen unter anderem zwei großformatige Schautafeln, die in 24 Profil-Bildern die stufenweise Verwandlung eines Froschkopfes in das Idealgesicht von Apoll zeigen. Diese metamorphotischen Tafeln entstanden nach einem aquarellierten Zyklus, dessen Entstehung man auf 1795 datiert.60 Lavater erläutert sie, indem er den Begriff der „Animalitäts-Linien“ einführt.61 Er spricht in diesem Zusammenhang auch von „Proben meiner Evolutions-Theorie“.62 Die Tafeln werden in der Lavater-Forschung als Beleg dafür diskutiert, dass Lavater an die Möglichkeit einer transformativen Entwicklung gedacht haben könnte. Von Darwins Abstammungslehre, die erst ein halbes Jahr-

59 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. II, 180. 60 Vgl. Schögl, Uwe, Vom Frosch zum Dichter-Apoll. Morphologische Entwicklungsreihen bei Lavater, in: G. Mraz/U. Schögl (Hg.), Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, Wien u. a. 1999, 164–171, hier 165. 61 Lavater, Johann Caspar, Über Animalitäts-Linien, in: G. Geßner (Hg.), Johann Kaspar Lavaters nachgelassene Schriften, Bd. 5: Hundert physiognomische Regeln, mit vielerlei Kupfern, Zürich 1802, 101–110. (Die Schaubilder befinden sich als Falttafeln am Ende des Bandes.) – Lavater, Jean Gaspard, Sur les lignes d’animalité, in: Essai sur la physiognomonie [sic.] destiné à faire connoître l’homme [et] à le faire aimer, 4 Bde., La Haye 1781–1803; Bd. 4, 315–324, Schautafeln 322 u. nach 324. 62 Lavater, Über Animalitäts-Linien, 107. – Hans-Georg von Arburg weist darauf hin, dass der evolutionsgeschichtliche Kontext in der späteren zehnbändigen französischen Ausgabe der Physiognomik noch verstärkt wurde, die der Mediziner Jacques-Louis Moreau de la Sarthe 1806–1809 herausgegeben hat. Moreau de la Sarthe stellte eine Beziehung von Lavaters und Campers physiognomischen Entwicklungsreihen zur Evolutionstheorie von Lamarque her. Von Arburg, HansGeorg von, Johann Caspar Lavaters Physiognomik. Geschichte – Methodik – Wirkung, in: Mraz/ Schlögl (Hg.), Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, 52.

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hundert später belegt und entwickelt werden sollte, unterscheidet sich Lavaters Ansatz durch eine idealgenetisch verstandene Stufenleiter.

Abb. 3: Vom Frosch zum Apoll, aus: Johann Kaspar Lavaters nachgelassene S­ chriften, Bd. V: Hundert physiognomische Regeln, mit vielerlei Kupfern, hg. v. Georg Geßner, ­Zürich: Orell, Füßli u. Compagnie, 1802; Falttafeln am Ende des Bandes. Expl. der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke, Sign.: Ak 1380.

Lavater geht zwar davon aus, dass die Diversität des Lebens durch die Transformation einer einheitlichen Grundform entsteht. Zugleich will er aber die Rangfolge einer hierarchischen Stufenordnung bewahren, in der jede Spezies ihre bestimmte Gestalt bzw. ihr Gepräge von Gott erhalten hat. Auf dieser Leiter sei nichts unbestimmt, sondern alles habe seine spezifische Gestalt und die charakteristischen Züge („lignes caractéristique“) seiner Art. Innerhalb der Scala werden den Lebewesen demnach idealgenetische Rangstufen zugewiesen. Dem Menschen allein sei das Himmelsgeschenk seines besonderen, durch Anmut geprägten Antlitzes gegeben; er verfüge über die „vollkommensten Verhältnisse“, die „glücklichsten Proportionen“. Damit kommt – neben der ebenfalls erwähnten Willenskraft – ein ästhetisches Moment als Distinktionsmerkmal zum Tragen. Es versteht sich, dass der Mensch sich für Lavater gerade dadurch in seiner Gottesähnlichkeit und Gottesnähe ausweist. Umgekehrt rücken die Tiere schon ästhetisch in größere Gottesferne. Lavater verstand seine „Animalitätslinien“ im Weiteren in einem ausgreifenden Sinn, der auch die „Menschenracen“ mit in das hierarchische Stufensystem der

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Scala naturae einbezog. Er konstruiert eine physiognomisch-ästhetisch begründete Rangfolge auch innerhalb der menschlichen Gattung, die er als „Evolutions“Ordnung interpretierte. Dabei stützt er sich in seiner weiteren Argumentation auf Arbeiten des niederländischen Mediziners, Anatomen und Zeichenlehrers Petrus Camper (1722–1789), der auch bereits horizontale und vertikale „Gesichtslinien“ als messbare Größen eingeführt hatte. Camper hatte in seiner 1792 (postum) veröffentlichten Abhandlung Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters anatomische Vergleichsreihen vorgestellt, die vom Affen über den „Neger“ und [mongolischen] Kalmücken zum Europäer einen ansteigenden „Gesichtslinienwinkel“ in den Profilen zeigen.63 Lavater lobt Campers Schrift als „scharfsinnige Abhandlung“, kritisiert aber die von Camper angegebenen Gesichtsverhältnisse als nicht „bestimmt genug“, um „den Physiognomen“ ganz zu befriedigen. Mehr als Lavater einräumt, schloss er an Campers Biometrie der tierischen und menschlichen Schädel an. Er hält sich sogar eng an Campers Zahlenvorgaben, wenn er in seinen Erklärungen „für jede Thierart und jede Menschenrace“ einen jeweils genau messbaren Gesichtswinkel ansetzt. Die Profilwinkel der Animalität steigen von „Hund, Frosch, Vogel“ bis zum „geschwänzten Affen“ und den „OrangUtangs“ auf, die als oberste tierische Spezies, wie bei Camper, einen Gesichts­winkel von 58 Grad erreichen. Ab 60 Grad beginnen für Lavater die untersten Spuren der Menschheit, die mit dem „angolischen Neger“ und dem „Kalmücken“ 70 Grad erreichen. Während sich das allgemeine Spektrum der Menschheit mit „all ihren Anomalien“ in diesem Spektrum von 60 bis 70 Grad halte, erreiche der schönste Europäer einen Gesichtswinkel von 80 Grad. Wie Camper räumt Lavater ein, dass nur das antike Kunstbildnis der Heroen (nicht aber der antike Mensch selbst) einen Profilwinkel von 100 Grad besitzt.64 Dennoch erreichen für ihn ausgewählte große Denker wie Aristoteles und Montesquieu, aber auch Politiker und Regenten wie Pitt und Friedrich II. von Preußen in der Frontalansicht das ideale Gesichtsmaß des [delphischen] Apollo Pythius.65 Unter dem Namen des Apollo Pythius war den damaligen Zeitgenossen eine seit der Renaissance berühmte Marmorstatue vertraut, die um 1500 in Rom gefunden und im Belvedere des Vatikanischen Palasts aufgestellt worden war. Winckelmann hatte sie 1764 in seiner Geschichte der Kunst des Altertums als „das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums“ gepriesen.66 Während in die-

63 Camper, Petrus, Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters, A.G. Camper (Hg.), Aus dem Holländ. v. Samuel Thomas von Sömmering, Berlin 1792. 64 Lavater, Sur les lignes d’animalité, 321. 65 Ebd., 324. 66 Winckelmann, Johann Joachim, Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt 1972, 364. Es handelt sich um die römische Kopie eines im Original in Bronze ausgeführten Werkes, das zwischen 350 und 325 v. Chr. geschaffen wurde und dem Bildhauer Leochares zugeschrieben wird. Die römische Marmorkopie wird auf das zweite Jahrhundert datiert. – Den Beinamen „Pythius“

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ser europazentristischen Stufenordnung besonders die dunklen „Rassen“ in die problematische Grenzzone einer gerade überwundenen Tierheit gestellt wurden, rückte der europäische Mensch – wie bei Camper – physiognomisch in die Nähe einer griechisch-antiken Klassizität, so wie sie sich vor allem in der künstlerischen Gestalt des antiken Gottes Apoll ausdrückte. Paradoxerweise lässt sich der Theologe Lavater zur moralischen Bewertung empirischer Daten hinreißen, die sich in seiner hierarchisch strukturierten Physiognomik schließlich als diskriminierende Völker- und Rassenhierarchie niederschlägt. Wie kommt es, dass Lavater in den Schaubildern von 1795 nicht den Affen, sondern den Frosch zum Ausgangspunkt der Metamorphose zum Menschen wählt? Dieses Tier hätte zwar mit seiner bekannten Metamorphose von der im Wasser heranwachsenden Kaulquappe in den vierbeinigen Frosch zu einem präevolutionistischen Paradeobjekt werden können. Doch nimmt der Frosch auch in Bonnets gradueller Stufenleiter der Natur, auf die Lavater sich stark bezieht, nicht die erwartbare Übergangsstellung zu den Vierfüßlern ein. Bonnet hatte letztere u. a. den fliegenden Fischen zugedacht. Beim Frosch überlegt Bonnet, ob dieser eventuell eine eigene Abzweigung von den Insekten darstellen könnte.67 Wie man aus Lavaters Nachlass weiß, hatte er auch Zeichnungen von alternativen Tier-Mensch-Metamorphosen in Auftrag gegeben: etwa von einem Löwen oder einem Insekt ausgehend, wobei Letzteres übrigens an der anatomisch begründeten Weigerung des Zeichners scheiterte.68 Bei der schließlich erfolgten Bevorzugung des Frosches hatte Lavater möglicherweise Luigi Galvanis (1737–1798) Experimente am Froschschenkel im Hintersinn, mit denen dieser seit 1786 „thierische Elektrizität“ nachweisen zu können glaubte. Die Naturwissenschaft wurde erst durch Galvani auf den Frosch fokussiert. Galvanis italienische Originalstudie erschien 1791 (die deutsche Übersetzung 1793). Lavater dürfte sich schon als Anhänger von Mesmers Heilmethode des animalischen Magnetismus für Galvanis Versuche interessiert haben. Heinz Schott zufolge entsteht in der Folge des Galvanismus eine spekulative Elektro- und Neurophysiologie, „auf deren Grundlage die Phänomene des animalischen Magnetismus plausibel erklärbar schienen.“ Diese Verbindung von Galvanismus und Mesmerismus wird dann namentlich bei Johann Wilhelm Ritter gegen Ende der 1790er Jahre greifbar.69 erhielt Apollo der Mythologie zufolge, nachdem er die wahrsagende Schlange Python getötet und sich selbst als Gott jenes ursprünglich von der Erdmutter Gaia kontrollierten Orakels eingesetzt hatte, das zuerst „Pytho“ und erst später „Delphi“ hieß. 67 Bonnet, Charles, Betrachtung über die Natur, [Übers.: J.D. Titius], Leipzig 1766, 57. Vgl. auch Wyder, Margrit, Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, Köln [u. a.] 1998, 101. 68 Vgl. Wyder, Goethes Naturmodell, 179, zur Begründung des Zeichners, 180. 69 Vgl. Schott, Heinz, Der „animalische Magnetismus“ zwischen Aufklärung und Romantik. Die Bremer Episode im Kontext der Medizingeschichte (2001), ins Netz gestellt am 9.6.2019 [ohne Seitengaben]. Leicht veränderte Druckfassung in: Kat. Ausst., Neue Welten. Wilhelm Olbers und die Naturwissenschaften um 1800, G. Biegel/G. Oestmann/K. Reich (Hg.), Braunschweigisches Landesmuseum, Wolfenbüttel 2001, 142–155.

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Der Galvanismus beflügelte die Suche nach einer Lebenskraft, die man auch organisch zu fassen versuchte. Ein berühmter Exponent war unter anderem Alexander von Humboldt, der in den 1790er Jahren zahlreiche Tier- und Selbstversuche an Muskeln und Nerven vornahm. Humboldt besaß, wie er 1797 in der Publikation seiner fünf Jahre zuvor begonnenen Experimente berichtet, eine Elektrisiermaschine, mit der er auch auf seinen Reisen beständig an Fröschen experimentierte.70 Aus Humboldts Studie erfahren wir zudem, dass Lavaters Metamorphose vom Frosch zum Menschen nicht ganz aus der Luft gegriffen war, sondern auch in der seriösen Naturwissenschaft ernsthaft diskutiert wurde: Welche Ähnlichkeit der Organisation in Formen, die so weit von einander abzustehen scheinen. Ein Frosch hat [in der Oberschenkelmuskulatur] nicht blos seinen Sartorius, vastus internus und externus und semimembranosus, sondern auch selbst den versteckten, beim Menschen bisweilen fehlenden [tiefen Schenkelmuskel] suberuralis. So ist der thierische Stoff fast überall nach einem Typus geformt. Bei dem einen Thiere ist oft nur angedeutet, was der Gebrauch in dem andern deutlich ausbildet.

Dies sei aber ein „noch ganz unbebautes Feld“.71 1798 stellte Alexander von Humboldt seine Froschexperimente auch an der Pariser Akademie der Wissenschaften vor. Sein Freund, der Maler Dominique-Vivant Denon (1747–1825), konnte von seinen Forschungen gewusst haben, als er um 1800 die lavierte Federzeichnung eines Frosches mit Menschengesicht schuf.72 Lavaters Abfolge von Frosch und Mensch steht zugleich in einer symbolischen Tradition, die z. T. auf Horapollon (um 500 n. Chr.) zurückgeht. Dessen Hieroglyphenbuch verbreitete seit dem 16. Jahrhundert eine emblematische Auffassung der ägyptischen Hieroglyphen und wurde auch im 18. Jahrhundert noch diskutiert. Laut Horapollon malten die

70 Vgl. Hüppauf, Bernd, Wie der Frosch drei Körper bekam, Paragrana 17 (2008), 41–71, hier Anm. 1. 71 Humboldt, Alexander von, Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt, Bd. 2, Posen/ Berlin 1797, 284f. Hier zit. n. Ho, Shu Chin, Vom atomistischen Weltbild zum organischen Universum – Goethes Einfluss auf den jungen Alexander von Humboldt, in: I. Jahn/A. Kleinert (Hg.), Das Allgemeine und das Einzelne – Johann Wolfgang von Goethe und Alexander von Humboldt im Gespräch [Leopoldina-Meeting, 29./30. Oktober 1999], Halle 2003, 81–96, hier 87. Humboldt verweist an dieser Stelle übrigens explizit auf Goethes Arbeiten zur Metamorphose auch im Tierreich. Seit seiner Begegnung 1794 mit dem naturforschenden Dichter in Jena stand Humboldt im engen wissenschaftlichen Austausch mit ihm, der seinerseits auch an Humboldts Experimenten in der Jenaer Anatomie teilgenommen hatte. 72 Denon, Dominique-Vivant, Frosch mit Menschenkopf; Feder und braune Tinte, braun laviert, Spuren von Schwarzstein auf weißem Vergé-Papier; 9,7 x 11,1 cm (© Musée Denon, Chalon-SurSaône). Das Bild wurde in der Ausstellung „Wilhelm und Alexander von Humboldt“ im Deutschen Historischen Museum (21.11.2019 bis 19.04.2020) gezeigt (Vgl. die online gestellten Presse­ bilder zur Ausstellung, die ohne Katalog geblieben ist.). In der Ausstellung wurde Denons Bild allerdings nicht mit Bezug auf den Metamorphosegedanken präsentiert, sondern als Vermenschlichung einer in den galvanischen Versuchen gequälten Kreatur. Auf der Streck- und Halte-Platte für die Experimente seien die Frösche wie Gekreuzigte ausgestreckt worden.

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alten Ägypter, wenn sie „ungeformter Mensch“ schreiben wollten, „einen Frosch, weil seine Entstehung aus dem Schlamm zustande kommt.“73 Im antiken Ägypten gab es nicht nur eine Froschgöttin und mythologische Urgottheiten mit Froschköpfen; seit dem Neuen Reich wurde der Frosch positiv als Sinnbild der „Wiederholung des Lebens“ gesehen. Die Metamorphose der Kaulquappe in den Frosch wurde bereits im Papyrus Ebers um 1550 v. Chr. beschrieben.74 Während dem Frosch in Zeugnissen verschiedener frühgeschichtlicher Kulturen eine Fruchtbarkeit und Regenerationskraft zugeschrieben wurde, rückte er in der christlichen Tradition vorwiegend in den Bereich des Satanischen und Dämonischen. Diese Einfärbung scheint auch bei Lavater durch. Mit seiner pejorativen Einschätzung schließt er im Weiteren auch an eine naturkundliche Tradition an, die seit der Antike bis hin zu Carl von Linné (1707–1778) dem Frosch negativ bewertete Eigenschaften zuschreibt.75 Linné etwa charakterisiert die Klasse der Amphibien 1758 in der zehnten Auflage seiner Systema naturae als zumeist abscheuliche, grimmig-finstere, kalte, übelriechende, entsetzlich giftige Tiere, die mit scheußlicher Haut, berechnendem Auge und mißtönender Stimme die schmutzig-unreinen Lebensräume bewohnen.76 Entsprechend gilt Lavater der Frosch als „image bouffie de la nature la plus ignoble & la plus bestiale.“77 Mit universalistischer Geste greift er im Sinn seiner Scala weit über den Affen zurück, zumal der Frosch nach seinen Messungen einen besonders niedrigen, nur halb so großen Gesichtswinkel besitzt wie ein Affe. Lavater geht es im Grunde darum, den „Uebergang von brutaler Häßlichkeit zum idealisch Schönen, von der Satanität zum göttlich Erhabenen, von der Animalität […] zur anfangenden Vermenschlichung des [nordsibirischen] Samojeden, von diesem hinauf bis zu einem Neuton [Newton] und Kant in eine inductionsmäßige Norm zu bringen […]“.78 Und dennoch steht der Mensch, auch der europäische Mensch, nicht an der Spitze der Skala.

73 Hier zit. nach: Thissen, Josef (Hg.), Des Niloten Horapollon Hieroglyphenbuch, Bd. I: Text und Übersetzung, München 2001, 21. 74 Vgl. Jahn, Ilse, Grundzüge der Biologiegeschichte, Jena 1990, 49. 75 Allgemeiner zum Frosch und seine im Einzelnen sehr komplexe Symbolik: Failing, Jutta, Frosch und Kröte als Symbolgestalten in der kirchlichen Kunst, Diss., Gießen 2002. Sowie Hüppauf, Bernd, Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld 2011. – Die Verwandlung des Frosches in einen Menschen wurde erst später auch im Märchen populär: 1812 erschien „Der Froschkönig“ als erstes Stück der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. 76 Ich komprimiere hier die lateinische Textstelle in von mir übersetzten, für den Kontext relevanten Termini. Vgl. im Einzelnen: Linné, Carl von, AMPHIBIA, pleraque horrent Corpore frigido, Colore lurido, Sceleto cartilagineo, Cute fœda, Facie torva, Obtutu meditabundo, Odore tetro, Sono rauco, Loco squalido, Veneno horrendo; non itaque in horum numerum sese jactavit eorum Auctor, in: Ders., Systema naturae per regna tria naturae. Editio decima, reformata, Stockholm 1758, 194. 77 Lavater, Sur les lignes d’animalité, 322. 78 Lavater, Über Animalitäts-Linien, 104.

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Um Lavaters entsprechende Denkzusammenhänge zu erhellen, möchte ich auf Heraklit zurückgreifen, der zu Lavaters Autoren gehört. Hier sind zwei Spruchweisheiten von Heraklit anzuführen, die im 18. Jahrhundert öfter zitiert wurden. Platon hat die beiden Fragmente in seinem Dialog Hippias maior überliefert. Fragment 82 lautet: „Der schönste Affe ist hässlich [,] mit dem Menschengeschlecht verglichen.“ Fragment 83: „Der weiseste Mensch wird [–] gegen Gott gehalten [–] wie ein Affe erscheinen [,] in Weisheit, Schönheit und allem andern.“79 Die beiden Aussprüche wurden in Alexander Popes Essay on Man (1733–34) zeitgenössisch umgeschrieben. Pope setzte den bahnbrechenden Naturwissenschaftler Newton als Genie ein, das die Menschheit gleichsam übersteigt und setzte ihn, vergleichbar mit der Rangfolge bei Heraklit, in ein entsprechendes Verhältnis einerseits zu „höheren Wesen“, das heißt zu den Engeln, sowie andererseits zum Affen. Superior beings, when of late they saw A mortal Man unfold all Nature’s law, Admir’d such wisdom in an earthly shape, And shew’d a Newton as we shew an Ape […].80

Hamann und Herder korrespondierten 1776 über Popes Paraphrase und bringen sie explizit mit dem Porträt von Hamann im zweiten Band von Lavaters Physio­ gnomischen Fragmenten in Verbindung.81 Ähnlich wie Heraklit bzw. Pope erwägt auch Lavater, dass selbst der vollkommene Apoll in den Augen höherer Wesen, etwa der Engel, nur als „Karikatur“ dastehen könnte. Und implizit scheint auch der komplementäre Gedanke durch, dass die Menschen in vergleichbarer Weise den Frosch als Zerrbild ihrer selbst begreifen können. Anders als Heraklit denkt Lavater aber, wie gezeigt, im Modus einer graduell-beweglichen Stufenleiter und verlagert die Monstrosität vom Affen auf den Frosch. Für den späten Lavater muss im tierischen Gesicht das menschliche Gesicht zwar verzerrt, aber doch schon verborgen sein, so wie das hoch entwickelte menschliche Gesicht in der Skala verzerrt schon auf das Göttliche vorausweist. Die „Karikatur“ formuliert im künstlerisch-medialen Begriff, was Lavater im Religiösen unter „Verschattung“ versteht, einem Terminus, der sich letztlich auf den gnostisch grundierten Fall der Schöpfung in die Materie bezieht. Impliziter Gegenbegriff zur Verschattung ist für Lavater die Verklärung. Daher sind in Lavaters teleologischer Evolutionsgeschichte auch Konzepte der Palin­ genesie unterzubringen. In seiner frühen Schrift Aussichten in die Ewigkeit führte 79 Zit. n. Diels, Hermann, Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. W. Kranz, Hamburg 81957, 28. Ich erleichtere die Lektüre durch in eckige Klammern eingefügte Zeichensetzung. 80 Alexander Pope, The Works of Alexander Pope. Bd. 3: Moral Essays, hg. v. J. Tonson/R. Tonson/ A. Miller, London 1757, 51f. 81 Vgl. Haefner, Ralf, Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre, Hamburg 1995, 27f.

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er 1772 die graduelle Metamorphose über den Menschen hinaus bis zu den verklärten Leibern der Engel weiter. Wenn die menschliche Physiognomie nur als Etappe des Schöpfungsplanes gesehen wird, muss der Gottessohn Christus als eine Lichtgestalt symbolisiert werden, die die künftige Verklärung schon ahnen lässt. Lavaters Rede vom Menschen als verschattete Gottesgestalt wird erst vor dem Hintergrund dieser impliziten Lichttheologie deutlich. Der Mensch verliert seine verschattende Erdenschwere, indem er sich im Jenseits der verklärten Lichtnatur von Christus annähert. Die Figur des Apoll mochte die aus der griechischen Antike überlieferte Überhöhung des Menschen sein. Für den Theologen Lavater stellt jedoch der „Gottmensch“ Christus die höchste Vollkommenheit und das jenseitige Ziel der menschlichen Metamorphose dar.

Sylvaine Hänsel

Lavaters Physiognomik im Kontext der Porträtkunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts

Schattenrisse gehörten schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zum festen Bestandteil der Freundschafts- und Geselligkeitskultur, gewannen jedoch mit dem Erscheinen von Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten eine gesteigerte Bedeutung.1 Das Zeichnen der Silhouetten ist so sehr eine Lieblingsbeschäftigung unserer Zeit geworden, daß eine deutliche und ausführliche Abhandlung darüber dem Publikum, und insbesondere dem physiognomischen Theile desselben, nicht uninteressant seyn wird. Die Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit welcher Schattenrisse von einem Jeden, der nur schreiben kann, können verfertigt werden, und ihre übrigen Vorzüge in Absicht auf die genaue physiognomische Ähnlichkeit, haben sie es so sehr empfohlen, daß die freyen Bildnisse fast anfangen von ihnen verdrängt zu werden,2

so 1780 Friedrich Christoph Müller, der Autor eines Anleitungsbüchleins zur Silhouettenherstellung. Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), der lange enge Freundschaft mit Lavater gepflegt und Beiträge zu den ersten Bänden der Physiognomischen Fragmente geliefert hatte, erinnert sich 1822: Lavaters Physiognomik hatte dem sittlich geselligen Interesse eine ganz andere Wirkung verliehen. Er fühlte sich im Besitz der geistigen Kraft, sämtliche Eindrücke zu deuten, welche des Menschen Gesicht und Gestalt auf einen jeden ausübt, […]. Was aber zugleich nach jener Epoche folgerecht auffallend hervorging, war die wechselseitige Achtung der Individuen untereinander. Namhafte ältere Männer wurden, wo nicht persönlich so doch im Bilde verehrt; und es durfte wohl auch ein junger Mann sich nur einigermaßen bedeutend hervortun, so war alsbald der Wunsch nach persönlicher Bekanntschaft rege, in deren 1 Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. 4, Leipzig 1776–1778. 2 Müller, Friedrich Christoph, Ausführliche Abhandlung über die Silhouetten und deren Zeichnung, Verjüngung, Verzierung und Vervielfältigung von dem Verfasser des physiognomischen Cabinets mit XI Kupfertafeln, bei Perrenon, Philipp Heinrich, Frankfurt/Leipzig/Münster 1780, Vorrede.

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Ermangelung man sich mit seinem Porträt begnügte; wobei denn die, mit Sorgfalt und gutem Geschick, auf ’s genaueste gezogenen Schattenrisse willkommene Dienste leisteten. Jedermann war darin geübt und kein Fremder zog vorüber, den man nicht Abends an die Wand geschrieben hätte; die Storchschnäbel durften nicht rasten.3

Die Bewertung des Aussagewerts solcher Schattenrisse war jedoch schon damals höchst kontrovers und auch in der neueren kunsthistorischen Forschung tut man sich nicht leicht, ihren Platz im Kontext der Porträtkunst genauer zu verorten. Johann Heinrich Merck hoffte 1778 in seiner Rezension des vierten Bandes der Physiognomischen Fragmente, er würde „Epoche in der Porträtmalerei machen“.4 Der schon zitierte Müller sieht in der Physiognomik die Chance, die seit Rubens, van Dyck und Rembrandt verkümmerte Porträtkunst zu neuen Höhen zu führen, denn „diese hat, und vorzüglich durch Lavaters Bemühungen, den Saamen zu einem gereinigten Geschmack ausgestreuet.“5 Michael Thimann bezeichnete 2006 im 6. Band der Deutschen Kunstgeschichte „Lavaters Projekt“ „für die Bildniskunst des 18. Jahrhunderts als unerschöpfliche[n] Vorlagenfundus“,6 während Gottfried Boehm 2003 feststellte: „Die Idee des neuzeitlichen Individualporträts, die sich im empfindsamen, bürgerlichen Bildnis der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erneuerte, und die Idee der Lavaterschen Physiognomik wiedersprechen einander grundsätzlich.“7 Es scheint also sinnvoll, etwas genauer zu schauen, wie sich Lavaters Physiognomische Fragmente zur Praxis und Theorie der Porträtkunst ihrer Zeit verhalten. Zu erinnern ist vorab, dass Porträts im 18. Jahrhundert in weiten Teilen der Bevölkerung mit einem gesteigerten Interesse rechnen konnten und entsprechend auch in Ausfertigungen für die unterschiedlichen Interessen und finanziellen Möglichkeiten auf den Markt kamen.8 Dabei ging es sowohl um Bildnisse, zu denen die jeweiligen Auftraggeber persönliche Beziehungen hatten, als auch um Porträtsammlungen, die unter verschiedenen thematischen Gesichtspunkten angelegt werden konnten. Zu nennen wären hier beispielsweise sowohl die Freundschaftsgalerie

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Goethe, Johann Wolfgang, Campagne in Frankreich, in: Ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 14, München 1986, 335–616, hier 476f. Merck, Johann Heinrich, Lavaters Physiognomische Fragmente IV. Band, Teutscher Merkur III (1778), 177–181, hier 1. Müller, Über die Silhouetten, 4. Thimann, Michael, Kinder Apolls, Söhne Mariens. Positionen deutscher Malerei zwischen Klassik und Romantik, in: Andreas Beyer (Hg.), Klassik und Romantik, (Geschichte der bildenden Kunst, Bd. 6), München u. a. 2006, 651–438, hier 361. Boehm, Gottfried, „Mit durchdringendem Blick“. Die Porträtkunst und Lavaters Physiognomik, in: U. Stadler/K. Pestalozzi (Hg.), Im Lichte Lavaters. Lektüren zum 200. Todestag, Zürich 2003, 21–40, hier 22. Einen guten Überblick bietet Larcher, Reimar F. (Hg.), Von Mensch zu Mensch. Porträtkunst und Porträtkultur der Aufklärung, Göttingen 2010; Kanz, Roland, Dichter und Denker im Porträt. Spurensuche zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts, München 1993.

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Johann Wilhelm Ludwig Gleims9 (1719–1803) oder die Bildnisse der Autoren des Verlegers Philipp Erasmus Reich (1717–1787),10 als auch die Sammlung des Münchener Lehrers und Verlegers Johann Baptist Strobl (1748–1805), die mehr als zweihundert, zumeist von Johann Georg Edlinger gemalte Bildnisse „denk- und merkwürdiger Baiern“ enthielt, die Personen unterschiedlichster Gesellschaftsschichten und Professionen zeigten.11 Die Tatsache, dass Strobl mit seiner Sammlung gewissermaßen die Standesgrenzen außer Kraft setzte, war so ungewöhnlich, dass ein österreichischer Polizeispitzel sie in direkten Zusammenhang mit politischen ‚Umtrieben‘ Münchener Patrioten brachte. Zu nennen wäre auch die etwa 13.000 Blätter umfassende Porträtkollektion des Inspektors der Waisenhausbuchhandlung, Jacob Gottfried Bötticher (1692–1762), die in den Bibliotheks­bestand der Franckeschen Stiftungen einging.12 Geht Letztere auf die seit der Renaissance gepflegte exemplarische Zusammenstellungen bedeutender Persönlichkeiten zurück, die so gut wie kein physiognomisches Interesse erkennen lässt,13 trug der eingangs zitierte Friedrich Christoph Müller eigens eine Porträtsammlung zusammen, die ihn, nach eigenem Bekunden, zu mancherlei Charakterstudien anregte. So sah er sich unmittelbar nach dem Erscheinen der Physiognomischen Fragmente motiviert,

Abb. 1: Anton Graff, Gotthold Ephraim Lessing, Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, aus: Ausst.-Kat. Anton Graff. Gesichter einer Epoche Winterthur, Museum Oskar Reinhart/Berlin, Alte Nationalgalerie, München 2013.

  9 Scholke, Horst, Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. Porträts des 18. Jahrhunderts, Leipzig 2000; Stört, Diana, Johann Wilhelm Ludwig Gleim und die gesellige Sammlungspraxis im 18. Jahrhundert, Hamburg 2010. 10 Jegge, Alexander, Anton Graff und die Gelehrtenporträts der Sammlung Philipp Erasmus Reich, Diss., Basel 2000. 11 Huber, Brigitte, Ein Pantheon der kleinen Leute. Die Bildergalerie des Münchener Buchhändlers Johann Baptist Strobl (1748–1805), München 1997, 46; Schenk, Rolf, Der Münchener Porträtmaler Johann Georg Edlinger, München 1983. 12 Matschke, Rhea, „Du fragst wen stellet doch dis schöne Kupfer für …“ Die Porträtsammlung der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, Halle 2003. 13 Rave, Paul Ortwin, Paolo Giovio und die Bildnisvitenbücher des Humanismus, in: Jahrbuch der Berliner Museen, Bd. 1, 1959, 119–154.

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1777 seine eigenen, Lavater stark verpflichteten Gedanken zu diesem Thema zu veröffentlichen.14 Die Porträtmaler richteten sich nach den unterschiedlichen Ansprüchen und Interessen ihrer Kunden. Spezialisten wie Anton Graff (1736–1813) setzten mit ihren Porträts Standards, die eine gewisse Normierung beinhalteten und Qualität garantierten und daher auch überregional gefragt waren.15 (Abb. 1) Von Pompeo Batoni (1708–1787) ließen sich die wohlhabenden Engländer auf ihrer obligatorischen Grand Tour den Romaufenthalt oft statusbewusst und aufwändig mit italientypischen Versatzstücken „dokumentieren“.16 Angelika Kauffmann (1741– 1807) erregte zunächst auf ihrer Reise durch Italien von Mailand bis Neapel mit ihren ebenso eleganten wie einfühlsamen Porträts Aufsehen, die sich geschickt Wünschen und Vorstellungen unterschiedlicher Auftraggeber anpassten, bevor sie sich in London, der „portrait capitol of the world“17 fünfzehn Jahre lang mit einem gutgehenden Studio neben Joshua Reynolds (1723–1792), Benjamin West (1738–1820) oder Thomas Gainsborough (1727–1788) behaupten konnte.18 Die lebensnahen Pastelle der reisenden Künstlerin Rosalba Carriera (1673–1757) lieferten Anregungen und setzten international Maßstäbe.19 Voll Ähnlichkeit, aber aufs vorteilhafteste ins Bild gesetzt, bestimmte hier die Sprezzatura, die Verbindung von Eleganz und souveräner Lässigkeit, die Darstellungen. Zwar gefallen Denis Diderot im Salon von1776 nur wenige der ausgestellten Porträts, doch die Pastelle von Maurice Quentin de la Tour (1704–1788) faszinieren ihn und er fragt: Aber woran erkennt man, dass es Porträts sind, ohne sich dabei zu irren? Welcher Unterschied besteht zwischen einem der Phantasie entsprungenen Gesicht und einem wirklichen Gesicht? Warum sagt man von einem wirklichkeitsgetreuen Gesicht, dass es gut gezeichnet ist, obgleich der eine Mundwinkel hochgezogen ist und der andere herabhängt, obgleich das eine Auge kleiner ist als das andere und tiefer liegt, obgleich alle Regeln der Zeichenkunst hier in der Stellung, den Längen, der Form und der Proportion der Teile verletzt sind? In den Werken de la Tours liegt die wahre Natur, das heißt das System solcher Abweichungen, wie man sie jeden Tag sieht. Das ist keine Poesie, das ist nur Malerei. […] Dieser Maler hat

14 Müller, F.C., Physiognomisches Cabinet für Freunde und Schüler der Menschenkenntniß, Frankfurt/Leipzig 1777, 3; zu Lavaters Porträtsammlung vgl. Mraz, Gerda/Schlögl, Uwe, Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, Wien 1999, bes. 68–119, 302–389. 15 Zu Graff zuletzt: Kat. Ausst., Anton Graff. Gesichter einer Epoche, Winterthur, Museum Oskar Reinhart/Berlin, Alte Nationalgalerie, München 2013. 16 Bowron, Edgar Peters/Kerber, Peter Björn, Pompeo Batoni. Prince of painters in Eighteenth-Century Rome, New Haven/London 2008. 17 Pointon, Marcia, Portrait-Painting as a Business Enterprise in London in the 1780s, in: Art History Vii, 1982, 187–205, hier 187. 18 Baumgärtel, Bettina (Hg.), Angelika Kauffmann, Ostfildern-Ruit 1999; Rosenthal, Angela, Angelika Kauffmann. Bildnismalerei im 18. Jahrhundert, Berlin 1996. 19 Julien, Albane, Rosalba Carriera: une Vénitienne dans l’Europe des Lumières: entre peinture et écriture (1673–1757), Paris 2019.

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nie etwas aus der Begeisterung heraus geschaffen. Er hat das Genie des Technischen: er ist ein großartiger Mechaniker […].20

Darin steckt keine Abwertung, sondern im Gegenteil Bewunderung. De la Tour kann die konventionellen Regeln der Darstellungen vernachlässigen, weil seine Darstellungen auf der genauesten Beobachtung der Natur beruhen, welche die notwendige Verkettung zwischen den Formabweichungen sichtbar macht.21 Die ‚genaueste Beobachtung der Natur‘ und technisches Geschick konnten jedoch auch täuschend echte Konterfeis liefern. Antoine Benoist (1632–1717) schuf nicht nur das realistische Profilbildnis des achtundsechzigjährigen Ludwig XIV. mit echten Haaren und Bartstoppeln (Abb. 2), sondern ab 1668 auch lebensechte Wachsfiguren von Mitgliedern des Abb. 2: Antoine Benoist, Ludwig XIV, 1706, „Cercle Royal“, die mit königlichem Versailles, Prometheus, Bildarchiv. Privileg öffentlich gezeigt wurden.22 Reisende Künstler stellten Bildnisse prominenter Persönlichkeiten zur Schau. So sah 1786 der schwäbische Komponist Carl Ludwig Junker Wachsfiguren, „die ein reisender Poußirer aussetzte und worunter sich auch der König von Preußen, Voltäre und Lavater befanden.“23 Der Verismus solcher Skulpturen stieß aber zusehends auf Skepsis und Ablehnung, weil man diese als bloße Kopien der Natur betrachtete, die zwar das Erscheinungsbild, nicht aber den lebendigen Charakter der Person wiedergäben. Ihnen fehlt genau das, was die Bildnisse De la Tours für Diderot so faszinie-

20 Zitiert nach: Suthor, Nicola, Denis Diderot: Das Paradox des Porträtmalers, in: R. Preimesberger u. a. (Hg.), Porträt, Berlin 1999, 369–377, hier 370. 21 Ebd., 374; Kofman, Sarah, La ressemblance des portraits L’imitation selon Diderot, in: L’imitation, alienation ou source de liberté? Paris 1985, 215–230. Zu De la Tour: Debrie, Christine/Salmon, Xavier, Maurice Quentin de la Tour. Prince des Pastellistes, Paris 2000. 22 Wellington, Robert, Anthoine Benoist’s wax portraits of Louis XIV, in: Journal 18, Bd. 3: Lifelike, Spring 2017, http://www.journal18.org/1421; Milovanovic, Nicolas, Portraits en Cire de Louis XIV, in: Kat. Ausst., Louis XIV L’homme & le Roi, Milovanovic, Nicolas/Maral, Alexandre (Hg.), Musée national des chateaux de Versailles et de Trianon, Paris 2009, 225–227; Kretzschmar, Marthe, Herrscherbilder aus Wachs. Lebensgroße Porträts politischer Machthaber in der frühen Neuzeit, Berlin 2014, 64–68. 23 Kat. Ausst., Charakterköpfe. Die Bildnisbüste in der Epoche der Aufklärung, Kammel, Frank Matthias (Hg.), Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2013, 80.

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rend machte, nämlich das Verständnis für das zugrundeliegende natürliche System der individuellen Erscheinungsbilder. Sie besaßen also keineswegs eine gesteigerte Lebendigkeit, sondern glichen Toten, was nicht nur Enttäuschung, sondern auch Schaudern provozierte. Eine gewisse lebensnahe Objektivität versprachen auch die Schattenrisse, die sich mit geringem Aufwand herstellen und vervielfältigen ließen. Selbst für Laien war mit etwas Geschick die Ausführung solcher Silhouetten relativ leicht zu bewerkstelligen. Für die präzise Ausführung gab es Anleitungsbücher und Hilfsmittel, wie etwa den Silhouettierstuhl, der eine genaue Positionierung des Darzustellenden ermöglichte.24 Silhouetten ließen sich leicht weitergeben, verschenken und in Briefen verschicken. So konnte man Interesse für bestimmte Personen wecken oder Neugierde befriedigen, ohne dass man einander tatsächlich gesehen hätte.25 „Gut gezeichnete Silhouetten“ machen, behauptet Müller in seinem physio­ gnomischen Anleitungsbüchlein, „auf das gemeine und ungeübte physiognomische Gefühl einen stärkeren Eindruck […] als das beste gemahlte Portät. – Man siehet gleichsam die Seele auf der charakteristischen Profillinie auf und abschweben.“26

Abb. 3a: Goethe, aus: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Leipzig/Winterthur 1775, I, 223.

Abb. 3b: Charlotte von Stein, aus: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Leipzig/Winterthur 1777, III, 314, 2.

24 Als Erfinder gilt, laut Bräuning-Oktavio, Herman, Silhouetten aus der Wertherzeit – Aus dem Nachlaß von Johann Heinrich Voß und Carl Schuberts Silhouettenbuch, Darmstadt 1926, 47, der Gießener Rechtsgelehrte und spätere Richter am Oberappellationsgericht Darmstadt, Ludwig Julius Friedrich Hoepfner. 25 Ohage, August, „mein und meines Bruders Lavaters Phisiognomischer Glaube“, in: Kat. Ausst., Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Klassik, Schuster, Gerhard/Gille, Caroline (Hg.), Weimar, Goethe-Nationalmuseum, München/Wien 1999, 127–135; Kat. Ausst., SchattenRisse. Silhouetten und Cutouts, Ackermann, Marion (Hg.), München, Lenbachhaus, Ostfildern 2001. 26 Müller, Über die Silhouetten, 25.

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Johann Georg Zimmermann (1728–1795), der 1772 ohne Wissen Lavaters dessen 1770 in Zürich gehaltene Vorlesung unter dem Titel Von der Physiognomik im Hannoverschen Magazin publiziert hatte,27 schickte Charlotte von Stein (1742–1827), die er 1773 in Pyrmont kennengelernt hatte, am 19. Januar 1775 eine Silhouette Goethes, dessen Werther sie mit großer Anteilnahme gelesen hatte. (Abb. 3a) Im Oktober des Jahres zeigte er Goethe in Straßburg unter anderem eine Silhouette der Frau von Stein (Abb. 3b), der unter diese Folgendes schrieb: „Es wäre ein herrliches Schauspiel zu sehen, wie die Welt sich in dieser Seele spiegelt. Sie sieht die Welt, wie sie ist, und doch durch’s Medium der Liebe. So ist auch Sanftheit der allgemeinere Eindruck.“28 Silhouetten und ihre einfühlende Ausdeutung waren also schon ein beliebtes „Gesellschaftsspiel“, bevor Lavater seine Physiognomischen Fragmente publizierte.29 Die Anlage der Bände lässt dies deutlich erkennen, denn neben den kurzen Fragmenten zu verschiedenen Themen und den bekannten Tafeln mit Silhouetten und einzelnen Details, sowie Reproduktionen verschiedener Kunstwerke, die Lavaters physiognomisches Interesse geweckt hatten, gab es auch Fragen und Übungen, die den Lesern das eigenständige physiognomische Sehen und Verstehen nahebringen sollten. Auch begannen die Leser sofort mit dem Versuch, die Namen der oft anonym abgebildeten Schatten zu erraten. In der Tat scheint das ein nicht unwichtiger Aspekt des Erfolgs der Physio­ gnomischen Fragmente gewesen zu sein, denn es gibt eine ganze Reihe von Belegen, dass man versuchte, abgebildete Silhouetten zu identifizieren, oder nach Bekannten suchte. Nicht immer mit Erfolg: „Wo ist Göthe“, fragt etwa Johann Georg Hamann (1730–1788) im August 1775 Johann Gottfried Herder (1744– 1803) und merkt an, dass er auch dessen Bildnis nicht gefunden habe,30 was nicht verwundert, denn Herders Konterfei findet sich erst im zweiten Band der Physiognomischen Fragmente. (Abb. 4b) Kurios ist die Erzählung des Theologiestudenten Johann Georg Müller, der im Herbst 1785, offenbar gründlich vorbereitet, Herder besuchte und zunächst etwas bänglich war. Doch dann öffnet Herder ihm die Tür „[v]oll Huld und Milde, lächelnd wie ein Frühlingsmorgen! Weg wie ein Blitz alle Silhouette, Kupferstiche Beschreibungen u. dergl.“ Als Herder nach einer Zeit ankündigte, er wolle seine Frau holen, war dies Müller nicht so ganz recht, denn, so berichtet er:

27 Lavater, Johann Caspar, Von der Physiognomik, in: Ders., Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Bd. IV: Werke 1771–1772, hg. v. U. Caflisch-Schnetzler, Zürich 2009, 515–708. 28 Kat. Ausst., Wiederholte Spiegelungen, 146. 29 Ohage, August, Von Lessings „Wust“ zu einer Wissenschaftsgeschichte der Physiognomik im 18. Jahrhundert, in: Lessing Jahrbuch 21, München 1989, 55–87; Clairmont, Heinrich, … Un Tableau Vivant. Herders physiologisch fundierte Psychologie, Lavater Physiognomik und ein Disput in der Berliner Akademie der Wissenschaften, in: Herder Jahrbuch Herder Yearbook 1996, Stuttgart 1996, 57–79. 30 Kat. Ausst., Wiederholte Spiegelungen, 140.

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Ich hatte ihre Silhouette in der Physiognomik gesehen und eben kein gutes Omen daraus gezogen. Ich hielt sie für sehr gelehrt und ihre Gelehrsamkeit fühlend. […] Endlich kam er wieder, und bald hinter ihm sie – oh, das ist nun ein gar herrlicher, freundlicher Engel! Sie schwebte daher, leicht und sanft und so milde […].31 (Abb. 4a)

Abb. 4a: Caroline Herder, aus: Johann Caspar Lavater, Physiognomische ­Fragmente, Leipzig/ Winterthur 1775, I, 194, 4.

Abb. 4b: Johann Gottfried Herder, aus: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Leipzig/­ Winterthur, 1776, II, 102.

Natürlich boten auch gemalte Bildnisse Gelegenheit, vom Erscheinungsbild auf den Charakter zu schließen. Gleim schildert Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) die Ankunft von dessen Porträt: Meine Leute hielten mich ganz gewiss für halb närrisch, so sehr war ich für Vergnügen außer mich! […] Aller Pöbel, der sie [Ramler] sieht, sagt: der muss recht schön seyn. Ein Jude, den ich für den klügsten Mann in Halberstadt halte, sagte: Sie müßten sehr viel Verstand haben, und sehr viel Ehrlichkeit […] Hätte ich Zeit, so wollte ich Ihnen sagen, was man über alle Köpfe für Urteile gefällt hat. Ich habe dabey angemerckt, daß die Lineamente der Gesichter, keine üblen Verräther, der Caratere der Menschen sind, und die einfältigsten Leute, sind, dünckt mich die besten Physiognomisten.32

Freundschaftsgalerien wie die von Gleim geben ein Musterbeispiel von dem Umgang mit Porträts. Sie ersetzten den abwesenden Freund oder die abwesende Freundin und ermöglichten ein Zwiegespräch. „Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, selbst wenn es unähnlich ist, hat etwas Reizendes“, lässt Goethe

31 Kat. Ausst., Johann Gottfried Herder. Ahndung künftiger Bestimmung. Weimar, Kunsthalle am Theaterplatz/Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Weimar 1994, 136f. 32 Larcher, Von Mensch zu Mensch, 31.

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Ottilie in den Wahlverwandtschaften in ihr Tagebuch notieren und spricht damit zugleich ein zentrales Problem der Porträtkunst an,33 die Ähnlichkeit, über die bei Maler oder Malerin, dargestellter und betrachtender Person selten Einigkeit erzielt wurde. Barbara Rosina de Gascs (1713–1783) Bildnis des Dichters Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) in der Gleimschen Sammlung galt als „das einzige […], in welchem er getroffen ist“,34 so Johann Bernoulli nach einem Besuch in Halberstadt 1778. (Abb. 5) Das Gemälde zeigt jedoch große Nähe zu dem Stich von Johann David Schleuen d. Ä. (1711–1774), der 1770 in Band XII der von Friedrich Nicolai (1733–1811) herausgegebenen Allgemeinen deutschen Bibliothek erschien,35 (Abb. 6) für das sich Nicolai ausdrücklich bei Lessing entschuldigte: Nun muss ich vor Sie treten und ein wenig die Ohren hängen lassen, […] Man hat mir zwar sagen wollen, der Kupferstich wäre nach einem Bildnisse, das Ihr Hr. Vater in Camenz besitzet gemacht; das kann aber nicht sein, denn der würde doch ein Bildnis haben, das Ihnen ähnlicher sähe.36

Abb. 5: Anna Rosina de Gasc, zugeschr., Gotthold Ephraim Lessing, 1767/68, Halberstadt, Gleimhaus, aus: Ausst.-Kat. Christoph Friedrich Reinhold L ­ isiewsky (1725–1794), Kulturstiftung Dessau-­ Wörlitz, und Staatliches Museum Schwerin, Schwerin 2010. 33 Goethe, Johann Wolfgang, Die Wahlverwandtschaften, in: Ders., Epoche der Wahlverwandtschaften 1807–1814, hg. v. H. Becker u. a., (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe 9), München 1987, 284–529, hier 410. 34 Barbara Rosina de Gasc, zugeschr., Gotthold Ephraim Lessing, 1767/68, Halberstadt, Gleimhaus; Bernoulli, Johann, Sammlung kurzer Reisebeschreibungen und anderer zur Erweiterung der Länder- und Menschenkenntniß dienender Nachrichten, Bd. 3, Bern 1781, 146; Ausführlich zu dem Gemälde Scholke, Horst, Der Freundschaftstempel im Gleimhaus Halberstadt, Leipzig 2000, 137–140. Die Zuschreibung des (zuvor Georg Oswald May zugeschriebenen) Gemäldes an de Gasc geht auf Helmut Börsch-Supan zurück, der als Datierung „um 1770“ angibt; vgl. Kat. Ausst., Christoph Friedrich Reinhold Lisiewsky (1725–1794). 22f, Nr. A10. 35 Nicolai, Friedrich (Hg.), Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. XII, Berlin, Stettin 1770, Frontispiz. 36 Zitiert nach: Kat. Ausst., „Doch wer ihn kennt, erkennt ihn im Bilde“. Lessing im Porträt, Siwczyk, Birka, Halberstadt, Gleimhaus, Kamenz 2012, 27.

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Abb. 6: Johann David Schleuen d. Ä., Gotthold Ephraim Lessing, Kupferstich, Wolfenbüttel aus: Birka Siwczyk: „Doch wer ihn kennt, erkennt ihn im Bilde“. Lessing im Porträt. Ausst.-Kat. Halberstadt, Gleimhaus, Kamenz 2012.

Lessing selbst notierte in Wolfenbüttel unter den Schleunschen Stich: „Mich mahlte Simon Klecks so schön, so meisterlich, / das aller Welt, so gut als mir, das Bildnis glich.“37 Johann Friedrich August Tischbeins 1795/96 entstandene Herder-Porträts geben ein gutes Beispiel dafür, wie unterschiedlich ein und dasselbe Porträt in unterschiedlicher ‚Aufmachung‘ wirken kann und wie ambivalent die Frage der Ähnlichkeit von Maler, Modell und Betrachtern entschieden wurde.38 Das im Auftrag des Nürnberger Kunsthändlers Johann Friedrich Frauenholz entstandene Gemälde zeigt Herder in Dreiviertelfigur.39 (Abb. 7) Den linken Arm stützt er auf einen Tisch und hat die Hand leicht ans Gesicht gelegt. Die schräg von links ansteigende Kontur und der schwarze Ornat verleihen dem Bild Wucht und Dynamik, als habe Tischbein hier eine etwas abgemilderte Version von Joshua Reynolds Laurence SternePorträt im Sinn gehabt.40 (Abb. 8) Christoph Martin Wieland (1733–1813) kommentierte die Darstellung, man erkenne es „recht lebhaft, dass Herder dazu gemacht ist, um der Erzpriester des menschlichen Geschlechts zu sein“.41 Exakt dieselbe Porträtaufnahme nutzte Tischbein für ein zweites, für die Sammlung Gleims bestimmtes, Porträt Herders, das die-

37 Wolfenbüttel, Handschriftensammlung Hs. Less. XXXVI. Das Epigramm orthographisch leicht variiert, in: Lessing, Gotthold Ephraim, Werke, Bd. 1, hg. v. G. Göpfert, München 1970, 36f. 38 Zu Johann Friedrich August Tischbein vgl. Franke, Martin, Johann Friedrich August Tischbein. Leben und Werk (Deutsche Hochschulschriften 698), Engelsbach 1993. 39 Johann Friedrich August Tischbein, Johann Gottfried Herder, 1795, SHD Fürst zu Schaumburg Lippe, Bückeburg. Kat. Ausst., Herder 126–129, Nr. 74. 40 Joshua Reynolds, Laurence Sterne, London 1760, National Portrait Gallery; Postle, Martin, Sir ­Joshua Reynolds. A complete catalogue of his Paintings, New Haven 2000, Bd. 1, 435, Bd. 2, Abb. 515; Kat. Ausst., Joshua Reynolds. The creation of celebrity, Postle, Martin/Hallet, Mark, London, Tate Gallery 2005,144f, Nr. 33. Von dem Gemälde existiert eine Mezzotinto-Radierung: von Edward Fisher aus dem Jahr 1761. 41 Kat. Ausst., Herder 129.

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Abb. 7: Johann Friedrich August Tischbein, Johann Gottfried Herder, 1795, ­Bückeburg Fürst zu Schaumburg-Lippe, aus: Ausst.-Kat. Johann Gottfried Herder. Ahndung künftiger Bestimmung. Weimar, Kunsthalle am Theaterplatz/Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Weimar 1994.

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Abb. 8: Joshua Reynolds, Laurence S­ terne, London, National Portrait Gallery, aus: Ausst.-Kat. The Creation of Celebrity, Tate Gallery 2005.

sen nun im Brustbild im graublauen Rock und elegant aufgedrehtem Jabot ­zeigt.42 (Abb. 9) Der dynamische geistliche Denker hat sich nun in einen etwas müde zum Betrachter blickenden, behäbigen Bürger verwandelt. Herder war mit diesem „schläfrige[n], mattherzige[n] Herrn“43 keineswegs zufrieden. Frau­nhofer bot jedoch nicht etwa das imponierende Konterfei des Geistlichen in seiner Kunsthandlung an, sondern einen der Punktierstich Carl Hermann Pfeiffers, der das Brustbild zum Dreiviertelporträt des sitzenden Herders erweiterte. Die vor dem beachtlichen Bauch im Schoß ineinandergelegten Hände verstärken noch den etwas bräsigen Gesamteindruck. Caroline Herder (1750–1809), die sich ganz aufgebracht über Tischbein äußerte, schimpfte gehässig, er habe sich „an den Porträts meines Mannes […] gröblich und gröblich versündigt. […]. Er ist ein Künstler für die reichen Leute, die nicht wissen, wo mit dem Geld hin. […] Je unbedeu-

42 Johann Friedrich August Tischbein, Johann Gottfried Herder, 1796, Rückseitig bezeichnet: J. Gottfr. Herder gem: von Tischbein für Gleim 1796, Weimar, Goethe-Nationalmuseum. 43 Herder an Gleim 25.06.1800, zitiert nach Kat. Ausst., Anton Graff, 238.

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tender das Gesicht ist, je besser trifft ers.“44 Herder schickte Gleim 1800 ein schon 1785 gemaltes Herder-Porträt Anton Graffs, von dem der Dargestellte allerdings etwas unzufrieden meinte, es gliche einem italienischen Abbé. Auch Friedrich Schiller fand, „dass in dem Gemälde zu viel leichte Freundlichkeit, in seinem Gesicht mehr Ernst sei.“45 Sehr viel besser gefiel Caroline Herder die Kreidezeichnung Friedrich Burys (1763–1823).46 (Abb. 10) „Mein Mann ist von Bury aus Rom, der seit einiger Zeit hier ist, gezeichnet oder vielmehr mit Bleistift gemalt, ganz vortrefflich, ein wahres Charakterbild. […]. Das ist ein lieber NaturAbb. 9: Johann Friedrich August Tischbein, mensch und praktischer Künstler, Johann Gottfried Herder, 1796, Weimar, dieser Bury!“47 Schaut man sich allerGoethe-Nationalmuseum, aus: Ausst.-Kat. ding die Burysche Zeichnung genauer Johann Gottfried Herder. Ahndung künftiger an, so nimmt sie in Kleidung, HalBestimmung. Weimar, Kunsthalle am Theatung, Kopfwendung und Haaren terplatz/Berlin, Staatliche Museen Preußidurchaus Elemente des Tischbeinscher Kulturbesitz, Weimar 1994. Gemäldes auf. Allerdings wirkt der Körper massiger; die zum Betrachter gewendete Schulterlinie erscheint weniger abfallend und das aufgestellte Buch, auf dem die rechte Hand liegt, verbreitert die Figur, so dass sie den gesamten unteren Bildrand einnimmt. Vor allem aber verwandelt Bury die weichen, etwas fülligen Gesichtszüge des Gemäldes in eine mit starken Licht- und Schatteneffekten durchmodellierte ‚Skulptur‘, ein Eindruck, den die scharf konturierte Rundung der Stirn verstärkt. Mund und Augen sind deutlich idealisiert. Was Caroline Herder gefällt, ist also keineswegs die größere Naturnähe, sondern das in ihren Augen

44 Caroline Herder an Gleim 8.2.1796, in: J.G. Herder, Briefe. Gesamtausgabe Bd. 7, hg. v. K.-H. Hahn, Weimar 1982, 211f. 45 Kat. Ausst., Herder, 123; Kat. Ausst., Anton Graff, 238f, Nr. 83. 46 Friedrich Bury, Johann Gottfried Herder, 1799, Frankfurt, Freies Deutsches Hochstift, GoetheMuseum; zu Bury vgl. Kat. Ausst., Der Maler Friedrich Bury (1763–1823). Goethes „zweiter Fritz“, Weimar, Schiller-Museum/Hanau, Historisches Museum Schloss Philippsruhe, Berlin 2013, 113, 203. Abb. 94, Werkverzeichnis Gr83. 47 Caroline Herder an Karl Ludwig von Knebel, 20.12.1799, in: Herder, Briefe, Bd. 8, Weimar 1984, 423.

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überzeugendere Charakterbild eines ‚heroischen‘ Gelehrten.48 Auch Müller beschäftigte die Frage, was Ähnlichkeit eigentlich ausmache, und er zählt in seinem Anleitungsbuch eine ganze Reihe von Hilfsmitteln zur Gewinnung einer objektiven Darstellung auf, vom Pantographen über die Camera Obscura zur durchsichtigen Glastafel.49 Doch wirklich aussagekräftig erscheinen ihm nur die Schattenrisse und er macht eine bemerkenswerte Unterscheidung: „Silhouetten sind also der vollkommenste Abdruck eines Gesichts, sie liefern nicht allein die Porträtähnlichkeit, sondern auch die physiognomische.“50 Lavater war sich der Problematik solcher „Porträt-Inszenierungen“ im Abb. 10: Friedrich Bury, Johann Gottfried Hinblick auf die Verlässlichkeit eines Herder, 1799, Frankfurt, Freies Deutsches Bildnisses wohl bewusst und verHochstift, Goethe-Museum, aus: Ausst.-Kat. suchte, zu einer verlässlichen Deutung Johann Gottfried Herder. Ahndung künftiger von Personen bzw. von deren BildnisBestimmung. Weimar, Kunsthalle am Theasen zu gelangen. Allerdings fordert er terplatz/Berlin, Staatliche Museen Preußivon dem Porträtmaler eben nicht die scher Kulturbesitz, Weimar 1994. ‚kalte Objektivität‘, die Diderot von ihm verlangte,51 sondern Ehrfurcht und Liebe für den göttlichen Schöpfer. Lavater kann sich mit seiner Physiognomik auf eine, bis Aristoteles zurückreichende Tradition berufen, nach der das Äußere eines Menschen etwas von seiner charakterlichen Verfassung verrate, und zwar nicht nur auf Grund subjektiver Annahmen, sondern auf Grund objektiver Gegebenheiten.52 Bekanntlich stand Lavater mit diesen Überlegungen nicht allein; das 18. Jahrhundert bietet mit der beginnenden Auflösung der starren Regeln der Etikette eine Fülle von Überlegungen zur „Menschenkunde“.

48 Herder selbst hat sich offenbar sehr genau mit dem „Image“, das seine Bildnisse transportierten, befasst; vgl seine Äußerungen zu den Büsten von Alexander Trippel von 1790 in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek und im Goethehaus in Weimar, Kat. Ausst., Herder 121f, Nr. 69. 49 Müller, Über Silhouetten, 10. 50 Ebd., 21. 51 Vgl. Suthor, Diderot 370. 52 Vgl. Suthor, Nicola, Johann Kaspar Lavater. Die Vermessenheit des Physiognomen, in: Preimesberger, Porträt, 378–390.

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[…] aufgrund der vermeintlich simplen Praktikabilität der vorgeschlagenen Verfahren traf Lavaters Werk den Nerv seiner Zeit, die auf Suche nach Garanten der Wahrheit und der Identität des Individuums war. Seine Ansichten und Anweisungen kamen der damals neu entfachten Aufmerksamkeit entgegen, die man der Wahrnehmbarkeit des Subjekts, der Erkenntnis der Persönlichkeit widmete.53

Christian Wolff (1679–1754) etwa behandelt 1720 im vierten Kapitel des ersten Teils seiner Vernünftigen Gedancken von der Menschen Thun und Lassen zur Beförderung ihrer Glückseeligkeit die „Kunst die Gemüther zu erkennen“. Dabei spricht er zunächst von den Affekten, dann aber auch von der Physiognomie, deren Begründung er auf die Korrespondenz von Leib und Seele zurückführt: Wir wissen ferner, daß nichts in der Seele vorgehet, dem nicht zugleich eine Veränderung im Leibe zuträffe, absonderlich aber keine Begierden in der Seele hervorkommen, auch kein Wollen in ihr entstehet, wo nicht zugleich eine ihnen gemässe Bewegung in dem Leibe zu gleicher Zeit erfolget. […] der Leib muß etwas in sich haben, sowohl in seiner Gestalt, als in der Gestalt seiner Theile, daraus man die Beschaffenheit des Gemüthes von Natur abnehmen kann. Ich sage mit Fleiß von Natur: denn hier ist nicht die Rede von dem, was durch die Auferziehung, den Umgang mit andern, guten Unterricht etc. kömmet […] Solchergestalt hat die Kunst der Menschen Gemüther aus der Gestalt der Gliedmaßen und des gantzen Leibes zu erkennen (welche man die Physiognomie zu nennen pfleget) wohl einen richtigen Grund,

um allerdings gleich einzuschränken, dass bislang keine überzeugenden Ergebnisse dieser Kunst vorlägen.54 Lavater versammelt im ersten Band der Physiognomischen Fragmente eine ganze Reihe von Gewährsleuten für die Autorität der Physiognomik und bezieht sich auch auf diese Passage Wolffs. In dem Absatz davor zitiert er Johann Georg Sulzer (1720–1779), den Autor der soeben erschienenen Allgemeinen Theorie der Schönen Künste: Wie unbegründet den meisten Menschen die Physiognomik oder die Wissenschaft aus dem Gesicht und der Gestalt des Menschen seinen Charakter zu erkennen, vorkommen mag; so ist doch nichts gewissers, als daß jeder aufmerksame und nur einigermaßen fühlende Mensch, etwas von dieser Wissenschaft besizt; indem er aus dem Gesicht und der übrigen Gestalt des Menschen etwas von ihrem in demselben Augenblick vorhandenen Gemüthszustand mit Gewißheit erkennt. […] Nichts ist also gewisser, als dieses, daß wir aus der Gestalt der Menschen, vorzüglich aus ihrer Gesichtsbildung etwas von dem erkennen, was

53 Kammel, Charakterköpfe, 38. 54 Wolff, Christian, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen: zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, in: Ders., Gesammelte Werke Abteilung 1: Deutsche Schriften, Bd. 4, Hildesheim/New York 1976, 213.

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in ihrer Seele vorgeht; […] Aus diesem Grund können wir sagen, der Köper sey das Bild der Seele, oder die Seele selbst, sichtbar gemacht.55

Was Sulzer hier erläutert, gehört jedoch eher ins Bild der Pathognomik und entspricht keineswegs Lavaters Vorstellung der in den „festen Teilen“ des Körpers unveränderlich eingeprägten Charaktermerkmale. Lavater definiert ein „vollkommenes Porträt […] als eine runde Menschengestalt, so auf eine Fläche gebracht, wie sie in einer dem Menschen natürlichsten Situation bey hellem Lichte von außen in der Camera obskura erscheint.“56 Zugespitzt könnte man sagen, Lavaters Idealbildnis entspräche einem Steckbrieffoto, das die Gesichtszüge vollkommen neutral, in Ruhe, ohne störende Mimik präsentiert. Roland Meyer hat daher 2018 Lavaters Physiognomische Fragmente an den Anfang seiner Untersuchung über „operative Porträts“ gestellt, also über Bildnisse, die nicht an dem individuellen, unverwechselbaren Subjekt interessiert sind, sondern den Einzelfall in einer Reihe nach objektiven, allgemeingültigen Regeln erfassten Gesichtern betrachten. Operative Porträts suchen nicht lebendige Ähnlichkeit, sondern Differenz zu anderen Bildnissen; sie existieren daher stets im Plural.57 Konsequenterweise erlauben nur Bilder, nicht lebende Personen, das eingehende Studium der Physiognomie. Diese ermöglichen „Distanznahme“, also den von keiner subjektiven Regung getrübten Blick.58 An diesem Punkt scheint sich die eingangs genannte These Boehms, dass die lavatersche Physiognomik und die Porträtmalerei des 18. Jahrhundert grundsätzlich widersprächen, zu bewahrheiten. Doch gibt es durchaus Gemeinsamkeiten. Auch für Sulzer erlaubt das Porträt im Idealfall eine komplexere Aussage über die Charaktereigenschaften als das bloße Anschauen der Person in einem zufälligen Moment: „weil hier nichts beständig, sondern schnell vorübergehend und abwechselnd ist.“59 Allerdings steht Lavaters fast mystische Erlebnisse heraufbeschwörende Beschreibung von dem idealen Moment, in dem man eine Person porträtieren sollte, in einem eigenartigen Kontrast zu dem von ihm propagierten CameraObscura-Bildnis: Jn den stillsten, ruhigsten, seligsten Augenblicken dieses — nur aufkeimenden Mühevollen Lebens in dieser Dämmerung? Jn jenen Augenblicken, die sich nicht herrufen, nicht

55 Sulzer, Johann Georg, Porträt, in: Ders. Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. II, Leipzig 1774, 918–921, hier 918; Die Passage zitiert bei Lavater, Physiognomische Fragmente I, 28. 56 Lavater, Physiognomische Fragmente II, 78–84: Neuntes Fragment Ueber die Portätmahlerey. Vgl auch Physiognomische Fragmente IV, 465, wo Lavater zumindest zum Vergleich den Gebrauch der Camera obscura empfiehlt. 57 Meyer, Roland, Operative Porträts. Eine Bildergeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook, Göttingen, Konstanz 2019, 22. 58 Ebd., 50. 59 Sulzer, Allgemeine Theorie II, 919.

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erzwingen, mit nichts erkaufen lassen, die gegeben werden vom Vater des Lichtes, nicht aus der Erde herauf, herab vom Himmel kommen? […] Jn solchen Augenblicken — sollte man Menschen zeichnen und über den Menschen schreiben.60

Auch in Müllers Anleitungsbüchlein erfordert es höchste Kennerschaft, diesen richtigen Augenblick zu treffen: Nun besteht die ganze Kunst physiognomische Bildnisse zu zeichnen, blos darinnen, daß man das Original höchstcorrekt, mit äußerst möglichem Fleiße abbildet, keinen einzigen charakteristischen Zug vergisset, und diese Abbildung alsdann vornimmt, wenn aller Physiognomieausdruck gleichsam auf einen Punkt concentrirt ist, wenn keine unangenehme Leidenschaften die Stirne furchen, die Wangen falten, und die Augen trüben, sondern wenn die gewöhnliche ruhige Physiognomie, so zu sagen fixirt ist, und in keinen andern minder gewöhnlichen Ausdruck nüanciret. – Denn so lange es eine unwidersprechliche Wahrheit bleibt, dass der ruhigen Physiognomierton eines jeden Menschen mit seinem Charakter harmoniret, und von dem gemeinen physiognomischen Sinn zugleich mit dem Anblick jenes, wo nicht gewiß erkannt, doch geahndet, und von dem geübten Physiognomen mit Zuverlässigkeit daraus erschlossen wird, so lange werden auch die Bildnisse mit recht den Namen physiognomische Bildnisse behaupten, die die Natur auf das correkteste und in dem ausgewählten Zeitpunkte darstellen.61

In der Realität gestaltete man jedoch die Porträtsitzungen sehr viel pragmatischer, um eine ungezwungene, kommunikative Situation herzustellen, die sich im Idealfall im Porträt widerspiegeln sollte. So wissen wir, dass Karl Christian Kehrer (1755–1833) für die Porträtsitzungen mit Gleim Gesellschafter hinzu bat, „um dem allenfalls durch das Sitzen entstehenden Zwang zu begegnen“.62 Erwünscht war ein offener, kommunikativer Ausdruck, der eben das Zwiegespräch ermöglichte, das die Ottilie der Wahlverwandtschaften in ihrem Tagebuch beschreibt. Das formelhafte Standesporträt hatte ausgedient: „Denn“, so spitzt Justus Möser 1763 im Hannoverschen Magazin seine Kritik polemisch zu, der Ausdruck des Körpers […] fällt in unsern Porträts fast ganz weg. Das Frauenzimmer sitzet in einer Schnürbrust eingemauert, und der Ausdruck eines solchen Anzuges ist in allen Leidenschaften gewiß einerley. So waren vordem die Helden zur Bequemlichkeit der Mahler gepanzert; und die Gelehrten in Gewänder verhüllet. Führet man nun diese monotonischen Stellungen [durch Attribute etc.] noch weiter […]: so ist der ganze Ausdruck des Körpers ein für allemal verloren, und dergestalt gleichförmig, daß man ihn auch hinzuden-

60 Lavater, Physiognomische Fragmente II, 2–4. 61 Müller, Über die Silhouetten, 5f. 62 Larcher, Von Mensch zu Mensch, 36.

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ken kann […] welcher Umstand denn auch die Ursache ist, warum viele Mahler bloß die Köpfe gemahlet, und die Rümpfe […] ihren Schülern überlassen haben. […].63

Auch Müller betont in seinem Bändchen über die Silhouetten: Man verlangt Physiognomieausdruck und nicht bloß Larve. Man verabscheut die gezwungene Mine, den tanzmeisterlichen Anstand, und den abgeschmackten Prunk, der sonst der gemeine Leisten aller Porträte war, und fordert vom Künstler nur simple Natur, ohne alle Affektation, blos mit Wahrheit und Zierlichkeit nachgebildet.64

Sulzer warnt außerdem, dass die Opulenz der Kleidung vom Wesentlichen, nämlich vom Gesicht, ablenken könnte: Daß weder in der Kleidung, noch in den Nebensachen irgend etwas soll angebracht werden, wodurch das Aug vorzüglich könnte gereizt werden, versteht sich von selbst. Gegen das Gesichte muß im Portrait gar nichts aufkommen, dieses ist das Einzige, das die Aufmerksamkeit an sich ziehen muß. […] Die französischen Mahler, die insgemein sehr viel Geschiklichkeit in natürlicher Darstellung der Gewänder haben, thun doch eben dadurch, daß sie dieselben entweder zu hell halten, oder einen kühnen mahlerischen Wurf darin suchen, den Portraiten Schaden. Jch gestehe, daß ich kaum ein Portrait von dem mit Recht berühmten Rigaud gesehen, wo mir nicht seine Bekleidung, so schön sie in andern Absichten seyn mag, anstößig gewesen. Man ist gezwungen ihr einen beträchtlichen Theil der Aufmerksamkeit zu wiedmen.65 (Abb. 11)

Abb. 11: Hyazinthe Rigaud, Graf Philipp Ludwig Wenzel, Sinzendorf, Wien, Kunsthistorisches Museum, prometheus, Bildarchiv.

Sulzer fordert hier eine strikte Absage an das repräsentative Standespor­trät, für das Hyacinthe Rigaud (1659– 1743) das an den europäischen Höfen gültige Modell entwickelt hatte. Das Erscheinungsbild der Dargestellten ist

63 Möser, Justus, Zehnter Auszug aus dem Schreiben eines Freundes, in: Hannoversches Magazin, Bd. 1, 1763, 1169–1176, hier 1175f. 64 Müller, Über die Silhouetten 5. 65 Sulzer, Allgemeine Theorie II, 920f.

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genau erfasst und möglichst vorteilhaft und erhält durch die malerisch virtuos erfasste Stofflichkeit der Kleidung effektvolle Unterstützung. Oft verdeutlichte ein „Apparat“ aus der Person bezeichnenden Attributen, Säulen und schwungvollen Draperien den Status der Dargestellten und erhob sie über die Alltagsrealität.66 Wenn sich nun alle Aufmerksamkeit auf das Gesicht richtet, muss, so Sulzer, der Porträtmaler oder die -malerin „Dinge, die andere Menschen kaum dunkel fühlen, wenigstens in einem ziemlichen Grade der Klarheit sich vorstellen; da er sie im Gemählde nachahmen muß, kein Mensch aber das nachahmen kann, was er sich nicht klar vorstellt“.67 Auch muss der Künstler zwischen zufälligen und charakteristischen Elementen unterscheiden können, doch wo Lavater die Lösung in der Reduktion auf die Silhouette sieht, fordert Sulzer künstlerische Intuition: Alle Künstler von einigem Genie versichern, daß sie bisweilen eine außerordentliche Würksamkeit der Seele fühlen, bey welcher die Arbeit ungemein leicht wird; […] Dies ist ohne Zweifel das, was man die Begeisterung nennt. […] Der begeistere Mahler findet das Bild, das er gesucht hat, vor seine Stirn gemalht, und in der größten Kraft, er darf nur nachzeichnen; selbst seine Hand scheinet von einer außerordentlichen Kunst geleitet und mit jeder Bewegung der Finger bekommt das Werk einen neuen grad des Lebens,

heißt es unter dem Stichwort „Begeisterung“68 und entsprechend muss „der Porträtmaler […] beurtheilen können, was jeder Physiognomie natürlich, und so zu sagen, innwohnend, und was vorübergehend, und etwas gezwungen ist.“69 Die Porträtmalerei erfordert also eine ganz besondere Hellsichtigkeit des Künstlers und so beklagt der Wiener Jurist Joseph von Sonnenfels 1768 in seiner Schrift Von dem Verdienste des Portraitmalers, dass diese Gattung so gering geschätzt werde.70 Er führt dies auf die Maler zurück, die sich mit der oberflächlichen Kopie der Gesichtszüge begnügten.71 Dem imaginierten Gesprächspartner oder der Gesprächspartnerin, der oder die einwendet, dass es doch gerade um Ähnlichkeit ginge, erwidert Sonnenfels: wenn Sie nichts weiter zu wünschen haben, als das Vergnügen, Ihr Gesicht mit Selbstbey­ falle zu besehen; so treten Sie vor ihren Spiegel; er kann es Ihnen alle Augenblicke gewähren? Oder warum wollen Sie nicht lieber sich durch eine Kamera obskura malen lassen? Ein Bild auf diese Weise verfertiget, ist wenigstens genau ähnlicher, als die Arbeit ihres Malers.72

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Perreau, Stéphan, Hyacinthe Rigaud (1659–1743); Le peintre des rois, Montpellier 2004. Sulzer, Allgemeine Theorie II, 919f. Ebd., 136f. Sulzer, Allgemeine Theorie II, 920. Sonnenfels, Josef von, Von dem Verdienste des Portraitmalers, Wien 1768. Ebd., 15f. Ebd., 26.

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An einen guten Porträtmaler oder -malerin werden hohe Anforderungen gestellt; nur mit Scharfsinn, Geschmack und Urteilsfähigkeit kann er oder sie entscheiden, wie die Akzente richtig zu setzen sind. Das heißt eigentlich eine gelehrte Aenhlichkeit, wann der Künstler die individuelle Schönheit der Idealen am nächsten zu bringen, seinen Köpfen einen sanften Umriß, ein reizendes Verhältnis der Theile, eine geschmackvolle Wendung, eine anständige Würde zu geben; aber dabey immer seinem Gegenstande getreu, […] mit einem Worte, wenn er die Wahrheit nach ihrer besten und reizendsten Wirkung zu ordnen weiß.73

Möser stellte sich vor, dass der Maler alle Facetten einer Person erfassen müsse, also, so sein Beispiel, den General als General und zugleich den General als Privatmann. „Denn ich will nicht diese oder jene Contenance in einem einzelnen Falle, sondern sein allgemeines Gesicht“.74 Dass das auch eine gewisse Überforderung darstellt, liegt auf der Hand und so lässt Goethes Ottilie in ihr Tagebuch notieren: Man ist niemals mit einem Porträt zufrieden von Personen, die man kennt. Deswegen habe ich die Porträtmaler immer bedauert. Man verlangt so selten von den Leuten das unmögliche, und gerade von diesen fordert man’s. Sie sollen einem jeden sein Verhältnis zu den Personen, seine Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen; sie sollen nicht bloß darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie Jede ihn fassen würde. Es nimmt mich nicht wunder, wenn solche Künstler nach und nach verstockt, gleichgültig und eigensinnig werden.75

Auch Sulzer räumt durchaus die Notwendigkeit ein, im Porträt die vorteilhaften Seiten hervorzuheben: Man empfiehlt dem Mahler, und die meisten lassen es sich nur allzusehr angelegen seyn, den Personen in Zeichnung und Farbe etwas zu schmeicheln, das ist, beydes etwas zu verschönern. Wenn man damit sagen will, daß gewisse zum Charakter der Physionomie wenig beytragende, dabey eben nicht angenehme Kleinigkeiten, sollen übergangen werden, so mag der Mahler dem Rath immer folgen.76

Mit seiner vorsichtigen Haltung ist Sulzer ganz bei Lessing: „Denn obschon das Portrait ein Ideal zuläßt, so muss doch die Aehnlichkeit darüber herrschen; es ist das Ideal eines gewissen Menschen, nicht das Ideal eines Menschen überhaupt.“77

73 74 75 76 77

Ebd., 38f. Möser, Zehnter Auszug, 1171. Goethe, Wahlverwandtschaften, 411. Sulzer, Portrait. Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon, in: Ders, Werke, Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, München 1974, 7–187, hier 19.

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Dass Lavater allerdings dieser Praxis zutiefst misstraute, ist leicht vorstellbar: Statt sich ihrer eigentlichen Aufgabe zu widmen, der „Darstellung eines besonderen würklichen Menschen“,78 malten die Künstler bloß ästhetische Klischees: „wie sieht mans allen an, daß sie nur kopieren – kopieren freylich oft von ihrer Imagination, die aber nur von Modebildern ihrer oder der Vorzeit genährt oder gefüttert ist.“79 Kurzum: Es sind keine Verläumder auf der Welt, wie die Porträtmahler. Ihr schwächt die Natur, wo sie stark ist, und vergröbert sie, wo sie zart ist. […] [Ich] wollt’ mich schämen, immer mich so von Regeln und Manier, von Mode und Zeitgeschmack leiten – oder an der Nase herumführen zu lassen – immer so weit hinter der Wahrheit zurückbleiben, die herrliche Natur so … zu verläumden!80

Während schließlich Farbe für Lavater keine Rolle spielt, kommt ihr bei Sulzer erhebliche Bedeutung zu. Jn Ansehung des Colorits, […] muß [der Maler] den Ton der Farbe, und das besondere personliche Colorit seines Urbildes richtig zu treffen wissen, und ein Licht suchen, das sich dazu schiket. Einige Gesichter wollen in einen etwas hellen, andre in einem mehr gedämpften Lichte gesehen seyn; einigen thun etwas stärkere, andern kaum merkliche Schatten, gut. Dieses alles muß der Mahler zu empfinden im Stande seyn. Ueberhaupt muß das Licht so gewählt seyn, daß das Gesicht sein eigentlicher Mittelpunkt ist, und die Stelle des Gemähldes wird, auf die das Aug immer zurük geführt wird.81

Dass Sulzer hier den übrigens auch von Lavater geschätzten Anton Graff vor Augen hat, ist offensichtlich. Dessen Porträts, meist Brustbilder oder halbfigurige Aufnahmen, die den bzw. die Dargestellte(n) in Dreiviertelansicht zur Betrachtenden blickend zeigen, erscheinen ebenso charakteristisch wie vorteilhaft; nicht zuletzt die Intensität, mit der Graff die Kommunikation zwischen Porträt und Betrachter oder Betrachterin herzustellen weiß, hat seinen weit über Dresden, wo er seit 1766 lebte, hinausreichenden Ruhm begründet. 1771 skizzierte er in Berlin das Porträt Lessings, das er später in Dresden in vier Fassungen fertigstellte, was darauf deutet, dass Graff mit einem größeren Interesse am Konterfei des Dichters rechnete.82 (Abb. 1) Es zeigt ihn vor neutral dunklem Hintergrund, der sich zum Gesicht hin leicht aufhellt, im Brustbild nach rechts gewendet, in einem einfachen rötlich braunen Rock. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird also ganz auf das hell beleuchtete Gesicht gelenkt, das die gepuderte Perücke und der weiße, aus 78 79 80 81 82

Lavater, Physiognomische Fragmente II, 79. Ebd., II, 81. Ebd., II, 69. Sulzer, Allgemeine Theorie II, 920. Anton Graff, Gotthold Ephraim Lessing, Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz. Eine weitere Fassung in Leipzig, Kustodie der Universitätsbibliothek.

Lavaters Physiognomik im Kontext der Porträtkunst

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dem Rock hervorschauende Schal gewissermaßen einrahmen. Lessing blickt den Betrachter mit wachen Augen an, als höre er ihm aufmerksam zu. Es scheint, als sei er selbst von der Intensität des Porträts überrascht worden, so jedenfalls legt es sein Ausruf „Sehe ich denn so verteufelt freundlich aus?“ nahe.83 Dieudonné Thiebault (1733–1807), der 1765 als Professor für französische Grammatik nach Berlin berufen worden war, berichtet in seinen 1804 erschienenen Erinnerungen an seine Jahre in Berlin, er habe zusammen mit Nikolaus Beguelin (1714–1789) Sulzer besucht und dort, ohne den Dargestellten zu kennen, Graffs Lessingportät gesehen, das ihn ob seiner Lebendigkeit sehr beeindruckt habe. Beguelin habe ihn aufgefordert, den Charakter des Dargestellten zu beschreiben. Es müsse sich, so Thiebault, um einen geistreichen, scharfsinnigen Menschen handeln, der gefestigt und von natürlicher Freundlichkeit sei, dem Vergnügen nicht abgeneigt und loyal, andererseits aber auch dazu geneigt, andere mit seinen Urteilen vor den Kopf zu stoßen.84 Ob diese Anekdote stimmt (was man mit Gründen bezweifeln kann), oder nicht, sie belegt einmal mehr die Bereitschaft, sich auf ein Porträt wie auf ein tatsächliches Gegenüber einzulassen und dessen Charakter zu analysieren. Eine Fassung dieses Porträts gelangte später, um 1825, in die Porträtsammlung von Lavaters Leipziger Verleger Philipp Erasmus Reich, der ab 1769 begonnen hatte, eine Sammlung von Porträts vor allem, aber nicht nur, seiner Autoren anzulegen, wobei Graff einen Großteil dieser Bildnisse lieferte.85 Betrachtet man die Bildnisse, die im einheitlichen Format und einheitlicher Darstellungsweise dem Lessing­porträt entsprechen, kann man durchaus von einer seriellen Fertigung sprechen, die den Einzelnen als Teil einer Gesamtheit vergleichend betrachtet und damit den „operativen Porträts“ der lavaterschen Stiche verwandt sind. Obwohl Lavater Porträts von Graff in seine Physiognomischen Fragmente aufnahm,86 hat dieser nie Kontakt zu ihm gesucht. Graffs Profilaufnahme Sulzers ist wohl weniger in Anlehnung an physiognomische Überlegungen entstanden, sondern nimmt die seit der Renaissance geläufige Tradition des Memorialbildes auf, die letztlich auf antike Münzporträts zurückgeht.87 Erst über eine Nachzeichnung Daniel Chodowieckis (1726–1801) gelangte das Bildnis in die Physiognomischen Fragmente.

83 Kat. Ausst., Doch wer ihn kennt, 3. 84 Thiébault, Dieudonné, Mes souvenirs de vingt ans de séjour à Berlin ou Frédéric le Grand, sa familile, sa cour, son gouvernement, son académie, ses écoles et ses amis littérateurs et philosophes, Bd. 5, Paris 1804, 50f. 85 Jegge, Anton Graff und die Gelehrtenporträts; Gaertringen, Rudolf Hiller von, Die Seele selbst, sichtbar gemacht. Anton Graffs Bildnisse von Dichtern, Denkern, Künstlern, Musikern, in: Kat. Ausst., Anton Graff, 210–218. 86 Zu den Künstlern deren Werke Lavater in die Physiognomischen Fragmente aufnahm, vgl. Steinbrucker, Charlotte, Lavaters Physiognomische Fragmente im Verhältnis zur Bildenden Kunst, Berlin 1921. 87 Anton Graff, Johann Georg Sulzer, Halberstadt, Gleimhaus. Vgl. Kat. Ausst., Anton Graff, 72f, Nr. 18.

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Letzterer belieferte zwar Lavater mit Stichvorlagen und setzte sich, wie der Briefwechsel zeigt, aufgeschlossen und kritisch mit seinen Vorstellungen aus­ einander.88 Doch wird man vergeblich nach direkten Übernahmen aus den Physiognomischen Fragmenten in Chodowieckis Œuvre suchen. Im Gegenteil stellt der Maler immer fest, dass seine und Lavaters Vorstellungen wieder etwas divergieren. Als er am 4. Januar 1774 Lavater eine Sendung von 116 Porträts schickt, notiert er vorsichtshalber: „Ob sie alle Physionomisch richtig sind, das kann ich nicht versprechen, aber die Mehresten sind recht sehr ähnlich“,89 und formuliert so eine Diskrepanz, die auch Müller schon festgestellt hatte, als er den Silhouetten attestierte, sie lieferten nicht allein Porträtähnlichkeit, sondern auch die physiognomische Ähnlichkeit.90 Letztlich scheinen Lavaters physiognomische Überlegungen selbst für Johann Heinrich Lips nur dort eine Rolle gespielt zu haben, wo er direkt den Physiognomischen Fragmenten zuarbeitete.91 Lavater hatte ihn schon in seinen Anfängen protegiert und ihm seine Ausbildung ermöglicht, um ihn dann als Zeichner und Stecher für sein Monumentalwerk heranzuziehen. Seine Porträts, die nicht für die Physiognomischen Fragmente bestimmt waren, und vor allem die Arbeiten, die nach Lavaters Tod entstanden, bemühen sich um Ähnlichkeit und orientieren sich in Haltung und Bildausschnitt an den Porträtkonventionen der Zeit. Auch im Werk von Johann Heinrich Füssli (1741–1825) wird man kaum direkte Spuren von Lavaters Überlegungen finden.92 1741, im selben Jahr wie sein Freund Lavater geboren, studierte er ebenfalls Theologie und gehörte zum Kreis um Johann Jakob Bodmer (1698–1783).93 Zusammen mit Bodmers Neffen Felix Hess (1742– 1768) unterstützte er Lavater bei den Protesten gegen den Landvogt Felix Grebel. Ein gemeinsam verfasstes Pamphlet führte 1763 zur Ausweisung; gemeinsam reisten die drei nach Barth und besuchten dort Johann Joachim Spalding (1714–1804); das wie ein kleines Theaterstück inszenierte Treffen im Gartenhäuschen, das Füssli zur Erinnerung zeichnete, ist in einem bekannten Stich überliefert.94 In Berlin traf Füssli Sulzer, zog 1764 nach London weiter und übersetzte dort einerseits die Werke Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768) und traf andererseits Joshua Reynold, der ihn darin bestärkt, sich intensiver der Malerei zuzuwenden. Zu die-

88 Kirchner, Thomas, Chodowiecki, Lavater und die Physiognomiedebatte in Berlin, in: E. Hinrichs/ K. Zernack (Hg.), Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, Tübingen 1997, 101–142; Steinbrucker, Charlotte (Hg.), Daniel Chodowiecki Briefwechsel zwischen ihm und seinen Zeitgenossen 1736–1786, Berlin 1919. 89 Steinbrucker, Chodowiecki. Briefwechsel, 72. 90 Vgl. Anm. 50. 91 Kat. Ausst., Johann Heinrich Lips 1758–1817. Ein Züricher Kupferstecher zwischen Lavater und Goethe, Kruse, Joachim, Kunstsammlungen der Veste, Coburg 1989. 92 Zu Füssli u. a. Vogel, Matthias, Johann Heinrich Füssli – Darsteller der Leidenschaft, Zürich 2001. 93 Herrmann, Sabine, Die Natürliche Ursprache in der Kunst um 1800. Praxis und Theorie in der Physiognomik bei Füssli und Lavater, Frankfurt a. M. 1994. 94 Vgl. Vogel, Gerd-Helge, Aufklärung in Barth, Kiel 2014; Kat. Ausst., Johann Heinrich Füssli 1741– 1825, Hofmann, Werner (Hg.), Hamburger Kunsthalle, München 1974, 67–70.

Lavaters Physiognomik im Kontext der Porträtkunst

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sem Zweck reist Füssli nach Rom, wo er, unter dem Einfluss von Tobias Sergel (1740–1814), zum radikalen Kritiker aller klassizistischen Tendenzen wird. 1778 kehrt Füssli in die Schweiz zurück und verliebt sich ein wenig in die Schwestern von Hess sowie besonders heftig in Lavaters Nichte Anna Landolt.95 Es entstehen einige Zeichnungen der jungen Frauen, die auf den ersten Blick den Profilen der Physiognomischen Fragmente nahestehen und zum Teil in die französische Ausgabe der Fragmente von 1783 Eingang finden, jedoch einen ganz eigentümlichen schwärmerischen Zug aufweisen, der nichts von der absoluten Ruhe und Neutralität, die Lavater gefordert hatte, erkennen lässt.96 (Abb. 12) 1779 kehrt Füssli nach London zurück und vollendet dort das Doppelporträt, das ihn im Gespräch mit Johann Jakob Bodmer vor der Büste Homers zeigt.97 Der Maler, ein wenig zu betont lässig links sitzend, lauscht den Argumenten Bodmers, die dieser mit erhobenem Zeigefinger vorzutragen scheint. (Abb. 13) Die Szene hat in ihrer Theatralik nichts mit Lavaters am Klassizismus Winckelmanns orientierter Ästhetik zu tun; erst Lips’ Nachzeichnung übersetzt die Komposition in einen den lavaterschen Vorstellungen entsprechenden Duktus. Füsslis Gemälde regte Johann Hein­­­ rich Wilhelm Tischbein, der sich zwischen zwei Romaufenthalten für mehrere Monate in Zürich im Umkreis Abb. 12: Johann Heinrich Füssli, Martha Lavaters aufhielt, zu einer Zeichnung Hess, 1778/79, New York Pierpont Morgan an, die nun Lavater im Gespräch mit Museum, aus: Ausst.-Kat. Johann Heinrich Bodmer zeigt.98 (Abb. 14) Lavater sitzt, Füssli. Das verlorene Paradies. Staatsgalerie anders als Füssli, sehr gerade und gelasStuttgart, Ostfildern-Ruit 1997. sen auf seinem Stuhl, während Bodmer

95 Hofmann, Füssli, 130f, Nr. 48–50; Kat. Ausst., Johann Heinrich Füssli. Das verlorene Paradies, Becker, Christoph (Hg.), Staatsgalerie Stuttgart, Ostfildern-Ruit 1997, 100–109. 96 Johann Heinrich Füssli, Martha Hess, Zürich, Kunsthaus/New York, Pierpont Morgan Museum; Johann Heinrich Füssli, Magdalena Schweizer-Hess, Weimar, Staatliche Kunstsammlungen. Vgl. hierzu auch Vogel, Füssli, 86–94. 97 Johann Heinrich Füssli, Füssli und Bodmer vor der Büste Homers, Zürich, Kunsthaus. 98 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Lavater und Bodmer im Gespräch, 1782, Oldenburg, Landesmuseum; Arnd Friedrich/Fritz Heinrich/Christiane Holm (Hg.), Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1715–1829), Petersberg 2001.

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Abb. 13: Johann Heinrich F ­ uessli, Der Künstler im Gespräch mit Johann Jacob Bodmer, Zürich, Kunsthaus, aus: Ausst.-Kat. J­ ohann Heinrich Füssli. Das verlorene Paradies. Staatsgalerie Stuttgart, Ostfildern-Ruit 1997.

Abb. 14: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Johann Caspar Lavater und Johann Jakob Bodmer, Oldenburg, Landesmuseumaus: Arnd Friedrich u. a. (Hg.): Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1715–1829), Petersberg 2001.

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Abb. 15: Tischbein Johann Heinrich Wilhelm, Einer den andern gemalt, Frankfurt a. M., Goethemuseum aus: Arnd Friedrich u. a. (Hg.): Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1715–1829), Petersberg 2001.

in seiner bizarren, fast karikierenden Greisenphysiognomie ihn lebhaft gestikulierend anspricht. Auch das Doppelporträt, das Tischbein mit seinem Bruder Heinrich Jacob in einem Atelier zeigt, geht sicherlich auf Füsslis Vorbild zurück.99 (Abb. 15) Die beiden sitzen in dem Atelier, in dem eine Staffelei mit einer Darstellung der Diogenes-Anekdote steht, in der der Philosoph bei Tag mit einer Lampe durch die Stadt lief und auf Nachfragen erklärte, er suche einen Menschen. An der Wand hängen die gezeichneten Porträts von Bodmer, Lavater und Salomon Gessner (1730–1788). Besser als viele Erklärungen zeigt das Bild Lavaters Bedeutung für die bildende Kunst. Seine Physiognomischen Fragmente bildeten keine Fundgrube als Vorlagenwerk, im Gegenteil scheinen auch die Zeitgenossen empfunden zu haben, dass gemaltes Porträt und physiognomische Aufnahme ganz unterschiedliche Angelegenheiten sind. Trotzdem wirkten Lavaters Ideen als Anregung zur genauen Beobachtung, als Gesprächsthema und für das Studium der menschlichen Charaktere. Man wird Boehm also letztlich Recht geben, dass Lavaters Physiognomische Fragmente und die Porträtmalerei, wenn nicht entgegengesetzte, doch ganz unterschiedliche Ziele verfolgen; ihre Bedeutung für die Porträtkultur bleibt jedoch unbestritten.

99 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Einer den andern gemalt, 1782. Frankfurt, Goethemuseum; Driever, Lutz, Bruderbildnis und Doppelporträt – Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Einer den andern gemahlt, in: Friedrich u. a., Tischbein, 103–118.

Diskussionen und Diskurse

Karl Baier

Lavaters Anomalistik

Im vorliegenden Beitrag gebe ich zunächst eine Einführung in den nicht sehr geläufigen Begriff der Anomalistik und seine Wurzeln in der Aufklärung. Außerdem zeige ich, wie sich mir aufgrund gegenwartsorientierter Studien nahelegte, Lavater aus dieser Perspektive zu behandeln. Nach einem kurzen Abschnitt über die bibelexegetischen und philosophischen Hintergründe von Lavaters Anomalistik folgt ein Überblick über die wichtigsten Fälle, die er untersuchte. Der letzte Teil geht etwas ausführlicher auf seine Rezeption des Mesmerismus ein. An ihr tritt die für Lavater typische Verschränkung seiner Frömmigkeit mit der Suche nach wissenschaftlicher Objektivität und philosophischer Interpretation besonders deutlich hervor, und damit auch die Fragwürdigkeiten, die für seine frühen Vorstöße in dieses Terrain charakteristisch sind.

1. Anomalistik? Der Zürcher Pfarrer und Gelehrte wird in der vorliegenden Arbeit als Wegbereiter einer bis heute umstrittenen Wissensformation behandelt, die von einflussreichen Vertretern der kleinen deutschsprachigen scientific community, die in diesem Bereich forscht, seit einigen Jahren als „wissenschaftliche Anomalistik“ bezeichnet wird.1 Darunter versteht man die Untersuchung rätselhafter Erscheinungen, unerklärlicher Kräfte und außergewöhnlicher Erfahrungen mittels akademisch 1

Auch von „Grenzgebieten der Wissenschaften“ oder „Grenzwissenschaften“ ist diesbezüglich schon im 20. Jahrhundert die Rede. Für die derzeitige Diskussionslage im deutschen Sprachraum vgl. Mayer, Gerhard u. a. (Hg.), An den Grenzen der Erkenntnis. Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik, Stuttgart 2015. Die ältere Bezeichnung „Parapsychologie“ verteidigt Mulacz, Peter,  … eine Art Wunderheiler. Parapsychologie – was sie nicht ist – und worum es bei ihr wirklich geht, PIÖ 4 (2010), 263–272. Er hält die Umbenennung des Faches für eine bloße „Verbalkosmetik“ (ebd., 264). Zur Geschichte des Faches im anglo-amerikanischen Raum vgl. Gauld, Alan, The Founders of Psychical Research, New York 1968. Und für Deutschland Treitel, Corinna, A Science for the Soul. Occultism and the Genesis of the German Modern, Baltimore/London 2004 sowie Wolfram, Heather, The Stepchildren of Science. Psychical Research and Parapsychology in Germany, c. 1870–1939, Amsterdam/New York 2009. Die internationale Entwicklung der Para-

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anerkannter Methoden. Thema ist all das, „was es eigentlich nicht geben dürfte“ und vielleicht auch wirklich nicht gibt: das Auftreten mysteriöser Fähigkeiten und erstaunlicher Begebenheiten, die, wenn sie denn tatsächlich so wie berichtet stattfanden, in der alltäglichen und in der wissenschaftlich gedeuteten Welt partout nicht unterzubringen sind. Das Forschungsprogramm der Anomalistik sieht vor, diese Ereignisse nach Möglichkeit empirisch zu falsifizieren oder zu bestätigen, sowie theoretische Rahmen zu ihrer Interpretation zu entwickeln. Aufmerksamkeit von wissenschaftlicher Seite verdient dieser Bereich schon deshalb, weil eine große Zahl von Menschen bis heute an die Existenz einer solchen Zone des Wunderbaren glaubt und die einschlägigen Phänomene als Zeichen einer höheren Wirklichkeit interpretiert, oder sich wenigstens von ihrer Inszenierung in Gestalt von Doku-Soaps, Romanen, Filmen und Fantasy-Spielen faszinieren lässt. In der Forschungslandschaft der Moderne nahm dieses Feld nach der geläufigen Geschichtsschreibung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter den Bezeichnungen Parapsychologie, wissenschaftlicher Okkultismus sowie psychic oder psychical research Gestalt an. Zu den klassischen Untersuchungsgegenständen gehört, was in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im angloamerikanischen Diskurs und seiner Einflusssphäre zu den psi-phenomena (in Anlehnung an das frühere psychic research) gezählt wurde, wie z. B. Telepathie, Präkognition oder das Bewegen von Dingen allein durch Geisteskraft, die sogenannte Psychokinese. Darüber hinaus befasst sich die Anomalistik mit rätselhaften Geschehnissen und Entitäten wie dem Auftreten von Synchronizitäten im Sinne C.G. Jungs, UFOs und Begegnungen mit Aliens, den von der Astrologie behaupteten Korrespondenzen zwischen Gestirnskonstellationen und irdischen Geschehnissen bzw. Charaktereigenschaften, oder den Erscheinungen von Verstorbenen.2 Auch medizinische Anomalien in Gestalt von Gebets- und sogenannten Wunderheilungen bzw. Exorzismen bilden einen Bestandteil rezenter anomalistischer Untersuchungen.3 Viele solcher außergewöhnlichen Phänomene wurden aus den spiritistischen Séancenräumen des Fin de Siècle berichtet, die sowohl als Ort religiöser Praxis wie auch als eine Art Laboratorium zur Erforschung sowie Inszenierung von Anomalien fungierten. Die meisten frühen Vertreter des Faches nahmen an spiritistischen Zusammenkünften teil, nicht wenige davon waren dezidierte Anhänger des

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psychologie im vergangenen Jahrhundert behandeln Lux, Anna/Paletschek, Sylvia (Hg.), Okkultismus im Gehäuse. Institutionalisierungen der Parapsychologie im 20. Jahrhundert im internationalen Vergleich, Oldenbourg 2016. Mayer, Gerhard u. a., Wissenschaftliche Anomalistik: eine Einführung, in: Mayer, An den Grenzen der Erkenntnis, 1–11. Die älteren Bezeichnungen des Faches als psychic research und Parapsychologie sind insofern irreführend, als sie suggerieren, dass es einen Teilbereich der Psychologie darstellt. Die Erforschung anomaler Wirkungen in der physischen Welt (Telekinese etwa), sowie anomaler Ereignisse und Entitäten fällt jedoch nur zum Teil in den Bereich der Psychologie. Vgl. dazu Mulacz, … eine Art Wunderheiler, 264. Siehe dazu Walach, Harald, Medizinische Anomalien: Homöopathie, Geist- und Wunderheilung, in: Mayer, An den Grenzen der Erkenntnis, 289–301.

Lavaters Anomalistik

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Spiritismus. Die Etablierung dieser Art von Forschung beruht jedoch auf historischen Wurzeln, die weiter zurückreichen. Schon seit dem späten 18. Jahrhundert wurden von mesmeristisch praktizierenden Ärzten angefertigte Protokolle veröffentlicht, die von mirakulösen Fähigkeiten magnetisierter Patienten berichten. Die mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit vorgetragenen Fallstudien samt den dazu gehörigen theoretischen Erklärungsversuchen etablierten einen von Beginn an kontrovers diskutierten Prototyp anomalistischer Forschung.

2. Die aufklärerischen Wurzeln der Anomalistik und was daraus wurde Man kann noch weiter zurückgehen. Im Folgenden versuche ich die These zu erhärten, dass die moderne Anomalistik bereits vor dem Mesmerismus begann und Lavater als einer ihrer Stammväter gelten kann. Es gibt mindestens zwei Bereiche innerhalb der Aufklärung, die zwar noch nicht über einen Begriff wie Parapsychologie oder Anomalistik verfügten, aber dieses Themenfeld bearbeiteten. Lavater stand mit beiden in Verbindung. Kim Soo-Jung wies anhand der Publikationen von Autoren aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Divination nach, dass es in der Philosophie und Psychologie der Aufklärung eine sich über Jahrzehnte hinstreckende intensive Auseinandersetzung mit außergewöhnlichen Seelenvermögen gab, innerhalb derer verschiedene Positionen vertreten wurden, von ihrer Leugnung durch materialistisch und sensualistisch eingestellte Theoretiker bis zur Annahme des Wirkens Gottes, der Engel oder der Geister Verstorbener zur Erklärung ihrer Existenz.4 1775 monierte Christian August Crusius (1715–1775) in seiner Schrift über die Geisterbeschwörungen des Johann Georg Schröpfer (1738–1774), dass keine brauchbaren Protokolle zu Schröpfers Ritualen und den darin sich ereignenden Erscheinungen existieren und forderte damit indirekt das Erstellen einer seriösen Datenbasis für die Evaluation von Anomalien durch professionelle teilnehmende Beobachtung.5 Die zahlreichen Beiträge zu Geistererscheinungen, Wahrträumen und Präkognitionen in dem von dem Spätaufklärer Karl Philipp Moritz (1756–1793) 4 5

Siehe dazu Kim, Soo-Jung, Vorhersehungsvermögen und Taubstummheit. Zwei Aspekte der Leib/ Seele-Problematik in Karl-Philipp Moritz’ „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“, Dissertation, Universität Kiel 2001, 47–98. Vgl. Crusius, Christian August, Bedenken eines berühmten Gelehrten über des famosen Schröpfers Geister-Citiren, Frankfurt/Leipzig 1775, V: „Ich wünschte, daß von den Augenzeugen sich wenigstens einige gefallen ließen, die Zeit darauf zu wenden, sich genau zu besinnen, was geschehen, und es ordentlich aufzeichneten und drucken zu lassen […] Damit würden sie der Wahrheit einen wichtigen Dienst erweisen, weil eine Gefahr der Verführung dahinter steckt und sehr viele die Mittelstraße nicht zu treffen wissen, sondern entweder schlechthin die Facta läugnen, oder eine falsche Auslegung davon machen“.

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gegründeten Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) versuchten Jahre später nach Kräften diese Forschungslücke zu füllen.6 Einige von ihnen kamen den Bestrebungen Lavaters entgegen, was ihm nicht entging. Er verteidigt die Collectanea, seine private Sammlung anomalistischer Studien, gegen die Kritik von Seiten der Berliner Aufklärung mit einem Verweis auf Moritz: Wie viele – unerklärbare Divinationsgeschichten – sammelt Moritz! Und kommt nicht am Ende beynah’ alles auf eine Art von Divination heraus, welche der menschlichen Natur im Ganzen so wenig, als Vernunft und Gedächtnis abgesprochen werden kann.7

Anomalistische Phänomene wurden von den Herausgebern des Magazins freilich unterschiedlich beurteilt. Carl Friedrich Pockels (1757–1814) kritisierte sie in einem moralisierenden Tonfall als bloße Einbildungen und Aberglauben, gegen die von Seiten der Aufklärung zu kämpfen sei. Darüber geriet er mit Moritz in Streit, der ihre Existenz nicht von vorneherein in Abrede stellen wollte und Pockels in seinen Augen vordergründige Polemik gegen die Schwärmerei ablehnte.8 Moritz zweifelte zwar, um bei dem Paradebeispiel zu bleiben, auf das sich auch Lavater bezieht, daran, dass die Seele ein Vermögen besitzt, künftige Dinge vorherzusehen. Er glaubte aber, dass es zu früh sei, ein abschließendes Urteil darüber zu fällen und plädierte für das Sammeln einschlägigen Materials und sein behutsames Auswerten. Es könne ja sein, dass es sich um eine Fähigkeit des Menschen handelt, die bisher noch weitgehend brach liegt, weil sie nicht bekannt und anerkannt genug ist.9 Diese skeptische Offenheit für anomale Phänomene ist nicht allzu weit von Lavaters Skepsis-offenem Eintreten für ihre Existenz entfernt. So konnte Letzterer sich auf Moritz berufen, um seiner Position im Rahmen der Spätaufklärung mehr Plausibilität zu verleihen, was aufgrund der vernichtenden Kritik von Seiten der Berliner Aufklärung, die in diesem Beitrag immer wieder Thema sein wird, bitter nötig war. 6

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In der deutschen Anomalistik des ausgehenden 19. Jahrhunderts war die Bedeutung des Magazins für die Geschichte des Faches durch Max Dessoir bekannt. Er trug 1889 mit einer Dissertation über Moritzens Ästhetik zu seiner Wiederentdeckung bei und prägte noch im selben Jahr in einem Aufsatz in der führenden okkultistischen Zeitschrift Sphinx erstmals den Begriff Parapsychologie. 1890 veröffentlichte er dann wiederum in der Sphinx einen Artikel, der die verschiedenen im Magazin vertretenen anomalistischen Positionen auf eine bis heute nicht überholte Weise klassifiziert und aus dort publizierten Fallgeschichten zitiert. Vgl. Dessoir, Max, Aus dem Magazin für Erfahrungsseelenkunde, Sphinx. Monatsschrift für die geschichtliche und experimentale Begründung der übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage 10, 56 (1890), 65–74. Dessoir war bewusst, dass er damit an eine vergessene Seite der Aufklärung erinnerte, von der aus ein ungewohntes Licht auf die Epoche fällt. Lavater, Johann Caspar, Ueber Gablidon, Geisterseherei, Zauberey. An Herrn M.v.B., Antworten auf wichtige und würdige Fragen und Briefe weiser und guter Menschen, Eine Monatsschrift von Johann Caspar Lavater, Stück 1 (1790), 86–98, hier 90. Vgl. Kim,Vorhersehungsvermögen und Taubstummheit, 72f. Vgl. ebd., 73. Mit Bezug auf Moritz, Karl Philipp (Hg.), Magazin für Erfahrungsseelenkunde 1, 1 (1783), 70.

Lavaters Anomalistik

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Ein zweites Feld, innerhalb dessen Anomalien in der damaligen Gelehrtenwelt diskutiert wurden, war die aufklärerische Wunderdebatte. Seit der Hochblüte der Aufklärung wurden die in biblischer Tradition überlieferten und im späteren Christentum berichteten Wunder und Prophetien und die Frage nach dem Verhältnis solch scheinbarer oder tatsächlicher übernatürlicher Phänomene zu den Naturgesetzen von Philosophen und Theologen diskutiert. Lavater lernte diesen Diskurs schon in den frühen 1760er Jahren anlässlich seines Aufenthalts bei Johann Joachim Spalding (1714–1804) in Barth kennen.10 Charles Bonnet (1720–1793) und Lavater waren meines Wissens die ersten, die im Kontext des unten behandelten Falls der Elisabeth Tüscher im Jahr 1769 neben der philosophischen und theologischen Reflexion sowie protokollierter teilnehmender Beobachtung auch empirische Testverfahren einsetzten. Die aufklärerische Wunderdiskussion im Horizont der Dichotomie natürlich/ übernatürlich liegt meiner Meinung nach auch noch neueren Problemen bezüglich der Abgrenzung des Gegenstandsbereichs der Anomalistik zugrunde. Während nämlich das Adjektiv „paranormal“ laut Duden damit bezeichnete Phänomene als übersinnlich und nicht durch natürliche Kräfte erklärbar qualifiziert, geben die Bezeichnung „anomal“ (wörtlich „nicht normal“, „vom Regelfall abweichend“) und die daraus abgeleiteten Substantive „Anomalie“ und „Anomalistik“ keinen solchen Deutungsrahmen vor, was wohl ein Hauptgrund dafür gewesen sein dürfte, dass Forscher im heutigen wissenschaftlichen Kontext auf sie zurückgreifen. Das Wortfeld „anomal“ hat freilich den Nachteil, dass es – wieder gemäß Duden – in der Regel zur Kennzeichnung von Deformationen, Fehlentwicklungen und Krankhaftem herangezogen wird. Es führt den semantischen Schatten des Widernatürlichen mit sich wie der Terminus „paranormal“ den des Übernatürlichen. Außerdem treten Anomalien im Sinn von etwas, das vom Regelfall abweicht, in akademischer Forschung und alltäglicher Erfahrung sehr oft auf. Bei weitem nicht alles davon wird Gegenstand der Anomalistik. Der Bereich der untersuchten Phänomene weist durch die Geschichte des Faches verständliche, aber nicht notwendige Schwerpunkte auf. Stets geht es dabei aber um Fälle, bei denen die zur Rede stehenden Kräfte und Ereignisse explizite oder implizite Prämissen der alltäglich bekannten und wissenschaftlich erkannten Welt in Frage zu stellen scheinen.11 Ich verwende im vorliegenden Aufsatz die Bezeichnungen „anomal“ und „Anomalie“ in diesem Sinn und den Begriff „Anomalistik“ für die an akademischen Standards orientierte Erforschung dieser Phänomene.

10 Vgl. den Eintrag in sein Reisetagebuch vom 16.05.1763 in Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebücher, Teil I: Tagebuch von der Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, hg. v. Horst Weigelt, 1997, 64f: „Beym Caffé unterredeten wir uns von der Deisterey und den verschiedenen Grundsätzen eines Bolingbrokes und Diderots. […] Ferner von den Wundern, insbesondere denen des Alten Testaments. Wir können nicht urtheilen, ob allemal eine unmittelbare substantielle Wirkung der göttlichen Allmacht dazu nöthig ist, oder ob sie sich nur natürlicher, uns unbekannter Mittelursachen dazu bedient hat“. 11 Diese noch reichlich vage Arbeitsdefinition muss für den vorliegenden Aufsatz genügen.

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Der Diskurs über Anomalien neigt zur Polarisierung „zwischen den Polen eines unverrückbaren Glaubens an die Existenz dieser Phänomene und einer hart­ näckigen Skepsis ihnen gegenüber“.12 Zeitgenössische wissenschaftliche Anomalistik möchte demgegenüber, wie schon ihre Vorläufer in der Aufklärung, ein Diskursfeld jenseits doktrinär festgefahrener Extrempositionen etablieren, das einen unvoreingenommenen Blick auf die umstrittenen Erscheinungen und damit verbundene Theorien wirft. Es ist nur zu verständlich, dass sich dieses seit jeher umstrittene Forschungsfeld heute mehr denn je an anerkannte Methoden der Physik, der experimentellen Psychologie, Sozial- und Kulturwissenschaften hält und sich als säkulare und empirisch forschende Disziplin präsentiert. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass es nicht nur in der Vor- und Frühgeschichte des Faches, sondern bis heute eine philosophische und theologische Anomalistik gibt, die empirisch orientierte Forschung nicht ausschließt, sondern zu ihr motiviert bzw. ihre Ergebnisse interpretiert und in ihre Studien integriert, was interessante Perspektiven auf die Sache, aber selbstverständlich auch Pro­bleme mit sich bringt. Ein prominentes Beispiel hierfür, das mich dazu inspirierte, Lavater in den skizzierten Kontext zu stellen, lernte ich im Jahr 2014 kennen, als ich an einer Konferenz am Esalen Institute in Big Sur, Kalifornien teilnahm. Dieses einflussreiche Seminarzentrum und besonders das ihm angegliederte Esalen Center for Theory and Research sind seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Kontaktzone zwischen akademischer Forschung und Strömungen wie der Psychedelik, dem Human Potential Movement und der New Age Bewegung. Mir begegnete dort vieles, was mir durch meine Teilnahme an der alternativreligiösen Szene des deutschsprachigen Raums (die von US-amerikanischen Entwicklungen seit den späten 1960ern stark beeinflusst wurde) und aus der akademischen Forschung dazu vertraut war; anderes wiederum unterschied die dortige intellektuelle Landschaft von dem mir vertrauten Milieu. Eine Sache fiel mir besonders auf: Führende Köpfe des Zentrums wie Michael Murphy, Ed Kelly oder Jeffrey Kripal kamen in unseren Gesprächen wiederholt auf Frederic Myers (1843–1901), den englischen Pionier der Parapsychologie, zu sprechen, der 1882 die Society for Psychical Research mitbegründete. Bisher war mir noch nie jemand begegnet, der Myers’ großangelegten Versuch eines empirischen Nachweises des Lebens nach dem Tod und die Erforschung anderer Themen der Anomalistik ähnlich ernst nahm. Man will im akademisch versierten, alternativreligiösen Kalifornien damit der Religionswissenschaft neue Impulse geben, Argumente gegen den Materialismus schmieden und schätzt diese Forschungen auch als Quelle für eine transkonfessionelle Religiosität nach den Religionen.13 Ich gewann den Eindruck, dass dieses vielfältige Interesse im grundlegenden Narrativ 12 Mayer, Gerhard u. a., Wissenschaftliche Anomalistik: Eine Einführung, 1. 13 Kripal, Jeffrey, Esalen: America and the Religion of No Religion, Chicago/London 2007; ders., Authors of the Impossible: The Paranormal and the Sacred, Chicago 2010; Kelly, Edward F./Crabtree, Adam/Marshall, Paul (Hg.), Beyond Physicalism: Toward a Reconciliation of Science and Spirituality, Lanham 2015.

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des Esalen Institute und des von ihm geprägten Human Potential Movement fester verankert ist als in irgendeinem mir bekannten vergleichbaren europäischen Projekt der Gegenwart. Eine ähnliche Konstellation kannte ich bisher nur in Gestalt des Okkultismus vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit, auf den sich das Esalen Institute ja ausdrücklich beruft. Als ich einige Jahre später begann, mich mit dem Eintreten Lavaters für den katholischen Exorzisten Johann Joseph Gaßner und den animalischen Magnetismus zu beschäftigen, kam mir meine kalifornische Erfahrung wieder in den Sinn. Die Kritik an Lavater erinnerte mich an mein eigenes anfängliches Befremden über das Anknüpfen an der Parapsychologie, das ich in Big Sur kennengelernt hatte. Mittlerweile war bei mir ein ernsthaftes kulturgeschichtliches Interesse an dieser Denkweise wach geworden. Auch Lavaters Denken selbst legte Vergleiche nahe. Michael Murphys umfangreiche Untersuchungen zur künftigen Evolution des Menschen, hätten sicherlich seine Zustimmung gefunden, dachte ich mir, setzen sie doch seine Suche nach Zeugnissen außergewöhnlicher menschlicher Fähigkeiten historisch versiert und unter Einbeziehung verschiedener Kulturen und Religionen fort, mit einem Akzent auf den Entwicklungspotentialen menschlicher Leiblichkeit, die auch Lavater wichtig waren.14 Als praktizierender Magnetiseur hätte Lavater eine gute Gespräch­sbasis mit den Energieheilern, die sich in Esalen tummeln. Die Entfaltung des human potential, die eine programmatische Klammer für alle Aktivitäten des Instituts darstellt, war ebenfalls bereits ein großes Anliegen des Schweizer Theologen. Den evolutionären Panentheismus der Esalen-Theologie würde er heute wohl als eine der eigenen verwandte Position schätzen, die es verdient diskutiert zu werden, auch wenn er eine stärker christologische Sicht eingefordert und den religionstheologischen Pluralismus Esalens nicht geteilt hätte.15 In einer kalifornisch/schweizerischen Doppelbelichtung erscheint sein Denken jedenfalls als frühe Variante der Verbindung einer sich um Objektivität bemühenden Anomalistik und einer Form reflektierter, erfahrungsorientierter Religiosität, die neuzeitliche Naturwissenschaft rezipiert, kritisch an die Aufklärung anschließt und den Glauben an schier unerschöpfliche Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen nicht nur philosophisch und theologisch, sondern auch empirisch untermauern möchte. Das Human Potential Movement wiederum wirkt wie ein pluralistisches update dieser Art spätaufklärerischer protestantischer Theologie und Spiritualität unter den Bedingungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Vorwurf, dass bei einem solchen Projekt die Normen der Wissenschaftlichkeit verletzt werden würden, traf die New Age Science aus Kalifornien ebenso wie schon zweihundert Jahre früher Lavaters Anomalistik. Die angedeutete Pola-

14 Murphy, Michael, The Future of the Body: Explorations into the Further Evolution of Human Nature, New York 1992. 15 Vgl. Murphy, Michael, The Emergence of Evolutionary Panentheism, in: L. Biernacki/P. Clayton (Hg.), Panentheism across the World’s Traditions, Oxford/New York 2014, 177–200.

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risierungstendenz in Bezug auf dieses Themenfeld, die damals schon festzustellen ist, brachte ihm einerseits begeisterte Anhänger ein, die ihn mitunter selbst in die Nähe eines charismatischen Wundertäters rückten, andererseits aber eine breite Welle an Ablehnung inklusive der Distanzierung prominenter und weniger prominenter Freunde von ihm. Die negativen Reaktionen reichen von Spottgedichten und bissiger Polemik bis hin zu gediegen akademisch formulierter Verständnis­ losigkeit. Da ist von „Schnellgläubigkeit“ und „Wundersucht“ die Rede, von Lavaters „Glaubens- und Wunderrigorisme“, „glühender Propaganda für magnetische Ideen“ oder seiner kaum Grenzen kennenden Begeisterungsfähigkeit für alles Rätselhafte. Alle diese Zuschreibungen passen zu dem in der Spätaufklärung populären und vieldiskutierten Stereotyp des Schwärmers, das denn auch ausgiebig von der Lavater-Kritik insbesondere der Berliner Aufklärung strapaziert wurde. In seiner Rolle als aufgeklärter Schwärmer oder schwärmerischer Aufklärer unterläuft er freilich die Rhetorik dieses Kampfbegriffs bei den Aufklärungs-Hardlinern und trägt damit wohl zumindest indirekt zur in seiner Zeit stattfindenden Neubewertung der Schwärmerei bei.16 Die in Bezug auf die damaligen gebildeten Eliten des deutschsprachigen Raums flächendeckende Propaganda seiner Berliner Antipoden hat mit dem Klischee des wundersüchtigen Schwärmers ein bis heute nachwirkendes Zerrbild von Lavaters anomalistischen Aktivitäten etabliert. Auch neuere Theologen und Historiker, die bemüht sind, sein Werk in einem positiven Licht erscheinen zu lassen, heben hervor, dass sie mit diesem Lavater wenig anzufangen wissen.17 Seine selbst als Anomalie empfundenen anomalistischen Interessen werden selten als Frucht einer bestimmten Konstellation von positiven Wissenschaften, Philosophie und Theologie im ausgehenden 18. Jahrhundert ernst genommen. Auch wird zu wenig gesehen, dass beachtenswerte Varianten dieser Denkweise bis in die heutige Zeit reichen. Lavaters Anomalistik mag ein Irrweg sein. Auf eine persönliche Macke lässt sie sich jedenfalls nicht reduzieren. Ein genauerer Blick auf die Quellen zeigt, dass Deutungen, die diesbezüglich nur auf individuelle Motive und die psychologische Disposition Lavaters rekurrieren, die selbstverständlich eine wichtige Rolle spielten, Simplifikationen eines komplexeren historischen Sachverhalts darstellen.

16 Vgl. zum damaligen Wandel in der Einschätzung des Schwärmertums Engel, Manfred, Das ‚Wahre‘, das ‚Gute‘ und die ‚Zauberlaterne der begeisterten Phantasie‘. Legitimationsprobleme der Vernunft in der spätaufklärerischen Schwärmerdebatte, German Life and Letters 62, 1 (January 2009), 53–66. 17 So bemäkelt Ebeling, Gerhard, Genie des Herzens unter dem genius saeculi. Johann Caspar Lavater als Theologe, in: K. Pestalozzi/H. Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen, (AGP 31), Göttingen 1994, 23–60, hier 28; in einer ansonsten wohlwollenden Interpretation Lavater das „befremdende, wenn nicht dubiose Interesse an supranaturaler Wirklichkeitserfahrung“.

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3. Bibelhermeneutische und philosophische Grundlagen von Lavaters Anomalistik Lavater mochte bekanntlich den Begriff Theologie nicht, der für ihn zu sehr mit engstirniger Dogmatik einerseits und schulmäßigem Rationalismus andererseits verbunden war.18 Er setzte auf das Zweigespann einer biblizistisch textimmanenten Hermeneutik der kanonischen Schriften (damals durch das Aufkommen der historisch-kritischen Exegese schon umstritten) und einer Philosophie, die, vergleichbar der Charles Bonnets aber mit anthropologischem Akzent, die Grund­ lagen des Christentums für ein gebildetes Publikum, dem die biblischen Aussagen längst keine unbezweifelbare Instanz mehr waren, philosophisch aufbereitet vortrug. Der Einfachheit halber schließe ich mich Lavaters Sprachgebrauch an und verwende den Titel Philosophie für sein Amalgam von philosophisch argumentierender Fundamentaltheologie und Christologie. Im folgenden Abschnitt werden diesbezügliche Konzepte behandelt, die Lavater zwischen 1768 und 1769 zeitgleich mit dem Beginn seiner anomalistischen Studien entwickelte. Sie verraten etwas von dem Verständnishorizont, in dem sein Interesse an konkreten Fällen angesiedelt ist. Da Lavaters Theorien in anderen Beiträgen dieses Bandes ausführlich behandelt werden, kann ich mich hier kurzfassen. Es gilt die Gedanken zu skizzieren, die es Lavater nahelegten, sich für anomale Fähigkeiten zu interessieren und ihr Auftreten besonders innerhalb des Christentums zu erwarten. Auch seine Konzeptualisierung der Anomalien verursachenden Faktoren kommt dabei zur Sprache. Nach der in den ersten Bänden von Aussichten in die Ewigkeit dargelegten Philosophie liegt die Bestimmung des Menschen in der Vereinigung mit Gott.19 Das Maß des hierin Erreichbaren ist Jesus Christus. „Christus ist in jedem Sinne das Urbild der Vollkommenheit der menschlichen Natur; – das Ziel der höchsten, der menschlichen Natur erreichbaren, Tugend und Glückseligkeit.“20 Es ist charakteristisch für Lavaters Anthropologie, dass er die unmittelbare Christusförmige Gemeinschaft mit der Gottheit, auf die der Mensch angelegt ist, und das, was seine Gottebenbildlichkeit ausmacht, dezidiert nicht auf eine Gemeinschaft und Übereinstimmung des göttlichen und menschlichen Willens im tugendhaften Handeln eingeschränkt wissen will, und sie auch nicht auf eine Erfahrung des mystischen Einsseins beschränkt. Er streicht die Teilhabe an der Macht Gottes als zentrales Ingrediens des irdischen christlichen Lebens und der Glückseligkeit im Jenseits heraus. Christen können schon zu Lebzeiten an der Fülle der Macht, die Jesus Christus von Gott erhalten hat, partizipieren. Eine vollkommene Teilhabe ist 18 Vgl. dazu Ebeling, Genie des Herzens, 24f. 19 Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. II: Aussichten in die Ewigkeit 1768–1773/78, hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001, 348. 20 JCLW II, 160.

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für den Zustand der Verklärung am Ende aller Tage verheißen.21 Die Verklärten werden der schier unendlichen Kräfte, die ihrer Natur eingepflanzt sind, teilhaftig werden, und zusätzlich werden ihnen die Kräfte höherer Wesen (Engel) und Gottes zu Gebot stehen: „Kurz, alles ist uns möglich; denn wir sind auch in diesem Sinn Mitgenossen und Theilhaber der göttlichen Natur.“22 Lavater geht mit Charles Bonnet davon aus, dass in jedem Menschen ein „Keim“ existiert, in dem alle künftigen Vollkommenheiten der Menschheit, inklusive ihrer postmortalen Entwicklungsmöglichkeiten angelegt sind, und unter bestimmten Bedingungen partiell bereits im gegenwärtigen Leben zum Durchbruch kommen können. Bonnet entwickelt dazu die Hypothese, dass die Anlage zum Auferstehungsleib im irdischen Körper in Gestalt eines aus Äther- oder Licht gebildeten Körpers präsent ist.23 Lavater führt diese Überlegungen fort. Durch den Sündenfall verlor der Mensch aus seiner Sicht zwar viel, aber bei weitem nicht alles von seiner Gottähnlichkeit. Satanische Versuchungen, egozentrische Begierden, Leidenschaften und Laster bremsen die Bewegung zu immer höheren Stufen der Vollendung, ohne jedoch die grenzenlose Perfektibilität des Menschen prinzipiell zu zerstören.24 Wie im Folgenden gezeigt werden wird, schärfte die Beschäftigung mit den sogenannten Wundertäter Lavaters Bewusstsein davon, dass gerade das Auftreten anomaler Fähigkeiten unter irdischen Bedingungen, wenn es denn geschehen sollte, jedenfalls auch die Ambivalenz des Menschen in statu viatoris auf außergewöhnliche Weise hervortreten lässt. Die Beweise des Geistes und der Kraft (1Kor 2,4), die in der Bibel von Jesus und den Aposteln berichtet werden, sind nach Lavater als „Vorempfindungen, Vorübungen, Voräusserungen höherer in der menschlichen Natur liegenden Kräfte“ zu verstehen sowie als Gaben, die durch den Geist Gottes bewegt und in Tätigkeit gesetzt werden.25 Er verknüpft mit Berufung auf die Bibel das Wirken des Heiligen Geistes eng mit dem Auftreten von Anomalien. Wenn man genau reden will, so sollte man Geist und Geistes-Gaben wie Ursach und Wirkung von einander unterscheiden. So genau redet die Schrift nicht allenthalben. Sie setzt oft eines für das andere. Denn da, wo der Geist oder der wunderbarwirkende Gott ist, da sind Geistes-Gaben, oder wunderbare Wirkungen und umgekehrt: wo Geistes-Gaben sind, wo wunderbare Wirkungen sich äussern, da ist der Geist.26

21 Ebd., 351. 22 Ebd., 363. 23 Vgl. Bonnet, Charles, Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum. Samt desselben Ideen von der zukünftigen Glückseligkeit des Menschen, Lavater, Johann Caspar (Übers.), Zürich 1769, 23. 24 Vgl. JCLW II, 257. 25 Ebd., 587. 26 Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. III: Werke 1769–1771, hg. v. Martin Ernst Hirzel, Zürich 2002, 104, [Hervorh. i. O.].

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Der gerade zitierte Text stammt aus der auf Oktober 1769 datierten, erläuternden Zugabe zu dem einen Monat früher verfassten kurzen Traktat zu Drei Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes, der als Privatdruck an Freunde und Bekannte verschickt wurde.27 Darin und schon in dem ersten Traktat vertritt Lavater die These, dass biblische Termini wie „Geist“, „Heiliger Geist“, „Geistesgaben“, aber auch „Christus in uns“, oder „Gott in uns“ für von Gott bewirkte außerordentliche Einsichten und Kräfte stehen, die von den normalen („natürlichen“) Fähigkeiten deutlich unterscheidbar sind.28 Er versucht außerdem durch einschlägige Bibelstellen zu belegen, dass solche Kräfte des Glaubens und Gebetes auch für die Christen späterer Zeiten verheißen sind. Ein Standardeinwand gegen seine Sichtweise lautete, dass von den angeblichen Wunderkräften im alltäglichen christlichen Leben der Gegenwart nichts zu sehen sei und sie offenbar von Gott nur in der Frühzeit des Christentums zum Zweck seiner Etablierung gewährt worden waren. Um dem, abgesehen vom Vorwurf der Kleingläubigkeit angesichts der biblischen Botschaft, etwas entgegenhalten zu können, begann Lavater in seiner Zugabe durch Fragen, die an seine Freunde und Bekannten gerichtet waren, nach glaubwürdigen Begebenheiten aus der Geschichte des Christentums und besonders seit der Reformation zu suchen, die den im Evangelium erzählten wunderbaren Wirkungen des Glaubens und Gebets entsprechen. Zugleich forderte er seinen Adressatenkreis auf, ihm zuverlässige Beispiele mitzuteilen, in denen fromme Menschen in fester Erwartung der Erhörung nach den Regeln des Evangeliums gesprochene Bittgebete verrichteten, die dennoch nicht erhört wurden.29 Sein Hauptinteresse lag dabei eindeutig nicht darauf, die Erhörung von Gebeten und andere in den kanonischen Schriften des Christentums verheißene Anomalien zu falsifizieren, sondern nach Möglichkeit ihr Vorliegen in rezenten christlich-religiösen Zusammenhängen empirisch zu bestätigen. Lavater schloss seine Auffassung des Christentums als Religion des Geistes und der Kraft philosophisch an die Wunderdebatte der Aufklärung an, die er, wie oben angedeutet, schon seit seinem Aufenthalt bei Spalding kannte. Seine eigene Wundertheorie entstand in Auseinandersetzung mit den Theorien des Philosophen Etienne Thourneyser (1715–1763) und des schon erwähnten Naturforschers und Philosophen Charles Bonnet, die sich beide auf die Wundertheorie von Leibniz beziehen.30 Lavater unterscheidet in Aussichten in die Ewigkeit mehrere Ursachen für das Auftreten von Wunderkräften und wunderhaften Ereignissen. Neben dem partiellen Erwachen von in der Natur des Menschen angelegten Fähigkeiten, die unter irdischen Bedingungen für gewöhnlich nicht auftreten, nimmt er noch andere mögliche Ursachen an, die am Musterfall der Gebetserhörung durchgespielt werden. Ein anomales Ereignis außerhalb menschlicher Macht, wie eine

27 28 29 30

Vgl. ebd., 93–99. Ebd., 97. Vgl. ebd., 110–112. Vgl. dazu den Beitrag von Baptiste Baumann im vorliegenden Band.

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Gebetserhörung, kann durch höhere Wesen (Engel) bewirkt werden, durch den direkten Eingriff Gottes, oder durch Gott gewolltes präordiniertes Zusammentreffen verschiedener verborgener physischer Ursachen.31 Überlegungen zum Verhältnis zwischen empirischer Anomalistik, philosophischer Theoriebildung und der Religiosität oder Irreligiosität der jeweiligen Forschenden habe ich bei ihm nur rudimentär gefunden.32 Die Theoriebeladenheit von Feldforschung und Augenzeugenberichten wie auch die Rolle der persönlichen Motivation der Forschenden bleiben weitgehend unberücksichtigt. Das erscheint nicht nur aus heutiger Perspektive als Defizit, sondern wurde ihm, wie noch gezeigt werden wird, schon von zeitgenössischen Kritikern vorgehalten.

4. Die wichtigsten von Lavater untersuchten Fälle Seinen anomalistischen Interessen nachgehend, kam er mit vier soziokulturellen Bereichen in Berührung, in denen damals Personen, denen anomale Kräfte durch sich selbst und andere zugeschrieben wurden, prominent in Erscheinung traten: Erstens die bäuerlich geprägte Populärkultur mit ihren Gesundbetenden und Hellsehenden, zweitens die süddeutsche katholische Kirche, in deren Rahmen mit Johann Joseph Gaßner ein überregionale Berühmtheit erlangender Exorzist auftrat, drittens das in den Bildungseliten verbreitete religiöse Geheimbundwesen, dessen Organisationen Brennpunkte eines umfassenderen Milieus darstellten, das von verschiedenen Strömungen wie christlicher Kabbala, Hermetik, Alchemie, dem Martinismus und Swedenborg beeinflusst war. In diesem Umfeld war u. a. die Kommunikation mit Verstorbenen und anderen Geistern sowie das Erlangen magischer Kräfte ein Thema. An vierter Stelle ist schließlich der Kreis mesmeristischer Ärzte zu nennen, in dem die anomalen Fähigkeiten von Patienten erforscht wurden. Das letztere Milieu weist viele Überschneidungen mit dem dritten Bereich auf. Bekanntlich fällt in die Zeit als Lavater seine eigenständige bibeltheologische und philosophische Position ausbildete und Anomalien zu studieren begann, ein einschneidendes biographisches Ereignis: der frühe und plötzliche Tod seines

31 Vgl. JCLW II, 356–359. In Bezug auf die biblischen Wunder nimmt Lavater an, dass sie hauptsächlich durch Mithilfe von Engeln bewirkt wurden. Auch in anderen Zusammenhängen favorisiert er diese Erklärung von anomalen Ereignissen. Laut Leibniz, Theodizee, § 249, handeln die Engel nach den bekannten Naturgesetzen, verfügen aber über feinstoffliche und deshalb wirkungsvollere Körper. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Lavater aus demselben Grund die Magie des Glaubens vor allem an die Mithilfe höherer Geister knüpfte. Philosophisch vertrat er eine Lehre der durchgängigen Vermitteltheit je eigener Kräfte durch andere Wesen. 32 Am ehesten noch in Gestalt von Überlegungen zum Verhältnis zwischen Exegese und Erfahrung des Heiligen Geistes. Siehe dazu Hirzel, Martin Ernst, Einleitung zu ‚Drey Fragen …‘, in: JCLW III, 21–93, bes. 56–66.

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engen Freundes Felix Hess (1742–1768) im März 1768.33 Er betete damals intensiv für dessen Gesundung, ohne dass seine Bitten erhört worden wären. In den Tagen nach dem Tod von Hess gewannen die Erzählungen des Neuen Testaments von den wunderbaren Kräften des Glaubens und Gebets existentielle Bedeutung für ihn. Kurzzeitig hoffte er sogar auf die Wiederauferweckung des toten Freundes durch sein Gebet.34 Außerdem schrieb er Emanuel Swedenborg (1688–1772) an, um etwas über das Ergehen seines Freundes im Jenseits zu erfahren, woraus hervorgeht, dass in diesem Kontext sein Interesse an Menschen erwachte, denen anomale Fähigkeiten wie etwa Jenseitskontakte zugeschrieben wurden. Der Geisterglaube war in der damaligen Zeit, von Swedenborg mitbefeuert, gerade auch in gebildeten Kreisen weit verbreitet. Er lässt sich nicht auf einen aufklärungsfeindllichen Irrationalismus reduzieren, wie dies die Anhänger des rationalistischen Flügels der Aufklärung suggerierten, die ausgehend von Kants Swedenborg-Schrift dem Begriff „Geisterseherei“ eine abschätzige Bedeutung gaben.35 Der berühmte schwedische Seher antwortete nicht auf Lavaters Anfrage. Er suchte weiter und bekam es zunächst mit Personen aus bäuerlichem Umfeld und von regionaler Bekanntheit zu tun, weil in diesem sozialen Stratum in der Schweiz und ihren Nachbarländern offenbar eine Kultur von „Wunderheilern“ und „Propheten“ existierte, mit der relativ leicht in Kontakt zu kommen war.

33 Vgl. Weigelt, Horst, J.K. Lavater, Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991, 15f. 34 Man sollte diese Episode nicht zum Maß von Lavaters Denken über die Wunderkraft des Glaubens machen. Eine vergleichbare Verstiegenheit, die wohl ein Zeichen seiner damaligen Verzweiflung war, ist aus seinem späteren Leben nicht mehr bekannt, abgesehen vielleicht von dem Glauben, dass der Apostel Johannes noch auf Erden lebt, dem er in seinen letzten Lebensjahren anhing. 35 Zu Kant und Swedenborg siehe Stengel, Friedemann, Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2011, 636– 665; und ders. (Hg.), Kant und Swedenborg, Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis, Tübingen 2008. Vgl. zur Bedeutung des Spiritismus in der Kultur der Spätaufklärung Sawicki, Diethard, Die Gespenster und ihr Ancien régime: Geisterglauben als ‚Nachtseite‘ der Spätaufklärung, in: M. Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik, Hamburg 1999, 364–396, hier 370: „In allen maßgebenden Wissensbeständen des späten 18. Jahrhunderts war der Gedanke verankert, es gäbe körperlose, intelligente Wesen, die auf Materie wirken und sinnlich wahrnehmbar erscheinen können“. Dazu auch Conrad, Anne, Rationalismus und Schwärmerei. Studien zur Religiosität und Sinndeutung in der Spätaufklärung, Hamburg 2008, 92–103. Lavater hatte erste Kenntnisse betreffs Swedenborg 1763 während seines Aufenthalts bei Spalding in Barth bekommen, wo man sich gelegentlich auch über Geistererscheinungen unterhielt. Vgl. Lavater, Reisetagebücher, Teil I, 437 und 203f. Siehe auch Wegener, Franz, Lavater in Barth, Gladbeck 22014, 76–78. Vgl. dazu die aus dem Nachlass herausgegebenen Briefe Lavater, Johann Caspar, Briefe über den Zustand der Seele nach dem Tode; die Einwirkung der abgeschiedenen Geister auf die noch Sterblichen; und das Wiedersehen derer, die wir liebten, in: G. Geßner (Hg.), Johann Kaspar Lavaters nachgelassene Schriften, Bd. 2: Religiöse Briefe und Aufsätze, Zürich 1801, 287–337.

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Katharina Rinderknecht Am Sterbebett seines Freundes hatte er die verarmte Bauernwitwe Katharina Rinderknecht (1726–1800) kennengelernt, die unweit von Hess wohnte und die ihm von seinem Freund und anderen als sehr religiöse Person beschrieben worden war, der Gebetserhörungen zuteilgeworden seien.36 Lavater unterstützte die Gesundbeterin in der Folge finanziell und hatte einige Gespräche mit ihr, in denen sie ihn durch ihren Glauben, ihr Wissen und ihre moralischen Prinzipien beeindruckte. Trotzdem blieb er ihr gegenüber skeptisch und schätzte sie nach eigener, freilich im Rückblick getroffener Aussage von Anfang an insgeheim als Schwindlerin ein. Als ein junger, Lavater bekannter Predigtamtskandidat, mit dem sie, wie sich später herausstellte, ein Liebesverhältnis hatte, behauptete, Rinderknecht und er selbst hätten Offenbarungen empfangen und könnten Wunder wirken, und sich daraufhin Anhänger um sie sammelten, begann er vor ihnen zu warnen. Nach dem Öffentlichwerden ihrer Liaison 1773 distanzierte er sich entschieden von den beiden, hielt aber daran fest, dass Rinderknecht durch ihren Glauben und ihr Gebet „psychologische und physische Wunder“ gewirkt hätte.37

Elisabeth Tüscher Im Spätsommer oder Herbst 1769 begann Lavater die Fähigkeiten der Hellseherin Elisabeth Tüscher zu untersuchen.38 Tüscher, von deren Lebensumständen man in den überlieferten Unterlagen nicht viel erfährt, die aber offenbar aus einfachen Verhältnissen stammte, praktizierte eine Form der Hydromantie, des seit der Antike bekannten Wahrsagens mit Hilfe von Wasser. Angeblich löste bei ihr das Schauen in ein mit Wasser gefülltes Glas hellseherische Visionen von abwesenden Menschen und Ereignissen aus.39 Lavater ging diesmal viel überlegter als im Fall Rinderknechts an die Sache heran. Er bat Charles Bonnet um Rat in Bezug auf die anzuwendende Untersuchungsmethode. Bonnet stieg nach anfänglichen Vorbehalten darauf ein und entwarf das wahrscheinlich erste empirisch-experimentelle Forschungsdesign zur Überprüfung des Vorliegens einer anomalen Fähigkeit.40 36 Die Episode mit Rinderknecht wird ausführlich referiert bei Geßner, Georg, Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung von seinem Tochtermann, Zweyter Band, Winterthur 1802, 55–74. 37 Weigelt, J.K. Lavater, 19. 38 In einem verschollenen Brief an Bonnet vom 15.10. bezog sich Lavater bereits auf den Fall Tüscher und bat ihn wahrscheinlich um Ausarbeitung eines Fragenkatalogs zur Überprüfung der Fähigkeiten der Wahrsagerin. Vgl. Luginbühl-Weber, Gisela, Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle. Briefe 1768–1790, Bern 1997, 387f. 39 Dazu Weigelt, J.K. Lavater, 19. 40 Vgl. Luginbühl-Weber (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle, 387f. Ergänzendes bezüglich Bonnets Beitrag zum Fall Tüscher liefert die Arbeit von Baptiste Baumann im vorliegenden Band.

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Es ging darum, zu testen, ob Tüscher wirklich in der Lage sei, zu erkennen, was an entfernten, ihrer Sinneswahrnehmung unzugänglichen Orten geschieht. Bonnet erklärte sich bereit, seinen Tagesablauf zwei Tage lang genau zu protokollieren. Tüscher wurde während dieser Zeit oftmals gefragt, was Bonnet gerade mache. Parallel dazu wurde sie auch um Auskünfte zu anderen Personen gebeten. Der Vergleich ihrer Aussagen mit dem Protokoll Bonnets ergab keinerlei Übereinstimmungen. Bonnet wollte aber nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Er sprach Mängel der bisher angewandten Methode an und plädierte für eine verbesserte Vorgangsweise, die mehr Rücksicht auf die Versuchsperson nehmen, einen optimierten und vereinheitlichten Fragenkatalog verwenden, sowie genauere Interviewprotokolle generieren sollte: Die Wasserleserin sei nur über jeweils eine Person pro Tag zu befragen, und zwar sukzessiv, mit jeweils einer Stunde Intervall, damit ihre Hirnfibern dazwischen ausruhen könnten. Uhrzeit und Fragen sollten schriftlich protokolliert werden. Von Fangfragen sei abzusehen, ebenso von Fragen unterschiedlichen Inhalts.41

Es geht aus den verfügbaren Quellen nicht hervor, ob und wenn ja, inwieweit Lavater auf diese Vorschläge einging. Jedenfalls fanden weitere Experimente statt. In seinem Resümee zum Fall Tüscher, das er in einem Brief an Bonnet vom 31. Januar 1771 formuliert, unterstreicht der Zürcher Gelehrte, dass das Forschungsprojekt seiner Meinung nach zu keinem eindeutigen Ergebnis führte. Er weist außerdem auf ein grundsätzliches Problem hin, das in der Anomalistik immer wieder diskutiert werden wird, dass sich nämlich anomale Fähigkeiten, falls es sie denn gibt, nicht einfach unter wiederholbaren experimentellen Bedingungen demonstrieren oder widerlegen lassen, weil die vermeintlichen „Besitzer“ dieser Fähigkeiten nicht über sie verfügen können wie über andere Kräfte: Ich muß also die Sache in ihrer völligen Unentschiedenheit laßen. So viel ist nur gewiß, daß Sie (welches Sie zwar immer sagte,) die Kunst, abwesende Dinge, wie gegenwärtig zusehen, nicht in ihrer Gewalt hat, und ich füge hinzu – nur zu einem grade der Gewißheit, wie 1 zu 24 besitzet. Ich kann nicht begreifen, wie Sie einige Fragen von mir mit einer so erstaunungswürdigen Genauigkeit beantwortet hat.42

Monate später, in einem Brief vom 1. November 1771, fragte Bonnet Lavater noch einmal nach der Wahrsagerin und machte unmissverständlich klar, dass die Experimente aus seiner Sicht bewiesen hätten, dass ihre Fähigkeiten auf Täuschung beruhen. Er drängt ihn außerdem indirekt dazu, die negativen Ergebnisse ihrer

41 Ebd., 387. 42 Brief Nr. 45 in: Ebd., 106 [Hervorh. i. O.].

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Experimente, um der Aufklärung der Öffentlichkeit willen zu publizieren.43 Lavater hat darauf nicht mehr geantwortet und ihr Briefwechsel über dieses Thema war beendet. Von da an erlahmte ihr Austausch generell auf Jahre hinaus, was wohl nicht nur, aber auch auf Differenzen in Bezug auf die Untersuchung des Falles Tüscher zurückzuführen ist. Lavater führte bei seinen späteren anomalistischen Erkundungen keine planvollen Experimente, wie sie Bonnet vorschlug, mehr durch. Er hat sich vielmehr durch teilnehmende Beobachtung, persönliche Notizen, Gespräche und Berichte aus dritter Hand ein Bild von den betreffenden Personen und ihren Kräften gemacht und sie interpretiert.44 Diese Vorgangsweise, die der damaligen Erfahrungsseelenkunde entsprach, bei der Experimente nur am Rande eine Rolle spielten, lag ihm offenbar mehr als an den Naturwissenschaften orientierte Versuche, für die ihm im Übrigen auch die Ausbildung fehlte. Außerdem kannte er ja nun das seiner Meinung nach bei Tüscher zu Tage getretene Problem, dass anomale Kräfte unter experimentellen Bedingungen nicht beliebig reproduzierbar sind. In Gestalt des Mesmerismus lernte er später eine Methode kennen, von der er glaubte, dass mit ihr genau dies doch möglich sein würde und trat dann wieder für methodisches Experimentieren ein. Wenn er einen Fall für interessant genug hielt, wandte er sich in der Regel immer an andere Wissenschaftler mit der Bitte, die Sache mit den ihnen zu Gebote stehenden Verfahren zu überprüfen. Er fand allerdings niemand mehr, der bereit gewesen wäre, sich so intensiv einzubringen wie Bonnet im Fall Tüscher. Die gebildete Öffentlichkeit war durch die Polemiken gegen Lavater zunehmend von der Ablehnung solcher Untersuchungen geprägt und anscheinend wollte sich niemand die Finger verbrennen und als sein Komplize oder seine Komplizin gebrandmarkt werden.

43 Siehe Brief Nr. 52 in: Ebd., 121: „Vous ne nous avis plus parlé la Pythonesse de Bienne. Est-ce donc que vous-vous soyés enfin convaincu de la supercherie? Il m’a toujours paru qu’il étoit important d’éclairer le Public sur de tels Faits“ („Sie berichten uns nichts mehr von der Pythia aus Biel. Sind sie endlich von der Täuschung überzeugt? Es erschien mir immer wichtig, die Öffentlichkeit über solche Tatsachen aufzuklären“). 44 In Lavater, Ueber Gablidon, 95; nennt er folgende Quellen, auf denen seine Auffassungen über Geisterseherei basieren: „meine Tagebücher, Correspondenzen, Collectanea, […] häufiger ungesuchter Umgang mit Leuthen aller Art, Geistersehern und Freunden solcher“. In Bezug auf andere Anomalien dürfte die Datenbasis seiner Überlegungen ähnlich gelagert gewesen sein. Der gesuchte Umgang im Sinn von verabredeten Gesprächen und die teilnehmende Beobachtung werden an dieser Stelle nicht erwähnt, weil Lavater diese Vorgangsweisen zum damaligen Zeitpunkt in Bezug auf die Geisterseherei noch nicht herangezogen hatte. Zu ergänzen wäre außerdem die quasi autoethnographische Dokumentation eigener Erfahrungen wie sie Lavater in Gestalt des unveröffentlichten Manuskipts mit dem Titel Meine Gebetserhörungen aus dem Jahr 1769 anfertigte.

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Johann Joseph Gaßner Als Lavater im Sommer 1774 erstmals von dem katholischen Exorzisten Johann Joseph Gaßner (1727–1779) hörte, stieg der einfache Dorfgeistliche aus Vorarlberg gerade innerhalb weniger Monate zum gefragtesten Heiler seiner Zeit auf. Zigtausende strömten vom Herbst 1774 bis zum Sommer 1775 aus ganz Deutschland und umliegenden europäischen Ländern nach Ellwangen im heutigen BadenWürttemberg, um an seinen Heilungsevents im fürstprobstlichen Schloss und in einer Stadtwohnung teilzunehmen, sei es als Kranke oder Kranker, Begleitung von solchen, oder als Schaulustige.45 Auch eine kleine Schrift Gaßners erschien 1774.46 Sie wurde in den kommenden vier Jahren zwölfmal aufgelegt. Mit dem großen öffentlichen Interesse ging eine der heftigsten intellektuellen Debatten der Zeit einher. Es erschienen etwa 150 Streitschriften für bzw. gegen Gaßner. Die Diskussion wurde besonders deshalb so intensiv geführt, weil er unvorsichtiger Weise in seiner Schrift Verhexungen für möglich erklärte und weil die Macht, die er dem Teufel zuschrieb, viele an die Zeit der Hexenprozesse erinnerte, die niemand mehr zurückhaben wollte. Der Glaube an Hexen spielte bei seiner unkonventionellen Art der Dämonenbannung allerdings in der Praxis kaum eine Rolle. Er behandelte nur in Einzelfällen als besessen oder verhext diagnostizierte Patienten. Gaßner war ein unorthodoxer Exorzist. Schon dass seine Vertreibung von Krankheiten hervorrufenden Dämonen öffentlich stattfand, und viele Menschen dabei zusahen, war nach den Regeln der katholischen Kirche nicht vorgesehen. Seine Heiltätigkeit konzentrierte sich auf die Fälle, in denen nach seiner Meinung der Teufel und seine Dämonen geläufige, medizinisch bekannte Krankheitsbilder nachahmten, um ihre Opfer dadurch in Versuchung zu führen, wie es in der Bibel von den Krankheiten Hiobs erzählt wird. Für Gaßner waren viele Erkrankungen solcher Art. Der Gedanke, dass das Umsessensein (circumsessio) von Dämonen, abgesehen von bösen Einflüsterungen, die einen schädlichen moralischen Einfluss ausüben können, in der Lage sei, einen physischen Schaden anzurichten, wurde damals in der katholischen Dämonologie weitgehend abgelehnt. Das Rituale Romanum von 1614, das exorzistische Rituale und ihren Anwendungsbereich festlegte, sah solche dämonischen Attacken und deren Abwehr nicht vor, weil es ganz auf Besessenheit (obsessio) zugeschnitten war. Doch gab es nach ihm die Möglichkeit der praecepta in nomine Jesu („Ermahnungen im Namen Jesu“), unter die man Gaßners Vorgehen, wenn man ein Auge zudrückte, einordnen konnte.47

45 Zur Größe des Besucherstroms siehe Midlefort, Eric, Exorcism and Enlightenment. Johann Joseph Gassner and the Demons of the Eighteenth-Century Germany, New Haven/London 2005, 52f. 46 Gaßner, Johann Joseph, Nützlicher Unterricht wider den Teufel zu streiten, Kempten 1774. 47 Siehe zu Gaßners Exorzismus Meißner, Beate, Urformen der Psychotherapie. Die Methode des Exorzisten Johann Joseph Gaßner (1727–1779), Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, Jahrgang 27, Nr. 1–4 (1985), 181–208. Den Streit um den Exorzisten behandeln Midlefort, Exorcism and Enlightenment. Sowie Baier, Karl, Mesmer contra Gaßner. Eine Debatte

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Um festzustellen, ob die vorliegende Krankheit auf dämonischen Ursprung oder andere Ursachen zurückzuführen war, führte Gaßner zuerst einen Probe­ exorzismus durch. Dieser war in der katholischen Fachliteratur und exorzistischen Praxis bekannt. Man war jedoch von ihm abgekommen, weil man die ohnehin Leidenden nicht zusätzlich damit belasten wollte. Gaßners Formeln dazu lauteten: „Wenn sich an dieser Krankheit etwas Unnatürliches befinden sollte, so befehle ich im Namen Jesu, dass es sich sogleich zeigen solle!“ bzw. „Teufel ich befehle dir im Namen Jesu alle Übel, die du an dieser Person verursacht hast, wieder hervorzubringen!“ Traten daraufhin keine Krankheitserscheinungen auf, wurde der Patient entlassen. Manifestierten sich jedoch Symptome, wurden sie zunächst durch die Bannung des Dämons wieder beseitigt. Daraufhin folgte der zweite Behandlungsschritt: der Unterweisungsexorzismus, der aus Selbsthilfeanleitungen bestand. Die Symptome wurden von Gaßner wiederholt heraufbeschworen, um die Patienten darin zu trainieren, die Gegenbefehle („Weiche Satan!“ etc.) selbst zu formulieren und die Krankheit in Eigenregie loszuwerden. Die Möglichkeit des Selbstexorzismus wurde in der damals verfügbaren Fachliteratur gelegentlich angesprochen, aber erst von Gaßner ins Zentrum gerückt und popularisiert. Gaßners Unterweisungsexorzismus war eine Innovation. Um diese Feinheiten seiner Heilmethode kümmerten sich die Kombattanten des spätaufklärerischen Streits freilich nicht. Hier wurden lieber alte Grabenkämpfe aufgewärmt. Die konfessionelle Spaltung Deutschlands in protestantisches und katholisches Christentum war dabei nicht ausschlaggebend. Der Kritik vor allem aufklärerischer Theologen protestantischer wie katholischer Provenienz standen Befürworter Gaßners gegenüber, die ebenfalls aus beiden Konfessionen stammten. Ende August 1774 übermittelte ihm ein befreundeter Mediziner das Schreiben eines Konstanzer Arztes, das vom Wirken Gaßners berichtet. Lavater wurde darauf hin zum prominentesten protestantischen Parteigänger Gaßners. Er begann einen Briefwechsel mit dem katholischen Pfarrer, informierte sich anhand gedruckter Quellen über seine Heilungspraxis und wandte sich an mehrere Ärzte mit der Bitte, sie aus medizinischer Sicht zu analysieren. Gaßners Exorzismen entsprachen besser als die bisher von ihm untersuchten Fälle von Anomalität und auf wesentlich spektakulärere Weise seinen religiösen Ansichten. Er war fasziniert und zunächst überzeugt, es mit einem vom heiligen Geist begnadeten Mann zu tun zu haben, der die in den Evangelien verheißene Wunderkraft des Glaubens zu dem von ihm erhofften neuen Leben erwachen ließ. Die Hexenproblematik war für Lavater kein Thema. Er verstand Gaßner als Beispiel eines frommen Menschen, der im Namen Jesu Christi Dämonen vertreibt und damit auf wunderbare Weise heilt. Schon seit einigen Jahren auf der Suche nach Zeugnissen für das direkte Eingreifen Gottes und Jesu Christi in irdische

des 18. Jahrhunderts und ihre Interpretationen in: M. Sziede/H. Zander (Hg.), Von der Dämonologie zum Unbewussten. Die Transformation der Anthropologie um 1800, Oldenbourg 2015, 47–85.

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Belange, die an die apostolische Zeit anschließen, hoffte er nun endlich fündig geworden zu sein. Gleichzeitig, und das macht ihn auch in diesem Fall zu einem Vorläufer empirischer Anomalistik, trat er für eine vor Ort stattfindende wissenschaftliche Untersuchung von Gaßners Wirken ein. Am 26. März 1775 wandte er sich mit diesem Anliegen brieflich an den Hallenser Theologen Johann Salomo Semler (1725–1791), einen der führenden Vertreter der durch die Aufklärung geprägten, damals so genannten Neologie und ihres Ansatzes einer historisch-kritischen Exegese. Semler hatte schon 1759 auf die Pu­ blikation eines aus evangelischem Kontext berichteten Besessenheitsfalles mit einer Gegenschrift reagiert, die eine als „Teufelsstreit“ bekannt gewordene Debatte in der evangelischen Theologie auslöste. Auch später befasste er sich weiter mit dieser Thematik.48 Semler stand bekanntermaßen der Annahme von Besessenheit und dämonischen Einflüssen sehr kritisch gegenüber. Lavater outete sich ihm gegenüber nichtsdestotrotz ohne Umschweife als Fürsprecher Gaßners: „Ich gestehe aufrichtig, daß ich für meine Person Gründe genug zu haben, glaube, Gaßnern für aufrichtig, und seine Wunder Krafft für ächt zu halten“.49 Er forderte Semler auf, nach Ellwangen zu reisen, oder einen Dritten an seiner statt dorthin zu schicken, um die Krankenheilungen zu untersuchen. Außerdem erklärte er sich bereit, die Reisekosten für diese Vertrauensperson zu übernehmen, falls bei der Untersuchung Unwahrheiten und Betrug aufgedeckt werden könnten. Er selber wolle, falls Gott ihn nicht hindere, ebenfalls „hingehen, zuschauen und zugreifen“.50 Den Vorwurf der Leichtgläubigkeit von Semlers Seite vorwegnehmend, verteidigte er sich, indem er darauf verwies, dass sein Urteil auf der Sammlung von möglichst zahlreichen Augenzeugenberichten zu Gaßners Wirken beruht. Und dann was kann ich mehr thun, nebst vieler Erkundigungen, die ich täglich einziehe, diese Untersuchung in die Hand eines Mannes zu stellen – der in dieser Sache so verschieden von mir denkt, als man immer denken kann? der Weltkundig ein Antagonist der Dämonologie und der Besitzung [Besessenheit] ist?51

48 Siehe Geffarth, Renko, Von Geistern und Begeisterten. Semler und die ‚Dämonen‘, in: M. Neugebauer-Wölk (Hg. unter Mitarbeit von A. Rudolph), Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Inte­ gration – Konfrontation, Tübingen 2008, 115–131; und Fleischer, Dirk, Aufklärung als kulturelle Kraft: Zum Teufelsstreit der Spätaufklärung, in: D. Fleischer (Hg.), Teufelsstreit in der Spätaufklärung. Ein Quellenband, Nordhausen 2013, IX–XLVI. 49 Semler, Johann Salomo (Hg.), Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerschen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, mit eigenen vielen Anmerkungen herausgegeben von Johann Salomo Semler, Erstes Stück, Frankfurt/Leipzig 1775, 3. 50 Semler, Samlungen, 4. Das „zugreifen“ ist meiner Meinung nach nicht wörtlich zu verstehen, sondern als eine Anspielung auf Joh 20,19–31 zu lesen. Lavater schreibt sich selbst und Semler die Rolle des ungläubigen Thomas zu. In diesem Sinn fährt er in dem zitierten Brief an Semler fort: „Wolte Gott, daß ich an Ihrer Seite schauen und greifen könnte! – und dann niederfallen mit Ihnen und anbeten, den Anbetungswürdigen, der den Weisen unserer Zeit Aergerniß und Thorheit ist.“ (Ebd.) 51 Semler, Samlungen, 5.

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Genauer gesagt, wollte er Semler dazu bringen, durch einen Besuch bei Gaßner herauszufinden, ob dieser im Namen Jesu Christi unheilbare Krankheiten heile und wenn ja, ob die jeweilige Krankheit früher ununterbrochen (notorisch) aufgetreten war und ob sie nun auf Dauer geheilt worden war. Er wünschte sich von ihm, dass er, wenn möglich, Dr. Nösselt mitnehme und die Fragen in Zusammenarbeit mit ihm beantworte.52 Hoffte Lavater, dass der empirische Nachweis von Heilerfolgen Semler und Nösselt dazu bringen könnte, ihre theologische Position zu revidieren? Offenbar war für ihn die Effektivität der Exorzismen in Bezug auf als unheilbar angesehene Krankheiten gleichbedeutend mit der Bestätigung der religiös-theologischen Deutung, die ihnen von Gaßner und seinen Anhängern unter den Theologen gegeben wurde. Dass dies ein Kurzschluss war, sollte sich bald herausstellen. Semler nahm, wie zu erwarten war, keine Kutsche nach Ellwangen und schickte auch keinen Vertreter in die dämonenträchtige katholische Wildnis Süddeutschlands. Außerdem war Nösselt gerade, wie Semler Lavater in seinem Antwortschreiben vom 12. April mitteilt, nicht verfügbar, weil verreist.53 Semlers Antwort hat zwei Stoßrichtungen gegen Lavaters Ansinnen. Er gesteht erst einmal zu, dass vermutlich viele fromme Christen mit gutem Gewissen Gaßners Exorzismen als tatsächliche Wunderheilungen auffassen. Auch von Gaßner könne man annehmen, dass er aufrichtig zu Werk gehe und seine Intention Teufel auszutreiben, ernst gemeint ist. Ebenso kann es sein, dass er wirklich Kranke heilt.54 Damit, und das ist sein erster Einwand, stünde aber noch nicht fest, dass Gaßners Heilungen tatsächlich durch die Vertreibung von Dämonen verursacht wurden. Um den Einfluss von Vorwissen auszuschließen, solle man Gaßner einen Kranken, der vorher nicht von ihm gesprochen hat und der noch nichts von ihm gehört hat, im Schlaf exorzieren lassen und schauen, was dann geschieht.55 Zweitens weist er die Forschungsfragen, die Lavater von ihm in Ellwangen geklärt haben wollte, zurück, weil sie vor Ort und auch generell nicht zuverlässig beantwortbar seien. Wie sollte man denn etwa feststellen, ob eine spezifische Erkrankung wirklich unheilbar war, bevor Gaßner sie behandelte, so dass die Annahme eines übernatürlichen Wunders gerechtfertigt wäre?56 Lavaters Replik auf diesen Brief ging am 19. Mai zur Post. Er teilt Semler darin mit, dass er in der Zwischenzeit Gelegenheit hatte, eine größere Zahl von Schriften über den Exorzisten zu lesen, die ja gerade boomten.57 Aufgrund dieser Lektüre revidiert er seinen anfänglichen Enthusiasmus. So meint er nun, dass Gaßner nicht

52 Ebd., 7. Bei Dr. Nösselt handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den der Neologie zugehörigen Aufklärungstheologen und neutestamentlichen Exegeten Johann August Nösselt (1734– 1804), der wie Semler an der Universität Halle wirkte. 53 Vgl. ebd., 82. 54 Vgl. ebd., 84f. 55 Vgl. ebd., 85. 56 Vgl. ebd., 85f. 57 Ebd., 128.

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alle Exorzismen gelingen und die meisten seiner erfolgreich therapierten Patienten wieder rückfällig werden würden. Gaßner selbst beanspruche, so Lavater nun, nicht ein Wundertäter, Apostel oder Heiliger zu sein, obwohl er viele unerklärliche Wirkungen hervorbringe und nach wie vor Tausende exorziere.58 Er würde alles im Namen Jesu tun; Anzeichen dafür, dass er statt seines Glaubens Magnetismus einsetzen würde (eine damals in der Gaßner-kritischen Literatur aufkommende Hypothese) hätte er bisher nicht berichtet bekommen. Wäre das der Fall, so müsste er als Betrüger gelten. Der Exorzist würde zwar alle Krankheiten, die er behandelt, auf den Teufel als Ursache zurückführen; das sei aber keine ausgemachte Sache. Überhaupt wären seine Theorien abgeschmackt. Sie sollten aber nicht mit den Tatsachen vermischt werden.59 „Mir ist’s um Hülfe für Hülfsbedürftige zu thun. Mir ist’s um Kraft zur Liebe, zum Gutesthun – in dieser Absicht ist mir Gaßners Sache wichtig.“60 Selbst im Fall, dass die Vermutungen Recht behalten würden, die Magnetismus als die eigentliche Wirkkraft bei Gaßners Heilungen unterstellen, wäre es wichtig zu wissen, dass es so ein Heilmittel in der Natur gibt. Noch vordringlicher wäre es freilich, zu eruieren, ob seine Heilungen im Namen Jesu geschähen, da die Anrufung Jesu für die an ihn Glaubenden zu jeder Zeit möglich sei. Hier deutet sich bereits eine später in Lavaters Mesmerismus-Rezeption stärker zum Vorschein kommende Verschiebung des Wunderdiskurses an, die den Schwerpunkt von der leidigen Übernatürlichkeit des Wunders auf das geschenkhafte Ereignis des Guten und Heilenden verlagert. Dazu später mehr. Man solle, so Lavater weiter, von Gaßner nicht die Simplizität der Apostel erwarten. Doch wäre anzuwenden, was man eine Maxime seiner Anomalistik nennen könnte: „Lasst uns aber auch sehen, ob in diesem schwachen Gefässe nicht dennoch etwas von der Kraft Gottes seyn möge. Laßt uns nicht a priori dagegen kämpfen. Untersuchen lasst uns, ob’s sey.“61 Dann würde möglicherweise Betrug oder das Spiel der Einbildungskraft (oder Magnetismus, was Lavater an dieser Stelle nicht mehr erwähnt), vielleicht aber auch die Kraft des Glaubens zum Vorschein kommen. Wie ein Wirken Gottes bzw. der diesem voraufgehende Glauben an Gott empirisch verifiziert oder falsifiziert werden könnte, lässt der Brief offen. Semler antwortete, wie gesagt, auf Lavaters Ansuchen nicht, wie dieser es sich gewünscht hatte, mit Feldforschung zu Gaßners Exorzismen, für die er im Übrigen keine Kompetenzen mitbrachte und wofür ihm von Lavater keine überzeugenden Fragestellungen vorgeschlagen worden waren. Seine Reaktion bestand in der Herausgabe einer zweibändigen Schrift, in der er die an ihn gerichteten Briefe Lavaters, seine Antworten darauf sowie eine Anzeige ihres Briefwechsels in den Hallischen gelehrten Zeitungen vom 13. April 1775 veröffentlichte. Außerdem enthält diese Publikation weitschweifige Kommentare, Zusätze und Erläuterungen

58 Ebd. 59 Vgl. ebd., 130. 60 Ebd., 132. 61 Ebd., 134.

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aus der Feder Semlers und eine Reihe von kritischen Beiträgen anderer Autoren, die nicht nur Gaßner behandeln, sondern auch die Geisterbeschwörungen Johann Georg Schröpfers (oft auch Schrepfer geschrieben, 1730/38–1774). Schröpfer war ein in Leipzig ansässiger Kaffeehausbesitzer, Zauberkünstler und Geisterbeschwörer, der sich im Milieu der Hochgrad-Freimaurerei sowie der Goldund Rosenkreuzer umtat und als Hochstapler für Skandale sorgte.62 Er gehörte zu den berühmt-berüchtigten „Scharlatanen“ der Spätaufklärung, deren bekanntester Vertreter der gleich noch zu behandelnde Cagliostro war. Die religions- und kulturgeschichtliche Bedeutung der so klassifizierten Akteure wurde bis weit ins 20. Jahrhundert durch abqualifizierende Kategorien, die meist aus der Rhetorik der Spätaufklärung stammten, herabgespielt. Erst in jüngster Zeit begann man darüber nachzudenken, welche innovativen Impulse von ihnen in den religiösen Auseinandersetzungen der Zeit und zur Verbreitung neuer Formen von Religiosität ausgingen.63 Lavater und Gaßner mit dem im protestantischen Deutschland im Vergleich mit letzterem bekannteren Schröpfer zusammenzustellen, war ein Schachzug Semlers, mit dem er die beiden desavouierte und im Übrigen der aufklärerischen Optik bezüglich des katholischen Exorzisten und seines reformierten Sympathisanten entsprach. In der Vorrede zum ersten Teil seiner Sammlung und in seinen Briefen an Lavater wiederholt Semler seine schon früher entwickelte Position, es sei unchristlicher Aberglaube den Teufel zum „Mitherrn und Mitregenten der sichtbaren Welt“ zu machen. Er leugnet die Existenz des Teufels und seinen möglichen schlechten Einfluss auf die Moral nicht, wohl aber die Meinung, er hätte „leibliche Macht“, wie etwa die Kraft Krankheiten und Besessenheit zu bewirken. Dies sei ein Aberglaube, von dem Jesus Christus die Christenheit ein für alle Mal erlöst habe.64 Die Bibel würde von diesbezüglichen Meinungen der Heiden und Juden zwar erzählen, sie aber nicht als göttliche Lehre bestätigen. Es handle sich um Geschichten für ein nichtchristliches Publikum zur Veranschaulichung der Macht Gottes und der Bedeutung Jesu Christi. Der heidnische und jüdische Aberglaube, der sich darin widerspiegele, sei der eigenen Prüfung und Beurteilung zu unterziehen und nach christlichem Verständnis zurückzuweisen.65

62 Ebd., Zweites Stück, Halle 1776. 63 Vgl. dazu Hannemann, Tilman, Scharlatane der Aufklärung. Christoph Kaufmann und Alessandro Cagliostro, ZRGG 66, 2 (2014), 163–185. Mir scheint, dass die „Scharlatane“ Pioniere in der Erschließung eines sich in der Spätaufklärung öffnenden alternativreligiösen Feldes jenseits der etablierten kirchlichen Organisationen waren; ein Feld individualisierter Religion, das z. T. bereits auf marktförmigen Tauschbeziehungen beruht und wo ethische Richtlinien für die Selbstinszenierung der jeweiligen Player zunächst nicht sehr wichtig waren, was sie natürlich angreifbar machte, wenn sie über die Stränge schlugen. Zu den historischen Ursprüngen des spätaufklärerischen Scharlatan-Diskurses im frühen 18. Jahrhundert siehe Asmussen, Tina/Rößler, Hole (Hg.), Scharlatan! Eine Figur der Relegation in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur, (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 17), Frankfurt a. M. 2013. 64 Semler, Samlungen, Erstes Stück, Vorrede, a 4f, b 2. 65 Ebd., Erstes Stück.

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Lavater selbst hatte schon im Mai 1775 keine Lust mehr, möglichst schnell ein Treffen mit Gaßner zu arrangieren. In seinem zweiten Brief an Semler führt er dafür mehrere Gründe auf: Warnungen von Freunden vor einem Besuch, das Studium ernstzunehmender Schriften gegen den Exorzisten und die ihn persönlich verletzende satirische Kritik an seiner Person, seiner Beziehung zu Mirakulanten und seiner Idee eines Fortlebens neutestamentlicher Wunder­gaben durch Johann Jacob Hottinger.66 Er wollte es, in Bezug auf Gaßner vorsichtig geworden, vermeiden durch ein Treffen mit dem Exorzisten weiter Öl ins Feuer zu gießen, und wartete ruhigere Zeiten ab. Lange hatte er nicht auszuharren, denn schon bald verschwand der Exorzist wieder aus dem Rampenlicht der spätaufklärerischen Debattiergesellschaft. Gaßners politische und kirchliche Gegner hatten, um ihn loszuwerden, nach einer hinlänglich erfolgreichen Therapieform gesucht, die der seinen ähnlich war, aber ohne dämonologischen Erklärungsrahmen auskam. Die vielen Heilungen Gaßners sollten durch „natürliche“ Ursachen erklärt werden. Schließlich war man auf die Magnetkur des in Wien praktizierenden Arztes Franz Anton Mesmer (1734–1815) gekommen, der im November 1775 mit der Demonstration seines animalischen Magnetismus vor den Mitgliedern der bayerischen Akademie der Wissenschaften in München und mittels eines daran anschließenden Gutachtens die Mitglieder der Akademie überzeugen konnte, dass er mit der Kraft des animalischen Magnetismus dieselben Effekte erzielen konnte wie Gaßner, ohne auf das Wirken von Dämonen oder Jesus Christus zurückgreifen zu müssen. Damit war das Ende der Laufbahn Gaßners als Star-Exorzist gekommen. Lavater misstraute Mesmer und seiner Reduktion von Gaßners Exorzismus auf die natürliche Kraft des animalischen Magnetismus. Im Januar 1776 schrieb er in einem Brief an seinen Freund Eberhard Gaupp: „Mesmer steht dreihundert Schritt hinter Gaßner. Lassen Sie sich durch diesen Windbeutel nicht irre machen.“67 Seine Vorbehalte gegen Mesmer als Person werden sich erst im Jahr 1787 legen, als er dem berühmt-berüchtigten Arzt persönlich begegnete. Die durch Puységur weiterentwickelte Form des Mesmerismus spielte in seinem Leben schon vorher eine wichtige Rolle, worauf unten näher eingegangen wird. Im Juni 1778 kam es dann auf Anraten von Lavaters damaligem Freund Christoph Kaufmann (1753–1795), der den Exorzisten aufgesucht und einen guten Eindruck von ihm mitgebracht hatte, doch noch zu einem Treffen mit Gaßner im Rahmen von Lavaters Reise nach Bayern.68 Den Besuch anbahnend schickte

66 Hottinger, Johann Jacob, Sendschreiben an den Verfasser der Nachricht von den Zürcherischen Gelehrten, worinn Nachrichten von Lavater enthalten sind, Berlin/Leipzig 1775. 67 Milt, Bernhard, Franz Anton Mesmer und seine Beziehungen zur Schweiz. Magie und Heilkunde zu Lavaters Zeit, Zürich 1953, 53. 68 Siehe dazu die Aufzeichnungen Lavaters in Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebuch nach Süddeutschland 1778, in: Ders., Reisetagebücher, Teil II: Reisetagebuch nach Süddeutschland 1778. Reisetagebuch in die Westschweiz 1785. Brieftagebuch von der Reise nach Kopenhagen 1793, hg. v. Horst Weigelt, Göttingen 1997, 1–28.

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ihm Lavater schon im Vorjahr einen Brief.69 Er pries darin Gaßner selig, weil er von Gott in die Stille zurückgeführt worden sei. Selber „des Geräusches herzlich müde“, wünschte er sich ein Gespräch, von dem die Öffentlichkeit nichts erfahren sollte.70 Außerdem teilte er etwas von den persönlichen Motiven mit, die ihn bewegten, die Begegnung mit dem Exorzisten zu suchen. Meine Seele dürstet nach einem lebendigen Zeugen des lebenden Jesus. Ich bedarf nichts weniger als einem unmittelbar verbundnen Jesus. Mit Wort und Schall kann ich mich nicht mehr begnügen. Mein thun und laßen, predigen und schreiben ist mir unerträglich. […] Mir ist erst um Erfahrung, um Gewißheit zu thun. Ich hoffe sie von ihrer Seite zu finden.71

Gaßners Exorzismen waren damals schon von weltlicher (Kaiser Joseph II.) und geistlicher Macht (Papst Pius VI.) für das gesamte Heilige Römische Reich Deutscher Nation und im Bereich der katholischen Kirche verboten worden. Er war nach Pondorf an der Donau versetzt worden, wo er als Pfarrer und Diakon die wenigen Lebensjahre verbrachte, die ihm noch blieben. Lavater hielt sich in Begleitung des Bruders von Christoph Kaufmann, Ulrich, einen Tag lang bei Gaßner in der kleinen niederbayerischen Ortschaft auf. In seinem Reisetagebuch beschreibt er den Besuch recht genau.72 Man erfährt vom äußeren Erscheinungsbild Gaßners („Oben kahl, gefaltete Stirn […], sehr ehrliche, aber ganz gemeine Augen; eine ganz gemeine Nase. Viel Liebe, Sanftmuth u. doch etwas bisweilen Zorn zeigendes im Munde. Eine sanfte, sehr oft aber rohtönende Sprache“). Lavater gibt den Inhalt ihrer Gespräche wieder, auf die er sich durch die Ausformulierung einiger Fragen an Gaßner vorbereitet hatte, und schreibt ein detailliertes Protokoll der Behandlung eines Verwalters namens Bauer durch den Exorzisten. Außerdem erfährt man, dass er seinen Husten und ein ihn oftmals überkommendes Gähnen (u. a. bei Gottesdiensten) von Gaßner behandeln ließ. Auch Kaufmann nahm die Hilfe des Exorzisten in Anspruch. Die Behandlungen verliefen recht enttäuschend. Lavater tröstete sich auf der Weiterreise mit der Lektüre von mitgebrachten Gaßneriana, die imposantere Heilungssitzungen enthielten als die, die er in Pondorf erlebt hatte. Er kommt mit deren Hilfe schließlich zu dem halbwegs erwünschten Resultat, „die Möglichkeit dieser Wirkungskraft des Menschen auf Menschen beynahe so praktisch zu glauben, wie wenn ich all das mit angesehen hätte“. Außerdem vermutet der Zürcher Gelehrte, seiner Theorie entsprechend, dass es sich dabei um eine allen Menschen als Ebenbildern Gottes innewohnende magische Kraft des Geistes über den Körper bzw. die Körperwelt handelt, die immer weiter zu vervollkommnen ist und im Glauben an Jesus Christus zu höchster Blüte 69 Das Schreiben vom 3.05.1777 ist abgedruckt in: Lavater, Johann Caspar, Briefe von Johann Caspar Lavater und an ihn und seine Freunde, Bremen/Leipzig 1787, 123–130. 70 Ebd., 125. 71 Ebd., 127f [Hervorh. i. O.]. 72 Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebuch nach Süddeutschland 1778, in: Ders., Reisetagebücher, Teil II, 9–18.

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gelangen kann.73 Viele von Gaßners Heilungen mit der Kraft Christi hätten alle bekannten Naturphänomene überschritten. Dämonen oder der Teufel spielen in diesem abschließenden Urteil keine Rolle mehr, das mehr nach dem von der liberal-protestantischen Mind Cure-Bewegung des 19. Jahrhunderts vertretenen „mind over matter“-Prinzip klingt als nach einem Plädoyer für den üblichen katholischen Exorzismus. Nach den im Reisetagebuch gegebenen Beschreibungen der Behandlungen Gaßners und seiner Anleitungen zur Selbsthilfe ist Gaßners Vorgehen zwar weiterhin von seinem Dämonenglauben geprägt, in der Praxis steht jedoch die Vertreibung der aktuell auftretenden Beschwerden stärker als früher im Vordergrund. Es geht darum, im Vertrauen auf Gott und sich selbst dem als böse (dämonisch) erkannten Symptom ein entschlossenes „Weiche!“ entgegenzusetzen. Nach seiner Bayern-Reise ließ Lavater die Causa Gaßner auf sich beruhen. Von seinen nachtragenden Gegnern wurde sein Eintreten für das Ernstnehmen des katholischen Heilers bei jeder passenden Gelegenheit erneut gegen ihn ausgespielt.

Guiseppe Balsamo alias Alessandro di Cagliostro In den folgenden Jahren führten Lavater seine anomalistischen Interessen in die teils aristokratische, teils bürgerliche Bildungselite der damaligen Zeit, der er selbst angehörte. In deren Gefilde blühten damals Geheimgesellschaften, die einen Freiraum für das Experimentieren mit neuen Formen religiösen Lebens boten, und dazu kreativ auf die alten „okkulten Wissenschaften“ zurückgriffen, die sich bereits mit Anomalien befasst hatten und im Besitz von Schlüsseln zu verborgenen Fähigkeiten des Menschen zu sein schienen.74 Graf Alessandro di Cagliostro, bzw. der sich nach heutigen, nicht ganz gesicherten Kenntnissen hinter diesem Namen verbergende Guiseppe Balsamo (1743– 1795) ist hier an erster Stelle zu nennen. Der Freimaurer, Alchemist, Magier und Heiler mit Hang zur Hochstapelei und Betrügereien war eine der umstrittensten Figuren im Europa des späten 18. Jahrhunderts. Er bereiste als Arzt und Verkäufer von Medikamenten ganz Europa „entlang den freimaurerischen Bruderketten“75 und verbreitete dabei seinen „ägyptischen Ritus“, ein von ihm erfundenes freimaurerisches Hochgradsystem, das der körperlichen, moralischen und reli-

73 Ebd., 19. 74 Hanegraaff, Wouter J., The Notion of ‚Occult Sciences‘ in the Wake of the Enlightenment, in: M. Neugebauer-Wölk/R. Geffarth/M. Meumann (Hg.), Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne, Göttingen 2013, 73–96. 75 Kriemler, Daniel, Cagliostros Geheimrezepte. Magistralformeln aus dem Ancien Régime, Basel/ Frankfurt a. M. 2018, 16.

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giösen Veredelung dienen sollte und die Entwicklung magischer Kräfte inklusive der Kommunikation mit Geistern in Aussicht stellte.76 Lavater wurde 1779 durch Elisa von der Recke auf Cagliostro aufmerksam gemacht, die damals eine seiner Anhängerinnen war, sich später aber von ihm abwandte und 1787 eine Cagliostro-kritische Schrift bei Friedrich Nicolai (1733– 1811), dem Kopf der Berliner Aufklärung publizierte.77 Im Januar 1781 suchte er den Magier in Straßburg auf, wo Cagliostro durch sein ärztliches Wirken gerade viel Aufsehen erregte. Er reiste mit einem Freund, dem Arzt Johannes Hotze, der später Lavaters mesmeristische Behandlung seiner Frau Anna supervidieren wird, und einem „jungen Tobler“ (wohl dem Sohn Georg Christoph Toblers) an. Lavater und Hotze kamen aus persönlichem Interesse zu Cagliostro, hatten aber auch einen Auftrag zu erfüllen. Sie sollten seine Fähigkeiten und seinen Charakter prüfen, um herauszufinden, ob er als Arzt für die an schweren Gichtanfällen leidende Gertrud Sarasin-Battier in Frage kam. Lavater stand der Basler Familie Sarasin nahe, und erfüllte damit eine Bitte von Gertruds Ehemann, dem mit ihm befreundeten wohlhabenden Fabrikanten Jakob Sarasin.78 Von professioneller Interviewanbahnung und -führung im heutigen Sinn kann keine Rede sein. Das erste Treffen missglückte, weil Hotze seinen Status als Arzt verheimlichte und sich generell sehr verschlossen gab. Cagliostro wusste nichts mit ihm anzufangen. Außerdem missfiel ihm die anscheinend unangekündigte Anwesenheit Toblers, der bei ihm den Eindruck hinterließ, selber nicht gewusst zu haben, warum er dem Gespräch beiwohnte.79 Ein unbefangener Gedankenaustausch konnte in der angespannten Atmosphäre nicht stattfinden. Lavater versuchte am darauffolgenden Tag einen zweiten Anlauf und ließ Cagliostro einen Zettel mit drei Fragen überreichen: „Woher stammen ihre Kenntnisse? Wie haben sie diese erlangt? Worin bestehen sie?“ Der Magier antwortete

76 Vgl. Kriemler, Cagliostros Geheimrezepte, 16. Die Rezepte Cagliostros halten sich im Rahmen dessen, was man aus Arzneibüchern der Epoche kennt. Pharmaziegeschichtlich nimmt Cagliostro, der in seiner Jugend als Apothekergehilfe gearbeitet haben soll, eine konservative Position ein. Die neuen medizinischen Lehrgebäude des 18. Jahrhunderts werden von ihm nicht berücksichtigt. Siehe Kriemler, ebd., 103f. 77 Vgl. Recke, Elisa von der, Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen, Berlin 1787. Lavater meinte 1793 zu ihrer Abkehr von Cagliostro, dass Elisa selbst wenn dieser ein kompletter Betrüger wäre, unedel gehandelt habe, weil sie ihn während seiner Inhaftierung angriff und sie ihren Freund nicht vor der Veröffentlichung ihrer Anklagen persönlich zur Rede gestellt hatte. Vgl. Lavater, Reisetagebücher, Teil II, 291. Er brach mit ihr, weil sie seinen Namen in diesem Werk im Zusammenhang mit Cagliostro nannte und seinen Kontakt mit ihm als förderlich für Cagliostros Bekanntheit beschrieb. 78 Siehe zu dieser Episode Langmesser, August, Jakob Sarasin, der Freund Lavaters, Lenzens, Klingers u. a. Ein Beitrag zur Geschichte der Genieperiode, Zürich 1899, 31–41. 79 Vgl. ebd., 33. Die maßgebliche Quelle für Cagliostros Einschätzung dieses ersten Treffens und für sein Verhältnis zu Lavater ist ein Brief von Mattei an Lavater vom Ende März 1781, abgedruckt in Hegner, Ulrich, Beiträge zur nähern Kenntniß und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater’s, Leipzig 1836, 238f.

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kurz angebunden: „In verbis, in herbis, in lapidibus“. Diese Formel ging in die Literaturgeschichte ein, weil Goethe, der durch Lavater von Cagliostros Antwort wusste, sie in seinem gesellschaftskritischen Lustspiel „Der Groß-Kophta“ anführt, in dem Cagliostro und sein Erfolg persifliert werden. Sie stammt nicht von Cagliostro selbst, sondern geht auf eine in mittelalterlichen medizinischen Werken und alchemistischen Schriften öfters zitierte Sentenz zurück, die dem König Salomon zugeschrieben wurde.80 Auf Goethes Nachfrage hin, schilderte Lavater ihm in einem Brief vom 3. März 1781 seine Einschätzung Cagliostros: Cagliostro ist ein höchst origineller, kraftvoller, unerhabener und in gewissem Betracht unaussprechlich gemeiner Mensch; ein Paracelsischer Sternnarr, – ein hermetischer Philosoph, – ein Arkanist, – ein Antiphilosoph – – das ist nun wohl das Schlimmste, was von ihm gesagt werden kann. Ohn’ alles, was von ihm erzählt wird – So wie er dasteht, gewiß ein Erzfester, höchstprägnanter Mann. […] Die sieben Geister stehen ihm zu Dienst, sagt er, diese könne er sehen, hören, fühlen wie mich. Auf den Wahrsagergeist macht er unzweideutigen Anspruch. Ich glaube, ganz ruhig, provisionell, was er sagt, obgleich ich sicher bin, dass der Mann oft über seinen Glauben hinauswill und anprellt. Ohne Charlatanerie ist er gewiss nicht, obgleich er dennoch kein Charlatan ist.81

Die über ihn kursierenden Gerüchte beiseitelassend, zeichnet Lavater hier wie auch anderen Orts Cagliostro als originelle und willensstarke Persönlichkeit mit schlechten Manieren, die gleichwohl durch ihr charismatisches Auftreten zu überzeugen vermag.82 Mit dem Verweis auf Paracelsus und die Hermetik wird der geistige Horizont des Magiers angezeigt, wobei Lavater sich durch die Bezeichnung 80 Vollständig lautet der Spruch „In verbis, in herbis, in lapidibus magna vis [bzw. Deus] est“. Vgl. dazu Gerhardt, Christoph/Schnell, Bernhard, IN VERBIS IN HERBIS ET IN LAPIDIBUS EST DEUS. Zum Naturverständnis in den deutschsprachigen illustrierten Kräuterbüchlein des Mittelalters, Trier 2002. Die spätere Alchemie und der Paracelsismus beziehen sich auf diese Sentenz. Helmont etwa widmete ihr den Aufsatz De virtute magna in verbis, herbis et lapidibus. Siehe Helmont, Johan Baptista, Opera Omnia, Frankfurt 1707, 544–552; Eckhartshausen, Karl von, Aufschlüsse zur Magie aus geprüften Erfahrungen über verborgene philosophische Wissenschaften und verdeckte Geheimnisse der Natur, München 1788, 286, geht sieben Jahre nach Cagliostros Antwort auf Lavaters Fragen bei seiner Interpretation des Spruches davon aus, dass sein gebildetes Zielpublikum, das an einer die aufklärerische Kritik rezipierenden affirmativen Lesart der Magie interessiert ist, den Spruch kennt: „Es ist die Sprache der Alten bekannt. In verbis, herbis et lapidibus, sagten sie, sind viele und verborgene Kräfte. Einige verlachten diese Sentenz; andere nahmen sie zu pünktlich, und die Folge war Schwärmerey“. 81 Funck, Heinrich (Hg.), Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher, Weimar 1901, 152f. 82 Vgl. dazu die ähnliche Charakterisierung Cagliostros durch: Recke, Elisa von der, Nachricht, 13: „So ungeschliffen sein äußerliches Betragen war, indem er oft jeden von uns ohne geringste Ursache ungestüm anfuhr, so sittlich betrug er sich übrigens in allen seinen Reden. Er gab vor, daß diejenigen, die mit Geistern in Gemeinschaft kommen wollten, durchaus alles Materielle bekämpfen müßten; daher that er auch, als ob er im Essen und Trinken mäßig wäre, ob er’s gleich eigentlich gar nicht war. Wir waren aber zu sehr von ihm eingenommen, um auch diesen Widerspruch in ihm zu bemerken“.

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„Sternnarr“ von seiner Iatroastrologie distanziert. Der Terminus „Anti-Philosoph“ soll sehr wahrscheinlich auf die mangelnde philosophische Begabung des Magiers hinweisen. Sie besagt jedenfalls nicht, dass Cagliostro ein Gegner jeglichen Philosophierens sei, da Lavater ihn ja im selben Atemzug einen hermetischen Philosophen nennt. An einer späteren Stelle desselben Briefes heißt es dazu mit Verweis auf den geringen Wert der Theorien eines anderen ausgesprochenen Praktikers, den er kennengelernt hatte: „Sobald er räsonirt geht’s ihm wie Gassnern. Er muß handeln.“83 Der Begriff Arkanist bedeutet nach dem Sprachgebrauch der Zeit eine fachkundige Person, die im Besitz geheim gehaltener Rezepturen oder Herstellungsverfahren ist (meist in Bezug auf die Porzellanherstellung, aber auch auf andere Gebiete) und bezieht sich damit auf Cagliostro als Hersteller von Arzneimitteln nach Geheimrezepten. Lavater berichtet weiter, dass Cagliostro die Fähigkeit, Geister zu beschwören und wahrzusagen, für sich in Anspruch nimmt und stellt dies nicht rundweg in Abrede. Er kritisiert aber an ihm, dass er oft mehr will, als er kraft seines Glaubens vermag.84 Scharlatanerie im Sinn der Vortäuschung von anomalen Fähigkeiten sei seinem Tun beigemischt, ohne dass sein ganzes Auftreten darauf zu reduzieren wäre. Goethe gegenüber fasst er den zwiespältigen Eindruck, den der Magier auf ihn machte, wenig später in folgende Worte: „Cagliostro seh’ ich an, wie du – als eine laterne magique für einzelne Seiten der Menschheit – als Siegel auf meine Hypothese, daß der Mensch Gott und Satan, Himmel und Erde, alles in Einem sey.“85 Mit den sieben Geistern, über die zu gebieten Cagliostro behauptete, sind die sieben Geister gemeint, die laut Apk 1,4 vor Gottes Thron stehen. In Cagliostros ägyptischer Freimaurerei spielt die Kommunikation mit ihnen eine zentrale Rolle. Lavater versteht darunter wie der Magier selbst die sieben erstgeschaffenen und damit Gott nächsten und machtvollsten Engel. In einem Brief an Sarasin aus dem Jahr 1782 zweifelt er angesichts von Cagliostros moralisch fragwürdigem Verhalten an dessen Behauptung, sie stünden ihm zu Diensten, und redet Sarasin ins Gewissen, Cagliostro diesbezüglich nicht zu trauen. Nihm dich, Lieber, in acht in Ansehung der sieben Geister Gottes. Wenn der letzte, tiefste Handlanger des letzten, tiefsten Engels ein Wort mit mir gesprochen hätte – welch ein Mensch würd’ ich seyn! Ueberdenk’ die Milliarden–mal Milliarden Stuffen zu einem der sieben um Gott. Die Prätention ist so enorm, als wenn man die Sonne wie eine Taschenuhr bey sich tragen wollte. […] Mit den sieben Geistern Umgang haben und lügen und eitel seyn in dem Grade – ach! wie kann ich das zusammenfassen!86

83 Ebd., 155 [Hervorh. i. O.]. 84 So interpretiere ich die unklare Formulierung, „dass der Mann oft über seinen Glauben hinaus will, und anprellt“. 85 Brief von Lavater an Goethe vom 31.03.1781, zit. nach Funck (Hg.), Goethe und Lavater, 167. 86 Zit. nach Langmesser, Sarasin, 41 [Hervorh. i. O.].

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Mit dem „ruhigen, provisionellen Glauben“, den er Cagliostro gegenüber dennoch aufbieten möchte, nennt er die Grundhaltung, mit der er seine anomalistischen Studien betreiben wollte. Man könnte von einem Prinzip der wohlwollenden Interpretation sprechen, dem gemäß den Interviewpartnern nicht von vorneherein Irrationalität, Lug und Trug oder Befangenheit in Irrtümern unterstellt wird. Lavater begegnet ihnen vielmehr mit einem Vertrauensvorschuss in Bezug auf die Validität ihrer Aussagen. Während die Berliner Aufklärer als seine paradigmatischen Gegenspieler in Sachen Anomalistik angesichts von Leuten, die als Schwärmer oder Scharlatane in Frage kamen oder als Geisterseher auftraten, automatisch einer Hermeneutik des Verdachts folgten und ihren philosophischen Voraussetzungen entsprechend bereit waren, ohne gründlichere Untersuchung Betrug oder Irrtum am Werk zu sehen, steht sein Vorgehen für ein unvoreingenommenes Ernstnehmen. Allerdings überzieht er diese Einstellung oft und fällt ins gegenteilige Extrem. Er klammert in diesen Fällen seinen eigenen weltanschaulichen Hintergrund nicht ein und neigt deshalb entgegen der eigenen Intention dazu, das Vorliegen von Anomalien zu unterstellen, wo eine kritischere Prüfung am Platz gewesen wäre. Man gewinnt dann den Eindruck, Lavater vertrete ein „Irgendwas ist immer dran!“Prinzip. Das wurde ihm von seinen Gegnern natürlich als Leichtgläubigkeit und Naivität ausgelegt, was seinen reflektierten Zugang simplifiziert. Lavaters Vertrauen in die medizinische Kompetenz Cagliostros war jedenfalls groß genug, um Jakob Sarasin zu empfehlen, ihn zur Therapie seiner Frau heranzuziehen. Sie wurde unter Cagliostros Behandlung gesund und ihr Ehemann einer seiner begeisterten Anhänger. Bei Lavater, der Cagliostro noch drei weitere Male (Oktober 1781, Juli 1782 und Juni 1783)87 persönlich begegnete, überwog schließlich die Skepsis, vor allem wegen der überheblichen Selbstdarstellung des Magiers.88 1786, als Lavaters Eintreten für den Mesmerismus heftige Diskussionen hervorrief (siehe unten), holte ihn die Beschäftigung mit Cagliostro noch einmal ein. Im April erschien in Berlin, wo sich gerade der aufklärerische Politiker und Literat Honoré-Gabriel Comte de Mirabeau (1749–1791) für mehrere Monate aufhielt, ein Pamphlet aus der Feder des berühmten Grafen in deutscher und französischer Sprache, gedruckt mit Unterstützung von Friedrich Nicolai.89 Cagliostro war damals zu Unrecht, wie sich herausstellte, im Zuge der berühmten HalsbandAffäre, einer französischen Hofintrige, die über die Landesgrenzen hinaus großes Aufsehen erregte, verhaftet und angeklagt worden. Der berüchtigte Magier stand damit wieder einmal im Rampenlicht der europäischen Presse. In dieser Situa-

87 Ich folge in Bezug auf die Treffen Lavaters mit Cagliostro Weigelt, J.K. Lavater, 36f. 88 Siehe dazu auch Lavater, Johann Caspar, Rechenschaft an Seine Freunde. Erstes Blat [sic!], Winterthur 1786, 8–10. 89 Mirabeau, Comte de, Lettre du Comte de Mirabeau à *** sur M. M. de Cagliostro et Lavater, à Berlin 1786; bzw. Schreiben des Grafen von Mirabeau an *** die Herren von Cagliostro und Lavater betreffend, aus dem Französischen übersetzt, Berlin/Libau 1786. Vgl. dazu Hartung, Günter, Johann Friedrich Reichardt in den Weltanschauungskämpfen der Jahre 1785 bis 1795, in: Ders., Werkanalysen und -kritiken, Leipzig 2007, 115–145, hier 133f.

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tion sorgte Mirabeau mit seinem polemischen Schreiben dafür, dass Lavaters differenziert positive Einschätzung Cagliostros auf internationaler Ebene skandalisiert wurde. Im selben Jahr antwortete Lavater mit einer Verteidigungsschrift, in der er sein Verhältnis zu Cagliostro erläutert und sich erneut dagegen verwahrt, Cagliostro in Bausch und Bogen als Betrüger abzustempeln und zu verleugnen, was er ihm an Positivem verdankt.90

Franz Josef von Thun und der Geist Gablidone Einen weiteren Skandal in der an öffentlichen Erregungen reichen Zeit verursachte Lavaters Zusammenfassung von Gesprächen, die der aus Böhmen stammende Graf Franz Josef von Thun (1734–1801), mit dem er schon einige Jahre eine Brieffreundschaft pflegte, im Juli 1781 während eines etwa vierzehntägigen Aufenthalts in Zürich mit Lavater und Personen aus seinem Bekanntenkreis führte. Thun war für einige Zeit Anhänger der Strikten Observanz gewesen, stand mit den Illuminaten von Avignon in Verbindung und gehörte sehr wahrscheinlich zur Wiener Loge der Asiatischen Brüder.91 Lavater empfing den Grafen ursprünglich nicht, um mit ihm über anomale Phänomene zu sprechen, sondern um die Unterschiede zwischen den Religionen und ihr Verhältnis zueinander zu diskutieren. Als Thun ihn im Laufe ihrer Konversationen fragte, ob er etwas „von der heiligen Cabbala oder der ächten Magie“ wüsste, antwortete Lavater geschickt mit der Aufforderung, Thun möge doch berichten, was er davon wisse.92 Das löste, wie Lavater berichtet, eine lange Erzählung aus, deren Faden Thun mit Unterbrechungen während seines Aufenthalts in Zürich immer wieder aufnahm, auch in Unterhaltungen mit Lavaters Bruder und zwei anderen Personen aus seinem Umfeld. Lavaters Protokoll enthält keine Mitoder Nachschriften dieser Gespräche, sondern eine erste Auswertung. Er clustert die Themen, welche Thun in den diversen Konversationen wiederholt ansprach, in dreißig nummerierten Abschnitten, ohne die Validität des Berichteten zu evaluieren oder die Inhalte über ihre thematische Ordnung hinaus zu interpretieren. Thuns Erzählungen drehten sich um die Kommunikation mit einem spiritus familiaris (d. h. dem wohlmeinenden, hilfreichen Geist eines Verstorbenen)

90 Vgl. Lavater, Johann Caspar, Rechenschaft an seine Freunde, 8–10. Lavater führt darin aus, dass er Cagliostro für nicht spezifizierte, wahrscheinlich ärztliche Dienste dankbar ist. Er lobt seine Bildung und seine Überlegenheit gegenüber vielen, die über ihn spotten. Die Natur würde nur alle paar Jahrhunderte eine Gestalt wie diese formen, und es sei sehr bedauerlich, dass jemand wie er so sehr verkannt würde, wozu er selbst durch viele „Hartheiten und Kruditäten“ beigetragen habe. 91 Vgl. Cerman, Ivo, Aufklärung oder Illuminismus? Die Enzyklopädie des Grafen Franz Josef Thun, Stuttgart 2015, 84–87. 92 Anonymus, Lavaters Protokoll über den Spiritus Familiaris Gablidone. Mit Beylagen und einem Kupfer, Frankfurt/Leipzig 1787, 28.

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namens Gablidone, bei dem es sich angeblich um einen jüdischen Kabbalisten aus vorchristlicher Zeit handelte. Seit etwa 1766 hatte der Graf an Treffen teilgenommen, bei denen Gablidone Fragen beantwortete. Ein Geisterseher mit dem Künstlernamen Maganephton, der vorher in Wiener Kneipen als Zauberer aufgetreten war, fungierte dabei als Medium. Zeitweilig bildete sich um die Kommunikation mit diesem Geist sogar, dem Zeitgeist entsprechend, eine Geheimgesellschaft, die Gablidone-Bruderschaft, die aber spätestens nach dem Tod Maganephtons im Jahr 1778 aufhörte zu bestehen.93 Lavater bewahrte das Protokoll von Thuns Berichten in seinen „Collectanea“ auf, einer privaten Sammlung von nach seiner Angabe insgesamt zwanzig Dokumenten, die vornehmlich anomale Phänomene aus unterschiedlichen, auch kritischen Perspektiven behandelten.94 1787 wurde das Manuskript unter ungeklärten Umständen aus seinem Besitz gestohlen und von einem anonymen Herausgeber mitsamt einer polemischen „erklärenden Einleitung“ veröffentlicht.95 Ziel der Publikation war es, Lavaters angeblich schädlichen Einfluss auf seine Anhängerschaft und die weitere Öffentlichkeit zu unterbinden, indem man ihn lächerlich machte. Nebenbei wurde die aufklärerische Verschwörungstheorie von den verderblichen Umtrieben des Jesuitenordens (der als skrupellose Geheimorganisation der katholischen Propaganda galt) weitergesponnen. Die Jesuiten sollten auch hinter den Machenschaften Maganephtons stehen und Lavater würde ihnen bewusst oder unbewusst zuarbeiten. Um Lavaters Verstrickung in die jesuitische Verschwörung zu suggerieren, wird das Genre des Manuskripts umgedeutet. Eine sich des Urteils über die Erzählung Thuns enthaltende Zusammenfassung seiner Aussagen wird als naives Plädoyer für die Echtheit einer Geistererscheinung, die auf offensichtlichem Schwindel beruhe, hingestellt.96 Lavater wird unterstellt, er gäbe die Täuschungen Maganephtons und der Jesuiten als echte Wunder aus und würde zudem andere Schriften dieser Art im Rahmen seines großen privaten Netzwerks außerhalb der Öffentlichkeit verbreiten. In seiner Replik auf den Diebstahl und Raubdruck rückt Lavater die Intention seines Protokolls zurecht und schlägt an manchen Stellen einen verbitterten Ton an, der angesichts des ihm widerfahrenen Unrechts verständlich ist.97 Er hielte nun alles für möglich, „nachdem man nicht mehr gut findet, mir die ersten Rechte der

93 Vgl. zur Gablidone-Affäre Cerman, Aufklärung oder Illuminismus? 87–94. 94 Siehe dazu Lavater, Johann Caspar, Ueber Gablidon, Geisterseherei, Zauberey. An Herrn M.v.B., Antworten auf wichtige und würdige Fragen und Briefe weiser und guter Menschen, Stück 1, Eine Monatsschrift von Johann Caspar Lavater (Berlin 1790), 86–98, hier 86f. 95 Anonymus, Lavaters Bericht über den Spiritus Familiaris Gablidone. Vgl. auch die ebenfalls polemische Darstellung der Gablidone-Episode in Brabbée, Gustav, Sub Rosa. Vertrauliche Mittheilungen aus dem Leben unserer Grossväter, Wien 1879, 40–106, besonders 45ff. 96 Vgl. Anonymus, Lavaters Bericht, 19. 97 Lavater, Ueber Gablidon. Es handelt sich bei diesem Beitrag um einen Brief an Markgraf Karl Friedrich zu Baden vom 18.12.1788, dessen revidierte Fassung 1790 in Lavaters gerade gegründetem Periodikum abgedruckt wurde.

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Menschheit und des Eigenthums angedeihen zu lassen – in dem Zeitalter, wo von nichts als Aufklärung und Toleranz gesprochen wird“.98 Er nutzt außerdem die Gelegenheit für ein Resümee aus den von ihm gesammelten Informationen zu Geistererscheinungen und ihrer Invokation. Es sei nicht alles Betrug; ob Gablidone tatsächlich ein Geist aus dem Totenreich ist oder nicht, könne er bei seinem jetzigen Wissensstand weder beweisen noch widerlegen. Wichtiger als die Frage nach Wahrheit oder Betrug sei jedoch der Gesichtspunkt, dass es sich nicht lohne, diesen Dingen groß nachzugehen, weil die Botschaften dieser Art von Geistern in der Regel unergiebig seien und „nichts zum wahren, geistigen Vortheil der armen, sündigen Menschheit dabey herauskommt“.99 Die Operationen der Geisterseher würden zu keinen Erkenntnissen führen, die man nicht auf leichteren und weniger gefährlichen Wegen erlangen könne. Wer sich zu sehr mit diesen Dingen abgebe, stünde in Gefahr, sich im Suchen zu verirren und zusammen mit dem friedvollen Gottesglauben die Ruhe des Herzens zu verlieren. Ein Sehen und Beschwören von Geistern, das nicht zu größerer Weisheit, Demut, Liebe, Lebendigkeit, Freiheit und Freude führt, sei eine armselige Kunst.100 Eben dies habe er aber unter den Geistersehern bisher nicht gefunden. Man sollte sich deshalb mit Divinationsgeschichten, Zauberei und Geistererscheinungen nicht aus bloßer Neugier befassen, sondern nur um „philosophische Untersuchungen“ durchzuführen.101 Als Motiv für seine Collectanea gibt er an: „Ich sammle gern Phänomene aller Art, um entweder die Größe oder Kleinheit des Menschen kennen zu lernen, seine Kraft, oder seine Kunst, Kraft ohne Kraft nachzuäffen“.102 Würden sich die Geschichten von den Erscheinungen Gablidones als wahr erweisen, hätte er bestenfalls „ein Datum mehr von der Dämonen Existenz, oder, der Unsterblichkeit, das für mich allenfalls gewisse Lücken ausfüllen könnte“, ohne dass dies sein „Gedankensystem“ oder seine Gesinnung wesentlich verändern würde.103 Anders verhielte es sich mit dem Bedürfnis der eigenen Würdigkeit entsprechend mit reinen Geistern Umgang zu pflegen. Das sei der Boden für wahre und beseligende Religion. Die Ahnung der himmlischen Abkunft des Menschen und die Empfänglichkeit für geistige Einflüsse von Seiten der Gott näheren Geister sei eine „hohe magische Kraft“.104 Deshalb kann Lavater sagen: „Meine aechte Religion ist auch aechte Magie“.105 Diese Magie meine etwas grundlegend anderes als die „elende Kunst“, Geister bzw. Gestalten, die Geister repräsentieren, „zur Mit-

  98 Lavater, Ueber Gablidon, 87 [Hervorh. i. O.].   99 Ebd., 95. 100 Ebd., 94. 101 Ebd., 91. 102 Ebd., 86. 103 Ebd., 91. 104 Ebd., 96. 105 Ebd. [Hervorh. i. O.].

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ternachtsstunde aus der Erde heraufzuzaubern“.106 Dem höher strebenden Menschen, der an sich arbeitet und sich durch Tugend den Engeln und Seligen naht, erscheine besonders in Notsituationen „eine reine, lichte, himmlische Gestalt“, die ihn belehren und warnen würde.107 Er rekurriert hier auf die christliche Tradition eines von Engeln und Seligen bewohnten guten Jenseits und einer durch die Existenz dieser höheren Geister und ihre Sorge für die irdische Welt legitimierten, heilvollen Verbindung zwischen dem Diesseits und der unsichtbaren Welt, die als „echte Magie“ empfohlen wird. Lavater nimmt außerdem an, dass es dunklere, erdnähere oder unterirdische Zonen des Jenseits gibt, die nicht durch und durch böse sind, wie der Teufel und seine Heerschar, auf die er an dieser Stelle nicht eingeht. Man kann damit ebenfalls, etwa durch zeremonielle Magie, in Kontakt kommen, was aber nicht zur Verbesserung der Menschheit und ihrer Rückkehr zum himmlischen Ursprung beitrage. Die Beschäftigung mit diesem Bereich ist höchstens für wissenschaftliche Experten angeraten. Abgesehen von der Ablehnung zeremonieller Magie jeder Art, der Einforderung strengerer moralischer Standards und seiner Christozentrik entspricht Lavaters Magieverständnis dem von Cagliostro, das deshalb für ihn selbst und Lavater-Sympathisanten wie Elisa von der Recke attraktiv werden konnte. Cagliostro glaubte wie Lavater an den, freimaurerisch gesprochen, „Baumeister aller Welten“, also den Schöpfergott und wie viele seiner aufgeklärten Zeitgenossen an die Existenz einer Geisterwelt, die mit der irdischen Welt verbunden ist. Er ist genauso wenig wie Lavater an der Beschwörung von inferioren Jenseitsbewohnern interessiert, sondern hält sich an die „höheren Geister“, vornehmlich Engel höchsten Grades und ihnen unterstehende gut gesinnte Schutzgeister. Die aus der Gemeinschaft mit den Geistern entspringenden anomalen Kräfte sollen selbstlos zum Wohle der Menschheit eingesetzt werden. Damit distanziert sich Cagliostro (auf Dauer freilich für seine Mitwelt wenig überzeugend) von der damals bereits als Kategorie bekannten schwarzen Magie, die eigennützigen Zwecken folgt und dazu mit bösen Geistern kooperiert.

Die École du Nord Die letzte große Reise seines Lebens führte Lavater 1793 nach Kopenhagen zu einem „École du Nord“ genannten kleinen Geheimzirkel unter der Leitung des nicht-regierenden Landgrafen Prinz Carl von Hessen-Kassel (1744–1836), dem Mitglieder der höchsten Gesellschaftsschicht angehörten.108 Prinz Carl hatte als 106 Ebd. 107 Ebd., 97. 108 Vgl. dazu die Dokumentation in Lavater, Johann Kaspar, Brieftagebuch von der Reise nach Kopenhagen 1793, in: Ders., Reisetagebücher, Teil II, 109–365. Sie umfasst das Brieftagebuch der Reise nach Kopenhagen, die zur Reise gehörigen Abschriften verloren gegangener Briefe und Auf-

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Hochgradfreimaurer Führungspositionen in der Strikten Observanz und im Rektifizierten Schottischen Ritus inne. Später wurde er ein Mitglied des Illuminatenordens. Man weiß nicht viel von seiner Kopenhagener Gruppe, da es eine strenge Verpflichtung zur Verschwiegenheit gab, an die sich auch Lavater in seinen Briefen und Aufzeichnungen weitgehend hielt. Prinz Carl vermittelte in diesem Zirkel seine eigene Geheimlehre, die er für Lavater in einem Brief folgendermaßen charakterisierte: „Unsere Lehre ist eine zusammenhängende Lehre. Sie erstreckt sich über alles was Religion, Geschichte u. Naturkenntnisse heissen kann“.109 Teil dieses Systems war eine Lehre von der Wiedergeburt, die von ihm „Rotation“ genannt wurde. Mitglieder der École, ob alle, ist ungewiss, wurden als Reinkarnationen biblischer Gestalten betrachtet.110 Eine weitere Eigenart des Kreises bestand darin, dass behauptet wurde, Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, würde noch auf Erden leben, und stünde mit den Mitgliedern in direktem Kontakt. Im Mittelpunkt des Kultes der Gruppe stand eine für die dazu Auserwählten sichtbare, weiß leuchtende, im Raum schwebende und sie fühlbar berührende, wolkenartige Erscheinung. Sie trat bei den Zusammenkünften auf und wurde auch unabhängig davon für Einzelne bei unterschiedlichen Gelegenheiten sichtbar und befragbar.111 Carl von Hessen-Kassel und seine Anhänger bezogen sich auf sie als „der Herr“, „Geist des Herrn“, „Angesicht des Herrn“, oder einfach „das Orakel“.112 Durch sie glaubte der Kopenhagener Kreis mit Jesus Christus zu kommunizieren und unter seiner Obhut auch mit den Geistern Verstorbener und Engeln. Zu Beginn der Kontakte mit dem Jenseits wurde gefragt, ob es dem Herrn ge­­ fällig sei, dass Fragen gestellt werden. Das Orakel beantwortete diese Frage und die folgenden Fragen durch in der Lichtwolke erscheinende Zeichen, die Ja, Nein oder Ja/Nein (= Frage muss umformuliert werden, um mit ja oder nein beantwortet werden zu können) bedeuteten. Ein weiteres Zeichen, das auf die Äußerung eines Segenswunsches hin vermutlich am Ende der jeweiligen Kommunikation erschien, wurde als persönlicher Segen Jesu Christi interpretiert.113 1791 wurde Lavater von dem dänischen Außenminister Andreas Peter Graf von Bernstorff (1735–1797), einem Mitglied der École du Nord, mehrfach eingeladen, den Kopenhagener Kreis zu besuchen, wobei die Reisekosten von dem Zirkel übernommen werden würden. Offenbar hatte man zur Idee, Lavater einzuladen, einen positiven Orakelspruch erhalten, so dass die Gruppe felsenfest davon überzeugt war, dass Lavater letztlich kommen würde. Der hatte jedoch zunächst große Vorbehalte zeichnungen Lavaters von Ulrich Hegner sowie eine informative Einleitung. Vgl. auch Weigelt, J.K. Lavater, 58–65. Und zum Kopenhagener Kreis Faivre, Antoine, J.C. Lavater, Charles de Hesse, et l’École du Nord, in: A. Faivre, Mystiques, théosophes et illuminés au siècle des lumières, Hildesheim/Olms 1976, 175–184. 109 Vgl. Lavater, Brieftagebuch von der Reise nach Kopenhagen 1793, in: Ders., Reisetagebücher, Teil II, 316. 110 Vgl. ebd., 335. 111 Vgl. ebd., 324. 112 Vgl. ebd., 311, 322, 333. 113 Ebd., 328.

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und wollte, bevor er sich auf dieses Abenteuer einließ, soviel wie möglich von der Gruppe wissen und herausbringen, ob es Hinweise auf Täuschung oder Betrug gab. Der Briefwechsel mit Bernstorff, seiner Frau Auguste und Prinz Carl zog sich länger hin, als es diesen Recht sein konnte, doch schließlich machte Lavater sich im Mai 1793 auf den Weg nach Kopenhagen. Wie immer bei solchen Reisen, besuchte er auf der Hin- und Rückfahrt viele Bekannte und auch prominente Menschen, die er zum ersten Mal sah. Über den Hauptzweck seiner Reise lässt er keinen Zweifel: „Was hab ich zu prüfen? – Ist Christus reell unter diesen Christen wirksam?“114 Unabhängig davon, wollte er außerdem die Lehren des Zirkels unter die Lupe nehmen. Lavater durfte an einigen geheimen Treffen teilnehmen. Obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als mit Jesus Christus in direkten Kontakt zu kommen, konnte er die Lichterscheinung nicht selber wahrnehmen. Sein Resümee unmittelbar nach der Rückkehr von Kopenhagen im August 1793 klingt enttäuscht: „Ich bin zurück – kann mich kaum rühren – Sage nur: so ganz anders alles ist, als ich dachte, hoffte, wünschte; es gereut mich dennoch nicht dort gewesen zu sein.“115 Seine eigenen religiösen Neigungen spielten im Kontakt mit dem Kopenhagener Kreis eine wichtige Rolle. In mancher Hinsicht praktizierte man dort eine Form von Christentum, die Lavater zusagte. Er wurde zwar nicht in den inneren Kreis aufgenommen, stand aber bis zu seinem Tod mit Prinz Carl, gegenüber dessen Qualitäten als Philosoph und Seelenführer er skeptisch blieb, in Briefkontakt.116 In den letzten Lebensjahren wurde für ihn besonders die von den Kopenhagenern geschürte Erwartung, den Jünger Johannes treffen zu können, eine Obsession, die mit starken Emotionen verbunden war. Elemente einer deskriptiven Anomalistik im Sinne von Moritz’ Erfahrungsseelenkunde, fehlen jedoch auch in diesem Fall nicht. Lavater verfasste ein nach einzelnen Punkten gegliedertes und durchnummeriertes Manuskript mit dem Titel „Resultate meiner Reise“ (verloren gegangen) und einen „Nachtrag“ dazu, der in einer Abschrift seines Freundes Ulrich Hegner (1759–1840) überliefert ist.117 In dieser für die École du Nord aufschlussreichen Quelle werden die Orakelpraxis des Kreises und einige seiner Lehren sowie die Haltung der Mitglieder Lavater gegenüber recht genau beschrieben, wobei er weitgehend auf Beurteilungen verzichtet.

5. Der Magnetiseur Lavater Die Auseinandersetzung mit dem Mesmerismus nimmt insofern eine Sonderstellung in Lavaters anomalistischen Studien ein, als er hier trotz anfänglicher Vorbehalte wie sonst nur noch in Bezug auf die Protokollierung eigener Gebets114 Ebd., 310 [Hervorh. i. O.]. 115 Ebd., 323. 116 Vgl. ebd., 342. 117 Ebd., 324–332.

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erhörungen, die Beobachterrolle verlässt und zu dem wird, was man heute einen scholar-practitioner nennt, einen Forscher also, der das, was er untersucht, auch selber ausübt. Das ist ein Schritt über die Teilnahme bei den Sitzungen der École du Nord hinaus, deren praktizierendes Mitglied er ja nicht wurde. Lavater trat zwar in keine mesmeristische Gesellschaft ein, aber er magnetisierte selbst und beteiligte sich aktiv an der Verbreitung des animalischen Magnetismus in der Schweiz und in Deutschland. Im Juni 1785, rund neun Jahre nachdem Mesmer mit seiner Präsentation des animalischen Magnetismus vor den Mitgliedern der Münchner Akademie der Wissenschaften Gaßners Dämonen vertreibender Heilungspraxis Einhalt geboten hatte, trat die umstrittene Therapie erneut in das Leben Lavaters, der mittlerweile in seinen vierziger Jahren angekommen war. Die mesmeristische Bewegung befand sich damals gerade in einer Umbruchsphase. Besonderer Einfluss ging dabei von Lyon und mehr noch von Straßburg aus. In Lyon war im Frühling 1784 eine magnetische Gesellschaft namens La Concorde gegründet worden, deren Mesmerismus von der Schule Barbarins geprägt war.118 1785 ließ sich der wichtigste Schüler Mesmers, Armand Marie Jacques de Chastenet, Marquis de Puységur (1751–1825) in Straßburg nieder und gründete dort einen Sitz von Mesmers Pariser Harmoniegesellschaft, die Société Harmonique des Amis Réunis, die ein sehr erfolgreiches Therapie- und Ausbildungszentrum betrieb. Von dort aus verbreitete Puységur seine im Vorjahr entstandene Variante des Mesmerismus, welche bald auch in der Schweiz von sich hören machte.119 Sein Verfahren ging sanfter vor als Mesmer in seinen Behandlungen, verzichtete aber nicht völlig auf körperliche Interventionen wie Barbarin. Viele Patienten gerieten während des Magnetisierens im Stil von Puységur in Trancezustände, in denen laut den Berichten der Magnetiseure anomale Fähigkeiten auftraten, die man unter die Begriffe der „clairvoyance“ bzw. „lucidité“, dt. Hellsichtigkeit, subsumierte. Die in der frühen Puységur-Schule übliche Bezeichnung „somnambulisme magnétique“ als Oberbegriff für die bei der Behandlung auftretenden veränderten Bewusstseinszustände, beruhte auf den Parallelen, die man zwischen der neuartigen magnetischen Trance und dem bekannten Phänomen des Schlafwandelns zu erkennen glaubte. Sie wurde im 19. Jahrhundert weitgehend durch den auch schon früh auftauchenden Terminus „somnambulisme artificiel“ ersetzt, der in verschiedene europäische Sprachen übertragen wurde.120 Die in Trance befindlichen Somnambulen wurden „somniloques“ bzw. „crisoloques“ genannt. Diese Bezeichnungen weisen wie das ebenfalls noch verwendete „crisiaques“ auf zweierlei hin. Erstens galten die veränderten Bewusstseinszustände als Varianten der „Krise“, 118 Siehe Gauld, Alan, A History of Hypnotism, Cambridge 1992, 68–67. 119 Milt, Franz Anton Mesmer, 54. 120 Die Herausbildung dieser Begrifflichkeit sowie ihre Rezeption im deutschen Sprachraum behandelt Hannemann, Tilman, Religiöser Wandel in der Spätaufklärung am Beispiel der Lavaterschule 1770–1805, Göttingen, 2017, 207–213.

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die laut Mesmer während der Behandlung auftreten muss, bevor eine Veränderung in Richtung Genesung eintritt. Zweitens wird dadurch angezeigt, dass sich die Art der Krise veränderte. Während sie sich bei Mesmer in heftigen nonverbalen Symptomen (Konvulsionen, Schwitzen, Zittern, Schreien etc.) manifestierte, blieben die magnetisierten Somnambulen nicht nur ruhig, sondern sprachen in ihrem magnetischen Schlaf und konnten auf diverse Fragen antworten.121 Lavaters Bruder, der Arzt, Apotheker und Hochgrad-Freimaurer Diethelm Lavater (1742–1826), der die Entwicklungen im Feld des animalischen Magnetismus mitverfolgte, brachte die vielversprechende Straßburger Richtung in einer Unterhaltung zur Sprache, bei der Lavater zugegen war.122 Obwohl er aufgrund der Gaßner-Episode keine gute Meinung von Mesmer und seiner Lehre hatte, erwachte Lavaters Interesse, offenbar aufgrund der Berichte von den anomalen Kräften der Somnambulen, aber auch wegen seiner seit Jahren kränkelnden Frau, der bislang kein Arzt hatte helfen können und die sich in einem besorgniserregenden Zustand befand.123

Die Reise nach Genf Wenig später wurde er von Graf Heinrich XLIII. von Reuß, Plauen und Kostritz und seiner Gattin Luise Christine eingeladen, sie auf einer sechswöchigen Reise in die französische Schweiz zu begleiten, die sie am 15. Juli antraten. Das gab ihm die Möglichkeit das Angenehme einer Urlaubsreise in fürstlicher Gesellschaft mit dem Nützlichen zu verbinden und mehr über die neue Divinations- und Heil­ 121 Lavaters Sprachgebrauch spiegelt die gerade entstehende Terminologie der Puységur-Schule wider, die er aus einschlägigen Büchern und durch die Konversation mit Experten kennenlernte. Er spricht von „Krisiaken“, von „magnetisierten Crisiaques, die divinieren“, von „magnetischen Schlafwandlern“ bzw. „Somnambulisten“, „künstlichem Schlafwandel“, oder davon, dass seine Frau „in den famosen Zustand des Schlafredens“ gekommen sei. 122 Diethelm Lavater war maßgeblich an der Verbreitung des Hochgrad-Systems der Strikten Observanz in der Schweiz beteiligt. Neben dem Interesse am animalischen Magnetismus beschäftigte er sich auch mit Alchemie, christlicher Theosophie und Rosenkreuzertum, was ein Grund für ihn gewesen sein dürfte, der Strikten Observanz beizutreten. In späteren Jahren kühlte sein Verhältnis zur institutionalisierten Freimaurerei ab. Zum Verhältnis der Brüder vgl. Caflisch-Schnetzler, Ursula, Die Brüder Johann Caspar und Diethelm Lavater und ihre Wurzeln in der Zürcher Aufklärung (Noli Me Nolle. Sammlung Johann Caspar Lavater, Jahresschrift), Zürich 2016, 7–14. 123 Vgl. Milt, Franz Anton Mesmer, 54. Lavaters Äußerungen zum Thema folgend, halte ich es für unzutreffend, dass er wenig für das medizinische und umso mehr für das religiöse Potential des animalischen Magnetismus übriggehabt hätte, so wie es z. B. angenommen wird von: Barkhoff, Jürgen, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, Stuttgart 1995, 71–73; im Übrigen stellt Barkhoff an dieser Stelle Lavaters Mesmerismus-Rezeption in aller Kürze sehr luzide dar. Die Position Milts ist in diesem Punkt widersprüchlich. Er erwähnt zwar an der angegebenen Stelle, dass Lavater sich auch wegen seiner kranken Frau für den Mesmerismus interessierte, auf Seite 53 meint er dann aber, Lavaters Anliegen wäre „auf keinen Fall ein medizinisches“, sondern vielmehr „rein religiöser Natur“ gewesen.

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methode, die in der Westschweiz schon Fuß gefasst hatte, in Erfahrung zu bringen.124 Die Reise führte über Bern und Lausanne nach Genf. In Bern kontaktierte Lavater den Stadtarzt Daniel Langhans (1728–1813), einen Schüler Mesmers und besuchte mehrmals dessen Baquet, ein Gerät zur magnetischen Gruppentherapie, konnte dabei aber keine auffälligen Wirkungen bei den Patienten beobachten.125 Er hatte zudem Gelegenheit in Schriften Mesmers hineinzulesen, die ihn nicht begeistern konnten. In Bern erhielt er auch ein Werk von Puységur, das er während der Weiterreise studierte.126 Diese Lektüre verringerte seine Skepsis gegenüber dem Mesmerismus und überzeugte ihn davon, dass mehr an der Sache dran sei, als er bisher glauben wollte. Einen Zwischenstopp in Lausanne nutzte er dazu, Auguste Tissot (1728–1797), den renommiertesten Schweizer Mediziner seiner Zeit, aufzusuchen, um dessen Meinung zum animalischen Magnetismus einzuholen.127 Tissot war im Frühjahr dieses Jahres bei Mesmer in Paris gewesen und hatte dessen Theorie des animalischen Magnetismus mit ihm diskutiert. Der Bitte, einige von seinen Patienten inspizieren zu dürfen, kam Mesmer allerdings nicht nach, wodurch ihr Austausch schon nach dem ersten Treffen an ein Ende kam, obwohl Tissot sich länger in der Stadt aufhielt.128 Er berichtete Lavater von dieser schlechten Erfahrung und charakterisierte Puységur als ehrlichen Zeitgenossen, der aber offenbar (anscheinend von bestimmten Somnambulen bzw. Mitgliedern von Geheimgesellschaften) in Bezug auf die anomalen Fähigkeiten der Somnambulen getäuscht worden sei, was Lavater nach der Lektüre von Puységurs Buch nicht glauben konnte.129 In Bezug auf den animalischen Magnetismus erteilte Tissot eine wohlabgewogene kritische Auskunft. Es sei, so meinte er, wahrscheinlich, dass Menschen einander durch ihre Atmosphäre oder irgendwelche Ausflüsse beeinflussen würden. Die Imagination würde solche Wirkungen bei zarten Nerven verstärken oder zumindest glauben machen, dass sie verstärkt werden würden. Er bezweifle aber, dass es animalischer Magnetismus sei, der sie hervorbrächte. Während des Aufenthalts in Genf fand Lavaters erste persönliche Begegnung mit Charles Bonnet statt. Außerdem ließ er sich von dem Arzt Pierre Butini (1759– 1838) in der Praxis des Magnetisierens unterweisen.130 Ebenfalls noch in Genf 124 Vgl. dazu Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebuch in die Westschweiz 1785, in: Ders., Reisetagebücher, Teil II, 29–109. Sowie Milt, Franz Anton Mesmer, 54–58. 125 Milt, Franz Anton Mesmer, 54. 126 Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um Chastenet, Armand Marie Jacques de, Mémoires pour servir à l’histoire et à l’établissement du magnétisme animal, Paris 1784. 127 Milt, Franz Anton Mesmer, 55. 128 Siehe zu Tissots Auskünfte über Mesmer und Puységur vgl. Lavater, Reisetagebuch in die Westschweiz 1785, 75. Sowie Milt, Franz Anton Mesmer, 42f. 129 Vgl. Lavater, Reisetagebuch in die Westschweiz 1785, 75. 130 Lavater brachte eine Empfehlung von Tissot für Pierre Butinis Vater, den bedeutenden Arzt Jean Antoine Butini (1723–1810), nach Genf mit. In der Stadt erfuhr er, dass Pierre, ebenfalls ein angesehener Mediziner, sich als Magnetiseur betätigte, was ihn zusätzlich motivierte, die beiden, die

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erzählten ihm drei Personen von ihren Erfahrungen mit Somnambulen und legten ihm nahe, dass eine mesmeristische Behandlung seiner Frau angezeigt sei: Butini, sodann der Herzog Wilhelm von Gloucester (1743–1805), der den animalischen Magnetismus bei einem zweiwöchigen Aufenthalt in Lyon kennen- und schätzen gelernt hatte und Marguerite-Henriette Pigott (1755–1838), die Mesmer persönlich kannte, ebenfalls mit dem Lyoner Mesmerismus vertraut war und eine erfolgreiche Magnetkur hinter sich hatte.131 Madame Pigott redete Lavater zu, dass er seine Frau selbst magnetisieren solle.132 Wie es dann dazu kam und welchen Verlauf die Therapie nahm, wird im folgenden Abschnitt beschrieben.

Madame Lavaters animal-magnetische Therapie Anna Lavater (geb. Schinz, 1742–1815) hatte ihren Mann 1766 geheiratet und gebar ihm acht Kinder, von denen fünf bereits in jungen Jahren starben, was angesichts der damaligen Kindersterblichkeit nicht ganz ungewöhnlich war, aber schon eine hohe Zahl darstellte. Die Erziehung der Kinder und die meisten Agenden des Haushalts überließ Lavater mehr oder weniger ganz seiner Frau. Als Mann der Öffentlichkeit, Pfarrer, extrem fleißiger Schreiber und internationaler Netzwerker, der viel reiste und mit Gott und der Welt kommunizierte, war er wohl kaum jemals so intensiv für sie da als zu der Zeit, während der er sie regelmäßig magnetisierte. Das Krankheitsbild Anna Lavaters zu Beginn ihrer mesmeristischen Therapie beschreibt ihr Schwager Diethelm wie folgt: Eine Dame in ihren Vierzigern, die schon seit ihrer Jugend von Nervenzusammenbrüchen, krampfartigen Bewegungen, Ohnmachtsanfällen und rheumatischen Anfällen sowie Arthritis heimgesucht wurde. Sie ist seit zwanzig Jahren verheiratet und gebar viele Kinder, was zu einem Scheidenvorfall (prolapsus uteri) führte. Dadurch hat sie einen sehr großen und schlaffen Unterleib und leidet unter häufigen, mit Koliken verbundenen brennenden Bauchschmerzen sowie Darmverstopfungen, die drei oder vier Tage dauern, wenn sie

zu dieser Zeit zusammenwohnten, aufzusuchen. Siehe dazu Milt, Franz Anton Mesmer, 56f. Dass es Pierre Butini war, der Lavater in die Methoden des Magnetisierens einwies, geht u. a. auch aus Lavaters Brief an Bonnet vom 6.09.1785 hervor. Er bittet darin Bonnet mit Butini zu sprechen, „qui m’a appris le Magnétisme“. Vgl. Luginbühl-Weber, Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle, 158. Ebenso heißt es im Brief an Kampe vom 3.11.1785 in Lavater, Johann Kaspar, J.C. Lavater’s bisher ungedruckte Briefe und Aufsätze über den thierischen Magnetismus. (Beschluß der Abhandlung im 8. Bd. 3. St.), in: Archiv für den Thierischen Magnetismus, Neunter Band, Erstes Stück, 1821, 1–61 (künftig zit. als Archiv II), 17: „Ich, ich selbst, Johann Caspar Lavater, war, ohne vorher jemand magnetisiren gesehen zu haben, bloß durch Butini’s Instruction, und nach seiner, an mir selbst gezeigten, Anweisung, der Magnetisirer meiner Frau“. 131 Zum Verhältnis des Herzogs von Gloucester und Madam Pigotts zum Mesmerismus siehe Lavater, Reisetagebuch in die Westschweiz, 91. 132 Milt, Franz Anton Mesmer, 57.

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keine Medikamente zu sich nimmt. Von Zeit zu Zeit leidet sie auch unter einer außergewöhnlich starken Migräne. Häufig, ja vielleicht nahezu ständig hat sie Schwindelanfälle. Geeignete Medikationen haben ihr schon oft geholfen: Abführmittel, Kauterisation, Nerven beruhigende, kräftigende Mittel usw. usw. All das wirkte jedoch nur kurzfristig und nach einigen Monaten oder angesichts von starken Gefühlen bzw. Veränderungen traten die Beschwerden wieder auf.133

Als Lavater am 15. August, also genau einen Monat nach Beginn der Reise in die Westschweiz wieder nach Hause kam, scheint er trotz der erwähnten Empfehlungen noch keinen festen Vorsatz gehabt zu haben, seine Frau selbst zu magnetisieren. Er fragte sie aber, ob sie sich der neuen Behandlungsmethode unterziehen wolle, und bekam ihr Einverständnis. Das erste Dokument, auf das ich stieß, das auf die Therapie von Anna Lavater Bezug nimmt, ist ein Brief Lavaters an den oben erwähnten Berner Arzt und Magnetiseur Daniel Langhans, der zwölf Tage später, am 27. August, abgeschickt wurde und die Wirkungen thematisiert, die bei den Behandlungen von Anna auftraten.134 Ihre Therapie muss kurz vorher begonnen haben und scheint sich eher zufällig ergeben zu haben. Lavater wollte „nur seinem Sohn zeigen, wie die Manipulationen ausgeführt werden müssten, als sich bei seiner Frau alsobald gar nicht erwartete Wirkungen einstellten“.135 Die Reaktion von Anna motivierte das Ehepaar dazu, noch am selben Abend eine ernstgemeinte therapeutische Sitzung durchzuführen, bei der Lavater die manuelle Behandlungsmethode, die er in Genf gelernt hatte (mehr dazu unten) nicht mehr nur demon­ strierte, sondern mit ihr zu heilen versuchte. Anna reagierte darauf mit Übelkeit, Angst, einem Schweißausbruch und Erschöpfung. Am nächsten Tag hatte Lavater Skrupel, das Magnetisieren fortzusetzen. Doch stimmten nicht nur Anna und der Bruder Diethelm für eine regelmäßige Behandlung. „Der damals zu Besuch kommende Hofmedicus Heinrich Matthias Marcard (1747–1817) aus Hannover, bisher vom tierischen Magnetismus nichts wissen wollend, sprach in gleichem Sinn, als er durch Lavater von den überraschenden Erscheinungen gehört hatte“.136 Dar-

133 Beilage zu Lavaters Brief an Puységur vom 31.08.1785. In Puységur, A.M.J. Chastenet de, Du Mag­ nétisme Animal, considéré dans ses rapport avec diverses branches de la Physique général, Paris 1807, 242f: „Une dame de quarante et quelques ans, asujétie dès sa jeunesse aux maux de nerfs, de motions convulsives, des évanouissemens et des attaques rheumatiques, même arthritiques, mariée depuis vingt ans, a engendré beaucoup d’enfans, et depuis cela a un échappement de la matrice (prolapsum unteri), un adomen très grand et relâché, et depuis, beaucoup de douleurs coliques et ardentes dans le ventre, des obstructions alvines par trois ou quatre jours, si elle ne prend pas des médicines: de temps en temps, une migraine exorbitante; des vertiges souvent et presque perpétuels, peut-être, et était déjà souvent rétablie par des médecines propes, évacuantes, dérivantes, cautériques, nervines, corroborantes, etc. etc. Mais tout cela n’aidait que pour quelques temps, et après quelques mois ou après quelques émotions fortes ou altérations, le mal revenait“. 134 Vgl. Lavater, Reisetagebücher, Teil II, 52, Anm. 13. 135 Milt, Franz Anton Mesmer, 63. 136 Ebd.

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aufhin begann Lavater seine Frau täglich in einem abgedunkelten Zimmer ihrer Wohnung, wahrscheinlich im Schlafzimmer, zu magnetisieren.137 Als Begleiter und Protokollanten der Therapie-Sitzungen zog er drei Ärzte heran: Johannes Hotze (1734–1801) aus Richterswil am Zürichsee, den engen Freund Lavaters, der gemeinsam mit ihm zu Cagliostro gereist war; Matthias Wilhelm de Neufville (1762–1842) aus Frankfurt, einen jungen Arzt, der ebenso wie Hotze kein Anhänger des Mesmerismus war, und Bruder Diethelm, der von den dreien am meisten für das Magnetisieren übrighatte. Sie waren nicht immer alle zugleich anwesend, doch wohnte jeweils mindestens einer von ihnen den Behandlungen bei.138 Zunächst geriet Anna weiterhin bei jeder Sitzung in heftigste konvulsivische Krisen von der Art, wie Mesmer sie beschrieben hatte. In dieser schwierigen Situation bat Lavater Daniel Langhans sowie Pierre Butini und sogar Puységur höchst selbst um Rat, ob er fortfahren solle und was bei auftretenden Konvulsionen zu tun sei. In seinem ersten Brief an Puységur vom 31. August schreibt er über die Wirkung seines Magnetisierens auf Anna: „Gestern Abend war sie, wie sie glaubte, kurz davor zu sterben. Sie fühlte sich schlimmer und schwächer als je zuvor. Sie hat geschrien, gelacht, geweint und war danach sehr geschwächt. Auch verspürte sie starke Schmerzen im Rücken und Nacken.“139 Puységur schickte nach eigener Aussage sofort Ratschläge zum weiteren Vorgehen (siehe unten), die allerdings offenbar zu spät ankamen, um eine Hilfe zu sein; von den beiden anderen Angefragten wurde er sofort zum Weitermachen ermutigt.140 Die Besorgnis erregenden Anfälle seiner Frau dauerten höchstens bis zum 11. September. An diesem Tag schrieb Lavater an Puységur, dass sie sich beruhigt habe. Sie fiel von jetzt an nur mehr in sanfte somnambule Trancen und ihr gesundheitlicher Gesamtzustand verbesserte sich zusehends. Im Januar 1786 konnte Lavater einem Amtmann Escher berichten: „Meine Frau hat sich, seit ich sie habe, kaum jemals 4 Monate nach einander so wohl befunden wie itzt, seit dem September, da ich sie magnetisierte.“141 Aussagen von Anna Lavater über ihren

137 Der Arzt Neufville berichtet, dass Anna Lavater „in einer dunklen Kammer liegend“ therapiert wurde. Vgl. dazu Milt, Franz Anton Mesmer, 66. Das Abdunkeln des Behandlungszimmers war im Mesmerismus üblich. 138 Ihre Einschätzung des Mesmerismus und ihre Berichte über die Therapie von Anna Lavater behandelt Milt, Franz Anton Mesmer, 62–71. 139 Puységur, Du Magnétisme Animal, 241: „Hier au soir, elle était, comme elle croyait, sur le point d’expirer. Elle se sentait plus mal, plus affaiblie que jamais. Elle criait, riait, pleurait, et était après cela très-affaiblie, et avait des douleurs extraordinaires dans le dos et derriè le cou …“. 140 In der Puységur-Schule nahm man an, dass zu Beginn der Therapie Krisen mit Konvulsionen auftreten können, die mit verschiedenen beruhigenden Maßnahmen behandelt wurden. Im Rahmen des von Lavater in Bremen eingeführten Mesmerismus traten ebenfalls Fälle auf, deren Symptomatik sich von der Mesmer’schen Krise hin zu Puységurs Somnambulismus entwickelten. 141 Zit. nach Lavater, Johann Caspar, J.C. Lavater’s bisher ungedruckte Briefe und Aufsätze über den thierischen Magnetismus, in: Archiv für den Thierischen Magnetismus, Achter Band, Drittes Stück 1821, 1–60 (künftig zit. als Archiv I), 5.

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Therapieverlauf und ihre posttherapeutische Befindlichkeit wurden meines Wissens nicht tradiert. Während Hotze bei ihr keine außergewöhnlichen Verstandeskräfte, Erkenntnisse oder Wahrnehmungen, wohl aber eine auffallend „ruhige Heiterkeit“ beobachtete, ist für unser Thema von besonderem Belang, dass Lavater und die beiden anderen mit ihm zusammenarbeitenden Ärzte von anomalen Fähigkeiten berichten, die in Annas magnetischem Schlaf aufgetreten seien. Sie fielen in keiner Weise aus der Reihe, sondern entsprachen dem, was von damaligen Somnambulen oft berichtet wurde. Anna hätte mit geschlossenen Augen die Anwesenheit anderer Personen spüren und sie identifizieren können, auch wenn sie sich im Vorzimmer aufhielten. Sie habe „die Methode ihrer Heilung“ teils freiwillig diktiert, teils dazu auf Nachfragen Auskünfte erteilt.142 Anna konnte den Zeitpunkt nennen, zu dem sie wieder aus dem magnetischen Schlaf erwachen würde und gab korrekt an, wie oft sie künftig noch in Trance fallen würde. Außerdem prognostizierte sie, dass sie nie völlig gesund werde, aber binnen drei Wochen Beschwerdefreiheit eintreten würde. In Bezug auf andere Kranke hätte sie vernünftige und genaue Ratschläge zu deren Therapie gegeben. Sie wäre im Stande gewesen bei geschlossenen Augen mit ihren Fingerkuppen tastend die Absender von Briefen, die man ihr reichte, und teilweise auch deren Inhalt zu erahnen. Auf dieselbe Art hätte sie auch Bücher erraten, die man ihr in die Hand gab. Zusätzlich erwähnt Lavater noch summarisch „andere Divinationen, Äußerungen, Räthe, Urtheile, Sentiments, Gebete, Herzensentleerungen in diesem exaltierten Zustand“.143 Kritische Augenzeugenberichte darüber, was in der Therapie geschah, sind kaum überliefert. Ich konnte diesbezüglich nur zwei Quellen ausfindig machen. Der angesehene deutsche Arzt und Apotheker Joachim Dietrich Brandis (1762– 1845) berichtet 1818, dass er von Lavaters Sohn Informationen erhielt, die zwar nicht darauf hindeuteten, dass Betrug stattfand, aber nahelegten, dass Lavaters vermeintliche Beobachtungen zum Teil auf Wunschdenken beruhten und von anderen Anwesenden nicht immer geteilt wurden. Lavaters Sohn wurde mir zur Leitung seiner medicinischen Studien übergeben, ich fragte ihn wiederholt über die Krankheit seiner Mutter, und erfuhr freylich ganz andere That­ sachen, als die, die der Vater öffentlich betheuert hatte, aber das Resultat ging immer dar-

142 Anonymus, Magnetische Desorganisation in Paris, Straßburg und Zürich, nebst zwei Schreiben vom Herrn Diakonus Lavater und Herrn Hofmedicus Marcard, Berlinische Monatsschrift St. 11 (1785), 430–449, hier 434. Anna Lavater verließ sich bei den Verschreibungen für sich selbst, abgesehen von ihrem Wunsch magnetisiert zu werden, weitgehend auf bewährte medizinische und diätetische Maßnahmen, die sie so oder so ähnlich wahrscheinlich aus ihrer langen Krankengeschichte kannte; zusätzlich kamen persönliche Vorlieben zum Zug: Sie wollte etwa zehn Tage lang morgens und abends magnetisiert werden, verschrieb sich einen Aderlass und Einläufe, Kräutertee, abends Waschen mit kaltem Wasser; ihre Kost sollte aus wenig Fleisch und viel Gemüse bestehen; außerdem sei beim Mittagessen ein Gläschen guten alten Weins angeraten etc. 143 Anonymus, Magnetische Desorganisation, 437.

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aus hervor, daß keiner dabey eigentlich getäuscht hatte, der kräftige Wille hatte viel vermocht, aber noch mehr gesehen, was er nur gewollt, und die andern nicht gesehen hatten.144

In der Lavater attackierenden, kommentierten Ausgabe seines Briefwechsels bezüglich der Berufung nach Bremen und seiner Einführung des Mesmerismus in dieser Stadt wird eine Anekdote berichtet, der zufolge indirekt nachgewiesen werden konnte, dass Anna Lavater mindestens bei einer Gelegenheit ihren hellseherischen Fähigkeiten durch Öffnen ihrer Augen im vermeintlichen magnetischen Schlaf nachhalf. Ein glaubwürdiger Mann erzählt folgenden Vorfall, der wohl den Verdacht erregen könnte, dass Madame Lavater zuweilen mit den Augen aufblinzen mochte. Sie prophezeyte, in einer Stunde würde ihr Paroxismus vorüber seyn, und sie würde aufstehen. Ein Anwesender hatte die Neugierde unvermerkt den Zeiger der Uhr zu verrücken, und siehe, sie stand auf, zu der Zeit, welche der falsch gerückte Zeiger anzeigte, nicht aber zur wahren Zeit.145

Ein definitives Behandlungsende konnte ich nicht eruieren. Wahrscheinlich gab es das auch gar nicht. Lavater magnetisierte seine Frau wohl während des größten Teils des Monats September ein bis zweimal täglich. Als ihr Gesundheits­zustand sich Ende September signifikant gebessert hatte und sie im magnetischen Schlaf auch keine Anweisung mehr gab, mit der Behandlung fortzufahren, beendete er vermutlich das regelmäßige Magnetisieren. Er behandelte sie aber weiterhin gelegentlich, um Ratschläge zur Therapie verschiedener Kranken von ihr zu erhalten. Außerdem griff er auf das bewährte Mittel des Magnetisierens zurück, wenn es darum ging, akute Kopfschmerzen und andere ihrer Beschwerden zu lindern. Angeblich wollte Lavater im Winter 1787 seine Frau, als es ihr wieder einmal schlecht ging, nicht mehr magnetisieren, weil ihm der Druck der Öffentlichkeit in Gestalt von Spottgedichten und Verdächtigungen den Magnetismus verleidet hatten.146 Sollte das so gewesen sein, dann käme diese Zeit als Terminus ad quem für das Ende der magnetischen Behandlungen von Anna und seines aktiven I­ nteresses am Mesmerismus in Betracht. Lavater magnetisierte nach der Intensivphase der Behandlung seiner Frau noch andere Personen in Zürich und sein Bruder begann, im Rahmen seiner Arztpraxis Patienten auf diese Weise zu behandeln.147 Die animal-magnetische Arbeit der

144 Brandis, Joachim Dietrich, Ueber Psychische Heilmittel und Magnetismus, Kopenhagen 1818, 20. 145 Lavater, Briefe von Johann Caspar Lavater und an ihn und seine Freunde, 147 [Hervorh. i. O.]. 146 Vgl. Lavater-Sloman, Mary, Genie des Herzens. Eine Lebensgeschichte J.C. Lavaters, Zürich/Stuttgart 51955, 332. Im Sommer des Jahres 1787 lernte Lavater Mesmer schließlich doch noch persönlich in Zürich kennen. Vgl. Milt, Franz Anton Mesmer, 54. Die Begegnung verlief positiv, gab aber seinem schwindenden Engagement für den Mesmerismus offenbar keinen neuen Auftrieb. 147 Einen Überblick über diese Fälle gibt Lavater, Johann Caspar, Beitrag einiger Erfahrungen oder Wahrnehmungen den animalischen Magnetismus betreffend [24.01.1786], in: Archiv I, 5–8.

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beiden Lavaters wurde zum Tagesgespräch und schon bald traten in Zürich und an anderen Schweizer Orten weitere Magnetiseure auf.148 Lavater, so wird man das magnetische Experiment mit seiner Frau zusammenfassen können, handelte nicht fahrlässig oder aus leichtgläubigem Enthusiasmus, sondern hatte gute Gründe, die Behandlung seiner Frau zu wagen.149 Er arbeitete in jeder Phase der Therapie unter der Supervision von Ärzten seines Vertrauens, die dem animalischen Magnetismus gegenüber nur teilweise positiv eingestellt waren. Erst durch den Therapieerfolg und die Erfahrung mit den somnambulen Zuständen seiner Frau wurde bei ihm aus skeptischem Interesse Hochschätzung und eine aktive Beteiligung an der Verbreitung des Mesmerismus Puységur’scher Prägung. Ich halte es für plausibel, dass die ungewohnt intensive Zuwendung ihres Mannes während der Therapie und die Anna Lavater darin angebotene Möglichkeit, endlich einmal ausrasten zu dürfen und bisher unterdrückte bzw. verdeckt gehaltene Emotionen und Wünsche zu artikulieren, zum relativ positiven Ausgang der Behandlung beitrugen. Anna hatte im therapeutischen Prozess ein gewichtiges Wort mitzureden. Die Kur führte zwar, wie Anna, vielleicht nicht hellsichtig, sondern einfach nur aufgrund einer realistischen Einschätzung ihres Gesundheitszustands voraussagte, zu keiner Heilung ihrer chronischen Beschwerden, aber doch zu einer das Leben aller Betroffenen erleichternden Abschwächung ihrer Krankheitssymptome. Lavaters Behandlung seiner Frau schlug schon bald in der Öffentlichkeit große Wogen. Das kam so: Unter den ersten, die Lavater von seiner Betätigung als Magnetiseur per Brief recht ausführlich informierte, war der Arzt Marcard, der ja zu denen gehörte, die ihn zu dem Experiment mit seiner Frau geraten hatten. Lavater ließ diesen Brief vom 10. September 1785 zunächst in Abschriften unter Bekannten zirkulieren. Das Schreiben entfaltete dann aber eine ungewollte Breitenwirkung, weil es samt der skeptischen Antwort des Arztes der Berlinischen Monatsschrift zugespielt wurde und dort im November mit einer Einleitung von Seiten der Herausgeber veröffentlicht wurde.150 Dieser Artikel ist für den Mesmerismus in Deutschland bedeutsam, weil er (wiewohl kritisch und in der Einleitung mit spöttischem Unterton) erstmals ein breiteres Publikum über die Puységur-Schule informierte.151 Lavater wird darin als „großer Freund von Wundern“ dargestellt, der schon viele Proben seiner Leichtgläubigkeit und Übereilung geliefert hätte. Er würde die vermeintliche medizinische Entdeckung schon verkünden und verschie148 Milt, Franz Anton Mesmer, 72–81. 149 Vgl. ebd., 62. 150 Magnetische Desorganisation in Paris, Straßburg und Zürch (sic), nebst zwei Schreiben vom Herrn Diakonus Lavater und Herrn Hofmedicus Marcard, Berlinische Monatsschrift B. 6 (November 1785), 430–449. 151 Fast zwei Jahrzehnte später rühmt sich Marcard, der mittlerweile ein Anhänger des Mesmerismus geworden war, dass durch die Veröffentlichung der Briefe der Puységur’sche Magnetismus und seine Fachtermini in Deutschland bekannt geworden seien. Sein damaliger „gemäßigter Zweifel“ gegenüber Lavaters Mitteilungen sei der Neuheit dieser Lehre geschuldet gewesen. Er habe außerdem in seinem Antwortschreiben den Ausdruck „Manipulation“ für die Handbewegungen der

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dene Leute einladen, die Erfahrungen seiner Gattin anzusehen. Einige hielten sie im Vorhinein für Wunder, während andere sich erinnern würden, „wie viel Kraft die angespannte Einbildungskraft habe“ und wie leicht Leute wie Lavater Wunder sehen, wenn sie welche sehen wollen. Lavater wird aufgefordert, diese Versuche zur besseren Überprüfung auch an anderen Orten außerhalb von Zürich (wo er viele Anhänger habe und deshalb jeder davor zurückschrecke, ihm zu widersprechen) und an fremden Personen durchzuführen.152

Lavaters Praxis des Magnetisierens Im Januar 1786, etwas mehr als drei Monate nach der Intensivphase der Behandlung seiner Frau, beschrieb Lavater in einem Brief an Christian Garve (1742–1798) die Praktiken, mit denen er magnetisierte. Es handelt sich um eine recht typische Abfolge von Handgebärden, wie man sie im Mesmerismus zur Übertragung und Verteilung des animalischen Magnetismus verwendete. Man berührte die Patienten mit ihnen oder führte sie nahe an ihrem Körper durch. Ein fixes Schema für die Behandlungen gab es schon bei Mesmer nicht, und noch weniger bei Puységur, der die Bedeutung der Körperpraktiken herunterspielte, um sich zu profilieren. Nichtsdestotrotz gab es auch in seiner Schule ein gängiges Repertoire leibzentrierter, vorwiegend manueller Verfahren, die wegen ihrer Effektivität geschätzt wurden. Es ist anzunehmen, dass Lavater, wie bei den Magnetiseuren üblich, seine individuelle Behandlungsweise schuf, indem er bekannte und bewährte Grundelemente, die er in der Version seines Lehrers Butini kennengelernt hatte, kombinierte und dem jeweiligen Fall anpasste bzw. nach eigenem Gutdünken modifizierte. Der Einstieg in die Behandlung mit Handauflegung und Gebet, der eigentlich mehr nach Lyoner Mesmerismus aussieht, dürfte sein Zusatz gewesen sein. Lavater setzt in seinem Brief, obwohl er einem Mann empfiehlt, sich magnetisieren zu lassen, voraus, dass in der Regel Frauen magnetisiert werden und Männer magnetisieren („Sie ist völlig bedeckt und bekleidet“, „Suchen Sie nur einen gesunden Mann [als Therapeut] aus“), was der im Mesmerismus vorherrschenden Geschlechterrollenverteilung entspricht, die auf der unter den Magnetiseuren vorherrschenden Meinung, der sich Lavater anschließt, beruht, dass Frauen empfänglicher für den animalischen Magnetismus sind.153 Man darf annehmen, dass Lavater seine Frau und andere Patienten nach der angegebenen Vorgangs-

Magnetiseure, der seither üblich geworden sei, als erster verwendet. Vgl. Dr. Marcard, Vorrede, in: Friedrich Karl von Strombeck, Geschichte eines allein durch die Natur hervorgebrachten animalischen Magnetismus und der durch denselben bewirkten Genesung, Braunschweig 1813, xiii–xxxii. 152 Vgl. ebd., 431–433. 153 Vgl. Archiv I, 20: „Daß der Magnetismus auf Menschen beiderlei Geschlechts wirkt, ist ebenso gewiß, als es gewiß ist, daß er, caeteris paribus, mehr auf das weibliche Geschlecht wirkt“.

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weise behandelte, wobei noch einige hier nicht genannte Elemente hinzukamen, die ich in der Diskussion dieser Stelle behandle: Die Manipulation des Mesmerismus ist so einfach wie möglich. Ich lege meine beiden flachen Hände auf das bloße oder bedeckte Haupt, lasse sie da etwa eine halbe Minute ruhen – und ziehe sie dann zu beiden Seiten die Schläfe und Arme herab – halte zwischen dem Daumen und zwischen dem Zeigefinger, ihre beiden Daumen, eine halbe Minute. Dann lege ich beide Hände auf die Achseln – und streiche 5 bis 6mal die Arme hinunter – dann beide Daumen aufs Herzgrübchen (Sie ist völlig bedeckt und bekleidet); je länger man sie da ruhen lässt, desto besser. Dann die zusammengefingerte Hand auf den allenfalls kranken Theil – gegenüber am Leib die linke Hand – und ziehe sie oft herab, – nur nie contre le torrent – immer weit ausgeholt; das ist die Hauptsache – die alle Augenblicke versucht werden kann. Ueber die Simplizität würden Sie erstaunen – und alle Einwendungen von Einbildungskraftspannenden Gestikulationen, die freilich Charlatans natürlich gemacht haben, fallen gänzlich weg. Wahr ist – wer nicht sensible Nerven und ein Nervenübel im Leibe hat, spürt nichts. Sie aber, bin ich sicher, ohne Sie zu kennen, je mehr Sie gelitten haben, würden gewiß Erleichterung davon haben. – Ganze Curen sind, glaube ich, selten, aber – große Erleichterungen. Suchen Sie nur einen gesunden Mann aus – und einen der Theil nimmt an Ihren Leiden; denn dieß wirkt ganz offenbar mit. Liebe heiligt alles!154

Diese Beschreibung der Technik des Magnetisierens erfolgte nicht interesselos. Lavater signalisiert deutlich, was er mit ihr bezweckt. Er möchte den Adressaten des Briefes davon überzeugen, eine animal-magnetische Kur zu beginnen. Dafür antizipiert er mögliche Einwände und möchte im Gegenzug Garve von zwei Punkten überzeugen: 1. Das Magnetisieren stellt im Regelfall eine Praxis dar, die aus unspektakulären manuellen Behandlungstechniken besteht („Die Manipulation des Mesmerismus ist so einfach wie möglich“; „Ueber die Einfachheit würden sie staunen“). 2. Es würden dementsprechend in der korrekten Behandlung keine Mittel theatralischer Inszenierung benutzt, um die Einbildungskraft zu stimulieren. Nur Scharlatane würden dazu greifen. Damit grenzt er die eigene mesmeristische Praxis und indirekt die PuységurSchule, nach deren Direktiven er unterwiesen wurde, als seriös von der, wie schon

154 Brief an Garve vom 25.01.1786 zitiert nach Archiv I, 1–61, hier 43 [Hervorh. i. O.]. Ich lese diese Beschreibung vor dem Hintergrund der zu Beginn der Hochblüte des romantischen Mesmerismus von Carl Alexander Ferdinand Kluge (1782–1844) erarbeiteten Klassifikation der in der deutschen Puységur-Schule üblichen Praktiken. Vgl. Kluge, Carl Alexander Ferdinand, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel, Berlin 1811. Mehr dazu in Baier, Karl, The Therapeutic Mediologies of Animal Magnetism, in: E. Voss (Hg.), Mediality on Trial. Testing and Contesting Trance and other Media Techniques, Oldenburg 2020, 33–67. Kluges Systematisierung basiert auf Vorarbeiten des Bremer Arztes und Lavater-Schülers Arnold Wienholt (1749–1804) und des Heilbronner Stadtarztes Eberhard Gmelin (1751–1809).

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besprochen, in der Spätaufklärung heftig diskutierten „Scharlatanerie“ ab und spielt die Imagination als Wirkfaktor herunter. Die 1784 in Frankreich veröffentlichten Berichte der königlichen Untersuchungskommissionen zum Mesmerismus, auf die er von Bonnet, der sich dem Ergebnis der Kommissionen anschloss, zu Beginn der Behandlung seiner Frau in einem Brief vom 23. August 1785 hingewiesen worden war (mehr dazu unten), hatten sich für die Einbildungskraft als eine Hauptursache der therapeutischen Erfolge der Magnetiseure stark gemacht. Ich kenne keinen Hinweis darauf, dass Lavater diese Gutachten gelesen hätte. Er brauchte sie und Bonnets Hinweis darauf auch gar nicht, um der Einbildungskraft als eines möglichen therapeutischen Faktors bewusst zu sein. Die Macht der Imagination war ein Topos der Spätaufklärung, der von Gegnern umstrittener Therapieformen regelmäßig zur Erklärung von deren Erfolgen herangezogen wurde. Lavater kannte ihn spätestens seit der Debatte um Gaßner. In seiner Korrespondenz mit Semler hatte er selbst angenommen, dass die Einbildungskraft bei den Heilungserfolgen des Exorzisten eine Rolle spielen könnte. Bei ihrem Gespräch in Lausanne hatte Tissot die Imagination als Verstärker der Wirkung einer von den Magnetiseuren ausstrahlenden Atmosphäre vermutet. Nachdem er Marcard als einem der ersten in einem ausführlichen Brief von der animal-magnetischen Therapie seiner Frau erzählte, äußerte dieser in seinem Antwortschreiben vom 27. September 1785 Zweifel bezüglich der von Lavater berichteten anomalen Fähigkeiten seiner Frau im somnambulen Zustand und führte erneut die Imagination als wahrscheinlichste Ursache für sie an: „Bis jetzt sehe ich alle in ihrem Briefe beschriebenen, nach der Magnetisation erfolgten Erscheinungen, für bloße Wirkungen der in Aufruhr gebrachten und auf einen Punkt geleiteten Imagination an; nicht für physische Folgen des Magnetismus.“155 Lavaters Hinweis auf die untheatralische Schlichtheit der Behandlungsweise, versucht im Gegenzug der Imaginations-Hypothese etwas Wind aus den Segeln zu nehmen, obwohl er im Prinzip nicht abgeneigt war, sie als einen unter mehreren Wirkfaktoren in Betracht zu ziehen. Doch nun zu den Praktiken im Einzelnen.

1. Handauflegung Eine Sitzung mit dem Auflegen der Hände auf das Haupt des Patienten oder der Patientin zu beginnen, ist im Mesmerismus unüblich. Lavater übernahm es vermutlich aus der christlichen Segenspraxis. Es geht der eigentlichen Behandlung voran, die dann ganz den Usancen des Magnetisierens folgt. Zu dieser ersten Behandlungsphase passt das von Lavater überlieferte mesmeristische Heilungsgebet, das sehr wahrscheinlich vom Magnetiseur still gebetet werden sollte, während seine Hände auf dem Scheitel des Patienten ruhten. Sein Titel weist zwar 155 Anonymus, Magnetische Desorganisation in Paris, 444.

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nicht darauf hin, wann es während einer animal-magnetischen Sitzung gebetet werden sollte, aber der Inhalt ergibt eigentlich nur dann Sinn, wenn es zu diesem Zeitpunkt verrichtet wurde: Seufzer beim Magnetisieren Herr, laß mich glaubensvoll nach Deines Himmels Höhen Fromm, wie ein gutes Kind, zu seinem Vater sehen! Laß Deines Lebens Kraft auf meinen Scheitel fließen Und sich durch meine Hand gleich einem Strom ergießen! Nicht mich! Nicht mich! Nur Dich! Verkannter hier auf Erden! Laß durch das, was ich thu, wie nie verherrlicht werden! Nur Kraft und Licht und Heil verherrlicht Deinen Namen! O lehr mich würdig flehn und sprich ein kräftig Amen!156

Lavater empfahl dieses oder ein ähnliches Gebet Schülern, denen er das Magnetisieren beibrachte, wie etwa dem Bremer Arzt Wienholt, der in einem Brief vom 5. Juli 1786 bittet, Lavater möge ihm das kleine Gedicht oder Gebet schicken, das vor dem Magnetisieren anzuwenden sei, was wiederum für seinen Ort am Beginn des Heilungsrituals spricht.157 Zu Lavaters Zeit werden Seufzer mit dem Herz als Ursprung emotionaler Regungen in Verbindung gebracht („Herzensseufzer“). Sie stehen für in der Brust aufsteigende Gemütsregungen, mit denen auf eine bedrängende Situation emotional geantwortet wird, ohne dass die dabei leitenden Prämissen der Situationsbeurteilung kognitiv reflektiert sein müssen. In diesem Sinn schreibt Moses Mendelssohn an Lavater: „Niemals hat mir mein Herz heimlich zugerufen: Schade für die schöne Seele! Wer da glaubet, daß außerhalb seiner Kirche keine Seligkeit zu finden sei, dem müssen dergleichen Seufzer gar oft in der Brust aufsteigen.“158 Im Zusammenhang der christlichen Gebetskultur steht die Bezeichnung „Seufzer“ (lat.: aspiratio) in der lateinischen Theologie und im daran anschließenden Konfessions-übergreifenden landessprachlichen Vokabular für kurze emotionale Gebete (auch Stoßgebete, lat.: orationes iaculatoriae), spontane Äußerungen, die

156 Lavater, ZBZ, FA Lav Ms 49: 26.09.–6.10.1785, Seufzer b. Magnetisieren. Zit. nach Milt, Franz Anton Mesmer, 52–53. 157 Vgl. Schulz, Günter, Lavater, seine Gegner und Freunde: Neue Briefe von und nach Bremen. 1784– 1798, Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 8 (1964), 150. In der mesmeristischen Schule von Lyon wurde es im Februar 1785 zur Regel gemacht, jede mesmeristische Behandlung mit einem Gebet zu beginnen. Siehe dazu Hannemann, Tilman, Konzepte und Praxis des Somnambulismus zwischen 1784 und 1812, in: M. Sziede/H. Zander (Hg.), Von der Dämonologie zum Unbewussten. Die Transformation der Anthropologie um 1800. Berlin 2015, 109–138, hier 117f. Pierre Butini hatte Kontakte zum Lyoneser Mesmerismus, der stark religiös und spiritistisch geprägt war. Ich fand aber keinen Hinweis darauf, dass er Lavater etwas anderes als die grundlegenden manuellen Techniken beibrachte. Es ist immerhin möglich, dass dieser durch Erzählungen über den Lyoneser Mesmerismus zu seinem Gebet inspiriert wurde. 158 Brief von Mendelssohn an Lavater vom 12.12.1769 in: JCLW III, 244.

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das Gemüt der Betenden zu Gott erheben.159 In Lavaters Worten: „Tiefe Seufzer des Herzens sind sichere Stufen zum Himmel.“160 Er ordnet die Seufzer in seiner Gebetslehre unter die Gebete „für besondere Zeiten und Umstände“ ein, die er von den davon unabhängigen „allgemeinen“ Gebeten unterscheidet. In seiner „Sammlung christlicher Gebether“ gibt er eine ganze Reihe von Beispielen dafür an, u. a. Seufzer in der Kirche, Seufzer vor dem Bibellesen, Seufzer in dringenden Nöten oder anhaltenden Leiden.161 Der „Seufzer beim Magnetisieren“ fügt sich nahtlos in dieses Schema seiner Gebetstheologie.162 Die Verschriftlichung und Publikation solcher Gebete machten aus spontanen „Seufzern“ ein eigenes Genre durchkomponierter kurzer Bittgebete zu bestimmten Gelegenheiten, die selbst wiederum klassifiziert wurden. Mein Bittgebet für den sterbenden Vater wird zu einem Seufzer an einem Sterbebett etc., der dann freilich wieder als inspirierendes Vorbild für individuell formulierte Gebete in entsprechenden Situationen fungieren kann. Mit dem vorliegenden Seufzer bittet der Magnetiseur Jesus Christus, den „auf Erden verkannten Herrn“, um die Gabe göttlicher Lebenskraft, die der oder die Betende sich selbst ganz zurücknehmend, als Medium an den Patienten oder die Patientin weiterleitet. Die Kraft, das Licht und Heil, die sich während der Therapie in der zu behandelnden Person manifestieren, sollen – ganz im Sinn von Lavaters Theologie des Geistes und der Kraft – Jesus Christus verherrlichen. Zwischen der göttlichen Kraft Christi und der beim Magnetisieren übertragenen Heilkraft wird im Gebet kein Unterschied gemacht. In seinen theoretischen Reflexionen zum Mesmerismus, auf die unten eingegangen wird, behandelt Lavater das Verhältnis beider differenzierter. Hier geht es um ein situatives Bitten um göttlichen Beistand und ein Sichöffnen für das Empfangen des Geistes Jesu Christi in Gestalt gottgegebener heilender Lebenskraft.

159 Vgl. Vansteenberghe, Edmond, Aspirations, in: Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et Histoire. Publié sous la direction de Marcel Viller. Bd. 1, Paris 1937, Sp. 1017–1025. 160 Lavater, Johann Caspar, Worte des Herzens. Für Freunde der Liebe und des Glaubens, hg. v. C. W. von Hufeland, Berlin 41842, 88. Der Aphorismus Lavaters hat eine längere Vorgeschichte. So gebraucht z. B. der Jesuit Friedrich Spee von Langenfeld bereits 1647 in seinem spirituellen Ratgeber Güldenes Tugendbuch das Bild der die Himmelsleiter erklimmenden Seufzer, die das Herz des Menschen zu Gott tragen würden. Vgl. Eicheldinger, Martina, Friedrich Spee – Seelsorger und poeta doctus. Die Tradition des Hoheliedes und Einflüsse der ignatianischen Andacht in seinem Werk, Tübingen 1991, 23. Die Motivgeschichte des zu Gott aufsteigenden Gebetsseufzers kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. 161 Lavater, Johann Caspar, Sammlung Christlicher Gebether. Neue Auflage, Nürnberg 1801. 162 Der Seufzer entspricht im Übrigen genau dem individuellen situativen Gebet, das er im Vorwort seiner Gebetssammlung „das göttliche Drang-Gebet“ nennt. Es nimmt bei ihm den höchsten Rang unter den verschiedenen Formen des Gebets ein (vgl. ebd., XVI–XVII).

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2. In Rapport treten Die zweite Phase von Lavaters mesmeristischem Ritual besteht aus Bewegungen, die nach dem üblichen Procedere gleich zu Beginn ausgeführt wurden. Sie sollen den sogenannten Rapport herstellen, die „magnetische“ Verbundenheit zwischen Arzt und Patient, die als wesentliche Voraussetzung einer erfolgreichen Behandlung galt. Ohne diese wechselseitige Einstimmung würden die Patienten die folgenden therapeutischen Gebärden als fremd, wenn nicht gar bedrohlich empfinden.163 Um den Rapport zu stiften, wurden verschiedene Bewegungen und Griffe verwendet. Das Abstreichen von den Schultern zu den Fingern und das anschließende Berühren oder Halten der Daumen der Patienten war eine gebräuchliche Praxis dafür.164 Die Daumen hatten wohl hauptsächlich deshalb eine besondere Rolle, weil Mesmer, auf den diese Form des In-Rapport-Tretens zurückgeht, die Hand als eine Art Magnet betrachtete, bei dem die Daumen einen starken Pol bilden. Lavater beginnt nicht mit den Schultern, weil seine Hände in der ersten Phase ja auf dem Scheitel des Patienten liegen. Er streicht von dort an den Seiten des Kopfes entlang nach unten bis er über die (bei ihm nicht eigens erwähnten) Schultern und Arme schließlich bei den Daumen ankommt.

3. Aktivierung der Herzgrube Die eigentliche Behandlung beginnt in Lavaters Brief an Garve mit einem Strich von den Achseln zur Herzgrube und dem Verweilen dort. Der als Herz- oder Magengrube bezeichnete obere Bauchraum hatte bei den mesmeristischen Behandlungen eine Sonderstellung inne. Mesmer empfahl die Berührung dieser Stelle vor der Bearbeitung spezieller Krankheitsherde, weil er glaubte, dass der Ursprung der meisten Krankheiten im Bauchraum zu finden sei, und weil die Nervengeflechte des Bauchraums (allen voran die Nerven an der Mitte des Zwerchfells und das Nervengeflecht am Magen) für ihn hervorragende Speicher und Leiter des animalischen Magnetismus darstellten.165 Der Straßburger Puységur-Schüler Tardy de Montravel vertrat gegen Ende 1785 in einer bahnbrechenden Schrift, die erstmals eine Theorie des magnetischen Somnambulismus präsentierte, die Auffassung, dass die Magengegend der Hauptsitz des sechsten Sinnes sei. Man glaubte, dass es dieser normalerweise von Wahrnehmungen der anderen Sinne übertönte Sinn sei, der durch das Magnetisieren gesteigert wird und für die anomalen Wahr-

163 Vgl. Kluge, Versuch einer Darstellung, 346f. 164 Vgl. ebd., 415f. 165 Vgl. Mesmer, Franz Anton, Lehrsäzze des Herrn Mesmer’s [sic], so wie er sie in den geheimen Versammlungen der Harmonia mitgeteilt hat, Straßburg 1785, 82.

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nehmungen der Somnambulen verantwortlich ist.166 Lavater war diese Theorie bekannt. Er bezieht sich in seinem Brief an Garve auf Tardys Schrift.

4. Behandlung einzelner Regionen des Körpers Um einzelne leidende Körperteile zu behandeln, platziert Lavater sodann die „zusammengefingerte“ rechte Hand auf dem kranken Körperteil, die linke an der gegenüberliegenden Stelle am Körper. Hierbei handelt es sich um die bei Kluge „kontrahierte Digitalmanipulation“ genannte Behandlungstechnik. Dieser Geste wurde eine stärkere Wirkung als der ebenfalls beliebten Ausstrahlung des Magnetismus durch die Handinnenfläche (Palmarmanipulation) nachgesagt, die laut Kluge von den Patienten als milder und angenehmer empfunden wurde.167 Die Platzierung der linken Hand auf der gegenüberliegenden Seite des Körpers entspricht der Vorstellung Mesmers, dass die beiden Hände Pole bilden, zwischen denen das animal-magnetische Fluidum strömt.168 Lavater löst die kontrahierte Digitalmanipulation immer wieder mit einem Abstreichen nach unten auf und kehrt dann zur problematischen Körpergegend zurück, womit Spannungen im Körper der Patientin abgebaut und etwaige unangenehme Empfindungen, die bei der Digitalmanipulation entstanden, gemildert werden sollen.169 Er folgt dabei der mesmeristischen Grundregel: „nie contre le torrent – immer weit ausgeholt“. Das Streichen hatte prinzipiell die Richtung nach unten und weg von der Mittelachse des Körpers. Meist wurden die Striche mehrere Male wiederholt. Um zum Ausgangspunkt der Bewegung zurückzukommen, ohne die negative Wirkung von gegenläufigen Strichen in Kauf zu nehmen, führte man die Hände mit einer weitausholenden Bewegung der Arme zurück, wobei die Handrücken zum Körper der Patienten gerichtet wurden, von denen man annahm, dass keine magnetische Wirkung von ihnen ausging.170 Eine die Behandlung zum Abschluss bringende Gebärde führt Lavater nicht an. Die beschriebenen Verfahrensweisen sind an Praktiken Mesmers orientiert, die in der Puységur-Schule weiter angewendet wurden. Am Schluss von Lavaters Beschreibung klingt mit dem Hinweis auf die mitfühlende und liebevolle Einstellung des Magnetiseurs als wichtigem Heilfaktor ein wesentlicher Gedanke Puysé166 Montravel, Tardy de, Essai sur la théorie de somnambulisme magnétique, London 1785, 49: „Il paroît que ce sixieme sens, l’ame des cinq autres, est répandu dans toute la machine, & qu’il a son siege principal das l’estomac; puisque c’est à l’estomac que le Somnambule croit voir & tendre“. 167 Kluge, Versuch einer Darstellung, 399, 401. 168 Vgl. Mesmer, Lehrsäzze des Herrn Mesmer’s, 84: „Es ist auch gut, wenn man einen Pol dem anderen entgegensezzet, nämlich, wenn man den Kopf, die Brust, den Bauch, u.s.w. mit der rechten Hand berührt, daß man die Linke auf der Rückseite […] entgegen sezzet“. 169 Ein ähnliches Vorgehen empfiehlt Kluge, Versuch einer Darstellung, 399. 170 Die übliche Strichrichtung und die schädliche Wirkung von Gegenstrichen erörtert Kluge, Versuch einer Darstellung, 394f.

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gurs an, der seiner Theologie entsprach, wie der die Beschreibung der mesmeristischen Praxis abschließende Satz „Die Liebe heiligt alles“ unterstreicht. Die Beschreibung, die Lavater in dem Brief an Garve von seiner Praxis gibt, ist sehr wahrscheinlich nicht vollständig, sondern scheint sich auf die bei der Behandlung seiner Frau herangezogenen Techniken zu beschränken. Vor dem Hintergrund der sonst üblichen Vorgangsweise fehlt vor allen Dingen das bei Tardy de Montravel und späteren Autoren als „traitement à grands courants“ bekannte Abstreichen des ganzen Körpers, das gleich nach der Aufnahme des Rapports angewandt wurde. Das liegt vermutlich daran, dass Lavater bei der Behandlung seiner Frau, um allzu heftige Reaktionen zu vermeiden, schon bald auf die großen Striche verzichtete.171 Einen Hinweis darauf, dass Lavater diese Technik und zusätzlich den beliebten Einsatz magnetisierter Substanzen empfahl, findet man bei Arnold Wienholt. Zwei Tage nachdem er von Lavater in die animal-magnetische Praxis eingewiesen worden war, begann er Sophie Albers folgendermaßen zu behandeln (mehr dazu unten): Am 6. Jul. ward mit der Kur angefangen. Täglich wurde sie zweimal von mir des Morgens zwischen zehn und elf, und Nachmittags zwischen vier und fünf Uhr, anfänglich fünf Minuten, und zulezt eine halbe Stunde lang, à grand courants magnetisiert, sie trank täglich ein Quartier magnetisiertes Wasser; um den andern Tag ward ihr zur Beförderung der Oefnung ein gewöhnliches Lavement beigebracht, und alle Arzeneien wurden zur Seite gesezt.172

Natürlich beließ es Lavater nicht beim Erlernen und Weitergeben mesmeristischer Körpertechniken. Schon während seiner Reise nach Genf und besonders in der Zeit danach waren die wissenschaftliche Erklärung bzw. Kritik des Mesmerismus und die philosophischen Implikationen der Erfahrungen mit den Somnambulen ein Thema für ihn. Darauf wird in den nächsten Abschnitten eingegangen.

Der Briefwechsel mit Bonnet und Puységur Nach dem Aufenthalt in Genf, als er seine Reiseeindrücke ordnete, über den animalischen Magnetismus nachdachte und bald auch Erfahrungen mit dem Mag171 Vgl. dazu den Brief von Lavater und seinem Bruder an Puységur vom 31.08.1785 in Puységur, Du Magnétisme Animal, 243: „Mais comme les convulsions sont toujours très-véhémentes, on n’a plus voulu hazarder le traitement universel, mais on a seulement donné les principales: mettant la poignée d’une main au creuset d’estomac, et l’autre sur le dos, vis à -vis même, sans les remuer“ („Da aber die Krämpfe weiterhin sehr heftig waren, wollten wir nicht mehr die universelle Behandlung riskieren, sondern nur die Hauptbehandlungen durchführen: wir legten eine Handfläche auf ihre Magengrube und die andere gegenüber auf ihren Rücken, ohne die Hände zu bewegen“). 172 Wienholt, Arnold, Heilkraft des thierischen Magnetismus, nach eigenen Beobachtungen, Bd. 3, Lemgo 1805, 19. Zu Lavaters Glauben an die Übertragbarkeit des animalischen Magnetismus durch magnetisiertes Wasser vgl. Archiv I, 17f und 23.

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netisieren seiner Frau sammelte, kommunizierte Lavater darüber brieflich, wie er es gewohnt war, mit verschiedenen Personen, die ihm in dieser Hinsicht wichtig waren.173 Ich möchte hier nur zwei prominente Briefpartner dieser frühen Phase seiner Mesmerismus-Rezeption hervorheben: Bonnet und Puységur. Am 14. August 1785 schrieb Lavater auf der Heimreise nach Zürich von Lausanne aus an Bonnet. Es war der erste Brief, nachdem sich die beiden persönlich kennengelernt hatten. Zuvor war der Briefwechsel zwischen ihnen auf Jahre hinaus zum Erliegen gekommen, laut Bonnet aufgrund von Lavaters Ansichten über das wunderbare Wirken des Hl. Geistes.174 Lavater eröffnet mit diesem Schreiben einen Disput über den animalischen Magnetismus mit dem Genfer Naturwissenschaftler und Philosophen, der sich über zwei Monate hinziehen wird. Er hatte zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes noch keine eigene Erfahrung mit Somnambulen, nur Berichte aus zweiter Hand. Zur Diskussion der medizinischen Seite stand er mit mehreren Ärzten in Verbindung. Er schreibt Bonnet als einem Ansprechpartner, mit dem er die damit zusammenhängenden philosophischen Fragen erörtern kann. Außerdem war zwischen den beiden noch etwas in Sachen Anomalistik offen und Lavater dachte vielleicht, nach den Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit dem Fall Tüscher nun bessere Karten in der Hand zu haben, um dieses Thema mit Bonnet noch einmal aufzurollen und ihn von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen. Er skizziert in dem Brief, wie er die „Anfälle der Krisiaken“ im Horizont seiner Auffassung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen versteht. Die Berichte von den Somnambulen würden seine Philosophie und Religion nicht kompromittieren, sondern stärken, denn nach beiden gäbe es nichts in Gott Erkennbares, „das nicht gleichzeitig in uns wäre“.175 Die divinatorischen oder magischen Kräfte des Menschen seien ein Strahl der Göttlichkeit (Rayon de la Divinité).176 Wenn ein solcher Strahl außer Kontrolle gerate (quand un Rayon de la Divinité nous échappe) und die anderen Fähigkeiten der menschlichen Natur nahezu paralysiere, dann werde man krank (er denkt hier offenbar an die som173 Die systematische Aufarbeitung des Mesmerismus-bezogenen Briefwechsels steht noch aus. Sie kann natürlich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Ich danke Elzbieta Lubelska für ihre Hilfe beim Übersetzen der in diesem Abschnitt zitierten französischen Briefe. 174 Siehe dazu den Aufsatz von Baumann im vorliegenden Band. 175 „Il n’y a rien de connaissable en Dieu, qui n’est pas en nous“ (Luginbühl-Weber (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Benelle, 154). 176 Zum Motiv des göttlichen Strahls und seinem Zusammenhang mit dem Topos der Gottebenbildlichkeit vgl. Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. 3, Leipzig u. a. 1777, 239: „Gottes Strahl im Angesichte des Menschen zu erkennen, ist Vorzug und Würde der Menschheit; das Maß des Göttlichen Geistes im Angesichte des Menschen zu fühlen und zu erkennen, ist aller Weisheit Gipfel“; und ebd., Bd. 2, Leipzig u. a. 1776, 31: „Trefflichkeit aller Menschengestalten: In jeder Menschenphysiognomie, so verdorben sie sein mag, ist noch Menschheit – das ist, Ebenbild der Gottheit!“ Lavater bringt die Metapher des göttlichen Strahls mit Bezug auf den Somnambulismus außerdem an einer oft zitierten Stelle in dem Brief an Georg Ludwig Spalding vom 22.10.1785 (nach Lavater, Reisetagebücher, Teil II, 32 vom 20.09.1785), auf die unten eingegangen wird.

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nambulen Patienten).177 Würden die anomalen Kräfte für böse oder leichtsinnige Ziele eingesetzt werden, gingen aus solcher Praxis Zauberer (sorciers) hervor. Im besten Fall aber würden sie sich im Einklang mit den gewöhnlichen Vermögen entfalten und für ein göttliches Ziel eingesetzt werden. Dann entstünden vom Herrn Gesalbte, Propheten und Apostel. Anomale Fähigkeiten werden also als Manifestationen („Strahlen“) des göttlichen Keims im Menschen verstanden, aus denen nicht notwendig Gutes erwächst. Sie können aus moralisch zweifelhaften Motiven für falsche Zwecke eingesetzt werden oder, wenn sie außer Kontrolle geraten, Krankheiten hervorrufen. Lavater schließt diesen Gedankengang mit einer allgemeinen Bemerkung, die nach dem sonstigen Inhalt des Briefs zu schließen, auf dem Gedanken eines göttlichen Keims als wahrer Natur des Menschen fußt: „Das Außergewöhnlichste ist für den Philosophen gewöhnlich, und das Übernatürlichste ist für den mit der Natur Vertrauten natürlich.“178 Für das philosophische Unterlaufen der strikten Dichotomie von Natürlichem und Übernatürlichem konnte er auf die Zustimmung Bonnets hoffen. Er fordert daraufhin in einer Antiklimax sich selbst und Bonnet auf, nüchtern zu bleiben, nichts zu überstürzen und sich vor allem darum zu bemühen, mit eigenen Augen zu sehen und diese außergewöhnlichen Phänomene zu überprüfen. Außerdem vermutet er, dass mit den bisher dokumentierten Fähigkeiten der Somnambulen noch längst nicht alles zu Tage trat, was in dieser Hinsicht möglich ist. Die Vorsehung könne in Zukunft „ein Original“ schicken, im Vergleich zu dem die bisher bekannten Somnambulen möglicherweise nur „karikaturartige Fragmente“ (fragments carricature) oder „Ritzen“ (fentes) seien, durch die hindurch spähend man „einige großartige Seiten der Menschheit“ erahnen könne.179 Die Somnambulen erscheinen aus dieser Perspektive als unvollkommene Vorwegnahme einer künftigen Entwicklungsstufe der Menschheit, die noch darauf wartet, in Gestalt eines genialen Somnambulen unverhüllt in Erscheinung zu treten.180

177 Dieser Gedanke erinnert an die Definition seelischer Krankheit als Ungleichgewicht seelischer Kräfte, die Moritz entwickelte. Vgl. Magazin zur Erfahrungsseelenkunde I (1783), 1, 33: „Mangel der verhältnismäßigen Uebereinstimmung aller Seelenfähigkeiten ist Seelenkrankheit. Es kömmt daher nicht auf die Stärke oder Schwäche einer einzelnen Seelenfähigkeit, an und für sich betrachtet, an, als vielmehr, in wie ferne dieselbe, in Absicht aller übrigen Seelenfähigkeiten, entweder zu stark oder zu schwach ist“ [Hervorh. i. O.]. 178 „Le plus extraordinaire est ordinaire pour le philosophe, et le plus surnaturel est naturel pour le confident de la Nature“ (Luginbühl-Weber (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Benelle, 154). 179 Ebd. 180 Nicht nur in Bezug auf die Menschheit, auch in Bezug auf die Entwicklung einzelner Menschen, haben bei Lavater die Einstrahlungen aus der verborgenen göttlichen Natur proleptischen Charakter, da sie dessen individuelle Vollendung vorwegnehmen. Vgl. Lavater, Johann Caspar, Sämtliche kleinere Prosaische Schriften vom Jahr 1763 bis 1783, Bd. 1, Winterthur 1784, 210: „Der Geist des Herrn wird sich in dir regen, und Strahlen künftiger Grösse und Herrlichkeit auf deine Seele fallen lassen“.

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Lavaters Appell an die Nüchternheit signalisiert seinem Adressaten: Ich bin kein naiver Schwärmer, ich idealisiere die Somnambulen nicht, sondern bin genau wie Sie an einer wissenschaftlichen Aufklärung des Phänomens interessiert! Mit Letzterem rannte er erwartungsgemäß bei Bonnet offene Türen ein. Dessen Antwort vom 23. August 1785 knüpft daran an, konterkariert aber Lavaters positive Bewertung der somnambulen Anomalien mit einer dezidierten Hermeneutik des Verdachts. Auch Lavaters philosophische Deutung lässt er außen vor, und siedelt stattdessen die Untersuchung des Somnambulismus ganz im Gebiet naturwissenschaftlicher Medizin an. Dazu betont er zunächst, dass die Medizin als Teilbereich der Physik auf einer dafür geschulten genauen Wahrnehmung empirischer Tatsachen sowie auf logischen Argumentationen beruhe. Er selbst hätte noch keine crisiaques beobachtet, wisse aber, dass viele Somnambule, deren Augen gründlich verschlossen worden waren, nichts gefühlt hätten.181 Damit deutet er schon seine Skepsis in Bezug auf die Sorgfalt der mesmeristischen Experimente und die Verlässlichkeit der darauf basierenden Protokolle an. Im Übrigen empfiehlt er Lavater die Lektüre der Berichte der französischen wissenschaftlichen Kommissionen aus dem Vorjahr. Im Einklang mit diesen kritischen Gutachten führt er einmal mehr die Einbildungskraft als mögliche Ursache der mesmeristischen Heilerfolge und der vermeintlichen außergewöhnlichen Fähigkeiten der Somnambulen an. Die Imagination ist eine furchtbare Kraft. Wir sind sehr weit davon entfernt, alles zu wissen, was sie vermag. Wir wissen immerhin genug, um sehr sicher zu sein, dass sie fähig ist, die ganze Maschine, mit der die Seele verbunden ist, zu erschüttern.182

Abschließend kommentiert Bonnet die in Lavaters Brief angesprochene Frage nach der Natürlichkeit bzw. Übernatürlichkeit magischer bzw. divinatorischer Fähigkeiten. Wieder vermeidet er es, diese Fähigkeiten direkt zu nennen oder gar ihr Vorkommen zu bestätigen. Stattdessen geht er auf die aus dem aufklärerischen Wunderdiskurs bekannte Frage nach der Durchbrechbarkeit der Naturgesetze ein. Er zieht angesichts der kolportierten Fähigkeiten der Somnambulen die Wundertheorie aus seiner Palingenesie heran, die Lavater kennen musste, weil er diesen Text ins Deutsche übertragen hatte. Die Gesetze, mit denen Gott das Universum regiere, seien ein unveränderlicher Ausdruck seiner Weisheit und seines Willens. Ausnahmen davon seien eigentlich nur Modifikationen dieser Gesetze,

181 Damit bezieht sich Bonnet auf die in der Puységur-Schule vielfach kolportierte Fähigkeit der Somnambulen bei geschlossenen Augen als unmöglich erscheinende Wahrnehmungen zu haben, die auch Lavater an seiner Frau beobachtet haben wollte. 182 „C’est une terrible Puissance que celle de l’Imagination: nous sommes fort loin de connoître tout ce qu’elle peut; mais nous en connoissons du moins assez pour être très assures qu’elle est cap­able de bouleverser tout la Machine à laquelle l’Ame est unie“ (Luginbühl-Weber (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Benelle, 156).

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die sich in ihr Gesamtsystem einpassen und ein der göttlichen Weisheit entsprechendes Ziel verfolgen.183 Dieser Gedanke erinnert an die Leibniz’sche Theorie der Relativität der Wunder.184 Nach ihr verstoßen Wunder im strengen Sinn (im Unterschied etwa zu den sog. Naturwundern) zwar mitunter gegen die von der endlichen menschlichen Vernunft bisher erkannten oder sogar gegen die von ihr prinzipiell erkennbaren Naturgesetze, nicht aber gegen die menschliches Fassungsvermögen übersteigende Weisheit Gottes, mit der er die beste der Welten durch übergeordnete Gesetze so geordnet hat, dass sie im Einklang mit seinem Heilsplan steht und göttliche Eingriffe, die diesem Heilsplan entsprechen, erlaubt.185 Darin waren sich Lavater und Bonnet wohl einig, jedenfalls gehen sie auf diesen theologischen Horizont in späteren Briefen nicht mehr explizit ein. Eine Annäherung der beiden in der Frage, ob die Somnambulen nun über anomale Kräfte verfügen oder nicht, erwies sich als weit schwieriger. Am 6. September repliziert Lavater mit einer für ihn typischen Argumentationsfigur. Er kenne das Urteil der französischen Kommissionen nicht und wisse nicht einmal, ob es den animalischen Magnetismus überhaupt gäbe. Was er dagegen sehr wohl wisse, sei, dass er seine Frau nach anerkannten animal-magnetischen Methoden behandelt habe. Er hätte sie seit dem vergangenen Samstag sechsmal in den magnetischen Somnambulismus versetzt. Im Zustand völliger Abwesenheit (état de pleine absence) hätte sie ihm diktiert, auf welche Weise sie zu heilen sei, wann sie wieder zu sich kommen werde etc. und zählt noch weitere Beispiele der oben erwähnten Phänomene auf, die er bei Anna beobachtet haben wollte.186 Lavater schließt diesen Brief mit einer Reprise, die auf die Imaginations-Hypothese und den Beginn seines Schreibens zurückkommt, wo er ja behauptete, er wisse gar nicht, ob der animalische Magnetismus existiere. „Sei es Magnetismus oder Einbildungskraft: das Ergebnis ist ebenso sicher wie erstaunlich.“187 Damit sagt er erstens, dass er nicht voreingenommen war, sondern von dem Ergebnis selbst überrascht wurde, und zweitens, dass die paranormalen Fähigkeiten wenigstens einiger Somnambulen als empirisch gesichert gelten müssen, auch wenn die Frage nach ihrer Ursache noch ungeklärt ist. In seiner Antwort vom 20. September nimmt Bonnet die darin liegende Herausforderung auf und antwortet mit ausführlicheren Überlegungen als in seinem vorigen Schreiben. Er umkreist die Frage nach einer Erklärung der Wahrneh183 Vgl. zu den Wundern als Modifikation der bekannten Naturgesetze im Rahmen höherer Gesetze Bonnet, Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum, 58. 184 Siehe Nickl, Peter, Jenseits der Technik. Leibniz und das Wunder, (Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 44), Leiden 2018, 278–292, hier 285–289. 185 Vgl. Leibniz, Discourse de métaphysique (1686), § 7. 186 In dem am 10.09., also nur wenige Tage später, an Marcard geschickten Brief über die Behandlung seiner Frau, zählt Lavater dieselben Phänomene auf und fügt noch einige hier unwichtige Einzelheiten hinzu. 187 „Soit le magnétisme, soit l’imagination – L’effet est aussi certain, qu’étonnant“ (Luginbühl-Weber (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Benelle, 158).

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mungen der Somnambulen und skizziert damit verbundene Probleme. Die Möglichkeit des Vorliegens einer der göttlichen Weisheit gemäßen Modifikation von Naturgesetzen wird nicht mehr in Erwägung gezogen. Auf den zentralen Punkt von Lavaters vorangegangenem Brief, die Behauptung, dass anomale Wahrnehmungsfähigkeiten im Fall seiner Frau empirisch gut belegt seien, geht er zunächst nicht ein. Vielmehr statuiert er, dass natürliche Phänomene durch Naturgesetze erklärt werden sollen und wenn der animalische Magnetismus etwas Reelles sei, er von der Aktivität eines sehr subtilen Fluidums abhängen müsse.188 Er nagelt Lavater also auf die Fluidumstheorie fest. Um etwaige anomale Fähigkeiten der Somnambulen wissenschaftlich zu erklären, müsse man die Beziehung zwischen der Bewegung des angenommenen Fluidums und den Wahrsagungen der Somnambulen erforschen. Bonnet führt aus, wie man sich deren Zusammenspiel aus der Perspektive seiner Wahrnehmungstheorie vorzustellen hätte: Das Fluidum oder das unsichtbare Agens, das hier aktiv ist, kann nur als physikalisches Agens wirksam sein: Und da dies im Gehirn oder im unmittelbaren Sitz des Fühlens und Denkens geschieht, müssen wir nach Art guter Psychologie annehmen, dass das magnetische Agens bestimmten Fasern des Gehirns oder des Sitzes der Seele eine gewisse Erschütterung einprägt und dass die Seele infolge dieser Erschütterung diese oder jene Idee hat.189

Aber wie, fährt er fort, solle man es sich dann erklären, dass das magnetische Fluidum die dafür zuständigen Fibern im Gehirn im richtigen Moment so affiziert, dass in der Seele die Ideen, die von den Somnambulen angeblich erraten werden, bewirkt werden? Sein Vorschlag, Lavater möge doch hier ansetzen und die Verbindung zwischen dem Fluidum und den von den Somnambulen hellsichtig geschauten Details untersuchen, war wohl eher rhetorisch gemeint. Aussicht auf Erfolg dürfte er einem solchen Forschungsprojekt nicht zugeschrieben haben. Abgesehen davon, dass Lavater keine wissenschaftliche Qualifikation dafür mitbrachte, hatte sich Bonnet in Bezug auf den Mesmerismus ja dem Urteil der französischen Untersuchungskommissionen angeschlossen, die zu dem Ergebnis gekommen waren, dass es keinen Hinweis auf die Existenz eines animal-magnetischen Fluidums gäbe. Unabhängig von solchen Vorbehalten gibt er Lavater deutlich zu erkennen: Wenn wir beide darüber im Gespräch bleiben wollen, dann erklä188 In ähnlicher Weise hatten die französischen Kommissionen die Fluidumstheorie und die Überprüfung ihrer Existenz ins Zentrum ihrer Untersuchung gestellt. Sie gingen davon aus, dass man über die Nützlichkeit des Fluidums für medizinische Zwecke erst urteilen könne, wenn zuvor dessen Existenz oder Nicht-Existenz nachgewiesen sei. Siehe dazu Baier, The Therapeutic Mediologies, 43–48. 189 „Le Fluide ou l’Agent invisible don’t il est question ne peut opérer qu[’]en qualité d’Agent physique: et comme il s’agit ici de ce qui se passe dans le Cerveau ou danse le Siège immédiat du Sentiment et de la Pensée, il faudra supposer en bonne Psychologie que l’Agent magnétique imprime un certain ébranlement à certaines fibres du Cerveau ou du Siège de l’Ame, et qu’à l’occasion de cet ébranlement l’Ame a telle ou telle idée“ (Luginbühl-Weber (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Benelle, 159).

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ren Sie mir bitte die von Ihnen behaupteten Erfahrungen ihrer Frau auf der Basis meiner Erkenntnistheorie und des Standes der naturwissenschaftlichen Medizin. Bonnet untermauert sodann seine kritische Position weiter, indem er sich ausdrücklich auf die Prinzipien seines Essai Analytique Sur Les Facultés De L’âme (1760) beruft, von denen er annimmt, dass Lavater sie teilt. Der Grundsatz, dass die Ideen vom Gebrauch der Sinne abhängig sind und die damit verbundene Widerlegung der cartesianischen Theorie der angeborenen Ideen seien Lavater doch bekannt, meint der Genfer Gelehrte. Gemäß dieser Lehre gelte: „Es geschieht also nichts in der Seele, was nicht im Körper seinen Ursprung hätte“190. Daraus folge aber, dass alle menschliche Erkenntnis der Sinnestätigkeit entspringt und ihre vollständige Deprivation (wie etwa im Fall der angeblich vollständigen Abwesenheit von Sinnesaktivität im üblichen Sinn bei Lavaters magnetisierter Frau und anderen Somambulen) sei auch das Ende aller Ideen im Sinn von wahrheitsgemäßen Vorstellungen. Nachdem er damit außersinnliche Erkenntnis im somnambulen Zustand prinzipiell ausgeschlossen und die Fluidumshypothese zu ihrer Erklärung zumindest in Frage gestellt hat, unterstreicht Bonnet erneut, dass die Untersuchungskommissionen gezeigt hätten, wie anregend die Praktiken des Magnetisierens und das mesmeristische Therapiesetting auf die noch unzureichend erforschte Macht der Imagination wirken können, die als Ursache der psychologischen Phänomene, die in den Therapien auftreten wie auch zur Begründung ihres Heilungspotentials in Frage käme. Als zusätzlichen Erklärungsgrund bestimmter somnambuler Wahrnehmungen, führt er außerdem die manchmal zu beobachtende Fähigkeit eines Sinnes an, die Funktion eines anderen Sinnes zu übernehmen.191 Einige angebliche Wahrsagungen der magnetisierten Somnambulen seien aber weder durch eine solche Übersteigerung der Tätigkeit eines Sinnes noch durch Imagination erklärbar, weil sie Sachverhalte betreffen, deren Ideen die Somnambulen durch keinen ihrer Sinne erwerben konnten (diesbezüglich kommen von seinem Standpunkt aus nur Täuschung und Betrug als Erklärung in Frage, was er aber nicht explizit sagt). Abschließend ermahnt er Lavater, sich bei seinen Überlegungen ausschließlich auf die Erfahrung und auf die von der Vernunft anerkannten Prinzipien zu stützen. Er weist auf die Täuschbarkeit der Wahrnehmung durch die „Neigung zum Wunderbaren“ und „Leichtgläubigkeit“ hin. Auch wenn er keinen Namen nennt, ist doch klar, dass er damit in erster Linie seinen Zürcher Briefpartner aufs Korn nimmt. Dieser antwortete prompt und entsprechend gereizt. Im Schreiben vom 22. September erspart er sich die bisher ausgetauschten Freundschaftsbekundungen und Höflichkeitsfloskeln und kommt sofort zur Sache: „Mein lieber und ehrwürdiger

190 „Il ne se passe donc rien dans l’Ame qui n’ait son origine dans le Corps“ (ebd., 159). 191 „Les Sens sont quelque fois susceptibles d’une prodigieuse exaltation. Je connois un cas dûment attesté où le Tact paroissoit avoir pris les fonctions du Goût“ (ebd., 160).

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Freund, es gibt keine zwei Wahrheiten. Jede Tatsache ist Wahrheit – oder es gibt nichts, was dieses Namens würdig wäre.“192 Er insistiert darauf, dass die Fakten als solche anerkannt werden müssen. Wenn Bonnet ihm selbst und den drei anwesenden Ärzten, die dasselbe gesehen hätten wie er, absprechen würde, dass sie beurteilen könnten, was sie erfahren hätten, käme das dem Urteil gleich, sie seien taub und blind. „Ich sage all das nicht, […] um Sie zu überzeugen, sondern um Sie zu motivieren, alles zu unternehmen, um diese Phänomene zu untersuchen.“193 Anstatt, wie seinerzeit anlässlich der Untersuchung der Wahrsagungen Elisabeth Tüschers, bei Bonnet nachzufragen, wie man denn die Methodik empirischer Untersuchung mesmeristischer Sitzungen und somnambuler Wahrnehmungen verbessern könnte, oder selbst diesbezüglich Vorschläge zu unterbreiten, nimmt er gekränkt den Standpunkt eines naiven Empirismus ein, der darauf baut, dass es sich bei den somnambulen Phänomenen um simpel feststellbare Tatsachen, in Bezug auf die kein Irrtum möglich sei, handele. Bonnet möge sich nur selbst davon überzeugen. Dazu hatte dieser offensichtlich keine Lust. In seiner Antwort vom 7. Oktober 1785 geht er nur mehr kurz auf die Sache ein, wobei ihm kaum Neues dazu einfällt. Er bedauert, dass die französischen Kommissionsmitglieder nicht Zeugen der „seltsamen Vorgänge“ (faits étranges) um den Somnambulismus von Lavaters Frau sein konnten, und weist zum wiederholten Mal darauf hin, wie leicht die Wahrnehmung durch Illusionen getäuscht werden könne, weshalb es einer sehr gut geübten psychologischen und physiologischen Sehweise bedürfe, um in den mesmeristischen Sitzungen objektiv zu bleiben. Im Übrigen beharrt er auf seiner Skepsis im Vertrauen darauf, dass „dies ihre Freundschaft nicht zerstören werde. „Sie werden finden, dass ich sehr aufmüpfig gegenüber dem bin, was Sie für wahr halten. Ich fürchte aber nicht, dass Sie mich deswegen weniger lieben.“194 Er hätte die beiden Doktoren Butini zum Abendessen eingeladen, um mit ihnen über die Somnambulen zu sprechen, sie hätten aber leider nicht kommen können. Damit ist das Thema animalischer Magnetismus in der Konversation zwischen den beiden vom Tisch. Ihre gesamte Kommunikation kam wenig später wieder auf Jahre hin zum Erliegen. Das Reizthema anomaler menschlicher Fähigkeiten brachte sie nun schon zum zweiten Mal auseinander. Bonnets Ablehnung des Mesmerismus trat im August 1786 in seinem Briefwechsel mit Tissot noch einmal deutlich zu Tage.195 Neben den bekannten Argu-

192 „Mon cher et respectable ami, Il n’y a point de Vérité. Tout Fait est verité – ou il n’est pas aucune chose digne de ce nom“ (ebd., 161). 193 „Je ne dis pas cela, mon cher Monsieur, pour vous convaincre – mais pour Vous exciter, de faire tout, pour examiner ces phénomènes“ (ebd.). 194 „Vous allés me trouver bien rebelle à ce qui vous paroît la vérité; mais je ne crains point que vous m’en aimiez moins“ (ebd., 163). 195 Siehe Milt, Franz Anton Mesmer, 40. Es ging in dieser Korrespondenz um die Frage, ob eine bestimmte als geisteskrank diagnostiziere Frau, bei der alle bekannten therapeutischen Mittel versagt hatten, magnetisiert werden solle.

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menten in Bezug auf den Somnambulismus und den Faktor Imagination attestierte Bonnet darin wiederum in Übereinstimmung mit den Untersuchungskommissionen der mesmeristischen Therapie ein hohes Risiko negativer Behandlungsfolgen, weshalb er letztendlich von ihrer Anwendung abriet. Diesen Punkt hatte er in seiner Korrespondenz mit Lavater nicht vorgebracht. Ihr Gespräch war ja bald über die Streitfrage der außergewöhnlichen Fähigkeiten der Somnambulen ins Stocken geraten. Zur Diskussion des davon unabhängigen therapeutischen Potentials des Magnetisierens kamen sie gar nicht mehr. In dieser ersten Phase von Lavaters Aneignung des Mesmerismus verlief noch eine zweite anfänglich vielversprechende Korrespondenz schon bald im Sand. Sein Briefwechsel mit dem Marquis de Puységur umfasst nach den von Puységur 1807 veröffentlichten Briefen die Zeitspanne von Ende August bis Anfang Oktober 1785.196 Wie schon erwähnt, schickte Lavater am 31. August 1785 einen Brief nach Straßburg, der den berühmten Magnetiseur von den Leiden seiner Frau und seinem Versuch sie mit Hilfe des animalischen Magnetismus zu heilen, informierte und ihn um Rat in Bezug auf ihre heftigen, außer Kontrolle geratenen Krisen bat. Ein mitgeschickter Bericht seines Bruders enthält die Details der Krankengeschichte Annas sowie ihrer bisherigen mesmeristischen Behandlung, die oben in meine Darstellung eingeflossen sind. Seine Antwort hat Puységur nur in einer Paraphrase veröffentlicht. Der Brief hätte ihm gezeigt, dass Lavater ihm vertrauen würde, und er hätte deshalb unverzüglich die anzuwendenden therapeutischen Maßnahmen mitgeteilt. Außerdem hätte er ihn darauf hingewiesen, dass die besten Ergebnisse zu erwarten wären, wenn er mit der festen Überzeugung von der Existenz des Wirkstoffs (also des animalischen Magnetismus), dessen Kraft er in sich spüren werde, therapiere. Am 11. September gab Lavater Entwarnung. Wenige Tage nach dem berichteten Höhepunkt ihrer erschreckenden Zustände am 30. August sei seine Frau in einen sehr ruhigen Somnambulismus übergegangen und hätte alle Mittel, die nötig gewesen wären, um sie zu heilen, selbst angegeben. „Alles läuft gut. Ich habe sie magnetisiert und durch meine unwürdige Hand hat Gott sie gerettet.“197 Puységur reagierte darauf mit einem längeren Schreiben, in dem er Lavater zu seinem Therapie-Erfolg gratuliert und dann eine Einführung in die Grundlagen seiner Lehre gibt. Er hebt hervor, dass die Besserung des Befindens von Anna Lavater eine Bestätigung seiner Auffassung darstellt, wonach die Intention des Therapeuten beim Magnetisieren das eigentliche therapeutische Agens ist. Außerdem erhebt er Lavater in den Rang eines kompetenten Magnetiseurs. Der Umstand, dass dieser bei seinen Behandlungen einem in der Puységur-Schule üblichen Repertoire bewährter manueller Praktiken folgte, bleibt dabei zunächst unerwähnt und wird spä-

196 Vgl. Puységur, Du Magnétisme Animal, 241–254. 197 „Tout va bien. Moi, je l’ai magnétisée; et par ma main indigne Dieu l’a sauvée“ (ebd., 245).

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ter von ihm in gewohnter Manier zu Gunsten dessen, was er als seine eigentliche Entdeckung ansah, heruntergespielt: Da sie allein durch Ihre guten und aufrichtigen Absichten eine ebenso erstaunliche wie heilsame Wirkung erzielt haben, sollten Sie in Zukunft nur mehr von sich selbst einen Rat über magnetische Vorgehensweisen annehmen. Jetzt begreifen Sie ohne Zweifel, wie wenig ich die bisher angewandten äußeren Verfahren, gutheißen konnte.198

Die Begründung der Wirksamkeit des Magnetismus, die nun folgt, legt Puységur theologisch an. Das höchste Wesen würde allen Menschen, die ihren Nächsten Gutes tun wollen, auch die Mittel und die Kraft dafür geben. Wie das in Bezug auf das magnetische Heilen vonstattengeht, erklärt er mit einer Theorie, die die Stärke der individuellen animal-magnetischen Heilkraft an die Harmonie der Seele mit dem göttlichen Willen bindet. Die Seele emaniert seiner Meinung nach unmittelbar aus dem Göttlichen und kann sich (aufgrund dieses Ursprungs) nur in der (göttlichen) Ordnung und im Guten ihrer selbst erfreuen.199 Sie gibt mit dieser Befindlichkeit die Idee des Guten vor, aus welcher der Wille, das Gute zu tun, entspringt. Das magnetische Fluidum, oder, wie Puységur in diesem Brief lieber sagt, die „animalische Elektrizität“, die er als eine Art Bewegung (mouvement), nicht als materielles Fluidum denkt, umgibt den Menschen und steht dem Willen zur Verfügung. „Diese Elektrizität geht also dorthin, wohin unser Wille sie lenkt. Je besser der Wille, desto mehr geht er von einer Seele aus und ist in Harmonie mit ihrem Prinzip und desto mehr Kraft hat unsere Elektrizität.“200 Ein Wille, der im Einklang mit Gott und der auf das Gute gerichteten Seele ist, kann demnach durch elektrische Impulse, die er auslöst, heilsam wirken und dies um so stärker je größer seine Harmonie mit dem Ursprung ist. Die Gesten des Magnetiseurs sind für das Magnetisieren an sich unbedeutend. Sie dienen nur zur Konzentration der Aufmerksamkeit auf den Kranken und sein Gebrechen.201 Das Mesmersche Fluidum, dessen kosmologische Dimension Puységur nicht rundweg leugnete, aber als therapeutisch irrelevant ansah, fungiert in diesem Brief de facto nur mehr als anthropologische Größe, als heilende individuelle Elektrizität, die den Menschen wie eine Aura umgibt und deren Kraft von der Harmonie zwischen der Seele und ihrem Schöpfer und dem daran sich orientierenden Heilungswillen des Magnetiseurs abhängt. 198 „Puisque vos bonnes et honnêtes intentions seules vous ont mené â procurer und effet aussi étonnant qu’il est salutaire, ne prenez à l’avenir des conseils sur les procédés magnétiques que de vousmême; vous devez reconnaître à présent combien j’étais loin d’approuver ces procédés extérieurs qu’on avait employés précédemment“ (ebd., 245f). 199 „Notre âme, immédiatement émanée de la Divinité, ne peut se plaire que dans l’ordre et le bien“ (ebd., 246). 200 „Cette électricité donc se porte où notre volonté la dirige; plus la volonté est bonne, plus elle part d’une âme bien droite et bien en harmonie avec son principe, plus notre électricité a de force“ (ebd., 247). 201 Vgl. ebd.

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Am Schluss des Briefes wird klar, worauf Puységur mit seinen Darlegungen letztlich abzielt. Nachdem er Lavater gebeten hat, die ihm mitgeteilte Theorie des Magnetismus für sich zu behalten, weil sie nur für Menschen gedacht sei, die durch die Erfahrung seiner heilenden Wirkung von seiner Existenz überzeugt sind, schließt er mit einer weiteren Bitte. Lavater möge doch der (von ihm geleiteten) Gesellschaft beitreten und sein Anhänger werden, um damit dem höchsten Guten und der Verbreitung dieser schönen Entdeckung (d. h. seiner Version des Mesmerismus) zu dienen. Am 26. September schreibt Lavater zurück, dass er sich über diesen Brief sehr freute und die darin enthaltenen freundlichen und brüderlichen Mitteilungen überdenken und einen respektvollen Gebrauch davon machen werde. Dann kommt er zur Sache und lehnt Puységurs Angebot, der Société Harmonique des Amis Réunis beizutreten, ab. Er folge dem Prinzip, zwar von allen Menschen zu lernen, aber niemandes Schüler oder Meister zu sein. Er möchte auch selbst keine Schüler im eigentlichen Sinn haben, weil jeder Mensch mit Ausnahme eines einzigen sich bzw. anderen schmeichle, wenn er Schüler annimmt. Außerdem würde jede Person, die bei jemand anderem Schüler geworden sei, in Gefahr stehen, selbst Meister werden zu wollen. Ich lese diese Stelle als Anspielung auf Jesus als einzigen rechtmäßigen Meister.202 Eine freundschaftliche Vereinigung aller, die dasselbe Ziel haben, sei in Ordnung, fährt Lavater fort. Sie dürfe aber keinen politischen Zweck verfolgen. Offenbar wollte er Puységur in sein informelles, nicht-hierarchisches (brüderliches) Netzwerk integrieren, ihm aber nicht als Schüler im Rahmen der Harmonie-Gesellschaft unterstehen, wie er anscheinend überhaupt die Mitgliedschaft in derlei Vereinigungen (besonders auch in religiös orientierten Geheimgesellschaften, mit denen die Straßburger Société enge Kontakte pflegte) für unvereinbar mit seinem Priesteramt hielt. Darauf deutet auch hin, dass er diesen Brief nicht wie die anderen Briefe an Puységur nur mit seinem Namen unterschreibt, sondern mit „J.G. Lavater, ministre du saint évangile“. Etwas mehr als eine Woche später, am 4. Oktober, schickte Lavater noch einen kurzen Brief nach. Er fragt darin, ob einer seiner Bekannten, dessen Buch er mitschicke, durch das Magnetisieren geheilt werden und den Zustand des Wahr­ sagens (l’état de la divination) erreichen könne. Außerdem möchte er wissen, ob man Epileptiker schon beim ersten Versuch somnambulisieren dürfe und ob eine bestimmte Bewegung über die Augen dazu angeraten sei. Puységur merkt dazu an, dass er seine Antwort auf den letzten Brief und das mitgeschickte Buch nicht mehr habe finden können. Er erinnere sich aber, dass er Lavater wegen seiner Verwendung des Ausdrucks „divination“ für die magnetische Hellsichtigkeit (lucidité magnétique) stark kritisiert hätte. Man solle die Gedan-

202 Vgl. Mt 23, 8–11: „Ihr aber sollt Euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. […] Auch sollt ihr Euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus“.

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ken von Somnambulen nicht auf Dinge jenseits ihrer Reichweite richten und in dieser Richtung verstärken, das erschöpfe nur ihren Geist. Ihre Antworten seien überdies alles andere als Offenbarungen der Wahrheit, meistens würden sie nur die Irrtümer des Magnetiseurs widerspiegeln. Im Straßburger Mesmerismus war man darauf bedacht, die hellseherischen Aktivitäten der Somnambulen auf Erkenntnisse in Bezug auf ihre eigene Krankheit und deren Heilung bzw. auf die Krankheiten von Menschen, mit denen sie in Rapport standen, einzuschränken. Offenbar verband Puységur mit Lavaters Verwendung des Ausdrucks „divination“ die Befürchtung, er wolle die anomalen Fähigkeiten der Somnambulen für nicht-therapeutische Zwecke wie etwa zur Wahrsagerei oder zur Kontaktaufnahme mit der Geisterwelt nutzen. Lavater wäre eine Antwort auf diesen Brief schuldig geblieben und habe sich wohl nicht an seine Ratschläge gehalten, schreibt Puységur weiter.203 Einige Jahre später hätte er erfahren, dass seine Frau verrückt geworden sei und dass Lavater die Schuld daran nicht seinem Leichtsinn, sondern dem animalischen Magnetismus gegeben hätte, dessen Wirkungen er nun für gefährlich hielt und auf dämonische Einflüsse zurückführte. Dokumente, die einen solchen Sinneswandel bei Lavater bzw. den Ausbruch einer Geisteskrankheit bei seiner Frau bestätigen würden, sind mir nicht bekannt. Diese Gerüchte weisen in erster Linie darauf hin, dass er bei Puységur und seinem Umfeld in Verruf geriet, zu den religiös argumentierenden Gegnern des Mesmerismus übergelaufen zu sein, was noch näher zu untersuchen wäre. Was Lavater dazu bewegte, den Kontakt zu Puységur abzubrechen, ist nicht geklärt. Es scheint, dass er sich wieder einmal zwischen alle Stühle setzte. Im nächsten Abschnitt geht es darum, welche Schlüsse Lavater aus seinen Erfahrungen, Gesprächen und Lektüren rund um den Mesmerismus zog und was für ein Konzept des animalischen Magnetismus er schließlich formulierte.

6. Zusammenfassende Reflexionen zum Mesmerismus Wie bei den meisten seiner anomalistischen Forschungen fasst Lavater nach einem ersten Kennenlernen zusammen, was er in Erfahrung bringen konnte, und gibt Rechenschaft darüber, zu welchen Einsichten er kam.204 Im Herbst und Winter

203 Das trifft in Bezug auf die Frage nach der Epilepsie nicht zu, da er auf Puységurs Auskunft hin, dass Epileptiker sehr gut auf die Behandlung ansprächen, tatsächlich einen Epileptiker magnetisierte. Vgl. dazu Brief an Georg Ludwig Spalding vom 22.10.1785, Archiv I, 39–58, hier 44; und Brief an Escher, 24.01.1786, Archiv I, 3–8, hier 6f. 204 Dieser Prozess beginnt mit einem Manuskript, das schon im September 1785 verfasst wurde. Lavater, Johann Kaspar, Historischer Beitrag zur Geschichte des sogenannten thierischen Magnetismus (September 1795), ZBZ, FA Lav Ms 49.5. Ich konnte dieses Schriftstück nicht einsehen. Möglicherweise ist es mit dem Inhalt des an Marcard geschickten Briefes über die Therapie von Lavaters Frau identisch, der später in der Berlinischen Monatsschrift publiziert wurde.

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1785 schrieb er dazu mehrere Briefe, von denen manche sehr umfangreich ausfielen und streckenweise wie druckfertige Essays wirken. Sie sind untrennbar mit der Arbeit an einer Neuformulierung der philosophischen Grundlagen seines Denkens verbunden, die damals Fahrt aufnahm.205 Zu Beginn des folgenden Jahres vollendete er ein Manuskript, an dem er seit Monaten schrieb, und dem er schließlich den Titel Meine jetzigen Gedanken über den animalischen Magnetismus. Im Jenner 1786 gab. Dieses elaborierteste Dokument seiner MesmerismusRezeption umfasst 67 durchnummerierte Abschnitte unterschiedlicher Länge, die in vier Kapitel unterteilt sind.206 Es erinnert in der Form an Lavaters Auswertung der Erzählungen des Franz Josef von Thun über den Geist Gablidone und dem von Hegner überlieferten Text zur École du Nord. Zusätzlich verfasste er ebenfalls im Januar dieses Jahres einen kurzen Bericht über die Fälle, die er bis dato magnetisierte bzw. noch magnetisiert (und wahrscheinlich auch einige Fälle seines Bruders, das wird nicht ganz klar). Die Dokumente dieser Periode, auf die ich mich im Folgenden beziehe, wurden zuerst 1821 im Archiv für den Thierischen Magnetismus publiziert.207 Größere Teile davon gingen später unter dem Titel Ueber den thierischen Magnetismus in den vierten Band der Orelli-Ausgabe von Lavaters ausgewählten Schriften ein.208 An die Öffentlichkeit drang davon zu Lebzeiten Lavaters, soweit ich sehe, kaum etwas. Das kurze Kapitel zum Mesmerismus in Rechenschaft an seine Freunde (1786) entspricht inhaltlich weitgehend dem Manuskript „Meine jetzigen Gedanken“.209 Die Briefe vom Herbst/Winter 1785 und Meine jetzigen Gedanken ergänzen einander und werden hier gemeinsam behandelt. Während im Briefwechsel philosophische Fragestellungen dominieren, treten im Manuskript die therapeutische Seite des Mesmerismus und empirische Beobachtungen in den Vordergrund. Lavater zeigt sich nach wie vor reserviert gegenüber Mesmer, seiner Lehre und seiner Bewegung. „Ich bin keiner seiner Schüler, kein Mitglied irgend einer von ihm gestifteten, oder von ihm hergeleiteten Gesellschaft. Vieles in seinem System, so weit ich es kenne, ist mir nicht einleuchtend. Vieles an seiner Handlungsweise mißfiel mir.“210 Solange er ihn jedoch nicht persönlich kennengelernt habe, möchte er kein Urteil über Mesmer abgeben, was seinem Prinzip entspricht,

205 Vgl. zu dieser Entwicklung in Lavaters Denken Ebeling, Genie des Herzens, 34. Hier allerdings wird ein Einfluss durch seine Mesmerismus-Rezeption nicht in Betracht gezogen. 206 In dem Brief an Kampe vom 3.12.1785, Archiv II, 19f nennt Lavater dieses Manuskript seine Theses bzw. sein Glaubensbekenntnis über den Mesmerismus. 207 Siehe Archiv I und II. 208 Vgl. Lavater, Johann Kaspar, Ausgewählte Schriften, Bd. 4, Zürich 1844, 233–283. Der Band enthält Meine jetzigen Gedanken vollständig sowie einige Briefe an Georg Ludwig Spalding (1762–1811) und Joachim Heinrich Kampe (1746–1818) zum Teil etwas gekürzt und anders angeordnet. 209 Lavater-Sloman, Genie des Herzens, 323; erwähnt außerdem einen Artikel Lavaters zum Mesmerismus im Hamburger Fremdenblatt, der 1786 veröffentlicht wurde. Ich habe dazu keinen Beleg gefunden. 210 Lavater, Johann Kaspar, Meine jetzigen Gedanken über den sogenannten tierischen Magnetismus. Im Jenner 1786, Archiv I, 9–32, hier 12.

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dass die persönliche Begegnung mehr von einem Menschen offenbart, als seine schriftlichen Äußerungen, zumal wenn ihm, wie Mesmer von der Vorsehung eine „Epochen-machende Erfindung“ anvertraut wurde.211 Die Bezeichnung „animalischer Magnetismus“ hält er für unglücklich. Sie erhielte nur durch das Anziehungsverhältnis, das zwischen den Magnetiseuren und somnambulen Kranken herrscht, eine teilweise Legitimität.212 Lavater sucht nach besseren Worten für die Entdeckung Mesmers: „[heilsame] Handauflegung“ etwa, oder „Willenskraft zur Exaltation der Seelenkräfte“ und entscheidet sich schließlich für „natürliche Heilkraft“ bzw. „menschliche, natürliche Heilkraft“.213 Diese Kraft konzipiert er als ein subtiles physisches Medium, „das aus dem menschlichen Körper ausfließt, oder wenigstens durch die menschliche Willens- und Lebenskraft in eine bestimmte Direktion gesetzt und mittheilbar gemacht wird“.214 Die Einbildungskraft als möglicher Heilungsfaktor wird mehrfach angesprochen, wobei Lavater ihr, wie auch in seiner oben bereits besprochenen Beschreibung der Praxis, keine wesentliche Bedeutung beimisst. Er lehnt einen Reduktionismus, der die gesamte Therapie darauf zurückführt, entschieden ab und fragt rhetorisch, was denn despotischer sei „als die allgemein herrschende Einbildung von der alles beherrschen sollenden Einbildungskraft?“215 Die Berührung der Patienten während der Behandlung würde am körperlichen Ort der Beschwerden und in anderen Körperteilen Empfindungen bewirken, die weder dem Zufall noch der Einbildungskraft zugeschrieben werden können und für die er die natürliche Heilkraft verantwortlich macht.216 Es sei auch nicht so, dass die Einbildungskraft im Somnambulismus besonders gesteigert werden würde, vielmehr finde eine Erhöhung des gesamten Sensoriums und auch aller höheren Seelenvermögen statt.217 Unter den Letzteren hebt er immer wieder die Steigerung der „Divinationskraft“ hervor, worunter er die Fähigkeit zur Schau oder Ahnung künftiger und normalerweise verborgener Dinge versteht. Möglicherweise durch Puységurs Ablehnung des Begriffs im Briefwechsel mit ihm sensibilisiert, unterstreicht er, dass man nicht an diesem Wort hängen soll und dass er wie auf andere anstößige Worte in Diskussionen gerne darauf verzichte.218 In Bezug auf das Divinationsvermögen im somnambulen Zustand folgt er der Auffassung des Straßburger Mesmerismus, dass sich diese auf das Leben der Patienten und besonders ihren Krankheitsverlauf beschränkt sowie auf die Fähigkeit, Ratschläge und Angaben zu den Krankheiten anderer Personen zu machen, insbesondere in Bezug auf Beschwer-

211 Lavater, Meine jetzigen Gedanken, Archiv I, 13. 212 Ebd., 13 und 21. 213 Ebd., 17f und Brief an Spalding vom 4.10.1785, 34. 214 Lavater, Meine jetzigen Gedanken, Archiv I, 23. 215 Brief an Spalding vom 31.01.1786, Archiv II, 56 [Hervorh. i. O.]. 216 Lavater, Meine jetzigen Gedanken, Archiv I, 15. Lavater folgt hierin seinem Bruder Diethelm. Vgl. Milt, Franz Anton Mesmer, 67. 217 Lavater, Meine jetzigen Gedanken, Archiv I, 25. 218 Vgl. Brief an Kampe vom 3.l1.1785, Archiv II, 18.

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den, die zum Anwendungsgebiet des Magnetismus gehören. Es sei Scharlatanerie zu behaupten, die Somnambulen wären Alleswisser. Auch in Bezug auf andere Einsichten und Eigenschaften, die die Somnambulen an den Tag legen, betont Lavater: „Sie bleiben in ihrer Sphäre, nur erheben sie sich in derselben. Sie geben dem Beobachter einen vergrößerten Maßstab, ihre Kenntnisse sowohl als ihre Moralität und Religiosität zu messen, in die Hand.“219 Einflüsse höherer geistiger Wesen, von denen er ja viel hielt, zieht er zur Erklärung der anomalen Fähigkeiten der Somnambulen und als Ursache der Heilkraft der Magnetiseure nicht heran, abgesehen von Jesus Christus, der für ihn das universale Medium ist, das „auf alle Menschen und alle Punkte der Menschheit, durch irgend eine Art von Berührung, Ausfluß, positive Handlung oder Willensregung wirken kann“, und damit sozusagen als der Urmagnetiseur fungiert.220 Die zuletzt genannte Überzeugung gehört bereits in den Bereich seiner philosophisch-religiösen Interpretationen, die das zweite Standbein von Lavaters zusammenfassenden Überlegungen zum Mesmerismus bilden. Als Aufhänger für ihre Darstellung sei eine Stelle aus einem Brief an Georg Ludwig Spalding (1762–1811), den Sohn Johann Joachim Spaldings, herangezogen, die oft und zu Unrecht, wie sich zeigen wird, als Beleg dafür herhalten muss, dass Lavater ein primär religiöses Interesse am animalischen Magnetismus gehabt hätte: Ich verehre diese neu sich zeigende Kraft, als einen wohltätigen Strahl der Gottheit, als einen königlichen Stern der menschlichen Natur – als ein Analogon der unendlich vollkommeneren prophetischen Gabe der Bibelmänner – als eine von der Natur selbst mir dargebotene Bestätigung der biblischen Divinationsgeschichten, und das Mittel, diese Exaltation zu bewirken als ein Analogon der Apostolischen Handauflegung, welche ähnliche, nur unendlich höhere Effekte hervorbrachte.221

Hier wird der animalische Magnetismus als neu entdecktes psychophysisches Agens in einem Atemzug der Gottheit und der menschlichen Natur zugeschrieben, was Lavaters Grundsatz, dass alles Göttliche zugleich menschlich ist, entspricht.222

219 Lavater, Meine jetzigen Gedanken, Archiv I, 25. 220 Brief an Spalding vom 22.10.1785, Archiv I, 46. 221 Ebd., Archiv I, 41. 222 Lavater bezeichnet dieses Prinzip im Brief an Spalding vom 4.10.1785 in der hippokratischen Formulierung πάντα θεία και ἀνθρώπινα πάντα („Alles ist göttlich und (zugleich) menschlich“) als „mein philosophisches Glaubensbekenntnis“ (Vgl. Archiv I, 33), unmittelbar nachdem er versicherte, aus dem animalischen Magnetismus kein Wunder machen zu wollen, weil er ihn für eine „ziemlich natürliche Sache“ halte. Lavater versteht diesen Spruch vor dem Hintergrund der Lehre von der göttlichen und menschlichen Natur der Person Jesu Christi, die seiner Meinung nach nicht nur dem historischen Jesus, sondern in abgestufter Weise allen Menschen zukommt. Das Hippokrates-Zitat aus dem 18. Kapitel der Schrift De morbo sacro findet sich auch schon in Lavater, Johann Kaspar, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Vierter Versuch, Leipzig/Winterthur 1778, 97. Es wird dort als „neuer Grundsatz“ bezeichnet, der Hippokrates am Ende dieser Abhandlung entfahren sei, obwohl er sich ansonsten

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Die zwei zu Beginn gebrauchten Metaphern sind miteinander durch das Motiv des Lichts, das Fernen durchquert, verbunden. Der „wohltätige Strahl der Gottheit“ bezeichnet eine die Distanz zwischen Gott und Mensch überbrückende und Gutes wirkende Gabe Gottes, in der er selbst gegenwärtig ist wie die Sonne in ihren Strahlen; der „Stern menschlicher Natur“ steht dafür, dass die verborgene, über das Irdische erhobene „himmlische“ Dimension der menschlichen Natur vom animalischen Magnetismus ein Stück weit erhellt wird. Er fungiert dadurch sozusagen als natürliche Eingangspforte göttlichen Lichts in den Bereich des Menschlichen. Im folgenden Text setzt Lavater diese Offenbarung Gottes in Gestalt einer dem Menschen innewohnenden Heilkraft mit der biblischen Offenbarung und ihrer Tradierung in ein analogisches Verhältnis. Die außergewöhnlichen Fähigkeiten der biblischen Propheten entsprechen der auf natürlichen Ursachen beruhenden Divinationsgabe der Somnambulen. Ebenso ähnelt die (vorgeblich) ununterbrochene Kette von Handauflegungen, durch welche die Bischöfe in vorreformatorischer Zeit als Nachfolger der Apostel galten, den Heilkraft übertragenden Handgebärden der Magnetiseure. Beide sind für Lavater in einer Weise göttlich, dass sie den animalischen Magnetismus zwar unendlich überragen, andererseits jedoch auch genügend ähneln, um bestimmten biblischen Geschichten und kirchlichen Gebräuchen durch die gerade erst entdeckte Naturkraft neue Plausibilität und einen ungeahnten Sinn abzugewinnen. Das diesen Überlegungen zugrunde liegende Konzept von Analogie erinnert an die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Schöpfer und Geschöpf der vierten Lateran-Synode (1215), nach der zwischen beiden keine Ähnlichkeit ausgesagt werden kann, die nicht eine größere Unähnlichkeit einschlösse. In Bezug auf den animalischen Magnetismus sieht Lavater, wie er in einem anderen Brief sagt, „immer mehr – aber auch immer weniger Aehnlichkeit zwischen ihm und der apostolischen Handauflegung“. Und er fährt fort: „Das Aehnliche und Verschiedene aller Dinge – gleich erkennen, ist wahre Weisheit.“223 Während die apostolische Handauflegung sofort gewirkt hätte, würden die magnetischen Gebärden oft nur sehr langsam eine Wirkung zeigen und das, was dort zur Gänze erreicht worden wäre, könne, so Lavater weiter, im Magnetismus nicht einmal halbwegs zustande gebracht werden. Diese Sichtweise unterstreicht die Konvergenz mesmeristischer Praxis mit dem Christentum und hebt den Magnetismus als von Gott gegebene und gesegnete, heilsame Naturkraft von dem im Raum des Christentums erfahrbaren Heilshandeln Gottes in einer Weise ab, die zugleich die Überlegenheit des Christentums und des in ihm wirkenden Magnetismus hervorhebt und Raum schafft für säkulare Interpretationen des Mesmerismus. bemüht hätte, das Göttliche aus der ärztlichen Kunst zu eliminieren. Lavater möchte anscheinend mit seiner Interpretation des Mesmerismus dort anknüpfen, wo der Vater der wissenschaftlichen Medizin aufhörte. Ein konkreter Hinweis auf Hamann, der schon früher die hippokratische Formel zu einem Leitspruch seines Denkens erkor, ist mir bei Lavater nicht untergekommen. 223 Brief an Garve vom 28.01.1786 (Beilage zum Brief vom 25.01.1786), Archiv II, 55.

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Lavater kann ihn auf diese Weise problemlos als von menschlichen Körpern an andere menschliche Körper mitteilbares physisches „Medium“, das nach bestimmten Regeln physisch und psychologisch wirksam ist, konzipieren und dem mineralischen Magnetismus sowie der Elektrizität als experimentell erforschbare Naturkraft an die Seite stellen.224 Die Hauptfunktion von Lavaters analogia entis liegt aber nicht in der Betonung der Unterschiedenheit des Verwandten, sondern darin, festgefahrene Konstruktionen von Gegensätzen (z. B. Naturgesetz kontra göttliches Wirken oder menschliche Kompetenz contra göttliche Gnade) zu verflüssigen und durch graduelle Abstufungen zu vermitteln, wobei Naturgesetz und menschliche Fähigkeiten auf der fundamentalen Schöpfungsgnade Gottes beruhen. Das hat Konsequenzen für den Begriff des Wunders, den er nun kritischer sieht als früher. „Das Wort Wunder hat alles verdorben“, heißt es an einer Stelle.225 Es bleibe zwar unverzichtbar, sei aber bisher in seiner bloß relativen Bedeutung nicht genug beherzigt worden. „Wunder oder nicht Wunder, Natur oder Gnade, göttlich oder menschlich, […] das alles sind im Grunde für den ächten Philosophen sehr subalterne Untersuchungspunkte.“226 Auch in der Bibel werde nirgendwo eine Grenze zwischen Natürlichem und Übernatürlichem angegeben.227 Zwischen auf direkten göttlichen Eingriff zurückgehenden Wundern und überraschenden positiven natürlichen Ereignissen bzw. der erstaunlichen Entfaltung menschlicher Anlagen besteht kein fundamentaler Unterschied mehr. Lavater konzipiert sie als Extrema einer Skala mit zahllosen Zwischenwerten.228 Das Gebiet des Wunderbaren beginnt schon mit in der Natur der Dinge angelegten positiven Abweichungen vom gewohnten Gang der Ereignisse, mit unvorhergesehenen Entwicklungsschüben und Steigerungsformen natürlicher Phänomene und menschlicher Fähigkeiten, die Anlass geben, dem Schöpfer zu danken.229 Und er geht noch einen Schritt weiter in der Veralltäglichung des Wunders. „Mir ist gar nicht um etwas Wunderbares zu thun. Mich interessiert was hilft, und was mich Strahlen der menschlichen Größe sehen lässt.“230 Der Vorrang des Hilf224 Vgl. ebd., Archiv II, 51; wo Lavater dafür argumentiert, dass der animalische Magnetismus und seine somnambulen Wirkungen experimentell nachweisbar und erklärbar sind: „Denn […] es ist nicht bloß von einer geschehenen Sache die Rede, welche ich und zwanzig andre neben mir und fern von mir gesehen haben, sondern es ist die Rede von einem Experimente, welches täglich wiederholt werden kann – dessen ganzer Gang, Schritt für Schritt, so gut als immer bei einem Experimente angegeben, und dessen wesentlichste Effekte wenigstens überhaupt vorausbestimmt werden können“. 225 Brief an Kampe vom 28.12.1785, Archiv II, 26 [Hervorh. i. O.]. 226 Brief an Spalding vom 22.10.1785, Archiv I, 45 [Hervorh. i. O.]. Eine vergleichbare Überlegung artikuliert Lavater schon in dem oben besprochenen Brief an Bonnet vom 14.08.1785. 227 So in der Nachschrift zum Brief an Kampe vom 28.12.1785 (verfasst am 29.12.1785), Archiv II, 35. 228 Vgl. ebd. [Hervorh. i. O.]. „Wunder und natürlich sind in meinen Augen untergeordnete, nicht entgegengesetzte Dinge“ und dasselbe gelte von Vernunft und Offenbarung sowie Mensch und Christus. 229 Ebd., Archiv II, 33f. 230 Ebd., Archiv II, 37.

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reichen tauchte bereits im Briefwechsel mit Semler über Gaßners Exorzismus auf. Damals spielte jedoch der Versuch, nachzuweisen, dass die Heilungen des katholischen Geistlichen nicht auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden können, noch eine zentrale Rolle. Jetzt verlagert sich sein Interesse stärker als bisher von der Suche nach Wundern im engen Sinn auf die religiöse Bedeutsamkeit von allem, was heilsam und gut ist. Fast schon nach Art heutiger Wellness-Spiritualität bestimmt er Religion als das Verständnis dessen, was dem Menschen wohltut, als Geschenk Gottes. Nun ist jede Wirkung, die wohlthut, die einen positiven Anfang hat, von uns anders nicht als eine positive Aktion dessen, der alles in Allen wirkt, von uns, die wir einen Alles in Allen Wirker, oder einen Gott annehmen, anzusehen. Ihm ist dafür zu danken. Er ist dadurch als mächtig und wohlthuend erkennbar. Durch dies Gefühl wird unsre Erkenntniß einer Kraft, religiös.231

Die explizite Hochschätzung weltlicher Güter als göttliche Gaben wird flankiert durch eine Polemik gegen die Verächter dessen, was die mittelalterliche Philosophie als causae secundae, von Gott als erstem Ursprung freigesetzte innerweltliche Ursprünge schöpferischer Entwicklungen, thematisierte. Lavater wendet sich gegen all diejenigen, die glauben, sie wären die größten Verehrer Gottes, weil sie es nur mit Gott allein zu tun haben wollen und „mediate Wirkungen Gottes“ verachten. Sie müssten, wenn sie konsequent sein wollen, Gott zum Vorwurf machen, dass sie alles, was sie sind und haben, durch Vermittlung ihrer Eltern (in Lavaters Sicht vor allem der männlichen Erzeuger) als endlicher, positiv handelnder Wesen empfangen haben.232 Ein letzter Punkt, der noch Erwähnung finden muss, ist Lavaters Interpretation des Somnambulismus als Hinweis auf die Unsterblichkeit des Menschen und Vorwegnahme postmortaler Existenz. Lavater schreibt in einem Brief, er danke Gott für den Magnetismus als Phänomen, das ihn in seinem Glauben an die Unsterblichkeit gestärkt, und „die Möglichkeit eines Zwischenzustandes zwischen Tod und Auferstehung ziemlich klar sehen ließ“.233 Die Somnambulen böten „das schönste Bild von Vernunft und religiöser Moralität“ und man erkenne in der Begegnung mit ihnen „etwas von dem Göttlichsten, Edelsten, Unsterblichsten, was in dem Menschen ist“.234 So werde die Verwandtschaft der menschlichen Natur „mit einem lebendigen, alles erkennenden, alles liebenden Lichtwesen“ sichtbar, wobei er wohl nur Jesus Christus im Sinn haben kann.235 Lavater ist davon überzeugt, dass durch den Verschluss der bekannten „äußeren“ Sinne im somnambulen Zustand nicht nur die Sinneswahrnehmungen verfei231 Brief an Spalding vom 22.10.1785, Archiv I, 40 [Hervorh. i. O.]. 232 Vgl. ebd., Archiv I, 43. 233 Nachschrift zum Brief an Kampe vom 28.12.1785 (29.12.1785), Archiv II, 37. 234 Lavater, Meine jetzigen Gedanken, Archiv I, 25. 235 Ebd.

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nert und neue Sinne geöffnet werden.236 Der gesamte „innerliche Mensch“ würde auf diese Weise erwachen. „Zu Nacht sieht man die Sterne – bei geräuschloser Stille hört man den Strom rauschen, und wenn die äußern Sinne schlafen, je mehr sie schlafen – so wacht, und desto mehr wacht der innerliche Mensch – der mir in allen Gliedern zu existieren scheint.“237 Die auf diese Weise stattfindende Los­lösung des inneren Menschen vom grobstofflichen Körper interpretiert er als Vorwegnahme der postmortalen Seinsweise des Menschen.238 Das Gebaren und die Aussagen der Schlafredner erwecken bei ihm folgenden Eindruck: Mir ist immer dabei (wofern nämlich der Zustand einfach und ungichterisch ist), ich sehe die erlöste Seele, ich höre sie, einige Momente nach dem Tode des Körpers, ihre Empfindungen von unaussprechlicher Heiterkeit und Ruhe aussprechen.239

Der Somnambulismus könne damit intuitive Beweise für die geistige und Gott verwandte Natur des Menschen liefern.240 Anomale Fähigkeiten sind bei diesem Ahnen der göttlichen Natur des Menschen in der Begegnung mit Somnambulen inbegriffen, jedoch stehen ihre moralischen und religiösen Qualitäten sowie ihre gehobene kontemplative Stimmung im Vordergrund.

Lavaters Beitrag zur Verbreitung des Mesmerismus in Deutschland Lavater hatte einen maßgeblichen Anteil an der frühesten Ausbreitung des Mesmerismus in Deutschland, für die er seine Verbindungen zur Aristokratie und sein kirchliches Netzwerk nutzte. Zuerst sorgte er für die Etablierung in der Markgrafschaft Baden.241 Der Boden dafür war schon bereitet. Mesmer war seit 1778 mit dem Herausgeber der Carlsruher Zeitung, Verlagsbuchhändler und Hofbuchdrucker Johann Michael Macklot (1728–1794), bekannt, der in den frühen 1780er Jah-

236 Nachschrift zum Brief an Spalding vom 22.10.1785 (verfasst am 25.10.1785), Archiv I, 59. 237 Brief an Spalding vom 04.10.1785, Archiv I, 34f [Hervorh. i. O.]. Die Annahme der Existenz des „innerlichen“ Menschen im ganzen Körper unterscheidet sich von Bonnets Auffassung, der feinstoffliche Leib, der den Tod überdauert, sei im Gehirn lokalisiert. Zum Spektrum der diesbezüglich möglichen Positionen in den anthropologischen Entwürfen der Aufklärung vgl. Stengel, Friedemann, Lebensgeister – Nervensaft. Cartesianer, Mediziner, Spiritisten, in: M. Neugebauer-Wölk u. a. (Hg.), Aufklärung und Esoterik, 340–377. 238 Dieser Gedanke wird nach Lavaters Tod durch seinen Freund Jung-Stilling besonders einflussreich. Vgl. Jung-Stilling, Johann Heinrich, Theorie der Geisterkunde, in einer Natur-, Vernunft-, und Bibelmäßigen Beantwortung der Frage: Was von Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden müsste, Frankfurt/Leipzig 1808. 239 Lavater, Meine jetzigen Gedanken, Archiv I, 26. 240 Ebd., Archiv I, 30. 241 Vgl. dazu Funck, Heinrich, J.K. Lavater und der Markgraf Karl Friedrich von Baden, Freiburg 1890, 15–20.

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ren die deutsche Übersetzung von französischen Werken aus der Feder Mesmers und seines Schülers Charles d’Eslon (1739–1786) in Karlsruhe herausbrachte und in seiner Zeitung bewarb.242 Lavater unterrichtete seinen Freund Markgraf Karl Friedrich (1728–1811) am 4. Oktober 1785 kurz über seine Erfahrungen mit dem Mesmerismus und schickte dann im November einen von ihm als „Cahier“ bezeichneten ausführlicheren Aufsatz.243 Das reichte, um den Landesfürsten als Förderer zu gewinnen, der Baden mit seiner Hauptstadt Karlsruhe sowie mit Magnetiseuren in Rastatt zum südwestdeutschen Zentrum des Mesmerismus machte. Karl Friedrich sorgte für die Ansiedelung der neuen Heilmethode, indem er Magnetiseure in dem nahegelegenen Straßburg ausbilden ließ. Einer der dorthin entsandten Männer war Johann Lorenz Böckmann (1741–1802), der wegen seiner Bedeutung an dieser Stelle erwähnt werden muss. Der angesehene Karlsruher Mathematik- und Physiklehrer gab 1787 und 1788 das Archiv für Magnetismus und Somnambulismus in Straßburg heraus, die erste deutschsprachige Fachzeitschrift für die Lehre Mesmers und Puységurs, die ein wichtiges Diskussionsforum und Organ der Vernetzung darstellte.244 Ein weiterer, Baron Karl von Rosenfels, erhielt in Straßburg ein Lehrpatent, das ihm ermöglichte, als offizieller Vertreter des Straßburger Instituts der Puységur-Schule in Baden Magnetiseure auszubilden. Er unterwies u. a. Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) im Mesmerismus.245 Dessen Theorie der Geisterkunde von 1808 speiste den Geisterdiskurs der Aufklärung aus der Perspektive einer Lavater-affinen mesmeristischen Anthropologie in die deutsche Romantik ein. Die Mesmerismus-Welle in Baden blieb im benachbarten Württemberg nicht unbemerkt, wie eine ausführliche Artikelserie in acht Folgen zeigt, die vom 20. März 1787 an in der Schwäbischen Chronik erschien und den Badener Mesmerismus behandelte.246 Im Juli dieses Jahres begann der Heilbronner Stadtmedikus Eberhard Gmelin (1751–1809), angeregt durch mesmeristische Schriften und Behandlungen, an denen er beobachtend teilgenommen hatte, zu magnetisieren.247 Zu den wenigen, in Württemberg praktizierenden Mesmeristen, bei denen er sich etwas abschauen konnte, zählte auch eine der seltenen Magnetiseurinnen, die in

242 Vgl. Bittel, Karl, Der berühmte Hr. Doct. Mesmer vom Bodensee, Friedrichshafen 21940, 28–33. 243 Ebd., 46 Anm. 50. Um welchen Text es sich dabei handelte, ist nicht geklärt; vielleicht das Manuskript „Historischer Beytrag zur Geschichte des sogenannten thierischen Magnetismus“ vom September 1785. 244 Dazu Ego, Anneliese, Animalischer Magnetismus oder Aufklärung. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert, Würzburg 1991, 173. Und Bittel, Der berühmte Hr. Doct. Mesmer, 36. 245 Vgl. Bittel, Der berühmte Hr. Doct. Mesmer 36, 39. 246 Vgl. ebd., 41f. 247 Vgl. zu Gmelin: Bauer, Gerhard, Eberhard Gmelin. Leben und Werk, Stadtarchiv Heilbronn 1994. Er wurde ein sehr erfolgreicher, auch von der medizinischen Fachwelt angesehener Magnetiseur, der mit mehreren Büchern zwischen 1787 und 1793 als Theoretiker der Puységur-Schule hervortrat und später als Bezugsperson des deutschen Mesmerismus der Romantik fungierte.

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Straßburg ausgebildete Landvögtin Margarethe Tschiffeli, die sich 1788 in Heilbronn aufhielt und deren verstorbener Ehemann mit Lavater befreundet gewesen war.248 1789 suchte Gmelin Böckmann in Karlsruhe auf und reiste von dort aus (vermutlich durch Vermittlung von Madame Tschiffeli) nach Straßburg weiter, um den Mesmerismus in Puységurs Harmoniegesellschaft kennenzulernen. Der von Heilungssuchenden und Interessenten überlaufene Betrieb, den er dort vorfand, enttäuschte ihn, so dass er beschloss, dort keine Ausbildung zu absolvieren. Das verhinderte nicht, dass er zu dem im deutschen Mesmerismus der Romantik einflussreichsten Magnetiseur aus der älteren Generation wurde. Nicht nur in Südwestdeutschland, auch im Norden, namentlich in Bremen, wirkte Lavater für die Etablierung des Mesmerismus.249 1786 bemühte man sich, ihn dazu zu bewegen, dort eine vakante Pfarrstelle zu übernehmen. Er lehnte ab, kam aber dem Ansuchen nach, der Hansestadt wenigstens durch einen Besuch die Ehre zu geben, wo er mit Begeisterung empfangen wurde. Er hielt sich vom 20. Juni bis zum 6. Juli in der Stadt auf. Seit der Veröffentlichung des Briefwechsels mit Marcard in der Berlinischen Monatsschrift war bekannt, dass Lavater seine Frau magnetisiert und sie in den magnetischen Somnambulismus versetzt hatte. Auch die Nachricht von der Verbesserung ihres Gesundheitszustandes hatte sich in den Anhängerkreisen Lavaters verbreitet. So nimmt es nicht wunder, dass in Erwartung seines baldigen Besuchs der Krankheitsfall der siebzehnjährigen Kaufmannstochter Sophie Catherine Albers (1768–1817) an ihn herangetragen wurde, die seit 30 Wochen an einem starken Nervenfieber mit Hustenkrämpfen, Appetit­ losigkeit und einer Reihe anderer Symptome litt.250 Man bat Lavater, er möge doch den Gebrauch des Magnetismus erklären, der seiner Frau geholfen hatte.251 Als dieser dann in Bremen weilte, sprachen die Eltern von Sophie zuerst mit ihm und dann mit ihrem Arzt Arnold Wienholt (1749–1804). Wienholt willigte ein, mit Lavater über eine etwaige Anwendung des Magnetisierens zu sprechen, zumal er und andere Bremer Ärzte in Bezug auf die Kranke mit ihrem Latein am Ende waren. Am 4. Juli 1786 besuchten die beiden Sophie an ihrem Krankenbett. Lavater sprach sich für ihre magnetische Behandlung aus und zeigte Wienholt die dabei anzuwendenden Behandlungstechniken. Am 6. Juli begann Wienholt damit Sophie nahezu jeden Tag ein bis zweimal zu magnetisieren. Die Kur zog sich bis Mitte Oktober 1787 hin und endete mit der vollständigen Wiederherstellung ihrer Gesundheit. Wienholt, der in den kommen248 Vgl. dazu Martin, Marianne/Yogev, Lydia/Walter, Henriette, Frauen in der Geschichte der Hypnose, Hypnose-ZHH 8 (1+2) (Oktober 2013), 7–42, hier 23–27. Tschiffeli war zunächst von dem oben erwähnten Berner Arzt Daniel Langhans magnetisch behandelt worden, bevor sie sich nach Straßburg begab. 249 Vgl. dazu Hannemann, Tilman, Die Bremer Magnetiseure. Ein Traum der Aufklärung, Bremen 2007. Und ders., Religiöser Wandel, 207–246. 250 Eine ausführliche Beschreibung ihrer Krankengeschichte, Symptomatik und des Therapieverlaufs gibt Wienholt, Heilkraft des Magnetismus, 1–152. 251 Siehe den Brief von Bartholomäus Grovermann an Lavater vom 23.03.1786 in: Schulz, Lavater, seine Gegner und Freunde, 144f.

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den Jahren zu einem der bedeutendsten Magnetiseure Deutschlands avancierte, führte binnen Kurzem noch zwei weitere Bremer Ärzte in das Magnetisieren ein. Sie konnten unter dem Mantel der Verschwiegenheit ihre animal-magnetischen Behandlungen einige Monate lang unbehelligt durchführen, bis Ende November 1786 aufgrund von durchsickernden Informationen das öffentliche Interesse am Mesmerismus und an den Somnambulen sprunghaft stieg und sich Gegner sowie Befürworter öffentlich zu Wort meldeten. Der Bremer Magnetismus-Streit währte zwei Jahre und entfachte eine Diskussion in ganz Deutschland. Wie nicht anders zu erwarten, ließen sich die Erzfeinde Lavaters aus der Berliner Spätaufklärung nicht lange bitten, den Konflikt mit ihrer Polemik aufzuheizen. Sie [Nicolai und Biester] ließen in ihren weitverbreiteten Publikationsorganen verlauten, Lavater habe den animalischen Magnetismus, nicht nur in Bremen propagiert und praktiziert, vielmehr sei die Verbreitung dieser neuen Heilmethode von Anfang an das erklärte Ziel seiner Reise dorthin gewesen. Lavater wurde schließlich sogar als der eigentliche Urheber der magnetischen Kuren hingestellt.252

Während dieser Zeit, zwischen 1787 und 1789, erschien in Bremen das Magnetische Magazin für Niederdeutschland, ein Pendant zu Böckmanns Archiv, sowohl was die Kürze seiner Lebensdauer anlangt wie auch hinsichtlich seiner Bedeutung als Fundgrube für die Geschichte des Mesmerismus und die Kulturgeschichte der Spätaufklärung. Im Unterschied zu Böckmanns Zeitschrift enthielt das Magnetische Magazin in der Mehrzahl Mesmerismus-kritische Arbeiten.253 Wie Anneliese Ego mittels einer Zeitschriftenanalyse nachwies, flaute die Behandlung des Mesmerismus in der deutschen Öffentlichkeit in den folgenden Jahren stark ab.254 Ein Grund dafür mag wohl darin gelegen haben, dass die deutschen Mesmeristen sich nicht wie die französischen in Harmoniegesellschaften oder ähnlichen Standesvertretungen organisierten. Auch mangelte es, nachdem sich Lavater nicht mehr weiter in dieser Richtung hervortat, an kontroversen Berühmtheiten seines Formats, die für Diskussionsstoff im Blätterwald gesorgt hätten. Das bedeutete freilich noch lange nicht das Ende der animal-magnetischen Praxis von Ärzten und Laien, denen das Einschlafen des Medienhypes den Vorteil ungestörten Arbeitens bescherte. Um Lavaters Einfluss auf den Mesmerismus des 19. Jahrhunderts abschätzen zu können, bedarf es noch mehr detaillierter Studien.

252 Weigelt, J.K. Lavater, 45. 253 Vgl. zum Magnetischen Magazin für Niederdeutschland Lüdecke, Friedrich, Lavater in Bremen, Bremisches Jahrbuch 20 (1902), 71–163, hier 99. Und Hannemann, Die Bremer Magnetiseure, 81f. 254 Ego, Anneliese, Animalischer Magnetismus oder Aufklärung. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert, Würzburg 1991, 203.

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Conclusio: Lavaters Anomalistik – ein Projekt der Spätaufklärung Ich kehre abschließend zu dem eingangs berührten Thema der aufklärerischen Wurzeln von Lavaters Anomalistik zurück. Er selbst sah sich nicht als Gegner der Aufklärung, sondern verortete sich als kritische Stimme innerhalb ihrer. Er sei zu Unrecht in ihrem Namen und unter ihrem Deckmantel bekämpft worden, wobei noch dazu unlautere Mittel eingesetzt worden wären, die dem Selbstverständnis der Aufklärung widersprächen. „Kein Cagliostro, kein Schröpfer, kein Gaßner, kein Mesmer wird mir meine Vernunft nehmen, so wenig als die, die, indem sie unaufhörlich mit Aufklärung prahlen, das A.B.C. der gemeinsten Sittlichkeit und Menschlichkeit noch nicht gelernt zu haben scheinen.“255 Lässt sich diese Selbsteinschätzung nach den hier vorgelegten Forschungsergebnissen aufrechterhalten? Ich würde sagen, ja – und zwar aus den folgenden Gründen: Die Berliner Aufklärung und ihre Zuarbeiter schreckten in ihrer mitunter paranoid anmutenden Bekämpfung Lavaters nicht vor dem Gebrauch fragwürdiger bzw. unlauterer Mittel zurück, wovon er sich in seinen Vorhaben aber nicht beirren ließ. Auch ist das Mäntelchen des wundersüchtigen Schwärmers, das ihm von dieser Seite über Jahre hinweg mit allen zur Verfügung stehenden publizistischen Mitteln umgehängt wurde, so nicht aufrechtzuerhalten. Einer anfänglichen Begeisterung, die man auch nur bei manchen der von ihm untersuchten vermeintlichen Anomalien feststellen kann, folgte meistens schon bald eine Phase der Ernüchterung. Nur in Ausnahmefällen, anlässlich des Todes seines Freundes Heß und in Bezug auf die École du Nord mit ihrer Überzeugung, der Apostel Johannes wandle noch auf Erden, zeigt sich eine Neigung zum obsessiven Wunderglauben. Schon in seinem Briefwechsel mit Semler über Gaßner und im Tagebuch seines Besuches bei dem Exorzisten und dann vor allem in der mesmeristischen Phase der 1780er Jahre gibt es bei ihm darüber hinaus eine Tendenz zur Veralltäglichung des Wunders, die den Fokus vom auffällig Wunderbaren abzieht und auf die religiöse Bedeutsamkeit alles Guten und Heilsamen hinlenkt. Wie das oben erwähnte Werk des Christian August Crusius über Schröpfers Geisterbeschwörungen belegt, war damals der Ruf nach sorgfältigen anomalistischen Feldforschungen unabhängig von Lavater laut geworden und einzelne Beiträge im Magazin für Erfahrungsseelenkunde gingen dann ebenfalls in diese Richtung. Die Zeit war reif für anomalistische Studien. Es ist auch von daher verständlich, dass Lavater sehr enttäuscht darüber war, dass seine aufgeklärten Gesprächspartner der oft wiederholten Aufforderung, die von ihm vorgebrachten Fälle doch selbst zu untersuchen, nicht nachkamen. Ihr Ausweichen vor empirischen anomalistischen Studien schalt er als Köhlerunglauben und Feigheit.256

255 Brief an Kampe vom 30.09.1785, Archiv II, 4 [Hervorh. i. O.]. 256 Vgl. Lavater, Meine jetzigen Gedanken, Archiv I, 11. Und Nachschrift zum Brief an Kampe vom 28.12.1785 (29.12.), Archiv II, 36; sowie Brief an Spalding vom 31.01.1786, 55.

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In Bezug auf den Mesmerismus ist es nachvollziehbar, dass die von Spitzenwissenschaftlern erstellten methodisch vorbildlichen französischen Gutachten in den Augen von nicht weiter am animalischen Magnetismus interessierten Ärzten und Wissenschaftlern wie Bonnet eine erneute Untersuchung als überflüssig erscheinen ließen. Die Gutachten bezogen sich zwar auf den Mesmerismus vor Puységur und die Überprüfung der anomalen Fähigkeiten von Somnambulen stand nicht auf ihrem Programm, aber man hatte nun eine repräsentative Untersuchung, auf die man sich berufen konnte, um den animalischen Magnetismus guten Gewissens ad acta zu legen. Lavaters Schwärmer-Image trug ein Übriges dazu bei, nicht auf seine Aufforderungen einzugehen. Man begnügte sich mit der Wiederholung vorgefasster Meinungen und der Berufung auf nicht wirklich ausreichende bisherige Forschungsergebnisse. Lavater blieb mit seinen einschlägigen Bemühungen alleine, was dem Niveau seiner Untersuchungen nicht zum Guten gereichte und zur Verhärtung seiner Ansichten beitrug. Im Unterschied zu seinen Kritikern tauchte er aus verschiedenen oben dargelegten Motiven mit großem Interesse ohne Kontaktscheu und ohne sich vor der absehbaren Rufschädigung zu fürchten, in eine Halbwelt des Wunderbaren ein, die zu einem Gutteil mit zweifelhaften Persönlichkeiten bevölkert war. Es wurde ihm im Zuge seiner Nachforschungen bald klar, dass er es oft mit Illusionen und Betrug zu tun hatte und nicht mit realen Vorkommnissen. In den Aufzeichnungen zu den Erscheinungen des Geistes Gablidone heißt es dazu: „Nichts wird leichter und begieriger nachgeäfft, als das, was den Namen oder den Schein von etwas Wunderbarem hat.“257 Die Verschränkung der Erhöhung der menschlichen Natur durch anomale Fähigkeiten mit ihrer Lädiertheit durch Leidenschaften und andere schlechte Eigenschaften taucht als Problem immer wieder bei ihm auf. In einem späten Brief konzediert er resignierend, dass selbst bei gläubigen und tugendhaften Menschen anomale Fähigkeiten in der Regel nicht in Reinkultur, sondern durchwegs zu einem gewissen Grad beschädigt auftreten; und sei es durch Machenschaften böser Geister.258 An prinzipieller Kritikfähigkeit und Übung der Unterscheidungsgabe hat es ihm also nicht gemangelt. Es gab aber auch Schwachpunkte in seinem Ansatz, durch die er sich angreifbar machte. Dazu gehört, dass er aufgrund seiner starken religiösen und philosophischen Vorgaben über das Prinzip wohlmeinender Unvoreingenommenheit in der Feldforschung hinausgehend, auf die Existenz von anomalen Phänomenen pochte. Er hat nie daran gezweifelt, dass Fähigkeiten in der menschlichen Natur schlummern, die weit über alles Bekannte hin-

257 Lavater, Ueber Gablidone, 255. 258 Vgl. den Brief an Jakob Sarasin vom 30.10.1800, zit. nach Langmesser, Jakob Sarasin, 119: „Danke für Pfeffels Brief und die Nachricht von Wildermett, dessen Divinationskraft sich sehr degradiert und corrumpiert zu haben scheint. – Schade, dass dieser schöne Strahl des göttlichen Ebenbildes sich so selten als nie auch in guten frommen Seelen rein bewahrt. Mir ist kein Beispiel bekannt, dass ein divinatorischer Mensch nicht betrüglicher Geister Spiel geworden sei! – Ach, wir arme Sterbliche!“

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ausgehen und nur darauf warten, erweckt und kultiviert zu werden. Er setzte sich selbst unter Druck, solche Anomalien als empirische Belege der göttlichen Natur des Menschen und der Wahrheit der biblischen Botschaft vorlegen zu müssen. In praktisch keinem der von ihm untersuchten Fälle kam er zu dem Ergebnis, dass rein gar nichts davon zu finden gewesen sei. Selbst angesichts erwiesener Betrügerei und fragwürdiger psychischer Verfassung der Wunderfrauen und -männer hält er fest: „Kein Mensch kann täuschen ohne Wahrheit. Das Wahre, wodurch der Irrer [sic!] und Täuscher täuscht, herauszufinden, das ist unser würdig, lieber Wahrheitsfreund!“259 Ob dieses eingefleischte Vorurteil mittels verbesserter Forschungsmethoden und der Stimmen kritischer Mitarbeiter auszuräumen gewesen wäre, steht dahin. Wollte man seine Anomalistik nur auf Grund dessen nicht als Projekt der Spätaufklärung durchgehen lassen, dann dürfte man allerdings auch Positionen wie die Nicolais, die dem spiegelverkehrten Vorurteil anhingen, dass sich nämlich eine nähere Untersuchung erübrige, weil deren negatives Ergebnis schon a priori feststehe, nicht als aufklärerisch bezeichnen. Auffallend ist die Bedeutung, die der Bereich der Heilkunde für die Anomalistik Lavaters hatte. Die nicht gerade überwältigende Quote an Heilungserfolgen der damaligen medizinischen Schulen und Systeme spielte sicher eine Rolle dabei, dass ein blühendes religio-therapeutisches Feld existierte, das von Gesundbetern, über den reformierten katholischen Exorzismus eines Gaßner und die Magie Cagliostros bis zum Mesmerismus mit seinen religiösen Spielarten reichte. Anomale Fähigkeiten in Gestalt von unerklärlichen Heilkräften, veränderten Bewusstseinszuständen bzw. Heilungen durch Kontakt mit der jenseitigen Welt waren ein fester Bestandteil dieser Szene, die, wie gezeigt, in unterschiedlichen soziokulturellen Milieus eine jeweils eigene Gestalt annahm. Lavater erfüllte auch in Bezug darauf ein Desiderat der Aufklärung, indem er dieses Feld nicht einfach von oben herab mit Schlagworten und Spott bedachte, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten versuchte, genauer hinzuschauen und andere Forscher, die skeptischer eingestellt waren als er, dazu motivieren wollte, es ihm gleichzutun. Die zunehmend verhärteten Fronten in diesem Disput der Spätaufklärung verhinderten jedoch eine fruchtbare Zusammenarbeit.

259 Brief an Kampe vom 3.11.1785, Archiv II, 5.

Karl-Friedrich Kemper

Katholische Aufklärung und Ökumene – Johann Michael Sailer und Johann Caspar Lavater1 1. Ökumenische Annäherung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts „Wäre es dann gar so ein großes Uebel, wenn wir einander einmal besser verstehen lerneten.“ So äußert 1786 der aufgeklärte bayerische Benediktiner Beda Mayr (1742–1794) ökumenische Hoffnung.2 Neun Jahre vorher, 1777, hatte er sich nicht ohne Selbstironie an zurückliegende Zeiten erinnert: Ich stutzte, wenn ich von einem Lutheraner etwas lateinisches hörete. Das ist viel, dachte ich, daß der auch lateinisch versteht, bis ich Gelegenheit bekam, mit den Protestanten mehr Umgang zu haben, und ihre Schriften zu lesen. Und dann schämte ich mich meiner Einfalt.3

Die Äußerung Mayrs ist ein Zeugnis der Annäherung zwischen den Konfessionen, besonders des Interesses aufgeklärter katholischer Theologen, die Schriften ihrer protestantischen Kollegen zu lesen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass etwa bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet zwei schriftsprachliche Varietäten nebeneinander in Gebrauch waren.4 Im mittleren, östlichen

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Überarbeitete und erweiterte Fassung meines Vortrags vom 27.09.2019 in Halle. Der Beitrag basiert teilweise auf: Kemper, Karl-Friedrich, Religiöse Sprache zwischen Barock und Aufklärung. Katholische und protestantische Erbauungsliteratur des 18. Jahrhunderts in ihrem theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext, (RFN 22), Nordhausen 2015, bes. 634–643, 666–705, 925–929. Mayr, Beda (anonym), Etwas an Herrn Nicolai, Buchhändlern in Berlin und seinen Recensenten in der allgemeinen Litteraturzeitung, Nro. 94, 95. für Herrn D. und Prof. Sailer in Dillingen, von keinem Exjesuiten, und von keinem Proselytenmacher, o. O. 1786, 14. Mayr, Beda, Prüfung der bejahenden Gründe welche die Gottesgelehrten anführen; über die Frage: Soll man sich in der abendländischen Kirche bey dem Gottesdienste der lateinischen Sprache bedienen? Frankfurt/Leipzig 1777, 54. Vgl. zum Folgenden u. a. Keck, Christian, Das Bildungs- und Akkulturationsprogramm des bayerischen Aufklärers Heinrich Braun. Eine rezeptionsgeschichtliche Werkanalyse als Beitrag zur Kulturgeschichte der katholischen Aufklärung in Altbayern. Mit einer Werkausgabe auf CD-ROM,

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wie auch nördlichen Deutschland, in den überwiegend protestantischen Gebieten also, hatte sich schon seit etwa 1650 die ostmitteldeutsche meißnisch-obersächsische Kanzleisprache als Schriftsprache durchgesetzt, gefördert nicht zuletzt auch durch Luthers Bibelübersetzung. In den vorwiegend katholischen Gebieten – nicht nur im Süden des deutschen Sprachraums – war dagegen die oberdeutsche Schriftsprache in Gebrauch. Das Meißnisch-Obersächsische gewann zunehmend an Einfluss und wurde schließlich zur Einheitssprache, nicht zuletzt auch deshalb, weil in den katholischen Gebieten immer mehr auch die Werke protestantischer Schriftsteller, Philosophen und Theologen gelesen und geschätzt wurden. In Bayern war in dieser Hinsicht das Wirken des Bildungs- und Sprachreformers Heinrich Braun (1732–1792) maßgebend.5 Eine Verordnung in Bayern 1765 beschleunigte die Sprachreform. Auf der Basis von Brauns Anleitung zur deutschen Sprachkunst von 1765 als Lehrmittel wurde „eine Prüfung aus der hochdeutschen Sprache für künftige Staatsdiener vorgeschrieben“.6 Die Bemühungen der Aufklärung verlangten gerade auch eine klar strukturierte und geschmeidige Sprache, wie es das noch stark am Lateinischen orientierte Oberdeutsche nicht mehr sein konnte. Aufschlussreich für das sich ändernde Klima ist eine Erinnerung von Benedikt Maria Werkmeister (1745–1823), neben anderen Funktionen ab 1784 über ein Jahrzehnt Hofprediger an der katholischen Stuttgarter Hofkapelle, an die Zeit des Studium commune der Bayerischen Benediktinerkongregation in Benediktbeuern von 1767 bis 1769: Hier fieng ich auch an, mit der deutschen schönen Literatur bekannter zu werden. Einige aus uns […] brachten aus ihren Klöstern deutsche Dichter mit, Gellerts Fabeln, Rabeners Satyren, Hallers Gedichte u. s. w. Ich selbst schaffte mir Hagedorns Werke an. Wir hatten auch Gottscheds Lehrbuch der deutschen Sprache und Beredtsamkeit.7

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München 1998, 51–57; Besch, Werner, Die Entstehung und Ausformung der neuhochdeutschen Schriftsprache/Standardsprache, in: W. Besch/A. Betten/O. Reichmann/S. Sonderegger (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Teilbd. 3, Berlin/New York 22003, 2252–2296; Reiffenstein, Ingo, „Oberdeutsch“ und „Hochdeutsch“ in Bayern im 18. Jahrhundert, in: A. Gardt/K.J. Mattheier/O. Reichmann (Hg.), Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen – Gegenstände, Methoden, Theorien. Heidelberger Symposion 11.–14.06.1992, Tübingen 1995, 307–318; Macha, Jürgen, Der konfessionelle Faktor in der deutschen Sprachgeschichte der Frühen Neuzeit, (Religion und Politik 6), Würzburg 2014; Kemper, Religöse Sprache, 384–413. Vgl. Kemper, Karl-Friedrich, Art. Braun, Heinrich, BBKL XXXII, 2011, 142–157. Vgl. Matzel, Klaus/Penzl, Herbert, Heinrich Braun (1732–1792) und die deutsche Hochsprache in Bayern, Sprachwissenschaft 7 (1982), 120–148, hier 121f. Werkmeister, Benedikt Maria, Meine Biographie, JThKR 6.3 (1830), 343–457, hier 389 (Titel im Original kursiv); vgl. Wolff, Norbert, Zwei Studenten des ehemaligen Klosters Benediktbeuern als Reformer im katholischen Württemberg. Benedikt Maria v. Werkmeister (1745–1823) und Joseph v. Mets (1758–1819), (BBHS 11), München 1998, 33f.

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Am Jesuitengymnasium in München wird Johann Michael Sailer unter anderem „auch mit Klopstocks ‚Messias‘ vertraut“ gemacht.8 Das Klima der Aufklärung schaffte Raum für eine vorurteilsfreiere gegenseitige Wahrnehmung der Konfessionen. Selbst Überlegungen hinsichtlich einer Reunion der Kirchen wurden publiziert, auch von Sailers Lehrer Benedikt Stattler (1728– 1797) und dem mit ihm befreundeten Benediktiner Beda Mayr.9 Die Freundschaft zwischen Johann Caspar Lavater und Johann Michael Sailer (1751–1832) ist ein herausragendes Beispiel für einen anderen Aspekt, nämlich gelebte Ökumene durch persönliche Kontakte. Durch sie wurde auch der theologische Austausch gefördert, oft zum Vorteil der Katholiken. Theologisch wurden solche Kontakte auch dadurch erleichtert, dass Aufklärungstheologen beider Konfessionen die Frage nach dem Wesen des christlichen Glaubens stellten, wie vorher auch schon in der Frühaufklärung sowie in pietistischen und spiritualistischen Kreisen.10 Spezifisch konfessionelle Positionen verloren so an Bedeutuung.

2. Johann Michael Sailer Über Leben und Wirken Johann Caspar Lavaters im Allgemeinen ist in einer ihm gewidmeten Publikation wohl kein Wort zu verlieren. Anders ist das vermutlich mit Johann Michael Sailer, dem wohl bedeutendsten Vertreter der katholischen Aufklärung. Er wurde 1751 im oberbayerischen Aresing in eher einfachen Verhältnissen geboren. Der Vater, Andreas Sailer, war Schuster; er hatte 1739 die Schneiderswitwe Maria Rieger, die schon zwei Kinder hatte, geheiratet. Johann Michael war das letzte von vier Kindern aus dieser Ehe. Die Eltern verlor Sailer früh, die Mutter starb 1765 und der Vater 1769.11

  8 Schwaiger, Georg, Johann Michael Sailer. Der bayerische Kirchenvater, München/Zürich 1982, 11f.   9 Anon. [Mayr, Beda,] Der erste Schritt zur künftigen Vereinigung der katholischen und evangelischen Kirche. Gewaget von – – Fast wird man es nicht glauben, gewaget von einem Mönche: P.F.K. in W., o. O. 1778 (21779). Zu den ökumenischen Bemühungen der Zeit vgl. Spehr, Christopher, Aufklärung und Ökumene. Reunionsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts, (BHTh 132), Tübingen 2005. 10 Vgl. Nüssel, Friederike, Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums, in: A. Beutel/V. Leppin (Hg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“ (AThK 14), Leipzig 2004, 15–32, hier 17ff; vgl. auch Sparn, Walter, Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: R. Vierhaus (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, 18–57, hier 50: „An die Stelle des tradierten Dogmas tritt die (scheinbar adogmatische) Konzeption eines ‚Wesens des Christentums‘.“ 11 Vgl. z. B. besonders Schwaiger, Sailer, passim, tabellarischer Lebenslauf, 210; Schiel, Hubert, Johann Michael Sailer. Leben und Briefe. Bd. 1: Leben und Persönlichkeit in Selbstzeugnissen, Gesprächen und Erinnerungen der Zeitgenossen, Regensburg 1948, passim; Hausberger, Karl/Hubensteiner, Benno, Bayerische Kirchengeschichte, München 21987, 299–305; Meier, Bertram, Johann

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Wohltätig gefördert, besuchte Sailer in München Vorschule und Gymnasium der Jesuiten. Nächste Station – von 1770 bis 1772 – war das Noviziat der Jesuiten in Landsberg am Lech. Danach studierte der junge Mann über die Aufhebung des Ordens 1773 hinaus an der Universität Ingolstadt. Dort wirkte Sailer nach Abschluss des Studiums seit 1777 zunächst als Repetitor und ab 1780 – neben seinem Lehrer Benedikt Stattler – als zweiter Professor der Dogmatik. 1781 verlor er mit den letzten ehemaligen Jesuiten sein Amt. In den nächsten Jahren verfasste Sailer sein bekanntes Vollständiges Lese- und Betbuch zum Gebrauche der Katholiken, das 1783 herauskam. Erst ab 1784 lehrte er dann bis zu seiner Entlassung 1794 als Professor für Ethik und Pastoraltheologie an der Universität Dillingen. Zunächst wieder ohne Amt, erreichte Sailer 1799 ein Ruf an die Universität Ingolstadt, die 1800 nach Landshut verlegt wurde. Er unterrichtete dort bis 1821 Pastoral und Moral wie auch Religions- und Erziehungslehre. Um 1812 bemüht sich das preußische Departement des Kultus, Sailer für eine Professur in Breslau zu gewinnen.12 Als königlicher Bischofskandidat für Augsburg wird Sailer 1819 vom Heiligen Stuhl abgelehnt; seine Katholizität wurde von Gegnern in Frage gestellt, ganz entscheidend durch ein diffamierendes Gutachten des Redemptoristen Klemens Maria Hofbauer (1751–1820).13 Preußischen Bemühungen 1818, auch durch Friedrich Karl von Savigny (1779–1861), ihn als Professor nach Bonn und dann auch als Erzbischof nach Köln zu holen, verschloss sich Sailer.14 In Aachen traf er in dieser Sache im Oktober 1818 mit dem preußischen Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750–1822) und dem Kultusminister Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770–1840) zusammen.15 Der bayerische Kronprinz Ludwig, der in Landshut Sailers Vorlesungen gehört hatte, kann schließlich in Rom durchsetzen, dass Sailer 1821 in Regensburg Domkapitular und 1822 Generalvikar, Weihbischof und Bischof-Koadjutor wird. Ab 1829 kann er noch für wenige Jahre bis zu seinem Tod 1832 als Bischof wirken.

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Michael Sailer. Theologe und Seelsorger zwischen Aufklärung und Romantik, in: P. Walter/M.H. Jung (Hg.), Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung, Darmstadt 2003, 244–261, hier 245–251; lesenswert auch Walter, Peter, Vorwort. Johann Michael Sailer (1751–1832), in: Sailer, Johann Michael, Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind, nach den Bedürfnissen unsrer Zeit, Nachdr. d. Ausg. München, Strobl 1785, mit einem Vorwort von Peter Walter, Teil 1 (Christian Wolff, Gesammelte Werke, Abt. 3, Materialien und Dokumente 136,1), Hildesheim u. a. 2012, 5–31, hier 5–14. Vgl. Brief des Geh. Staatsrats Friedrich Frhr. von Schuckmann vom 6.11.1812 an Sailer, in: Schiel, Sailer, Bd. 1, 471f, und die Antwort Sailers „An das Ministerialdepartement des Kultus und Unterrichts in Berlin“ vom 12. Dezember 1812, in: Schiel, Hubert, Johann Michael Sailer. Leben und Briefe, Bd. 2: Johann Michael Sailer, Briefe, Regensburg 1952, 385–387. Vgl. dazu: Schettler, Gerhard, Warum scheiterte die Kandidatur von Professor Johann Michael Sailer als Erzbischof von Köln in den Jahren 1816–1818? In: H. Finger/R. Haas/H.-J. Scheidgen (Hg.), Ortskirche und Weltkirche in der Geschichte. Kölnische Kirchengeschichte zwischen Mittelalter und Zweitem Vatikanum (FS N. Trippen), Köln/Weimar/Wien 2011, 145–166, hier 151f. Vgl. Schwaiger, Sailer, 106–125. Vgl. Schettler, Kandidatur, 153–155. Vgl. ebd. 161.

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Sailer beeinflusste an allen Stationen seines Wirkens Generationen von Theologen, darunter so bekannte wie Christoph von Schmid (1768–1854), den Kon­ stanzer Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860), den späteren Freiburger Erzbischof Ignaz Anton Demeter (1773–1846) und Melchior Diepenbrock (1798–1853), Sailers Sekretär in Regensburg und später Fürstbischof von Breslau und Kardinal. Zu nennen ist etwa auch der Tübinger Pastoral- und Moraltheologe Johann Baptist Hirscher (1788–1865).16 Schüler und Freund Sailers war auch Johannes Goßner (1773–1858); zunächst der katholischen Allgäuer Erweckungsbewegung zugehörig, trat er 1826 zum Protestantismus über. Er gründete die nach ihm benannte Missionsgesellschaft. Christoph von Schmid erinnert sich an den Eindruck, den Sailer bei den Vorlesungen in Dillingen gemacht hatte: „Noch immer sehe ich im Geiste sein Bild: die leuchtenden Augen und sein ehrwürdiges, von Freundlichkeit erhelltes Angesicht.“17 Sailers Spiritualität wurde schon während des Noviziats durch die ignatianischen Exerzitien sowie die mittelalterliche deutsche Mystik und die spanische des 16. Jahrhunderts geprägt.18 Seit der Ingolstädter Zeit ist Sailer die Bibel, das „Schriftforschen“, wichtig.19 Auf solche Weise war der Siebenundzwanzigjährige in gewisser Weise für die Begegnung mit Johann Caspar Lavater disponiert.

3. Die Beziehung zwischen Sailer und Lavater seit 1778 Auf seiner Reise nach Pondorf zu dem als Wunderheiler und Exorzist bekannten katholischen Priester Johann Joseph Gaßner (1727–1779) besuchte Lavater von Augsburg kommend vom 16. auf den 17. Juni 1778 die Universität Ingolstadt.20 Das nur lückenhaft erhaltene Reisetagebuch enthält dazu keine Einträge. Nur eine Notiz vom 19. Juni, nach dem Besuch Lavaters bei Gaßner auf der Weiter16 Vgl. Schwaiger, Georg, Sailers frühe Lehrtätigkeit in Ingolstadt und Dillingen, in: Ders./P. Mai (Hg.), Johann Michael Sailer und seine Zeit, (BGBR 16), Regensburg 1982, 51–96, hier 65f. 17 Schiel, Sailer, Bd. 1, 141f. 18 Vgl. Schwaiger, Sailers frühe Lehrtätigkeit, 56f. 19 Schiel, Sailer, Bd. 1, 56: „In diese Zeit fällt auch der schöne Bund, den er mit Winkelhofer geschlossen hatte, sich dem Schriftstudium mit vereinigten Kräften zu widmen.“ Sebastian Winkelhofer (1743–1806), Freund Sailers, mit dem er in Ingolstadt zeitweise zusammenwohnte. Den Ausdruck „Schriftforschen“ verwendet Sailer z. B. 1783, vgl. Seiler, Joachim, Sailers Hirtenbrief für den Augsburger Fürstbischof Clemens Wenzeslaus von Sachsen (1783), in: G. Schwaiger/P. Mai (Hg.), Johann Michael Sailer und seine Zeit, BGBR 16 (1982), 209–227, hier 224. 20 Vgl. Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebücher, Teil II: Reisetagebuch nach Süddeutschland 1778, Reisetagebuch in die Westschweiz 1785, Brieftagebuch von der Reise nach Kopenhagen 1793, hg. von H. Weigelt, Göttingen 1997, 3: Nach der Einleitung des Hg. reiste Lavater erst am 17.06. von Augsburg ab; das kann nicht stimmen. Vermutlich kam er am späteren Nachmittag des 16.06. in Ingolstadt an und reiste am 17., wohl bald nach dem Frühstück, weiter nach Straubing; vgl. ebd. 9: Vom 17. zum 18.06. Übernachtung in Straubing. Tagebuch: „Nach 5 Uhr ab. Um 7. Uhr in Pondorf.“

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reise nach München, bezieht sich indirekt auf Ingolstadt. Lavater liest „in Sailers Predigten von Erziehung und Menschenliebe“, wohl ein Geschenk Sailers beim Abschied in Ingolstadt.21 Lavater mag noch andere Gründe für den Aufenthalt in Ingolstadt gehabt haben, wenn man aber dem Dekanatsbuch der Theologischen Fakultät folgt, wollte er sich – wie vor ihm schon Professoren der Nürnbergischen Universität Altdorf – wegen eines herabsetzend kritischen Berichts Wilhelm Ludwig Wekhrlins (1739–1792) über die Universität selbst ein Urteil bilden.22 Wekhrlin hatte die Einrichtung unter anderem als „das Sanctuarium der lateinischen Barbarey“ bezeichnet.23 Ehrenvoll empfangen, konnte Lavater in Ingolstadt, wie dem Dekanatsbuch der Philosophischen Fakultät zu entnehmen ist, neben dem üblichen Programm mit Besichtigungen und Musikdarbietungen beispielsweise auch physikalischen Experimenten beiwohnen,24 wohl des Philosophen Matthias Gabler (1736–1805), der, wie damals üblich, auch Physik lehrte. Das Frühstück nahm Lavater am 17. Juni 1778 vor der Weiterreise bei dem damals bekannten Anatomen und Chirurgen Heinrich Palmaz Leveling (1742– 1798) ein. Denkbar ist, dass Lavater am Urteil des Mediziners über Gaßner interessiert war. Neben anderen Universitätsangehörigen wie Matthias Gabler war auch Johann Michael Sailer anwesend. Er erinnert sich in seinem Brief an Lavater vom 10. Oktober 1778: „Pfenninger in Ingolstadt. […] Er blieb aber so kurze Zeit bey uns, als sein Herzensfreund [Lavater], und ich verließ ihn auch in dem Hause des

21 Lavater, Reisetagbücher, 20. Gemeint ist: Sailer, Johann Michael, Predigt über die wichtigste Pflicht der Aeltern in der Erziehung ihrer Kinder, in: Zwo Predigten über die wichtigste Pflicht der Aeltern in der Erziehung ihrer Kinder. Deren jede bey der churfürstlichen gelehrten Gesellschaft zur Beförderung der geistlichen Beredsamkeit und Katechetik in München die goldne Preismedaille mit dem höchsten Portraite Seiner Churfürstlichen Durchleucht Karl Theodors [et]c. [et]c. im Jahre 1778. den 27. April erhalten hat. Mit einem Anhang, München 1778, 83–192. Ein weiterer Eintrag Lavaters (Reisetagebücher, Teil II, 20) bezieht sich auf das gleiche Buch: „Ich las noch eine ingolstädtische Predigt von der Liebe des Nächsten.“ Es handelt sich um die Predigt im Anhang, 3–63: Socher, Joseph, Von der Liebe des Nächsten. Vgl. auch Lavaters Brief an Sailer vom 1. August 1778: „Ich danke Ihnen nur mit einer Zeile für Ihr Geschenk. Ihre Predigt zeichnete sich vor den beygedruckten weit aus“, in: Schiel, Hubert, Sailer und Lavater. Mit einer Auswahl aus ihrem Briefwechsel, (VGG 1928/1), Köln 1928, 66. 22 Vgl. Stein, Claudius, Die Kunstkammern der Universität Ingolstadt. Schenkungen des Domherrn Johann Egolph von Knöringen und des Jesuiten Ferdinand Orban, (Beiträge z. Gesch. d. LudwigMaximilians-Universität München 9), München 2018, Exkurs III: Die Altdorfer Professoren und Johann Kaspar Lavater in Ingolstadt 1778, 83–88, hier 84 u. Anm. 373: Das Dekanatsbuch der Theol. Fakultät, 16.06.1778, AHG III 11/4, verweist ausdrücklich auf den Anlass von Lavaters Besuch. 23 Vgl. Wekhrlin, Wilhelm Ludwig (anonym), Anselmus Rabiosus Reise durch Oberdeutschland, Salzburg/Leipzig 1778, 44. 24 Vgl. Stein, Kunstkammern, 85, Anm. 376, Verweis auf das Dekanatsbuch der Philosophischen Fakultät der Universität Ingolstadt, 16.06.1778, UAM, O-1–61/2.

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Prof. Lenelin, wie Sie.“25 Der Name Levelings ist verschrieben.26 Auf die Besuche der Altdorfer Professoren und Lavaters folgten die damals üblichen Gegenbesuche. Ingolstädter Professoren begaben sich nach Altdorf und Matthias Gabler reiste mit seinem Schüler Sailer im Herbst des Jahres nach Zürich.27 Lavaters erste Begegnung mit dem noch weitgehend unbekannten zehn Jahre jüngeren Sailer scheint sich den Umständen nach zufällig ergeben zu haben. Lavater muss bei Sailer – wie bei vielen Zeitgenossen – einen tiefen Eindruck hinterlassen haben, wenn man seinem Brief an ihn vom 10. August 1778 folgt: Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, das ich mündlich zu sagen nicht Muth genug hatte, und schriftlich zu verschweigen zu kühn, zu fröhlich bin. Ihre Mi[e]ne, Ihr Blick, Ihr ganzes Betragen ward für meine Seele ein neuer, sanfter, aber nachdenklicher Antri[e]b, die Bahne der Tugend freudig zu laufen. ich weiß nicht, wem ich diese süße Gewalt zuschreiben soll. glaublich ist sie die Wirkung Ihres guten, menschenfreundlichen Herzens, das durch die Mi[e]ne spricht, und durch das Aug überredet. ist aber dieß nicht ein neuer, zwar leichter, aber giltiger Beweis von dem, was Lauater über Physiognomie bezeigt? – verzeihen Sie mir dieses unschuldige Geständniß; Wahrheit und Aufrichtigkeit allein haben Antheil daran.28

Nach der Zürichreise liest man Ähnliches in Sailers Brief vom 10. Oktober 1778: Was soll ich Ihnen von meiner Reise sagen? aufrichtig wie ein Kind seinem Vater, will ich alles in Ihre Seele hineinsagen. warmes Gefühl für die Religion Jesu Christi, neuen Muth zur Arbeit, unbestechliche Liebe zur Wahrheit – hab ich aus meiner Zürcherreise zurückgebracht, – hab ich Ihnen und Ihren Herzensfreunden abgelernt.29

Sailer und Lavater verband vor allem der Briefwechsel. Nach Zürich kam Sailer erst wieder 1792, dann noch 1794 und 1798. 1791 sah man sich kurz nahe Bülach bei Zürich.30 Im Mai 1793 kommt es in Donauwörth – Lavater ist auf der Reise nach Kopenhagen – zu einer eindrücklichen Begegnung, die Lavater in seinem Reise-

25 Sailers Brief an Lavater vom 10.10.1778, in: Schiel, Sailer und Lavater, 69. 26 Schiel konnte den von Sailer verschriebenen Namen „Lenelin“ – statt Leveling – nicht zuordnen; vgl. Schiel, Sailer und Lavater, 13f, Anm. 2. Vgl. auch Schiel, Sailer, Bd. 1, 11: „Sailer selbst schreibt kaum einen Namen seiner Lehrer und Freunde anders, als nach der Hörform.“ 27 Vgl. Stein, Kunstkammern, 84, Anm. 372; Sailer erwähnt in seinem Brief an Lavater vom 10.10.1778 auch den Ingolstädter Gegenbesuch in Altdorf, vgl. Schiel, Sailer und Lavater, 69: „Prof. Mederer, der indessen eine Reise nach Altdorf gemacht, erzählte uns, daß Lauater unter den Professor[e]n nicht sonderbare Freunde habe.“ 28 Schiel, Sailer und Lavater, 67. – Aus dem Briefschluss ergibt sich, dass Lavater um Beiträge für Pfenningers „Christliches Magazin“ gebeten hat. Sailer versichert (ebd.), „ihm von Zeit zu Zeit Etwas Brauchbares zu schicken. für [sic!] dießmal hab ich nur beygeschriebenen Aufsatz fertig gemacht.“ Der Text dürfte wohl anonym erschienen sein. Es wäre zu überprüfen, ob Beiträge in Pfenningers „Magazin“ von Sailer stammen könnten. 29 Brief Sailers an Lavater vom 10.10.1778, in: Schiel, Sailer und Lavater, 68. 30 Schiel, Sailer, Bd. 1, 171; eine Übersicht über Sailers Reisen bei Schiel, Sailer, Bd. 2, 611–614.

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bericht festhält.31 Die ausführlichen Notizen bezeugen exemplarisch die Intensität der Freundschaft mit Sailer. Um keine Zeit zu verlieren, fährt Lavater dem Freund abends in einer „Postchaise“ entgegen, kehrt aber um Mitternacht zurück, ohne „in der Stille der Nacht das Rauschen einer entgegenkommenden Chaise, die mir Sailern brächte, zu hören.“ „Morgens um vier Uhr“, so Lavater, „stand der liebe, gute, kindliche Sailer mit aller seiner Gott und Engeln und Menschen liebenswürdigen Herzlichkeit vor meinem Bette. – Welch ein Erwachen vor dem Angesicht eines überraschenden Freundes!“32 Sailer begleitet Lavater noch ein Stück Weges. Sailers Schwierigkeiten in Dillingen kommen zur Sprache: „Ich fragte Sailern seiner Lage und Mißlage. […] O, wie wohl war mir, neben einem Verfolgten zu sitzen, der mich mit heiterm Blick lehrte, durch Trübsal in das Reich Gottes einzugehen.“ Über vieles spricht man noch, so etwa über das Abendmahlsverständnis, auch über Kants kategorischen Imperativ und schließlich Claudius, „an den mir Sailer ein Billet mitgab“.33 Die tiefe Verbundenheit zwischen beiden zeigt sich auch beim Abschied. „Noch bat ich Sailern, mir eine Stelle in dem neuen Testament aufzustechen.“34 Auch nach Lavaters Tod 1801 kommt Sailer bis 1824 auf seinen Schweizreisen noch achtmal nach Zürich.35 Zum Besuch Ende Oktober 1808 schreibt Sailer an Auguste Eleonore Gräfin zu Stolberg-Wernigerode (1748–1821): „[D]ie vierte [Woche] bring’ ich […] halb bei Lavaters Nachlaß in Zürich zu.“36 Die Beziehung zu Lavaters Familie blieb eng, so zu seiner Frau Anna (1742– 1815), die er 1814, ein Jahr vor ihrem Tod, an ihrem Krankenbett tröstet.37 Brieflich tauschte er sich mit Lavaters Tochter Luise (1780–1854) aus.38 Zum letzten Mal war Sailer 1824 in Zürich – nun als Regensburger Weihbischof mit Gefolge – und besuchte Georg Geßner (1765–1843), Lavaters Schwiegersohn. „Beim Pfarrhaus Fraumünster hielten die Wagen an. Die geistlichen Herren wurden von Sailer […] verabschiedet; oben an der Treppe aber wartete Gessner; und die Freunde

31 Lavater, Johann Caspar, Reise nach Kopenhagen im Sommer 1793. Auszug aus dem Tagebuch, durchaus bloß für Freunde, o. O. u. J. (München 1793), 234–256; auch abgedruckt in: Schiel, Sailer, Bd. 1, 212–214. Vgl. Weigelt, Horst, Lavater und die Stillen im Lande – Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert, (AGP 25), Göttingen 1988, 140f. 32 Schiel, Sailer, Bd. 1, 212. 33 Ebd., 213. 34 Ebd., 214; vgl. Scheuchenpflug, Peter, Die Katholische Bibelbewegung im frühen 19. Jahrhundert, Würzburg 1997, 64, dort noch drei weitere Belege für diese Gepflogenheit Sailers. 35 Vgl. Schiel, Sailer, Bd. 2, 612–614: 1801, 1803, 1806, 1808, 1810, 1816, 1819, 1824; 1812 und 1814 besuchte Sailer u. a. St. Gallen, aber anscheinend nicht Zürich. 36 Brief an Auguste Eleonore Stolberg-Wernigerode vom 1.10.1808, in: Schiel, Sailer, Bd. 2, 346f, hier 347; ebd., 613: „Zürich (27.-30.10)“. 37 Vgl. Gilg, Otto, Eine ökumenische Freundschaft: Lavater – Sailer, IKZ 45 (1955), 205–228, hier 227. 38 Im Familienarchiv Lavater in Zürich (FA Lav Ms 602) befinden sich 71 Briefe Sailers an Luise Lavater, vgl. Weigelt, Lavater und die Stillen im Lande, 145 u. Anm. 26; zu Sailer und Lavater 140– 145.

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fielen einander in die Arme und hielten sich lange, Freudentränen in den Augen, umschlungen.“39 So weiß Geßners Biograph zu berichten. Luise Lavater erinnert sich nach Sailers Tod 1832: Nur wenige Menschen wirkten so tief auf mich wie der selige [Sailer]. Schon 1794 und 1798 konnte ich mich ihm beim Wiedersehen recht offen mitteilen und empfing reiche Belehrung von ihm. Besonders aber von dem Tode meines teuren Vaters an nahte sich mir der weise Christ als väterlicher Freund.40

Die Beziehung zwischen Lavater und Sailer hatte sich im Laufe der Zeit verschoben. In den frühen Jahren ihrer Beziehung, so meint Otto Gilg, „war Lavater noch der Spendende. Jedoch mit den Jahren wurde Sailer der an Gereiftheit Überragende, welcher den älteren Freund, seine Familie und einen weiten Gesinnungskreis seelsorgerlich betreute.“41 Bemerkenswert ist etwa, mit welcher Zurückhaltung und Sensibilität Sailer versucht, Lavater von seinen okkulten Bestrebungen nach Erfahrbarkeit des Transzendenten abzubringen, als dessen Gedanken um Erscheinungen des Apostels Johannes kreisten. Sailer schreibt Lavater am 15. September 1794 unter anderem: Ich kann […] [m]einen Freund Lauater brüderlich bitten, dass er sich, auch in diesem Stücke, auch in dieser so bedeutenden Sache, so ganz dem Herrn hingebe, und also durch diese Hingebung einerseits das Opfer des Hingebens vollende, und andrerseits von Fehlund Missgriff bewahret werde.42

Geßner charakterisiert rückblickend die beiden Theologen auch in ihren Unterschieden: Sailer hatte sich bei gleicher Humanität und gutmütiger Liebe, vermutlich in der Schule seines eigentümlichen Schicksals, eine ungemeine Klugheit und ein Abwägen der Worte zu eigen gemacht, dahingegen Lavater auch durch den oft gräßlichen Mißbrauch, den man von seiner Offenheit machte, es sich nie versagen konnte, das Herz immer auf der Zunge zu haben.43

39 Finsler, Diethelm Georg, Georg Geßner weiland Pfarrer am Großmünster und Antistes in Zürich. Ein Lebensbild aus der zürcherischen Kirche, Basel 1862, 187. 40 Lavater, Luise, Erinnerungen an Sailer. Hs. im Sailernachlass, in: Schiel, Sailer, Bd. 1, 335f; Luise Lavater hatte auf Melchior von Diepenbrocks Bitte hin Erinnerungen an Sailer notiert, vgl. ihr Brief an Diepenbrock vom 25.09.1832, in: Schiel, Sailer, Bd. 1, 725f. Vgl. Friemel, Franz Georg, Johann Michael Sailer und das Problem der Konfession, (Erfurter Theologische Studien 29), Leipzig 1972, 218f. 41 Gilg, Lavater – Sailer, 211. Vgl. Friemel, Konfession, 212f. 42 Schiel, Sailer und Lavater, 108–110, hier 109. 43 Geßner, Georg, Erinnerungen an Sailer, Hs. im Sailernachlass, in: Schiel, Sailer, Bd. 1, 181f, hier 182.

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Der Helmstedter Theologieprofessor Heinrich Philipp Conrad Henke (1752–1809) macht in seiner Rezension zu Sailers Lese- und Betbuch in Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek eine interessante Bemerkung. Die Bezeichnung Sailers als der „katholische Lavater“ führt Henke auf die Ähnlichkeit der Sprache zurück. Als belesener Zeitgenosse könnte er richtig beobachtet haben: „Wir dürfen das Buch nur auffallen lassen: auf allen Seiten scheint Lavater zu reden.“44 Er vermerkt aber auch einen Unterschied zum „neumodische[n] Lavaterische[n] Styl“, nämlich daß Hr. Sailer diese Sprache durch das ganze Buch gleichförmig ausgehalten hat; dahingegen L. in seinen Schriften dieser Art, nicht selten bald in die schwindlichte Höhe eines meteorischen Styls hinaufzusteigen; bald wieder tief herunter zu fallen, und recht gemeinsinnig und widrig zu sprechen pflegt.45

Was die letzte Bemerkung angeht, urteilte so wohl kein Freund Lavaters.

4. Theologische und spirituelle Gemeinsamkeiten Georg Geßner sah eine „Ähnlichkeit“ zwischen Lavater und Sailer „vorzüglich in der innigen Religiosität, der unbestechlichen Christusverehrung“. Beide habe eine Freundschaft verbunden „die – über den Konfessionsunterschied erhaben – bloß auf Christum sich gründet.“46 Sicher hat Lavater Sailer in seiner Theologie und Spiritualität stark beeinflusst, auch wenn man nicht in jeder Hinsicht von einer Abhängigkeit sprechen kann. So ist Sailer schon früh die Bedeutung der Bibel als Basis theologischer Reflexion und Frömmigkeit bewusst gewesen, aber er wurde auf jeden Fall darin von Lavater bestärkt. Maßgeblich wurde Sailer mit Sicherheit über den regen Gedankenaustausch mit dem Freund in seiner christozentrischen Frömmigkeit beeinflusst.47 Schon Anfang der 1780er, während er an seinem Leseund Betbuch arbeitet, findet Sailer zu seinem „christologisch-heilsgeschichtlichen Denken“ – auf den Punkt gebracht in der Glaubensformel „Gott in Christus – das Heil der Welt“.48 Die Programmschrift Über Zweck, Einrichtung und Gebrauch eines 44 Henke, Heinrich Philipp Conrad, Rezension zu J.M. Sailer, Vollständiges Lese- und Gebetbuch. 1785, in: Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 74, 1787, 54–76, hier 56. Erweiterte Fassung der Rezension: Ders., Ueber J. M. Sailers vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, Berlin/ Stettin 1788. 45 Henke, Rezension, 59. 46 Geßner, Georg, Erinnerungen, in: Schiel, Sailer, Bd. 1, 181f. 47 Vgl. Kantzenbach, Friedrich Wilhelm, Bischof Johann Michael Sailer, der ökumenische Gedanke und die evangelische Kirche, in: Ders., Evangelischer Geist und Glaube im neuzeitlichen Bayern, München 1980, 72–87, hier 76. 48 Vgl. Hofmeier, Johann, Gott in Christus, das Heil der Welt – die Zentralidee des Christentums im theologischen Denken Johann Michael Sailers, in: H. Bungert (Hg.), Johann Michael Sailer. Theologe, Pädagoge und Bischof zwischen Aufklärung und Romantik, Regensburg 1983, 27–43, hier

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vollkommenen Lese- und Betbuches von 1783 erlaubt Einblicke in Sailers theologisches Denken zu dieser Zeit. Mit Lavater wie mit Vertretern des Pietismus und der Neologie – wie etwa Spalding – teilt Sailer die Skepsis gegenüber dogmatischer Spekulation, vor allem, wenn es um Glaubensvermittlung geht.49 Gerade sie muss verständlich sein. Sailer spricht von „Volksdogmatik“ und „Volksmoral“.50 So sagt er – auf das Gebet bezogen: Christus in seiner Einfalt und Schöne, nicht mit Spinngeweben [der Schulspekulation] überzogen, der liebevolle Gottes- und Menschensohn durch keine Vernünfteley zerstückelt, der Weltlehrer, das Tugendbeyspiel, der Menschenerlöser, Christus der Herr sey Inhalt der Gebete.51

Im Zentrum des Glaubens steht Jesus Christus. Die Beziehung zwischen Gott und den Menschen „hat in dem Namen und der Person Jesu Christi den gemeinschaftlichen Einigungspunkt, das commune medium. Jesus Christus ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen. Durch ihn offenbart sich Gott den Menschen als Vater; durch ihn werden wir Kinder Gottes.“52 Daraus folgt die moralische Konsequenz: Es geht darum, „zu denken, zu wünschen, zu leiden, zu lieben, zu handeln, wie Jesus Christus gedacht, gewünscht, gelitten, geliebt, gehandelt hat.“53 Im Mittelpunkt der sailerschen Theologie stehen die „Grundwahrheiten“54 des christlichen Glaubens, fokussiert auf „[d]ie neutestamentischen Begriffe von Gott,

49

50 51 52 53 54

30f, 36; Hofmeier, Johann, Identität und Aktualität des Glaubens. Der Ertrag 50-jähriger Sailerforschung, ThRv 79 (1983), 89–98, hier 96. Spalding z. B. hält nichts von „Kunstwörtern in einem Vortrage oder Unterrichte für einen vermischten Haufen“; das laufe „auf sehr leere und unfruchtbare Speculationen“ hinaus. Für solche Hörer „ist das Reden, z. B. von dreyen Personen in einem göttlichen Wesen, von zweyen Naturen, die zu einer Person vereiniget sind, […] schlechterdings vergeblich.“ Vgl. Spalding, Johann Joachim, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772; 21773; 31791), T. Jersak (Hg.), (Kritische Ausgabe 1/3), Tübingen 2002, 146f. Vgl. auch Bollacher, Martin, Wilhelm Abraham Teller. Ein Aufklärer der Theologie, in: H.E. Bödeker/U. Herrmann (Hg.), Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, (VMPIG 85), Göttingen 1987, 39–52, hier 48; Kantzenbach, Friedrich Wilhelm, Protestantisches Christentum im Zeitalter der Aufklärung, Gütersloh 1965, 191; Nottmeier, Christian, Aufgeklärter Protestantismus. Friedrich Nicolai, die Neologie und das theologische Profil der Allgemeinen deutschen Bibliothek, in: R. Falk/A. Košenina (Hg.), Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung, Hannover 2008, 227–249, hier 230; Barth, Ulrich, Mündige Religion – Selbstdenkendes Christentum. Deismus und Neologie in wissenssoziologischer Perspektive, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 201–224. Sailer, Johann Michael, Ueber Zweck, Einrichtung und Gebrauch eines vollkommenen Lese- und Betbuches, sammt der skeletischen Anzeige eines vollständigen Lese- und Betbuches, das bereits unter der Presse ist, München 1783, 38. Sailer, Zweck, 35f. Ebd., 32. Ebd., 44. Ebd., 34 u. öfter; auch: Sailer, Johann Michael, Vorlesungen aus der Pastoraltheologie. Bd. 2, München 1788, 8–11.

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Christus, Tugend, Seligkeit“.55 Damit hängt zusammen, dass Sailer – wie auch Lavater – die Geschichtlichkeit der Offenbarung betont. Daraus ergibt sich, dass Glaubenswahrheiten „auf Geschichte, Thatsachen angebauet […] durch Geschichte und Thatsachen erläutert, erwiesen, versiegelt werden“56 müssten. Man merkt den Einfluss Herders und Hamanns, mit deren Schriften Sailer schon früh – vielleicht durch Hinweise Lavaters – in Berührung gekommen war. „Wie Hamann betont auch Sailer die Einheit zwischen Gott und Welt, göttlicher und menschlicher Wahrheit, Offenbarung und Vernunft.“57 Schon 1781 versteht Sailer in seiner frühen Schrift Theorie des weisen Spotts die Offenbarung als Voraussetzung für eine die Vernunft überschreitende Gotteserkenntnis. Auch eine mögliche Erkenntnis Gottes aus der Betrachtung der Natur sei ohne Beweiskraft, sie „setze den Glauben an Gott voraus“58. Sailer setzt sich von rationalistischen Positionen ab; für ihn ist der personale Glauben vorrangig, der aber einer Begründung durch die Vernunft gegenüber nicht nur offen ist, sondern ihrer bedarf.59 Mit der christozentrischen Theologie Lavaters und Sailers hängt folgerichtig das Kirchenbild einer überkonfessionellen Geistkirche zusammen. Lavater kann etwa sagen: Ich glaube eine heilige, allgemeine, christliche Kirche, die da ist eine Gemeinschaft der Heiligen – Diese Kirche, als Kirche, seh’ ich nicht; Ich glaube sie – Diese Kirche ist unsichtbar, der Kern der sichtbaren Kirche – Ein verborgener Schatz im Acker der äusserlichen Kirchenform.60

Lavater präzisiert: Keine äusserlich sogenannte Kirche, weder die Katholische, noch Luthersche, noch Refor­ mirte, als solche, ist die Rechte – Sondern die Rechte ist das Aggregat aller von Christus allein beseelten Menschen. Wer Christus lieb hat, und Ihn von Herzen seinen Herrn nennt, und sich durch seine Lehre bestimmen lässt, ist ein Christ und ein Heiliger, er heisse Jesuit oder Akatholikus – Vernunftheld oder Schwärmer.61

Der Schluss eines Briefes Lavaters an Sailer setzt das gemeinsame Kirchenverständnis voraus: „Gott […] stärke Dich und mich – Ausbreiter der wahren, ural-

55 Sailer, Zweck, 46. 56 Ebd., 38f. 57 Feiereis, Konrad, Die Religionsphilosophie Sailers, in: G. Schwaiger/P. Mai (Hg.), Johann Michael Sailer und seine Zeit, (BGBR 16), Regensburg 1982, 229–255, hier 245. 58 Vgl. ebd., 234. 59 Vgl. ebd., 237. 60 Lavater, Johann Caspar, Rechenschaft an seine Freunde. Zweytes Blat [!]. Ueber Jesuitismus und Catholizismus an Herrn Professor Meiners in Göttingen, Winterthur 1786, 68; vgl. auch Schiel, Sailer und Lavater, 60. 61 Lavater, Rechenschaft, 70.

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ten, altkatholischen, petrinischen Christusreligion zu seyn.“62 Brieflich entwickelt Sailer einen ähnlichen Gedanken in einem Brief vom 15. November 1798 an den Württemberger lutherischen Pfarrer Christian Adam Dann (1758–1837). Alle wahren Christen, die in den verschiedenen Bekenntnissen verstreut seien, bildeten den einen Leib Christi. Diese Christen – Sailer nennt sie „Sachchristen“ – bilden in Abgrenzung von den „Namenschristen“ die von Christus gestiftete Kirche. Deßhalb stiftete Jesus eine Kirche, die nichts seyn sollte als der Eine Leib, beseelet von den Einflüssen seiner Kraft. Wie […] alle Glieder gliederlich einander helfen und in Harmonie mit dem Haupte arbeiten: so sollten alle wahren Christen in Eintracht und Harmonie mit dem Haupte arbeiten.63

Eine deutliche Übereinstimmung zwischen beiden Theologen zeigt sich auch in ihrem Gebetsverständnis. Gegen eine katholische Frömmigkeitstradition, die Gebete und andere fromme Übungen oft genug als Gott gegenüber zu erbringende Leistung verstand, betont Sailer: „Gott bedarf unsrer Anbetung nicht, Er wird durch unsre Anbetung nicht reicher, und durch unsre Lästerung nicht ärmer; wir, wir müssen durch die Anbetung Gottes glückselig werden.“64 Sailer formuliert deutlich anthropozentrisch. Es geht dann um die Wirkungen des Gebets für den Menschen: die positive Beeinflussung seines Denkens, seines Gefühls und seiner Gesinnung bis hin zu seinem ethischen Verhalten. Sailer sieht eine Analogie zu Jesu Ausspruch über den Sabbat (vgl. Mk 2,27): „Der Mensch ist nicht wegen des Betens, sondern das Beten des Menschen wegen da. […] alles Beten kann und soll Mittel zur Besserung, Beruhigung, Befriedigung, Beseligung der Menschen seyn.“65 Entsprechend muss ein Gebet auf Individualität und Lebenssituation abgestimmt sein. Lavater skizziert unter fünfundzwanzig Kategorien eine umfangreiche Sammlung von „wünschbaren Liedern“, deren Themen alle Stände und alle nur vorstellbaren Lebensumstände berücksichtigen müssten.66 Lavater geht so weit, etwa Passagen eines Liedes einzuklammern; die Fußnote vermerkt dazu: „Die jenigen Stellen, welche in ( ) eingeschlossen sind, schicken sich nicht für alle. Sie müssen erst gelesen werden, eh sie gebethet werden können.“67 Sailer

62 Lavater an Sailer, 16.09.1786, in: Schiel, Sailer und Lavater, 87. – In dem Brief mahnt Lavater Sailer zur Vorsicht bei der Auseinandersetzung mit Nicolai. 63 Brief Sailers an Dann vom 15.11.1798, in: Schiel, Hubert, Geeint in Christo. Bischof Sailer und Christian Adam Dann, ein Erwecker christlichen Lebens in Württemberg. Mit den Briefen Sailers, Beigaben aus dem Briefwechsel zwischen Lavater und Dann und zwei Bildnissen, Schwäbisch Gmünd 1928, 46f; vgl. Blanke, Fritz, Bischof Sailer und Johann Caspar Lavater. Ein Ausschnitt aus der Geschichte des ökumenischen Gedankens, Zwingliana 9 (1952), 431–443, hier 433. 64 Sailer, Johann Michael, Vollständiges Lese- und Betbuch zum Gebrauche der Katholiken. 2 Bde., München/Ingolstadt 1783, I, 73. 65 Sailer, Zweck, 20. 66 Vgl. Lavater, Johann Caspar, Zweytes Funfzig [!] christlicher Lieder, Zürich 1776, Vorbericht, III– XX, hier V–XX. 67 Lavater, Johann Caspar, Hundert christliche Lieder, Zürich 1776, 32.

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stellt bei vielen Gebetsvorlagen fest: „Entweder paßt das Formular auf den besonderen Zustand des Betenden, oder es stimmt nicht damit überein. Ist das letztere, warum betest du, wenn das, was du sagst, nicht für dich gehört?“ Daraus folgt für Sailer als Konsequenz: „Das Gebet ist nur dann ein gesegnetes Hülfsmittel zum Wachsthum im Guten, wenn es mit den besondern Umständen des Beters die genaueste Uebereinstimmung hat.“68 Es gehört zu den Topoi der Gebetstheologie im späten 18. Jahrhundert, mit den Worten Jesu das plappernde Beten nach Mt 6,7 zu verurteilen und das Beten im Geist und in der Wahrheit nach Joh 4,24 zu fordern. Die ideale Gestalt des Gebetes ist das frei formulierte. Sailers Stichwort für die innere Ausrichtung der Seele auf Gott ist „Gottselige Innigkeit“.69 In sein Gebetsverständnis dürften auch pietistische Vorstellungen mit eingeflossen sein, wenn er festhält, der Sinn des Gebetes erfülle sich nicht durch bloßes Aussprechen oder alleinige Beschäftigung des Verstandes mit Gott. Er fordert: „Das Herz, das Herz muß sich mit Gott unterhalten […] Gebet ist ein Gespräch des Herzens mit unserem Vater im Himmel.“70 Alle Lebensvollzüge wie „Reden und Schweigen“ oder „Thun und Leiden“ können „eine ewige Anbetung“ des Namens Gottes sein.71 Ähnlich kann Lavater über die Beziehung der Seele zu Gott sagen: „Ihr Leben in Liebe ist eine stille, unmerkliche Unterhaltung mit Gott.“72 Nicht zuletzt die bibelbezogene gefühlsgesättigte Sprache gerade auch der erbaulichen Schriften Lavaters dürften Sailer besonders angesprochen haben. In diesem Bereich hatte er negative Erfahrungen sammeln können, als er 1781 – noch in Ingolstadt – als jüngster Professor der theologischen Fakultät aufgrund eines Befehls des Kurfürsten Karl Theodor (1724–1799) die Aufgabe übernehmen musste, die vorhandene Gebets- und Andachtsliteratur für die nun notwendige Approbation zu überprüfen. Was er vorfand, fasst Sailer 1787 zusammen: In den meisten Betbüchern fand ich soviel Unrichtiges, Tändelndes, Fabelhaftes, Mechanisches, und dem Geiste der wahren Andacht conträres Zeug, daß mich des katholischen Volkes jammerte, und ich auf der Stelle den Entschluß faßte, ein nützliches Erbauungsbuch für das Volk auszuarbeiten.73

68 Sailer, Zweck, 14. 69 „Gottselig“ ist eine Prägung aus Luthers Bibelübersetzung, z. B. 1 Tim 3,16 für καὶ ὁμολογουμένως μέγα ἐστὶν τὸ τῆς εὐσεβείας μυστήριον: Vnd kündlich gros ist das gottselige geheimnis. 70 Sailer, Lese- und Betbuch, I, 18, in dem Gebet „Entschließung, Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten.“ 71 Sailer, Lese- und Betbuch, I, 73. 72 Lavater, Johann Caspar, Sammlung Christlicher Gebether, Neue Auflage, Nürnberg 1822 (11800), IXf. Der Ausdruck „Unterhaltung mit Gott“ findet sich auch bei Sailer, Lese- und Betbuch, I, 21. 73 Sailer, Johann Michael, Das einzige Märchen in seiner Art: Eine Denkschrift an Freunde der Wahrheit für das Jahr 1786. Gegen eine sonderbare Anklage des Herrn Fried. Nikolai, München 1787, 12; vgl. zur Entstehung von Sailers Gebetbuch auch Schiel, Sailer, Bd. 1, 67f; Gajek. Bernhard, Dichtung und Religion. J.M. Sailer und die Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in:

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Was der junge Professor in die Hände bekam, waren nicht zuletzt Werke des Kapuziners Martin von Cochem (1634–1712), in denen Sailer auf werk- bzw. leistungsbezogene Gebetsvorstellungen und eine überzogene und missverständliche Heiligenverehrung gestoßen war.74 Sailer war so für eine zeitgemäße authentische Spiritualität sensibilisiert. In Zeilen an Lavater vom 29. Juni 1782 spiegelt sich einerseits Sailers negative Erfahrung mit traditioneller katholischer Erbauungsliteratur, andererseits teilt sich dem Leser seine Begeisterung über Texte Lavaters mit, wenn er schreibt: Ach wie oft hab ich schon den Vater im Himmel dankbar gepriesen, daß von der Kirche in Zürich so viele Christusschriften ausgehen, die sind das Salz der Welt – da das Publikum sonst von allen Seiten her mit romanhaften Empfindeleyen und Bibelwässerungen und Christus- und Teufelsverbannungen so erbärmlich heimgesucht, und dadurch zur Fäulnis befördert wird.75

Sailer setzt einiges daran, Lavaters Gedankengut auch in seinem Umfeld bekannt zu machen. So berichtet er Lavater am 16. September 1782, „daß ich durch Ihre Schriften täglich mehrere Seelen, auch betagte Männer und auffliegende Jünglinge dem Bibelstudium gewinne […] und bei Vielen dadurch Christus-glauben und Christus-liebe gewecket sehe.“76 Unterwegs und unter Freunden pflege er in einem Buch Lavaters zu lesen. Wenn er darauf angesprochen werde, verleihe er sein Buch und bestelle dem Gesprächspartner ein neues. „So wirkt“, fährt er fort, „nach und nach der Sauerteig […]. Das sag ich Ihnen mit christlicher Offenheit und sag es nur Ihrem Herzen, weil ich mit unglaublicher Verschlossenheit wirken muß.“77 Werke Lavaters offen zu empfehlen, hätte Sailers katholischen Gegnern Material in die Hände gespielt, nicht zuletzt den Augsburger Exjesuiten um Aloys Merz (1727–1792).78

74 75 76 77 78

H. Bungert (Hg.), Johann Michael Sailer. Theologe, Pädagoge und Bischof zwischen Aufklärung und Romantik, Regensburg 1983, 59–85, hier 66f; Baumgartner, Konrad, Die Seelsorge im Bistum Passau zwischen barocker Tradition, Aufklärung und Restauration, St. Ottilien 1975, 465f. Vgl. Kemper, Karl-Friedrich, Martin von Cochem (1634–1712): Spätmittelalterliche Frömmigkeit in barockem Gewand. Mit einem Blick auf die Kritik der katholischen Aufklärung, WiWei 81 (2018), 205–220. Brief Sailers an Lavater vom 29.06.1782, in: Schiel, Sailer und Lavater, 70f, hier 71. Brief Sailers an Lavater vom 16.09.1782, in: Schiel, Sailer und Lavater, 72f, hier 72. Schreibweise „Christus-glauben“ und „Christus-liebe“ im Original. Ebd., 72f. Vgl. Spehr, Christopher, Gegen Protestantismus, Aufklärung und Toleranz. Die Kontroverspredigten des Augsburger Dompredigers Aloys Merz, in: A. Beutel/V. Leppin/U. Sträter (Hg.), Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit, Leipzig 2006, 237–250.

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5. Lavater erleichtert Sailer den Zugang zu Protestanten und ihrer Theologie Sailer gehört wohl neben Lavater auch zu den Genies der Freundschaft und Kommunikation Ende des 18. Jahrhunderts und den Meistern des Briefeschreibens. Die Freundschaft mit Lavater war für Sailer ein wichtiger Schlüssel für etliche seiner Beziehungen zu Protestanten. Im direkten Umfeld Lavaters und seiner Familie waren dies neben anderen Johann Konrad Pfenninger (1747–1792), Johann Jakob Heß (1741–1828) oder Johann Georg Müller (1759–1819) aus Schaffhausen. Über Lavater wurde auch die Verbindung zu Christian Adam Dann (1758–1837) und vielleicht auch Matthias Claudius (1740–1815) angeregt.79 Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) begann die Korrespondenz mit Sailer, der Schriften von ihm schon kannte. Aber Lavater ist nicht fern, wie man der Antwort Sailers vom 8. August 1785 entnehmen kann: „Der Zug zu Ihnen, den meine Seele längst empfand, ward dadurch noch mehr gestärkt, als ich in Ihren Schriften Spuren fand, daß Sie Lavaters Freund sind, dem wissentlich keiner Feind sein kann, der Christus lieb hat.“80 Nach Lavaters Tod entstand eine freundschaftliche Beziehung Sailers zu Anna Schlatter-Bernet (1773–1826) und ihrem Kreis, zu dem auch Lavaters Tochter Nette gehörte. Sailer hielt sich öfter in St. Gallen auf.81 Die tiefe Freundschaft zu Auguste Eleonore Gräfin zu Stolberg-Wernigerode und ihrer Familie kam über Sailers Lese- und Betbuch zustande. Auch Lavater und Jung-Stilling, Pfenninger, Herder und Christian Garve (1742–1798) verkehrten in Wernigerode.82 Lavater öffnete nicht nur Sailer Verbindungen zu Protestanten, umgekehrt wechselte der Zürcher Briefe mit Persönlichkeiten aus Sailers Umfeld, wie etwa mit Johann Baptist von Ruoesch (1744–1832), dem Regierungspräsidenten des Fürstentums Oettingen, und Mitgliedern der Katholischen Allgäuer Erweckungsbewegung.83 Lavater und Sailer waren so die zentralen Persönlichkeiten in einem überkonfessionellen Kreis freundschaftlicher Beziehungen mit Besuchen und intensivem Briefwechsel. Wichtig war Lavater für Sailer aber auch für die Vermittlung von Literatur. Aus dem schon erwähnten Brief Sailers vom 16. September 1782 wird ersichtlich, wie sehr er auf die Verbindung nach Zürich angewiesen war: „Denken Sie, wie unaussprechlich schlecht unter uns der Buchhandel ist. Was ich nicht für mich und meine Freunde von Zürich aus beschreibe, bleibt fast, fast in Bayern unbeschrieben.“84 Auch die Schriften Georg Joachim Zollikofers (1730–1788) und Johann

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Vgl. Blanke, Bischof Sailer, 432. Brief Sailers an Jung-Stilling vom 8.08.1785, in: Schiel, Sailer, Bd. 2, 25f, hier 26. 1806, 1808, 1810, 1812, 1814, vgl. Schiel, Sailer, Bd. 2, 613. Baumgartner, Konrad, Johann Michael Sailer (1751–1832) und die Gräfliche Familie zu StolbergWernigerode – eine geistliche Freundschaft, BGBR 43 (2009), 185–205, hier 191. 83 Vgl. Weigelt, Lavater und die Stillen im Lande, 146–160. 84 Schiel, Sailer und Lavater, 72.

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Joachim Spaldings (1714–1804) dürfte Sailer über Lavater kennengelernt haben. In seiner Pastoraltheologie von 1788 geht er etwa auf „eine meisterhafte Predigt von Spalding“ ein.85 Zollikofers Predigten über die Würde des Menschen benutzt Sailer ausgiebig in der Glückseligkeitslehre (I, 1787).86 Pfenningers Schrift Von der Popularität im Predigen aus dem Jahr 1777 erwähnt er noch 1809.87 Der Landshuter Philosophieprofessor Jakob Salat (1766–1851), 1786 bis 1790 in Dillingen Schüler Sailers, erinnert sich an die Wirkung seiner Vorlesungen: „Und als mir nun, vornehmlich durch Sailer, nicht nur Lavater, Claudius und Heß, sondern auch Lessing, Jacobi, Mendelsohn [sic], Kant, Herder, Garve, Feder, Zollikofer, Jerusalem, Spalding u. A. bekannt wurden: welch ein Licht ging dem jungen Mann jetzt auf!“88 Seit 1784 hatte Sailer in Dillingen mit großem Erfolg unterrichtet. 1793 gab es Intrigen gegen ihn, teils aus dem Umfeld der Universität, teils durch Augsburger Exjesuiten; vor allem die Verwendung protestantischer Literatur, darunter Lavaters, warf man ihm vor. Deswegen musste sich Sailer gegenüber einer Untersuchungskommission rechtfertigen.89 Selbst die Bücher von Studenten wurden durchsucht; da fand man Schriften unter anderem von Zollikofer, Heß, Pfenninger und ­Matthias Claudius.90 Der Augsburger Fürstbischof Clemens Wenzeslaus von Sachsen (1739–1812) setzte mit Regulativ vom 16. September 1793 dem fortschrittlichen Unterrichtsbetrieb in Dillingen ein Ende. Da wurde nicht nur der Gebrauch protestantischer Werke verboten, sondern die scholastische Methode samt Latein als Vorlesungssprache wieder eingeführt. Sailer wurde schließlich 1794 entlassen. Nach den Erinnerungen von Jakob Salat hatte Sailer um 1788/89 die „Helden der Aufklärung und der Philosophie“ seltener genannt, dagegen „immer mehr […]

85 Sailer, Pastoraltheologie, Bd. 2, 145–160. 86 Vgl. Kemper, Karl-Friedrich, Georg Joachim Zollikofers „Predigten über die Würde des Menschen“ (1784) – eine Quelle von Johann Michael Sailers Glückseligkeitslehre (I, 1787), BGBR 53 (2019), 77–94. 87 Sailer, Johann Michael, Neue Beyträge zur Bildung des Geistlichen, Bd. 1, München 1809, 3. Gemeint ist: Pfenninger, Johann Konrad, Von der Popularität im Predigen. Der ascetischen Gesellschaft vorgelesen von ihrem Mitgliede Konrad Pfenninger, Diakon an der Waisenkirche, Erstes und Zweytes Bändchen, Zürich und Winterthur 1777. Das Buch war noch in Sailers Nachlass, vgl. Scheuchenpflug, Peter (Hg.), Die Privatbibliothek Johann Michael Sailers. Nachdruck des Verzeichnisses von Büchern aus Sailers Nachlass (Sulzbach/Oberpfalz 1833), Frankfurt 2006, 144. 88 Salat, Jakob, Denkwürdigkeiten, betreffend den Gang der Wissenschaft und Aufklärung im südlichen Deutschland, veranlaßt durch J.M. Sailers Denkschrift auf P.B. Zimmer, Landshut 1823, 230. 89 Vgl. Schiel, Sailer, Bd. 1, 209f; Bezug: Stölzle, Remigius, Johann Michael Sailer, seine Maßregelung an der Akademie zu Dillingen und seine Berufung nach Ingolstadt. Ein Beitrag zur Gelehrtengeschichte aus dem Zeitalter der Aufklärung. Aktenmäßig dargestellt, Kempten/München 1910, 58f. 90 Ein entsprechender Bericht Joseph Wegners, des Präfekten der Alumnen, in: Schiel, Sailer, Bd. 1, 205f; vgl. 201 eine ähnliche Bemerkung von Joseph Ignaz Lumper, Regens des Konvikts.

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die Namen Lavater, Claudius, Fenelon.“91 Sailer habe nun „die Schriften früherer, ausgezeichneter Mystiker“ gesammelt.92 Nach Sailers Tod 1832 erschien ein „Verzeichniß von Büchern aus dem Nachlasse“ mit fast 2200 Nummern als Grundlage für deren Verkauf. Sailer hat häufig Bücher verliehen oder verschenkt; seine Bibliothek war wohl ursprünglich umfangreicher, als das Verzeichnis erkennen lässt.93 Man wundert sich nicht, dort die Philosophen, mit denen sich Sailer in seinen Schriften auseinandergesetzt hatte, zu finden, so Kant, Jacobi, Schelling, Fichte und Mendelssohn; aber auch Herder, Hamann und Lessing sind vertreten. Johann Joachim Spalding, Johann Salomo Semler, Wilhelm Abraham Teller und Georg Joachim Zollikofer repräsentieren Theologen der Neologie. Spirituelle Literatur ist sehr umfangreich dokumentiert. Sailers schon früher vorhandenes Interesse in diesem Bereich wurde durch seine Freundschaft mit Lavater wohl nicht unerheblich verstärkt und gefördert. Mit mittelalterlicher Mystik hat Sailer sich beschäftigt, auch mit englischen, französischen und niederländischen Autoren, am intensivsten aber mit zahlreichen Werken protestantischer, nicht zuletzt pietistischer Provenienz. Autor mit den meisten Titeln in Sailers Bibliothek – nämlich 40 – ist Lavater. Aus seinem Umfeld sind Johann Jakob Heß mit 29, Johann Konrad Pfenninger und Georg Geßner mit je 11 und Johann Georg Müller mit 4 Titeln zu erwähnen. Sailer besaß neben anderen Titeln die achtbändige Werkausgabe von Matthias Claudius. Mit mehreren Titeln sind von katholischer Seite Thomas von Kempen, Franz von Sales, François Fénelon und Jeanne-Marie Guyon zu nennen, von protestantischer Seite Luther und Zwingli, dann etwa Valentin Weigel, Jakob Böhme, Johann Arndt, Philipp Jakob Spener, Gottfried Arnold, Johann Albrecht Bengel, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, Pierre Poiret94 und Antoinette Bourignon, August Hermann Francke und August Hermann Niemeyer sowie Johann Friedrich Kleuker. Nicht zu vergessen sind Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Friedrich Christoph Oetinger. Zinzendorf ist von Sailer offenbar sehr geschätzt worden, wenn er etwa an Auguste Eleonore Gräfin Stolberg-Wernigerode schreibt, er halte ihn für den „originellsten aller Christen“.95 Noch 1809 bittet Sailer Christian Adam Dann um Unterstützung, er „wünsche Oetingers Schriften alle zu besitzen.“96

91 Salat, Jakob, Versuche über Supernaturalismus und Mysticismus. Auch ein Beytrag zur Kulturgeschichte der höhern Wissenschaft in Deutschland. Mit historisch-psychologischen Aufschlüssen über die vielbesprochene Mystik in Bayern und Oberösterreich, Sulzbach 1823, 402. 92 Salat, Supernaturalismus, 403; vgl. Seigfried, Adam, Jakob Salat und Johann Michael Sailer – ein tragisches Verhältnis, in: K. Baumgartner/P. Scheuchenpflug (Hg.), Von Aresing bis Regensburg (FS zum 250. Geburtstag von Johann Michael Sailer am 17. November 2001), BGBR 35 (2001), 80–113, hier 83. 93 Vgl. Scheuchenpflug, Privatbibliothek, 43f; für die im Folgenden genannten Namen vgl. das Register. 94 Von Pierre Poiret enthält der Nachlass Sailers noch 23 Titel, u. a.: Bibliotheca Mysticorum ­Selecta, Amsterdam 1708; vgl. Scheuchenpflug, Privatbibliothek, 146 u. Register. 95 Brief vom 24.10.1798, in: Schiel, Sailer, Bd. 2, 172–175, hier 173; vgl. Scheuchenpflug, Privat­ bibliothek, 37. 96 Brief Sailers an Dann vom 6.03.1809, in: Schiel, Sailer, Bd. 2, 347.

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6. Lavater und Sailers Lese- und Betbuch von 1783 Die Bemerkung Sailers im Lese- und Betbuch, „Darum, wo ich recht was Gutes für euer Herz fand, da sammelte ichs“97, kommentiert der Rezensent Henke mit der Frage: „besonders doch wohl aus Protestantischen, am meisten Lavaterischen Erbauungs- und Predigtbüchern?“98 Henke hatte bei Sailer einige Verse aus Lavaters heftig kritisierten Empfindungen eines Protestanten in einer katholischen Kirche entdeckt.99 Man findet aber noch mehr. Ungefähr 60 % der Textstellen, an denen Sailer geistliche Verse in sein Gebetbuch einrückt, lassen sich solchen Lavaters zuordnen – etwa 43 von 72 Seiten.100 Sailer übernimmt geistliche Lieder Lavaters oder Teile davon teils wörtlich, teils formuliert er um oder bildet gar aus zwei Strophen Lavaters eine neue, wie das folgende Beispiel zeigt. Es handelt sich um zwei Strophen aus dem Lied Dein Name werde geheiligt aus der Sammlung Sechszig Lieder nach dem Zürcherischen Catechismus, Zürich 1780. Lavater, Sechszig Lieder, 1780, 82f (Lied XLV, 2. und 3. Strophe)

Sailer, Lese- und Betbuch, 1783, I, 91 (Kombination der zwei Strophen)

Dein Name sey zu jeder Stund, O Gott! Von uns erhoben! Warm sey das Herz, und schnell der Mund, Dich, Vater! hoch zu loben! Dich Allmacht! Weisheit dich! Dich Huld! Dich Hülfe! Langmuth! Dich Geduld: Dich unerreichbar Hoher!

Dein Name sey zu jeder Stund O Gott, von uns erhoben. Warm sey das Herz, und schnell der Mund, Dich, Vater, hoch zu loben!

[…] Dich lieben – Gott, es füllt die Brust Mit einem Wollust-Meere! O kennten, priesen, liebten dich Die Menschen all’! O freute sich O Vater, alles deiner!

[Fortsetzung der Sailer-Strophe] O kennten, priesen, liebten Dich Die Menschen all! O freute sich O Vater, alles Deiner!

  97 Vgl. bei Sailer, Lese- und Betbuch, I, Vorrede, [I].   98 Henke, Rezension, 56.   99 Vgl. ebd., 72; und Sailer, Lese- und Betbuch, II, 454; Text auch: Kemper, Religiöse Sprache, 669f, Anm. Zur Kritik an Lavater vgl. Weigelt, Lavater und die Stillen im Lande, 160 u. Anm. 31; vgl. z. B. noch Weber, Carl Julius, Die Möncherei oder geschichtliche Darstellung der Klosterwelt und ihres Geistes, Bd. 4 (Sämmtliche Werke 11), Stuttgart 21836, 364: „Hans Caspar [Lavater] schwärmte für den gröbsten Katholicismus, wie sein berühmtes Lied: Empfindungen eines Protestanten in einer katholischen Kirche (Einsiedlen) beweist, das man ganz lesen muß.“ 100 Vgl. im Einzelnen Kemper, Religiöse Sprache, 670–680.

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Es ist zu erkennen, dass Sailer eine gedankliche Konzentration erreicht, indem er eher pleonastische Stellen und stark gefühlsbetonte Ausdrücke wie „WollustMeere“ weglässt. Die Verwendung von Lavaters Liedern durch Sailer wird in ihrem Briefwechsel nicht erwähnt, dagegen tauschte man sich wegen der Kupferstiche in Sailers Werk zwischen Juni 1782 und Dezember 1783 intensiv aus. Lavater war dem Wunsch Sailers freundlich entgegengekommen, ihm bei der Beschaffung der Kupferstiche für sein Lese- und Betbuch behilflich zu sein. Für einen solchen Wunsch war der Zürcher die beste Adresse, besaß er doch durch die Arbeit an seinen Physiognomischen Fragmenten hervorragende Kenntnisse über Buchkupfer und verfügte auch über Beziehungen zu Zeichnern und Kupferstechern, nicht zuletzt zu Daniel Chodowiecki (1726–1801). Auf dessen Stiche legte Sailer besonderen Wert. Der berühmte Name, so Sailer am 7. März 1783 an Lavater, erhöhe die Chance, eine Unterstützung seitens der „Hochlöblichen Landschaft“ in München zu erhalten, dann könne der Verkaufspreis des Gebetbuchs günstiger gehalten werden. Fast drängt Sailer: „Wenns möglich ist, wenns nicht zu lange hinausgezogen wird, lassen Sie einige Kupfertäfelchen von Chodowiecki machen.“101 Am 15. November 1783 hält Lavater Sailers Lese- und Betbuch schon in Händen: „[E]in Wort des Dankes für Ihren brüderlichen Brief und für die unvergleichliche Beylage Ihres in allen Absichten schönen, kostbaren Gebethbuchs. […] Gott sey Millionenfacher Belohner dieses vortrefflichen Werks, zu dessen Gemeinmachung ich etwas beyzutragen hoffe.“ Eine Bemerkung Lavaters im gleichen Brief ist nun aufschlussreich: „In Ansehung der Kupfer muß ich mich, da nun Alles mögliche geschehen, wie bey den Kupfern zur Messiade ganz leidend verhalten.“102 Sailers Gebetbuch wurde also schon teilweise ohne die Kupfer ausgeliefert; erst Mitte Dezember sind sie fertig. Deutlich wird auch, dass Lavater zur gleichen Zeit 1783 noch auf Illustrationen für den ersten Band von Jesus Messias in der Ausgabe mit Kupfern103 wartete. Vor diesem Hintergrund ist es ein erstaunlicher Freundschaftsdienst, wenn Lavater, selbst in Zeitdruck, auf ein Chodowiecki-Original verzichtet und es Sailer zur Verfügung stellt, der sich am 25. Oktober 1783 gefühlvoll bedankt: „Theuerster Lauater! Wie glüht mein Herz, daß Sie mir vor Ihnen den Jesus im Tempel zukommen liessen! Ich kann nichts als danken.“104 Im Supplementband von 1787 mit allen Kupferstichen der Messiade vermerkt Lavater zu demjenigen mit dem Titel Maria und der Knabe Jesus: „Das Chodowieckische Original zu diesem Stücke trat ich an Freund

101 Brief Sailers an Lavater vom 7.03.1783, in: Schiel, Sailer und Lavater, 75f. 102 Brief Sailers an Lavater vom 15.11.1783, in: Schiel, Sailer und Lavater, 80. 103 Lavater, Johann Caspar, Jesus Messias. Oder Die Evangêlien und Apostelgeschichte, in Gesängen, 4 Bde., Basel I. 1783, II. 1784, III. 1785, IV. 1786 [Ausgabe mit Kupfern]. Der Text von Bd. 1 erschien schon 1782, aber ohne Kupfer. – Die Käufer konnten die Texte üblicherweise entweder ohne Illustrationen erwerben oder die Kupferstiche zusätzlich kaufen, um sie dann an den vorgesehenen Textstellen einbinden zu lassen. Noch vorhandene Erstausgaben von Lavaters Messiade wie von Sailers Gebetbuch sind häufig ohne Kupfer. 104 Schiel, Sailer und Lavater, 79.

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Seilern [!] von Ingolstadt zu seinem sehr empfehlenswürdigen Gebetbuch ab.“ Lavater begnügte sich mit einer Kopie des Kupferstechers Johann Rudolph Schellenberg (1740–1806). Interessant ist Lavaters Kommentar: „Der Knabe Jesus ist im Chodowieckischen Original viel feiner. Hier ist er etwas zu fett und die Nase gemein.“105 Weitere vier der zwölf Kupferstiche in Sailers Lese- und Betbuch stehen ebenfalls mit solchen in den beiden ersten Bänden von Lavaters Messiade in Verbindung, und zwar sind dies seitenverkehrte Kopien, davon zwei von Originalen Chodowieckis.106 Für beide Autoren war die Illustration Ihrer Werke nicht bloße Dekoration, sondern hing eng mit der Intention zusammen. Lavater betont den inneren Zusammenhang zwischen poetischer Gestaltung neutestamentlicher Geschichten und ihrer künstlerischen Darstellung: „Alle Situationen, die ich dichterisch zeichnete, sind, so weit es die Natur der Sache zuläßt, für den Zeichner und Mahler [!] gezeichnet.“107 Sailer sieht das ähnlich, denkt aber auch an eine didaktische Funktion von Buchkupfern: Ein Betbuch ist ein Vehikel zur Bildung der Menschen. Wer ist Mensch, und ist nicht fürs Sinnliche? Ein Sinnengeschöpf, und vom Sinnlichen unabhängig, wer ists? Also den Eindruck geistiger Wahrheiten durch Versinnlichungen erleichtern, verstärken ist der Menschennatur angemessen. Kupfer von Meistern gestochen über die allerwichtigsten Auftritte der Geschichte Jesu, des Ersten und Letzten, würden sie nicht die guten Wirkungen des Betbuchs beschleunigen?108

Pfenninger lobt Sailers Gebetbuch in den Zirkelbriefen, Lavater setzt sich tatkräftig für dessen Verbreitung in seiner weitläufigen Korrespondenz ein, besonders

105 Kupfer zu Lavaters Messiade mit einigen Erläuterungen (4 Hefte in 1 Bd.), Winterthur 1787, Heft 1, zu „VI Maria und der Knabe Jesus“. 106 Vorlagen für Sailers Gebetbuch in: Kupfer zu Lavaters Messiade: Anstelle des Chodowiecki-Originals bei Sailer findet sich eine Schellenberg-Kopie bei Lavater: Heft 1, VI („Maria und der Knabe Jesus“); Originale Chodowieckis als Vorlagen für seitenverkehrte Kopien in Sailers Lese- und Betbuch: Kupfer zu Lavaters Messiade, H. 1, IV („Die Hirten bey der Krippe“), H. 2, XVII („Der betende Jesus“); zwei andere Stiche: H. 1, XV („Jesus lehrt auf einem Berge“) und ein Stich von Johann Heinrich Lips (1758–1817), H. 2, II („Die Tochter Jairus, oder Talitha Kumi“), Kupferstich nach einem Gemälde Rembrandts (so Lavater dazu), das nach heutiger Kenntnis aber dem Rembrandt-Schüler Gerbrand von den Eeckhout (1621–1674) zugerechnet wird. Reihenfolge der Buchkupfer in Sailers Lese- und Betbuch, Bd. 2, bei 412; Bd. 1, bei 83; Bd. 1, Frontispiz; Bd. 1, bei 454; Bd. 1, bei 192. 107 Kupfer zu Lavaters Messiade, Allgemeine Betrachtungen und Anmerkungen [Lavaters], Nr. 7. 108 Sailer, Zweck, 62f. – Ähnlich wie Sailer wünscht sich auch ein anonymer schlesischer Geistlicher mit den Initialen O.V. noch 1808 für ein „Volksgebethbuch“: „Einige gut gewählte und gestochene biblische Kupfer würden manche Wahrheit anschaulicher darstellen, und dem Ganzen eine anziehende und gefälligere Form geben.“ O.V., Schreiben an meine Amtsbrüder. Ein kleiner Beitrag zur Einführung besserer Volksgebethbücher, Diöcesanblatt für den Clerus der Fürstbischöflich Breslauer Diöces 4 (1808), 37–53, hier 51.

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deutlich in einem Brief an den Zisterzienser Franz Tangl (ca. 1754–1808) aus dem steiermärkischen Stift Neuberg an der Mürz Ende Dezember 1783: Unter meine ersten, brüderlichsten, tiefdenkendsten Freunde unter den Katholiken zähl’ ich besonders Herrn Michael Sailer, den Verfasser des vortrefflichen, nicht genug anzupreisenden Lese- und Gebehtbuchs [!], welches ich in allen Briefen, die ich schreibe, allen Katholiken und Akatholiken zu empfehlen mir zur Pflicht mache.109

7. Der Streit mit Friedrich Nicolai Ökumenische Gesinnung, ohnehin nicht so weit verbreitet, war Ende des 18. Jahrhunderts auch bekämpft – etwa von konservativen katholischen Kräften, die gleichzeitig Gegner der Aufklärung waren; die Augsburger Exjesuiten wurden schon erwähnt. Ökumenische Offenheit ist aber auch den Vertretern der Berliner Aufklärung um Friedrich Nicolai ein Dorn im Auge – ebenso wie die neue Betonung von Herz und Gefühl. „Mysticismus“ – vertreten durch Leute wie Lavater und Claudius – heißt die Bedrohung für eine gewissermaßen orthodoxe Aufklärung.110 Vor allem in der Beschreibung seiner Reise von 1781 in die katholischen Reichsgebiete ließ sich Nicolai ausführlich über den Katholizismus als Hort der Aufklärungsfeindlichkeit aus. Exjesuiten trieben unter Protestanten Proselytenmacherei. Katholische Reformbemühungen werden als Tarnung missdeutet. Dem Philosophen Christian Garve war Nicolais Katholizismuskritik zu weit gegangen, er verwies 1785 in der Berlinischen Monatsschrift auf eigene positive Erfahrungen mit Katholiken in Schlesien.111 Erst jetzt, mit Nicolais Entgegnung 1786, den Unter­ suchungen der Beschuldigungen des Herrn Prof. Garve, kommt Sailer ins Spiel.112 Dessen Gebetbuch wird nun als Beweis für Versuche der Proselytenmacherei ins 109 Lavater an Tangl, 6.12.1783, Zentralbibliothek Zürich, FA Lav., Ms. 584, Nr. 12; abgedruckt bei Weigelt, Lavater und die Stillen im Lande, 143. Franz Tangl (ca. 1754–1808) aus dem steiermärkischen Stift Neuberg an der Mürz. Studium in Graz; Doktor der Philosophie und Theologie. Nach der Auflösung des Stifts 1786 Pfarrer in Spital am Semmering. Vgl. Winklern, Johann Baptist von, Biographische und litterärische Nachrichten von den Schriftstellern und Künstlern, welche in dem Herzogthume Steyermark geboren sind, und in, aber auch außer demselben gelebt haben und noch leben. In alphabetischer Ordnung. Ein Beytrag zur National-Litterärgeschichte Oesterreichs, Grätz 1810, 241f. Vgl. auch Kemper, Religiöse Sprache, 96. 110 Vgl. (Anonym,) Beitrag zu itziger geheimer Proselytenmacherei. (Auszug eines Schreibens aus **.), Berlinische Monatsschrift, 1. Bd. (1785), 59–80, hier 62–64. 111 Garve, Christian, Ueber die Besorgnisse der Protestanten in Ansehung der Verbreitung des Katholicismus, Berlinische Monatsschrift, 2. Bd. (1785), 19–67, 488–529. 112 Nicolai, Friedrich, Untersuchungen der Beschuldigungen des Herrn Prof. Garve wider meine Reisebeschreibung durch Deutschland und die Schweiz. Nebst einigen Erläuterungen, die nützlich, auch wohl gar nöthig, seyn möchten. Anhang zum 7. Bd. der Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781, Berlin/Stettin 1786, (Repr. Nachdr. 7. u. 8. Bd. […] [Ges. Werke 18], Hildesheim u. a. 1994).

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Feld geführt; zu diesem Zweck würden katholische Dogmen „masciert“, und die Heiligenverehrung etwa werde verharmlost. Lavater wird in die Auseinandersetzung mit hineingezogen. Von einem Korrespondenten weiß Nicolai: „P[ater] Sailers katholisches Gebetbuch ist durch Lavaters Sorge in Zürich und in der Gegend ein allgemeines Andachtsbuch geworden, indem eine grosse Menge davon heimlich und umsonst ausgetheilet worden ist.“113 Nicolai dazu: „Er lobte, er empfahl! Lavater kann nichts ohne Wärme thun; er fiel in die Falle, die ihm gelegt war.“114 In dieses Bild passt für Nicolai auch Pfenninger. In den Zirkelbriefen hatte er versprochen, dass er Sailers Gebetbuch „jedem meiner Korrespondenten um doppelten Preis wieder abkaufen will, wenn er’s gekauft zu haben bereut.“115 Die Auseinandersetzungen um Sailers Gebetbuch, ausgelöst durch die zweite Auflage von 1785, zogen sich mit über zwanzig Streitschriften und Rezensionen bis 1788 bzw. 1791 hin.116 Die noble Haltung Lavaters gegenüber dem Freund zeigt sich in standhafter Solidarität, so in einer „Anzeige“, datiert vom 19. August 1786, unter anderem bestimmt für die Kaiserlich-privilegirte Hamburgische Neue Zeitung vom 9. September und inhaltlich verstärkt noch im gleichen Jahr in seiner Schrift Rechenschaft an seine Freunde. Zweytes Blat. Dort bekennt er, Sailers Gebetbuch sei „ein Buch eines Katholiken, das an Reinheit von Aberglauben in seinem Fache kaum seines gleichen zu haben, gewissenhaft geglaubt wird“.117 Nicolai wirft er eine „Manie einer gewissen verfolgenden Aufklärungssucht“ vor.118 Ausführlich versichert Lavater, fast ironisch, dass er Sailers Buch „weder verkauft, noch vertauscht, weder abgesetzt, noch […] verschenkt, noch […] ausgeliehen habe.“119 Pfenninger reagiert, indem er die zuerst nur handschriftlich verbreiteten inkriminierten Zirkelbriefe mit „nöthigen Vor- und Nacherinnerungen“ 1787 drucken lässt. Sailer nimmt im gleichen Jahr vornehm zu den Beschuldigungen Stellung in der Schrift Das einzige Märchen in seiner Art.120

8. Wahre Aufklärung Wie Lavater mit seiner Suche nach Wundern, nach Erfahrbarkeit des Transzendenten auf aufgeklärte Gegner stieß, so wurde Sailer – in mancher Hinsicht nüchterner, rationaler als Lavater – im Wechsel als Aufklärer oder wegen Mystizismus 113 Nicolai, Untersuchungen, 92. 114 Ebd., 95. 115 Pfenninger, Johann Konrad, Die bedenklichen Zirkelbriefe des Protestanten Joh. Konrad Pfenningers in Natura. Mit nöthigen Vor- und Nacherinnerungen, Breslau 1787, 91 und 136. Vgl. Nicolai, Untersuchungen, 90. 116 1791: Rezensionen im Anhang zu dem 53. bis 86. Bd. der Allgemeinen deutschen Bibliothek. – Liste der Streitschriften vgl. Kemper, Religiöse Sprache, 908f (Fußnote). 117 Lavater, Rechenschaft, 19f. 118 Ebd., 81. 119 Ebd., 35f. 120 Sailer, Märchen.

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diffamiert und verlor zweimal seine Stellung. Was Sailer betrifft, so wurde er nicht selten als Überwinder der Aufklärung eingeordnet, als wolle man ihn noch postum davor bewahren, als Aufklärer angesehen zu werden.121 Sowohl Zeitgenossen Sailers als auch spätere Rezipienten urteilen von einem enggeführten Aufklärungsbegriff her, der eine Verbindung von Vernunft und Empfindsamkeit, von Wissenschaft und Mystik grundsätzlich ausschließt. Zum Verständnis von Mystik schreibt Sailer an Johann Georg Müller: „Die wahre Mystik lässt also den wahren Wert der Wissenschaften nicht nur unangefochten, sondern sie setzet uns auch ganz allein in Stand, diesen wahren Wert wahrhaftig zu bestimmen.“122 Wie sehr es Sailer um ein ganzheitliches Menschenbild geht, das Extreme ausschließt, mag eine zusammenfassende Formulierung aus dem ersten Band der Glückseligkeitslehre von 1787 zeigen: Wenn die Empfindsamkeit unter der Aufsicht der Vernunft und Leitung des Gewissens steht, so wird sie eine Quelle vieler wahren Menschenfreuden werden. Wenn sie aber nicht unter dieser Aufsicht und Leitung steht, so muß sie eine Quelle vieler Thorheiten, Fehltritte, Ausschweifungen, Leiden werden.123

Wahre Aufklärung sieht Sailer zwischen einem aufklärungsfeindlichen Konservativismus und den Vorurteilen einer religionsfeindlichen Aufklärung. Schädlichstes Vorurteil sei dasjenige, schreibt er an Benedikt Stattler, „welches die Aufklärung trennet 1. von Selbstverleugnung 2. Gottesfurcht 3. Tätigkeit im gemeinen Leben 4. Glauben an eine höhere Offenbarung.“124 Aufklärung hat für Sailer auch mit Glaubensvermittlung zu tun. So kann er sagen: „Ein Betbuch ist seiner Hauptbestimmung nach ein Buch zur Volksaufklärung.“125 Dessen Leseteile wie Gebetstexte sollen auch den Verstand beschäftigen. Über die reflektierte Empfindung, über das Herz, führt die Linie zu christlicher Lebenspraxis. Auch wenn sich Sailers theologisches Denken in seinen späteren Jahren weiterentwickelte, etwa durch die Begegnung mit den Werken von Jacobi und Schelling, auch durch ein Verständnis von Kirche, das den institutionellen Aspekt stärker berücksichtigte,126 so bleibt doch die Bedeutung Lavaters für ihn kaum zu über-

121 Vgl. Mayer, Anton Ludwig, Liturgie, Aufklärung und Klassizismus, in: Ders., Die Liturgie in der europäischen Geistesgeschichte. Gesammelte Aufsätze, hg. v. E. von Severus, Darmstadt 1971, 185–245, hier 197 (zuerst JLW 9 [1929], 67–127). 122 Brief Sailers an Johann Georg Müller vom 19.12.1792, in: Schiel, Sailer, Bd. 2, 305–307, hier 307. 123 Sailer, Johann Michael, Glückseligkeitslehre aus Vernunftgründen, mit Rücksicht auf das Christenthum. Zunächst für seine Schüler, und denn auch für andere denkende Tugendfreunde. Erster Theil, worinn die wahre Glückseligkeit des Menschen bestehe, München 1787, 205. 124 Brief Sailers an B. Stattler vom 28.02.1787, in: Schiel, Sailer, Bd. 2, 42f. 125 Sailer, Zweck, 37. 126 Auf Entwicklungen in Sailers Kirchenverständnis kann hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. aber etwa Meier, Bertram, Die Kirche der wahren Christen. Johann Michael Sailers Kirchenverständnis zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung, Stuttgart/Berlin u. a. 1990; Hausberger, Karl,

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schätzen. Einige Zeilen vom 13. Januar 1801 an Auguste Eleonore Gräfin StolbergWernigerode zeigen, dass er sich dessen bewusst war: I[nnigst] t[eure] A[uguste]! Mit noch gerührtem Herzen melde ich Ihnen, daß gestern die Münchner und heute die Augsburger Zeitung Lavaters Tod am 2. Jänners bestätiget. […] Was mich betrifft, so hat (ich muß es Gottes Güte ewig nachrühmen,) L[avaters] Leben viel in mir gewirkt.127

Zum Stellenwert von Autorität und Hierarchie im Kirchenverständnis Johann Michael Sailers, in: R. Decot (Hg.), Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß; Kirche, Theologie, Kultur, Staat, Mainz 2005, 39–53. 127 Schiel, Sailer, Bd. 2, 222.

Gabriela Lehmann-Carli

Nikolaj M. Karamzins Lavater-Rezeption und ihr freimaurerischer Kontext

Nikolaj M. Karamzins (1766–1826) Hinwendung zu Johann Caspar Lavater1 ist kein Zufall. Zuerst waren es Personen aus dem maurerischen Umfeld, die Karamzins Aufmerksamkeit auf den Zürcher Pfarrer gelenkt haben. In den moralphilosophischen Vorlesungen, die der junge Karamzin im Pensionat der Moskauer Universität hören konnte, hatte sich Johann Georg Schwar(t)z u. a. mit Gellerts und Lavaters Schriften befasst. Die mit der Universität eng verbundenen Moskauer Freimaurer waren fast allesamt an Lavater interessiert; besonders aber Ivan Petrovič Turgenev (1752–1807) und Ivan Vladimirovič Lopuchin (1756–1816). Johann Friedrich Hartknoch (1740–1789) war 1785 von einer Reise nach Zürich in Begleitung von Anna Barbara Tobler (1762–?) zurückgekehrt, die „nach Mohilew als Gouvernante“ bestimmt war und nun mit Briefen von ihrem Onkel Johannes Tobler und Lavater zu Johann Georg Hamann kam.2 Mit einer anderen Nichte des Zürcher Chorherrn und theologischen Schriftstellers Johannes Tobler, mit Anna Margaretha Tobler, die als Erzieherin in einem Moskauer Mädchenpensio-

1

Zu Karamzin und Lavater vgl. Bryner, Erich, Karamzin und Lavater, ThZ 3/23 (1967), 197–205; Heier, Edmund, Studies on Johann Caspar Lavater (1741–1801) in Russia, (Slavica Helvetica 37), Bern u. a. 1991, besonders 50–66; Rothe, Hans, N.M. Karamzins europäische Reise: Der Beginn des russischen Romans: Philologische Untersuchungen (Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den Slaven 1), Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1968, 65–71; Danilevskij, R. Ju., Rossija i Švejcarija: Literaturnye svjazi XVII–XIX vv., Leningrad 1984, 84–94; Gerhardt, L., Lavater in Russland, Deutsche Rundschau 134 (1908), 138–142. Von besonderem Interesse für das Thema ist auch: Ischreyt, Heinz, Zur Rezeption Lavaters in Kurland und Livland, Nordost Archiv. Zeitschrift für Kulturgeschichte und Landeskunde 73 (1984), 53–68. Zu Lavater: Weigelt, Horst, Lavater und die Stillen im Lande – Distanz und Nähe: die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert (AGP 25), Göttingen 1988; ders., Johann Kaspar Lavater: Leben, Werk, Wirkung, Göttingen 1991; Forssman, Julius, J.K. Lavater und die religiösen Strömungen des achtzehnten Jahrhunderts, Abhandlungen der Herder-Gesellschaft und des Herder-Instituts zu Riga 5/2 (1935). Stadler, Ulrich (Hg.), Im Lichte Lavaters: Lektüren zum 200. Todestag (JohannCaspar-Lavater-Studien 1), Zürich 2003; Percival, Melissa/Tytler, Graeme (Hg.), Physiognomy in profile, Lavater’s impact on European culture, Seminar: a journal of Germanic studies 42/4 (2006). 2 Vgl. Henkel, Arthur (Hg.), Johann Georg Hamann, Briefwechsel, Bd. 5: 1783–1785, Frankfurt/ Main 1965, 451.

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nat wirkte, war Karamzin bekannt. Ein weiterer Tobler, offenbar mit Vornamen Johann Konrad, war in den 1790er Jahren Erzieher im Hause Turgenevs.3 Die auch in Moskau bekannte Verwandtschaft Lavaters mit den Toblers ergab sich über Lavaters Frau, eine geborene Schinz, sowie über den Vetter der Toblers, Franz Heinrich, der die Schwester von Lavaters Frau geheiratet hatte.4 Geistige Fäden zu Lavater führen für Karamzin auch über Jacob Michael Reinhold Lenz (1751–1792); Letzterer war ebenso wie der Zürcher Weise mit dem Rigaer Kreis und den Weimarer, den „Stürmern und Drängern“, verbunden gewesen.5 Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Lavater möglicherweise Ende 1773/ Anfang1774 in Petersburg und Moskau weilte, um in russische Dienste zu treten.6 Die persönlichen Beziehungen Bekannter Karamzins waren indes nur Anlass für den jungen Russen, mit Lavater brieflichen Kontakt aufzunehmen. Die eigentlichen Gründe dafür haben wohl in den freimaurerischen Versuchen einer Selbstbeobachtung, -erkenntnis und -vervollkommnung des Individuums gelegen. Somit war für den Kreis der Moskauer Freimaurer Lavaters Selbstbeobachtungsjournal, das Geheime Tagebuch, von einem Beobachter seiner selbst7 von Interesse. Im „Družeskoe učenoe obščestvo“, einer Gelehrten Freundesgesellschaft suchte man dieses Ziel durch Selbsterziehung mittels Lektüre, innerer Askese, geistiger Disziplin und Erziehung zu tätiger Nächstenliebe zu erreichen. Beim russischen Freimaurerkreis um Nikolaj Ivanovič Novikov (1744–1818) und I.P. Turgenev hat es sich um eine Variante des „prosveščenie“, einer spezifischen russischen Aufklärung, gehandelt, in deren Verständnis bereits dem irdischen „Seelenheil“ des Menschen große Bedeutung auch für das Gemeinwesen beigemessen worden ist. Unter Hinweis auf Gefahren einer Autonomie des Verstandes glaubte man bei diesen „masony“ unverdrossen an eine Harmonisierung des Seelenlebens durch Bildung, Selbsterkenntnis und Selbstvervollkommnung.

3

Harder, Hans-Bernd, Nikolaj Karamzin und die philosophisch-literarischen Kreise in Königsberg, Berlin, Weimar und Zürich, in: E.H. Balász/L. Hammermayer/H.Wagner/J. Wojtowicz (Hg.), Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 5), Essen 1987, 313. 4 Ebd. 5 Vgl. Waldmann, Franz, Lenz’ Stellung zu Lavaters Physiognomik. Nebst ungedruckten Briefen von Lenz, Baltische Monatsschrift 40 (1893), H. 7, 419–429, H. 8, 482–497, H. 9, 526–533; Keller, Mechthild, Verfehlte Wahlheimat, Lenz in Russland (mit Anhang: Lenz und Lavater), in: dies. (Hg.), 18. Jahrhundert: Aufklärung, (Westöstliche Spiegelungen, Russen und Russland aus deutscher Sicht 2), Leiden 1988, 516–535. 6 Vgl. Heier, Edmund, Das Lavaterbild im geistigen Leben Russlands des 18. Jahrhunderts, in: Kirche im Osten, (Studien zur Osteuropäischen Kirchengeschichte und Kirchenkunde 20), Göttingen 1977, 109–110. Heier verweist auf das Lavater-Archiv und auf Gerhardt, L., Lavater in Russland, Deutsche Rundschau 184 (1889), 139–140. 7 Lavater, Johann Caspar, Selbstbeobachtungsjournal. Geheimes Tagebuch, von einem Beobachter seiner selbst, Leipzig 1772.

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Besonders eingehend hat Karamzin Lavaters Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe8 studiert. Im Januar 1778 wurden sie – wenn man dem Sanktpeterburgskij vestnik Glauben schenken darf – im Buchladen Iogann Jakob Vejtbrechts für 84 Rubel verkauft. Von den russischen Freimaurern wurden Lavaters physiognomische Betrachtungen intensiv rezipiert, ebenso wie zuvor in Deutschland von den meisten „Stürmern und Drängern“. Nicht unerheblich für das hier behandelte Thema dürfte die Tatsache sein, dass sich Goethe im Sommer 1774, als er mit Lavater an die Lahn und an den Rhein gereist war, zur Mitarbeit an dessen großangelegten Physiognomischen Fragmenten bereiterklärt hatte.9 Wie nun stellte sich Karamzin zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten? Er bezeugte großes Interesse, aber zeigte auch berechtigte Distanz: Ich bin kein Anhänger von Lavater, und in sehr vielen Stücken denk ich anders als er; aber doch bin ich überzeugt, dass man seine ‚Physiognomischen Fragmente‘ auch dann noch lesen wird, wenn man schon längst vergessen hat, dass irgendwo der achtbare Doktor Biester gelebt hat.10

Diese Äußerungen stammen aus den Pis’ma russkogo putešestvennika (Briefe eines russischen Reisenden), die Karamzin 1791/92, also einige Zeit nach Rückkehr von seiner europäischen Bildungsreise 1789/90 in seiner Zeitschrift Moskovskij žurnal veröffentlichte. Übrigens hatte ja Karamzin während seines ersten Besuches bei Lavater am 10. August 1789 ausgiebig Gelegenheit gehabt, „einige Folianten in seinem [Lavaters] Bücherschranke, welche die Aufschrift hatten: ‚Physiognomisches Kabinett‘“11 einzusehen. Diese Lektüre schien auf Karamzin einen solchen Eindruck zu machen, dass er wenig später seine fiktiven Korrespondenten scherzhaft warnt: Ihr wisst, meine Freunde, dass ich schon in Moskau Liebhaber von physiognomischen Untersuchungen war und oft da Ähnlichkeit fand, wo andere nichts sahen; und jetzt vollends, da ich die Luft in der Stadt geatmet habe, welche man mit Recht die Wiege aller neu-

  8 Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Leipzig/Winterthur 1775–1778.   9 Vgl. dazu auch: Hellen, Eduard von der, Goethes Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten, Frankfurt a. M. 1888. 10 Karamsin, Nikolai Michailowitsch, Briefe eines russischen Reisenden [im Folgenden BRR], Berlin 1981, 82. Hier und im Folgenden stütze ich mich auf diese, von Karamzin autorisierte (!) deutsche Übersetzung der „Pis’ma russkogo putešestvennika“ durch Johann Richter. Im „Vorbericht des Übersetzers“ heisst es: „Da Herr Karamsin, der des Deutschen vollkommen mächtig ist, die Übersetzung selbst durchgesehen hat, so ist an ihrer Richtigkeit wohl nicht zu zweifeln; ob sie übrigens etwas von den Tugenden des Originals hat – das mögen die Leser und die Kunstrichter entscheiden. Geschrieben in Moskau im November 1798, Johann Richter“. 11 Karamsin, BRR, 223.

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eren Physiognomik, Metoposkopie, Chiromantie, Podoskopie usw. nennen kann – jetzt nehmt Euch in acht, mir vor die Augen zu treten!12

Und prompt stellte Karamzin „auf den ersten Blick viel Ähnlichkeit“ zwischen Johann Konrad Pfenninger (1747–1792), dem Herausgeber des christlichen Magazins, und „S.J.G.“ [dem Moskauer Freimaurer Gamaleja] fest: und obgleich ich bei genauerer Betrachtung seines Gesichts bemerkte, dass er andere Augen, eine andere Stirn und überhaupt Teile seines Gesichts anders habe als G., so blieb doch immer der erste Eindruck, und es war mir unmöglich, die zwischen beiden gefundene Ähnlichkeit wegzuvernünfteln. Endlich verfiel ich auf die Hypothese, dass, wenn sie auch in ihrer äußerlichen Gestalt nicht Ähnliches hatten, doch die innere Struktur ihrer Muskeln gleich sein müsse!13

Doch diese z. T. ironisch geratene „praktische Anwendung“ physiognomischer Regeln sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Karamzin bereits vor seiner Westeuropareise kritische Stimmen zu den Physiognomischen Fragmenten vernommen hatte. Nicht zufällig hatte man den vierten und letzten Band der Physiognomischen Fragmente bei der russischen Übersetzung ausgespart. Dessen fünfter Abschnitt ist den „National- und Familien-Physiognomien“ gewidmet. So glaubt Lavater beispielsweise, „das Nationale eines Gesichtes“ der Russen „an den aufgeworfenen Nasen“ zu erkennen. Als Ziel der Untersuchung strebt Lavater an, bestimmen zu können, „welches Grades und welcher Art von Cultur jede Nation überhaupt fähig ist – wie auf jede gewirkt werden kann und soll, wenn sie diesen ihr erreichbaren Grad von Cultur erreichen soll“.14 Lenz, Karamzins späterer Vertrauter in Moskau, hatte bereits in einem Brief vom Mai 1780 Lavater streng kritisiert: Wie? Sie geben Ihre Wissenschaft selbst für das Resultat der aus Menschengesichtern mit ihrem Karakter zusammengehaltenen Erfahrungen? Und nun wollen Sie es umkehren und aus einigen wenigen datis in Ihrem Vaterlande das ganze Erdenrund, so verschieden an Klima, Regierungsform, Denkart ein Land auch von dem Ihrigen seyn kann – und seine Individuen dem Karakter nach beurtheilen.15

12 Ebd., 224. 13 Ebd., 223f. 14 Lavater, Johann Kaspar, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. 1–4, Leipzig/Winterthur 1775–1778; zitiert wird nach der FaksimileAusgabe Leipzig 1969, 269, 267; dazu: Graham, John, Lavater’s Essay on Physiognomy: A Study in the History of Ideas, (European University Studies 18), Bern/Frankfurt a. M. 1979. 15 Waldmann, Lenz’ Stellung, H. 8, 486–487.

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Ein Hintergrund dieser Kritik ist auch, dass Lavaters Äußerungen über „Catarina die Zweyte“ (1777) bereits zu recht peinlichen „Missverständnissen“ geführt hatten. Dies nimmt nicht wunder, liest man Lavaters Text: Katharina die II. mag die größte Frau in Europa sein; – das Bild, das wir vor uns haben, ist nicht das Bild der größten Frau in Europa […] Wäre die herrliche, stark sprechende Augenbraue weiter fortgeführt, dass die äußerste Grenzlinie der Stirn unterbrochen schiene – die Physiognomie würde schon durch diese Veränderung – mehr Verstand gewinnen […] denn in der Miene, das heißt im Effekt der beweglichen Gesichtsteile, ist ein Nebel einer gewissen Unanständigkeit und kindischen Blödigkeit […].16

Dies also musste sich die von Voltaire und anderen „philosophes“ hofierte Zarin von einem Zürcher Pfarrer sagen lassen! Lenz hingegen hatte in einem Brief an Lavater vom 15. April 1780 Katharina explizit bewundernd, „die Gesetzgeber[in] eines halben Teils der Erde“17 genannt. Auch Karamzin hat – wenn auch etwas später – Zweifel an der wissenschaftlichen Stichhaltigkeit der Lavaterschen Theorien angemeldet. Besonders deutlich geschah dies in seiner Kurzerzählung Čuvstvitel’nyj i cholodnyj: Dva charaktera (Der Empfindsame und der Kühle. Zwei Charaktere), die 1803 im Vestnik Evropy (Nr. 19) erschienen ist: Ob die Natur geistige Fähigkeiten und sittliche Eigenschaften an irgendwelche spezifischen Formen oder Wirkungen der physischen Gegebenheiten bindet, wissen wir nicht, das ist ihr Geheimnis. Das System Lavaters und Doktor Galls18 scheint uns bis jetzt nur ein Spiel der Vorstellungskraft zu sein.19

Auch Karamzin wollte nicht an eine Abhängigkeit des individuellen Charakters ganzer Völker vom Bau des Gesichtsschädels und der Form einzelner Gesichtspartien glauben. Mehr schon war Karamzin der Idee zugeneigt, seelische Vorgänge eines Menschen aus den unbewussten Bewegungen seines Gesichtes zu erschließen, etwa so, wie sie 1778 Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) in seiner pathognomischen Gegenschrift Über Physiognomik wider die Physiognomen formuliert hatte. Tendenziell schloss sich der junge Russe der Forderung Lichtenbergs

16 Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Ingelheim/Rh. 1970, 14f. 17 Damm, Siegrid (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 3, München 1987, Briefe Nr. 601, 603. 18 Gemeint ist Franz Josef Gall. 19 Im russischen Original heißt es: „Privjazyvaet li natura umstvennye sposobnosti i nravstvennye svojstva k nekotorym osobennym formam ili dejstvijam fizičeskogo sostava, my ne znaem: ėto ee tajna. Sistema Lafatera i doktora Galja kažetsja nam po sie vremja odnoju igroju voobraženija“ (Karamzin, Nikolai Michailowitsch, Sočinenija v dvuch tomach, Bd. 1, Leningrad 1984, 608).

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an, „die ganze Semiotik der Affekte als die Kenntniß der natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen“20 mitzuberücksichtigen. Dies hatte natürlich Folgen für die sentimentalistische Ästhetik21 Karamzins. Die Entdeckung der psychischen Seite der menschlichen Persönlichkeit und deren literarische „Zeichnung“ durch Karamzin, beispielsweise in den Erzählungen Natal’ ja bojarskaja doč’, Rycar’ našego vremeni22, Bednaja liza, Čuvstvitel’nyj i cholodnyj oder auch in der Istorija gosudarstva Rossijskogo (in besonderem Maße bei der Zeichnung von Ivan Groznyj), deuten auf eine kritische Affinität zu Aspekten der Nachfolgetheorien Lavaters und eine produktive Rezeption von deren Ideen hin. Nach Edmund Heiers Ansicht befassten sich die Moskauer „masony“ hauptsächlich im Zusammenhang mit Franz Joseph Galls (1758–1828) Phrenologie23 mit Lavater. Durch seine Physiognomie hat Lavater – trotz aller kontroverser Polemik – einen anhaltenden Einfluss auf russische Schriftsteller ausgeübt, denn die Beschreibung des Äußeren eines literarischen Helden verband sich in der russischen Literatur häufig mit der Absicht, dessen Charakter zu offenbaren.24 Nachdem einige geistige Berührungspunkte genannt sind, die den 19-jährigen Karamzin bewogen haben mögen, eine Korrespondenz mit dem damals 45 Jahre alten, in ganz Europa berühmten Lavater zu beginnen, sei auf diesen Briefwechsel, der zwischen dem 14. August 1786 und dem 1. Dezember 1790 geführt wurde, eingegangen. Der erste Brief Karamzins an Lavater begann recht literarisch: „An wen will ich diesen Brief schreiben? … An Lavater? Ja! an Ihn, der mein Herz mit der feurigsten Liebe und Hochachtung gegen sich erfüllet hat“.25 Danach folgten euphorische Gefühlsergüsse an die Adresse Lavaters, verbunden mit einer rhetorisch gekonnten Selbstkritik. Von Interesse ist Karamzins eigene Kurzbiographie, worin er verkündet hat, er wohne in Moskau „im Schooße“ seiner

20 Untertitel: „Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis“, Leipzig/Winterthur 1778, 42. 21 Zum europäischen Kontext dieser Entwicklung vgl. Tytler, Graeme, Physiognomy in the European Novel: Faces and Fortunes, Princeton 1982. 22 Heier geht in seinen Studies in Russia, besonders 58–61, ausführlich auf die literarische Wirkung bzw. Widerspiegelung von Lavaters Physiognomie bei Karamzin ein. Zusammenfassend heisst es bei ihm dazu auf Seite 58: „In all of his sentimental tales Karamzin refers to Lavater, the physio� gnomist, only twice: in the first instance, physiognomy is used as charakterization; in the second, the validity of the physiognomic system is questioned. These references to Lavater occur in two of his last stories, ‚A Knight of Our Time‘ (1802–03) and ‚The Sensitive Man and the Cold Man‘ (1803), both of which show the evolution of Karamzin’s artistic method of depicting character. These two tales represent the culmination of Karamzin’s long interest in character development and upbringing, and, consequently, they containe some of his most complex characters“. 23 Vgl. zur russischen Rezeption Galls: Snjadetskij, A., Sistema doktora Galla i nekotoryja primečanija ob ego nauke, Vestnik Evropy 22 (1805), 26–55; Kutorga, Stephan Semyonovich, Lafater i Gall, Bibliotheka dlja čtenija LXII (1845), 1–32. 24 Heier, Lavaterbild, 126. 25 Karamzin, Nikolai Michailowitsch, Perepiska Karamzina s Lafaterom, soobščena doktorom F. Val’dmanom, prigotovlena k pečati Ja. Grotom, in: Priloženie k LXIII – mu tomu zapisok imper. Akademii nauk, Sankt-Peterburg 1/1893, 3.

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„wahren Freunde und Führer“26. Auch auf sein eigentliches Anliegen ist Karamzin dann zu sprechen gekommen: „Ich bitte Sie um eine Antwort auf meinen Brief. Haben Sie die Güte, mir durch einen Brief zu sagen, dass meine Liebe und Hochachtung gegen Sie Ihnen nicht gleichgültig ist.“27 Lavater, der am 30. März 1787 vorgab, Karamzins Brief erst ein reichliches halbes Jahr nach dessen Absendung erhalten zu haben, hatte sich von Karamzin „eine oder zwo besondre Fragen“ gewünscht, die ihm „Stoff zu einer Antwort“ geben konnten. So blieb Lavater nur, seinen jungen russischen Jünger seine 1782 erschienenen Brüderliche Schreiben an Jünglinge anzuempfehlen. Am Ende des Briefes wurde Karamzin gebeten, mehrere Grüße auszurichten: „Haben sie die Güte, Lentzen zu grüßen, Ihm das zweyte Blättchen, zu übergeben, und wenn Sie Herrn Doctor Fränkel, oder Pastor Brunner in Moskau sehen, sie meiner immergleichen Freundschaft zu versichern“.28 Die Bitte Lavaters an Karamzin, seinen Freund Lenz einen Brief zu übermitteln, belegt eindeutig, dass der Zürcher den Aufenthaltsort von Lenz kannte. Auch den in Moskau ansässigen Dr. Fränkel (Lavaters Pate) und den protestantischen Pastor Brunner hatte Lavater nicht aus den Augen verloren. In seinem folgenden Briefe vom 20. April 1787 wandte sich Karamzin mit einer Frage an Lavater29, der das für die „Menschenkenntniß“ sei, „was Columb für die Seefahrt war“. Die Frage lautet folgendermaßen: ‚Wie wird unsere Seele mit unserm Körper verknüpfet, da jene von einem ganz andern Stoffe als dieser ist? Ist dieses Verknüpfungsband nicht eine dritte Substanz, eine abgesonderte Wesenheit, die weder Seele, noch Körper ist? Oder sind sie, d. i. Seele und Körper, durch gegenseitige Schattirungen vereinigt?‘ Diese Frage kann auch umgegossen werden und lauten: ‚Auf was für eine Weise wirket die Seele auf den Körper, mittelbar oder unmittelbar‘?30

Dieses Problem war für die Moskauer Freimaurer äußerst relevant und umstritten. Die Frage, ob es zwei oder drei Substanzen gibt, war in zwei Zeitschriften der Freimaurer, in der „Večernjaja zarja“ (I/1782) und im „Pokojaščijsja trudoljubec“ (I, II und IV/1784–85)31 recht kontrovers diskutiert worden. Offenbar war Karamzin bekannt, dass Lavater 1769 den zweiten Teil von Charles Bonnets32 Palingénésie philosophique, ou idées sur l’état passé et sur l’état futur des êtres vivants (1769) übersetzt und dies unter dem interpretierenden Titel 26 Ebd., 7. 27 Ebd. 28 Ebd., 11f. 29 Vgl. dazu Rothes überzeugende Argumentation (Rothe, Karamzins europäische Reise, 67–70). 30 Karamzin, Perepiska, 17. Karamzin, der später zwischen dem Sensualismus und einem Agnostizismus mit solipsistischer Tendenz balancieren sollte, hatte in Hinblick auf diesbezügliche Diskussionen in seinem freimaurerischen Umfeld keine zufällige Frage gestellt. 31 In Pokojaščijsja trudoljubec 2/3 (1784), 66; werden z. B. folgende für die Leib-Seele-Problematik zentrale Fragen aufgeworfen: „Duša, govorjat filozofi, est’ suščestvo; no čto est’ suščestvo?“ und „Kak duša dejstvuet vo vnutrennosti čeloveka, i kakoe byvaet otraženie materii na duch?“. 32 Vgl. dazu den Beitrag von Baptiste Baumann im vorliegenden Band.

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Herrn S. Bonnets, verschiedener Akademien Mitglieds, Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. Als ein Anhang zu den letzten Schriften des Verfassers; und welcher insonderheit das Wesentliche seiner Untersuchungen über das Christentum enthält

in zwei Theilen bei Orell, Geßner, Füßli und Compagnie in Zürich herausgegeben hatte. In der Vorrede des Übersetzers zum ersten Teil der Ausgabe hatte Lavater versucht, Bonnets Stellung zum Verhältnis von Körper und Seele zu erläutern. Im Unterschied zu Leibniz, demzufolge laut Lavater „die Seele die Quelle aller Vorstellungen“, „ein Spiegel der ganzen Welt“ sei, sei nach Bonnet nicht die Seele die Quelle der Ideen: Die Welt ist das Meer, das Gehirn die Schale, worein sich ein Theil des Meers ergießt, und woraus die reine Seele nicht trinkt, sondern worinn sie sich, wenn ich so sagen darf, nur badet. Keine einzige Idee haftet, nach Bonnet, unmittelbar in der Seele.33

Wenngleich Bonnet zufolge das „Gedächtnisß, welches seinen Sitz in dem Gehirne hat“, „der Grund der Persönlichkeit“ ist34. Moses Mendelssohn35 (1729–1786) hingegen hatte gerade seine bereits erwähnte platonisierende Schrift Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767) veröffentlicht. Mendelssohn, der gegen die Skeptiker in der Theodizeefrage polemisierte, begriff die Seele als eine Substanz, die sich erkennt, indem sie sich selbst beobachtet. Lavater tendierte durchaus zu diesem Standpunkt, dass die Seele selbsttätig, in sich vollkommen und unabhängig von der Erfahrung sei.36 So antwortete Lavater dann auch auf Karamzins Frage folgendermaßen:

33 Lavater, Johann Caspar, Vorrede, in: Bonnet, Charles, Herrn S. Bonnets, verschiedener Akademien Mitglieds, Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. Als ein Anhang zu den letzten Schriften des Verfassers; und welcher insonderheit das Wesentliche seiner Untersuchungen über das Christentum enthält, J.C. Lavater (Übers.), Zürich 1769, V–VI. 34 Bonnet, Charles, Herrn S. Bonnets, verschiedener Akademien Mitglieds, Philosophische Palingenesie, 360. 35 Vgl. dazu den Beitrag von Dominique Bourel im vorliegenden Band. 36 Vgl. Mendelssohn, Moses, Johann Caspar Lavaters Zueignungsschrift der Bonnetischen philosophischen Untersuchung der Beweise für das Christentum an Herrn Moses Mendelssohn in Berlin und Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich, o. O. 1770; Lavater, Johann Kaspar, Antwort an den Herrn Moses Mendelssohn zu Berlin, von Johann Caspar Lavater. Nebst einer Nacherinnerung von Moses Mendelssohn, u.d. Gedanken über die Zumuthung des Herrn Diaconus Lavater an Herrn Moses Mendelssohn ein Christ zu werden, in einem Schreiben eines guten Freundes an einen andern, Berlin/Stettin 1770; siehe dazu: Rothe, Karamzins europäische Reise, 67–69; Pamp, Friedhelm, Charles Bonnet und Karamzin, Revue de littérature comparée 30 (1956), 87–92.

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Wenn mir, mein I. Karamsin, irgend ein Wesen unter dem Monde sagen kann, was Körper in sich ist, Seele in sich ist, so will ich Ihnen dann sogleich sagen: wie Leib und Seele auf einander wirken, in welchem Zusammenhänge sie stehen, ob sie sich mittelbar oder unmittelbar berühren. Ich denke aber, noch eine Weile auf dieses belehrende Wesen warten zu müssen.

D. h., diese Frage war nicht beantwortbar, weil nicht empirisch zu erfassen. Lavater begründete im Weiteren diese seine Ansicht: Das Aug ist nicht gebildet sich selbst, ohne Spiegel zu sehen – unser Ich sieht sich nur im Du. Wir haben keinen Gesichtspunkt zu uns selbst in uns selbst […] Daseynsgefühl, Ichheit, Seele – ist nur durch Dinge, die außer uns sind, durch Phänomene, die uns zu berühren scheinen.37

Genau diese Stelle sollte dann der fiktive russische Reisende in einem Gespräch mit einem Prager Studenten nutzen. Letzterer meinte, Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele sei vielleicht das scharfsinnigste philosophische Werk, doch Mendelssohn stütze alle seine Beweise für die Unsterblichkeit der Seele auf eine einzige Hypothese. Ganz im Kantschen Sinne beharrt der Student darauf, dass die Überzeugung des Herzens noch keine philosophische Überzeugung sei. Denn: „Die Überzeugung muss sich auf Gründe stützen, und diese Gründe müssen wieder auf den angebornen Begriffen des reinen Verstandes ruhen, von welchen jede ewige und unveränderte Wahrheit herstammt“.38 Da holte Karamzin Lavaters Brief aus seinem Taschenbuche und las die erwähnte Stelle vor. [Interessanterweise ist diese aber in Richters deutscher Fassung nicht direkt dem Briefe Lavaters entnommen, sondern aus dem Russischen zurückübersetzt worden, wobei Karamzin ja Richters Übersetzung autorisiert hat (!).] Das klingt nun schon weitaus „materialistischer“: Das Auge ist so organisiert, dass es sich nicht selbst beschauen kann ohne Spiegel. Auch unser Ich sieht sich nur im Du. Das Gefühl der Existenz, die Persönlichkeit, die Seele – alles dies nur durch das da, was außer uns ist, durch die Phänomene oder Erscheinungen, die sich uns zeigen.39

Ein interessanter Fall von sprachlicher und semantischer Interpretation. Lavater, der Karamzins Drang zur Selbsterkenntnis dämpfen musste, indem er zugab, er verstehe nichts davon, wie die Seele auf den Körper wirke, erklärte: Ich bin – und reflektiere über mein Seyn, vergleich’ es mit andern Seynsarten – und kenne keine wie die Menschliche – darum nenn ich sie eine Königliche, Geistige, erhabene, zur

37 Karamzin, Perepiska, 23–25 [Herv. i. O.]. 38 Karamsin, BRR, 122. 39 Ebd., 123.

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Fortdauer und Vervollkommnung bestimmte Seynsart – freue mich deß, und grüble nicht weiter.40

Die von Karamzin gestellte Frage galt zwar als unbeantwortbar, die Antwort hingegen galt dennoch von vornherein als erwiesen. So dachten auch die Moskauer Freimaurer um Karamzin, für die bereits durch den Glauben die Zweckmäßigkeit der Schöpfung und deren innere Harmonie als erwiesen galt (siehe die Bezüge der Freimaurer zur Theodizee). Doch der nach eigener Identität durch Selbsterkenntnis ringende Karamzin konnte sich mit einer solchen Auskunft nicht ganz zufriedengeben. Es ist bezeichnend, dass Petrov, der in diese Korrespondenz eingeweiht war, in Briefen an seinen Freund vom 1. August 1787 und vom 30. Juni 1788 sein Mißgefallen an den Lavater durch Karamzin aufgezwungenen Fragen zum Ausdruck gebracht41 bzw. Karamzins Fragen ironisiert42 hat. Immerhin hatte Lavater ja praktisch – indem er Gesichtszüge mit den Eigenschaften der Seele in Beziehung gesetzt hatte – eine ihm mögliche anschauliche Antwort zu geben gesucht, die dieses Problem durchaus tangierte. Nicht unerheblich dürfte sein, dass Lavater Karamzins Frage für so wichtig gehalten hat, dass er eine Antwort darauf (also den Brief an Karamzin vom 16. Juni 1787) unter dem Titel Ueber Leib und Seele in den Antworten auf wichtige und würdige Fragen und Briefe weiser und guter Menschen (Berlin 1790) veröffentlichen sollte. Karamzin aber war in seinem Brief an Lavater vom 10. Juni 1788 bereits bemüht gewesen, eine Antwort auf die „Umgießung“ seiner Frage zu geben, derzufolge es keine unmittelbare Einwirkung der Seele auf den Körper gibt. Erforderlich war eine Vermittlung der in der Erfahrung tätigen Vernunft. H. Rothe hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Lenz – der von 1769 bis 1770 in Königsberg bei Kant studiert hatte – Karamzin auf die Hauptschrift des vorkritischen Kant, die Träume eines Geistersehers (1766), hingewiesen haben könnte, wo Kant den Standpunkt vertreten hat, dass der Mensch mit Sicherheit nur Erfahrungsurteile43 gewinnen 40 Karamzin, Perepiska, 25. 41 Bei Petrov heißt es am 1.08.1787: „Chudo by zaplatil ja tebe, ljubeznoj brat, za tvoju ko mne doverennost’ est’lib ne skazal tebe prjamo, čto pis’mo tvoe k Lafateru mne ne očen’ nravitsja. Počemu“? Mne kažetsja, čto ty nasil’no chočeš’ ego zastavit’ znat’ to, o čem on jasno i bez vsjakich obinjakov pisal k tebe, čto ne znaet i znat’ ne staraetsja.“ (Zitiert nach: Karamzin, Nikolai Michailowitsch, Pis’ma russkogo putešestvennika [im Folgenden PRP], Ju. M. Lotman/N.A. Marčenko/B.A. Uspenskij (Hg.), Leningrad 1984, 504). 42 In einem Brief vom 30.06.1788 fragt Petrov dann voller Ironie an: „Otpravleno li uže pis’mo k Lavateru s Luidorom? – Pročitaj sii voprosy, i peresmotri svoi kompozicii s otečeskoju ulybkoju, est’li one suščestvuet uže v telach; est’li že tol’ko duši ich nosjatsja v golove tvoej, to vstan’ s kresl, posdvin’ kolpak nemnožko so-lbu, priloži palec ko lbu ili k nosu, i ustremivši vzor na stolik, raspolagaj, čto kogda sdelat’; potom veli svarit’ kofe, podat’ trubku, sjad’ i delaj – čto tebe ugodno“ (Karamzin, PRP, 506). 43 Bei Kant heißt es (u. a. in Bezugnahme auf Swedenborg): „Alle solche Urteile, wie diejenige von der Art, wie meine Seele den Körper bewegt oder mit anderen Wesen ihrer Art jetzt oder künftig in Verhältnis steht, können niemals etwas mehr als Erdichtungen sein“ (Kant, Immanuel, Träume eines Geistersehers, Berlin 1954, 74f).

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könne.44 Diesen rein empirischen Standpunkt sollte Karamzin nun gegen Lavater und auch gegen den Metaphysiker Bonnet vorbringen: Ich lese fleißig Bonnets Schriften. So viele Aussichten mir der große Philosoph unserer Zeit auch eröffnet hat, so bin ich doch weit davon, mit allen seinen Hypothesen vollkommen zufrieden zu seyn. […] ich glaube, dass Gottes Weisheit die Weisheit aller unserer Philosophen weit übertrifft, und folglich andere, bequemere, als die von unseren Leibnitzen und Bonneten ihr zugeschriebene Mittel, ihre Geschöpfe hervorzubringen und zu erhalten, finden kann.45

In seinem Brief vom 15. März 1789 kündigte Karamzin Lavater seine Bildungsreise an und gab seiner Hoffnung Ausdruck, den Zürcher Weisen „nach vier oder fünf Monaten persönlich kennenzulernen“.46 Ein Besuch eines Bildungsreisenden bei Lavater wäre nach zeitgenössischem Verständnis auch dann unumgänglich gewesen, hätte man vorher nicht miteinander korrespondiert. Der Reisende Friedrich von Matthisson (1761–1831) hatte dies folgendermaßen formuliert: „In Zürich verweilen, ohne den berühmten Lavater zu begrüßen, das heißt, sich in Rom herumzutreiben, ohne das Anlitz des Mannes zu schauen, welcher auf dem Stuhle des heiligen Petrus thront“.47 In den Reisebriefen ist die Zeit von Karamzins Aufenthalt in Zürich auf den 10. August bis 17. August 1789 datiert48; er hatte Gelegenheit, Lavater persönlich kennenzulernen. Bereits Kant hatte im Gespräch mit Karamzin ein Urteil über Lavater abgegeben, das der junge Russe unkommentiert anführen sollte: „‚Lavater‘, sagte er, ‚ist sehr liebenswürdig, in Rücksicht seines guten Herzens; aber seine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft macht, dass er sich durch Phantome blenden lässt, an Magnetismus und dergleichen glaubt‘“.49 Am 1. Juli 1789 stellt Karamzin fest, Lavater sei einer von denen, welche die Berliner [gemeint sind Friedrich Nicolai und Johann Erich Biester] bei jeder Veranlassung necken.50. Von der Aufnahme durch Lavater bei seinem Besuch am 10. August 1789 ist

44 Vgl. Rothe, Karamzins europäische Reise, 70. 45 Karamzin, PRP, 493. 46 Ebd., 47: „Da bleib ich bei Ihnen, und geniesse, wenn Sie es mir vergönnen, einige Monate Ihren Umgang, Ihre Lehren […].“ 47 Matthisson, Friedrich von, Schriften. Ausgabe letzter Hand, Bd. 2, Zürich 1825, Abschnitt II (Eintritt in die Schweiz 1787), 144. 48 Siehe dazu auch Bemerkungen zu realen Aufenthaltszeiten und Begegnungen Karamzins bei: Gellermann, Svetlana, Karamzine à Geneve: Notes sur quelques documents d’archives concernat les Lettres d’un Voyageur russe, in: M. Bankovski u. a. (Hg.), Fakten und Fabeln: Schweizerisch-slavische Reisebewegung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Basel/Frankfurt a. M. 1991, 73–90. 49 Karamsin, BRR, 46. 50 Ebd., 82.

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Karamzin gar nicht angetan, denn sein einstiges Idol hat zunächst gar keine Zeit für ihn. Schließlich führt er ihn aber in die Gesellschaft der Zürcher Gelehrten zu Professor David Breitinger (1737–1811), wo er auch Pfenniger kennenlernen konnte. Zu Lavaters Persönlichkeit wusste Karamzin nach diesem ersten Eindruck Folgendes zu bemerken: „In seinem Tone ist etwas Dozierendes oder Diktatorisches, das ihm wahrscheinlich vom Predigen anklebt, das aber durch einen Blick der unverstellten Aufrichtigkeit und Herzenseinfalt gemildert wird“.51 Karamzin hat von Lavater zwei Manuskripte gekauft, das der Hundert geheimen physiognomischen Regeln sowie das mit dem Titel Denkmal für liebe Reisende, welches in der Handbibliothek für Freunde gedruckt worden ist.52 Am Morgen des 12. August 1785 hatten Karamzin, Lavater und Johann Jakob Hess (1741–1828) einen Landgeistlichen in Stallikon oberhalb des Zürichsees besucht. Es war ein Bruder des Zürcher Chorherrn und theologischen Schriftstellers Johann Tobler und des Zürcher Kaufmanns Heinrich Tobler.53 Karamzin wird durch Lavater mit den Worten vorgestellt: „Ich bringe Ihnen einen Russen, der Ihre Anverwandten in Russland kennt“.54 Lavater hat Karamzin erlaubt, ihm schriftliche Fragen vorzulegen, und gab ihm jeweils gegen Abend die schriftliche Antwort, wobei er eine Kopie zurückbehält. So stellte Karamzin die Frage: „Was ist der allgemeine Zweck der Menschheit, oder das allgemeine Ziel unsers Daseyns, das für Dumme und für Weise gleich erreichbar wäre?“55 Lavater hat darauf geantwortet: Daseyn ist der Zweck des Daseyns. Daseynsgefühl, Daseynsfrohheit56 der Zweck von allem, was der Mensch suchen kann… Untersuchen Sie genau – ‚Was ist’s eigentlich, wodurch und worinn Sie am liebsten – oder – am solidesten existieren? Giebt Ihnen das, worinn Sie am liebsten existieren, die solideste, sutenableste Existenz? Was verschafft Ihnen am meisten Genuß – Genuß, versteht sich, der nie gereuen kann, der genossen und nicht genossen, immer mit Ruhe und innerer Geistesfreyheit wiedergewünscht werden kann? darf? soll? muß?‘ Wie das Medium, das sie sich wählen, Werth hat, Existenz hat – so haben Sie selbst Werth, Sie selbst Existenz!

Wie Karamzin bereits in einer Fußnote der ersten Buchausgabe seiner Reisebriefe mitteilt, erschien diese Antwort bereits 1790 gedruckt in Lavaters Antworten auf 51 Ebd., 225. 52 Ebd., 242. Die „Hundert physiognomischen Regeln“ teilte Lavater nur handschriftlich seinen vertrauten Freunden mit (zum Besten der Armen) und bat, „sie nicht in die unreinen Hände des Publikums kommen zu lassen“. 53 Vgl. Ganz, Werner, Die Tobler aus Zürich (1626–1926): Eine historische Studie, Zürich 1928, Stammtafel 7, Generation VI. 54 Karamsin, BRR, 229. 55 Karamzin, Perepiska, 47. 56 Für „Daseynsfroheit“ existiert Karamzins Lehnübersetzung „radost’ bytija“, erstmals in den „Pis’ma russkogo putešestvennika“ verwandt (vgl. dazu: Hüttl-Worth, Gerta, Bereicherung des russischen Wortschatzes im XVIII. Jahrhundert, Wien 1956, 172).

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wichtige und würdige Fragen und Briefe weiser und guter Menschen.57 Lavater hält Karamzins Frage offenbar für so wichtig, dass er sie und seine Antwort darauf unter der Überschrift Über Zweck des Daseyns. An Herrn Karamsin aus Moskau in Zürich an den Anfang seines Bandes gestellt hat. Frage und Antwort tragen den Vermerk „Zürich, Donnerstags Abends den 20. August 1789“, Lavaters Vorbericht hingegen die Orts- und Datumsangabe „Klein-Riechen bey Basel. Donnerstag Morgens, den 30. Julius 1789“. Daraus lässt sich schließen, dass Lavater Karamzins Frage und seine Antwort nachträglich in seine Antworten auf wichtige und würdige Fragen und Briefe weiser und guter Menschen aufgenommen hat. Lavater erntete für seinen Band und insbesondere für die Antwort auf Karamzins Frage eine recht bissige Kritik eines Berliner Rezensenten in der Allgemeinen deutschen Bibliothek. Karamzin hat diese Polemik in einer Fußnote zu den Pis’ma russkogo putešestvennika angedeutet und Lavater gegen die „scharfsinnigen Herren Berliner“ verteidigt.58 Von Ende 1790 datierte der letzte Brief Karamzins an Lavater. Dies lag wohl vor allem daran, dass das von Karamzin sogleich mit einer gewissen Skepsis betrachtete Projekt einer Ausgabe von Lavaters Schriften in Rußland59 nicht zustande kam.60 Dennoch existierte bereits eine in Manuskriptform verbliebene, von Aleksej Smirnov besorgte russische Übersetzung einer erst 1802 im Druck erschienenen physiognomischen Schrift Lavaters, die den Vermerk „15. Januar 1789“ trägt. 57 Lavater, Johann Caspar, Antworten auf wichtige und würdige Fragen und Briefe weiser und guter Menschen, Bd. 1, Berlin 1790, 13–15. 58 Karamsin, BRR, 248 (Anmerkung). Dort heißt es: „Der erste Aufsatz in diesem Journal ist die Antwort auf meine Frage vom Zwecke des Daseins. Dem Berliner Rezensenten in der ‚Allgemeinen deutschen Bibliothek‘ kommen die Ausdrücke: konstante, solide, sutenabelste Existenz – Dasein ist der Zweck des Daseins etc. lächerlich vor. ‚Herr K.‘, sagt er, ‚ist wahrscheinlich mit dem Spiele des Lavaterschen Ideenganges bekannter als wir, und wir überlassen es also ihm, diese Erklärung vom Zwecke des Daseins zu verstehen.‘ – In der Tat scheinen mir auch, trotz dem Spotte der so scharfsinnigen Herren Berliner, Lavaters Gedanken nicht nur verständlich und richtig, sondern sogar ganz gewöhnlich; allein die Ausdrücke können mit Recht neu genannt werden. Übrigens mag Herr Adelung allerdings Ursache haben, sich über Lavaters Sprachunreinigkeit zu beklagen“. 59 Im 18. Jahrhundert ist laut Kondakov, Ivan Petrovič u. a. (Hg.), Svodnyj katalog russkoj knigi graždanskoj pečati XVIII veka 1725–1800, Moskau 1964 in russischer Sprache nur ein einziger (selbständiger) Titel erschienen, und zwar: Lafater, Iogann Kaspar, Nravoučitel’nyja nastavlenija slugam, sočinenie slavnago Lavatera, s prisovokupleniem dobrych sovetov o vospitanii detej i Sredstvo k preuspevaniju v dobre, Spremberg 1799 (Kondakov, Svodnyj katalog, 32). Im Jahre 1808 ist dann in Petersburg folgender übersetzter Titel erschienen: „Novejšij, polnyj i ljubopytnyj sposob, kak uznavat’ každogo čeloveka svojstva, nrav i učast’ po ego složeniju ili opytnyj fiziognomist i chiromantik slavnogo Lafatera“. 60 „Er [Lavater] wünscht, ich möge eine Auswahl seiner Werke im Russischen herausgeben. ‚Wenn Sie nach Moskau zurückgekehrt sind‘, sagte er, ‚so werde ich Ihnen das Originalmanuskript durch die Post übersenden. Sie können eine Subskription sammeln und dabei das Publikum versichern, dass in dieser Auswahl auch nicht ein einziges Wort sein werde, das nicht reiflich überdacht wäre‘. – Was meint Ihr zu diesem Vorschlage, meine Freunde! Werden sich wohl Leser für ein solches Buch bei uns finden? Ich glaube, nur wenig. Doch habe ich Lavaters Vorschlag angenommen, und wir haben uns die Hand darauf gegeben“ (Karamsin, BRR, 238). Ein solches Projekt wurde bekanntlich nicht ausgeführt.

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Gabriela Lehmann-Carli

Lavater hatte Karamzin damit beauftragt, für den Vertrieb von einigen Exemplaren der französischen Übersetzung der Physiognomischen Fragmente, deren erste drei Teile bereits zwischen 1781 und 1786 erschienen waren, in Russland zu sorgen. 1802 hat Karamzin dann in der Fußnote zu einem Artikel im Vestnik Evropy über die letzten Tage Lavaters diplomatisch von einer „Achtung vor den Talenten des Autors“ gesprochen. Jedoch sollte er sich auch unzweideutig über Lavaters physiognomische Studien61 äußern: „Doch die Physiognomie wird nie eine echte Wissenschaft werden,62 die sich auf Regeln gründet. Lavater hat sich tausendmal selbst betrogen“.63 Wenn sich auch der reifere Karamzin Lavater gegenüber weitaus distanzierter verhalten hat,64 so bleibt doch die Tatsache, dass der Zürcher Weise dem russischen „prosveščenie“ (der Aufklärung) eine spezielle Nuance gegeben hat. Empfindsamkeit, „Anschaubarkeit Gottes im Menschen“, verinnerlichte Frömmigkeit und Selbstbeobachtung zwecks Vervollkommnung des Individuums seien hier weitere Stichworte im Ringen um einen Subjektbegriff und um pädagogische Normen.65 Philosophisch-literarische Kreise und Salons lösten zwar in Russland schließlich die Freimaurerlogen funktional ab. Doch im Družeskoe literanaturnoe obščestvo (1801), dem Andrej Turgenev (Sohn des Freimaurers I.P. Turgenev und Schüler eines Tobler) vorstand und im literarischen Zirkel des Arzamaz (1815), wurde diese spezifische (anthropologisch-freimaurerische) Strömung der russischen Aufklärung z. T. literarisch tradiert. Karamzins Lavater-Rezeption dürfte daran nicht ganz unbeteiligt gewesen sein.

61 Lavaters physiognomische Ideen sind besonders in der französischen Literatur stark rezipiert worden (vgl. Weigelt, Lavater. Leben, Werk, Wirkung, 115). Zwischen 1802 und 1803 waren die Physiognomischen Fragmente in französischer Sprache sogar in einer bibliophilen Ausgabe erschienen. 62 In der Einleitung zur zweiten Ausgabe seiner gegen Lavater gerichteten Streitschrift Über Physiognomik: wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis hat der Göttinger Physiker und Opponent Lavaters, Georg Christoph Lichtenberg, den „Mischcharakter“ dieser Theorien hervorgehoben, wenn er konstatiert, die Lavatersche Physiognomik sei „grober Aberglaube“, der „die Maske der Vernunft trägt“ (Promies, Wolfgang [Hg.], Schriften und Briefe, Bd. 3, München 1972, 257). 63 Vestnik Evropy 6 (1802), 108 (Anmerkung): „No fiziognomika nikogda ne budet vernoju nakoju, osnovannoju na pravilach. Lavater tysjaču raz sam obmanyvalsja“. 64 Vgl. dazu auch: Kočetkova, Natal’ja Dmitrievna, Literatura russkogo sentimentalizma (Ėstetičeskie i chudožestvennye iskanija), Spremberg 1994, 191–194. 65 Prokopovič-Antonskij hat sich ausdrücklich auf Lavater berufen: „Lice est’ zerkalo duši. Ne mnogo Lafaterov! Ne dlja mnogich značitel’no sie zerkalo, ne mnogie sposobny čitat’ v samych tonkich, edva-edva primetnych ottenkach lica sokrovennye svojstva duši čelovečeskoj, meždu tem kak vsjakij počti legko možet raztičit’ oščutitel’nye čerty dobrodeteli i poroka“ (Prokopovič-Antonskij, Anton A., Slovo o vospitanii, Moskau 1798).

Michael Vesper

„Wahre“ Aufklärung, Schwärmerei und Obskurantismus Konfliktfelder der Spätaufklärung am Beispiel eines Briefwechsels zwischen Johann August Starck und Johann Caspar Lavater

Einleitung In die Zeit vom September 1787 bis März 1788 fällt ein Briefwechsel zwischen dem Theologen, Freimaurer und theosophischen Alchemisten Johann August Starck (1741–1816)1 und Johann Caspar Lavater. Starck wirkte seit 1781 als Oberhofprediger und Konsistorialrat und hatte sich als spiritueller Berater des Erbprinzen und späteren Landgrafen und Großherzog Ludewig X. (I.) von Hessen-Darmstadt (1753–1830, regiert seit 1790) in der Residenzstadt Darmstadt etabliert. Der ephemere Briefwechsel2 soll als Kristallisationspunkt dienen, um aufklärerische und gegenaufklärerische Diskurse des Jahrzehnts vor der Französischen Revolution zu veranschaulichen. Anlass zu der Korrespondenz gab die wohl einzige substanzielle Gemeinsamkeit, die die beiden protestantischen Theologen und Pfarrer zu verbinden schien: Beide sahen sich als „Schwärmer“ und „Obskuranten“ an den Pranger der aufklärerischen Kritik gestellt.

1 Zur Biografie siehe Vesper, Michael, Aufklärung – Esoterik – Reaktion. Johann August Starck (1741–1816). Geistlicher, Gelehrter und Geheimbündler zur Zeit der deutschen Spätaufklärung, (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte 3), Darmstadt 2012, 23–147; Sumalvico, Thea Bettina: Umstrittene Taufe. Kontroversen im Kontext von Theologie, Philosophie und Politik (1750–1800), (Hallesche Forschungen 64), Halle, Wiesbaden 2022; es gibt ein eigenes Kapitel über Starck. 2 Zentralbibliothek Zürich (ZBZ), Fasz. Caspar Lavater, Ms 527, Nr. 147–150; Ms 582, Nr. 82–83.

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Michael Vesper

Abb. 1: Kupferstich von Samuel Gottlob Küt(t)ner (1747–1828) als Vorblatt des ersten Bandes der Geschichte der christlichen Kirche des 1. Jahrhunderts. Berlin/Leipzig 1779. Kütner wirkte seit 1776 Zeichenlehrer an der Academia Petrina in Mitau (Kurland) und fertigte auch Porträts als Kupferstecher. An der Akademie lehrte Starck zur Zeit der Veröffentlichung. Es ist die einzige Publikation, die nicht nur Vignetten, sondern auch ein Porträt enthält. Die Machart könnte als Statement zu verstehen sein: Der als „Heterodoxer“ aus Königsberg „vertriebene“ Theologe tritt seinen Gegnern in der Pose „Der heiligen Schrift Doktor“ entgegen und verweist so auf seine Gelehrtenkompetenz. Vielleicht ein Hinweis darauf, wie einst auch Martin Luther sein Recht auf eigenständige theologische Positionen, gewonnen aus den Heiligen Schriften, begründet hatte.

1. Die Krypto-Katholizismus-Kampagne In der Neuen Deutschen Biographie findet sich der auf Lavater gemünzte Vorwurf, L[avater]s Zuneigung zum Obskur-Wunderbaren und zu dessen dubiosen Vertretern, wie der Wasserschauerin Elisabeth Tüscher aus Biel, dem von Kant angeprangerten ‚Geisterseher‘ Emanuel Swedenborg, dem Exorzisten Joh. Joseph Gassner und dem Begründer

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der Lehre vom Magnetismus, Franz Anton Mesmer, und nicht zuletzt sein Umgang mit dem ‚Grafen Cagliostro‘ Giuseppe Balsamo und seine Reise zu einer Spiritistenloge nach Kopenhagen (1793) kompromittierten ihn immer wieder und bewirkten die Entfremdung von Freunden wie Goethe und Herder.

Und weiter heißt es, die Verbindung von Bibelexegese, emotionalen Ergüssen und einem auf dem Mesmerismus – den 1785 das Parlament von Paris verurteilt hatte – beruhenden Wunderglauben machte L[avater]s Schrifttum, ohne den Schutz des hermetischen Ausdrucks wie bei Hamann, und trotz der persönlichen Integrität des Verfassers, in den Jahren zwischen 1780 und 1790 zum Synonym für Schwärmerei und Irrationalismus.3

Und ebenso galt Starck als „Obskurantist“ – als ein „Jesuit der 4. Klasse“, der in Darmstadt gar mit Tonsur durch die Gassen wandle, mit seinem irrationalistischen Freimaurersystem die Menschen benebeln und reif machen wolle für die Übernahme durch die römisch-katholische Kirche.4 Beide Männer waren Opfer und Gegenstand einer Kampagne, die von Friedrich Nicolais (1733–1811) vielbändiger und lesenswerter Beschreibung einer Reise durch Deutschland im Jahr 1781 ihren Ausgang nahm5 und von den Herausgebern der Berlinischen Monatsschrift (1783–1811), dem Theologen und Bildungsreformer Friedrich Gedike (1784–1803) und dem Bibliothekar Johann Erich Biester (1749– 1816) aufgegriffen und zu einer veritablen Verschwörungstheorie ausgebaut wurde. Nicht zufällig fallen das Erscheinen des ersten Bandes der Reisebeschreibung und der Beginn der Berlinischen Monatsschrift beide in das Jahr 1783. Die Beschreibung einer Reise durch Deutschland wandte sich an verschiedenen Stellen polemisch gegen die Glaubenspraxis in den katholischen Territorien Süddeutschlands, Österreichs und der Schweiz, gegen den Jesuitenorden und gegen die Wirksamkeit seiner Auffassung nach „antiaufklärerischer Personen“ wie Johann Caspar Lavater, Cagliostro und Starck. Die von Nicolai propagierte Gleichsetzung von Katholizismus und Rückständigkeit, die gegensätzliche Gegen-

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Proß, W., Art. Lavater, Johann Caspar, NDB 13, 1982, 746–750. Vesper, Starck, 128–136; Blum, Jean, Johann August Starck et la querelle du crypto-catholicisme en Allemagne 1785–1789, Paris 1912, 77–153. Nicolai, Friedrich, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahr 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, 8 Bd., Berlin/Stettin 3 1788. Die Publikation wurde bis 1796 fortgesetzt und erreichte schließlich 12 Bände. Die Beschreibung der mit dem Ziel des empirischen Erkenntnisgewinnes vorbereiteten Reise hatte sehr viel mehr zu bieten, als hier dargestellt, und lieferte in größerem Umfang exakte Beobachtungen zu verschiedenen Lebensbereichen, wobei der Autor auch aufwendige Recherchen nicht scheute. Möller, Horst, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 15), Berlin 1974, 105; ders., Landeskunde und Zeitkritik im 18. Jahrhundert. Die Bedeutung der Reisebeschreibung von Friedrich Nicolai, Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 27 (1977), 107–133.

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überstellung von katholischer Religion und Aufklärung beherrschte grundsätzlich vollkommen sein Denken und seine Wirklichkeitserfahrung. Nicolai sah für das katholische Deutschland eine unüberschreitbare Grenze der Öffnung für die Aufklärungsbewegung: Gleichwohl [trotz vereinzelter Bemühungen um Aufklärung, M.V.] findet sich, wenn man die Sache aufmerksam betrachtet, daß das Katholische, das Allgemeine, das Ausschließende, das Unfehlbare, welches der Geist der katholischen Konfession ist, nicht nur auf Theologie und Religion, sondern auch auf Sitten und Wissenschaften den unmittelbarsten Einfluß hat, und allem eine Farbe giebt, die dem Sinn derer, die nicht katholisch, nicht allgemein, nicht ausschließend, nicht unfehlbar seyn, sondern beständig fortschreiten wollen, in der That ganz entgegen gesetzt ist. Hierdurch nimmt bey den Römischkatholischen die Denkungskraft in vielen Fällen einen ganz andern Weg. Alles wird anders, wenn man im Denken nicht weiter gehen darf, als es Superiorum permissione geschehen kann; und Geist und Hand sinken, sobald man auf einen von der unfehlbaren Kirche für ausgemacht ausgegebenen Satz stößt, der also, man sey überzeugt oder nicht, stehen bleiben muß.6

Verständnislos und schnell bereit zu einem verächtlichen Urteil sei es über Wallfahrten, über die Verehrung von Marien- und Heiligenbildern oder die monastische Lebensform, Prozessionen, Feiertage und überhaupt alles, was katholische Lebens- und Glaubenskultur ausmacht, verstieg sich der Buchhändler sogar zu der Auffassung, Katholiken seien durch eine bestimmte „Religionsphysiognomie“7 zu erkennen. Insbesondere war der Reisende überzeugt, der Jesuitenorden sei zwar 1773 aufgehoben worden, hätte aber (in Bayern) noch „den größten Einfluß“ und weckte immer „neue Unruhen“. Nicolai räumte ein, zwar seien die Priesterseminare mittlerweile nicht mehr in der Hand des Ordens. Aber er witterte die Präsenz der getarnten Ordensmitglieder dennoch überall: Es giebt Leute, welche überzeugt sind, dass die Exjesuiten, unter verschiedenen Namen und Gestalten, noch ein ganzes sehr wichtiges Korpus ausmachen; und diese sind der Meinung, dass auch die Missionen der Jesuiten in England und ihre Seminarien gar nicht erloschen sind. Dieß ist im Ganzen eine sehr dunkle Sache, welche ich gern dahin gestellt seyn lasse, bis sie vielleicht einmal bei irgend einer Veranlassung näher wird aufgeklärt werden.8

Typisch auch für den Verschwörungsglauben ist die Mischung von Unbestimmtheit der Quellenangaben und ungesicherten Vermutungen mit der hintergründigen Überzeugung von der Existenz einer allgegenwärtigen und doch nicht fassbaren Gefahr. Das Verbot des Jesuitenordens auch in Deutschland im Jahr 1773 gab nicht Anlass zu selbstbewusstem Vertrauen auf den Fortschritt der Aufklärung,

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Nicolai, Beschreibung, Bd. 1, 107. Ebd., 136–145. Ebd., 386.

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sondern erzeugte noch größere Furcht vor dem eigenen Feindbild. Je unsichtbarer der Feind, desto gefährlicher ist er und desto wichtiger die Aufgabe des Sehenden, der sich nicht in Sicherheit wiegen lässt, der Öffentlichkeit die Gefahr hinter den Kulissen zu enthüllen. Das antikatholische Feindbild9 verband sich mit einem anderen wichtigen Motiv der deutschen Spätaufklärung, dem Glauben von der Wirkungsmächtigkeit geheimer Gesellschaften: Vorher kannte man wenigstens die Jesuiten, jetzt sind sie unbekannt, verbinden sich immer enger mit Weltleuten in Zweigen geheimer Gesellschaften, und wirken eben so zusammenhängend und eben so mächtig als vorher. Sie sind jetzt wirklich eine geheime Gesellschaft, und machen deshalb noch einen schädlichern Statum in Statu aus, als vorher. Ein Mann, der die katholische Welt zu kennen scheint, redet von Jesuiten in Federhüten und Ordensbändern, die den Thron umzingeln; und diese sind gewiß in allen Ländern, auch in protestantischen vorhanden.10

Nicolai entwarf das Bild eines weiterhin zentralistisch geleiteten Ordens, in dem „Brüder, die nichts als Werkzeuge sind“11, „Vereinigungsplane machen, Intriquen spinnen, Geheimgesellschaften fabriciren“ und mit unsichtbarer Macht ihre Bemühungen fortsetzen, „die Finsterniß auszubreiten“,12 um schließlich ihren einzigen wahren Zweck zu erreichen – „das ganze menschliche Geschlecht zu beherrschen“.13 Nicolais Reisebeschreibung zeigte sich an diversen Stellen irritiert über die Existenz des Katholizismus und des katholischen Brauchtums im aufgeklärten Deutschland. Der Antikatholizismus verband sich mit der aufklärerischen Kritik an „philosophischen Unholden“ – Adepten der Alchemie, des Okkultismus, magischer und naturphilosophischer Lehren und auch dem undurchsichtigen Geheimbundwesen – z. B. verbunden mit den Namen Graf von St. Germain (1710–1784), Emanuel Swedenborg (1688–1772), Johann Georg Schrepfer (1738–1774), Gottlieb Franz Freiherr Gugomos (1743–1816), Giuseppe Balsamo alias Alessandro Cagliostro (1743–1795) und auch Starck. Dieses Phänomen ließ die Berliner Aufklärer und ihre Mitstreiter am aufgeklärten Zustand des Zeitalters zweifeln, wenn nicht verzweifeln. Johann Christoph Adelung (1732–1806) begann just in jenen Jahren seine als umfassendes Geschichtswerk angelegte Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophi-

  9 Zum Antijesuitismus und Antikatholizismus vgl. am Beispiel Semlers auch: Stengel, Friedemann, Mit wem sprach Semler? Unterhaltungen mit Lavater oder Johann Salomo Semler und das Ende der Aufklärung, in: R. Geffarth u. a. (Hg.), Kampf um die Aufklärung? Institutionelle Konkurrenzen und intellektuelle Vielfalt im Halle des 18. Jahrhunderts, Halle 2018, 300–334. 10 Nicolai, Beschreibung, Bd. 6, 727. 11 Ebd. 12 Ebd., 732. 13 Ebd., 743.

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scher Unholden. Die Publikation erschien zunächst anonym und wuchs bis 1789 auf sieben Bände an.14 So ist beim Krypto-Katholizismus-Verdacht eine wesentliche Ausweitung des Gefechtsfeldes zu beobachten. Die Autoren der Berlinischen Monatsschrift warnten vor falschen Propheten und Endzeiterwartungen,15 prangerten Exorzismus an,16 wandten sich gegen Numerologie17 und alle Arten von Weissagungen, pro­blematisierten die Lektüre mystischer Schriften (im psychologischen Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz [1756–1793]),18 verurteilten Astrologie,19 Geisterseherei im Allgemeinen20 und die Lehren Swedenborgs21 im Besonderen ebenso wie Schatzgräberei und Alchemie.22 Doch auch „Wahnsinn“ verursachende Religionsmeinungen,23 Bußpredigten und Ohrenbeichte,24 die Annäherung von Katholiken und Protestanten zumindest im liturgischen Bereich25 mussten sich vor dem Gericht der Aufklärer verantworten. Besonders suspekt waren alle Formen theosophisch-naturphilosophischen Denkens – sei es nun in der Tradition Jacob Böhmes (1575–1624) oder seines zeitgenössischen Schülers Louis Claude de Saint-Martin (1743–1803) oder auch spekulative Überlegungen wie die Franz Anton Mesmers (1734–1815) zum Magnetismus26 oder gar eines der Hauptvertreter der 14 Adelung, Johann Christoph, Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden, 7 Bd., Weygand/Leipzig 1785–1789. Ein weiterer Band erschien 1799 in Göttingen: Ders., Gallerie der neuen Propheten, apokalyptischen Träumer, Geisterseher und Revolutionsprediger, Göttingen 1799; die Bände sind bequem als Digitalisat der Bayerischen Staatbibliothek München verfügbar. Vgl. dazu auch Kühlmann, Wilhelm, Vernunftdiktatur und Sprachdiktatur. Jakob Böhme bei Gottsched und Adelung, in: W. Kühlmann/F. Vollhardt (Hg.), Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin/Boston 2012, 579–603. 15 Berlinische Monatsschrift 1 (Jan. 1783), 42–79; ebd., (Mrz. 1783), 266–276; ebd., 4 (Nov. 1784), 483–441. 16 Ebd., 2 (Jun. 1783), 595–604. 17 Ebd., 2 (Aug. 1783), 143–150. 18 Ebd., 2 (Sep. 1783), 357–364. Das hier abgedruckte Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte findet sich im ersten Kapitel des ab 1785 bis 1790 veröffentlichten Romans verarbeitet. Thematisiert wird hier vor allem der mystische Pietismus des Vaters, aus dessen Bedrückung sich Anton Reiser zu befreien sucht. Erwentraut, Kirsten, Anmerkungen, in: Moritz, Karl Philipp, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman in vier Teilen, Düsseldorf 22006, 747f. 19 Berlinische Monatsschrift 2 (Dez. 1783), 537–541. 20 Ebd., 6 (Sep. 1785), 301. 21 Ebd., 11 (Jan. 1788), 4–38. 22 Ebd., 4 (Nov. 1784), 426–428. 23 Ebd., 428f. 24 Ebd., 471–479. 25 Ebd., 7 (Jan. 1787), 57–87. Hierzu: Lang, Berthold, Gustav Sailer und seine Zeitgenossen, Regenburg 1932, 212–214. Johann Michael Sailer (1751–1832) war ein Freund Lavaters. Dem Theologieprofessor in Dillingen wurde vorgeworfen, er wolle mit seinem Gebetbuch für katholische Christen (1783) Protestanten werben („Proselytenmacherey“). Sailer hat ähnlich wie später Starck seinen Berliner Gegnern grundsätzlich geantwortet: Das einzige Märchen in seiner Art. Eine Denkschrift für Freunde der Wahrheit für das Jahr 1786. Gegen eine sonderbare Anklage des Herrn Friedrich Nicolai, München 1787. 26 Berlinische Monatsschrift 5 (Jan. 1785), 15–32.

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aufklärerischen Theologie („Neologie“) – Johann Salomo Semler (1725–1791) zum „Luftsalzwasser“.27 Insgesamt sollten sie alle die Basis der Aufklärung untergraben, auch Johann Caspar Lavaters Schriften, die statt der seit René Descartes (1596–1650) geforderten „klaren und bestimmten Begriffe“ nur „dunkle Gefühle“ verbreiteten.28 Wenn nun diese Kritik auch einen Lavater, einen Starck traf, dann eben Männer, die ja in den 60er und 70er Jahren aus dem gleichen Stamm der Aufklärungsgesellschaft sprossen. Damit musste man sich auseinandersetzen. Nicht zufällig ist es eben die Berlinische Monatsschrift, ist es der Kreis der Berliner Mittwochsgesellschaft, die zur Beantwortung der Frage aufrief „Was ist Aufklärung?“ – und damit zugleich die Grenze ziehen wollte: „Was ist nicht (mehr) Aufklärung?“29 Die 80er Jahre des 18. Jahrhunderts sahen die Aufklärungsbewegung in einer Befindlichkeitskrise, einem Prozess der Desintegration. Sehr gezielt widmeten sich die Herausgeber und viele Autoren der Berlinischen Monatsschrift eben diesem Ziel einer Aufklärungskritik – oder anders gesagt: der Selbstreinigung der Aufklärungsbewegung mittels Ausgrenzung nicht als konform geltender Gedanken, Meinungen, Personen und Institutionen. Biester und Gedike nahmen „Eifer für die Wahrheit, Liebe zur Verbreitung nützlicher Aufklärung und zur Verbannung verderblicher Irrthümer“ als Missionsauftrag ihres Projektes in Anspruch.30 Die produktive Vielseitigkeit und hohe Qualität der Beiträge und Beiträger machte die Zeitschrift zu einem Forum aufklärerischer Diskurse. Dies geschah in dem Gefühl, die Errungenschaften der Aufklärungsbewegung seien bedroht von einem anwachsenden in vielerlei Gestalt gegenwärtigen Feind. Schon im ersten Band nahm der Philosoph Johann August Eberhard (1739–1809) sich eine Spukgeschichte vor und zeigte sich überzeugt, „dass dadurch dem Reiche des Aberglaubens wiederum etwas werde genommen, das Reich der Wahrheit erweitert, und das Herz aufrichtiger Christen von einer unchristlichen Furcht befreiet“ werde.31 Gedike nutzte das Thema zu einem programmatischen Nachtrag, der das Selbstverständnis der Aufklärer formulierte: Die Quellen des Aberglaubens sind ebenso versteckt und in ihrem ersten Ursprung so gering und unbedeutend, als die Quellen des Nil. Sie schwellen nach und nach zum Strohm auf, der, ohne den Boden zu befruchten, über seine Ufer tritt, und Vernunft und Wahrheit mit sich fortschwemmt.32

27 Ebd., 8 (Aug. 1788), 174–179 (polemisch kommentierter Brief Semlers). Vgl. Stengel, Semler. 28 Ebd., 5 (Jan. 1785), 63–65. 29 Die Frage wurde gestellt von dem Theologen Friedrich Zöllner, der sich dagegen wandte „unter dem Namen der Aufklärung die Köpfe und Herzen der Menschen zu verwirren“ (Berlinische Monatsschrift 2 [Dez. 1783], 516). Er reagierte damit auf den „Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei der Vollziehung von Ehen zu bemühen (ebd. 2 [Sep. 1783], 255–276). Siehe: Hinske, Norbert (Hg.), Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, Darmstadt 1973. 30 Berlinische Monatsschrift 1 (Jan. 1783), 1. 31 Ebd., 5–26, hier 6. 32 Ebd., 22.

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Starck im Besonderen sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, er sei ein verkappter Katholik, sein Orden, der von 1767 bis 1779 bestand, „[d]as Klerikat“, die Keimzelle eines Versuches das aufgeklärt protestantische Umfeld zu unterwandern und für die Rekatholisierung reif zu machen.33 Starker Tobak und durchaus existenzgefährdend – wobei es keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass Starck zu irgendeinem Zeitpunkt die Gunst des Landgrafenhauses verloren hätte. Der Landgraf selbst war ein großer Geisterseher, der Erbprinz und seine Brüder waren mit Starck in einem theosophischen Geheimbund verbunden, Starck war dessen Kopf. Letzteres blieb aber unbekannt und unter der Oberfläche. In der Berliner Mittwochsgesellschaft, dem gesellschaftlichen Pendant zur Monatsschrift, hielt Gedike 1784 einen Vortrag Über die heutige Schwärmerei, wie die nicht vernunftgemäßen Geisteshaltungen des Zeitalters genannt wurden. „Überall wimmelt es von Theosophen und Chiliasten, Rosenkreuzern und Alchimisten, hermetischen Philosophen und Parazelsisten, Geistersehern und Geisterbannern, Inspirierten und apokalyptischen Träumern“, beklagte er und sagte ihnen den Kampf an.34 Es ist keineswegs so, dass die Berliner hier alleine standen. Die irritierende Häufung von Geisterseherei, magischen Praktiken, Freimaurersystemen mit esoterischer Philosophie, alchemistischen Wundertätern – so empfand man es – stellte das Projekt der Aufklärung in Frage oder zumindest den Grad der Aufgeklärtheit des Zeitalters. Ja, man befürchtete das Rollback: Der Kantschüler Viktor Leberecht Plessing (1749–1806) orakelte: „Durch Schwärmerei und Aberglauben steht uns […] Einschränkung der Denkfreiheit, ja, wohl schlimmeres bevor.“35 Anti-Katholizimus, Anti-Jesuitismus und die ungeklärten Konflikte innerhalb der Hochgradfreimaurerei und ihrer theosophisch-alchemistischen Ausrichtung verbanden sich zu einer spezifischen Verschwörungstheorie. Demnach seien die „Inneren Orden“ – d. h. die Leitungsorgane der Freimaurersysteme zwischen 1770 und 1790 – nur Vehikel einer jesuitischen antiaufklärerischen Verschwörung. Arkane Zeichensysteme wurden entsprechen „dechiffriert“. Andererseits ist es auch keineswegs so, dass dieses Gedankenkonstrukt keinen Widerspruch gefunden hätte. Es entbrannte vielmehr eine kontroverse Diskussion unter den Intellektuellen der Aufklärungsbewegung selbst – Kritik der Kritik.36 33 Ebd., 8 (Jul. 1786), 41–100: „Noch etwas über geheime Gesellschaften im protestantischen Deutschland“. Hier wird Starck erstmals namentlich genannt und als verkappter Jesuit angesprochen, der mit seinen okkulten Systemen der katholischen Kirche den Weg bereiten wolle. 34 Zit. nach Hinske, Norbert, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: K. Gründer/N. Rotenstreich (Hg.), Aufklärung und Haskala aus jüdischer und nichtjüdischer Sicht, (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 14), Berlin/Boston 2012, 84. 35 Krüger, Gerhard, … gründeten auch unsere Freiheit: Spätaufklärung, Freimaurerei, preußischdeutsche Reform, der Kampf Theodor von Schöns gegen die Reaktion, Hamburg 1978, 9f. 36 Beispielhaft: Schulz, Günter, Christian Garve im Briefwechsel mit Friedrich Nicolai und Elisa von der Recke, in: Ders./Lessing-Akademie Wolfenbüttel (Hg.), Zur Sozialgeschichte der Literatur und Philosophie im Zeitalter der Aufklärung, (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1), Berlin/Boston 1974, 84–98.

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Diese Verschwörungslegende wurde durch ein Netzwerk von Beiträgern immer weiter geknüpft: Johann Christoph Bode (1731–1793) führte als Illuminatenorganisator den Kampf gegen die „Schwärmerei“ aus dem Geheimbundwesen, aufs Korn nahm er den Thaumaturgen „Cagliostro“ – den Groß-Koptha der ägyptischen Maurerei.37 Für Bode, ebenso wie für die mit der Familie Nicolai eng befreundete Elisa von der Recke (1754–1833), handelte es sich um ein Komplott antiaufklärerisch-jesuitischer Kräfte zur inneren Zersetzung der Aufklärungsbewegung. Für von der Recke war dann noch 1825 sogar die Revolution ein Teil dieses Planes, um ihr umso wirkungsvoller die Restauration folgen zu lassen.38 Als wichtiger Propagandist der antijesuitischen Verschwörungstheorie mit guten Beziehungen zu Starcks Wirkungsort, der Residenzstadt Darmstadt, ist noch Franz Michael Leuchsenring (1746–1826) zu nennen.39 Er war der „Kronzeuge“ für die Vorwürfe gegen Starck im Juli 1786.40 Zugleich hatte Leuchsenring, der rastlos umherreiste, immer um Anstellung und Einfluss bemüht, 1785 in Zürich gelebt. Dort war die Freundschaft mit Lavater in die Brüche gegangen, den er in der Folge ebenso des Kryptokatholizismus beschuldigte. Auffällig ist hier, dass sich das Freund-FeindDenken entlang der alten konfessionellen Frontlinien entwickelt. Katholizismus (Antiaufklärung) versus Protestantismus (Aufklärung). Wie wir am Beispiel Starcks sehen, liegen die Dinge so einfach nicht. Die Kampagnenmacher wussten weder von diesem theosophischen System noch davon, dass Starck womöglich wirklich in seiner Jugendzeit in Paris zur katholischen Kirche konvertiert war. Sie gründeten ihre in dieser Hinsicht haltlosen Vorwürfe auf eine antijesuitische Verschwörungstheorie, die in jeder Abweichung vom aufklärerischen Denk- und Verhaltenskanon eine katholische Unterwanderungsstrategie sah. Material für ihre Vorwürfe lieferten indessen Gegner

37 Werner, Claus, Le Voyage de Bode à Paris en 1787 e le ‚complot maçonnique‘, Annales historiques de la Révolution française 55 (1983), 432–445; Schüttler, Hermann, Geschichte, Organisation und Ideologie der Strikten Observanz, Quatuor Coronati Jahrbuch 25 (1988), 159. Bode war selbst Anhänger der Freimaurerei und blieb dem Geheimbundwesen treu. Es handelte sich hier um einen Richtungsstreit. Die entsprechenden programmatischen Schriften befanden sich auch im Archiv der Landgrafen: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt [im Folgenden HStAD], D4, Konv. 583, Faz. 8, 5–46: „Essays sur l’origine de la Franche Maçonnerie“ etc., Konvent von Paris 1787 dargeboten von Christof Eques a Lilio convallium in Weimar. Bode war also noch 1787 bekennender Anhänger seiner Richtung der Hochgradmaurerei. 38 Schulz, Günter, Elisa von der Recke, die Freundin Friedrich Nicolais, in: Ders. (Hg.), Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 3, Berlin/Boston 1976, 159–173, hier 166ff. Elisa von der Recke zeigte sich als von ihrer Verblendung befreite Anhängerin okkultischer Verführer (Cagliostro) und projizierte dieses Feindbild in Starck, den sie aus der Zeit in Kurland persönlich kannte. Recke, Charlotte Elisabeth Konstantia von der, Nachricht von des berüchtigten Cagliostros Aufenthalt in Mitau im Jahre 1779 und von den magischen Operationen, Berlin/Stettin 1787; dies., Etwas über des Herrn Oberhofpredigers Johann August Starck Vertheidigungsschrift nebst einigen andern nöthigen Erläuterungen, Berlin/Stettin 1788. 39 Briefe von und an Franz Michael Leuchsenring 1746–1827, hg. v. U. Kamber, 2 Bde., Stuttgart 1976, hier: Ebd., Bd. 2, 242–249 zum Thema Kryptokatholizismus-Kampagne. 40 Berlinische Monatsschrift 8 (Jul. 1788), 44–82.

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Starcks aus der Freimaurerei selbst, die sich in ihren Hoffnungen auf den Zugang zur „Geheimen Wissenschaft“ vor allem in den 70er Jahren bedroht sahen, und vor allem in den Reihen der Tempelritter zu finden sind. Hier ist vor allem der sachsen-meiningische Obrist Christian Friedrich von Sprengseisen (1730–1809) zu nennen.41 Starck sah sich als Oberhofprediger einem Vorwurf gegenüber, den er als existenzbedrohend empfinden musste. Hatte doch der Weimarer Hofrat Bode in einem Dossier, das dem Erbprinzen als Anhänger der Hochgradmaurerei vorlag, süffisant bemerkt, der „wissende Bruder“ gebe ein Beispiel dafür ab, dass man „zur selben Zeit und in derselben Person Protestant, Regularkanoniker, Priester und Präfekt eines Ordens der Tempelritter“ sein könne, und spielte damit auf die Rolle Starcks im Tempelritterorden in den 70er Jahren an.42 Die Gegner forderten Starck auf, sich zu verteidigen. Der hingegen sah vielmehr die Angreifer in der Pflicht, ihre ehrabschneidenden und für einen Oberhofprediger und Konsistorialrat unerträglichen Vorwürfe zu belegen. Was diese ebenso wenig taten, wie Starck auf den vielen Tausend Seiten Papier, die er in den folgenden Jahren produzieren würde, irgendwelche Fakten seiner Geheimbundaktivitäten preisgegeben hätte, soweit sie nicht ohnedies bekannt geworden wären. Der Injurienprozess folgte einer Strategie, die Starck mit seinem zukünftigen Mitstreiter, dem Juristen, Regierungsdirektor und Konsistorialdirektor Ludwig Adolf Christian Grolmann (1741–1809), entwickelt hatte. Dieser erklärte, man könne nun nicht „längerhin ein schädlich werdendes Stillschweigen“ beobachten. „Der fürstl[iche] Oberhofprediger Dr. Stark wird vorhin nur verdekter Weise nun aber namentlich in öffentlichen Journalen beschuldiget, daß er ein heimlicher Jesuit der IVten Klasse sey, und aufgefordert zu beweisen, daß er es nicht sey.“43 Starck reagierte mit einer Klage wegen Verleumdung beim Kammergericht in Berlin, verlangte Widerruf oder Angaben von Quellen und Zeugen. Er fertigte eine umfangreiche Verteidigungsschrift an, die er wegen Fristüberschreitung dem Gericht nicht mehr vorlegen konnte. Die Schrift war mit 2.400 Seiten einfach zu lang geworden. Sie erschien unter dem Titel Über Kryptokatholizismus und Proselytenmacherey, Jesuitismus, geheime Gesellschaften und besonders die ihm selbst von den Verfassern der Berliner Monatsschrift gemachten Beschuldigungen, mit Aktenstücken belegt in zwei Bänden in Frankfurt am Main 1787 und einem Nachtrag.44

41 Kessler, Christian Friedrich, Anti-Saint-Nicaise. Ein Turnier im 18. Jahrhundert gehalten von zwey T[empel]H[erren] als etwas für Freymaurer und die es nicht sind, Leipzig 1786; ders., Archidemides [Starcks Ordensname] oder des Anti-Saint Nicaise zweyter Teil, Leipzig 1786. Es folgten noch weitere Schriften. 42 HStAD, D4, Konv. 583, Fasz. 8, 27: „Pendant que ce savant frère [Starck] nous donna L’exemple, qu’on pouvait être au même temps dans une même personne Protestant, Chanoine regulièr, Prêtre, et Préfet d’un ordre de Chevalerie“. 43 HStAD, D12, Konv. 43, Nr. 50, 90–93, hier, 90r. 44 Starck, Johann August, Nachtrag über den angeblichen Krypto-Katholicismus und besonders seinen Prozeß mit den Herausgebern der Berl[inischen] Mon[ats] Schrift angehend, Gießen 1788.

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Die Prozessakten haben die Beklagten publiziert.45 Er sah das Urteil als Rechtsverweigerung an. In der Tat ist die Begründung des vorsitzenden Richters, des Präsidenten des Kammergerichts Heinrich Julius von Goldbeck (1733–1818),46 bemerkenswert – nämlich als frühes Urteil in Sachen Pressefreiheit versus Ehrenschutz. Ja, räumte das Gericht ein, der Beklagte sei mit schweren, nicht hinreichend mit Fakten belegten Vorwürfen konfrontiert. Es sei aber zu fragen, ob diese Vorwürfe von der Pressefreiheit gedeckt seien. Dies sei der Fall, weil sich der Kläger selbst mit einer Publikation zum Gegenstand öffentlicher Diskussion gemacht habe. Insbesondere mit dem Briefroman Saint Nicaise,47 der 1785 anonym erschienen war, dessen Autorschaft das Gericht aber als bekannt voraussetzte, enthalte Empfehlungen des katholischen Priestertums und der monastischen Lebensform, die für einen Protestanten doch sehr befremdlich sei. Eine zukunftsweisende Argumentation.48 Die Berlinische Monatsschrift hatte schon im Februar 1786 verkündet, dass das Buch „der Religion, allen öffentlichen Staaten, und auch den guten Sitten zuwider sei“.49 Besonders empörte Starck, dass sich das Gericht bei seiner Argumentation ausdrücklich auf eine druckfrische – gleichfalls anonyme – Abhandlung des berüchtigten Karl Friedrich Bahrdt (1741–1792) verwies: Über Preßfreiheit und deren Gränzen.50 Das Gericht zitierte daraus wörtlich den Satz: Ein Mensch, der öffentlich redet oder handelt – es sey vor den Ohren und unter den Augen seines engern Zirkels, seines Gesindes, seiner Gesellschafter u. a. vor dem ganzen Publico, der

45 Prozeß über den Verdacht des heimlichen Katholicismus zwischen dem Darmstädtischen Oberhofprediger D. Starck als Kläger, und den Herausgebern der Berlinischen Monatsschrift Oberkonsistorialrath Gedike und Bibliothekar Biester als Beklagten, vollständig nebst der Sentenz aus den Akten herausgegeben von den loßgesprochenen Beklagten, Berlin 1787. 46 Auch bei Goldbeck gibt es eine Verknüpfung zur Freimaurerei. Er gehörte seit 1768 dem System der Tempelritter an (Verein deutscher Freimaurer [Hg.], Allgemeines Handbuch der Freimaurerei, Bd. 1, Leipzig 1900, 538); Goldbeck war Mitglied der Berliner Loge „Friedrich zum Goldenen Löwen“. Meister vom Stuhl war dort Johann Christoph Woellner (1736–1800), als Goldbeck 1782 ein Schreiben seiner Loge an Herzog Ferdinand von Braunschweig für den Freimaurerkonvent von Wilhelmsbad unterzeichnete, das sich für die Geheimwissenschaften der Templertradition aussprach, zugleich aber den Geltungsanspruch des „Klerikates“ von Starck bestritt (Nettelbladt, Christian C.F.W., Geschichte der Freimaurerischen Systeme in England, Frankreich und Deutschland. Vornehmlich aufgrund der Archivalien der Gr. Landesloge der Freimaurer in Deutschland, Berlin 1879, Unveränderter Nachdruck: Walluf 1972, 217–225, hier 225). 47 Starck, Johann August, Saint Nicaise oder eine Sammlung merkwürdiger maurerischer Briefe, für Freymäurer und die es nicht sind, Frankfurt a. M. 1785. Bereits 1786 erschien die zweite Auflage. Das Verwirrspiel um Erzählebenen und Autorenschaft, wo die scheinbare Verhüllung zugleich zum Verweis wird, ist zeittypisch und wohlbekannt. 48 Prozeß, 246–280, hier 275ff. 49 Berlinische Monatsschrift 7 (Feb. 1786), 127–154, hier 139f. 50 Züllichau 1787. Siehe Wilke, Jürgen, Die Entdeckung der Meinungs- und Pressefreiheit als Menschenrechte im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts, in: O. Dann/D. Kippel (Hg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, (Studien zum 18. Jahrhundert 16), Hamburg 1995, 121–139.

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begibt sich, wenn er thöricht oder lasterhaft redet oder handelt, seines Rechts, seines Anspruchs auf den guten Nahmen selbst – der muss und kann von jedem frey beurtheilt werden.51

So war das Urteil ein Wendepunkt für Starck. Er beschloss, selbst politischer Publizist zu werden, und widmete dieser Aufgabe in den kommenden 25 Jahren alle seine Energie. Sehr zur Genugtuung seines künftigen Kampfgefährten Grolmann, der später an einen weiteren Verbündeten – Johann Georg Zimmermann (1728– 1795) – schrieb: „Selbst das ungünstige Urtheil in 67 [Berlin] war mir so unangenehm eben nicht, da es nun Gelegenheit gab, über Ungerechtigkeit zu schreyen“.52

2. Auf der Suche nach Verbündeten – Starcks Briefwechsel mit Lavater Die Gegner hatten ihr Netzwerk. So musste Starck auch das seine knüpfen und ausweiten. Er suchte für einen publizistischen Krieg gegen die, wie er meinte, verblendete Aufklärung Verbündete. Deshalb wandte er sich auch an Johann Caspar Lavater. Bereits wenige Wochen nach dem Urteil des Kammergerichts suchte Starck von Darmstadt aus mit seinem Schreiben vom 18. September 1787 Kontakt mit Lavater.53 Bezugnehmend auf eine flüchtige Begegnung im Jahr 1782, als Lavater seinen Freund und Korrespondenten in physiognomischen Fragen Johann Heinrich Merck (1741–1791) besucht hatte,54 stimmt der Oberhofprediger den Angesprochenen auf die Gemeinschaft der Christen gegen die unchristliche Aufklärung ein. Er glaubte in Lavater einen natürlichen Verbündeten auf dieser Basis zu erkennen. Der war zwar nicht so massiv und frontal angegangen worden, aber die Tendenz von Teilen der öffentlichen Meinung wurde in der Neuauflage von Karl Friedrich Bahrdts Kirchen- und Ketzeralmanach von 1787 – eine Art Weissbuch der Aufklärung – deutlich. Im Vergleich zur ersten Auflage wurde ein sehr ausführlicher Artikel über Johann Caspar Lavater aufgenommen, der dessen „gutes Herz“, „Schwärmerei“, und „Phantasie“ betonte, um nachzuweisen, dass der Schweizer kein „philosophischer Denker“, will sagen, ein unaufgeklärter Kopf sei.55

51 Bahrdt, Karl Friedrich, Über Preßfreiheit und deren Gränzen, Züllichau 1787, 166; Zitat im Urteil: Prozeß, 276. 52 Grolmann an Zimmermann, 8.10.1794 (HStAD, E12, Nr. 108, Fasz. 1, 33v). 53 ZBZ, Familienarchiv Lavater (FA Lav), Ms 527, Nr. 147. 54 Müller, Wilhelm, Chronik der Darmstädter kirchlichen Ereignisse. Ein Rückblick auf 900 Jahre Darmstädter Geschichte (Hessische Volksbücher 70–72), Darmstadt 1929, 110; Kat. Ausst., Johann Heinrich Merck, Ein Leben für Freiheit und Toleranz, hg. v. E. Merck, Kunsthalle, Darmstadt 1991, 56ff. 55 Bahrdt, Karl Friedrich, Kirchen- und Ketzeralmanach, zweytes Quinquennium, o. O. 1787, 111– 117, hier 111–113. Der Artikel fehlte in der ersten Auflage von 1781. Die Neufassung ist deutlich von der Kampagne der Berliner Monatsschrift beeinflusst. So wurden Artikel über Gedike und Biester neu aufgenommen.

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„Als sie mich, bester Mann“, begann Starck den Briefwechsel, vor einigen Jahren auf wenige Augenblicke besuchten, haben Sie sich meine ganze Hochachtung und herzliche Liebe erworben. Und treffen unsere theologischen Meynungen auch nicht in allen Stücken zusammen, und wo ist das überhaupt in der Welt zu erwarten, so mußte mir doch Lavater wegen seiner treuen Anhänglichkeit an Christum, in unserem Jahrhunderte in welchem Unchristenthum Aufklärung heißet, auch wegen seiner ungeheuerlichen Gottesfurcht, einer der besten Männer in ganz Deutschland seyn. Aber damals dachte ich noch nicht, daß auch ich Ihr Leidensgenosse und Sie der meinige werden sollten. Welchen herzlichen Antheil ich an Ihrem Schicksale genommen, wird Ihnen Herr Behr, der Hausgenosse Ihres Herr Bruders, den ich in Schwalbach kennen zu lernen das Vergnügen gehabt habe, gesagt haben: Ich bin überzeugt, daß Sie an den bedrohlichen Verunglimpfungen, wenn die fanatische Wuth meiner Widersacher mit solchem gelinden Namen belegt werden kann, allen Antheil genommen haben. Sie haben sich vertheidiget; und was auch Nicolai noch weiter vorgebracht, so wird doch derselbe nicht die Wahrheit wegwischen können, vielmehr steht zu erwarten, daß die Welt immer mehr die Täuschungen der neuen Propheten und Zionswächter einsehn werde. Meine Vertheidigung erscheint nun auch. Ich habe aber für notwendig gehalten, die ganze Chimäre anzugreifen, dem fürchterlichen Gespenst auf den Leib zu gehen, und ihm den ganzen Aufzug von Bockhörnern, Ketten und Klappern abzureissen, womit man es zum Schrecken und Entsetzen unseres kindischen Lesepublikums ausstaffirt hatte. Mein Buch ist also größer geworden als man vermuthet, und ausführlicher, als es jene Herren wünschen mögen. Das ist, ausser allerley Vorfällen, die mir bei Druck zugestoßen sind, die Ursache des langen Verzugs. Hier haben Sie, theuerster Mann, den ersten Theil derselben. Nehmen Sie es als einen kleinen Beweis meines Sie liebenden und hochschätzenden Herzens auf. Der zweiten Theil, der auch schon zum Druck abgesetzt ist, wird hoffentlich, in wenigen Wochen nachfolgen, und dann erhalten sie denselben auch. Mein Prozeß mit Gedicke und Biester währt noch fort. Man hat sie zwar, da meine gedruckte Schrift, die meine Deduction ist, nicht in den gesetzten Termin geliefert werden konnte, in der ersten Instanz noch nicht für Pasquillanten u[nd] Injurianten erklären wollen, aber ich sezze meinen Rechtshandel fort. Ich habe Gott, Recht und Wahrheit auf meiner Seite, u[nd] kann also nicht ganz unterdrücket werden. Ihr eifrigster Verehrer Starck.

Von dem angekündigten Berufungsverfahren wird Starck absehen. Er verlegte sich ganz auf die publizistische Gegenoffensive. Dabei sehen wir deutlich, wie die dualistische Grundstruktur seines Denkens, das Freund-Feind-Schema wahre christliche versus pervertierte unchristliche Aufklärung schon in jenen Tagen die Grundlage seiner Polemiken und Ideologisierung bildete. Im Nachtrag verweist er dann auf den gerade erschienenen Nachtrag von Original-Schriften der Illuminaten,56 die Nicolai als ebensolchen und verschwörerischen Religionsfeind entlarven wollten. 56 Nachtrag von weitern Originalschriften, welche die Illuminatensekte überhaupt, sonderbar aber den Stifter derselben Adam Weishaupt, gewesenen Professor zu Ingolstadt betreffen, und bey der auf dem Baron Bassusischen Schloß zu Sandersdorf, einem bekannten Illuminaten-Neste, vor-

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Lavater antwortete Starck aus Zürich am 1. Oktober 1787:57 Ich danke Ihnen, mein Hochwürdigster Herr, für die gütige Einsendung Ihrer Höchstwichtigen Schrift über K[rypto]-K[atholicismus] etc. Könnte ich Ihnen das unverdiente Geschenk einmal erwidern! Vielleicht wag’ ich es einige Kleinigkeiten dagegen zu senden – wenigstens geb’ ich Ihnen mit dieser Zeile das unbedeutende Versprechen von zwey Exemplaren meiner unter der Presse schwebenden Handbibel für Leidende. Über Ihre wahrhaft gelehrte, kraftreiche und derbe Schrift selbst will ich kein Urtheil fällen; Nur Sie bitten, sich auf Unsinniges, Wuthvolles unerhörtes Wiedergebell dieser schlechterdings unbelehrbaren Rotte gefaßt zu machen.

Der Briefschreiber bezog sich dann auf einen episodalen Konflikt mit Biester, der indes von beiden Seiten nicht eskaliert wurde. Lavater hatte mit deutlicher Anspielung auf die „Verbrüderung“ genannten Illuminatenorden und mit deutlicher Frontstellung gegen die Kampagne der Monatsschrift in der Rechenschaft an seine Freunde ausgeführt: Endlich endlich wird unserm lieben biedern Deutschland die Decke von den Augen wegfallen, und Männer erweckt werden, um die ungeheure Anmaßung kräftig herkulisch zu Boden zu schmettern, die Anmaßung: daß die jedem gleich offnen Rechte des Denkens, Empfindens, Redens und Schreibens blos das Monopolium des Unglaubens oder der Thomas Akatholiken [Pseudonym eines Enthüllungsautors der Monatsschrift, M.V.] und aller übrigen genannten und ungenannten Apostel einer neuen Verbrüderung seien, der ich keinen Namen geben mag, und die sich ziemlich laut mit der Hoffnung zu trösten dumm und frech genug ist: daß der Name Jesus in zwanzig Jahren in polizirten Staaten nicht mehr religiös genannt werden soll.58

Letztere Äußerung wurde dann Johann Erich Biester zugewiesen. Daraufhin gingen Biester und Gedike mit Lavater hart ins Gericht und forderten Aufklärung, ob Lavater tatsächlich auf Biester abgezielt habe. Obwohl dieser von drei Zeugen diese Aussage gehört haben wollte, ließ er sich bei einem Besuch Biesters in Zürich im August 1787, aufgrund dessen Beteuerung derartiges nie gesagt zu haben, zu einer Ehrenerklärung für Biester bewegen.59 Es scheint, als sei Lavater gegen seine innere Überzeugung dem Konflikt ausgewichen. Denn im Schreiben an Starck erläuterte er, mit „Verbrüderung“ habe er eben den Illuminatenorden gemeint: „Wie sich nur Nikolai, in einer Krypto-

genommenen Visitation entdeckt, sofort auf Churfürstlich höchsten Befehl gedruckt, und zum geheimen Archiv genommen worden sind, um solche jedermann auf Verlangen zur Einsicht vorlegen zu lassen, zwo Abteilungen, München 1787. 57 ZBZ, FA Lav Ms 582, Nr. 82. 58 Lavater, Johann Caspar, Rechtfertigung für seine Freunde, Zollichau 1786, 60f. 59 Herbst, Ferdinand, Lavater nach seinem Leben, Lehren, Wirken dargestellt, Ansbach 1831, 490f.

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jesuitischen Gesellschaft, die einen Katholiken à la tête hat [Adam Weishaupt], benehmen wird vor dem Publicum – werden wir mit Erstaunen sehen.“ Dann jedoch schlägt er einen irenischen Grundton an und gibt zu erkennen, dass Starcks Weg in den eskalierten Konflikt nicht der seine sei: Übrigens, so dringend, auf der Einen Seite, die Nothwendigkeit erscheint, dem Unwesen, das seinesgleichen in der Geschichte nicht hat, mit der zermalmenden ehernen Hand entgegen zu arbeiten, die Sie gegen dasselbe aufgehoben – so stieg mir doch oft beym lesen Ihrer Schrift – eine Empfindung der Weehmuth auf, daß geistliche, Christliche Schriftsteller keine Mittel ausfindig machen konnten, anders als durch diesen vielverzärenden Ton, Ihre Rechte zu behaupten, und Lügner verstummen zu machen. Vom Verdienet haben ist die Rede nicht. Ich fürchte, wir bereuen es beyde, daß wir die Zudringlichkeit dieser Fanatiker uns haben hinreißen lassen, ein Wort wider sie zu schreiben. Sie waren dessen nicht wehrt. Etwas mußte geschehen. Mir werfen sie Heftigkeit vor, der ich ihnen so sehr zu schonen glaubte – God! Wie werden sie über Sie herfallen, obgleich sie vor ihrer Gelehrsamkeit sich mehr, als vor meiner Ungelehrsamkeit zu fürchten Ursache haben. Wenn nur am Ende Etwas dabey heraus kommt! Wenn nur dießes unselige Geschrey uns unserm grossen Ziel, dem unentbehrlichen Einzigen um einen Schritt näher bringt. Ich nehme die Freyheit, mich Ihnen Hochwürdiger Herr, zu empfehlen, und wünsche aufrichtig, daß Ihre gerechte Sache siegen möge. Johann Caspar Lavater.60

Am 20. November 1787 übersandte Starck den zweiten Teil seiner Verteidigungsschrift: „Wo Sie“, kündigte er an, „dasjenige widerlegt finden, was jene Rotte über Geheime Gesellschaften (u)nd Personen zusammen gelogen und auch ihre Absichten ins Licht gesetzt werden.“ Angst habe er keine, schlug er die Warnungen des vorsichtigen Lavaters in den Wind. Daß diese ganz unverbesserlichen Bösewichter entweder offenbahr über mich herfallen, oder mich durch ihre anonymen Kläffer angreifen werden, ist zu erwarten. Aber ich bin gerüstet, und ich hoffe ihre Schändlichkeiten, Liederlichkeiten u[nd] Bosheiten so ins Licht gestellt zu haben, dass doch der Welt die Augen aufgehen müssen, u[nd] ich arbeite noch an einem Nachtrage, der noch mehr enthält, auch die Geschichte meines […] verlorenen Processes, und meine Appellations-Schrift der Welt mittheilt, und wovon bereits 3 Bogen abgedruckt sind.

Gegen Lavaters Mahnung zu christlicher Sanftmut und Ausrichtung auf spirituelle Werte setzte der wutentbrannte Oberhofprediger „seine“ Mission: Daß wir dem unentbehrlichen Einzigen dadurch nicht näher kommen, ist freylich wahr. Und kein Mensch kann das Polemisiren mehr hassen, als ich. Aber es ist Nothwehr, u[nd] es ist wahres Verdienst und Pflicht für Religion u[nd] Menschheit diese beyspiellosen Böse-

60 ZBZ, FA Lav Ms 582, Nr. 82, Fol. 3–4.

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wichter zu entlarven. Und bey Menschen dieser Art gilt nicht mehr, sie mit sanftmüthigem Geist zurecht zu bringen, sondern eine eherne Hand muss ihnen die Zäsur versetzt werden. Salomo sagt: Schlage auf des Narren Rücken. Diese sind Feinde der bürgerlichen Gesellschaft, der Menschheit u[nd] des Christenthums.61

Zugleich kritisierte er, dass Lavater gerade den entgegengesetzten Weg gegangen war und den von ihm begonnenen Konflikt mit Biester und somit pars pro toto mit den Berliner Aufklärern, dem „Berlinismus“,62 um des eigenen Friedens willen abgebrochen hatte: Ich verehre Ihre Gutmüthigkeit, da Sie dem Biester jene schriftliche Versicherung gegeben haben. Aber, lieber Mann, hat nicht Christus auch gesagt: Hütet euch vor den Menschen? Jener Heuchler hat Ihnen das Zeugnis abgelockt u[nd] wird es jeder Zeit wieder sie gebrauchen.63

Am 16. Januar 1788 antwortet Starck auf einen verlorenen Brief Lavaters.64 Offensichtlich hatte Lavater einerseits höflich ausweichend geantwortet und andererseits zu einer differenzierenden Betrachtung geraten, auch um seine eigene Deeskalation im Konflikt mit Biester zu rechtfertigen. Dem hielt Starck eine kaum noch steigerungsfähige Zuspitzung des dualistischen Feindbildes entgegen. Seine Verteidigungsschrift zeige, „daß eine mehr als teuflische Bosheit des menschlichen Herzens sich bemeistern kann. Sie meynen Biester sey belehrbarer als Nicolay? Nein, die drei Bösewichter, die das Triumvirat ausmachen sind einander gleich.“65 Und so kündigt Starck an: Mein Nachtrag erscheint in wenigen Wochen und wird außer der Geschichte unseres Processes, auch noch viele wichtige Dinge, besonders N[icoloai] angehend liefern, und da werde ich auch zum Schluß noch dem Publikum demonstrieren, daß es sich von drey so abscheulichen wahren Ignoranten hat bey der Nase herumführen lassen.66

Dabei macht Starck deutlich, dass es eben die Erfahrung, Opfer einer Verleumdungskampagne, einem mächtigen Netzwerk ausgeliefert zu sein, wobei ihm die Obrigkeit den ihm zustehenden Schutz versagte, sein Weltbild erschüttert habe.

61 ZBZ, FA Lav Ms 527, Nr. 148, Fol. 2; Spr 10, 13. 62 Starck, Johann August, Der Berlinismus oder Freundschaftsgespräch über Dr. Stark und seine Gegner, Templin/Ephesus 1788. Starck verwandte hier in der anonymen Schrift die von ihm immer wieder gern verwandte Dialogform, um seine Kerngedanken populärer aufzubereiten. Die Ortsbezeichnungen verwiesen auf die geographischen Tarnnamen des Illuminatenordens. 63 ZBZ, FA Lav Ms 527, Nr. 148. 64 ZBZ, FA Lav Ms 527, Nr. 149. 65 ZBZ, FA Lav Ms 527, Nr. 148, Fol. 2. 66 ZBZ, FA Lav Ms 527, Nr. 149, Fol. 1.

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Mein verlorener Prozeß schmerzt Sie lieber Mann. Ich danke Ihnen dafür. Und Lavatern kann ichs ja wohl gestehen, daß ich dayey aus dem Gleichgewichte kam. Aber Zeit und Freundesbeistand hat mich angelacht, und jetzt sehe ich denn, daß auch dieses seyn musste, wenn ich anders das Publikum für mich erhalten (und) die Bösewichter völlig und vernichtend aus diesem Prozeß gegangen ist.

Aus dieser Erschütterung heraus, habe er nun seine neue Lebensaufgabe gefunden: „Ich für meinen Theile werde alle ausser unzumutbarer Thätigkeit darin verwenden, um dieser abscheulichen Rotte, die mit nichts geringerm umgeht, als christliche Religion u[nd] gelehrte Sozietät zu stürzen, ja die Obrigkeit zu mishandeln, entgegen zu arbeiten.“ Lavater hatte aber wohl auch in seinem Schreiben auf die Möglichkeit verwiesen, sich gegen das Netzwerk der Berliner Aufklärer nun selbst ein Bündnis aufzurichten und sich dabei auf den Brief eines Ungenannten bezogen. Dies traf sich mit Starcks eigenen Bestrebungen. Warum richten die Schriftsteller keinen gegenseitigen Truzbund auf? Ist ein wahrer Gedanke: Ich habe denselben Gedanken schon gehabt und hab schon allerley Entwürfe darüber in meinem Kopfe gemacht, aber bey dem Beytragen dazu muss man in unsern Zeiten die äußerste Behutsamkeit brauchen; da alles von Spionen wimmelt. Ein solcher Truzbund ist von Seiten der Theologen das nothwendigste Ding, wenn die Religion nicht unter die Füsse getreten werden soll.

Nur im Zusammenschluss kann die Selbstbehauptung in einer feindlichen Umwelt gelingen: „Aber ein solcher Truzbund ist auch für den Gelehrten und dessen Freiheit durchaus nothwendig, wenn wir nicht alle das Spiel und der Absaz gewinnsüchtiger u(nd) flacher Journalisten werden sollen“. Starck bittet in der Folge Lavater den Kontakt zu dem Verbindungsmann herzustellen und um weitere Zusammenarbeit: Altum silentium von diesem allem versteht sich von selbst. Ich sehe sobald es seyn kann jeder Zeile von Ihnen entgegen: Meine Frau empfiehlt sich Ihnen bestens: Und dann bittet mich auch ihre Schwester, Ihnen das zu sagen, die beyde in diesen trübseligen Zeiten sich fleißig aus ihrem Tagebuch erbaut haben.67

Der Verweis auf die beiden Frauen erinnert daran, dass Starck schon die Hand­ bibel für Leidende ausdrücklich an seine Frau weiter gereicht hatte. Wollte er damit sagen, dies sei keine Lektüre für ihn selbst? Lavater war dem Zorn Starcks wohl mit einem eher seelsorgerlichen Grundton begegnet, hatte ihm geraten, den Dingen in Gottvertrauen ihren Lauf zu lassen. Das war Starcks Sache nicht: 67 ZBZ, FA Lav Ms 527, Fol. 3.

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Ihren letzten Wünschen, daß auch aus dieser Nacht etwas Licht hervorgehen mögte, das zum Ziele den Weg leuchtet, stimme ich gerne bey. Aber zur Geißelung der Bösen u[nd] Erhaltung der Guten in Gottes Welt wirken, das leuchtet auch gewis zum Ziele: und als Paullus dem Teufelsbund voller List und Schalkheit widerstand wirkte er nicht weniger dazu als da er in Athen Christum predigte.68

Nun hatte Lavater genug, er erkannte, dass er entweder den Briefwechsel mit Starck fortsetzen, lavieren, begütigen oder einen Schlusspunkt setzen konnte. Am 16. März 1788 schrieb er nach Darmstadt. Man könnte meinen, einen ironischen Unterton zu vernehmen:69 Ich habe, mein Hochverehrender Herr Oberconsistorialrath, gestern Ihren Nachtrag70 erhalten, wofür ich Ihnen, den verbindlichsten Dank sage. So weit ich fortlesen konnte, ward ich tiefmüthig gerührt von Ihrer Lage, erstaunt über Ihre Kenntnisse, und Ihren Muth, und betroffen besonders über die Terminskürze, die man Ihnen von Berlin aus gesetzt hatte, und ausser aller Fassung gegen die Erzniederträchtigen gebracht, die mit der Kostenforderung so inhuman niederträchtig waren. Übrigens ist’s nun vergeblich, zu sagen, daß kürzere Fassung und Kommentierung, gewiß mehr Effekt gemacht haben würden. Jedermann entschuldigt sich, das Buch seiner Weitläufigkeit wegen nicht lesen zu können […]. Und die billigsten und entschiedensten Antiberlinisten hätten dennoch weniger Wiederholung der, obgleich verdienten, Scheltwörter, gewiß zu Ihrem Vortheile gewünscht, wiewohl offenbahr ist, dass sich die völlig Ehrlosen, die nichts mehr zu verlieren haben, und die nicht mehr wollten, wie hochmüde das Publikum ihrer Pasquillen ist, im Grunde weit mehr gegen die Unschuld erlaubt haben. Ich habe nun, hoff ’ ich, durch meinen Brief an Schultze, punktum mit ihnen gemacht. All’ mein Anfangen zielt aufs Enden.

Ohne in der Sache die Lage wesentlich anders zu beurteilen, darauf deutet der folgende, empfehlende Verweis auf den Verschwörungstheoretiker Ernst August von Göchhausen (1740–1822) hin, steht er Starck als Kampfgefährte nicht zur Verfügung. Ich bin noch der Meynung, wenn alle geschwiegen und blos gesagt hätten – wir verachten …? Am Ende wären die Elenden noch mehr am Pranger gestanden. Es konnte aber nicht seyn. Die Fragmente aus der Geschichte eines Menschensohnes71 kennen Sie doch?

68 69 70 71

ZBZ, FA Lav Ms 527, Fol. 4. ZBZ, FA Lav Ms 582, Nr. 83. Starck, Nachtrag Krypto-Katholicismus. Göchhausen, Ernst August von, Fragmente der Geschichte und Meynungen eines Menschensohnes, Eisenach 1787. Göchhausen (1740–1822) war sächsisch-weimarischer Kammerrat und Kammerdirektor. Seine Variante der gegenaufklärerischen Verschwörungstheorie sah so aus, dass nun die Illuminaten und die diesen zugeordneten Berliner Aufklärer selbst nur Instrumente des Jesuitenordens zur Zerstörung der „wahren“ Aufklärung seien. Siehe ders., Enthüllung des Systems der

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Und so schließt nur dieser Brief mit der Schlussformel „Leben sie wol!“ Starck hatte verstanden, ohne offenen Dissens in der Sache selbst, fand der Briefwechsel keine Fortsetzung. Das belegt ausdrücklich ein Empfehlungsschreiben Starcks an Lavater vom 26. Dezember 1791.72 Erlauben Sie mir, mein verehrungswürdigster Herr und Freund, daß ich Ihnen mit diesen wenigen Zeilen mich wieder in Erinnerung bringe. Es geschieht wenigstens jetzt unter heiterern Umständen, als wie ich Ihnen vor einigen Jahren zu schreiben die Ehre hatte, da wir noch mit Zionswächtern im Felde lagen, deren Oellampe nun auch mit diesem Jahr ausgeht, u[nd] nichts als den vormahls gemachten Rauch u[nd] den üblen Geruch zurück lässt, den solche Lichter zurück lassen. Ich habe hiermit die Ehre Ihnen einen rechtschaffenen Mann, den Herrn Karbusaum [?] aus Reval zu empfehlen, den ich schon seit mehrern Jahren kenne, u[nd] bey einem kurzen Aufenthalte in Zürich Sie persönlich kennen zu lernen wünscht. Er ist kein solcher Reisender, wie die gewöhnlichen, sonst würde ich Ihnen denselben nicht empfehlen. Geschäfte u[nd] der nur kurze Aufenthalt unseres Freundes hierselbst, hindern mich diesmahl mehr zu schreiben. Gott sey mit seiner Gnade mit Ihren mein theuerster mir ewig unvergesslicher Mann, Behalten Sie lieb u[nd] bleiben gewogen Ihrem aufrichtigsten Verehrer Starck.

Das Schweigen und die Wortkargheit des kurzen Schreibens belegen mehr als die konventionellen Verbundenheitsfloskeln, dass keiner der beiden Männer sich von einer Fortsetzung der Korrespondenz oder auch nur einer Aufrechterhaltung des Kontaktes etwas versprach. Ganz anders war das im Fall von Diethelm Lavater (1743–1826), einem Bruder von Johann Caspar Lavater. Den Arzt, Anhänger der Hochgradmaurerei und Züricher Ratsherren hatte Starck bereits in den 80er Jahren kennen gelernt, was zunächst folgenlos blieb, und hatte mit dem in vielen Fragen Gleichgesinnten wenige Jahre vor seinem Tod auf dessen Drängen einen Briefwechsel in alchemistisch-theosophischen Fragen gepflegt, wobei Starck recht tiefen Einblick in seine Lehre und theosophischen Ideen gab, ohne die eigentlichen alchemistischen Erkenntnisse vermitteln zu können.73 Auch wenn er nur eine Episode darstellt, ist der Briefwechsel zwischen Starck und Johann Caspar Lavater auf andere Art aufschlussreich. Er ist Zeugnis einer Ideologisierung im Sinne einer geschlossenen Freund-Feind-Bildung, die sich Lavater nicht zu eigen machte, obwohl er die Positionierung gegen eine „unchrist-

Weltbürger-Republik: In Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers, Rom/Leipzig 1786; ders., Vollendeter Aufschluß des Jesuitismus und der wahren Geheimnisse der Freimaurer, Rom/ Leipzig 1787. 72 ZBZ, FA Lav Ms 527, Nr. 150. 73 Zimmermann, Werner (Hg.), Von der alten zur neuen Freimaurerei: Briefwechsel und Logen­ reden von Diethelm Lavater nach 1800 (Aus dem Archiv der Loge Modestia cum Libertate), Zürich 1994; Vesper, Starck, 141–144; Hürlimann, K., Art. Diethelm Lavater, Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), 2007.

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liche“ Aufklärung durchaus mitvollzog, wie Biester richtig beobachtete.74 Für die offene Spaltung der Aufklärungsbewegung im Deutschland der 80er Jahre, die insbesondere von in den 40er Jahren geborenen Intellektuellen betrieben wurde, war die gleichzeitig integrative und ausgrenzende Funktion der in Wechselwirkung zueinander stehenden Verschwörungstheorien entscheidend. Die Theoreme nahmen zunächst eine Feindbestimmung vor (Jesuiten/Obskuranten versus Illuminaten/Antichristen) und boten somit Persönlichkeiten unterschiedlicher Motivation, regionaler Verortung und Konfession die Möglichkeit, auf der Grundlage des Feindbildes eine gemeinsame Sprachregelung, gemeinsame Überzeugungen auszubilden und zum – meist literarischen – gemeinsamen Handeln überzugehen. Starck hatte bereits vor der Französischen Revolution eine dualistische Weltanschauung und entschlossen gegenaufklärerische Positionierung vollzogen – im Namen der wahren Aufklärung, die Französische Revolution bestätigte ihn nur darin.75 Der Lavater-Briefwechsel zeigt den Ausgangspunkt für die Verfertigung einer antiaufklärerischen Verschwörungstheorie – die offensichtlich auf die illuminatisch-antijesuitische Verschwörungstheorie reagierte.76 In der Verschwörungstheorie pervertiert die kritische Aufklärung zur Enthüllung, Aufdeckung und Entlarvung dessen, was der Aufklärer schon im Vorhinein zu wissen meint. Der Verschwörungstheoretiker sucht aus seiner Sicht erfolgreiche Belege für Zusammenhänge, die er schon zuvor gefunden zu haben glaubt. Zeitgleich und im Austausch mit und dabei doch unabhängig von dem französischen Abbé Augustin Barruel S.J. (1741–1820)77 entwickelte der Darmstädter

74 Prozeß, 119: Starck hatte dem Gericht gegenüber dezidiert den Standpunkt einer „christlichen Aufklärung“ betont. Dazu der Kommentar Biesters: „wollte er etwa mit diesem Beiwort unsere Aufklärung als unchristlich verdächtig machen? Kurz wollte er mit Herrn Lavater gemeinschaftliche Sache machen, und uns beim Publikum zu Unchristen verklagen, um sich selbst desto mehr als einem echten Christen zu empfehlen?“ Beide Fragen wird man bejahen müssen. 75 Vesper, Starck, 128–136. 76 Valjavec, Friedrich, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815, München 1951, 289–300; Rogalla von Bieberstein, Johann, Der Mythos von der Weltverschwörung: Freimaurer, Juden und Jesuiten als ‚Menschheitsfeinde‘, in: G.-K. Kaltenbrunner (Hg.), Geheimgesellschaften und der Mythos der Weltverschwörung, Tübingen/Basel/Wien 1987, 24–62, hier 28f und 38–40; ders., Die These von der Weltverschwörung 1776–1945: Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Bern/Frankfurt a. M. 1976, 145–155, 189–232; Blum, Starck, 77–111; Voges, Michael, Aufklärung und Geheimnis: Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, (Hermaea. Germanistische Forschungen Neue Folge 53), Tübingen 1987, 130–134; Agethen, Manfred, Geheimbund und Utopie: Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, (Ançien Régime, Aufklärung und Revolution 11), München/Oldenbourg 1984, 278–287; Hammacher, Klaus, ‚Der unbekannten Göttin reiner Lehre und Vernunft‘. Hamanns letzte Stellungnahme zur Aufklärung, in: B. Gajek/A. Meier (Hg.), Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung, (Regensburger Beiträge zur Sprachund Literaturwissenschaft, Reihe B: Untersuchungen 46), Frankfurt a. M. 1990, 33–61, hier 35–41. 77 Schäper-Wimmer, Sylva, Augustin Barruel, S.J. (1741–1820), Studien zu Biographie und Werk, (Europäische Hochschulschriften 277), Frankfurt a. M. 1985; Barruels Memoires pour servir a l’histoire du Jacobinisme erschienen bereits 1797 und 1798, Starcks Triumph der Philosophie 1803. Beide

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Oberhofprediger eine Theorie, die Aufklärung und Revolution zum Werk einer philosophischen Verschwörung machte, die die Zerstörung von Religion, bürgerlicher Gesellschaft und staatlicher Ordnung zum Ziel habe. Er hat dies in der Artikelserie Geschichte der Androgynen in den Jahren 1792 und 1793 in der Wiener Zeitschrift von Leopold Alois Hoffmann (1760–1806)78 und ab 1795 in der Zeitschrift Eudämonia (Die Hyperboliden)79 ausgearbeitet und in dem umfangreichen Werk der Triumph der Philosophie (1803) zur komplexen verschwörungstheoretischen Historiographie ausgebaut.80 Anders als Lavater hat Starck der Französischen Revolution zu keinem Zeitpunkt andere Gefühle als Hass und Untergangsängste entgegengebracht. So hat sich hier aus der polemischen Apologetik des Angegriffenen eine Verschwörungstheorie entwickelt. Man könnte sagen, die mächtigste Nachwirkung des Illuminatenordens ist eben diese Verschwörungskonstruktion. Zudem übertrug er das Bedürfnis zur Sozietätsbildung, das so typisch für die Zeit der Aufklärung ist,81 auf die politische Sphäre. Die Eudämonia sollte als „AntiRevolutionsjournal“ das öffentliche Organ eines politischen Geheimbundes sein. Ihm gehörten die bereits erwähnten von Grolmann und von Göchhausen sowie Johann Philipp Riese (gest. 1808), Herausgeber der Frankfurter Reichs-Ober-PostAmtszeitung, der Arzt Johann Georg Zimmermann (1728–1795), Heinrich August Ottokar Reichard (1751–1828) und der in Gießen lehrende Geschichtsprofessor Martin Gottfried Koester (1734–1802) an.

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Autoren hatten aber schon Jahre zuvor Material gesammelt und ausgetauscht. In einem Brief vom 29.6.1809, den Starck an seinen Verleger den Frankfurter Buchhändler und Verleger Johann Christian Hermann (1751–1827) schrieb, wird der Austausch, der seit den Jahren vor 1789 gepflegt wurde, sichtbar: „Zweitens habe ich so wenige vieles aus Barruel genommen, daß Barruel mir vielmehr das mehrste und beste, was er hat, schuldig ist“. Man habe Barruel mit Material versorgt. „Er nahm alles dankbar und begierig auf, war aber zu sehr für seine einmal gefaßten Ideen, die Grolmann und ich aus eigener Erfahrung für falsch erkennen mußten, eingenommen, als daß er von dem ihm zugeschickten hätte Gebrauch machen sollen, so kam’s denn, was wir vorhergesehen hatten, er schadete der guten Sache mehr, und er machte sich lächerlich. Ich wollte nun dem Uebel abhelfen und schrieb die Geschichte der Androgynen, welche in das (Hoffmannsche) Wiener Magazin eingerückt ward und sodann die Hyperboliden in der Eudämonia. So beschloß ich eine eigene Geschichte darüber zu verfertigen, die man nicht so leicht unterdrücken konnte“ (Kloss, Georg, Bibliografie der Freimaurerei, Frankfurt a. M. 1844; Unveränderter Nachdruck: Graz 1970, 266, Nr. 3529). Krüger, Gustav, Die Eudämonisten: Ein Beitrag zur Publizistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Historische Zeitschrift 143 (1931), 467–500, 477, Anm. 33: Auflistung der Fundstellen; Kreutz, Wilhelm, „L’inscription qu’on pourra mettre sur les ruines des trônes, […] peut être conçue dans ces deux mots: ‚L’ouvrage de L’Illuminatisme!‘“ Johann August Starck und die Verschwörungstheorie, in: C. Weiß (Hg.), Von ‚Obscuranten‘ und ‚Eudämonisten‘. Gegenaufklärerische, konservative und antirevoulutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, (Literatur im Kontext. Studien und Quellen zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), St. Ingbert 1997, 269–304 vollzieht die Entwicklung von den Aufsätzen zum „Triumph der Philosophie“ nach. Eudämonia oder Deutsches Volksglück 1–7 (1795–1798), Nachdruck Nendeln 1972. Starck, Johann August, Der Triumph der Philosophie im Achtzehnten Jahrhundert, 2 Bde., Germantown 1803. Van Dülmen, Richard, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Gesellschaft und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986.

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3. Aufklärer oder Obskurant? – Die Doppelkarriere Starcks Ein vorzügliches Beispiel für den Umschwung bei der Beurteilung Starcks durch viele Zeitgenossen ist die 1787 erschienene Version des Kirchen- und Ketzer­­ almanachs.82 Die neue Auflage übernahm die meisten Passagen ihrer Vorgängerin, die lediglich ergänzt wurden. Daher zerfällt der Artikel zu Starck in zwei gegensätzliche Urteile. 1781 hatte Bahrdt geschrieben, Starck sei „ein vortrefflicher Mann, den ausgebreitete Kenntnisse, helle Philosophie, und ein gebildeter Geschmack schäzbar machen. Sein Hephästin ist (wie seine Schrift über die Mysterien) eines der besten Producte unseres polygraphischen Zeitlalters.“ Die Geschichte der christlichen Kirche nannte er das beste Buch, was wir zur Zeit in diesem Fache haben. Er soll auch der Verfasser der freymüthigen Betrachtungen seyn: ein Buch, das so voll von Geist und Wahrheit ist, daß die theologische Fakultät in Halle aus Eifersucht es zu unterdrücken suchte.

Dann folgt unvermittelt 1787 eine völlig neue Einschätzung: Neuerlich hat sich der Mann dem Publico zum Räthsel gemacht. Wer den Archidemides oder des Anti-Saint-Nicaise zweyter Teil gelesen hat, wird es aufs wenigste problematisch finden, ob auch Hr Stark der brave Mann sey, für den wir ihn sonst gehalten haben. Scheußliche Aussichten, wenn es mehr heimliche Anhänger des Jesuitismus gäbe, wie Hr. St. In dem angezeigten Buche beschrieben wird. Dann hätten die Deutschen Fürsten Ursache aufmerksam zu werden.

Diese Entwicklung Starcks scheint zunächst erstaunlich, weil er – als Vertreter des theologischen Aufklärungszeitalters, der Neologie – reinsten Wassers gelten musste und galt. Doch auf den zweiten Blick zeigt sich in der gesamten Biografie durchgehend die Ambivalenz von Aufklärung und Esoterik. Wie eine Doppelhelix entwickelte sich die neologisch-deistische und die esoterisch-theosophische Doppelnatur Starcks. Zunächst handelt es sich der äußeren Karriere nach um eine erfolgreiche Theologenbiograhie.83 Starck machte also kirchliche Karriere in der lutherischen Staatskirche – sowie es bereits sein Vater und sein Großvater getan hatten. Er stammte aus einer Theologendynastie. Ihn überlebte für einige Jahre seine Gattin Maria Albertina – die Tochter des renommierten Königsberger Theologen Franz Albert Schultz (1692–1763). Der junge Mann studierte an der aufklärerischen Modelluniversität, der Georgia-Augusta in Göttingen, brachte es nach Zwischenstationen in Petersburg, Paris und Wismar zum Prediger, Professor und Generalsuperin-

82 Bahrdt, Kirchen- und Ketzeralmanach, 180f. 83 Zum Folgenden Vesper, Starck, 23–33.

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tendenten an der Universität in Königsberg, der Albertina. Dort ging er ab, weil er wegen seiner als heterodox bekämpften Ideen auf nachhaltigen und hartnäckigen Widerstand seitens etabliert orthodoxer und pietistisch beeinflusster Kollegen stieß. Zudem hatte er als Landesfremder einen sehr raschen, vielleicht allzu raschen Aufstieg genommen. Es mag da auch unkollegial-kollegiale Rivalität im Spiel gewesen sein. Da gab es verdiente Männer, die weiter ihre Runden in der Warteschleife drehen mussten, weil der Neue von Berlin aus protegiert wurde. In Göttingen war unter seinen akademischen Lehrern vor allem Johann David Michaelis (1717–1791) zu nennen. Vor allem aber wurde Anton Friedrich Büsching (1724–1793) zu seinem Förderer, der seit 1766 als Konsistorialrat in Berlin im Sinne aufklärerischer Theologie wirkt. Diesem folgte er 1764 nach Petersburg und verdankte ihm auch zum Teil sein Avancement in Königsberg.84 Dem rasanten Aufstieg folgt der Karriereknick: Starck begab sich – der zermürbenden Querelen müde – 1777 nach Mitau, in Kurland (Jelgava, Estland), wurde Philosophielehrer an einer Akademie, die Landeskinder auf die Universitäten vorbereiten sollte.85 Aber nicht für lange Zeit. Er verschaffte sich, so müssen wir es sagen, durch seine freimaurerischen Kontakte einen Ruf nach Darmstadt.86 Nicht als Theologe war er dort gefragt, sondern als spiritueller Führer und theosophisch-alchemistischer Lehrmeister, der den Zugang zu Geheimwissen eröffnen sollte. Er wurde dort zunächst persönlicher Hofprediger des Erbprinzen und späteren Landgrafen und Großherzogs Ludewig, hatte als Oberhofprediger 14täglich zu predigen, tat sonst öffentlich wenig bis gar nichts und lehnte auch einen Ruf an die Landesuniversität Gießen ab. Vorruhestandsähnliche Verhältnisse, möchte man meinen, in einer Zeit, als es offiziell keinen Ruhestand für Prediger gab. Hochgeehrt, wohlhabend und geadelt starb Starck 1816 – und machte das Amt des Oberhofpredigers für einen tatkräftigeren Nachfolger frei. Die Flucht aus Königsberg stellte er als Rettung vor Verfolgung durch seine theologischen Gegner dar – modern gesprochen Mobbing. In Reaktion darauf entwickelte er sich zum „Toleranzprediger“. Er begann einen Briefwechsel mit dem oben zitierten Radikalaufklärer Karl Friedrich Bahrdt, den wegen seiner neuen Bibelübersetzung sogar ein Reichshofratconclusum vom Amt eines Superintendenten suspendiert hatte. Ohne sich tief mit seinem Denken auseinander zu setzen, identifizierte sich Starck wohl mit dessen Opfergeschichte.87 Vor allem aber verwirklichte Starck nun ein ganzes Programm dogmenkritischer Historiographie, das er bis 1789 konsistent fortführen würde.88 Mehr als ein halbes Jahrhundert bevor David Friedrich Strauß (1808–1874) die formelhafte

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Ebd., 55–68. Ebd., 80–93. Ebd., 94–102. Ebd., 213–218. Ebd., 176–242.

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Wendung „Die wahre Kritik des Dogmas ist seine Geschichte“ prägen würde,89 schrieb Starck nun Kirchen- und dogmengeschichtliche Abhandlungen in großem Umfang: Die dreibändige Geschichte der christlichen Kirche des Ersten Jahrhunderts war ganz dem Gedanken einer stufenweise sich vollziehenden, empfängerorientierten Offenbarung verpflichtet (verfasst 1776–1779).90 In Mitau folgten bis 1780 die zunächst anonym erschienenen Freymüthigen Betrachtungen über das Christentum.91 Sie brachten ein einfaches radikalreduktionistisches Schema zur Anwendung, das Starck als Vertreter der „Neologie“, deren Markenkern eben die Dogmenkritik war, um die Spielräume der interkonfessionellen Toleranz erweiterte.92 Mit Wilhelm August Teller (1734–1804), August Friedrich Wilhelm Sack (1703– 1786) und Johann Gottlieb Töllner (1724–1774) gehörten drei Köpfe dieser theologischen Neuerer zu den Männern, die die Karriere Starcks in Königsberg gegen den Willen des dortigen Konsistoriums ermöglicht hatten. Jedem Glaubenssatz, so die Methode der Betrachtungen, wird eine „einfache“ Grundwahrheit zugrunde gelegt – die ursprüngliche gemeinte „Simplizität“ der Offenbarung. Verständlich und nachvollziehbar für jeden Menschen. Dabei kommt es allein auf den ethischen Gehalt, die ethische Rückbindung an. Dann erfolgt eine diese Grundwahrheiten übersteigende Spekulation, die über das hinaus geht, was Menschen wissen können. Diese Grenzüberschreitung wird durch Dogmen gegen Widerspruch gesichert und schlägt so in Intoleranz um. Ungelöstes Problem ist hier die Fundierung der einfachen Wahrheiten. Hier unterstellte Starck eine selbstverständliche Evidenz. Dieser Glaube ging ihm in den Konflikten der 80er Jahre verloren. Später wird er fordern, die „einfachen Wahrheiten“ als ethische Basis des Gemeinwesens mit politischer Macht abzusichern. Die Freymüthigen Betrachtungen sind anonym erschienen und treiben die Dogmenkritik am weitesten. Der führende bekennende Neologe war Johann Salomo Semler (1725–1791). Bemerkenswert ist, dass er 1787 in einer an Lavater gewandten Schrift beklagen sollte, man habe eine Konföderation „wider die sogenannten Neologen“93 gebildet. So hatte es Starck auch schon zehn Jahre zuvor empfunden, bei dem sich seitdem Verfolgungsängste eingeprägt hatten. Wenn er die Freymüthigen Betrachtungen anonym erschienen ließ, dann vielleicht, um Ärger am neuen Wirkungsort Darmstadt zu vermeiden, wo die konservativ-pietistische Universität Gießen einflussreich war, womöglich aber auch um den Status des Verfolgten zu markieren. Immerhin war dem Buch zunächst die Imprimatur verweigert worden.

89 Strauß, David Friedrich, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampf mit der modernen Wissenschaft dargestellt, Bd. 1, Tübingen 1840, 71. 90 Starck, Johann August, Die Geschichte der christlichen Kirche des Ersten Jahrhunderts, 3 Bde., Leipzig/Berlin 1779–1780. 91 Noch 1782 veröffentlichte Starck eine erweiterte zweite Auflage: Starck, Johann August, Freymü­ thige Betrachtungen über das Christenthum, Berlin 21782. 92 Hornig, G., Art. Neologie, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 2019, 719f. 93 Hornig, Neologie, 720 zitiert: Semler, Johann Salomo, Unterhaltung mit Herrn Lavater über die freie practische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie, Leipzig 1787, XII.

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Es schlossen sich im dogmenkritischen Programm zwei weitere Studien des Oberhofpredigers an, die sich historisierend zweier zentraler Glaubenssätze annahmen: Der mehrbändige Versuch einer Geschichte des Arianismus, die 1783/84 erschien, also in den frühen Darmstädter Jahren veröffentlicht wurde, ist eine gegen die herrschende Lehre gewandte Geschichte der antitrinitarischen Bewegungen bis zum Sozinianismus des 18. Jahrhunderts.94 Dieser gilt mit seinem Übergang zur symbolischen Deutung des Abendmahls und seinen christologischen Vorstellungen als Vorläufer oder wesensverwandt mit dem Deismus. Statt dort, wo Meinungsstreit möglich sein muss, weil wir uns außerhalb der stets adressatengerecht wohldosierten Offenbarung bewegen, Toleranz zu üben, sagt Starck, üben wir Intoleranz, weil wir mit Gewalt Meinungseinheit herstellen wollen. Noch 1789 – offensichtlich erarbeitet, während er an den langatmigen Streitschriften gegen die Berliner schrieb – erschien die Geschichte der Taufe und Taufgesinnten,95 mit der gleichen Stoßrichtung. Aus seiner Sicht bot sich das Thema an, weil sich bei den aus der Reformation hervorgehenden Landeskirchen sehr schnell eine unbarmherzige Verfolgung von Wiedertäufern entwickelt hatte. Auch hier galt die zentrale Aussage: Die Resignation im Hinblick auf die eigenen Erkenntnismöglichkeiten vermeidet den dogmatischen Anspruch und öffnet mit Toleranz den Raum für die Freiheit des Andersdenkenden. Hier allerdings kommt schon ein wichtiges Element zum Tragen: Die Denk- und Glaubensfreiheit genießen jene, die als Stille im Lande sich in die bestehende Ordnung einfügen, nicht die politisierten Wiedertäufer. Damit lag Starck auf der protestantischen Linie der caesaropapistischen Allianz von Thron und Altar, wie ja überhaupt die Aufklärungsbewegung allseits etatistisch ausgerichtet war. Aber es war durchaus neu, dass Starck das so akzentuiert und zeigt eine Positionsverschiebung an.96 Das zeigt auch ein Gutachten, das er für seinen Landesherren über die Frage abgibt, ob man von Predigern den Eid auf die Symbolischen Schriften verlangen müsse. Starck bleibt auf der Linie, die ein ähnlicher Text von Anton Friedrich Büsching vorgab und natürlich erklärt Starck: Die Symbolischen Schriften fordern die Zustimmung zu Aussagen, die über dem Horizont menschlicher Erkenntnismöglichkeiten liegen, daher sei ein Eid immer ein Meineid und somit nicht zu leisten.97 Allerdings beansprucht Starck diese Freiheit nur für sich – und es ist eine reine Denkfreiheit –, d. h. nach außen, in der gesellschaftlichen Normenwelt hat man sich konform zu verhalten und zu äußern – da liegt er übrigens auf der Linie von Immanuel Kant. Konfession ist also keine Frage der Glaubenswahrheit, sondern der Sozialdisziplinierung. Auch nach seiner gegenaufklärerischen Wende, als Starck selbst zum Verschwörungstheoretiker wird, bleibt er seinem 94 Starck, Johann August, Versuch einer Geschichte des Arianismus, 2 Bde., Berlin 1783–1785. 95 Starck, Johann August, Geschichte der Taufe und der Taufgesinnten, Leipzig 1789. Hierzu siehe Sumalvico, Umstrittene Taufe. 96 Vesper, Starck, 238–242. 97 Ebd., 219–228.

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rationalistisch-utilitaristischen Verständnis treu, betreibt also Gegenaufklärung mit dem intellektuellen Instrumentarium der Aufklärungsbewegung. Er hat den Glauben verloren, dass sich mit den „planen simplen Lehre Christi“ Sitte, bürgerliche Gesellschaft, Gehorsam gegen Kirche und Obrigkeit bewirken lassen – das schafft – so die Botschaft Theoduls Gastmahl 98 – nur die katholische Kirche effektiv. Und so fordert er 1810 die Vereinigung der christlichen Kirchen – im Sinne einer Rekatholisierung. Das war noch etwas anderes als die persönliche Konversion. Im Übrigen war es auch die Zeit der Kirchenunionen oder deren Vorbereitung – allerdings im protestantischen Bereich. Es scheint so, als könnte man in dieser Abkehr von der eigenen Konfession einen Bruch sehen. Es ist aber eher die veränderte Anwendung der gleichbleibenden Methode. Die Frage der äußeren Konfession war Starck stets eine utilitaristisch-pragmatische, wie sie auch in der Kirchenpolitik Napoleons oder später der Unionspolitik von König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) wiederzufinden ist. Die Indienstnahme der Religion scheint eher Resultat einer staatszentrierten Grundhaltung zu sein. Wie kommt jetzt ein solch rationalistisch-historisch arbeitender Theologe in den Ruf des „Schwärmers“? Hier muss man sich den zweiten Strang der Helix anschauen: seine esoterische Geheimlehre, die er als das „wahre Christentum“ ansieht. Starck war schon beim Studium mit der Freimauerei in Kontakt gekommen. Spätestens seit seinem ersten Petersburgaufenthalt, also ab 1764, kam Starck in Kontakt mit einer eklektischen Tradition theosophisch-alchemistischer Lehren, an denen er sich praktisch und spekulativ sein Leben lang abarbeitete.99 Kurzzeitig führten ihn 1765/1766 Forschungen nach Paris, wo er auf jeden Fall Forschungen für seine philologischen Studien an den Psalmen betrieb, vielleicht aber auch nach alchemistisch-hermetischen Traktaten suchte. Sogar eine kurzzeitige Konversion zur katholischen Kirche aus welchen Gründen auch immer ist denkbar.100 Schon bevor Starck seine theologische Laufbahn begann, trat er in eine geistesgeschichtliche Tradition ein, die im Widerspruch zur Dogmatik aller christlichen Konfessionen stand. Der streng durchgeführte Dualismus erlaubt es, dieses in Umrissen erkennbare Lehrgebäude als „christliche Gnosis“ einzuordnen. Ein Problem zu seiner konfessionellen Profession sah er nicht: Er sah die Konfession als äußere Kirche und Hüterin der Morallehre, der inneren Kirche war das Gesamtwissen der „Weisheit“ – die theosophische Gesamtlehre – vorbehalten. Die gesellschaftlichen Organisationsformen sind also immer nur wandelbare Hüllen – Starck nennt sie durchgängig Sozietäten. Diese können sich wandeln, man kann sie austauschen, verändern, der unwandelbare Kern bleibt. Diese Hülle-Kern Vorstellung hat Starck in einer sehr erfolgreichen Serie von Freimaurerschriften immer erneut formuliert und wiederholt. Die Schriften erschienen anonym, der Autor

  98 Starck, Johann August, Theoduls Gastmahl über die Vereinigung verschiedener christlicher Religions-Societäten, Frankfurt  a. M. 21810.   99 Vesper, Starck, 33–37. 100 Ebd., 38–42.

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war aber bald bekannt. Es ist die Apologie des Freymaurer-Ordens101, die auch in verschiedene Sprachen übersetzt wurde und es bis nach Russland schaffte, erstmals erschien sie 1769. Ihr folgte, gleichfalls in Königsberg, der Hephästion.102 Hier entwarf Starck ein umfassendes religionsgeschichtliches Konzept. Die Offenbarung erfolgt in Stufen, Mysterien sind in der Religionsgeschichte Träger des Heilswissens, das wenigen in den „Großen Mysterien“, der Masse der Menschen zwecks Sozialdisziplinierung in den „Kleinen Mysterien“ als Morallehre mitgeteilt wird.103 Die christliche Religion ordnete sich in diesen Gang der Offenbarung ein. Diese Konstruktion, die Mysterien als die substanziellen Religionssubjekte sieht, hat den scharfen und profunden Widerspruch von Johann Georg Hamann (1730–1788), der gleichfalls in Königsberg lebte, herausgefordert.104 Im Grunde fügte sich dann auch die Geschichte der christlichen Kirche des ersten Jahrhunderts, an der Starck nach der Veröffentlichung des Hephästion zu arbeiten begann, in das Programm ein. Die christliche Kirche – d. h. die äußere Kirche – wird eben als neuer Schritt im Stufengang der Offenbarung verstanden. Für Freimaurer bestimmt waren dann die Schriften Über den Zweck des Freymaurer-Ordens105 und Über die alten und neuen Mysterien106 (1781 und 1782). Darin wird eben ausgeführt, dass es eine Uroffenbarung gibt, ein Gesamtwissen, das in einer großen Kette der Arkantradition weitergeführt wird und sich wandelnder Sozietäten als Hülle bedient. Dass die Freimaurerei diese Hülle sein sollte, hat er in dem Briefroman St. Nicaise 1786 widerrufen und später noch einmal in der Aurora oder der Weisheit Morgenröthe107 ausdrücklich von jedem Engagement in der Freimaurerei abgeraten. Starck spielte hier ein doppeltes Spiel. Die Schriften behaupteten die Existenz eines Wissens, verborgen im Geheimnis der Freimaurerei, das sie aber nicht enthüllten. Am Ende stand stets nur der Verweis auf den einsamen Wissenden. Schließlich nahm er wegen des Tohuwabohu der Hochgradsysteme auch noch die Hülle weg – und es blieb nur der Verweis auf den Autor selbst übrig.108 An dem schnellen Wechsel und Verfall der Hochgradsysteme, der die Maurerei in eine schwere Krise in den 80er Jahren brachte, war Starck selbst beteiligt. Sein Königsberger Kapitel wollte sich nämlich als die Innere Kirche oder Innerer Orden die Tempelherrenfreimaurerei des Freiherren Karl Gotthelf von Hund (1722–1776) etablieren und konstruierte darin ein „Klerikat“ mit maximal sieben 101 Starck, Johann August, Apologie des Ordens der Frey-Maurer. Von dem Bruder xxxx Mitglied der xx schottischen Loge zu Px, Philadelphia/Königsberg 1770. 102 Starck, Johann August, Hephästion, Berlin/Königsberg 1775, 21776. 103 Vesper, Starck, 158–176. 104 Ebd., 171–175. 105 Starck, Johann August, Ueber den Zweck des Freymaurerordens, Berlin/Himburg 1781. 106 Starck, Johann August, Ueber die alten und neuen Mysterien, Berlin 1782. 107 Der Weisheit Morgenröthe oder Reinhard Morgensterns Epilog an meine lieben Brüder Freymäurer und zugleich ans Publicum, Athen/Wiesbaden 1786. In Vesper, Starck, 251–260 habe ich dargelegt, warum ich Starck für den Autor halte. 108 Vesper, Starck, 260–271.

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Kanonikern hinein, die den Schatz der Weisheit hüten sollten.109 Starck hat umfangreiche Rituale für die historisch-authentische Einkleidung des Ordens konstruiert, dabei kam ihm auch die eigene philologische Arbeit an den Psalmen zugute, die er 1776 in Königsberg publizierte.110 Psalm 111 oder die Weisheitseloge des Buches Hiob dienten als Brücken von der Exoterik zur Esoterik. Septem fortes regiones Septem illustrationes Septiformis circulus! Salve stella matutina Luc de luce, et regina Fax aurorea fulgida! Per tremendum sacramentum Per amoris elementum Totos nos glorifica!111

Die christliche Offenbarung, die Symbolsprache der – naturgemäß aus der mittelalterlichen Liturgie der römisch-katholischen Kirche entwickelte – Ritualistik ist nach außen moralische Geheimlehre, nach innen naturtheosophisches Allwissen. Mit Texten, Gewändern, der Konstruktion einer Historischen Genealogie bzw. Traditionskette, Namen – Starck hieß „Archidemides ab Aquila fulva“ –, Räumlichkeiten, bildlichen Darstellungen wurde – wie in allen Freimaurersystemen – ein geschlossener Mikrokosmos geschaffen, in den die Adepten eintauchten. In den klerikalen Akten findet sich auch der Beleg, dass in den Ritualen bei den Lesungen an einer bestimmten Stelle, das über dem Altar angebrachte Kultbild des Baffumet enthüllt werden sollte, eine mit alchemistischen und kabbalistischen Symbolen überzogene Figur in einer Art „Guckkastentheater“.112 Eine Gegenwelt, 109 Vesper, Starck, 69–79, 271–308. 110 Starck, Johann August, Davidis aliorumque poetarum Hebraicorum carminum libri V.; ex codd. Mss. et antiquis versionibus accurate recensuit et commentariis illustravit, Bd. 1, Teil 1, Königsberg/Leipzig 1776. 111 Die Rituale sind vollständig an drei Fundstellen: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, FM. 5.2, B111, Nr. 776 (Rituale des Klerikates, Kopien von Heinrich Lachmann), hier: B, II, Litera A: Rituale consecrationis canonicorum regularium. Ich danke Herrn Eric Humbertclaude für die Überlassung der Abschriften mit französischer Übersetzung, die er als Thèse angefertigt hat. Mir selbst standen die Archivalien noch nicht zur Verfügung. Ein weiterer Bestand befindet sich in der Bibliothek des Groß-Ostens der Niederlande, heute Bibliotheca Klossiana im Cultural Masonic Center „Prins Frederik“ – hierhin gelangte die große Sammlung des Forschers und Freimaurer Georg Kloss (1787–1854). Die Fundstellen bei Noordziek, Beschrijving der Verzamelingen van het Groot-Osten der Nederlanden. Handschriften der Klossiaansche Bibliotheek, S’Gravenhage 1880, 54–72, 202, 217. 112 Schon im Prozess war den Tempelrittern die Verehrung dieses Idols vorgeworfen worden, um den Abfall vom Christentum zu belegen. Die Darstellung Klossiaansche Bibliotheek 190 E 42 (VII d 16) LV°. Hinweis von Eric Humbertclaude.

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Abb. 2: Aus den klerikalen Akten, die über den Freimaurerforscher Nettelbladt aus dem Provinzialkapitelarchiv von Mecklenburg in das Archiv des Groß-Ostens der Niederlande gelangten (Klossiansche Bibliothek): Fasz. 191 B 20 (VII e 6): Retractio velamenti: „Vera delineatio antiquissimi Baffumeti magici Ordinis Sancti Templi Hierosolymitany“. Der Anblick des für das klerikale Kapitel in Königsberg gefertigen Kultbildes im Ritualraum sollte während der Lesung des Rituals verdeckt sein und erst zum Abschluss frei gegeben werden. Die entsprechenden Ausführungen sind in der Schrift des Ernst Werner von Raven (1727–1787) verfasst, der mit Starck zusammen, das Klerikat mit der Strikten Observanz verband, zu deren „unbekannten Oberen“ er selbst gehörte. Die Zeichnung zeigt ebenso wie die umfangreichen Ritualtexte den Willen zur vollständigen Konstruktion bzw. Inszenierung eines Geheimkultes. Das Bild hat mir freundlicherweise in Kopie Eric Humbertclaude, Paris, überlassen.

zum Teil im liturgischen Gewand der katholischen Kirche. Als Legitimation des Geheimwissens sollte der Eintritt in eine Arkantradition dienen, der entweder durch den Fund von Dokumenten oder durch die Einweihung durch den „Wis-

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senden“ vollzogen werden konnte.113 Im vorliegenden Fall war das die bekannte Templerlegende, die ein Fortbestehen des aufgelösten Templerordens und die Tradition materieller und intellektueller „Schätze“ behauptete und einen Teil der Freimaurersysteme der 70er und 80er Jahre inspirierte.114 Da es Starck bei aller Mühe, die er auf die Verfertigung der umfangreichen Rituale verwandte, nicht um diese Hülle ging, hatte er kein Problem sich auch wieder von dem Templerorden zu distanzieren. Das brachte die Ritter gegen ihn auf, die ja sein Geheimwissen und dessen praktische Ergebnisse mit fünf Sinnen zu erleben erhofften. Es kam sogar zu einem Überfall mit zeitweiliger Gefangennahme, damit er das Geheimwissen herausrücken möge, als Starck von Mitau nach Darmstadt abreiste. Schaden genommen hat er nicht, hinterher hat er die Lage drastisch geschildert und auch im Brief­roman St. Nicaise verarbeitet.115 Für seine Übersiedlung nach Darmstadt – dazu später – hat er eine chiffrierte Übersicht der Geheimlehre verfasst, die seine Schüler dort erwarten durften.116 Das Klerikat ist demnach ein stufenweiser Lernprozess. Er wird wie folgt dargestellt: Im Noviciat wird man durch physicalische Kenntniß allmählich zum Erkenntniß der Natur geführet. Das Canonicat macht diese Urmaterie bekannt und leitet daraus alle andren Erkenntnisse her, welch die intellectuelle und sensuelle Welt angehen. Das Erkenntniß derselben ist die Basis des ganzen Wesens der Geheimnisse. Und da kommen folgende Lehren vor: Von Gott und seinem Wesen, von der intellectuellen Welt, von der der Beziehung von Seele und Körper, von der Befreiung der Seele aus der Körperlichkeit, von Palingenesie und Glorification – und dann Wiederherstellung aller Dinge.

„Dies ist das Précis“, schließt der Text, „der ganzen Lehre, die eigentlich den Namen Magie führt und aus derselben erklären sich auch von selbst die Lehren des Christenthums“. Hier verbindet sich spekulative Theosophie mit auf praktische Ergebnisse abzielender Alchemie („Glorification“) zur Gewinnung der „Materia prima“. Starck wollte seinen Zufluchtsort Mitau unbedingt verlassen. Den Weg öffnete seine Reputation als geistlicher Führer. Dieser Kompetenz sollten die oben zitierten 113 Vesper, Starck, 271–308. Wer nach den geistesgeschichtlichen Quellen fragt, stößt auf die „Filosofia Ermetica“ des legendären Alchemisten Frederico Gualdo, der im 17. Jahrhundert lebte. Schon Runkel, Ferdinand, Geschichte der Freimaurerei in Deutschland, Bd. 1, Berlin 1930, 330–333, verwies darauf, dass Starck über dieses Werk verfügte. Humbertclaude, Eric, Federico Gualdi à Venise fragments retrouvés (1660–1678) Recherches sur un exploitant minier alchimiste, Paris 2010, hat noch tiefer geschürft und auch die Bestände der klerikalen Akten in Den Haag ausgewertet. 114 Partner, Peter, The Knights Templar and their Myth, Oxford 21990; LeForestier, René, La Francmaçonnerie Templière et Occultiste aux XVIIIe et XIXe Siècles, hg. v. A. Faivre, Paris 1970. 115 Vesper, Starck, 92. 116 HStAD, Konv. D4, Fasz. 3, 58–59. Der Schlüssel befindet sich bei den Akten. Die religionsgeschichtliche Analyse des Materials müsste aufgrund des nun doch sehr gut fassbaren Quellenmaterials noch einmal im Zusammenhang erfolgen. Eric Humbertclaude hat mich darauf hingewiesen, dass vor allem im „Liber Mirang-Muni“, Bibliotheca Klossiana (Anm. 96) 191 B 30 (VII e 16) Starcks theosophisches System Ausdruck finde.

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Hinweise auf sein Lehrgebäude dienen. Er diente sich einer Gruppe von jungen Fürsten aus den Häusern Hessen-Darmstadt, Nassau-Usingen und MecklenburgSchwerin an – alle verschwägert, darunter der Erbprinz und spätere Großherzog Ludewig.117 Für den Bund der Sieben wurde er nach Darmstadt geholt, nicht ohne, dass er sich zunächst ausführlich dem Konsistorium gegenüber als rechtgläubig rechtfertigen musste. Er hatte eben den Ruf eines radikalen Aufklärers vom Schlage Bahrdts, der ihm gerade, wie dargestellt, in der ersten Auflage seines Kirchen- und Ketzeralmanachs einen Ehrenplatz einräumte. Starck blieb wie gesagt in der hohen Gunst dieser Fürstengruppe und er blieb auch seiner Geheimlehre treu. Neben dem Kreis politischer Propagandisten, pflegte er auch zumindest über lange Zeit einen esoterischen „Engbund“.118 Der bereits erwähnte Briefwechsel mit Diethelm Lavater belegt, dass er diese Lehre weiterentwickelt und auch ein alchemistisches Labor mit seinem Famulus unterhielt. Er glaubte auch mit einer Gallertalge die materia prima, als Ausgangsstoff aller Spezifikationen, gefunden zu haben: Tremella Nostoc, nach Paracelsus: Himmelsblume:119 Das Nóstoch, des -es, plur. inus. eine sonderbare Pflanze, welche zu dem Geschlechte der Gallerten gehöret, und welche ganz aus einem einzigen Blatte ohne Wurzeln bestehet, und sich nur nach einem Regen wie ein Schwamm voll Wasser ziehet und alsdann einer Gallerte ähnlich siehet. Nach ein Paar Stunden Sonnenschein oder nach einem starken Winde zerfällt sie wieder in ein trocknes schwarzbraunes Blatt, welches kaum noch sichtbar ist. Tremella Nostoc L. Man findet es nach dem Regen auf den Wiesen und in den Gartengängen. Der Nahme ist ausländisch. Paracelsus nennet dieses Gewächs Carefolium, andere im Deutschen Himmelsblume, Himmelsblatt, Erdblume.120

Starck hoffte sie als Panazee zu nutzen und wandte sie auch persönlich zur Therapie an. Starck blieb diesen Studien bis zu seinem Lebensende treu. In seinem Testament an den Adoptivsohn und Erben warnte er diesen leidenschaftlich vor der Freimaurerei, mit der er seit den 80ern gebrochen hatte, und eröffnete über einen Treuhänder den Zugang zu den theoretischen und praktischen Arkanschriften. Er stellte ihm frei, sich dieses Themenfeldes anzunehmen, ansonsten solle alles vernichtet werden.121 Was wohl auch geschah. Die 4000 Bände umfassende Bibliothek, die der Großherzog erwarb, enthält keine Schriften aus diesem Bereich. Aus der Situation der „Verfolgung“, die er natürlich stark übertrieb, entwickelte Strack einen tiefen Hass gegen Aufklärer und Aufklärung – im Grunde widerrief er dabei seine Überzeugungen, wenn auch mit der Rhetorik der wahren christ-

117 Vesper, Starck, 94–102; Krüger, Gustav, Johann August Starck und der Bund der Sieben, in: H. von der Au u. a. (Hg.), Ich dien. (Festschrift für Wilhelm Diehl), Darmstadt 1931, 237–259. 118 Vesper, Starck, 136–145. 119 Ebd., 348f. 120 Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig 1798, 523. 121 Vesper, Starck, 142f.

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lichen Aufklärung bemäntelt. Er widmete sich – wie angekündigt – dem Kampf gegen das Böse. Dabei ging seine Radikalisierung durchaus so weit, dass er sich selbst in der Prophetenfigur erkannt sehen wollte: Mit der Schrift Cassandra der neue Prophet Micha über die Säcularisation und ihre Folgen122 sprach er sich 1798 für die Erhaltung der Ordnung des Sacrum Imperium aus – die Rheinbundpolitik seines Herren Ludewig, der sich von Geld, Land und Titel locken ließ, muss ihm ein Gräuel gewesen sein. Sieht man nun, wie Starck seine geheimbündlerisch-konspirative Grunddisposition in die politische Sphäre übertrug, kann man hier von einem Leben im Arkanum sprechen. Die Frage, wie ein protestantischer Geistlicher die Spannung zwischen den ja offensichtlich von dem konfessionellen Lehrgebäude widersprechenden weltanschaulichen Grundlagen und seiner beruflichen Stellung aushielt, ist nach dem bisher Gesagten einfach zu beantworten. In einer Notiz in den Darmstädter Akten sprach Starck seine Auffassung sehr klar aus: Man muß nicht die innere Kirche mit der äußern noch die katholische Kirche mit der Römischen Kirche verwechseln. Hier ist die Kirche nichts anders als diejenige welche auf die wahre göttliche Offenbarung gegründet ist. Geheime Lehren, die mit dem Glauben der Kirche nicht übereinstimmen sind falsch und strafbar und verdienen mit Ausstoßung und Bann belegt zu werden. Die wahre Offenbarung ist der sicherste Weg zu der Vereinigung mit Gott und eine Lehre, die auf das Evangelium ruhet kann nicht trügen.123

Hier kommt es auf die Wortwahl an: Der legitime Anspruch darauf, „Kirche“ zu sein, gründet sich auf die „wahre göttliche Offenbarung“ – die in den inneren Orden zu finden ist. Diethelm Lavater schrieb er in diesem Sinne: Ob indessen die Wahrheiten der Religion von Christo, dem einigen und wesentlichen Sohn Gottes und dem Erlöser der Welt durch seinen Tod und alles, was zur Heiligung, das ist sittliche Verbesserung des Menschen und seiner gegenwärtigen und künftigen Wohlfahrt dient, durch dasjenige, was das Geheimnis des Ordens enthält, nicht ein grössere Bestätigung erhalte, und ob das Metaphysische darin nicht durch das Physische bekräftigt werde, ist eine andere Frage.124

122 Starck, Johann August, Cassandra oder der neue Prophet Micha über die Säcularisation und ihre Folgen, Berlin/Himburg 1798. 123 HStAD, D4, Konv. 583, Faz. 1, 14v. 124 Starck an D. Lavater, 23.10.1809 (Zimmermann, Briefwechsel, 144, 28). Diethelm Lavater zeigte sich in dem Briefwechsel schließlich mehr und mehr als entschiedener Gegner einer „mystischen Theologie“ (ebd., 262, 82).

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Angespielt wird hier auf eine theosophisch-alchemistische Soteriologie – Christus als Lapis philosophorum. So bildeten konfessionelles Predigeramt und Mystagogen­ tum keinen Gegensatz, sondern ergänzten einander. Johann Caspar Lavater kannte Gott und die Welt, er pflegte Beziehungen nach den verschiedensten Seiten. Mit Sicherheit wusste er auch viel über Starck, über den Mann, der sich ihm da als Verbündeter und Mitstreiter, als Gleichgesinnter anbot. Vielleicht waren seine freundliche Zurückhaltung und entschiedene Distanzwahrung darin begründet, dass er doch schon zu viel über ihn wusste oder doch zumindest ahnte.

Öffentlichkeit, Pädagogik und Politik

Anett Lütteken

„Neü sey jeglichen Tag dein Bedürfniss nach ewigen Dingen!“1 Johann Caspar Lavater als Seelsorger und öffentliche Instanz in politisch bewegten Zeiten

1. Zeitgenössische Kommentare oder ambivalent affizierende Rhetorik Der livländische Dichter und Maler Karl Gotthard Graß (1767–1814), von Haus aus selbst ein Theologe, war sichtlich enttäuscht. „Heute früh ging ich in Lavaters Predigt“, notierte er am 13. November 1796 während seines Aufenthalts in Zürich: Er redete von der Gleichgültigkeit gegen die Religion als einer höchst unverantwortlichen und höchst gefährlichen Sache. Er bewies es in Ansehung der Hoheit und der Liebenswürdigkeit des Stifters und in Ansehung der Forderungen und Verheißungen des Christentums. Unleugbar war viel Salbung und Kraft in seiner Sprache, dennoch schien mir die Materie wenig zweckmäßig.2

Zudem habe die Predigt sein Herz nicht „berührt“. Auch dies ein Defizit, denn die Aufgabe des „Religionslehrer[s]“ sei es doch schließlich, so Graß, „Verstand und Herz zu ergreifen“. Auch wenn er hier ganz offenkundig die politische Brisanz des Predigtgegenstandes in der konkreten historischen Situation verkannte – das theologische Problem des Indifferentismus bzw. der „Lauigkeit“3 im engeren Sinne war durch die

1 Lavater, Johann Caspar, An eine christliche Freündinn zu verschiedenen Zeiten. Eintrag vom 1. Januar 1790: „Neü sey jeglichen Tag dein Bedürfniss nach ewigen Dingen! / Neü Dir jeglichen Abend an gute Thaten Erinn’rung! / Neü Dir jeglichen Morgen die Hoffnung unendlichen Da­ seyns. / Neü Dir jegliche Nacht, die kindlichste Gottesgewissheit“, zitiert nach: Ders., Hand-Bibliotheck für Freünde, Bd. 24: 1793 an Freündin von Muralt, Zürich 1793, 5, https://www.e-rara.ch. 2 Graß, Wilhelm, Karl Gotthard Graß, ein Balte aus Schillers Freundeskreise. Ein Gedenkblatt aus Deutschlands klassischer Zeit, Reval 1912, Tagebucheintrag vom 13.11.1796, 81f. 3 Vgl. auch: o.N., Art. Lauigkeit, Vollständiges Lexikon für Prediger und Katecheten, Bd. 6, Augsburg 1803, 195–223.

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Ereignisse seit 1789 unübersehbar um die Dimension der Existenzberechtigung der Kirche(n) in einer rabiat modernisierten Gesellschaft erweitert worden –4, so verfügte Graß doch unabhängig davon und ebenso wie viele andere Zeitgenossen über einen ausgeprägten Sinn für die Sprachmächtigkeit und Präsenz des Redners Lavater.5 Der dem Theologen persönlich näherstehende Zeitgenosse Friedrich Leopold Stolberg (1750–1819) machte sich anlässlich eines neuerlichen Besuches in Zürich im September des Jahres 1791 ebenfalls Gedanken zur Wahrnehmung der privaten wie der öffentlichen Person: Die Zeit, Gedanken und Empfindungen, haben ihre Furchen auf dem Gesicht unsers Lavaters gezogen. Er hat um mehr als um sechzehn Jahr geältert. Aber die ewige Jugend seines Geistes und Herzens, seine herzliche Freundlichkeit, seine Laune, seine Heiterkeit, sind noch dieselben. Die Neckereien seiner Feinde haben ihn nicht angefochten, haben nicht den festen und frohen Glauben an reine Menschheit bei ihm geschwächt, welcher immer einer seiner eigenthümlichsten Charakterzüge war.6

Was Graß in der Predigt so schmerzlich vermisst hatte, attestierte Stolberg hier dem Menschen Lavater umso bereitwilliger, nämlich die „ewige Jugend seines Geistes und Herzens“ und dazu eine trotz aller Fährnisse und Widrigkeiten unverrückbare christliche Überzeugungsfestigkeit als Ausgangspunkt auch seiner öffentlichen Wirksamkeit. Der Zürcher Buchdrucker und Zeitungsherausgeber Johann Heinrich Bürkli (1760–1821) endlich bewertete die öffentlichen Auftritte des Anfang 1801 nach schwerem Leiden verstorbenen Lavater im selben Jahr im Bändchen Ein bescheidenes Blümchen auf Lavaters Grab distanzlos verklärend und mit maximal gestei-

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Zur (alle Konfessionen betreffenden) Relevanz dieses Aspekts: Willems, Paulutius, Rede wider die Gleichgültigkeit gegen eine von Gott geoffenbarte Religion: an dem hohen Fronleichnamsfeste Bey gewöhnlicher Feyerlichkeit zu Mühlheim am Rheine, o. O. 1793, 4, der die „Gleichgültigkeit gegen eine von Gott geoffenbarte Religion […], die noch nie so hoch aufgethürmt war, als in unsern Tagen“, erörterte; vgl. auch: Hess, Johann Jakob, Der Christ bey Gefahren des Vaterlandes. Predigten, zuu[!]r Revolutionszeit gehalten, Bd. 1, Winterthur 1799–1800, V, VII: „Ueberhaupt mußte das Augenmerk auf Erhaltung, Belebung und Befestigung der noch vorgefundenen religiosen Gesinnungen gerichtet seyn; auf deren Schwächung und Vertilgung der Geist des Zeitalters nur allzu sichtbar und betriebsam arbeitete“. Vgl. auch die vom katholischen Geistlichen Johann Settele (1764–1797) mitgeteilte Einschätzung Johann Gottfried Herders: „Lavater gewinne sehr vieles, wenn man ihn persönlich känne. Er habe etwas anziehendes. Seitdem er ihn gesehen habe, sey er sehr für ihn eingenommen. Er könne sich itzt besser als andere in seine Denkart hinein denken“ (zitiert nach: Weigelt, Horst, Lavater und die Frömmigkeit, in: K. Pestalozzi/H. Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 31), Göttingen 1994, 79–91, hier 79. Graf zu Stolberg, Friedrich Leopold, Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien, Bd. 1, Königsberg/Leipzig 1794, 78.

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gerter pathetischer Emphase, wobei davon auszugehen ist, dass seine Einschätzung in der damaligen Zürcher Gesellschaft durchaus konsensfähig war: Was war Lavaters Tod für unsre ganze Stadt? Ein Donnerschlag war er, der jedes Gefühlvolle Herz niederschmetterte, betäubte, stumm machte. Ist’s möglich, Lavater todt? Er, die Zierde unsrer Stadt, der Ruhm unsers Vaterlandes, Er, der größte Zürcher, der größte Schweizer, Er, der Einzige? […] Lavaters Tod erschüttert ganz Europa; […] O, wie ströhmte alles hin den todten Lavater zu sehen: Zu sehen jenes Aug voll Feuer und Liebe, und jetzt erblaßt; zu sehen jene Lippen, ab welchen aus unerschöpflicher Quelle Ströhme der Beredsamkeit floßen.7

Auf eben diese für das Zeitalter wie den Berufsstand augenscheinlich ebenso ungewöhnliche wie „hinreissende […] Beredsamkeit“ war kurz zuvor schon Johann Conrad von Orelli (1770–1826) in seiner Predigt zum Gedenken an Lavater vom 11. Januar 1801 explizit eingegangen.8 Da es offenbar ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen war, sich in rhetorischer Hinsicht ausgerechnet bei diesem Anlass mit dem Verstorbenen messen zu wollen, spotteten die Neuen theologischen Annalen denn auch umgehend über Orellis vermeintlich unzulängliche Leistung bei der Erfüllung seiner geistlichen Pflichten: „Wie leid muß es doch Lavatern im Himmel thun, daß er den guten Gedanken auf den Fall des Todes die ausdrückliche Bitte zu hinterlassen, daß nicht von ihm gepredigt würde, nicht ausgeführt hat!“9 Das im direkten Vergleich zu Lavater eher limitierte Sprach- und Sprechvermögen Orellis war mithin wenigstens für Augen- und Ohrenzeugen vor Ort deutlich wahrnehmbar gewesen. Und auch die im Lavater-Schrifttum verbreiteten habituellen Hinweise auf das herausragende Rednertalent des Verstorbenen lassen darauf schließen, dass es im kollektiven Gedächtnis als Charakteristikum und Alleinstellungsmerkmal fest verankert war.

  7 Bürkli, Johann Heinrich, Ein bescheidenes Blümchen auf Lavaters Grab. In den Blumenkranz seiner Freunde, Zürich 1801, 20.   8 Orelli, Johann Conrad von, Predigt zum Andenken Lavaters, über Hebr. XIII. 7. Gehalten, den 11. Jenner 1801, Zürich 1801, 3: „O wie vieles ist mit diesem Manne […] uns weggestorben? Das Vaterland; es verliert an ihm einen Freund; der mit ganzer Seele sich seiner annahm […]; die Kirche traurt um den Lehrer, der an Kraft und Wärme, an hinreissender Beredsamkeit weniges seines gleichen in der Welt hatte […]. Seine Gemeinde traurt um den Seelsorger von der strengsten Gewissenhaftigkeit, dessen eifrigstes Bestreben war, Allen alles zu seyn“.   9 Zu von Orelli, Predigt: o.N., Neue theologische Annalen 2 (1801), St. 33, 622; vgl. ebd., 623–625; auch die Rezension zu Gessner, Georg (Hg.), Johann Caspar Lavaters Nachgelassene Schriften, Zürich 1801, in der insbesondere die politischen Stellungnahmen Lavaters gewürdigt werden.

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Glaubt man den einhelligen Berichten, liegt der Schluss nahe, dass Lavater mit hohem Perfektionsgrad u. a. die Technik beherrscht hatte, das Auredit,10 den „Hörakt des Glaubens“, bei seiner Zuhörerschar facettenreich ins Werk setzen zu können.11 Dieses (gemäß heutiger Terminologie) „Zuhörerereignis“12 hatte sogar noch den Theologie-Aussteiger Graß berührt. Erkennbar an seinem direkten Hinweis auf die salbungsvolle Sprache Lavaters, womit er diesem immerhin bescheinigt hatte, das Amt des Predigers angemessen zu vollziehen. Denn es ist wohl davon auszugehen, dass Graß unter „Salbung“ verstand, was in Zedlers Universal-Lexikon als „die gnädige Würckung des heiligen Geistes“ in Kombination „mit der seeligmachenden Erkänntniß Christi“ definiert wird, die sich eben mit der „Ausgiessung einer köstlichen Salbe“ vergleichen lasse.13 Im Folgenden soll nun u. a. die spezifische Leuchtkraft der gesprochenen wie der geschriebenen Sprache Lavaters etwas genauer betrachtet werden, ohne die seine öffentliche Resonanz kaum denkbar wäre.14 Ein solcher Ansatz kann eingedenk der Vielfalt wie der Quantität der überlieferten Quellen selbstredend nur Stückwerk sein. Nichtsdestotrotz erscheint es legitim zu versuchen, die Facetten der sozialen Dynamik zwischen Seelsorger, Kirchgemeinde und dem Gemein­ wesen Zürichs auch und gerade aus dieser Perspektive wahrzunehmen. Wenigstens ansatzweise mag sich derart rekonstruieren lassen, über welche Stationen und mittels welcher Talente und Techniken Lavater eigentlich in seine, in den politisch aufgewühlten postrevolutionären 1790er Jahren die Zürcher Öffentlichkeit so stark dominierende Rolle hat hineinwachsen können.15

10 Engemann, Wilfried, Einführung in die Homiletik, Tübingen/Basel 22011, 11, 210; Rinn, Angela, Die Kurze Form der Predigt: Interdisziplinäre Erwägungen zu einer Herausforderung für die Homiletik, (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 86), Göttingen 2016, 175. 11 Vgl. Nisslmüller, Thomas, Homo audiens. Der Hör-Akt des Glaubens und die akustische Rezeption im Predigtgeschehen, Göttingen 2008. Es wäre zu prüfen, ob bzw. in welchem Umfang sich der auf die Gegenwart bezogene Ansatz mitsamt der feindifferenzierten Typologie des Hörens auch für Forschungen zur historischen Homiletik verwenden lässt. 12 Vgl. Barnbrock, Christoph, Vom Hören der Heiligen Schrift, Lutherische Theologie und Kirche 39 (2015), 129–155, 145; zu: Pohl-Patalong, Uta, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011. 13 Zedler, J.H., Art. Salbung (Geistliche), Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 33 (S-San), Leipzig/Halle 1742, 831–837, hier 831. 14 Zur Predigttätigkeit Lavaters in unterschiedlichen Funktionen sowie zum Seelsorgeverständnis: vgl. Sauer, Klaus Martin, Öffentlicher Lehrer und Stellvertreter Jesu. Lavaters Predigttätigkeit in Zürich, in: Pestalozzi/Weigelt (Hg.), Antlitz, 149–165, hier 150–154. 15 Vgl. die ebenso eindrückliche wie differenzierte Würdigung des Theologen Lavater von Ebeling, Gerhard, Genie des Herzens unter dem genius saeculi – Johann Caspar Lavater als Theologe, in: Pestalozzi/Weigelt (Hg.), Antlitz, 23–60; und ebd., 25, auch die Aussagen über den beim Umgang mit Lavater stets naheliegenden „Eindruck von etwas Schillerndem, schwer Bestimmbarem, Ambivalentem“.

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2. Vom ungelenken Jüngling zum Charismatiker: Lavater-Topoi Dass dem Knaben und Jüngling das Talent zur Menschenfängerei wie zum mitreißenden Auftreten nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden war, hat sein Schwiegersohn Georg Geßner (1765–1843) in anekdotischer Form beschrieben:16 Lavaters Mutter habe „an ihm eine gewisse Unbeholfenheit in seinen Gebährden“ bemerkt, „sein Gang“ sei „gebogen“ gewesen und „sein ganzes Benehmen“ habe „etwas ungewandtes“ gehabt, weshalb man beschlossen hatte, „daß er mit seinen Geschwistern eine Zeitlang einen Tanzmeister haben müsse. O wie herzlich er nachher oft darüber lachte.“17 So wenig man sich den juvenilen Lavater beim „Tanzmeister“ vorstellen kann, so leicht fällt es im Gegensatz dazu, den reifen Mann im übertragenen Sinne als einen tonangebenden primus inter pares und damit seinerseits als eine Art „Tanzmeister“ der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Auch wenn hier nicht der Ort ist, diese Metamorphose kleinteilig zu erläutern, so sei doch wenigstens das zugehörige Desiderat bezeichnet: Das Entstehen wie die Fernwirkungen der Lavater-Hagiographie harren nach wie vor einer hinreichend distanzierten Erforschung. An dieser Stelle soll nun freilich gerade nicht vorausgesetzt werden, dass Lavater ein typischer Charismatiker gewesen ist, weshalb seine Wirkung auf andere im Detail ohnehin unerklärbar bleiben muss. Stattdessen ist ein anderer Zugang zu favorisieren, nämlich, dass weder die Lavater zweifelsohne zuzuschreibende überragende Intellektualität noch seine rhetorische Befähigung vom Himmel gefallen waren, sondern vielmehr und zu sehr hohen Anteilen als extreme Konsequenz unausgesetzter Bemühungen, strikter Disziplinierung und demütiger Frömmigkeit gelten müssen.18 Daher soll hier keine wie auch immer geartete Aura erklärt oder negiert und auch Lavaters Ruhm nirgendwo durch den Hinweis auf dessen durch Selbststudium erarbeitete profunde Bildung despektierlich geschmälert werden. Seiner immensen Wirksamkeit im Kontext des Zeitalters wie des direkten sozialen Umfeldes soll dagegen das besondere Augenmerk gelten, wobei diese Resonanz punktuell auf gewisse Grundmuster auch seines sprachlichen Verhaltens zurückgeführt werden soll.

16 Bächtold, H.-U, Art. Georg Gessner, HLS, 2005, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010633/ 2005-08-29/; Wyss, G. von, Art. Georg Geßner, Allgemeine Deutsche Biographie 9, 1879, 96–97, https://www.deutsche-biographie.de/sfz45740.html; vgl. auch: Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Ergänzungsband: Anna Barbara von Muralt (1727– 1805). Anekdoten aus Lavaters Leben, 2 Bde., hg. v. U. Caflisch-Schnetzler/C. Ulrich, Zürich 2011. 17 Gessner, Georg, Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung von seinem Tochtermann, Bd. 1, Winterthur 1802–1803, 64f; vgl. auch die drei Titelkupfer von Johann Heinrich Lips (1758–1817), die die Tendenz zur Inszenierung und Stilisierung des Werdegangs unterstreichen. 18 Vgl. Weigelt, Frömmigkeit, 79–91, hier 79f.

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Als weiterer, hier relevanter Kontext ist die sogenannte „Krise der Rhetorik“19 „im ausgehenden 18. Jahrhundert“ zu benennen, die Manfred Fuhrmann bereits 1983 konstatiert und in direktem Zusammenhang mit der „kolossale[n] Wertsteigerung“ der „poetische[n] Praxis“ gesehen hat. Dieser „Krise der Rhetorik“ (und ggfs. auch einer in direktem Zusammenhang damit stehenden Krise der Homiletik) sollte, so der Ansatz, gerade im Falle Lavaters eine besondere Aufmerksamkeit gelten, da er Akteur beider Welten war, wenn auch zu unterschiedlichen Anteilen. Ob also z. B. Lavaters Predigten Rückschlüsse auf den damaligen Zustand der reformierten Homiletik insgesamt zulassen, wird man eher skeptisch betrachten dürfen, wie denn überhaupt die Repräsentativität dieses Mannes für sein Zeitalter wie für seine Zeitgenossen fragwürdig scheint. Nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist zudem, dass man womöglich besser mit der Ambiguität Lavaters klarkäme, wenn man ihn von vornherein als nur sehr bedingt Regeln und Normenaffirmierende und konsolidierende und dabei ausgesprochen authentische Ausnahmeerscheinung verbuchte.20 In welchem Verhältnis die Eigengesetzlichkeit der Person und ihre Systemkonformität in kirchlicher wie gesellschaftlicher Hinsicht standen, sollte sich gleichwohl exemplarisch erfassen lassen, auch wenn es im konkreten Fall kaum möglich scheint, die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Person, zwischen Habitus, Selbstinszenierung, Amtsverständnis, sozialer Rolle mitsamt der Lust, Gruppendynamiken zu steuern und Deutungshoheit zu postulieren, und der individuellen Gefühlswelt auszuloten. Das ist keineswegs gleichbedeutend mit der willentlichen Selbstaufgabe Lavaters, signalisiert aber unter Umständen dessen weitgehende Bereitschaft, zugunsten der Wahrnehmung öffentlicher Funktionen Privates, Persönliches und Intimes auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Die Berichte über seine Krankengeschichte und das letzte Lebensjahr wären mit Gewinn auch von dieser Warte zu betrachten. Lavaters Auftreten in einschlägigen Zusammenhängen und mit einem gewissen Schwerpunkt auf den 1790er Jahren gilt es also zu untersuchen, um, wenn man so will, das Geheimnis seines Erfolges grob chronologisch nachzuvollziehen und es insgesamt besser verstehen zu können. Dementsprechend sind die seit seiner Berufung an die Waisenhauskirche 1769 stetig zunehmenden schulpflegerischen Tätigkeiten an der Waisenhauskirche bzw. an St. Peter einzubeziehen, darunter auch einige Spezifika der Adressatenorientierung seiner Schulreden. Das „Amt des Predigers“ und Seelsorgers Lavaters sowie dessen Techniken, um die damit einhergehende überbordende Arbeitsbelastung

19 Vgl. Fuhrmann, Manfred, Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert, (Konstanzer Universitätsreden 147), Konstanz 1983, 14f; sowie den Sammelband: Friedrich, Hans-Edwin u. a. (Hg.), Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen, Berlin/New York 2011. 20 Zur Wahrnehmung der Zeitgenossen vgl. o.N., Uebersicht dessen, was im achtzehnten Jahrhundert für Homiletik und Predigtwesen unter Protestanten gewirkt worden ist, Journal für Prediger 40 (1801), 1–55. Lavaters Kanzelvortrag findet in der weitgespannten, reformierte Theologen freilich eher am Rande berücksichtigenden Abhandlung keine Erwähnung.

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zu bewältigen, werden danach im Kontext seiner Tätigkeit an der Kirche St. Peter, wo er seit 1786 Pfarrer war, zu untersuchen sein. Drittens und letztens soll der Politisierung von Lavaters Auftreten ein Seitenblick gelten. Wie sich seine Omnipräsenz in der Öffentlichkeit auf den privaten Menschen auswirkte, bleibt dagegen in anderen Kontexten zu diskutieren.

3. Professionelle Adressatenorientierung, kindgerechte Sprache oder Einblicke in Lavaters Engagement für eine zeitgemäße Bildung Im Nachlass Lavaters in der Zentralbibliothek Zürich befindet sich ein Konvolut kleinformatiger Karten, auf denen er seinen Auftritt in der Funktion des Scholars auf dem Schulbelangen geltenden „Auffahrtsconvent“ im Mai des Jahres 1792 minutiös dokumentierte.21 Die besonders sorgfältige und kleinteilige Aufbereitung des Konvoluts legt es nahe, dass Lavater diese Sammlung nicht nur für sich und den Anlass selbst erstellte, sondern diese womöglich angehenden Kandidaten der Theologie als repräsentative Sammlung von Textbausteinen zur Verfügung stellte. Der erste Eindruck bei diesem Blick in die Sprachwerkstatt Lavaters ist: Er überließ nichts dem Zufall oder spontaner Eingebung. Jede noch so kleine Äußerung vor der Öffentlichkeit wie hier, vor dem Schulgremium, war wohlüberlegt und sollte dazu dienen, die Zuhörer geneigt (und/oder gefügig) zu stimmen. Dementsprechend beginnt der Reigen der allesamt in Schönschrift gestalteten Kärtchen mit dem Blatt Titulatur. Hier fixierte Lavater selbst noch die allgemeinsten Begrüßungsformeln akribisch amts-, status- und standesabhängig bis in den kleinsten Wortlaut hinein. Namentlich die zahlreich beigegebenen Adjektive (z. B. „fromme, weise, vorsichtige“) dürften dabei durchaus geeignet gewesen sein, um die Angeredeten würdig zu begrüßen und deren Wohlwollen zu heischen.22 Es kann nun keinerlei Zweifel darüber bestehen, dass Lavater in hochgradig perfektionierter Weise beherrschte, was im entsprechenden Eintrag des Zedler-Lexikons als die

21 Zentralbibliothek Zürich [ZBZ], Familienarchiv Lavater [FA Lav] Ms 46.a: „Agenda, am Auffahrtsconvent. Donnerstags, den 17. May 1792 vom Prorectore J.C.L“; zur traditionellen Schulrhetorik: Seidel, Robert, Konservative Reformer – Johann Heinrich Hirzel, David Holzhalb und der Rhetorikunterricht am Zürcher Collegium Carolinum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: H.-P. Marti/K. Marti-Weissenbach (Hg.), Reformierte Orthodoxie und Aufklärung. Die Zürcher Hohe Schule im 18. Jahrhundert, Wien u. a. 2012, 165–188. 22 ZBZ, FA Lav Ms 46.3: „Hochgeachter, wolweiser Herr Statthalter – Hochgeachtet hochedelgebohrne, wohledelgestrenge, fromme, weise, vorsichtige, gnädige Herren, würdige Vorsteher des Zürcherschen Gymnasiums! Hochwürdiger Herr Antistes! Hochwürdige, hochehrwürdige, hochgelehrte, hochverdiente vortrefliche Herren Väter und Brüder“.

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„Kunst oder Wissenschaft, jedem sein gebührendes Prädicat, Titul, und EhrenNahmen beyzulegen“, bezeichnet wird.23 Doch damit nicht genug, denn Lavater, der derlei Anreden wohl auch gänzlich ohne Hilfskärtchen aus dem Ärmel hätte schütteln können, dokumentierte im besagten Konvolut akribisch, was er unter einer angemessenen Vorbereitung eines solchen hochoffiziellen Anlasses verstanden wissen wollte. Zu finden sind darin dementsprechend eine Art Ablaufplan, der nicht nur das Einhalten der geplanten Reihenfolge gewährleistete, sondern zugleich dazu diente, anhand von Überschriften die wichtigsten Redeteile und -inhalte zu organisieren. Die Würdenträger und Amtspersonen wurden jeweils separat und funktionsspezifisch angesprochen („An die obersten Schulherren empfohlen“; „An Hn. Antistes“; „An die Præceptores“).24 Sämtliche Kärtchen zeugen von hochgradiger Professionalität bezüglich des öffentlichen Auftritts und von einem ausgesprochen differenzierten Wissen über die republikanische Spielart des Zeremoniells. Hervorzuheben ist zudem die drastisch vereinnahmende Verbindlichkeit, die Lavater buchstäblich mit allen rhetorischen Mitteln anstrebte: Den „obersten Schulherren“ legte er, kaum, dass er sie begrüßt hatte, nahe: „Lassen Sie sich stets und ununterbrochen das Schulwesen als den wichtigsten Theil des Staats am Herzen ligen“. Und den „treüe[n], schwerbeladne[n], unermüdete[n]“ Lehrern rief er zu: „O daß ich allen Vätern des Vaterlandes und allen Vätern und Müttern derer die Ihr bildet, sagen könnte, wie ich eüch von Ihnen allen geliebt, verehrt, unterstützt und gesegnet wünschte!“25 So gewandt und zugleich zugewandt angesprochen zu werden, dürfte in der Tat viele der Anwesenden für den Redner eingenommen haben. Inwieweit das Fixieren bis ins kleinste Sprachdetail mit dem Ideal des freien Sprechens kollidierte, mag man sich fragen können, zumal natürlich das Formelund Floskelhafte kaum übersehbar ist. Das eloquente Umarmen und Umgarnen mit dem Ziel, in die jeweilige Pflicht zu nehmen, funktionierte jedenfalls ganz offenkundig. Der Ernsthaftigkeit, mit der Lavater z. B. im Empfehlung der Schule bezeichneten Teil die Zuhörerschaft aufforderte mitzuwirken, eignet etwas sehr Würdiges, Strenges und Bezwingendes. Letzteres auch deshalb, weil Lavater das Bildungswesen konsequent als kollektives gesellschaftliches Anliegen sowie als Verbund relevanter Akteure, das, wenn überhaupt, nur im Zusammenspiel funktionieren kann, beschrieb: Euch hüpfe das Herz, bey dem Namen, Schule, Schullehrer, Schulmann, Schüler! Eüre Achtung sey Achtung der Vernunft und des Herzens! Sie sey tief und unerschütterlich! Sie sey thätig und wirksam! Sie sey unzweydeütig und fruchtbar! Sie sey nie keinem Verdachte der Unherzlichkeit und Kälte ausgesetzt.26 23 Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 44: Ti-Trao, Leipzig/Halle 1745, 520. 24 ZBZ, FA Lav Ms 46.3. 25 Ebd. 26 Ebd.

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Es liegt nahe anzunehmen, dass hier nicht allein anlassbezogen, sondern zugleich von übergeordneter bildungspolitischer Warte argumentiert wurde. Und auch wenn der eingangs zitierte Karl Gotthard Graß bezweifelt hatte, dass Lavater „Herz und Verstand“ zusammenbringen konnte: In dieser Schulrede kennzeichnete er selbst eben diese Kombination als maßgeblich für die breite Verankerung der Bildung in der Gesellschaft sowie als Basis für ein blühendes Gemeinwesen. Inwiefern er damit tatsächlich aktuelle volksaufklärerische Themen bediente oder weitertrug (ein Ansinnen, das ihm in jüngeren Jahren avant la lettre bereits sein Mentor Johann Jakob Bodmer nahegebracht hatte), bliebe eigens zu untersuchen. Unabhängig davon lässt sich an den schlichten kurzen Sätzen ablesen, wie ungemein routiniert Lavater zu reden verstand, erkennbar etwa an der Wiederholung von Textbausteinen und deren reihender Verzahnung („Euch hüpfe“ / „Eure Achtung sey“ / das viermalige und jeweils inhaltlich variierende „sie sey“) und dazu an den, eine gewisse Emphase der mündlichen Rede signalisierenden Ausrufezeichen. Ähnlich markant fielen seine Worte auf dem Kärtchen zur Resignation, zur Entlastung bzw. zum Amtsverzicht also, aus.27 Da das Ende einer Rede ohnedies als ein rhetorischer Markstein gelten kann, verwundert es kaum, dass Lavater sich herausgefordert fühlte, auch die Hürde des Beendenkönnens und des Aufhörens elegant zu nehmen: und nun gnädige … nun ist es an dem, daß auch Ich theils mich dero Urtheil und Censur in Ansehung der Führung des mir übergebnen Scholarchats unterwerfe, theils dasselbe in Ihren Schoos dankbar zurücklege – und es einem Geübtern überlasse – Ich danke Gott. Ich danke Eüch. Ich danke allen.

Man hört förmlich die drei Atempausenpunkte nach „und nun gnädige …“. Die Wirksamkeit der durch direkte Ansprache („Euch“), gleich anlautende markante Worte („Scholarchats“, „in Ihren Schoos“) sowie gezielte Selbstverkleinerung („es [das Amt] einem Geübtern überlasse“) und das Wohlwollen der Anwesenden heischenden Bescheidenheits- und Demutsgeste ist bis heute evident. Das lakonische Pathos der abschließenden Dreierformel ist dabei einerseits ultrakonventionell und feierlich, andererseits subtil zeitgeistig – wer am Ende „allen“ dankte, suggerierte in den postrevolutionären 1790er Jahren mit einiger Wahrscheinlichkeit auch eine einschlägig volksnahe Ausrichtung dieser Klimax. 27 Vgl. Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 31: Rei-Ri, Leipzig/Halle 1742, 728: „heißt überhaupt etwas freywillig und ungezwungen aufgeben […]. Daß solches einem jeden aus erheblichen Ursachen zugelassen, ist die einhellige Meynung der Rechtsgelehrten“; bzw. aus kirchenrechtlicher Sicht: „die freywillige Abdanckung, Niederlegung oder Aufgebung eines bisher bekleideten geistlichen Amtes oder einer andern genossenen Pfründe“ (ebd., 727–731, hier 728).

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Als Bekenntnisse zur Tradition des Rhetorikunterrichts am Zürcher Collegium Carolinum lassen sich auch die von Lavater jeweils anlässlich der Frühjahrs- und Herbstexamina mitgeteilten Themen lesen, und zwar nicht allein der Form, sondern auch der Aussage nach.28 Aufschlussreich sind diese darüber hinaus bezüglich des als opportun erachteten Verhaltens im schulischen Alltag.29 Jenseits davon gab Lavater aber selbst an derart unscheinbaren Stellen den Schülern des Collegium Humanitatis Elementares mit. Mit der Formulierung etwa: „Es ist leicht und schwer, von dem allerbekanntesten, dem Christenthum – kurz und umfassend genug zu sprechen“, spielte er auch auf einer Metaebene auf die ihn sichtlich beschäftigende Problematik an, brevitas und Botschaft, aptum und Mission, packend und zutreffend in Einklang zu bringen.30 Hierdurch betätigte er sich bei einem Adressatenkreis als Rhetoriklehrer, der gar nicht früh genug auf konzeptionelle wie praktische Schwierigkeiten der öffentlichen Rede hingewiesen werden konnte. Eine gewisse Lust, die Prägnanz der Kürze auszukosten, wird man Lavater auch dabei sicherlich nicht absprechen können, so etwa bei den „An“31 „angehende Theologen“ gerichteten Sätzen, in denen seine auch sonst extrem ausgeprägte Vorliebe für pointierende Sprache für einen geeigneten Lerneffekt beim Theologennachwuchs sorgen sollte: Seÿ erst Gottes gewiß, und Gottes froh, eh Du Gott lehrst. Alles, was wahr ist und gut, und nie gereut, seÿ dir heilig! In der Schöpfung lern’ und lehre den Schöpfer erblicken! Lern und lehre Gott in den göttlichsten Menschen erkennen!32

Ob es ihm derart gelang, junge Leute zur Nachahmung anzuspornen? Wir wissen es nicht. Seinen nicht wenigen derartigen Handreichungen eignet nämlich durchweg auch etwas Ambivalentes, weil die hochkomprimierten Inhalte tendenziell hart an der Grenze zur Trivialität der Aussage siedeln. 28 ZBZ, FA Lav Ms 46.3. 29 Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 36.8: Entwurf zu einer Petrinischen Schulordnung sowie die in 36.10 überlieferten Prüfungsthemen, wie z. B. den Text „pro Classe prima“, die mittels einiger Hilfestellungen beim „Examen autumnale“ am 17. November 1791 folgenden Text ins Lateinische übersetzen sollte: „Ein braver Knabe liebt seine Aeltern, ehrt seine Lehrer, geht gern in die Schule, gern in die Kirche; Er befleißt sich der Wahrheit, der Tugend, der Ordnung, der Reinlichkeit; […] Er ist still in der Kirche, gutartig zu Hause, wohlgesittet auf der Strasse, und in der Schule ist er ein Muster der Aufmerksamkeit und Lernbegier“. 30 ZBZ, FA Lav Ms 46.3; vgl. auch: Kemper, Karl-Friedrich, Religiöse Sprache zwischen Barock und Aufklärung. Katholische und protestantische Erbauungsliteratur des 18. Jahrhunderts in ihrem theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext (Religionsgeschichte der frühen Neuzeit 22), Nordhausen 2015, 666–704. 31 In der Handschrift ersetzt das „An“ die gestrichenen „Regeln für“, was noch im kleinsten sprachlichen Detail das Bedürfnis Lavaters nach passender Adressatenorientierung belegen mag. 32 ZBZ, FA Lav Ms 46.3; ähnlich (ebd.) auch der Text An Jünglinge, welche die Theologie studieren; zum Konzept, Frömmigkeit und Sprachgefühl zu verbinden, vgl. Lavater, Johann Caspar, Reimen zu den Biblischen Geschichten des Alten und Neuen Testamentes. Für die Jugend, Zürich 1782.

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Andererseits hatte Lavater seit Beginn seiner seelsorgerlichen Laufbahn bei allen sich bietenden Gelegenheiten den Aspekt einer möglichst adäquaten Adressatenorientierung immer wieder neu ausgelotet: Dort, wo er 1769 den „hertzlieben Kinder[n]“ des Zürcher Waisenhauses erläuterte, was sie von ihrem „besondern“ Unterricht erwarten durften,33 genauso, wie in den sehr viel später erst publizierten Regeln für Kinder, denen er den Spruch „Kinder! Ihr liebt mich! Kinder! Ich lieb Eüch! Thut, was ich sage!“ voranstellte.34 Wenn auch diese etwas nonchalante Auslegung von Matth 19,14 („Lasset die Kindlein zu mir kommen“) auf die heutigen Betrachter ein wenig eigenwillig wirkt, sollte man dennoch nicht übersehen, dass sich Lavater ansonsten sprachlich und religionsdidaktisch auf das Bildungsniveau der Angesprochenen einzustellen versuchte.35 Ob das auch nur ansatzweise funktionieren konnte, bleibt ungeklärt – auch bei Joachim Heinrich Campes (1746–1818) gleichzeitigen Kinder- und Jugendtexten kann man daran Zweifel hegen – , denn die Neigung zur sprachrhythmisch grundierten Emphase und poetisch-unkonventionellen Wortwahl legte Lavater nicht einmal hier ab, z. B. wenn die Rede ist vom „allesdurchdringende[n], unbeschreiblichlebendige[n] Lichtgeist“.36 Ernst nahm er diesen Teil seiner Arbeit jedenfalls, denn er wandte dafür viel Zeit auf, sodass er bereits 1787 anlässlich der Anrede an die Petrinische Jugend festhalten konnte: Mehr als vierhundmahle stand ich hier, während meines bald neünjährigen Diakonats in den sonntäglichen Mittagsstunden – Eüch, nach Anleitung unsers […] Catechismus – im Glauben an den einigen wahren Gott […] zu stärken.37

Derselbe Lavater zog allerdings den Schulkindern gegenüber, erforderlichenfalls, auch sämtliche Register der Einschüchterung. Von der Güte eines Mentors war dann wenig mehr zu verspüren, stattdessen aber ein Hauch von der wuchtigen Strenge und Härte eines rigorosen antiken Anklägers, der sich allein durch seine 33 Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 37.1: Anrede an die Lieben Waÿsenkinder beÿm Anfang des besondern Unterrichtes [1769]; vgl. ebd., FA Lav Ms 121.2, Waisenhaus-Ordnung, 1771: „Montag, vor und Nachmittag lehrnen die Kinder buchstabieren, und lesen. Sie lehrnen aus den Fragstükli [d. i. der kleine Katechismus], und die Größern den Catechismus, Sprüche und Psalmen. […]. Dienstag Morgen wird der kleine und große Catechismus recitiert“; vgl. auch: Hess, Salomon, Geschichte des Zürcher-Catechismus von seinem Entstehen an bis auf die jetzigen Zeiten. Für Freunde der Reformations-Geschichte und des religiosen Jugend-Unterrichts; Prediger und Catecheten, Zürich 1811, 25, 129–131 (zu Lavaters Sechszig Lieder[n] nach dem Zürcherischen Catechismus). 34 Lavater, Johann Caspar, Regeln für Kinder, o. O. 1793. 35 Zu den im Kontext der seit Mitte der 1760er Jahre vorbereiteten Zürcher Schulreform(en), in denen Lavaters Engagement auch zu sehen ist, vgl. Berner, Esther, Im Zeichen von Vernunft und Christentum. Die Zürcher Landschulreform im ausgehenden 18. Jahrhundert, Köln u. a. 2010, 172; Messerli, Alfred, Lesen und Schreiben. 1700 bis 1900 (Germanistische Linguistik 229), Tübingen 2002, 239. 36 Lavater, Regeln, 7f. 37 ZBZ, FA Lav Ms 36.3; ebd., 36.3a; vgl. dort auch die handschriftlichen Fragmente der Sittenlehre für Kinder.

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Wortwahl Respekt, Achtung und die nötige Distanz zu verschaffen vermag. Zum Schuljahresende des Jahres 1792 teilte Lavater dementsprechend unerfreut (und im Verlauf der Rede mit konkreten Namensnennungen) mit: Mit großem Bedauren u. Mißvergnügen haben die Hochehrwürdigen Herren Verordneten zur Lehre die sichtbare Mittelmäßigkeit der Profacta in den oberen Claßen wahrgenommen, welche man unmöglich nur allein den geringen Gaben des Geistes zuschreiben kann, sondern zu glauben genöthigt ist, daß es eben so sehr an Lust u. Arbeitsamkeit fehlen müße.38

4. Der Seelsorger Lavater und die Kirchenöffentlichkeit oder „im Schlafrok und in der Nachtmütze“ War bisher von der eher begrenzten Schulöffentlichkeit die Rede, so ist nun „Pe­ trinisches“ zu fokussieren und damit Lavaters pastorale Tätigkeit an der Kirche St. Peter. In welchem Maße er diese Berufung und seine erste Predigt als Pfarrer an dieser Kirche im Februar 1787 als biographische Zäsur wahrnahm, bezeugt der handschriftliche Eintrag in einer eigens für diesen Neubeginn angelegten Agenda.39 Der programmatisch gewählte Bibeltext (Hebr XIII, 17–19)40 gab ihm Gelegenheit, sein Amtsverständnis, aber auch sein Verhältnis zur Kirchgemeinde von Anfang an klar zu definieren. Indem Lavater dieses Verhältnis als ein wechselseitiges dynamisches Abhängigkeitsverhältnis beschrieb, wurde die „vollgedrängte […] Versammlung“ anhand des Zitates und der daraus abgeleiteten Predigtworte in die Pflicht genommen. Die Ernsthaftigkeit, mit der dieses Anliegen vorgebracht wurde, wird die Wirkung bei der Gemeinde nicht verfehlt haben. Die Vielzahl der überlieferten und nicht selten auch gedruckten Predigten Lavaters lässt darüber hinaus den Schluss zu, dass er jeweils nicht nur für einen konkreten Anlass, sondern systematisch mit dem Anspruch auf weiterführende Einsichten und die Verallgemeinerbarkeit predigte, woraus eine ganz bestimmte sprachliche Verbindlichkeit resultierte, bei der das (überarbeitete) gedruckte Wort das ursprünglich

38 ZBZ, FA Lav Ms 46–47.a: „Schulsachen“ (46.1), Promotionen der Realschule, 1792. 39 Vgl. ZBZ, FA Lav Ms. 39, 17–19: Petrinisches Tagebuch: „Sonntags morgen, den 18. Hornung 1787 hielt ich die erste Predigt, als Pfarrer an der Sankt PetersKirche, vor einer vollgedrängten Versammlung über Hebr. XIII („Gehorchet euern führern, und folget ihnen: denn sie wachen für eure seelen, als die da rechenschaft dafür geben werden: damit sie dasselbe mit freuden thuen, und nicht mit seufzen: denn dieses wäre euch nicht nüzlich“ [Zitat: s. Anm. 40]). 40 Die Bibel. Das ist: Alle Bücher der ganzen Heiligen Schrift, Des Alten und Neuen Testaments. Aus den Grund-Sprachen treulich und wol verdeutschet, Auf das Neue und mit Fleiß wieder übersehen. Sammt den so genannten Apocryphischen Büchern, dienlicher Vorrede, begreiflichen Abtheilungen der Capitel, abgesezten Versen, nothwendigen Concordanzen, und einem nüzlichen Register, hg. v. D. Geßner, Zürich 1772, 164.

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gesprochene zu optimieren hatte.41 Die gedruckte Predigt als äußerste Perfektionsstufe der mündlichen Form war ihm wohl ein Wert an sich. Zu konstatieren bleibt hier das Desiderat, dass Lavaters Predigtstil (und ggfs. dessen Wandel im Laufe der Zeit) genauer zu untersuchen wäre, z. B. also, ob es bei ihm in jüngeren Jahren eine Art Sturm und Drang der Redetechnik gegeben hat, und in welcher Form sich bei ihm Literaturaffinität und Predigtstil wechselseitig beeinflusst haben. Dies ist ein Eindruck, der sich bei der Lektüre der pathetischen Einleitung zur Predigt anlässlich des Begräbnistages von Heinrich Escher (1713–1777) im Jahr 1777 durchaus einstellt, in die Lavater in nur sieben Zeilen Text mühelos auch ebenso viele Ausrufezeichen unterzubringen vermocht hatte.42 Dass das (sehr gut dokumentierte) Predigen ebenso zum Kerngeschäft des Seelsorgers Lavater zählte wie die (mit den Jahren uferlos werdende Erfordernis) zur Beantwortung von Briefen trauernder oder zagender frommer Menschen, versteht sich.43 Aber auch das Hadern und Leiden des Christen Lavater findet in der Korrespondenz seinen Niederschlag. Ob als private Aussage oder als wenigstens anteilig poetisch sublimiertes Exempel für das Leiden an sich, ist eingedenk mancher Einsprengsel in Briefe kaum mehr unterscheidbar: Dennoch will ich nicht verzagen! Dennoch will ich dennoch schreÿn! Und zum Vater kindlich sagen: Dennoch wirst Du Vater seÿn! Wirst auf meine Thränen achten, Müßt ich auch beÿnah verschmachten.44

Neben dem gerade bei der Ausbildung junger Leute zentralen Lehren und Ermuntern brachte er also in noch erheblich stärkerem Umfang die Kraft zum Trösten und Beistehen auf und auch die Bereitschaft, mit wie auch immer gearteten Aus-

41 Vgl. z. B. Lavater, Johann Caspar, Predigten über das Buch Jonas, Zürich 1773; ders., Antrits-Predigt zum Diakonate bey der Kirche zu St. Peter. Gehalten Sonntags-Abends, den 5. Julius 1778, Zürich 1778; ders., Predigt bey Anlass der grossen Erderschütterungen in Sizilien Calabrien, Zürich 1783; ders., Predigt über Schlaf und Schlaflosigkeit, Zürich 1798; ders., Predigten über den Krieg und das Ende der Welt, Zürich 1799. 42 Lavater, Johann Caspar, Das gesegnete Andenken des Gerechten. Ueber Sprüchw. X. 7. Am Comunionstage vor dem Bethtage und Begräbnißtage Herrn Statthalter Heinrich Eschers von Keffikon, Vördersten Vorstehers am Waysenhause. Gehalten Sonntags, den 7. Herbstmonats, 1777, Zürich 1777: „Gerechter, Heiliger, Verborgner, Gütiger. … Das Gedächtniß des Gerechten bleibe bey uns im Seegen! Im Seegen das Andenken des Gerechtesten aller Gerechten – vor dem die Gerechtigkeit aller Sünder wie Nebel vor der Sonne verschwindet! Jesu Christi theures, heiliges Andenken! Gerechter! Heiliger! Verborgner! Gütiger!“. 43 Sehr typisch für diese Art der Seelsorge ist z. B. der Brief Lavaters an Katharina Kramer vom 9.10.1791 (ZBZ, FA Lav Ms 569.39): „Edle Seele! Du leidest! / Dir scheint sich Gott zu verhüllen – / Nacht deckt seines Huld und dichtes Gewölke die Zukunft –“. 44 ZBZ, FA Lav Ms 551.25: Johann Caspar Lavater an Julie Richerz, 8.11.1800 [Hervorh. i.O.].

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nahmesituationen umzugehen. Dass es im Kirchenjahr wie im Menschenleben mit seinen zwischen Geburt, Taufe, Hochzeit, Krankheit und Tod angesiedelten Anlässen mehr als genug Arbeit für einen Seelsorger gab, umschreibt nur sehr unzureichend, welcher zeitliche, administrative und persönliche Aufwand damit tatsächlich verbunden war.45 Und selbst bei diesen Anlässen engagierte sich Lavater auf eine charakteristische Weise, etwa, indem er sich, wie bei der Eheschließung von Felix Heß (1742–1768) und Barbara Schultheß gerade nicht des „gewöhnliche[n] Hochzeitsprediger-Tons“ befleißigte,46 sondern die Konventionen ebenso bediente wie sprengte, indem er dem Paar eine Auslegung des 34. Psalms bot, an die er ein (eigenes) Epithalamium anschloss.47 Bei Sterbefällen akzentuierte er ebenfalls bisweilen die vorgegebenen Formen, etwa durch eine lyrische „Grabschrift“ für den verstorbenen Pfarrer Johannes Schmidlin (1722–1772)48 oder durch die Verse Am Sarge der Anna von Landen­ berg vom 21. Dezember 1795.49 Beim Umgang mit den Witwen und vor allem mit den Müttern, die den Tod ihrer Kinder im Kleinkind- oder Kindesalter zu erleiden hatten, zeigen sich punktuell aber auch die Grenzen der Seelsorgekraft Lavaters. Dort nämlich, wo er von vier Seiten Briefpapier ausgesprochen regelmäßig nur eine beschrieb, um Trost und Beistand auszudrücken, der mitunter in eine formelhafte Glätte von christlich grundierten Allerweltssprüchen abglitt.50 Eine solche Seelsorge-Ökonomie, zu der die Verwendung gewisser Textbausteine ebenso zählte wie eine nur scheinbar persönliche Zuwendung, dürfte ihre tiefere Ursache in der absoluten Unmöglichkeit gehabt haben, die Vielzahl der Lavater angetragenen Sorgen und Nöte adäquat bedienen zu können. Die ihm ohnedies liegende Pointierung wie die Tendenz zum Aphorismus ist bezüglich der Erfordernisse zur Kräfteschonung bei übervollem Seelsorgeprogramm somit fast unabdingbar gewesen.

45 Zum Aufwand vgl. Lohmann, H., Art. Lavater, Johann Kaspar, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon IV, 1992, 1259–1267, hier 1259: „Als Mitglied des Ehegerichts, als Schulherr und als Examinator übernahm er nun auch gesamtkirchliche Aufgaben und kirchenleitende Funktionen“. 46 Vgl. Margraf, Erik, Die Hochzeitspredigt der Frühen Neuzeit. Mit einer Bibliographie der selbstständig erschienenen Hochzeitspredigtdrucke der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg und der Universitätsbibliothek Augsburg (Geschichtswissenschaften 16), München 2007, 8. 47 Lavater, Johann Caspar, Trauungsrede an Herrn Johann Felix Heß, Diener Göttlichen Worts, und Jungfrau Maria Barbara Schultheß. Gehalten den 13ten October 1767, Zürich 1767. 48 Lavater, Johann Caspar, Auf den Tod des Herrn Pfarrer Johannes Schmidlin […]. Zugeeignet der Christlichen Gemeine zu Wetzickon und Seegreben, Zürich 1772: „Der treue Hirt ruht an des Tempels Seite, / Wo er von Gott nur sprach und sang! … / Verstimmt nicht nur, zerrissen ist die Saite, / Die seelenvoller täglich klang“. 49 Lavater, Johann Caspar, Am Sarge der Anna von Landenberg. Montags den 21. XII. 1795: Nur für die Freunde der Seeligen, Zürich 1795, http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-14872. 50 Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 569.2: Johann Caspar Lavater an Anna Köchlin, 19. März 1800: „Ich nehme meine gute, betrübte Frau Köchlin – billig herzlichen Antheil an Ihrem gerechten Schmerz über den Verlust eines so lieben und wackern Mannes, als der Ihrige war. Oh, daß mir doch ein kräftiges Trostwort für Sie gegeben werden mögte! Itzt freÿlich ist Ihre Betrübniß zu groß, als daß Trostworte sogleich beÿ Ihnen haften können“, http://dx.doi.org/10.7891/e-manuscripta-76985.

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Angesichts der Fülle der diesen zentralen Teil des „Predigtamtes“ dokumentierenden Belege geraten Lavaters andere, von unbequemem Engagement zeugende Tätigkeitsfelder allzu leicht aus dem Blick. Dass er sich konsequent für den „ganze[n] Umfang der Obliegenheiten einer zur Verwaltung des öffentlichen Gottesdienstes bestellten Person“ interessierte, hierüber kann keinerlei Zweifel bestehen.51 Wie man sich das konkret vorzustellen hat? Kurz nach dem Amtsantritt begann er am 19. Februar 1787 damit, ein noch heute erhaltenes Verzeichniß alter, schwacher kranker Personen der lieben Petrinischen Gemeine anzulegen. Im engsten Sprengel waren dies immerhin 84 Personen. Wenig später schon wurde die Liste ergänzt und aktualisiert.52 Neben den „Neujahrsvisiten“ und Krankenbesuchen bei diesem Personenkreis und anderen Gemeindemitgliedern engagierte er sich auch bei der Verteilung von Almosen an Bedürftige. Bezüglich der scheinbar so unscheinbaren Hausbesuche bleibt zu ergänzen, dass diese für Lavater nicht nur Amtspflicht waren, sondern von ihm offenbar als konstitutiver Teil eines Seelsorgekonzeptes verstanden wurden, das er auch theoretisch untermauerte. Das zugehörige, knapp fünfzigseitige Papier ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Kreis der (noch heute bestehenden) Zürcher „Ascetischen Gesellschaft“53 diskutiert worden, in deren Fokus vor allem Reformansätze auf dem Gebiet der sozialen Arbeit standen.54 Im besagten Aufsatz von Hausbesuchungen formulierte Lavater seine Ziele und die Wege sie zu erreichen recht präzise. Im Zentrum stand dabei die „genaue Kenntniß der Menschen“ und ihrer „Handlungsweise“, ohne die, wie er notierte, ein „öffentliche[r] Lehrer“ sein Amt nicht sinnvoll ausüben könne. Über die Möglichkeiten, diese „Kenntniß“ zu erlangen, notierte er hier: Allgemeine Sittenlehren, Character, Romanen, Gedichte können vielleicht etwas zu dieser Kenntniß beÿtragen; aber hinlänglich sind sie eben so wenig, als das Lesen eines chÿmischen Buchs hinlänglich ist, einen zu einem vollkommen practischen Chÿmiker zu machen. Wer ein Chÿmiker werden will, der muß selbst Versuche machen; wer die Menschen recht kennen lernen will, so kennen lernen, daß er dann von dieser Kenntniß einen heilsamen moralischen Gebrauch machen kann, der muß sie mit seinen eigenen Augen ansehen; er muß sich selbst in die Labÿrinthe ihres Herzens hineinwagen; […] sie in ihren eignen Verhältnißen aufsuchen; die Aufwallungszeit ihrer Leidenschaften wahrnehmen; er muß sie

51 Vgl. Adelung, J.C., Art. Das Predigtamt, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Leipzig 1793–1801, 829–830. 52 Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 39, aus dem Jahr 1787; vgl. etwa den Eintrag vom 24.02.1787 (18, Nr. 5: „Nachts 9 Uhr ging ich noch […] zur witwen Pestalutz sie zu trösten. Ich fand sie, wie am Morgen, sehr gelassen“). Zudem finden sich Notizen über seine Predigten, das „Allmosenamt“ (vgl. FA Lav Ms 36, das handschriftliche Konzept: Organisation und Verrichtungen der Petrinischen Allmosenpflege) und die Unterstützung der Hebamme (vgl. FA Lav Ms 39, z. B. die Einträge vom 24., 26., 28.02., 7., 26.03.1787). 53 Vgl. Abriss von dem Ursprung, der Verfassung und den Arbeiten der Ascetischen Gesellschaft in Zürich, Zürich 1790, 3; Lavater engagierte sich dort (als gewähltes Mitglied Nr. 9) faktisch seit Gründung der Gesellschaft. 54 ZBZ, FA Lav Ms 122.6 („Seelsorgerisches“: Aufsatz von Hausbesuchungen).

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im Umgange mit der Welt, in freündschaftlichen Gesellschaften, beÿ ihren vertrauten, in ihren häuslichen Verrichtungen, im Schlafrok und in der Nachtmütze, wie man zu sagen pflegt, sehen und sein prüfendes Auge vorbeÿgehen laßen können; mit einem wort, zu einer solchen moralischen Kenntniß des Menschen ist ein genauer, öfterer und immer offener Umgang mit ihm unentbehrlich nöthig. Der Mensch ist selten in s[einem] Hause das, was er in der Kirche zu seÿn scheint; und beÿ seinen müßigen Stunden das was er in den geschäftigen von sich vermuthen läßt.55

Nicht ganz unerwartet plädiert Lavater für das sehr genaue Hinsehen, für Empirie und dafür, systematisch und ohne jegliche Scheu vor kruder oder bedrückender Intimität die Nähe zu den Menschen zu suchen, um die Beweggründe ihrer Handlungen kennen zu lernen. Bemerkenswert ist an diesem Text Manches: die Skepsis des belesenen Theologen und Literaturfreundes gegenüber dem diesbezüglichen Nutzen von Büchern; der Vergleich mit dem „Chÿmiker“, der die Scheidekunst praktisch beherrschen muss, um seinen Beruf ausüben zu können; das mit diesem Vergleich signalisierte Interesse an Versuchsanordnungen, die durch gezielte Wahrnehmungsdifferenzierung anthropologische Erkenntnisse befördern könnten; das Plädoyer für Offenheit und gegen vorgefasste Meinungen; das ­Interesse am sozialen Umfeld eines Menschen. Alle diese Aspekte sind geeignet, eine umfassende Erfahrungsseelenkunde zu initiieren, die zugleich als ein therapeutischer Ansatz auf Frömmigkeitsbasis zu denken wäre. Es versteht sich, dass es mit dem Kennenlernen des Menschen im „Schlafrok und in der Nachtmütze“ keineswegs getan war: Lavater lotete darüber hinaus sehr bereitwillig auch die noch deutlich unbequemeren Seiten der Differenz zwischen seiner Theorie und der Wirklichkeit aus und zwar namentlich bei der Betreuung von Gefangenen. Damit hatte er sehr frühzeitig begonnen. Im Nachlass finden sich erste diesbezügliche Dokumente bereits aus der Mitte der 1760er Jahre, so etwa eine Zusprache an eine Blutschänderinn im Wällenberg vom 17. August 1764.56 Aufschlussreich ist auch Lavaters Kontakt zu einem Verbrecher, dem „geliebten Bruder im Geiste“ Antoni Feyrabend, dem er 1768 mitteilte, dass ihm dessen Geständnisse nahegegangen waren:57 „Das, was Du mir gestern gesagt, hat mir, wie Du leicht denken kannst, viel Schmerz und Betrübniß verursachet, und mich genöthiget, mein Gebet für Dich zu verdoppeln.“ 55 ZBZ, FA Lav Ms 122.6; Weigelt, Frömmigkeit, 82. 56 Vgl. etwa: ZBZ, FA Lav Ms 37.2: „Wir sind in der Absicht zu dir gekommen, dir Deine letzten Lebensstunden auf eine gottgefällige Art zubringen zu helfen, oder, wenn dir deine Gnädige Oberkeit das Leben schenkt, dich mit allem Ernst zu ermuntern, künftighin nicht mehr zu sündigen, auf daß Dir nicht etwas ärgeres wiederfahre“; vgl. ebd., FA Lav Ms 37.2: Aufsatz an die zwey im Zuchthaus sich befindende liederliche Personen [Anna] B[arbara] Bleuler u. [Barbara] Pfenniger. 26.09.1772, sowie die auf den 20.08.1782 datierten Gedanken zu diesem, Lavater offenbar persönlich berührenden und zugleich wegen der Ambivalenz der Eindrücke irritierenden Kontakt zu den Gefangenen. 57 ZBZ, FA Lav Ms 37.2: An Antoni Feÿerabend. 16.02.1768; darin befindet sich neben der Dokumentation der theologischen Betreuung auch eine Kopie des Schreibens vom 18. Februar 1768.

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Unabhängig vom geistlichen Zuspruch beschäftigte sich Lavater mit gerade diesem Gefangenen aber auch mittels eines im Nachlass erhaltenen Briefes, in dem er mit sehr klaren und zugleich klar manipulativen Worten auf diesen einzuwirken suchte: Den 18. Febr: 1768. Es freüt mich recht herzlich, daß Du über Deine Sünden so betrübt bist, und an das gefangene Weib geschrieben hast. Ich habe den Brief gesehen; er hat mir wol gefallen. Ja, es wäre gut, wenn Du an die gnädige Obrigkeit schriebest, und erstlich danktest für Deine leibliche Versorgung mit Speiß, Brott und Abwart zweÿtens für die Geistlichen, die Sie dir zugeschikt, drittens für die Zeit, so Sie dir gelaßen. und endlich: wenn Du sie bitten würdest, dir mit einem schmerzlichen Tod zu verschonen, Du wollest gern sterben, Du habest den Tod verdienet. Doch wollest Du dich auch einem schmerzlichen Tod unterziehen, wenn sie es so gut finden. Schreibe auch am Ende, daß Du für sie gebethet habest, und bis an dein Lebens Ende für sie bethen wollest, Sie sollen es auch für Dich thun. Diesen Brief übergieb dann morgen den Herren, die zu dir kommen. Was das Zweÿte anbetrift, so will ich dir ein kurzes Concept machen welches Du dir wol ins Gedächtniß prägen mußt.58

Es folgt an dieser Stelle der ausformulierte Text des an die „Obrigkeit“ zu versendenden Schreibens. Lavaters Engagement für den Gefangenen ist selbst aus heutiger Sicht noch respektgebietend. Allerdings war es auch nicht irgendein Kleinkrimineller, den er da betreute: Feyerabend war der Kopf einer „rund 50 Personen umfassenden Diebesbande“, die den alemannischen Raum in den 1760er Jahren unsicher gemacht hatte.59 Dass Lavater auch in diesem Fall keinerlei Berührungsängste kannte, zeugt einerseits vom ausgeprägten Willen, ethische Prinzipien mit Leben zu erfüllen, andererseits aber auch vom oben schon ausführlich beschriebenen quasi-wissenschaftlichen Anliegen, „genaue Kenntniß der Menschen“ zu erwerben. In genau diesem Zusammenhang wäre auch sein ebenso sperriger wie politisch brisanter Umgang mit dem Fall Johann Heinrich Waser (1742–1780) ausführlicher zu würdigen, was aber aus Platzgründen unterbleiben muss.60 Soviel nur sei gesagt: Der für die Predigt anlässlich der Hinrichtung des vom rechten Weg abgekomme58 ZBZ, FA Lav Ms 558.147: Johann Caspar Lavater an Antoni Feyerabend, 18.02.1768 [Hervorh. i. O.], https://www.e-manuscripta.ch/zuz/content/titleinfo/2165791; vgl. zum Versuch, Gefangene adressatenorientiert zu betreuen, auch: Cramer, Johann R., Unterhaltungen für gefangene Misse­ thäter, Zürich 21772. 59 Zum bisher kaum erforschten Sachverhalt: Ebnöther, Christoph, Räuber, Harschiere und öffentliche Sicherheit. Zur Frühgeschichte der Polizei im Kanton Zürich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Zürich 2013, https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/164235/1/20131784.pdf, 269, zur Diebesbande zählten ca. 25 Männer sowie deren Frauen und Kinder; vgl. ebd., Anm. 1682; die Angaben zu den im Staatsarchiv Zürich überlieferten Dokumenten, sowie Blauert, Andreas/ Wiebel, Eva, Gauner- und Diebslisten. Registrieren, Identifizieren und Fahnden im 18. Jahrhundert (Studien zur Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt a. M. 2001, 145, Nr. 60. 60 Vgl. Weiss, R., Art. Johann Heinrich Waser, HLS, 2014.

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nen Theologen Waser gewählte Predigttext („Wer sich dünken läßt, er stehe, der sehe zu, daß er nicht falle“) deutet Lavaters durchaus ambivalente Haltung gegenüber dem Entscheid der Obrigkeit mehr als nur an.61

5. Grenzen des Argumentierens oder die „neüe Ordnung“ und das alte Denken Dass Lavater in den vielen Jahren seiner Seelsorgertätigkeit am Ende buchstäblich nichts Menschliches fremdgeblieben war, mag hinreichend deutlich geworden sein. Und auch, dass seine langjährige Präsenz in der Öffentlichkeit Zürichs ihn prädestinierte, sich politisch zu äußern, ist als Konsequenz hieraus naheliegend. Die Helvetik und deren direkte Folgen für das Zürcher Kirchenregime, zu denen Marginalisierung und Entmachtung, mithin also ein akuter Einflussschwund zählten, mussten einen politisch denkenden Menschen wie ihn darüber hinaus dazu provozieren, sich zu engagieren und sein mächtigstes Werkzeug, das Wort, zu ergreifen. Dominik Sieber hat in der Einleitung zu den Patriotischen Schriften Lavaters diesen komplexen, hier nur rudimentär behandelbaren Aspekt der öffentlichen Wirksamkeit detailliert untersucht.62 Nicht wenige der in diesen Zusammenhang gehörigen Nachlassdokumente belegen zudem, dass es Lavater als einem Repräsentanten der im Zuge der Helvetik gewaltsam ausgehebelten Staatskirche zusehends schwerer wurde, die grundsätzlich vorhandene Sympathie mit manchen der revolutionären Ideen mit der persönlich erlebten politischen Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Seine Versuche, die Erfahrungen der neuen Epoche anhand der Kategorien des Aufklärungszeitalters nachvollziehbar zu machen, fielen dementsprechend ambivalent aus. Ein beredtes Beispiel hierfür ist die auf den 25. April 1799 datierte Abhandlung Vortheile und Nachtheile welche Moral und Religion von der neüen Ordnung der Dinge zu hoffen und zu fürchten haben, die vor der „Zürcherschen vaterländische[n] Gesellschaft“ vorgetragen wurde.63 Zu den „Allgemeine[n] Vortheile[n]“ rechnete Lavater dort noch immer den „Stoß, den Schwung, den die Einführung des neüen Systems dem menschlichen Geist und der Kultur unserer Nation überhaupt gab“.64 Sehr viel deutlicher war seine Einschätzung aber bereits zuvor in den Vermischte[n] 61 Lavater, Johann Caspar, Predigt […] bey St. Peter gehalten den 28sten May 1780 nach Heinrich Wasers Hinrichtung über 1 Cor. Cap. X. V.12. nebst einem Gebet über diesen Vorfall, Schafhausen 1780. 62 Sieber, Dominik, Einleitung, in: Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-­kritischer Ausgabe, Bd. VIII: Patriotische Werke, hg. v. D. Sieber, Zürich 2015, 23–84 (Patriotisches Engagement und politische Endzeit. Johann Caspar Lavater und die Helvetik). 63 Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 25.9: „Erste Vorlesung“: „Donnerstag, den 25. IV. 1799“. 64 Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 25.9, 17, IV.1; dort (22) auch die (durchaus problematische) Gleichsetzung mit „literarischen Revolutionen“, zu denen Lavater nicht allein Klopstocks Werk rechnete, sondern auch die philosophischen Arbeiten von Leibniz und Kant (24f).

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Gedanken über die gegenwärtige Lage der Prediger im Kanton Zürich vom 4. Mai 1798 ausgefallen.65 Auf wenigen kleinformatigen Seiten hatte er hier ein illusionsfreies Impulsreferat über den Verlust der öffentlichen und politischen Relevanz der Kirche geboten und die deren institutionelles Gefüge erschütternden zentrifugalen Kräfte beschrieben. Von „Krise, Gährung und Umwälzungsgefahr“ ist die Rede und davon, dass die „politische Revoluzion […] notwendig eine Revoluzion in den Ministerien, in dem kirchlichen System als System betrachtet, nach sich ziehen“ müsse. Das „neue Band“, „das uns, öffentliche Religionslehrer mit dem Staat als einem christlichen Staat, mit der Regierung, als einer christlichen Regierung verknüpft“, sei „so viel als aufgelöst.“ So lakonisch die Formulierung, so brutal die Erkenntnis. Lavater hatte sicherlich nicht erst bei diesem Anlass gemerkt, dass seine Werte nicht mehr die der neuen Epoche waren. Wohl im Gefolge der im kleinen Kreis geführten Diskussion hatte er sich am 9. Mai 1798 an den „Bürger Stapfer“ in seiner Funktion als „Minister der Wissenschaften“ gewendet, um seiner Sorge wie seinem Unmut über die Verhältnisse Ausdruck zu verleihen: wir erligen beÿnahe unter der Last der fränkischen Despotie und schaamloser Freÿheitsschmählung – und fangen nun auch an, in Zürich an unserer Gewißensfreÿheit zu leiden. Kirchen und Schulwesen beginnt, einem furchtbaren Verfalle entgegen zu eilen. – O edler Mann! Arbeiten Sie doch mit furchtfreÿem Muth dem daherrauschenden Verderben entgegen!66

Spätestens die seit dem 31. August 1798 gültige rechtliche Gleichstellung von Geistlichen und Laien dürfte dann Lavater wie auch manchem anderen Prediger, der unter den Auspizien der Zürcher Spielart der Aufklärung intellektuell sozialisiert worden war, schmerzlich bewusst gemacht haben, dass nun endgültig ein neues Zeitalter angebrochen war. Lavaters Rolle in diesen wirren Zeitläufen bleibt zweifellos noch detaillierter zu untersuchen. Dabei wird nicht zuletzt sein ganz besonderes Geschick zu analysieren sein, sich lediglich formal und also buchstäblich rhetorisch auf die Sprache der neuen Mächtigen einzulassen, ohne sich aber in der Sache mit ihnen gemein zu machen. Die irrige Meinung, dass die durch Gewalt an die Macht Gekommenen sich durch seine Argumente der Vernunft würden belehren lassen, hat er am Ende teuer und mit furchtbarer Leidenszeit bezahlt. Sich selbst blieb er dabei dennoch treu: 65 ZBZ, FA Lav Ms 37.4: Vermischte Gedanken über die gegenwärtige Lage der Prediger im Kanton Zürich. In einer Gesellschaft der Stadtprediger vorgelesen. Freÿtag den 4. Maÿ 1798. Nachher ausgearbeitet und erweitert; vgl. Ognois, Laure, Die Pfarrer und der Umbruch. Reformierte Wahrnehmung und Deutung von Krieg und Nation in der Waadt und in Zürich während der Helvetik, Münster 2009, 3–9, 20. 66 ZBZ, FA Lav Ms 582.70: Johann Caspar Lavater an Philipp Albert Stapfer, 9.05.1798; vgl. die gleichfalls im zeittypischen Zwangsjargon verfasste, Stapfer („Bürger Erziehungsminister“) gewidmete und im Kontext der „Ascetischen Gesellschaft“ entstandene Abhandlung des Großmünster-­ Diakons: Schulthess, Johann Georg, Von dem Einflusse der Staatsrevolution auf christlichen Lehrberuf und Lehrstand, Zürich 1798.

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Die klaren und entlarvenden Worte, die er im Namen von „Freiheit“ und „Humanität“ in gedruckter Form an das „Directorium der französischen Republik“ und an anderer Stelle als „freyer Schweizer“ „an die große Nation“ richtete, sind eine rhetorische Glanzleistung des Patrioten.67 Dabei verkannte er freilich, dass diktatorisch gesonnene Okkupatoren gerade nicht feinsinnig entwickelten Argumenten gegenüber zugänglich sind.68 Wo bei all diesem Engagement in der Öffentlichkeit der private Mensch Lavater noch Raum für sich selbst finden konnte, mag man sich fragen können. Das haben bereits seine Zeitgenossen getan, die dem Menschen Lavater Originalität und ein gerades und offenes Wesen bescheinigten, zugleich aber befürchteten, dass dieser Privatmensch von der „öffentlichen, besonders der Schriftstellerperson Lavater umstrickt und verderbet worden seyn“ könnte.69 Dem signifikant weniger geltungsbedürftigen Seelsorger Lavater wird man dagegen wohl bescheinigen dürfen, eine seiner Rollen, das „Amt des Predigers“, besonders ernst genommen zu haben. Dass die seinen Handlungen zugrundeliegenden theologischen Überzeugungen von verschiedenen Zeitgenossen ausgesprochen kritisch betrachtet wurden, sollte nicht darüber hinwegsehen lassen, dass der Geistliche Lavater dem Menschen und den Menschen vorbehaltlos zugewandt war und hieraus in eindrücklicher Weise Taten für die Menschen seiner Zeit und seines Umfelds folgen ließ. Wie heißt es in Goethes Faust? „Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.“ Dass für Lavater unübersehbar beides wichtig war, sollte man angesichts seiner auch in schwierigen Situationen praktizierten christlich fundierten Menschenliebe billigend in Kauf nehmen.

67 Vgl. Lavater, Johann Caspar, Pfarrer in Zürich, an das Directorium der französischen Republik, Schweiz 1798. 68 Vgl. Nebe, Johann August, Johann Caspar Lavater. Ueber ihn und seine Schriften, Leipzig 1801; vgl. ZBZ, FA Lav Ms 41.1: Vorlesungen des kranken Lavater – vor seiner lieben Petrinischen Gemeinde aus seinem letzten LebensJahre 1800. 69 Nebe, Lavater, 92.

Tilman Hannemann

Lavater als Pädagoge an der Waisenhauskirche

1. Einleitung Als Pädagoge ist Lavater in der Forschung nur gelegentlich und am Rande wahrgenommen worden, obwohl die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte dieses seines Tätigkeitsfeldes durchaus beachtlich und diskussionswürdig ist.1 Die pädagogische Dimension seiner Aktivitäten wird im Zusammenhang mit dem Engagement Lavaters für die philanthropischen Schulprojekte der 1770er Jahre aber deutlich erkennbar. Hier versucht er das Feld im Verein mit Akteuren des Sturm und Drang wie Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), Christoph Kaufmann (1753–1795) und Johann Ehrmann (geb. 1751) zu besetzen. Aus religionshistorischer Sicht bemerkenswert erscheinen religiös konnotierte Zuschreibungen, die gerade diese Gruppe mit dem Philanthropismus als Bewegung verband. Bei der Einweihung des Philanthropin im Schloss Marschlins am 18. Oktober 1775 hielt Lavater eine Predigt, in der er seine Zuhörerschaft als „heilige Versammlung“ anspricht.2 So beziehungsreich wie unmissverständlich bringt er sich mit dem „Creditif der Souveränete“ ein, der göttlichen Vollmacht und Apotheose, mit der er Christoph Kaufmanns

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Der Einfluss Lavaters und seines Umfeldes in den 1770er Jahren auf Johann Heinrich Pestalozzi wird diskutiert von Tröhler, Daniel, Republikanismus und Pädagogik: Pestalozzi im historischen Kontext, Bad Heilbrunn 2006, 316–324; Döbler, Marvin/Hannemann, Tilman, Der Biblische Geschichtsunterricht in Bremen: Historische und rezente Kontexte, in: Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik (Hg.), Religionspädagogik zwischen religionswissenschaftlichen Ansprüchen und pädagogischen Erwartungen, (VIRR 4), Bremen 2012, 105–134, behandeln die Weiterentwicklung von Lavaters Ansätzen an der Bürgerschule in Bremen um 1800; Ewers, HansHeino, Lavater als Autor von Kinderbüchern, in: Die Schiefertafel 3,3, 1980, 107–121, präsentiert einen Teil der hier untersuchten pädagogischen Schriften; Hirzel, Martin Ernst, Christliches Handbüchlein: Einleitung, in: Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. III: Werke 1769–1771, hg. v. M.E. Hirzel, Zürich 2002, 433–468, versteht im Zusammenhang dieser Literatur Lavater dennoch ausdrücklich „als Theologe“, ebd., 438. Lavater, Johann Caspar, Predigt bey der Einweyhung des Philanthropins zu Marschlins in Bündten, in: ders., Sämtliche kleinere Prosaische Schriften vom Jahr 1763–1783, Bd. 2: GelegenheitsPredigten, Winterthur 1784, 209–232, hier 216; zuerst abgedruckt in: Bahrdt, Carl Friedrich (Hg.), Geschichte des Einweihungsfestes des Philanthropins zu Marschlins, Frankfurt a. M. 1776, 7–32.

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Person und Reise an das Philanthropin in Dessau für eine informierte, halb-öffentliche Leserschaft unterlegte.3 Solche transzendenten Aufladungen der schulischen Reformprojekte werfen weitere Fragen auf, nämlich nach den Programmen und Zielen von Lavaters pädagogischem Engagement. In einer ersten Skizze habe ich an anderer Stelle hierzu einen kursorischen Argumentationsrahmen aufgespannt, der anhand von biographischen Stationen, diskursiven Positionierungen und pragmatisch-situativ gebundenen Anpassungen religiöser Topoi didaktische Verfahren und pädagogische Inhalte zu erschließen suchte. Der Bogen spannt sich von Lavaters Amt in der Waisenhauskirche über die emotionale Transformation des Individuums als Kritik gesellschaftlicher Konventionen im Sturm und Drang bis zur versuchten Konversion des Insassen einer Todeszelle.4 Thesenhaft zugespitzt erschloss sich eine „emotional gegründete moralische Didaktik“, die das pietistische Modell der Wiedergeburt aufgreift, um „das religiöse Ideal in der Gesellschaft durch die Summe der Vervollkommnung der Einzelseelen [zu] realisieren“.5 Dieser Rahmen bildet für das Folgende eine Ausgangsbasis, von der aus etwas präziser nach den konzeptuellen Grundlagen und der Methode von Lavaters Didaktik gefragt werden soll. Es soll keinesfalls darum gehen, eine „Gesamtwürdigung des Pädagogischen bei Lavater“ vorzunehmen, wie Horst Weigelt vor nunmehr dreißig Jahren anregte.6 Ich habe mich entschieden, das Blickfeld dieser Studie auf die ersten Jahre Lavaters an der Waisenhauskirche und auf die zu dieser Zeit veröffentlichten pädagogischen Schriften zu fokussieren. Zwar ist Lavaters Unterricht daselbst eher unzureichend dokumentiert, aber die relevanten Veröffentlichungen erlauben zu dessen praktischer Gestaltung einige wesentliche Rückschlüsse. Die Untersuchung beginnt mit einer Kurzeinführung in den lokalen Kontext in Zürich zwischen Bildungsreform und Waisenhaus. Daran anschließend werden Lavaters Lehrbücher vorgestellt und deren Didaktik entlang dreier Methodengebiete gegliedert: Biblische Geschichte, gemeinsamer Gesang und individuelles Gebet. Diese Bereiche besitzen unterschiedliche Funktionen bei der gemeinsamen Vermittlung einer bestimmten Konzeption von ‚Gott‘. Die Untersuchung wird beschlossen mit einem Ausblick auf das Philanthropin von Marschlins. Auch wenn dieser Ort samt seinen inhaltlichen und personellen Dynamiken als ein Forschungsdesiderat gesondert behandelt werden müsste, erschien es sinnvoll, im Rahmen dieses Beitrags beispielhaft auf eine dort geübte religiöse Praxis ein-

3 Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. 3, Leipzig/Winterthur 1777, 37f; vgl. Hannemann, Tilman, Religiöser Wandel in der Spätaufklärung am Beispiel der Lavaterschule 1770–1805, Göttingen 2017, 136; zu Kaufmanns Aufenthalt in Dessau vgl. Niedermeier, Michael, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780 (Zwischen Wörlitz und Mosigkau 44; DessauWörlitz Beiträge 6), Dessau 1995. 4 Hannemann, Religiöser Wandel, Kap. 2, Abschnitt 3. 5 Ebd., 84, 91. 6 Weigelt, Horst, Art. Johann Kaspar Lavater, TRE XX, 1990, 506–511, hier 508.

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zugehen, die ausdrücklich unter Berufung auf Lavaters konzeptuelle und didaktische Vorarbeiten entwickelt wurde.

2. Bildungsreform und Waisenhaus in Zürich Als junger Exspektant, d. h. als Anwärter auf eine Pfarrstelle, wurde Lavater Mitglied in der 1764 gegründeten Moralischen Gesellschaft zu Zürich, auf deren Agenda die bürgerliche und Volkserziehung ganz oben standen. Die Rolle dieser Gesellschaft und des Umfeldes der Exspektanten bei den Zürcher Stadt- und Landschulreformen ist schon ausführlich behandelt worden.7 Hier soll lediglich auf zwei weiterführende Aspekte aus diesem Zusammenhang hingewiesen werden, die sich auf Lavaters Pädagogik konzeptuell auswirken. In den aus der Diskussion zur Schulreform hervorgegangenen Lehrbüchern dominieren „beispielhafte Erzählungen und Historien, die für sich beanspruchen, sittliche und moralische Tugenden unter Berücksichtigung des kindlichen Erfahrungshorizontes zu vermitteln“.8 Diese Form der Vermittlung ist methodisch der Exempellehre Johann Jakob Bodmers (1698–1783) verpflichtet. Bodmer hatte in Auseinandersetzung mit Johann Christian Wolff das Streben der Seele nach Vollkommenheit vom Willen zur Tugend abhängig gemacht, der durch Nacheiferung eines moralischen bzw. historischen Charakters geweckt werde.9 Es geht also zum einen um ein weiter zurückreichendes Bildungsmodell, das Geschichte als magistra vitae, Lehrerin für die Lebensführung, begreift und heranzieht. Neu im Sinne von Aufklärungspädagogik und Philanthropismus ist aber der Gedanke, dass ohne die aktive Beteiligung der Lernenden die Bildungsvermittlung stecken bleibt, bevor sie erst begonnen hat.10 Im kindlichen Erfahrungshorizont soll Interesse erzeugt werden, das in Handeln mündet; ein Vorgang, der bei der Imagination des Kindes ansetzt. Also entwickelte zum anderen Johann Jakob Breitinger (1701–1776) im Verein mit Bodmer eine Poetik des Sinnlichen: Unterschieden von der vernünftigen Erkenntnis des Wahren wird der „Geschmack“ oder die sinnliche Erkenntnis, deren Aufmerksamkeit sich erst durch die Wiederholung positiver Reize – „beständige Vorweisung und Bekanntschaft mit lauter

  7 Berner, Esther, Im Zeichen von Vernunft und Christentum: Die Zürcher Landschulreform im ausgehenden 18. Jahrhundert, (Beiträge zur historischen Bildungsforschung 40), Köln/Weimar/ Wien 2010, Kap. 2.1, 6.   8 Ebd., 264.   9 Tröhler, Republikanismus und Pädagogik, 50–55. 10 Vgl. Auffarth, Christoph, Talente muss man entwickeln! – Aufklärung, Erziehung und Gehorsam in der Pädagogik um 1800, in: T. Georges/J. Scheiner/I. Tanaseanu-Döbler (Hg.), Bedeutende Lehrerfiguren: Von Platon bis Hasan al-Banna, Tübingen 2015, 295–331.

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wolgewehlten, angenehmreizenden Gegenständen, Mustern und Beyspielen“11 – der Vollkommenheit und Wahrheit zuwendet. Lavater wurde im Mai 1769 zum Diakon der Waisenhauskirche ernannt und begann sein Amt am 18. Juni mit der Antrittspredigt. In die ersten Jahre seiner Amtszeit fielen grundlegende Reformen des Zucht- und Waisenhauses, so etwa Aufnahmebeschränkungen im Letzteren für nichtbürgerliche Kinder.12 Als Diakon war Lavater sonntags für die Abhaltung der Abendpredigt zuständig. Eine wöchentliche Unterrichtsstunde mit circa 90 Waisenhauskindern war der gemeinsamen Bibellektüre gewidmet. Ab August 1771 wurde das Programm formal um eine „christlich-moralische Kinderlehre“ erweitert.13 Der Unterricht war nicht auf Kinder beschränkt; die „Züchtlinge und Gefangenen“ durften, wie auch das „Hausvolk“, der Kinderlehre beiwohnen, solange sich Erstere an „geordneten und vergitterten Plätzen“ aufhielten, so die Satzung des Waisenhauses von 1771.14 Es wird für die Rahmung des Unterrichts nicht unerheblich gewesen sein, dass auf diese Weise eine moralische Hierarchie auch räumlich sichtbar und körperlich erfahrbar wurde. Nicht nur Beginn und Abschluss des Unterrichts, auch der gesamte Zeitablauf im Waisenhaus wurde mit gemeinsam zu singenden Liedern strukturiert, auf die unten näher eingegangen wird. In der Antrittspredigt über Eph 3,14–19 – ein klassischer Predigttext zur Fürbitte – betont Lavater seine Absicht, „die Gemeinde zu höchstmöglicher Vollkommenheit zu führen“. „Maßstab und Vorbild“ für die Zuhörer seien „die in der Bibel beschriebenen Muster christlicher Frömmigkeit“.15 Als Gemeinde sollten die Insassen darauf hinarbeiten, dass ihr mit Gott und Christo in einer so vertraulichen, so unzertrennlichen Gemeinschaft stühndet, daß ihr alle schäze der Gottheit als euere eigne schäze ansehen, daß ihr alle vollkommenheiten des unendlichen zu eurer Glückseligkeit würklich in diesem Licht sehen, u. in eurer Führung augenscheinlich bemerken könntet.16

Es wäre verfehlt, diesen Aufruf Lavaters im Sinne einer unverbindlichen Erbauung der Gemeinde zu verstehen. Die zentralen Begriffe „Gemeinschaft“, „Gottheit“, „Vollkommenheit“ und „Glückseligkeit“ bilden, im Lichte der Exempellehre gedeutet, Teile eines pädagogischen Programms. Die daran anschließende These 11 Breitinger, Johann Jakob, Drey Reden: Bey Anlaß der feyerlichen Ankündigung und Einführung des mit Hoch Oberkeitlichen Ansehen bevestigten Erziehungs-Plans in unsere öffentliche Schule, Zürich ca. 1773/74, 90. 12 Vgl. Crespo, Maria, Verwalten und Erziehen: Die Entwicklung des Zürcher Waisenhauses 1637– 1837, Zürich 2001, 75–81; Abegg, Regine/Barraud Wiener, Christine, Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich, Bd. 2,1: Die Stadt Zürich, Altstadt links der Limmat, Sakralbauten, Bern 2002, 248. 13 Sauer, Klaus Martin, Die Predigttätigkeit Johann Kaspar Lavaters (1741–1801), Zürich 1988, 134. 14 Spyri, Bernhard, Das Waisenhaus der Stadt Zürich: Geschichtlicher Rückblick bei der Feier seines 100jährigen Bestehens, Zürich 1871, 20. 15 Sauer, Predigttätigkeit, 137. 16 Lavater, zit. ebd.

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gliedert sich in drei Teile. Sie lautet erstens, dass Lavaters Didaktik darauf zielte, die „Vollkommenheiten des Unendlichen“ als sinnliche Erkenntnis erfahrbar zu machen, zweitens, dass diese Erfahrbarkeit über körperliche Evidenz entsteht und drittens, dass eine wesentliche Herausforderung dieser Didaktik in der Steuerung der Imagination liegt, mittels derer emotionale Gewissheiten erzeugt werden. Die Kontrolle der Einbildungskraft, die Ende der 1770er Jahre die Schwärmereidebatte über den Sturm und Drang bestimmte,17 erscheint schon hier, in den Anfängen, als ein Problem.

3. Lavaters Lehrbücher und ihre Didaktik Zwischen 1767 und 1772 publizierte Lavater insgesamt vier Bücher mit pädagogischen Inhalten. Am bekanntesten ist das 1771 erschienene Christliche Handbüchlein für Kinder mit einem ansehnlichen Volumen von gut 500 Seiten. Es besitzt einen ungefähr halb so umfangreichen Vorläufer von 1767, das Christliche Handbüchlein, oder auserlesene Stellen der Heiligen Schrift, mit Versen begleitet, von dem Lavater betont, dass es „eine Imitation von hallischen Schatzkästlinnen“ sei.18 Beide Handbücher zielen auf einen außerschulischen Gebrauch – das zuerst erschienene richtete sich nicht einmal spezifisch an Kinder und wurde erst durch den Rezensenten der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Friedrich Germanus Lüdke (1730–1792), für den pädagogischen Einsatz anempfohlen19 –, doch die einzelnen Themen dürften auch im Zürcher Waisenhaus ähnlich behandelt und didaktisch aufbereitet worden sein. Blicken wir zunächst auf die Anfänge von 1767. Lavaters Verweis auf Carl Heinrich von Bogatzkys (1690–1774) Güldenes Schatz-Kästlein der Kinder Gottes war durchaus kritisch gemeint; Bogatzkys vielgelesene Bücher verletzten „manche Imagination“, so Lavater, der diesem Umstand mit einer eigenständigen Sortierung des biblischen Materials und selbst verfassten „moralischen Nuzanwendungen in sehr prosaischen Versen“ abzuhelfen suchte.20 So gliedern sich die 76 „Materien, welche in diesem Handbüchlein enthalten sind“, grob in drei Kapitel Lobpreis, elf Kapitel über Attribute Gottes, 35 Kapitel zu Tugenden, zehn Kapitel zu Anfechtungen und Sünden und sieben Kapitel, die Tod und jenseitige Fragen behandeln.21 In dem mit „Christliche Vollkommenheit“ betitelten Kapitel,

17 Vgl. Hannemann, Religiöser Wandel, 157–159. 18 Lavater an Johann Georg Zimmermann, 23.11.1767, zit. nach Hirzel, Einleitung, 442. 19 Vgl. ebd., Anm. 33; Rez. in ADB 12,2, 1770, 183–185; Autor ermittelt nach Gustav C. Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet, Berlin 1842. 20 Hirzel, Einleitung, 442f. 21 Lavater, Johann Caspar, Christliches Handbüchlein, oder auserlesene Stellen der Heiligen Schrift, mit Versen begleitet, Bern 1767, xi–xvi.

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das die Behandlung der Tugenden beschließt, werden zwei relevante Stellen aus 2 Kor 13 (9 und 11) zu einem Zitat als 13,11 zusammengeführt.22 Der gegenüber dem Lesepublikum geäußerte Anspruch, „nicht eines Menschen sondern Gottes Wort“ anzubieten,23 steht pragmatischen Anpassungen des Wortlauts bei der didaktischen Aufbereitung biblischer Inhalte nicht im Wege. Ferner akzentuiert Lavaters Poesie Paulus als Vorbild für den Tugendanwärter: „Und doch hielt dieser treue Knecht / Sich für vollkommen nicht, und nicht vor GOtt gerecht / Laß diese Demuth dir, o Christ! vor Augen schweben, / Und höre niemals auf noch höher, höher streben.“24 Diese Funktion des laut zu lesenden Reimes, nicht nur in Klopstockscher Weise zu erbauen, sondern zugleich ein Modell bereitzustellen und die Rezipienten zur Angleichung aufzufordern und zu motivieren, war demnach schon zu diesem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt ein regulärer Bestandteil des Lavaterschen Bibelkommentars. Inhalte und Gliederung des biblischen Materials von 1767 wurden im Handbüchlein von 1771 wieder aufgenommen und intensiv überarbeitet. In nunmehr 32 Abschnitten konstituieren sie hierin den größten Teil des Kapitel V, „Kern der biblischen Lehren für Kinder“. Die einzelnen Abschnitte – jetzt teils aus Paraphrasen, teils aus wörtlichen Zitaten von Bibelstellen zu einem Fließtext redigiert – werden gleichfalls durch poetische Lehrsätze beschlossen. Anders aber als in der Fassung von 1767 gibt es keine Referenzen mehr zum biblischen Text, sodass insgesamt der Eindruck einer biblisch fundierten, aber sprachlich dem Unterricht angepassten Glaubenslehre samt didaktischer Verstärkung und Mittel zur Einprägung entsteht. Auch wird die angestrebte Vollkommenheit der Tugend nicht mehr in einem gesonderten Abschnitt bzw. anhand einer biblischen Person thematisiert, denn schließlich kann in dieser Form der Bearbeitung der gesamte Bibeltext ausnahmslos zum Exempel werden: Die ganze von Gott eingeistete (und von göttlich unterrichteten Männern verfaßte) Schrift ist nützlich zur Lehre, zur Bestrafung, zur Verbesserung, zur Unterweisung in dem, was recht ist, damit der Mensch, der sich Gott wiedmen will, vollkommen, und zu allem Guten völlig geschickt werde.25

Wenig geläufig ist Lavaters ABC oder Lesebüchlein: Zum Gebrauche der Schulen der Stadt und Landschaft Zürich von 1772, das anonym veröffentlicht wurde. Das zu den Namenbüchlein zählende Lehrbuch für die ersten Lektüreanfänge wurde nachweislich in einzelnen Landschulen verwendet.26 Es war ursprünglich eine

22 23 24 25 26

Ebd., 185. Ebd., iv. Ebd., 184; in der zweiten Verszeile verweist eine Anmerkung auf 1 Kor 4,4. Lavater, Johann Caspar, Christliches Handbüchlein für Kinder, Zürich 1771, 326f. Berner, Im Zeichen, 172f; Vincenti, Andrea de, Schule der Gesellschaft: Wissensordnungen von Zürcher Unterrichtspraktiken zwischen 1771 und 1834, Zürich 2015, 91; vgl. ebd., 83, Anm. 76 zur Rolle der Namenbüchlein im regionalen Umfeld.

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Auftragsarbeit, die Lavater wenige Wochen nach seiner Wahl zum Diakon durch die 1765 eingerichtete Kommission zur Verbesserung des Schulwesens angetragen wurde.27 Leseübungen mit eingestreuten Namen wie „A-bed-ne-go“, „Be-zale-el“ und „Na-tha-na-el“28 verweisen auf spezifische biblische Präferenzen des Verfassers. Ein weiteres 1772 erschienenes Buch ist direkt auf Lavaters Tätigkeit am Waisenhaus zurückzuführen; die Lieder zum Gebrauche des Waysenhauses zu Zürich vereinen Text und Noten für insgesamt 18 vierstimmige Gesänge. Thematisch reflektiert diese Sammlung zum Teil einen Abschnitt aus dem Handbüchlein von 1771, doch die Liedtexte und der Aufbau weichen deutlich ab. Ausgehend von dem „Kern geradezu kanonisch gewordener Schulbücher“, der als Lehrmittel um 1770 in und um Zürich „Verwendung fand“ und ein aufeinander aufbauendes Curriculum von „Namenbüchlein, Katechismus, Bibel und Psalter sowie Gesang- und Gebetbüchern“29 darbot, fügen sich Lavaters Beiträge nur teilweise homogen ein. Damit ist aber keine individuelle Besonderheit des Autors, sondern vielmehr die Einbettung der Literatur in schulpolitische Vorgänge der Zeit angesprochen. Während die Waisenhausordnung von 1771 den Kanon der Lehrmittel nahezu exakt repliziert – „Buchstabieren, Lesen, Auswendiglernen und Rezitieren von Katechismus, Psalmen und Gebeten“30 –, verweisen die Lehrbücher Lavaters gerade hinsichtlich der Anordnung ihrer Themen in Glaubensinhalte und Gegenstände der Tugendlehre auf die Aufnahme zeitgenössischer Kritik am Katechismus-Unterricht und die damit verbundenen Entwürfe meist biblisch orientierter Alternativen.31 Die Ergänzung der dogmatischen Sätze des Katechismus durch sittlich-moralische Inhalte in „angeblich kindgerecht didaktisierte[n] Schulbüchern“32 folgte einem breiteren Trend. Mit Blick auf Johann Ludwig Ewald (1748–1822) – der in Bremen gemeinsam mit Lavaters Schüler Johann Kaspar Häfeli (1754–1811) um 1800 über das Projekt einer Bürgerschule einen erfolglosen Brückenschlag zwischen den Reformierten und Lutheranern der Hansestadt versuchte33 – sieht Hans-Martin Kirn in der Abkehr vom Katechismus ein „Programm religiöser Volksbildung, das die kontroverstheologischen Momente durch die Rückbesinnung auf die biblische Sprachwelt zu neutralisieren suchte, ohne den Rahmen der konfessionellen Lehrnorm der Kirche zu sprengen“.34

27 Vgl. Hirzel, Einleitung, 437; Sauer, Predigttätigkeit, 131, Anm. 21. 28 [Lavater, Johann Caspar,] ABC oder Lesebüchlein: Zum Gebrauche der Schulen der Stadt und Landschaft Zürich, Zürich 1772, 21f. 29 Vincenti, Schule, 87; vgl. auch Berner, Im Zeichen, 172f. 30 Crespo, Verwalten, 88. 31 Vgl. Berner, Im Zeichen, 62f, 75f, 182f, 271–274; zu verschiedenen Versionen des Zürcher Katechismus vgl. Vincenti, Schule, 89. 32 Ebd. 33 Döbler/Hannemann, Der Biblische Geschichtsunterricht, 117–119. 34 Kirn, Hans-Martin, Deutsche Aufklärung und Pietismus: Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748–1822), (AGP 34), Göttingen 1998, 44, Anm. 23.

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Biblische Geschichte als Exempel im Sinne der Schulreformen ist vor allem im Handbüchlein von 1771 gegenwärtig. Abrahams Unterredung mit Gott vor der Zerstörung Sodoms,35 die Josephsgeschichte,36 die Erzählung vom barmherzigen Samariter37 und die Auferweckung des Lazarus38 demonstrieren die Allmacht Gottes und die Vorteile der Tugend. Die Narrative werden durch knappe erläuternde Einschübe und zusammenfassende Passagen strukturiert. Mitunter sind Bibelzitate, vor allem als wörtliche Rede der Akteure, eingeschoben. Die Geschichten sind für das laute Vorlesen durch die Eltern konzipiert: „Mich dünkt, daß es besser sey, daß man den Kindern zuerst die Geschichte erzähle“39 – das Frontispiz des Buches weist diese Rolle der Mutter zu, Lavater spricht auch seine „Mitväter“ an.40 Sehr wenige Anmerkungen geben Querverweise oder weitere Erläuterungen. In didaktischer Hinsicht hervorzuheben sind wieder die in einfachen Viererversen gehaltenen Sequenzen von jeweils anderthalb bis drei Seiten Länge am Abschluss jeder Erzählung, die vom Kind selbst unter vorheriger Anleitung zu lesen sind und den Lernerfolg zusammenfassen und festhalten. In den poetischen Lehrsätzen werden die jeweiligen zentralen Tugendwerte aus der Geschichte abgeleitet und, in der ersten Person Singular laut gesprochen, auf die eigene Lebensführung aktiv bezogen.41 Die Eltern sollten, so Lavater, wofern sie nicht sicher sind, daß die Kinder die Verse verstehen, bevor sie dieselbe auswendig lernen, jede Stelle […] erklären, d. i. mit anderen ihnen verständlichen Ausdrücken so begreiflich […] machen, daß sie hinwiederum im Stand sind, den Aeltern oder andern Kindern dieselbe zu wiederholen.42

Die Aneignung der Inhalte wird also erst mit ihrer aktiven Beherrschung vollzogen, oder in den Worten der Zürcher Schulumfrage von 1771/72 ausgedrückt: Die Schüler „[m]üssen […] das Auswendiggelernte mit Verstand hersagen“.43 Lavaters Didaktik nimmt die vorherrschende Kritik am Auswendiglernen des Katechismus und einzelne Lösungsvorschläge – „vom Memorieren zum Verstehen“44 – auf und versucht eine Repetition des Gelernten bei gleichzeitigem Wechsel der Lernformen. Dies wird vor allem mit Blick auf das gesamte Curriculum der Lernmittel deutlich. Die Inhalte der poetischen Lehrsätze werden von den 35 36 37 38 39 40 41

Lavater, Handbüchlein für Kinder, 63–76. Ebd., 77–202. Ebd., 203–219. Ebd., 220–240. Ebd., Vorrede, Abschnitt VI. Ebd., Vorrede, Abschnitt X. Hirzel, Einleitung, 447, bemerkt, dass Lavater seine poetischen Lehrsätze als Versabschlüsse biblischer Erzählungen wahrscheinlich aus der verbreiteten ,Kinderbibel‘ Johann Hübners übernahm. Im Vergleich (s. u. Anm. 49) treten Unterschiede im pädagogischen Programm deutlich hervor. 42 Lavater, Handbüchlein für Kinder, Vorrede, Abschnitt VII. 43 Fragen über den Schul-Unterricht, Zürich 1771, B.b.9. 44 Berner, Im Zeichen, 50.

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Gebeten bzw. Liedern wieder aufgerufen, die in den beiden anderen Publikationen dominieren. Das ABC oder Lesebüchlein präsentiert zwar auch einige „Auserlesene Stellen der heil. Schrift“, die teilweise ebenfalls durch Reimsequenzen aufbereitet und als Lehrstoff erfahrbar gemacht werden.45 Wenigstens vom gleichen Gewicht sind in dem Schulbuch aber die Gebete zu zentralen wiederkehrenden Anlässen: Morgen- und Abendgebet, Gebet vor und nach dem Essen, Gebet vor und nach der Schule, sowie ein Gebet für die Eltern.46 Eine ähnliche Unterteilung findet sich auch bei den Liedern zum Gebrauche des Waysenhauses, die zusätzlich noch Krankheit und Tod, Wochenende und Jahreswechsel, sowie Fehlverhalten von Mitinsassen thematisieren. So wurde der „Alltag im Waisenhaus […] von gottesdienstlichen Übungen eingerahmt und strukturiert“.47

4. Urbild und Tempel: Die Vollkommenheiten dem Kinde erfahrbar machen Während die poetischen Lehrsätze einen inneren Monolog vorzeichnen, der die Tugendwerte argumentativ und vernünftig entwickelt, wird in den Gebeten und Gesängen die Situation eines Zwiegespräches zwischen Kind und Gott/Vater/ Christus nachgestellt, von dem lediglich eine Seite, die des Kindes, vernehmbar wird. Die andere Seite wird durch Schlüsselbegriffe repräsentiert und erscheint in der zweiten Person Singular. Die direkte und persönliche Anrede Gottes wird in der Vorrede des Handbüchleins von 1771 problematisiert48 und anhand des ersten poetischen Lehrsatzes, der auf Abrahams Gespräch mit Gott folgt, emotional eingestimmt und tugendhaft gerechtfertigt: „Je mehr mein Leben Gott gefällt, / Je freudiger darf ich im Glauben vor ihn treten“.49 Sorgsam erteilt Lavater in einer Anmerkung zum „Lied von Gott“ die Anweisung, dem Kind die Unterscheidung zwischen der regulär angeforderten Imagination vom Gott-Vater und dem an der fraglichen Stelle erwähnten „sichtbare[n], leibliche[n] Vater“ zu erklären.50 Der erste Text der Lieder zum Gebrauche des Waysenhauses, betitelt mit „Allgemeines Gebeth-Lied“,51 führt in der ersten Strophe die Begriffe „Herr“, „Vater“, „Reicher“, „Armer“, „Versorger“, „Helfer“ und „Erbarmer“ für „Gott“ ein. Nach diesem breiten Zugriff auf den kindlichen Erfahrungshorizont wird in der zwei45 46 47 48 49

[Lavater,] ABC, 42–46. Ebd., 38–42. Crespo, Verwalten, 88. Lavater, Handbüchlein für Kinder, Vorrede, Abschnitt VIII. Ebd., 75; vgl. dagegen die absolutistische Rahmung durch Johann Hübner, Zweymal zwey und funfzig auserlesene Biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testamente, der Jugend zum besten abgefasset, Gießen 1768, 225: „Dem Menschen ist vergönnt, vor GOttes Thron zu treten, / Denn durch das Beten wird der große GOtt geehrt“. 50 Lavater, Handbüchlein für Kinder, 365. 51 Lavater, Johann Caspar, Lieder zum Gebrauche des Waysenhauses, Zürich 1772, 10f.

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ten Strophe die Begriffsvielfalt zugunsten von „Vater“ aufgegeben, also eben auf jene Repräsentation eingeschränkt, die den Waisenkindern nicht im alltäglichen Erfahrungsschatz, sondern lediglich als prominente Imagination, gegebenenfalls als Objekt der Wünsche zur Verfügung steht. Die dritte Strophe legt dann den inhaltlichen Kerngedanken der poetischen Didaktik frei: Zu Dir, o möchtest du uns leiten,  Gott! Urbild der Vollkommenheiten!  Dich unsern Herzen offenbaren, Vor Irrthum unsern Geist bewahren.52

Hier kommt im Waisenhaus eine Konzeption Gottes zur praktischen Anwendung, die Lavater im ersten Band der Aussichten in die Ewigkeit 1768 nahezu gleichlautend formuliert hatte: „Christus ist in jedem Sinne das Urbild der Vollkommenheit der menschlichen Natur; – das Ziel der höchsten, der menschlichen Natur erreichbaren, Tugend und Glükseligkeit.“53 Die Bedeutung der moralischen Vollkommenheit und ihr Zusammenhang mit Glück als emotionale Rückkoppelung positiver Reize war schon ein Motiv in der Antrittspredigt Lavaters, wie oben gezeigt wurde. Interessant wird damit die Metapher des Urbildes, die Gott/Christus als evolutionären Anfangspunkt in ein Verhältnis zur menschlichen Natur stellt. Auf die rhetorische Funktion der Urbild-Metapher als Anschluss an zeitgenössische Diskussionen der Biologie durch Nicht-Naturwissenschaftler hat Annette Graczyk hingewiesen.54 So benutzt Johann Gottfried Herder (1744–1803) den Begriff in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts, deren großer Einfluss auf Lavater bekannt ist, die aber erst 1774 publiziert wurde. Während der ersten Jahre im Waisenhaus, wahrscheinlich schon ab 1768, las Lavater auch Herder, aber für die Konzeption des Lavaterschen Urbildes ist der Rückgriff auf Charles Bonnet (1720–1793) und dessen Keimtheorie zweifellos entscheidend.55 Gott konnte für Lavater einerseits mittels einer theologischen Zuspitzung der biologischen Metapher zum Ausgangspunkt der Naturerscheinungen und anschließend über das Fortschrittsmodell der Palingenesie Bonnets zum Ernährer oder Quell allen Lebens werden. Das Bild des Ernährers ist im geistigen Sinne, aber wörtlich zu verstehen. Im Handbüchlein von 1771 eröffnet Lavater mit diesem Konzept den „Kern der biblischen Lehren für Kinder“: „Gott hat alles Geschlecht der Menschen aus Einem Blute gemachet. In ihm leben, athmen und sind wir.“56 Über eine bio-

52 Ebd., 10. 53 Lavater, Johann Caspar, Aussichten in die Ewigkeit, Bd. 1, Zürich 1768, 305 (Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. II: Aussichten in die Ewigkeit 1768– 1773/78, hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001, 160). 54 Graczyk, Annette, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert: Theorien zwischen Aufklärung und Esoterik, Berlin/München/Boston 2015, 95, 99. 55 Vgl. Caflisch-Schnetzler, Ursula, Einführung, in: JCLW II, XXI. 56 Lavater, Handbüchlein für Kinder, 244.

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logistisch-transzendente Deutung – inspiriert von so unterschiedlichen Autoren wie dem Physikotheologen Bernard Nieuwentijt (1654–1718) und dem Spiritualisten Paul Felgenhauer (1593–1677)57 – erhält das ‚himmlische Fleisch‘ bzw. das vergossene Blut Christi die „kraft, das herz des menschen zu verbessern“, so Lavater in der Ausgabe der Zürcher Bibel von 1772. Dieser Eintrag und eine 1774 in kleinem Rahmen publizierte Exegese von Heb 9,22 – „Ohne Blutvergießen geschehet keine Vergebung“ – führte allerdings zu einem theologischen Eklat und literarischen Skandal in der aufklärerischen Publikationslandschaft.58 Andererseits verweist das „Urbild der Vollkommenheiten“ auf die ästhetische Dimension der Bildungsdebatte. Ausgewählte Motive und Emotionen, Begrifflichkeiten und Körperlichkeiten sollten die sinnliche Erfahrbarkeit von Schönheit und Vollkommenheit verfügbar machen, mit dem Ziel der Erzeugung einer religiösen Erfahrung, die wiederum der Motivation zur Einübung tugendhaften Verhaltens dienlich werden sollte.59 Bei der erzieherischen Umsetzung dieses Vorgangs wurden die Körper der Rezipienten zu integrierten Bestandteilen der Ausgestaltung eines pädagogischen Wahrnehmungsraumes, in dem sie gleichzeitig auch die Rolle von Produzenten, moralischen Exempeln – im positiven wie auch im abschreckenden Sinne60 – für die Gemeinschaft besetzen konnten. Innerhalb solcher sinnesbezogener Lehr- und Lernorte – die auf einfachste Weise schon durch das laute Lesen von Versen in Gemeinschaft konstituiert werden können – kalibrieren sowohl grundlegende Parameter wie Licht, Raum, Bewegung, Klang, die physische Präsenz anderer usw. wie auch Medienensembles mit religiös-kulturellen Bezügen die Rezeption.61 Demonstrieren kann diesen Vorgang ein weiteres religiöses Motiv, das seine konfessionsübergreifende Attraktivität und Überzeugungskraft aus medial unterstützten Diskursen bezieht, die wenigstens 57 Ob Lavaters nach meinem Wissen nicht belegte, aber unzweifelhafte Rezeption des einflussreichen Niederländers direkt oder über Dritte stattfand, bleibt zu klären. Zu Nieuwentijts Unterscheidung zwischen „sichtbaren“ und „eigentlichen“ Körper vgl. Vidal, Fernando, Brains, Bodies, Selves, and Science: Anthropologies of Identity and the Resurrection of the Body, Critical Inquiry 28,4 (2002), 930–974, hier 958–961; zu Felgenhauer und Lavater vgl. Dohm, Burkhard, Aussichten in die Ewigkeit: Johann Kaspar Lavater und die Hermetik im Kontext von Pietismus und Aufklärung, in: N. Kaminski [u. a.] (Hg.), Hermetik: Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace, Tübingen 2002, 101–128, hier 109f, 121f; sowie Hannemann, Religiöser Wandel, 119–121; und die dort genannte Literatur. 58 Die Bibel. Das ist: Alle Bücher der ganzen Heiligen Schrift, Des Alten und Neuen Testaments. | Aus den Grund-Sprachen treulich und wol verdeutschert | Auf das Neue und mit Fleiß wieder übersehen | Sammt den so genannten Apocryphischen Büchern, dienlicher Vorrede, begreiflichen Abtheilungen der Capitel, abgesezten Versen, nothwendigen Concordanzen, und einem nüzlichen Register, Zürich 1772, Real-Wörterbuch [o. Pag.], Art. Blut.; [Lavater, Johann Caspar,] Fragen an Naturforscher Weltweise und Theologen, [Zürich] 1774; zur Diskussion vgl. Hannemann, Religiöser Wandel, 168–180. 59 Ein geradezu paradigmatisches Beispiel bietet das von der Begegnung mit Franz Anton Mesmer angeregte Konversionserleben Pestalozzis, wiedergegeben in Form eines Berichts an Lavater 1774, zit. auszugsweise in Tröhler, Republikanismus und Pädagogik, 316–317. 60 Vgl. Fürbitte für ein fehlbares Kind, in: Lavater, Lieder, 78f. 61 Vgl. Hannemann, Religiöser Wandel, 12–20.

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bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückreichen.62 Das Allgemeine Gebeth-Lied des Waisenhauses schließt mit der Strophe: „Ein Tempel deiner Huld und Güte / Sey unser Haus …“.63 Die Tempel-Metapher als Hinweis auf einen geschützten und verwandelten Raum, in dem sich das Urbild manifestieren kann, „wo sich Gott auf die unmittelbarste Weise offenbart“,64 wird von Lavater an zahlreichen Stellen bemüht. Tatsächlich geht es in diesem seinem pädagogischen Programm letztlich um die Transformation der bürgerlichen Lebenswelt, die in der sozialen Arena über gemeinschaftlich ausgetragenen Wettbewerb vollzogen werden soll. Im Lied Ermunterung zur Tugend heißt es: Ermuntern wollen wir uns immer!  Einander Licht und Beyspiel seyn!  Im Tempel, Garten und im Zimmer  Unschuldig uns in Gott nur freun!65

So steigt am Erfahrungshorizont des Kindes – neben dem „Garten“ und dem „Zimmer“ – über die sozial ausgetauschte Vervollkommnung einzelner Gemeinschaftsmitglieder der sakrale Raum des Tempels auf. In diesem Sinne sind die beiden Lavater-Schüler Johann Kaspar Häfeli und Johann Jakob Stolz (1753–1828) zu verstehen, wenn sie in einem geradezu paulinischen Verständnis (1 Kor 3,16) den Tempel als Einwohnung Gottes im Körper des Gläubigen charakterisieren: „Fleisch kann geläutertes, harmonisches Vehikulum, Tempel des Geistes werden.“66 Wiewohl „[k]ultischer Tempel und der Mensch als Tempel Gottes“67 in einem Spannungsverhältnis aufgestellt werden können, müssen sie weder in der Antike noch in der Antikenrezeption der Aufklärung zwangsläufig zu Gegensatzpaaren mutieren. Am Philanthropin, im Schloss Marschlins, wurde Lavaters Pädagogik 1775 mit einem didaktischen Medienensemble innerhalb eines landschaftlichen Wahrnehmungsraumes ausgestaltet.68 Vier Tempel waren auf Terrassen in aufsteigender Anordnung an einem zum Sonnenuntergang hin geneigten Berghang errich-

62 63 64 65 66

Vgl. ebd., 95–116. Lavater, Lieder, 11. Lavater, Aussichten, Bd. 1, 272 (JCLW II, 145). Lavater, Lieder, 45. Häfeli, Johann Kaspar/Stolz, Johann Jakob, Allerley gesammelt aus Reden und Handschriften grosser und kleiner Männer, Bd. 2: Vermischte Betrachtungen auf alle Tage im Jahr, Frankfurt a. M. 1777, 34. 67 Auffarth, Christoph, Euer Leib sei der Tempel des Herrn: Religiöse Sprache bei Paulus, in: D. Elm von der Osten/J. Rüpke/K. Waldner (Hg.), Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich, (PAwB 14), Stuttgart 2006, 63–80, hier 70. 68 Grundlegend zu religiöser Gartenarchitektur: Mohn, Jürgen, Die Konstruktion religiöser Wahrnehmungsräume und der wissenschaftliche Blick: Religionsaisthetische Überlegungen anhand von Gartenanlagen in der europäischen Religionsgeschichte, in: B. Beinhauer-Köhler/D. Pezzoli-­ Olgiati/J. Valentin (Hg.), Religiöse Blicke – Blicke auf das Religiöse: Visualität und Religion, Zürich 2010, 59–82.

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Abb. 1: Tempel als Rundbau mit Gotteswolke neben dem Waisenhaus Zürich. Minerva richtet am Sarge des verstorbenen Stifters für den Neubau des Waisenhauses, Heinrich Escher, die Aufmerksamkeit der trauernden Zöglinge auf die Tugend der Hoffnung sowie auf zwei Engel – der eine, mit Palmwedel und Asklepiosstab, hält Eschers Bildnis, der andere kündigt mit der Posaune die Wiederkunft Christi an. Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Zürich auf 1778, Johann Balthasar Bullinger, Zentralbibliothek Zürich. Graphische Sammlung und Fotoarchiv.

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tet worden: die Tempel der Geschichtshelden, der Weisheit,69 der Tugend und der Christustempel. Sie wurden jeden Sonntag nachmittags in einer Prozession der Reihe nach aufgesucht, unter der Begleitung von Musik und dem Gesang von – nicht überlieferten – Liedern, die Lavater komponiert hatte und „auf jene Tempel und ihre Absicht unmittelbare Beziehung haben“.70 Die drei unten gelegenen Tempel dienten der Vermittlung beispielhafter Tugend. Es wurde nachdrücklich versucht, den ‚Kaiserkult‘ im Tempel auf Distanz zu halten: Nicht die Persönlichkeiten einzelner Geschichtshelden sollten im Vordergrund stehen, sondern ihre Taten – „Proben des Muths, der Entschlossenheit, der Tapferkeit, des Patriotismus etc. um den Zuhörern Gefühl für diese Vorzüge einzuflößen“.71 Nachdem die drei unteren Plätze abgeschritten waren, versammelte sich die Prozession am „vollkommensten Symbol“,72 dem höchsten der vier Tempelplätze, dessen Anlage Attribute wie Erhabenheit, Licht und Aufklärung assoziieren sollte. Im Christustempel ist der Direktor Redner. Die vornehmste Absicht seiner Reden geht dahin, überall den Gedanken zu erwecken, daß alle die Vollkommenheiten, die sich bey jenen Tempeln in einzelnen Beyspielen zeigen ließen, sich in der Person unsers Jesu vereinigen, und daß wir von ihm die beste Kraft und die herrlichsten Antriebe zur Nach­ahmung jener Vollkommenheiten erwarten können.73

5. Fazit: Gemeinschaft und Transzendenz Die vorangestellten Ausführungen konnten aufzeigen, wie Lavater als pädagogischer Schriftsteller zentrale Anliegen seines Religionsverständnisses in ein didaktisches Programm überführte: „Christus, das Medium, durch das allein die völlig transzendent verstandene Gottheit auf Schöpfung und Menschheit einzuwirken vermag“74 und „die Frage, wie die Person Jesu in Aufnahme der biblischen Berichte wieder zur konkreten Gestalt für die Gegenwart werden könne.“75 Diese Frage

69 Niedermeier, Michael, Nützlichkeit und Mysterien der Mutter Natur: Pädagogische Gärten der Philanthropen, in: G. Oesterle/H. Tausch (Hg.), Der imaginierte Garten, (Formen der Erinnerung 5), Göttingen 2001, 155–198, hier 179, Anm. 52, deutet bei seiner Schilderung der Marschlinser Anlage und des Weisheitstempels einen „Zusammenhang[.] von mystischer Christusreligion und aufklärerischer Volksbildung“ an, der sich über das Motiv der Minerva bis in den Orden der Illuminaten hinein verfolgen ließe. 70 Bahrdt, Carl Friedrich, Philanthropinischer Erziehungsplan: Oder vollständige Nachrichten von dem ersten wirklichen Philantropin zu Marschlins, Frankenthal 21777, 266. 71 Ebd. 72 Bahrdt, Carl Friedrich, Rede bey Grundlegung des Christustempels, in: Ders. (Hg.), Geschichte des Einweihungsfestes des Philanthropins zu Marschlins, Frankfurt a. M. 1776, 58–65, hier 58. 73 Bahrdt, Erziehungsplan, 267. 74 Weigelt, Art. Lavater, 506. 75 Kirn, Deutsche Spätaufklärung, 44f.

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hängt mit der öffentlichen Debatte über Glaubensvermittlung und Katechismus zusammen, in der sich wiederum die allgemeine Emotionalisierung und Subjektivierung von Religionskonzepten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts spiegelt. Dass die inhaltliche Steuerung der kindgerechten Glaubensvermittlung auch später ein wiederkehrendes Problem für Lavater darstellte, belegt ein mit Christlicher Katechismus betiteltes Fragment, das 1793 in der Hand-Bibliothek für Freunde erschien und in dem er beide Anliegen zusammenzuführen sucht: Jeder Katechismus soll ein kindlich brauchbarer Auszug der Bibel oder des Neuen Testamentes sein; das Ganze desselben dem Ganzen der Bibel oder des Neuen Testamentes correspondent. Jesus ist die Hauptperson des Neuen Testamentes; Alles ist Zeuge von ihm; so, so ganz sei es auch der Katechismus! Ich habe vor einigen Jahren mit Anstrengung aller meiner Kräfte einen solchen Katechismus zu machen versucht und ich halte ihn für das beste Werk, das ich jemals gemacht habe, und dennoch für unwürdig, gedruckt zu werden […].76

Darüber hinaus wurde gezeigt, dass Lavater im Rahmen dieses überkonfessionellen Entwurfes nicht lediglich biblische Geschichte neu redigierte, sondern auch eigene Konzepte und Präferenzen im Lehrstoff unterbrachte. Von diesem Befund ausgehend, ließen sich die Quellen zum Beispiel eingehender hinsichtlich des Naturverständnisses oder des Tugendkataloges befragen und kontextualisieren. Da der Fokus dieses Beitrages auf der didaktischen Methode liegt, möchte ich abschließend auf einen wichtigen Aspekt hinweisen: der sozialen Konstruktion von bürgerlicher Tugendgemeinschaft unter dem Leitmotiv christlich vermittelter Transzendenz. Wichtigstes Element hierbei ist die mit der ersten Person Singular aktivierte Selbstkontrolle der Zöglinge, die eine transzendente Führung, vermittelt über imaginierte und real präsente Autoritäten, internalisieren sollen und deren Fortschritte mittels der Gemeinschaft sanktioniert werden. Bislang fehlen Selbstzeugnisse von Waisenhausinsassen, die eine andere Perspektive auf die Rezeption ermöglichen würden.77 Den Zusammenhang von Tugend, Selbstkontrolle und Autorität überliefert jedoch ein Bericht des 17-jährigen Halbwaisen Johann Jakob Stolz, der bemerkenswerterweise 1771 die Taufe zweier Juden in Zürich – die Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) zu seinem satirischen Lob auf die Lavaterischen Beweisgründe und Göttingischen Mettwürste

76 Lavater, Johann, Hand-Bibliothek für Freunde, Bd. 21, 1793, 168f; wieder in: Lavater, Johann Kaspar, Ausgewählte Schriften, hg. v. J. K. Orelli, Bd. 2, Zürich 1841, 251; zit. nach Ebeling, Gerhard, Genie des Herzens unter dem genius saeculi: Johann Caspar Lavater als Theologe, in: K. Pestalozzi/H. Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen: Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, (AGP 31), Göttingen 1994, 23–60, hier 52, Anm. 121. 77 Peter im Baumgarten, ein namentlich bekannter Waise im Philanthropin Schloss Marschlins 1775–1777, bietet im Anschluss eine wechselhafte Biographie. Auffällig ist, dass er Johann Wolfgang Goethes erste Lavater-Büste in Weimar verunstaltete; Boyle, Nicholas, Goethe: Der Dichter in seiner Zeit, Bd. 1, München 1999, 340f.

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Tilman Hannemann

bewog78 – zum Anlass nahm, ein unterbrochenes Tagebuch wiederaufzunehmen und „[e]inige Wochen lang […] vergleichungsweise ordentlich und regelmäßig“ sein Leben zu führen. Was in der öffentlichen Arena nach dem Skandal um Lavaters ,Widmung‘ an Moses Mendelssohn als ein weiterer Affront gegenüber dem aufklärerischen Gebot der religiösen Toleranz registriert wurde, besaß für den jugendlichen Zuhörer „nahe bey dem Taufstein“ in der Fraumünsterkirche die Bedeutung einer emotionalen Aufforderung zur Abkehr von der Sünde: Im Zentrum des Berichts steht „der gefühlvolle Blick, mit welchem Lavater […] nach der Taufe die Neugetauften bei der Hand faßte und ihnen seine Herzenswünsche mittheilte.“79 Lavater, der zuvor beim Taufakt und in der Predigt „zwey aus den so vielen tausend verlornen Schaafen des Hauses Israels […] deiner Gemeine einverleibet“ hatte,80 akkumulierte in diesem Moment mehrfach transzendent begründete Autorität – die erfolgreiche Kontinuität einer regional etablierten Judenmission für sich beanspruchend, die im Fraumünster institutionell durch mehrere Beisitzer der Zürcher Proselytenkammer vertreten war, während der Predigt im direkten Zwiegespräch mit Gott stehend, als lebendiges Exempel ein Christentum repräsentierend, das aufgrund der „Erhabenheit der Sittenlehre und des Characters Jesus von Nazareth […] die vielen Sekten und Meynungen“ zu überwinden beanspruchte.81 Die Gleichheit der Gemeinde, in der die Tugendhaften Eingang finden, war das Ziel des erzieherischen Programms, das sich aber ohne ein kontinuierliches Bekenntnis zu den religiösen Dimensionen der Autorität und ohne sichtbare Evidenz emotionaler Ergriffenheit nicht erreichen ließ. In dieser Päda­­ gogik ist die scharfe Grenzziehung angelegt, mit der sich das Lavaterumfeld als ‚Freunde der Wahrheit‘ schließlich gegenüber anderen zeitgenössischen Strömungen der Theologie positioniert.

78 Photorin, Conrad [Lichtenberg, Georg Christoph], Timorus, das ist, Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen den wahren Glauben angenommen haben, Berlin 1773. 79 Stolz, Johann Jakob, Notizen aus meinem Leben, 3 Bde., Manuskript, Zürich 1818, Staatsarchiv Bremen, Sig. 7,113, Bd. 1, 74. 80 Lavater, Johann Caspar, Rede bey der Taufe zweyer Berlinischen Israeliten so durch Veranlassung der Lavater und Mendelsohnischen Streitschriften zum wahren Christenthum übergetreten: Samt einem kurzen Vorberichte, Frankfurt a. M./Leipzig 1771, 11. 81 Ebd., 4f.

Wolfgang Hirschmann

Lavaters Schweizerlieder zwischen musikalischer Utopie, Moralischer Wochenschrift und Nationalgeschichte

Wichtige Hintergründe zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Schweizerlieder bietet Georg Geßners (1765–1843) 1802 erschienene Biographie Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung. Dort wird ausgeführt, dass „der erste Gedanke an die Schweizerlieder“ in der Helvetischen Gesellschaft zu Schinznach „in Lavaters Seele gelegt ward“. Der „Herr Professor Planta“ (Martin von Planta [1727–1772], der reformierte Theologe und Reformpädagoge) habe die Sache zur Sprache gebracht, „wie nützlich es wäre, wie sehr tugendhafte und großmüthige Gesinnungen bey dem Volke erweckt werden könnten, wenn die schönsten und edelsten Thaten der Väter in einfachen, popularen Liedern dargestellt würden.“ Ihr Nutzen könne darin bestehen, dass „sie den vaterländischen Sinn durch das gefällig vorgelegte Beyspiel, aufregen, und, indem sie dem Gedächtniß recht leicht behältlich, auch dem Herzen immer gegenwärtig wären.“1 Lavater habe sich als „eines der jüngsten“, aber zugleich „ein’s der thätigsten“ Mitglieder der 1762 gegründeten 100-köpfigen Gesellschaft „mit Freude“ an die Arbeit gemacht. Geßner hebt weiter hervor, dass die 1767 erschienenen Schweizerlieder „allgemein bekannt sind, und keines seiner Werke so mancher Ausgabe bedurfte [d. h. so viele Auflagen erlebt hat wie dieses, WH]“. Das Urteil darüber sei „beynahe ungetheilt“ gewesen, und: „Wirklich war von allen Werken Lavaters keines, das so allgemein gut aufgenommen wurde, und worüber nur wenige ihn anfochten, wohl aber wurden diese Lieder oft auf Unkosten seiner andern Werke gelobt.“2

1 Gessner, Georg, Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung, Bd. 1, Winterthur 1802, 318. Zu Plantas Konzeption, durch das „Liedprojekt […] aus dem einfachen Schweizervolk wieder eine Art Volk des goldenen Zeitalters zu machen“, und seiner Bezugnahme auf eine Episode aus Fénelons Télémaque als Vorbilderzählung vgl. Volz-Tobler, Bettina, Kommentar zu ihrer Ausgabe der Schweizerlieder, in: Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Aus­gabe [im Folgenden JCLW], Bd. I/1: Jugendschriften 1761–1769, hg. v. B. Volz-Tobler, Zürich 2008, 322–325, Zitat 324. 2 Gessner, Lavaters Lebensbeschreibung, 318f.

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Dreierlei sei hier festgehalten: erstens, dass die Schweizerlieder keinesfalls als literarisch-musikalische „Nebenprodukte“ ihres Autors anzusehen sind, sondern offenbar seine publizistische Präsenz und seinen zeitgenössischen Ruhm wesentlich begründeten und festigten – so stark, dass sie die Bedeutung anderer Schriften Lavaters in den Hintergrund drängten; Lavater war für die Zeitgenossen vor allem „der Dichter der Schweizerlieder“. Zum anderen bildete offenbar die Helvetische Gesellschaft in Schinznach den zentralen Entstehungskontext für die Liedersammlung. Zum dritten aber sollten diese Lieder populär und einfach sein, damit sie eine tugendhafte patriotische Gesinnung in einer unmittelbar ansprechenden („das gefällig vorgelegte Beispiel“), leicht zu merkenden („recht leicht behältlich“) und „dem Herzen immer gegenwärtig[en]“ Form allen schweizerischen Bevölkerungsteilen nahebringen konnten. Warum gerade die Musik diese Herzensgegenwart herzustellen vermochte, ist eine Frage, die über den funktionalen Zusammenhang der Lieder hinaus auf eine ästhetische Konstellation verweist. Zunächst sei über Inhalt, Aufbau und Erscheinungsbild sowie die komplexe Editionsgeschichte der Schweizerlieder etwas genauer orientiert. Mustergültig ediert und reich kommentiert erscheinen Lavaters Lieder im ersten Band der kritischen Werkausgabe3 – allerdings nur die Texte, nicht die Lieder in ihrer vollständigen textlich-musikalischen Erscheinungsform. Ich unterscheide daher (siehe dazu im Anhang die Übersicht über die Ausgaben der Schweizerlieder, 412–416) eine A-Reihe (reine Texteditionen) von einer B-Reihe (Editionen der Liedsätze) und füge eine C-Reihe (zweiter Teil der Schweizerlieder) hinzu. Wie wir noch sehen werden, fehlen in der B-Reihe (also den Büchern mit den Liedsätzen) wichtige Textbestandteile aus der A-Reihe (den reinen Textausgaben), so dass eine Deutung der Schweizerlieder beide Reihen (und auch die C-Reihe des zweiten Teils der Schweizerlieder) gleichsam zusammendenken muss. Die zunächst rein philologische Herangehensweise gibt uns verschiedene Ausgangspunkte an die Hand, um die im Titel angesprochene Verortung der Lieder zwischen erinnerungspolitischer Funktion, aufgeklärter Publizistik und musikalischer Ästhetik einzukreisen. Wie der Übersicht im Anhang zu entnehmen ist, enthält die 1767 erschienene Erstausgabe der Lieder nur die Texte,4 die Melodien kamen dann in der Erstausgabe mit Melodien 1770 hinzu.5 Die Textausgabe ist in zwei Bücher gegliedert, zwölf „Historische Lieder“ und ebenso zwölf „Patriotische Lieder“, aus denen durch Untertitel zwei „Kriegslieder“, zwei „Siegeslieder“ und ein „Schlachtlied“ abgegrenzt werden. Diesem Hauptkorpus von zweimal zwölf Liedern sind ab Seite 176 der Ausgabe ein Gedicht und ein längerer Prosatext (eine Art Nachwort) sowie ein abschließendes 25. Lied „auf die Helvetische Gesellschaft zu Schinznach“ nachgestellt, die sich allesamt auf den unmittelbaren Entstehungskontext der Hel-

3 Vgl. Gessner, Lavaters Lebensbeschreibung, 318f. 4 A1. 5 B1.

Lavaters Schweizerlieder

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vetischen Gesellschaft beziehen.6 Die Gesellschaft wird auch im Titel genannt; der Verfasser bleibt anonym, gibt aber zumindest mit dem ersten Buchstaben seines Nachnamens am Ende des Nachwortes auf Seite 182 einen wichtigen Hinweis auf seine Autorschaft. Diese an die Mitglieder der Helvetischen Gesellschaft gerichtete Rede schließt mit folgenden Worten: „Ich umarme Euch alle mit dem warmen wallenden Herzen eines Sohnes und Bruders, bleibet Freunde des Vaterlands – und Freunde Euers aufrichtigsten Freundes L. | Zürich den 12. Jenner 1767.“7 Deutlich wird, dass diese Erstausgabe eine Art literarische Vereinsgabe darstellt, deren Verfasser sich ganz in den Dienst der Ziele der patriotischen Vereinigung stellt und sich hinter ihr zurücknimmt. Im Unterschied zum drei Jahre später erschienenen Liederbuch enthält die Erstausgabe auch eine Zuschrift „An den Leser“,8 in der Lavater explizit auf das literarische Modell hinweist, das ihm bei den Schweizerliedern Leitbild gewesen ist: die 1758 in einer von Lessing besorgten Sammelausgabe erschienenen Preußischen Kriegslieder von Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803).9 Nicht nur das patriotische Sujet und die kriegerische Thematik der gereimten Schlachtgemälde verbinden Gleims und Lavaters Sammlungen, sondern vor allem die Verwendung der englischen Chevy-Chase-Strophe, einem Vierzeiler, „bei dem jambische und durchweg männlich schließende Vier- und Dreiheber wechseln“10 und mit einem Kreuzreim verbunden werden: Wenn Leser! dir mein Reim gefällt, Danks dem Tyrtäus G l e i m! Der sang von Helden wie ein Held Und dessen ist mein Reim.11

Die Berufung auf den Kriegs- und Heldendichter Tyrtaios (Sparta, 7. Jahrhundert vor Christus) findet sich ebenso in Gleims Vorrede zu seiner Sammlung (mit ihrer Autorfiktion eines dichtenden Grenadiers) wie eine nähere Charakterisierung des Strophenmaßes: „Auch seine Art zu reimen, und jede Zeile mit einer männlichen Sylbe zu schliessen, ist alt. In seinen Liedern aber erhält sie noch diesen Vorzug, daß man in dem durchgängig männlichen Reime, etwas dem kurzen Absetzen der kriegerischen Trommete ähnliches zu hören glaubet.“12 Dieses kriegerisch-heroische Versmaß hat Lavater also von Gleim adaptiert.13   6   7   8   9 10 11 12 13

Vgl. Gessner, Lavaters Lebensbeschreibung, 332–342. Ebd., 342; vgl. A1, Nachwort, 182. A1, 3. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig, Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier, Mit Melodien, Berlin o. J. [1758]. Eine wissenschaftliche Ausgabe ist erschienen in: Sauer, August (Hg.), Deutsche Literaturdenkmale des 18. Jahrhunderts, Bd. 4, Stuttgart 1882. Vgl. Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, Tübingen/Basel 21993, 140. JCLW I/1, 70. Gleim, Preussische Kriegslieder, Vorbericht. Vgl. Volz-Tobler, Einführung in JCLW I/1, 328–332.

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Die programmatische Bezugnahme auf Gleim wird verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass Lavater zu dieser Zeit intensive Beziehungen zu Gelehrtenund Literatenzirkeln in Nord- und Mitteldeutschland aufgebaut hatte. Diesem Ziel diente eine Bildungsreise nach Norddeutschland im Jahr 1763/64 zusammen mit Johann Heinrich Füssli (1741–1825), die ihn nach Berlin und dann nach Barth führte, wo er mehrere Monate bei dem Reformtheologen Johann Joachim Spalding (1714–1804) verbrachte. Entsprechend intensiv wurden die Schweizerlieder dann auch in Deutschland rezipiert. Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), den Lavater während seiner Reise besucht hatte, arbeitete die 2. Auflage der Lieder vom Mai 1767 durch und formulierte in einem Brief Änderungsvorschläge zu verschiedenen Liedern, die Lavater neben anderen Vorschlägen in der 3. Auflage vom Juli 1768 an verschiedenen Stellen berücksichtigte.14 Er schreibt dazu in einer neu hinzugekommenen Vorrede: […] es sind allein von der ersten Auflage der Schweizerlieder einige Exemplare in Deutschland gekommen. Seither sind mir wieder Verbesserungen selbst beygefallen; viele sind mir, öffentlich und besonders, von zuverläßigen Kunstrichtern, und einigen der beßten Köpfe in Deutschland und der Schweiz vorgeschlagen worden, denen ich hier öffentlich mit gerührtem Herzen danke.15

Zu den „Kunstrichtern“, die öffentlich Verbesserungsvorschläge machten, gehörte auch der Hallenser Professor für Philosophie und Beredsamkeit Christian Adolf Klotz (1738–1771), in dessen „Deutscher Bibliothek der schönen Wissenschaften“ 1768 eine ausführliche Rezension der Schweizerlieder erschien.16 Auch die Zielsetzung, mit einfachen populären Liedern allen Menschen eines Landes gesellschaftliche, kulturelle und politische Ideale zu vermitteln, verbindet Lavaters Sammlung mit Deutschland, speziell der Liedästhetik der Berliner Liederschulen mit Christian Gottfried Krause (1719–1770) und seiner Abhandlung Von der musikalischen Poesie im programmatischen Zentrum.17 Für die Gestaltung der Ausgabe von 1767 war aber neben der Helvetischen Gesellschaft, dem Vorbild Gleims, der Liedästhetik der Berliner Liederschulen sowie den Verbindungen mit deutschen Gelehrten- und Literatenzirkeln auch ein anderes publizistisches Projekt bedeutsam: die von Lavater wesentlich geprägte Moralische Wochenschrift Der Erinnerer, die 1765 bis 1767 erschien. Lavater hatte

14 Vgl. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Briefe 1767–1772, in: Klopstock, Werke und Briefe, Historischkritische Ausgabe, hg. v. K. Hurlebusch u. a., Berlin/New York 1989, Abteilung Briefe: V 1, 55f; ebd., Bd. 2: Apparat/Kommentar, Anhang, Berlin/New York 1992, 457f. 15 A3, V; JCLW I/1, 639. 16 Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften. Bd. 1, Halle 1768, 3. Stück, 93–106; und ebd., Bd. 4, Halle 1770, 16. Stück, 684–712; dazu genauer Volz-Tobler, Einführung in JCLW I/1, 347–350. 17 Vgl. Rentsch, Ivana, Zwar frey, jedoch in steter Pflicht, Das Zürcher Liedrepertoire im späten 18. Jahrhundert, in: A. Lütteken/B. Mahlmann-Bauer (Hg.), Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, (Supplementa 16), Göttingen 2009, 802–827.

Lavaters Schweizerlieder

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bereits vor Erscheinen der Erstausgabe erste Beispiele seiner Schweizerlieder in der Wochenschrift abgedruckt.18 In der Ausgabe selbst rückt er in verschiedenen patriotischen Liedern Verweise auf Artikel im Erinnerer ein, so etwa gleich zweimal im Abschiedslied an einen reisenden Schweizer.19 Strukturelle Bedeutung hat die Moralische Wochenschrift bei dem „Lied für Schweizermädchen“20. Das Lied wird ganz im Einklang mit den publizistischen Strategien einer aufgeklärten Wochenschrift mit einem Vorbericht eingeführt, in den der fiktive Brief einer „Gesellschaft junger Schweizerinnen“ vom 1. Januar 1767 eingerückt wird.21 Die Frauengesellschaft bietet ein „in Ansehen der Sprache und Poesie sehr schwaches und unvollkommenes Lied“ zur Publikation in den Schweizerliedern an, um auch als Frauen an der „Hauptabsicht“ mitzuwirken, „den beynahe überall ausgestorbenen Schweizergeist wieder aufzuweken; und Ehrlichkeit, Fleiß, Mäßigkeit, Einfalt, männliches Wesen zu predigen“. Der Brief kritisiert den „verderbte[n] Geschmack verzärtelter Leute“ und bringt diesen mit dem Stadtleben „und der so beliebten Uepigkeit“ in Zusammenhang, vor denen sich die Briefschreiberinnen „in diejenigen Gegenden der Schweiz geflüchtet haben, wo Einfalt, Arbeitsamkeit und Ruhe wohnen“. Ihnen geht es darum, „eine simplere und weniger weichliche Lebensart zu führen“; sie hassen „Pracht, Uepigkeit, Weichlichkeit und überhaubt alles kindische Wesen“.22 Der Wiedergabe des Liedes folgt dann ein Nachbericht, in dem „ein Freund“ ein schriftliches (wiederum briefliches) Urteil über das Lied abgibt, das die Lieddichtung als „Geschwäzz“ kritisiert, das „einzig und allein darauf abgesehen ist, Lebensart, Bequemlichkeit, und die feinern Sitten wolerzogener Leute, Damen von Stand, wenn es möglich wäre, gleichsam lächerlich zu machen“.23 So entsteht hier eine diskursive Spannung, die man in einer Liedersammlung nicht suchen würde, die aber allemal für eine Moralische Wochenschrift kennzeichnend ist. Partizipation von Seiten des Publi­kums, Publikation und zugleich Kritik von Beiträgen Außenstehender und auch deren Fiktionalisierung – all dies gehört zu den charakteristischen publizistischen Strategien von Wochenschriften. Gerade dieses Lied wurde von Klotz in seiner oben erwähnten Rezension als dilettantisch attackiert;24 der publizistisch-poetologische Bezugspunkt der Moralischen Wochenschrift ist offenbar bereits in der zeitgenössischen Rezeption nicht mehr präsent gewesen. Den Hintergrund der beiden genannten Lieder an die reisenden Schweizerinnen und Schweizer bilden Debatten, die nicht nur in der genannten Wochenschrift, sondern auch im Umfeld der Helvetischen Gesellschaft geführt wurden.

18 Vgl. JCLW I/1, 325; JCLW I/2: Jugendschriften 1762–1769: Der Erinnerer, hg. v. Bettina Volz-Tob­ler, Zürich 2009, 201–208. 19 A1, 151–160, Verweise auf 156, 158; JCLW I/1, 473–476. 20 A1, 139–150; JCLW I/1, 461–470. 21 A1, 140f; JCLW I/1, 463f. 22 Ebd. 23 A1, 148–150; JCLW I/1, 469f. 24 Vgl. Volz-Tobler, Einführung in JCLW I/1, 347.

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Es ging darum, Phänomenen zeitgenössischer Dekadenz Herr zu werden, die Lavater selbst als „Franzosenweichlichkeit“ bezeichnet hat.25 Den Hang zu einem damit verbundenen, zerstörerischen Luxus sahen Betrachter bei den „Weibs-Personen“ besonders ausgeprägt. Laurenz Zellwenger (1692–1764) hat 1764 in seinem Patriotischen Abschied von der helvetischen Gesellschaft26 diese Gefahr zwar besonders bei Frauen konstatiert, jedoch eher als ein gesamtgesellschaftliches Problem ins Auge gefasst: Der Luxus ruiniere nicht nur die Familien, sondern verleite auch zum Amtsmissbrauch.27 Das abschreckende Gegenbild zum wahren Schweizertum sah man vor allem in Paris und seiner dort besonders präsenten „Monarchenpracht“: Der Sitten Einfalt ist dahin, Wo alles Wollust! ruft; Vergiftet wird dein Schweizersinn Vom Monarchieenluft. Ist dir dein Vaterland nicht gnug, So bist du sein nicht werth, Nicht werth, daß dich ein Schweizerpflug Aus freyem Boden nährt.28

So steht es in dem Abschiedslied an einen reisenden Schweizer, und Lavater ergänzt in seinem Vorbericht: „Ich habe noch keinen Jüngling gesehen, der nicht höchstwahrscheinlich viel besser wäre, wenn er Paris nie gesehen hätte“29. Die Reiseproblematik hat Beat Ludwig von Muralt in seiner Lettre sur les Voyages von 1725 thematisiert; er kommt zu dem Schluss, dass der Hofkultur der Franzosen mit ihrem Kult des Äußerlichen und des Scheins eine Absage erteilt werden müsse zugunsten „der ‚einfachen‘ und ‚rohen‘ Sitten der alten Eidgenossen, die ein Vorbild an tugendhafter Lebensart darstellten“.30 Diese Idealisierung der ursprünglichen Lebensweise der Vorväter teilt Muralt mit Lavaters Lehrer und Freund Johann Jakob Bodmer. Bodmer liefert darüber hinaus eine geschichtstheoretische Unterfütterung dieser Überzeugung: Der Hauptzweck der Historie besteht, wie Bodmer in seiner Abhandlung Vom Wert der Schweizergeschichte31 ausführt, darin, „der Nachwelt eine ‚rühmliche Aemulation‘ tugendhafter Leute“ durch einen Unterricht mittels historischer Exempel

25 Ebd., 723. 26 Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft 1764, 45–80. 27 Vgl. Zurbuchen, Simone, Patriotismus und Kosmopolitismus, Die Schweizer Aufklärung zwischen Tradition und Moderne, Zürich 2003, 73–75. 28 A1, 155; JCLW I/1, 474. 29 A1, 152; JCLW I/1, 472. 30 Zurbuchen, Patriotismus und Kosmopolitismus, 86. 31 Bodmer, Johann Jakob, Vom Wert der Schweizergeschichte, in: M. Wehrli (Hg.), Das geistige Zürich im 18. Jahrhundert, Texte und Dokumente von Gotthard Heidegger bis Heinrich Pestalozzi, Basel 1998, 58ff.

Lavaters Schweizerlieder

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„einzuflößen“.32 Die Schweizer Bergbewohner werden von Bodmer zu „edlen Wilden“ idealisiert, aus deren geschichtlichem Beispiel sich eine historische Sittenlehre entwickeln lasse, die für die Gegenwart Vorbildfunktion besitzen könne.33 Lavater steht in den Schweizerliedern ganz deutlich in dieser historischen Programmatik, wenn er im ersten Teil der „Historischen Lieder“ in strikt chronologischer Abfolge die verschiedenen Heldentaten der Altvorderen zwischen 1299 und 1477, welche die Freiheit und Einheit des Schweizerbundes herbeiführten und verteidigten, historisch detailreich beschreibt und emphatisch feiert. Er baut auch Portraits und Charakterbilder des Wilhelm Tell und in den späteren Auflagen des Nicolaus von der Flüe ein. Aufschlussreich für Lavaters stark historiographische Orientierung in den Schweizerliedern ist ein Vorbericht zu diesem Lied, der ab der 3. Auflage von 176834 enthalten ist. Die Einführung zum Lied über den „Bruder Klaus“ berichtet, der Text stelle zum größten Teil eine Versifikation eines historischen Aufsatzes dar, den der Züricher Stadtschreiber Salomon Hirzel „im Namen der Stadtbibliothekgesellschaft“35 in Zürich verfasst und zum Neujahrstag 1768 publiziert habe.36 Und im Anschluss wird über mehrere Seiten hinweg der historische Teil genau dieses Aufsatzes zitiert, so dass hier Lavaters historiographische Quelle als Einleitung in seine Versifikation und zugleich dem Ziel einer volkserzieherischen Unterweisung in der schweizerischen Nationalgeschichte dient.37 Die Nationalhistorie, wie sie Lavater entfaltet, wird grundiert von einem Republikverständnis, das auf einem Begriff der „Tugend“ aufbaut, in dessen Zen­trum die „Vaterlandsliebe“ steht („Tugend“, „Freiheit“, „Vaterland“ sind die immer wiederkehrenden Schlüsselbegriffe der Lieder). Dieses an der griechischen Polis angelehnte, in Montesquieus Esprit des Lois (1748) prominent aktualisierte Republikverständnis38 wird von Lavater im ersten Buch seiner Liedersammlung in den Helden und Heldentaten der eidgenössischen Befreiungsgeschichte exemplarisch verortet und zugleich im zweiten Buch für alle Lebensbereiche, bedeutenden Ereignisse, Berufsgruppen und sozialen Schichten propagiert. Damit soll die gesellschaftliche Totale des Schweizervolkes mit den Ideen und Idealen der freiheitlichen Vaterlandsliebe vertraut gemacht werden (siehe Anhang, S. 412–414): Es gibt Lieder für Bauern und für Geistliche ebenso wie für Schweizerknaben, die sich in den Waffen üben, ein Hochzeitslied und ein Trinklied ebenso wie Lieder für eidgenössische Feste und Zusammenkünfte wie den Meistertag zu Zürich oder die jährliche Landsgemeine der Kantone. 32 Zurbuchen, Patriotismus und Kosmopolitismus, 81. 33 Ebd. 34 A3; JCLW I/1, 646–649. 35 JCLW I/1, 646. 36 Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Zürich auf das Jahr 1768, 3ff. 37 Volz-Tobler, Einführung in JCLW I/1, 327f. 38 Zurbuchen, Patriotismus und Kosmopolitismus, 50–52; zu den genannten Begriffen und ihrer Verwendung in den Schweizerliedern genauer in Hof, Ulrich, Lavater als Patriot, in: K. ­Pestalozzi/ H. Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, (AGP 31), Göttingen 1997, 300–316.

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Mit penibler Präzision hat Lavater versucht, seine Lieder auf die betreffenden Adressaten abzustimmen. So findet sich in der 3. Auflage von 1768 (A3) zu dem „Lied für Schweizerbauern“ ein Vorbericht, der ausführt, dass in diesem Lied der Vorzug des freien schweizerischen Bauernlebens vor den sklavischen Lebensbedingungen von Bauern in monarchischen Gesellschaften besungen werde.39 Dabei stellt sich das Problem, dass man „für Leute, die nicht lesen können, […] nicht schreiben“ könne;40 den Bauern gehe der Sinn für eine kunstvolle poetische Sprache ab und er habe sich deshalb in diesem Lied eines besonderen Stils bedient: Er habe eine „naive Prose“ geschrieben, „die ohne Figuren und Bilder stärker mahlt, und herzlicher spricht, als alle Bilder; in einem Dialect, den alle Menschenseelen verstehen sollten“.41 Hier die erste Strophe: Stimmet, wackre Schweizerbauern, Stimmt ein Lied mit Freuden an! Eins, das hinter Thor und Mauern Keiner mit uns singen kann! Keiner in den Königreichen, Wo die Herren Sklaven gleichen, Wo der Fürsten Stolz und Pracht Aus den Bauern Behtler macht.42

Es ist aufschlussreich, hier nun die Liedsätze und damit das textlich-musikalische Strukturganze als eigentliche Erscheinungsform des Liedes zu betrachten; die Abb. 1 zeigt das Lied für Schweizerbauern (Nr. 21) in der Erstausgabe des Liederbuches von 177043. „Bäurisch“ ist das Lied überschrieben; der Komponist Johannes Schmidlin hat tatsächlich versucht, den besonderen „naiven“ Ton des Liedes durch eine einfache, ja fast derbe Melodie zu treffen. Es ist das einzige Lied der Sammlung, dessen Singstimme im Bassschlüssel steht, und das einzige, in dem die Oberstimme teilweise im Einklang mit dem Generalbass geführt wird. Um die Spannbreite des in den Liedern entfalteten Simplizitätsideals zu verdeutlichen, sei dem Bauernlied das Lied eines Schweizerischen Geistlichen gegenübergestellt (Abb. 2).44 Hier führt Schmidlin durch komplexe Rhythmik, Modulationen und reiche Harmonik, durch kleine Koloraturen, Verzierungen, Vorhalte sowie eine vielfältige Melodiebildung Momente der Artifizialisierung ein, die aber hier kein Selbstzweck sind, sondern der Charakterisierung einer besonders

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JCLW I/1, 672f. Ebd., 672. Ebd., 673. Ebd., 674. Bl, 45. Nr. 28; B1, 58; eine Analyse des Liedtextes unter dem Gesichtspunkt des ökumenischen Patriotismus bietet im Hof, Ulrich, Pietismus und ökumenischer Patriotismus. Zu Lavaters „Schweizerliedern“, PuN 11 (1985), 94–110, hier 107–110; vgl. auch ders., Lavater als Patriot, 300–316.

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Abb. 1: Schweizerlieder mit Melodieen, Bern 1770, Nr. XXI: Lied für Schweizerbauern, 45.

Abb. 2: Schweizerlieder mit Melodieen, Bern 1770, Nr. XXVIII: Lied eines Schweizerischen Geistlichen, 58.

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gebildeten und würdevollen Klasse dienen sollen. Der arienartige Charakter des Liedes macht es zugleich für eine kollektive Aufführung als Chorlied ungeeignet. Klar zu erkennen ist das spezifische Layout des Liederbuches: das Querformat, das für das Musizieren (vor allem auf dem Cembalo oder Klavier, aber auch im Freien zur Laute oder Gitarre) bequem ist, die möglichst gedrängte Wiedergabe der Strophen, um deren Absingen nach der Melodie zu erleichtern. Vor allem aber fehlen hier alle Kommentare, Verweise, Vor- und Nachberichte, historischen wie gesellschaftlichen Verortungen, die die verschiedenen Auflagen der reinen Textsammlung zu solch besonderen und aussagekräftigen Dokumenten machen. Den intensiven Kontextualisierungsverfahren der Textsammlung, vermittelt über Moralische Wochenschrift und Geschichtsschreibung, steht also das Liederbuch mit einer Tendenz zur musikzentrierten Dekontextualisierung gegenüber. Dies hat aber auch Konsequenzen für die Rezeption der Schweizerlieder: Über die Liedersammlung konnten sie sehr viel neutraler und damit allgemeiner aufgenommen werden als über die reine Textedition; und erst zusammen mit den Melodien konnten die Texte jenem eingangs zitierten Ideal nahekommen, dass „sie dem Gedächtniß recht leicht behältlich, auch dem Herzen immer gegenwärtig wären“.45 Dies liegt daran, dass hier die Aussagekraft der Musik hinzukommt. Die Liedsätze schuf, wie bereits erwähnt, der Zürcher Theologe und Komponist Johannes Schmidlin (1722–1772), der 1744 Vikar in Dietlikon, 1754 Pfarrer in Wetzikon wurde und 1752 mit einem umfangreichen geistlichen Liederdruck, dem Singenden und spielenden Vergnügen Reiner Andacht (nach Texten von Haller, Canitz, Triller, Creutzberg, Schmolck, Rambach, Tersteegen, Gerhardt u. a.), hervortrat. Schmidlin gründete in Wetzikon eine Singgesellschaft mit ca. 200 Mitgliedern und später ein Collegium musicum.46 Wie die Übersicht im Anhang (S. 414f) zeigt, arbeitete der Komponist die nunmehr 36 Lieder des Buches (elf mehr als in der Erstausgabe von 1767) vorwiegend als Generalbasslieder mit einer Singstimme aus. In sieben Fällen erweitert er die Vokalbesetzung um eine oder zwei Mittelstimmen (erstmals bei Nr. 14 Nicolaus von der Flüe, dann bei Nr. 16 und 17 Der Schweizer und Gemeineidsgenößisches Lied); bei der Nr. 22, dem Waffenlied für Schweizer, werden zwei Oboen als Instrumentalbegleitung hinzugenommen, eine klangliche Färbungstechnik, die bei den Kriegs- und Siegesliedern wiederkehrt, deren militärisch-heroischer Charakter durch den Einsatz von zwei Trompeten und Fagott, Instrumenten der Kriegs­ musik, gesteigert wird. Das „Choralmäßig; andächtig.“ überschriebene Gebethlied eines Schweizers (Nr. 25) bietet einen vierstimmigen Choralsatz. In diesen Liedern ist also bereits eine Tendenz zur klanglichen Erweiterung und zum mehrstimmigen Chorgesang greifbar, die nach Schmidlins frühem Tod im Jahr 1772 in den späteren Auflagen des ebenfalls immens erfolgreichen Lie-

45 Vgl. Gessner, Lavaters Lebensbeschreibung, 318f. 46 Vgl. Föllmi, Beat, Art. in: L. Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Zweite, neubearbeitete Ausgabe, Personenteil, Bd. 14, Kassel u. a. 2005, 1439f.

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derdrucks47 durch seinen Schüler Johann Heinrich Egli (1742–1810)48 weiterverfolgt wird. Egli ergänzt weitere Mittelstimmen, damit die Lieder nicht nur „von Einer Person“, sondern auch von „ganzen Gesellschaften“, wie sein Verleger David Bürkli in einer neuen Vorrede ausführt, gesungen werden konnten.49 Egli vertonte dann auch noch einen 2. Teil der Schweizerlieder mit insgesamt 50 neuen Liedern von verschiedenen Verfassern50 – bereits die 4. Auflage der Texte51 hatte fünf weitere Lieder als Neue Zugabe zu den Schweizerliedern enthalten, von denen nur eines von Lavater selbst stammte.52 Lavater selbst hatte andere P­atrioten aufgefordert, weitere Lieder zu dichten – auch dies eine Konsequenz seiner der Moralischen Wochenschrift nahestehenden Publikationsstrategie –, und in der 2. Auflage sogar eine Liste von Themen abgedruckt, die weitere Schweizerlieder behandeln sollten,53 darunter auch einen Kuhreigen,54 worauf ich gleich noch zu sprechen komme. Ich denke, auch diese neuen 50 Lieder gehören in die Edi-

Abb. 3: Schweizerlieder mit Melodieen, 3. Auflage, Zürich 1786, Titelblatt. 47 48 49 50 51 52 53 54

B2, 1775; B3, 1786; B4, 1796. Vgl. Föllmi, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 122f. B4, 1786, 3. Drucke C1 und C2. A4, 1775. Vgl. den Kommentar in JCLW I/1, 319 und 719. A2, 1767; JCLW I/1, 633–638. JCLW I/1, 637.

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tionsgeschichte der Schweizerlieder, insofern man sie von den Liedern und ihrer Wirkungsgeschichte und nicht allein vom Autor her denkt. Das von Lavater selbst genutzte Modell der Moralischen Wochenschrift lädt nachgerade dazu ein, die gewohnte Autorkategorie zu überwinden. Damit waren die Schweizerlieder endgültig zu einem breit rezipierten Erfolgsmodell geworden: Das Titelblatt der 3. Auflage des Liederdrucks zeigt in seiner Vignette die Büste Lavaters mit einer am Sockel gelehnten Lyra; Wilhelm Tell deutet auf Lavaters Abbild und weist seinen Sohn auf den Liederdichter hin.55 Lavater hatte in seinen Liedern die Heroengeschichte der Schweiz entfaltet, nun weist der größte Nationalheld auf ihn zurück (oder voraus) und öffnet dadurch seinem Sohn den Blick auf die späteren Generationen. Der „Blick zurück“ auf die Exempel der Alten wird gleichsam umgekehrt: Dankbar blicken die Vorväter auf Lavater als ihren „Wiederentdecker“ und „Statthalter“ in der Gegenwart – prä- und postfigurale Geschichtsdeutung werden in ein Sinnbild zusammengespannt. Dass Lavaters Konzept nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern mit diesen beiden auch die Zukunft umfasst, zeigt noch deutlicher der apotheotische Schluss seines Gedichts An mein Vaterland in der Erstausgabe der Texte von 1767: Heil mir wenn in fernen Tagen, Bey dem Friedensharfenklang, Enkel ihren Enkeln sagen: „Heil dem Dichter der sie sang!“56

Schmidlins Vorbericht zu den Melodieen der Schweizerlieder von 177057 ist ein wichtiges liedästhetisches Dokument, schließt aber auch unmittelbar an Lavaters historisch-patriotische Programmatik an: Dem Musiker, so Schmidlin, hätten sich „bey Durchlesung dieser Lieder sogleich musikalische Gedanken und Empfindungen dargeboten“, und er fährt fort mit einer rhetorischen Frage: „Wie viel fähiger ist man zu solchen Empfindungen, wenn man auch selbst glückselige Folgen heldenmüthiger Siege unserer großmüthigen Vorväter in Ruhe mitgeniesset?“58 Mit dieser Bezugnahme auf Nationalhistorie und Vaterlandsliebe verbindet Schmidlin nun aber eine Folge von produktionsästhetischen Ableitungen: Wo dieses ist, da singet nicht eigentlich die Kunst, sondern das dankbare und empfindungs­ volle Herz. Man giebt sich bey solchem Vorfall nicht mit einem allzugekünstelten Wesen, welches sonst zu solchen Liedern eigentlich nicht gehört, und wodurch das Natürliche verstellt wird, ab, sondern man folget der Natur: die Einfalt, die edle Einfalt rühret um desto mehr, und dann können auch mehrere mitsingen.59 55 B3, 1786, siehe Abb. 3 auf S. 407; Vgl. Rentsch, Zwar frey, jedoch in steter Pflicht, 810. 56 A1, 176; JCLW I/1, 492. 57 B1, siehe Abb. 4 auf Seite 409. 58 Ebd., Schmidlin, Vorbericht. 59 Ebd.

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Abb. 4: Schweizerlieder mit Melodieen, Bern 1770, Vorbericht von Johannes Schmidlin.

Das von den Taten und Segnungen der Vorväter gerührte Herz beginnt zu singen, folgt allein der Natur und nicht der Kunst und erschafft Gebilde von edler Einfalt. Hier schließt sich ein Kreis: Wenn Geßner in seiner eingangs zitierten LavaterBiographie betont, der Vorzug von Liedern bestehe darin, dass sie „dem Herzen immer gegenwärtig wären“,60 dann betont er aus rezeptionsästhetischer Sicht die Idee einer Herzensgegenwart, die von Schmidlin produktionsästhetisch als zentraler Impetus seiner Liedgestaltung namhaft gemacht wird. Hier öffnet sich ein musikästhetischer Hintergrund, der in zwei Richtungen weist: Zum einen wird hier emphatisch ein Verständnis von Musik als unmittelbarer „Sprache des Herzens“ vertreten, das in Jean-Jacques Rousseaus (1712– 1778) Musikästhetik und seiner Theorie des Ursprungs der Sprachen erstmals prominent und wirkungsmächtig ausformuliert worden ist. Um 1750 entfaltet Rousseau im Umfeld der Querelle des Bouffons die Idee der einfachen, herzbewegenden Melodie zu einem „anthropologisch-geschichtsphilosophischen Entwurf “.61 Er formuliert seine Theorie der Melodie in polemischer Abgrenzung von 60 Vgl. Gessner, Lavaters Lebensbeschreibung, 492. 61 Reckow, Fritz, Die „Schwülstigkeit“ Johann Sebastian Bachs oder ‚Melodie‘ versus ‚Harmonie‘. Ein musiktheoretischer Prinzipienstreit der europäischen Aufklärung und seine kompositionsund sozialgeschichtlichen Implikationen, in: H. Neuhaus (Hg.), Aufbruch aus dem Ancien régime, Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts, Köln u. a. 1993, 231.

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Jean-Philippe Rameaus (1683–1764) physikalisch begründeter Harmonielehre, die aus der Obertonreihe mit gleichsam naturgesetzlicher Folgerichtigkeit drei Grundakkorde ableitet, welche die gesamte harmonische Faktur als eigentlichen Wesenskern der Musik tragen. Für Rousseau hingegen ist Musik eine Sprache, die ausschließlich dem unmittelbaren Ausdruck von Gefühlen dient und damit ein kulturelles Produkt und keine Naturwissenschaft ist. Rousseau entwirft eine Ursprungstheorie der Sprache, in der diese zunächst reiner Gefühlsausdruck und mit Melodie identisch war. Als diese Einheit zerbrach, wurde die Harmonie in die Musik eingeführt als Kompensation für den Verlust von natürlichem Gefühl, Leidenschaft und Melodie; die kunstvolle europäische Mehrstimmigkeit erscheint so als negatives Produkt der menschlichen Vergesellschaftung. In der Melodie ist freilich nach wie vor ein emanzipatorisches Potenzial aufgehoben; sie bildet als eine allen Menschen natürlich angeborene, unmittelbare Sprache der Empfindungen einen „zentralen Zugang zum unverbildeten Wesen des Menschen schlechthin“.62 Vor der Melodie, so ließe sich pointieren, sind alle Menschen gleich. Wenn Lavater in seinen Liedern die Rückkehr zu der naiven, ursprünglichen Vaterlandsliebe der Vorväter fordert, um die Schweiz im Zeichen republikanischer Ideale neu zu einen, so findet diese patriotisch-emanzipatorische Haltung ihre Entsprechung in der schlichten melodischen Faktur der Gesänge als Ausfluss einer „Sprache des Herzens“, deren utopisches Potential gerade darin liegt, dass sie durch ihre Einfachheit den Weg hin zu einem besseren, weil ursprünglichen Menschsein weist. Hier kommt ein zweiter Gesichtspunkt hinzu: Rousseau selbst erblickte im schweizerischen „Kühreihen“ (Kuhreigen), dem „ranz des vaches“, eine Melodie, die dieses utopisch-emanzipatorische Potenzial in sich trägt. Im Artikel „Musique“ seines Dictionnaire de musique führt er zur Wirkungsmacht dieser Melodie Näheres aus: […] le célèbre Rans-des-Vaches, cet air si chéri des Suisses qu’il fut défendu sous peine de mort de le jouer dans leur Troupes, parce qu’il faisoit fondre en larmes, déserter ou mourir ceux qui l’entendoient, tant il excitoit en eux l’ardent desir de revoir leur pays. On chercheroit en vain dans cet Air les accens énergiques capables de produire de si étonnans effets. Ces effets, qui n’ont aucun lieu sur les étrangers, ne viennent que de l’habitude, des souvenirs, de mille circonstances qui, retracées par cet Air à ceux qui l‘entendent, & leur rappellant leur pays, leurs anciens plaisirs, leur jeunesse, & toutes leurs façons de vivre, excitent en eux une douleur amère d’avoir perdu tout cela. La Musique alors n’agit point précisément comme Musique, mais comme signe mémoratif. Cet Air, quoique toujours le même, ne produit plus aujourd’hui les mêmes effets qu’il produisoit ci-devant sur les Suisses; parce qu’ayant perdu le goût de leur première simplicité, ils ne la regrettent plus quand on la leur

62 Reckow, Die „Schwülstigkeit“ Johann Sebastian Bachs, 226.

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rappelle. Tant il est vrai que ce n’est pas dans leur action physique qu’il faut chercher les plus grands effets des Sons sur le cœur humain.63

Auch hier läuft die Argumentation auf die Kategorie der Einfalt zu, der „simplicité“. Die heutigen Schweizer verfügten nicht mehr über jene Schlichtheit, die es früheren Generationen erlaubt hätte, die intensiven Wirkungen des „ranz des vaches“ zu empfangen: einer Melodie, die Rousseau zufolge in den Schweizern ein derartig großes Heimweh auslöste, dass sie zu weinen begannen, desertierten oder gar Selbstmord begingen, so dass deren Vortrag bei Androhung der Todesstrafe beim Militär verboten war. Aufschlussreich ist nun die Argumentation, die Rousseau für die Wirkungsweise dieser Melodie entwirft: Sie sei ein wunderbares Beispiel für die „grands effets des Sons sur le cœur humain“, und das habe nichts mit ihrer physischen Beschaffenheit („action physique“) zu tun (eine Spitze gegen Rameau). Vielmehr würden die Klänge wie ein „signe mémoratif “, ein Gedächtnis- oder Erinnerungszeichen, funktionieren. In der Melodie seien kollektive Erinnerungen an Landschaft, früheres Glück, Jugend und Lebensweisen, an „mille circonstances“ gespeichert, die bei deren Erklingen reaktiviert würden und jene heftigen Empfindungen des „mal du pays“ auslösten. Im Umkehrschluss gilt: Kollektiverfahrungen lassen sich also mit einer Melodie, einem Lied, wesentlich leichter aktivieren, bündeln und steuern als mit rein textlichen Medien. Ich denke, genau darum ging es Planta, Lavater, Schmidlin und den anderen Mitgliedern der Helvetischen Gesellschaft, als sie die Schweizerlieder in die Welt entsandten. Sie wollten ein neues kollektives Gedächtnis, neue „signes mémoratifs“ eines aus der Vergangenheit heraus erneuerten Schweizertums etablieren und nutzten dafür ganz im Sinne von Rousseau die Wirkungsmacht einer einfältig-­ edlen Melodik. So fließen in Lavaters Schweizerliedern Nationalhistorie, Moralische Wochenschrift und musikalische Utopie zu dem Projekt einer neuen kollektiven Gedächtnisstiftung zusammen. Wie groß deren Erfolg war, lässt sich vielleicht aus dem emphatischen Lob ersehen, das Georg Gottfried Gervinus 1840 in den 4. Band seiner Geschichte der deutschen Dichtung einrückte: „Diese Lieder drangen wirklich in das Volk ein, und in alle Klassen des Volks, wurden damals mit Enthusiasmus von Alt und Jung gesungen und haben bis heute ausgehalten.“64 Lavaters Kalkül scheint aufgegangen zu sein, auch wenn er sich angesichts der Erfolgsgeschichte der Liedersammlung dazu veranlasst sah, dem Publikum deutlich zu machen, „dass ich ein Geistlicher und kein homme de guerre sey“.65 Zugleich hoffe ich gezeigt

63 Rousseau, Jean-Jacques, Dictionnaire de musique, Paris 1768, 314f. Vgl. Schneider, Mathieu, L’utopie suisse dans la musique romantique, Paris 2016, 31–34, zu Lavater und Schmidlins Schweizerliedern 34–39: „Lavater lança donc une mode, celle du lied, et posa concrètement les fondements d’une identité nationale suisse qui s’agrégeait autour des valeurs morales et citoyennes exemplifiées par l’histoire de la Conféderation et par les mœurs idéalisées des paysans suisses“. 64 Gervinus, Georg Gottfried, Geschichte der deutschen Dichtung, Bd. 4, Leipzig 1840, 173. 65 Volz-Tobler, Einführung in: JCLW I/1, 354.

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zu haben, dass es notwendig ist, die beiden zeitgenössischen Erscheinungsformen der Schweizerlieder – den Druck der Liedertexte und das Liederbuch mit Melodien – zusammenzudenken, wenn man zu einem adäquaten Verständnis dieser prominenten und historisch folgenreichen Liedersammlung vorstoßen möchte.

Anhang A1 [A]66: Erstausgabe (nur Texte), Bern 176767 [Fettdruck: Text fehlt in B1] [1] Titelkupfer „Schweizer-Lieder“ [2] Schweizerlieder. | Von | einem | Mitgliede der | helvetischen Gesellschaft | zu | Schinznach. || Bern, bei Beat Ludwig Walthard. 1767 [Januar] 3 An den Leser. 5 7 [9] 11 [15] 17 [23] 25 [31] 33 [41] [43] [45] [47] [49] [61] [63] [73] [75] [81]

Erstes Buch, | Historische Lieder. Innhalt des ersten Buchs. Albrecht vor Zürich im Jahr 1299. I. [11 Str., 1 Anm.] Wilhelm Tell [1307] II. [17 Str.] Der Schweizerbund. [1308] III. [18 Str.] Die Schlacht bey Morgarten, im Jahr 1315. IV. [24 Str.] Der zweite Sieg an selbigem Tag. [6 Str.] Die großmütigen Belagerte, im Jahr 1318. V. [6 Str.] Die Schlacht bey Laupen, im Jahr 1339. VI. [34 Str., 1 Anm.] Die Schlacht bey Sempach, im Jahr 1386. VII. [26 Str., 3 Anm.] Die Schlacht bey Näffels, im Jahr 1388. VIII. [18 Str.] Die Schlacht bey St. Jakob, im Jahr 1444.

66 In eckigen Klammern stehen die in der Lavater-Werkausgabe (JCLW I/1) für die Edition der Schweizerlieder verwendeten Siglen. Zu den erschienenen Ausgaben (Text- und Notenausgaben) siehe auch JCLW, Ergänzungsband: Bibliographie der Werke Lavaters. Verzeichnis der zu seinen Lebzeiten im Druck erschienenen Schriften, hg. u. betreut v. Horst Weigelt, wissenschaftliche Redaktion Niklaus Landolt, Zürich 2001, 206–208 (318.1–319.5). 67 JCLW I/1, 361–504.

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[82] IX. [14 Str.] [87] Der Burgunderkrieg. [88] [1 Str.] [89] Erste Schlacht bey Grandson, im Jahr 1476. im Anfange des Merzmonats. X. 90 [8 Str., 1 Anm.] [93] Die zweyte Schlacht bey Murten, Im Jahr 1476. am 20ten und 22ten des Brachmonats. XI. [28 Str., 1 Anm. am Ende] [103] Dritte Schlacht bey Nanci, am 4ten Jenner 1477. XII. [13 Str.] 108 [Epilog: 8 Verse] [109] Zweytes Buch. Patriotische Lieder. [110] Innhalt des zweyten Buchs. [111] Der Schweizer. [112] XIII. [6 Str.] [115] Gemeineidgnößisches Lied. [117] XIV. [11 Str.] [123] Lied auf den Meistertag in Zürich. [124] [Vorbemerkung] [125] XV. [7 Str.] [129] Lied der demokratischen Kantone auf ihre Jährliche Landsgemeinde. [130] XVI. [6 Str.] [133] Lied für junge Schweizer die sich in den Waffen üben. | An meine liebe Freunde Hans Caspar Schweizer und Schinz in Zürich und Hans J­ acob­­li Zimmerman in Brugg. [135] XVII. [8 Str.] [139] Lied für Schweizermädchen. [140] Vorbericht. [mit Brief Appenzell, 1. Januar 1767] [142] XVIII. [9 Str.] [148] Nachbericht. [mit Brief] [151] Abschiedslied an einen reisenden Schweizer. (152] [Vorbemerkung] [153] XVIII. [recte: XIX.] [15 Str., zwei Verweise] [161] Kriegslieder. [162.] Erstes Kriegslied [8 Str.] [164] Zweytes Kriegslied. [9 Str.] [167] Siegeslieder. [168] XXII. Erstes Siegeslied. [9 Str.] [171] Zweytes Siegeslied. [6 Str.] [173] Schlachtlied. [174] XXIV. [3 Str.] [176] An mein Vaterland. [18 Verse] [177] An die Helvetische Gesellschaft in Schinznach. [179] [Nachwort als Rede, am Ende: „Zürich den 12. Jenner 1767“]

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[183] Lied auf die Helvetische Gesellschaft zu Schinznach. [184] [16 Str.] [193] Druckfehler und Verbesserungen. A2 [B]: Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage 1767 (Mai) Enthält ein weiteres Lied und eine ‚Wunschliste‘ weiterer zu schaffender Schweizerlieder.68 A3 [C]: Dritte Auflage, Zürich 1768 (Juli) Enthält neun weitere Lieder (siehe den Inhalt von B1), ein neues Titelkupfer, Änderungen in den bisherigen Liedern, Motto-Zusätze sowie eine ausführliche neue Vorrede Lavaters.69 B1: Erstausgabe mit Melodien, Bern 1770 [Fettdruck = neu gegenüber A1] Die Liedsätze stammen von Johannes Schmidlin (1722–1772) Schweizerlieder | mit | Melodieen. Bern, | Gedruckt und verlegt bey Wagner, Hochobrigkeitlicher Buchdrucker. | 1770. Vorbericht („Wezikon den 2. Merz 1769. | Joh. Schmidlin“) [Partitur C1 + Bc.,70 wenn nicht anders angegeben] Titel Überschrift Strophen Tonart/Taktart Lied der Helvetischen Gesellschaft Feyerlich 16 Es-Dur 2 in Schinznach I.Albrecht vor Zürich Freudig, etwas spottend 12 D-Dur C II. Wilhelm Tell Dreiste 23 F-Dur 12/8 III. Der Schweizerbund Feyerlich 18 Es-Dur 3/2 IV. Die Schlacht bey Morgarten Trotzend 24 D-Dur 2 V. Der zweyte Sieg an demselben Tag Sanft freudig 6 A-Dur 3/4 VI. Die großmüthigen Belagerten Unschuldig und freudig 15 A-Dur 2/4 VII. Die Schlacht bey Laupen Großmüthig und stark 34 D-Dur 2/4 VIII. Die Schlacht bey Sempach Dankbar froh 26 C-Dur 2/4 IX. Die Schlacht bey Näffels Entschlossen 17 F-Dur 2/4 X. Die Schlacht bey St. Jacob zu Basel Mit Affect 15 d-Moll 3/4 XI. Die Schlacht bey Granson Freudig 9 A-Dur 2/4 XII. Die Schlacht bey Murten. --- 25 D-Dur  XIII. Die Schlacht bey Nancy --- 11 G-Dur  XIV. Nicolaus von der Flüe Angenehm 10 F-Dur 3/8 (C1, C3, Bc.) 68 JCLW I/1, 627–638. 69 Ebd., 639–718. 70 Abkürzungen: C1 = Sopranschlüssel, C3 = Altschlüssel, G2 = Violinschlüssel, F4 = Bassschlüssel, Bc. = Basso continuo,  = Alla-breve-Takt.

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XV. Der Schwabenkrieg

Lebhaft

415 37 B-Dur C

XVI. Der Schweizer Lebhaft 6 F-Dur 2/4 (C1, C1, Bc.) VII. Gemeineidsgenößisches Lied Freundschaftlich gefällig 11 B-Dur 6/8 (C1, C1, Bc.) XVIII. Loblied auf Helvetische Eintracht Angenehm mit Affect 10 Es-Dur 3/4 XIX. Lied einer Schweizerischen Gesezt 11 Es-Dur C Obrigkeit XX. Lied einer glücklichen Republik Froh munter 17 F-Dur 3/4 XXI. Lied für Schweizerbauern Bäurisch 9 G-Dur 2/4 XXII. Lied für Schweizer, die sich in --- 14 A-Dur 2/4 den Waffen üben (C1/Oboe I, C1/Oboe II, Bc.) XXIII. Lied für Schweizerknaben, die Herzhaft und lustig 8 G-Dur 3/4 sich in den Waffen üben XXIV. Lied für Schweizermädchen Sehr lebhaft 8 B-Dur 3/4 XXV. Lied auf den Meistertag zu Zürich  Aufgeweckt 8 A-Dur 2/4 XXVI. Republikanisches Trinklied Frohe 12+1 G-Dur C XXVII. Lied der demokratischen Ernsthaft, doch vergnügt 6 C-Dur Kantone bei ihrer jährlichen Landsgemeine XXVIII. Lied eines Schweizerischen --- 18 C-Dur Geistlichen XXIX. Abschiedslied an einen Mit Affect 15 F-Dur 2/4 Schweizer, der auf Reisen geht XXX. Erstes Kriegeslied Entschlossen 8 D-Dur XXXI. Zweytes Kriegeslied Prächtig 9 D-Dur 12/8 (G2/Tromba I ex D, G2/Tromba II, F4/Fagotto e Violoncello, F4/Bc.) XXXII. Schlachtlied Muthig unerschrocken 3 F-Dur XXXIII. Erstes Siegeslied Freudig 9 D-Dur (G2/Tromba I ex D, G2/Tromba II, F4/Fagotto e Violoncello, F4/Bc.) XXXIV. Zweytes Siegeslied Spottend, freudig 6 G-Dur 2/4 XXXV. Gebehtlied eines Choralmäßig; andächtig 15 D-Dur Schweizers (C1, C1, C3, Bc.) XXXVI. Lied des Schweizer- Munter und nachdrücklich 5 A-Dur C liederdichters (nach Strophe 5: „Bis hieher läßt sich dies Lied nach der gegenwärtigen Melodie singen, aber weiter nicht.“; es folgen zwei Seiten Text ohne Melodie)

Weitere Ausgabe und Auflagen: B2: 2. vermehrte Auflage des Liederbuches 1775. A4 [D]: 4., verbesserte und vermehrte Auflage von A, Zürich 1775 Zugabe von fünf Liedern (1. „Die Natur im Schweizerland“, 2. „Das Rüsthaus“, 3. „Die Trümmer“, 4. „Schweizerische Hochzeitlied“, 5. „Tells Geburts-Ort“) und

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eines Lehrgedichts („Zuruf des Schweizerliederdichters“). Die Lieder 2 bis 5 stammen von Graf Friedrich Leopold von Stolberg-Stolberg.71 B3: 3. Auflage des Liederbuches 1786: Schweizerlieder mit Melodieen. | Vermehrte dritte Auflage. | Zürich, gedruckt und verlegt bey David Bürkli 1786 B3 und B4 enthalten zusätzlich zum Vorbericht Schmidlins einen Vorbericht des Verlegers David Bürkli. Die Liedsätze sind erweitert durch Mittelstimmen zu den meisten Liedern sowie in B4 durch die Zugabe von fünf Liedern (vgl. A4) und das Lehrgedicht. Neue Gestaltung des Titelblatts. Die Zusatzstimmen und neuen Liedsätze der Zugabe stammen von Johann Heinrich Egli (1742–1810). C1: Schweizerlieder von verschiedenen Verfassern als ein zweyter Theil zu Hrn. Lavaters Schweizerliedern. In Music gesetzt von Joh. Heinrich Egli, Zürich 1787. A5: 5., verbesserte und vermehrte Auflage von A, Zürich 1788. B4: Vermehrte 4. Auflage des Liederbuches, Zürich 1796. C2: 2. Auflage des 2. Teils der Schweizerlieder, Zürich 1796.

71 JCLW I/1, 719–726.

Andreas Pečar

Republiken im Streit: Lavaters Aussagen zu Freiheit und Selbstbestimmung 1. Einführung Johann Caspar Lavater verdankt seine Prominenz in der Forschung zum 18. Jahrhundert seinen Schriften als Theologe, insbesondere seiner Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn, ferner seinen Schriften zur Physiognomik, seinem poetischen Werk sowie seinen Kontakten zu prominenten Fürsprechern des Mesmerismus.1 Sein politisches Engagement findet in der Forschung allerdings eher wenig Beachtung. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass sich Lavater nur in bestimmten Situationen als Bürger zu Wort meldete, insbesondere zu Beginn und dann wieder am Ende seines Gelehrtendaseins. Mit 21 Jahren war er einer von mehreren Autoren einer anonymen Flugschrift mit dem Titel Der ungerechte Landvogt oder Klagen eines Patrioten.2 In dieser Flugschrift griff er die korrupte Amtsführung des vormaligen Landvogts Felix Grebel in Zürichs Untertanen­ gemeinde Grüningen an und verlangte von den städtischen Amtsträgern in Zürich eine Untersuchung von dessen Amtsführung. Zwar blieb seine Autorschaft nicht lange geheim. Aufgrund von politischer Protektion wurde Lavater aber für diese Schrift nicht als Aufrührer belangt und auch nur moderat bestraft, indem man ihm eine Bildungsreise ins Ausland nahelegte.3 Danach machte Lavater in politischen Fragen lange Zeit nicht von sich reden. Erst die Ereignisse rund um den Untergang der althergebrachten Stadtrepublik Zürich im Zusammenhang mit der dortigen Revolution, der französischen Besetzung und der Einrichtung der Helvetischen Republik veranlassten Lavater wieder dazu, sich als Bürger in mehreren Schriften öffentlich zu Wort zu melden und seinen Protest gegen die politischen Zumutungen der Besatzungszeit kundzutun.4

1 2 3 4

Vgl. hierzu die Beiträge in diesem Band. Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. I/1: Jugendschriften 1762–1769, hg. v. B. Volz-Tobler, Zürich 2008, 39–187. Volz-Tobler, Einführung in: JCLW I/1, 52–71. Lavater, Johann Caspar, Patriotische Schriften 1798–1801, in: JCLW VIII: Patriotische Schriften 1798–1801, hg. v. D. Sieber, Zürich 2015.

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Andreas Pečar

Der revolutionäre Umbruch in der Schweiz im ausgehenden 18. Jahrhundert stieß in der Geschichtswissenschaft durchaus auf Interesse und wird in zahlreichen Untersuchungen insbesondere seit den 1980er Jahren thematisiert.5 In diesen Untersuchungen spielt Lavater allerdings nur eine Nebenrolle, wird seine Position zu den Umbrüchen und der Besatzungszeit nicht eigens thematisiert. Auch in biographisch angelegten Studien wie Horst Weigelts Darstellung zu Lavaters Werkund Wirkungsgeschichte finden sich dazu nur knappe Ausführungen. Weigelt zufolge war „sein politischer Einsatz zuerst und vor allem von seinem Patriotismus getragen. Es ging ihm um das Wohl der Schweiz und insbesondere Zürichs“.6 Mit dieser Aussage ist freilich nur wenig Erkenntnis gewonnen. Was machte denn in Lavaters Augen das Wohl der Schweiz und das Wohl Zürichs aus? Was war der Maßstab, mit dem Lavater die politischen Zustände beurteilte? Welcher Sprache, welcher Begriffe bediente er sich, wenn er als besorgter Bürger sein Wort ergriff? Diese Fragen stehen in diesem Beitrag im Mittelpunkt. Dabei konzentriere ich mich auf die Auseinandersetzungen um die Helvetische Republik, also auf die Zeit unter französischer Oberhoheit in den letzten beiden Jahren des 18. Jahrhunderts. Insbesondere zu dieser Zeit machte Lavater als politischer Autor von sich reden. Sein vehementer Einspruch gegen die französische Okkupation ermöglicht es, einige grundsätzliche Fragen zu diskutieren. Insbesondere wird es darum gehen, welche Vorstellungen von Freiheit und Republik er vertrat und welche er energisch bekämpfte. Dies ermöglicht es auch, sein politisches Weltbild zu verorten zwischen Ancien Régime und Revolution, zwischen klassischem und modernem Republikanismus.

2. Die „goldene Freiheit“ und die „Freiheit der Hölle“ Im August des Jahres 1798 erschien in der Schweiz eine anonyme Bitt- und Schmähschrift in einem: Ein Wort eines freyen Schweizers an die französische Nation, über das Betragen derselben gegen die Schweiz.7 Lavater hatte diese Schrift als Bittschrift dem französischen Kriegskommissar und Mitglied des Direktoriums,

5 Vgl. hierzu nur Büning, Holger, Revolution in der Schweiz. Das Ende der Alten Eidgenossenschaft: Die Helvetische Republik 1798–1803, Frankfurt a. M. 1985; ders., Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Republik (1798–1803) – Die Schweiz auf dem Weg zur bürgerlichen Demokratie, Zürich 1998; Guzzi, Sandro, Logik des traditionalistischen Aufstandes: Revolten gegen die helvetische Republik (1798–1803), Historische Anthropologie 9 (2001), 233–253; Godel, Eric, Die Zentralschweiz in der Helvetik (1798–1803). Kriegserfahrungen und Religion im Spannungsfeld von Nation und Region, Münster 2009; Würgler, Andreas, Grenzen des Zumutbaren. Erfahrungen mit der französischen Okkupation und der Helvetischen Republik (1798–1803), Basel 2011. 6 Weigelt, Horst, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991, 109. 7 JCLW VIII, 89–241.

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Jean-François Reubell (1747–1807), übergeben und außerdem in seinem Bekanntenkreis bekannt gemacht. Den Druck der Schrift hat Lavater selbst nicht veranlasst.8 In seinem Wort eines freien Schweizers geht Lavater hart mit dem revolutionären Frankreich ins Gericht. Zwar preist er die französische Nation für Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte.9 Darauf folgt aber eine ganze Kette an Vorwürfen: Ȥ Frankreich habe die Schweiz zu einer neuen politischen Ordnung gezwungen, und zwar mit dem „Tyrannenrecht des Stärkeren“.10 Ȥ Frankreich habe diese Unterjochung der Schweiz heuchlerisch garniert mit einer Freiheitsrhetorik und damit die politischen Werte, in deren Namen es zu handeln vorgibt, pervertiert: „So ward uns nie geboten, da wir, eurer unwahrhaften Sage nach, Sklaven waren, so mußten wir nie blindlings gehorchen, wie jetzt, da wir nun, eurer Sage nach, frey sind“.11 Ȥ Frankreich sei Zürich und anderen Schweizer Städten gegenüber als Räuber aufgetreten, und habe allein Zürich drei Millionen Livres abgepresst.12 Ȥ Frankreich habe dafür unberechtigterweise die alte Zürcher Stadtregierung zur Zahlung der Summe verpflichtet, nicht das Gemeinwesen insgesamt. Diese alte Stadtregierung sei aber demokratisch gewählt worden und habe stets nur ihre Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen erfüllt. Sie sei die Regierung des Volkes gewesen, nicht aber eine „Aristokratie“ oder „Oligarchie“, wie die neuen Machthaber glauben machen wollen.13 Ȥ Vor der Besetzung der Schweiz haben die demokratischen Kantone eine „goldene Freyheit“ genossen, die Schweiz war „Jahrhunderte, ehe Frankreich an Demokratie dachte, demokratischer […], als Eure kolossalische Republik nie werden kann“.14 Mit der Besetzung sei Despotismus und Tyrannei an deren Stelle getreten, die neue propagierte Freiheit sei in Wahrheit eine „Freyheit der Hölle“.15 Trotz seiner Anklage konnte auch Lavater nicht umhin, auch zustimmende Worte in seine Klageschrift mit einzuflechten. Diese Zustimmung bezog sich insbesondere auf die neue Verfassung der Schweiz, die sogenannte Helvetische Republik: Es konnte der klugen, großen Nation zuträglich seyn, zu wünschen, daß wir eine einzige untheilbare Republik ausmachen: die weisesten und besten Schweizer konnten dieses für die Schweiz selbst vortheilhaft finden. Der Gedanke war schön und groß […],16

  8   9 10 11 12 13 14 15 16

Ebd., 137f. Ebd., 192f. Ebd., 199. Ebd., 200f. Ebd., 210–214. Ebd., 213. Ebd., 216f. Ebd., 224f. Ebd., 196f.

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so Lavater über die neue Einheitsverfassung. Und weiter über die helvetische Revolution: „Daß die Aristokratie gestürzt ist, kann ein großes Glück, kann die Erfüllung des Wunsches Vieler gewesen seyn […].“17 Und zur neuen Verfassung: „Ich bewundere die Konstitution, die ihr uns aufdrangt […], als ein Meisterstück des menschlichen Genie’s, als ein ehrwürdiges Monument großer Politik. Ich glaube, man kann für gute Menschen nichts Erhabeneres denken.“18 Was veranlasste Lavater, der für die neue Verfassung nur lobende Worte fand und die neue Ordnung damit augenscheinlich zu begrüßen schien, Frankreich als revolutionärem Geburtshelfer dieser neuen Ordnung in so scharfen Worten anzugreifen? Es war nicht allein das Besatzungsregiment und deren Begleiterscheinungen, die ihn erzürnten, sondern die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Schweiz und die damit einhergehende Missachtung der politischen Selbstbestimmung der Schweizer.19 Die neue Verfassungsordnung ist zwar von einem Schweizer, dem Basler Peter Ochs (1752–1821), ausgearbeitet worden. Das französische Direktorium hat diesen Entwurf aber seinerseits überarbeitet und ohne weitere Rücksprache drucken lassen und diesen Text dann Ende Januar 1798 in der Schweiz verbreitet. Was für Ochs und zahlreiche schweizerische Revolutionäre als erste Diskussionsgrundlage gedacht war, werteten die französischen Machthaber als endgültigen Verfassungstext. Es zeigte sich in den Folgemonaten, dass die französischen Repräsentanten in der Schweiz eine eigenständige Verfassungs­ debatte nicht zulassen wollten und alternative Vorschläge ebenso wenig gewünscht waren wie eine verfassungsgebende Versammlung oder gar eine Volksabstimmung über die neue Verfassung. Die einzelnen Kantone der Schweiz wurden vielmehr vor die Wahl gestellt, der vom Direktorium vorgelegten Verfassung zuzustimmen oder aber eine Besetzung durch französische Truppen in Kauf zu nehmen.20 Gegen diese Erpressungspolitik richtete sich Lavaters Empörung weit stärker als gegen die Verfassungsinhalte, weshalb er die Schweizer als Sklaven wähnte und die Franzosen als Tyrannen und Fürsprecher einer „Freiheit der Hölle“ schmähte.

3. Lavater und die alte Ordnung Blicken wir zunächst auf Lavaters Worte über die politischen Zustände in Zürich und in der Schweiz, wie sie vor der Revolution und vor der Intervention durch französische Truppen bestanden. Zürich habe, so der energische Pfarrer, eine „goldene Freiheit“ genossen und sei wie die ganze Schweiz demokratischer gewesen, als es das revolutionäre Frankreich jemals sein werde. Lavaters Apologie

17 18 19 20

Ebd., 199f. Ebd., 200f. Ebd., 196f. Böning, Revolution, 109f; ders., Traum, 167–172.

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der Schweiz als einem Mutterland der Freiheit bewegt sich ganz in der Tradition des im vorrevolutionären Europa gängigen Bildes der Schweiz, wie es in zahlreichen Reiseberichten verbreitet wurde.21 Und in seinen Schweizerliedern hat Lavater selbst gleichfalls den ruhmreichen Freiheitsmythos der Schweiz beschworen, der auf Wilhelm Tell und auf den siegreichen Schlachten gegen die Truppen der Habsburger gründet: Freiheitsliebe, Gottvertrauen, Zuversicht, Mut, Unerschrockenheit, Opferbereitschaft und Patriotismus waren in den Gründungsjahren der Schweiz die moralischen Grundlagen, die Siege über einen vielfach überlegenen Gegner ermöglichten, der als eitler, hochmütiger Tyrann, als Anführer von „viel Fürsten, Grafen, Ritter“ in den Kampf zog.22 Die „goldene Freiheit“ der Schweiz, wie sie Lavater gegen Frankreich ins Feld führte, war insbesondere das Produkt eines kulturellen Gedächtnisses zur Beförderung einer politischen Identität,23 die an den Gemeinsinn aller Schweizer appellierte und auch in der Wahrnehmung der Schweiz aus dem Ausland großen Widerhall fand. Wenn wir das politische Imaginäre der Schweiz eintauschen gegen eine politische Analyse des Freiheitsbegriffs in der vorrevolutionären Schweiz, so treten die Unterschiede zwischen der alten Freiheit, die Lavater als „goldene Freiheit“ verklärt, und der neuen Freiheit klar zutage.24 Der traditionelle, frühneuzeitliche Freiheitsbegriff meint zweierlei: zum einen die politische Selbstbestimmung eines Gemeinwesens, ohne Weisungen einer höheren Obrigkeit unterworfen zu sein.25 In diesem Sinne waren alle Stadtrepubliken der Eidgenossenschaft genauso wie die unabhängigen Landsgemeinden frei. Zum anderen war Freiheit ein Privileg Einzelner beziehungsweise bestimmter Gruppen. Dies konnte die Befreiung von Abgaben und Steuerlasten bedeuten oder aber das Recht auf Partizipation und politische Mitbestimmung. Im letzteren Falle zählten alle, die an den politischen

21 Vgl. hierzu Böning, Traum, 1–4; Ziehen, Eduard, Die deutsche Schweizerbegeisterung in den Jahren 1750–1815, Frankfurt a. M. 1922; ders., Philhelvetism, Marburg 1925. 22 JCLW I/1, 315–497, Zitat 407. Vgl. zu den Schweizerliedern auch den Beitrag von Wolfgang Hirschmann in diesem Band. 23 Vgl. hierzu auch Head, Randolph C., Early Modern Democracy in the Grisons: Social Order and Political Language in a Swiss Mountain Canton, 1470–1620, Cambridge 1995. 24 Vgl. hierzu generell Suter, Andreas, Vormoderne und moderne Demokratie in der Schweiz, Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), 231–254; ferner Muralt, Leonhard von, Alte und neue Freiheit in der helvetischen Revolution, in: F. Büsser u. a. (Hg.), Der Historiker und die Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge (Festgabe für Leonhard von Muralt), Zürich 1960, 147–160; Graber, Rolf, Alte oder neue Freiheit? Qualitative Veränderungen der Protestziele und des Protestverhaltens 1794 bis 1798: Die Zürcher Landschaft als Beispiel, in: C. Simon (Hg.), Blicke auf die Helvetik/Regards sur l’Helvétique, Basel 2000, 67–93. Vgl. auch ferner die damit einhergehenden symbolischen Auseinandersetzungen über die Signifikanten der Freiheit; Ebert, Wilfried, Der frohe Tanz der Gleichheit. Der Freiheitsbaum in der Schweiz 1798–1802, Zürich 1996, v. a. 185f. 25 Vgl. hierzu exemplarisch Skinner, Quentin, Liberty before Liberalism, Cambridge 1998.

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Entscheidungen der jeweiligen Republiken teilhatten, zu den cives im Sinne der aristotelischen Politik.26 Beide Spielarten der Freiheit galten in der frühneuzeitlichen Schweiz nur für wenige und nicht für viele. Nehmen wir nur die Stadtrepublik Zürich, in der Lavater Bürger war, als Beispiel: In der Republik Zürich waren nur die Einwohner in der Stadt von Abgaben und Steuern befreit, also die Mitglieder der Stadtgemeinde. Den Großteil der Belastungen und der Abgaben schulterten die Einwohner der von Zürich beherrschten Landsgemeinden, die Herrschaften Grüningen, Kyburg und Andelfingen sowie die Städte Stein am Rhein sowie Winterthur. Die dortigen Untertanen hatten mit ihren Abgaben die Privilegien der Stadtbürger zu finanzieren. Die materiellen Belastungen waren in der Republik Zürich also sehr ungleich verteilt.27 Ähnlich fällt das Urteil aus, wenn man unter Freiheit das Recht auf politische Partizipation und Mitbestimmung versteht. Die Landsgemeinden hatten keinerlei Partizipationsrechte und genossen bestenfalls sehr eingeschränkte lokale Autonomierechte. Aber auch die Stadtbürger hatten am politischen Geschehen mehrheitlich keinen Anteil. In der Stadt Zürich fielen politische Entscheidungen insbesondere in zwei städtischen Institutionen, dem Kleinen Rat und dem Großen Rat. Der kleine Rat bestand aus insgesamt 50 Personen, die sich – nebst den beiden jeweils gewählten Bürgermeistern – aus je 24 von den Zunftmeistern bestimmten Personen zusammensetzte und je 24 Personen aus Patriziergeschlechtern. Im Großen Rat waren neben den Mitgliedern des Kleinen Rates dann noch 144 weitere Vertreter der zwölf partizipationsberechtigten Zünfte vertreten sowie 18 weitere Mitglieder aus Patrizierfamilien. Diese Stadtverfassung stammte aus dem Spätmittelalter und wurde seitdem nur geringfügig angepasst, in jeweils neuen Schwurbriefen, deren siebter und letzter 1713 beschworen wurde. Zugleich lässt sich gerade für das 17. und 18. Jahrhundert ein deutlicher Trend zur Oligarchisierung aller Ämter feststellen. Die Mitglieder der beiden Räte der Stadt sowie der weiteren städtischen Ämter entstammten fast alle aus einem Kreis von ca. 80 Familien.28

26 Vgl. hierzu Riedel, Manfred, Art. Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, 672ff; Mager, Wolfgang, Res publica und Bürger, in: G. Dilcher (Hg.), Respublica. Bürgerschaft in Stadt und Land, Berlin 1988, 67–84; Stolleis, Michael, Untertan, Bürger, Staatsbürger, in: Ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1990, 299–339; Koselleck, Reinhart/Schreiner, Klaus (Hg.), Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994; Hettling, Manfred, Der Begriff des „Bürgers“ – Historisch, Analytisch, Politisch, in: Ders./G. Foljanty-Jost, Formenwandel der Bürgergesellschaft – Japan und Deutschland im Vergleich, [Arbeitspapiere des Internationalen Graduiertenkollegs Halle/Tōkyō], Halle 2014. 27 Böning, Traum, 13–15; vgl. ferner Braun, Rudolf, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriß einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen/Zürich 1984. 28 Vgl. hierzu Zimmermann, Werner, Verfassung und politische Bewegung, in: H. Wysling (Hg.), Zürich im 18. Jahrhundert, Zürich 1983, 9–34; Böning, Traum, 9f; Staatsarchiv des Kantons Zürich (Hg.), Kleine Zürcher Verfassungsgeschichte 1218–2000, Zürich 2000.

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Lavater wehrt sich energisch gegen den Vorwurf, Zürich sei wie Bern und die anderen Städte oligarchisch und aristokratisch regiert worden, und betont ausdrücklich, dass die „ehevorigen Regenten […] aus allen Klassen von Bürgern größtentheils von allen Bürgern selbst erwählt“ wurden.29 Diese Umschreibung schönt die historische Realität aber beträchtlich. Gewählt wurden alle Mitglieder der beiden Räte auf Lebenszeit. Diese Regelung förderte die Selbstabschließung der politischen Führungsschicht und deren Trend zur Oligarchisierung. Wahlen standen dementsprechend nur selten an, nämlich dann, wenn eine Ratsstelle in einer der beiden Räte durch den Tod eines Ratsmitglieds neu zu besetzen war. Im Falle von Stellen im Kleinen Rat wurden diese durch eine Wahl der Mitglieder des Großen Rates neu besetzt. Im Falle einer freiwerdenden Stelle des Großen Rates gab es dann eine Wahl innerhalb derjenigen Zunft, die für diese Stelle jeweils zuteilungsberechtigt war.30 „Von allen Bürgern“ wurde kein Mitglied der städtischen Führungsämter gewählt. Diese Stadtverfassung spiegelt sich auch in der Wahl der jeweils gebrauchten Begriffe wider. Die Revolutionäre bezeichneten das Stadtregiment in Zürich, Bern und anderen Städten als „aristokratisch“ und damit als illegitim, da die Führungsschichten nicht durch die Wahl des Volkes legitimiert gewesen seien. Auch hätten zahlreiche Einwohner keinerlei Partizipationsrechte besessen, da sie in den beherrschten Landsgemeinden lebten und ihnen daher die Freiheitsrechte der Stadtgemeinden fehlten. Lavater selbst ist in der Benennung der alten politischen Ordnung inkonsequent. Einerseits benennt er die Schweiz stolz als älteste Demokratie der Welt – und sieht dabei über die gerade skizzierten Verhältnisse großzügig hinweg. Andererseits gesteht er zu, dass der Sturz der „Aristokratie […] die Erfüllung des Wunsches Vieler gewesen seyn“ kann. Aber auch in dieser Frage ist ihm der rhetorische Nutzen der Begriffe wichtiger als der analytische, wenn er die Begriffe Aristokratie und Oligarchie konsequent als Anklage gegen die neuen Machthaber gebraucht und den Rechtszustand in der neuen Republik als Sklaverei benennt, die er von der „goldenen Freiheit“ früherer Jahre abgrenzt.31 Wenn Lavater von der „goldenen Freiheit“ der alten Zeiten schwärmt, dann lässt er dabei wohlweißlich unerwähnt, dass die Mehrheit der regierten Personen von dieser Freiheit ausgeschlossen blieb, ja dass der Begriff Freiheit kein allgemeines Grundrecht war, sondern gemeint war als Privileg – sei es der ratssässigen Familien, sei es der Zürcher Stadtbürger.32 Lavater steht in seiner Rhetorik in einer langen Tradition der Propaganda der Schweizer Städte, die seit dem Spät-

29 JCLW VIII, 213. 30 Vgl. Böning, Traum, 9f: „In Zürich zum Beispiel wurden vom Rat der Zweihundert nur noch 13 Prozent durch die Zunftangehörigen gewählt, während der Rat sich selbst ergänzte“. 31 Vgl. hierzu generell Suter, Andreas, Vormoderne und moderne Demokratie in der Schweiz, Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), 231–254. 32 Vgl. ferner Wartburg, Wolfgang von, Zürich und die französische Revolution. Die Auseinandersetzung einer patriarchalischen Gesellschaft mit den ideellen und politischen Einwirkungen der französischen Revolution, Basel/Stuttgart 1956.

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mittelalter und insbesondere seit der humanistischen Geschichtsschreibung ihre Gemeinden als Hort der Selbstbestimmung und der Freiheit anpriesen und zu mustergültigen Republiken erklärten.33 Dieses Selbstbild verteidigt Lavater in seiner Schrift an die französischen Repräsentanten gegen ein Freiheits- und Republikverständnis, das wesentlich auf dem Gedanken bürgerlicher Gleichheit und politischer Repräsentation fußte.

4. Lavater und die neue Ordnung Auch in der Schweiz ist die alte Ordnung in Folge der Französischen Revolution in die Brüche gegangen. Dies lag zum einen an der französischen Expansion in den Nachbargebieten der Schweiz, z. B. beim Italienfeldzug und der Errichtung einer Cisalpinischen Republik (1797), zum anderen aber auch am Beispiel einer fundamentalen Umwälzung der politischen Verhältnisse. Eine solche politische Umwälzung schien in der Schweiz all denjenigen attraktiv, die von der alten Ordnung wenig profitierten und von den Freiheitsprivilegien ausgeschlossen blieben, allen voran den Bewohnern in den sogenannten Untertanengebieten. Es verwundert also nicht, dass diese Gebiete in den 1790er Jahren immer wieder die Revolution wagten.34 Dies galt auch für Zürich. In den Stäfner Händeln wagten die Gemeinden um den Zürichsee, die als Untertanengemeinden politisch weitgehend ohne Rechte waren, einen Vorstoß für die Errichtung einer Verfassung, die Gleichstellung aller Bürger, für Gewerbefreiheit, für ein Ende der Feudalabgaben gegenüber der Stadt Zürich sowie die Wiederherstellung der alten Gemeinderechte.35 Dieser Forderungskatalog wurde in einem Memorial schriftlich festgehalten und innerhalb der Landsgemeinden diskutiert.36 Am Ende dieser Beratungen sollte es der Zürcher Regierung wohl als Bittschrift übergeben werden. Interessant war bei diesem Vorstoß die Berufung sowohl auf alte Rechte, die die Verantwortlichen bei der Lektüre alter Urkunden ausfindig gemacht haben, als auch auf moderne Prinzipien,

33 Maissen, Thomas, Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden. Die humanistische Definition einer natio, in: J. Helmrath/U. Muhlack/G. Walther (Hg.), Diffusion des Humanismus: Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, 210–249, v. a. 213–215; vgl. ferner Marchal, Guy P., Die Antwort der Bauern. Elemente und Schichtungen des eidgenössischen Geschichtsbewußtseins am Ausgang des Mittelalters, in: H. Patze (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, Sigmaringen 1987, 763–795. 34 Böning, Traum, Kap. 4 und 5; ders., Revolution, 78–91. 35 Zu den Ereignissen vgl. ausführlich von Wartburg, Zürich, 207ff. 36 Mörgeli, Christoph (Hg.), Memorial und Stäfner Handel 1794/1795, Stäfa 1995.

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wie sie seit der Französischen Revolution etabliert waren, wie z. B. die Forderung nach einer geschriebenen Verfassung.37 Botschaft der Landsgemeinden war, dass deren Status als politisch abhängig und finanziell benachteiligt sich weder mit den Grundsätzen der alten noch der neuen Ordnung rechtfertigen lasse. Dabei wird als Leitwert insbesondere die Freiheit beschworen, und zwar die alte wie die neue Freiheit gleichermaßen, als gäbe es zwischen beiden keine Unterschiede. Bezugspunkt der eigenen Argumentation und der Legitimation der politischen Forderungen sind zum einen die Menschheit und die Menschenrechte, zum anderen die historischen Wurzeln der Schweiz: „Die Liebe zur Freiheit sowie der Hass gegen alle Arten des Despotismus ist der Menschheit eigen. […] Sollte demnach die Liebe zur Freiheit in ihrem eigentümlichen Vaterlande erstorben sein? Nein!“38 Mit diesem Appell beginnt das Memorial, in dem sich die Supplikanten auf die „goldene Freiheit“ – um hier Lavaters Worte zu gebrauchen – der Vorfahren ebenso beriefen wie auf die naturrechtlichen Grundsätze der Menschheit. Zugleich beklagen die Supplikanten, dass ihnen ihre historisch erkämpften Rechte geraubt wurden und sie daher diese alten Freiheitsrechte zurückforderten.39 Da die Zürcher Regierung im Laufe der Beratungen von diesem Willensbildungsprozess erfahren hatte, ließ sie die Verantwortlichen aus der Stadt Zürich ausweisen und das Memorial verbrennen. Weitere Anzeichen von Protest wurden mit großer Gewalt unterbunden. Am Ende wurden mehr als 200 Personen verurteilt, mit zum Teil lebenslangen Haftstrafen. Die protestierenden Gemeinden wurden finanziell abgestraft und hatten sämtliche Kosten der Mobilisierung und der Strafaktionen zu tragen. Oberstes Ziel der Obrigkeit war die Verteidigung der Privilegien, und zu verhindern, die eigenen Freiheiten mit anderen, z. B. den Untertanengemeinden, teilen zu müssen.40 Zwar lösten diese drakonischen Strafmaßnahmen energischen Widerspruch aus, und auch Lavater war unter denjenigen, die sich für eine Abschwächung der ursprünglich ausgesprochenen Todesstrafe für die Delinquenten einsetzte und letztlich die Umwandlung in lange Haftstrafen erreichte.41 Auch diese Intervention änderte aber nichts daran, dass die städtische Obrigkeit in Zürich sich ausgesprochen reformunwillig zeigte und jegliche Initiative in diese Richtung als einen Akt des Ungehorsams abstrafte. Das Jahr 1798 brachte dann aber eine Umwälzung der Verhältnisse, zum einen durch das Eingreifen französischer Truppen in Teilen der Schweiz, zum anderen 37 Vgl. Graber, Freiheit, 71–75. Vgl. ferner generell Weinmann, Barbara, Eine andere Bürgergesellschaft. Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im späten 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 2002, 98–140. 38 Mörgeli, Stäfner Memorial, 127. 39 Ebd.: „Von freien Vätern gezeugt, sollen wir freie Söhne sein. Dafür redet die Geschichte, dafür zeugen Urkunden […]. Hieraus entsteht die wichtige Frage: Sind wir aber auch wirklich das, was unsre Väter gewesen sind und was wir sein sollten, wofür uns Auswärtige ansehen und darum glücklich preisen?“ 40 Vgl. hierzu Böning, Traum, 84–89. 41 Ebd., 93.

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durch revolutionäre Umtriebe in großen Teilen des Landes. Die alte Ordnung war nicht mehr zu retten. Und als am 12. April in Aargau die Helvetische Republik ausgerufen wurde, war es auch um die politische Eigenständigkeit Zürichs geschehen.42 Die unter massivem französischem Druck erzwungene neue Verfassungsordnung vollzog den Schritt von der alten Freiheit zur neuen Freiheit in der Schweiz auf denkbar radikale Art und Weise.43 Die alten Freiheiten – also die politische Selbstbestimmung der Stadtrepublik Zürich und die Privilegien der Zürcher Stadtbürger – waren verloren. War die Eidgenossenschaft eine Schwurgemeinschaft selbständiger und freier Stadt- und Landsgemeinden, so war die helvetische Republik ein Zentralstaat. Lag die Souveränität zuvor bei den einzelnen Kantonen, so lag sie nun bei einer Regierung bestehend aus fünf Direktoren sowie einem Zweikammern-Parlament, dem Großen Rat und dem Senat. Dieses Parlament wurde wiederum vom Volk, indirekt über Wahlmänner, gewählt, wobei alle Schweizer unabhängig von ihrem früheren Rechtsstatus das gleiche Wahlrecht hatten. Bürgerrecht und Partizipation waren nun kein Privileg weniger mehr, sondern Gemeingut aller (männlichen) Schweizer. Aus der einstmals stolzen Stadt Zürich wie aus allen anderen Stadt- und Landsgemeinden ist in der neuen Verfassungsordnung eine reine Verwaltungseinheit geworden.44 Zu den in der helvetischen Verfassung garantierten neuen Freiheitsrechten gehörte auch die Meinungs- und Pressefreiheit. Diese bot den zahlreichen Kritikern der neuen politischen Verhältnisse die rechtliche Grundlage, um sich kritisch bis ablehnend über die neue Ordnung zu äußern. Dabei meldeten sich insbesondere die „Verlierer der Revolution“ kritisch zu Wort, die Mitglieder der Patriziate, die ihre alten Privilegien verloren hatten, sowie zahlreiche katholische wie reformierte Geistliche. In Zürich machten insbesondere zwei Pfarrer von sich reden, Johann Jakob Schweizer (1771–1843) und Christoph Zimmermann. Beide riefen in ihren Schriften sogar zum bewaffneten Staatsstreich auf und wurden dafür zu hohen Geldstrafen verurteilt.45 Auf den ersten Blick reiht sich auch Lavater mit seinem Wort eines freien Schweizers an die französische Nation ein in dieses Konzert gegen die Helvetische Republik. Dafür sprechen seine zahlreichen Wortbeiträge gegen die Französische Revolution seit ihrer Radikalisierung im Jahr 1792, vor allem in seinen von ihm publizierten Predigten dieser Jahre.46 Lavater dürfte auch die Politik der alten Stadtväter begrüßt haben, sich in den Revolutionskriegen zwar offiziell neutral zu verhalten, insgeheim aber die antirevolutionären Koalitionstruppen zu unterstüt-

42 Ebd., 119–127. 43 Zur Verfassung der Helvetik vgl. Kölz, Alfred, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848, Bern 1992. 44 Vgl. knapp Böning, Traum, 179–182. 45 Vgl. hierzu Guggenbühl, Christoph, Formen und Funktionen des Widerstandes in der antihelvetischen Publizistik, in: C. Simon (Hg.), Widerstand und Proteste zur Zeit der Helvetik/Résistance et contestations à l’époque de l’Helvétique, Basel 1998, 189–200, hier 193. 46 Vgl. Weigelt, Lavater, 107f; Guggenmühl, Formen und Funktionen, 193.

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zen. In dieser Perspektive erscheinen auch seine Angriffe gegen die französische Okkupation, die er als ungerechtfertigten Angriff auf eine friedliebende Schweiz charakterisierte, in der Rolle eines Fürsprechers und Verteidigers der besiegten und untergegangenen Schweiz, und damit der alten, nunmehr verlorenen Freiheitsrechte der Stadt Zürich sowie ihrer Oberschicht. Allerdings vermeidet Lavater in seinem Wort eines freien Schweizers – im Unterschied beispielsweise zu den beiden obengenannten Zürcher Pfarrern – jegliche Kritik sowohl an der helvetischen Verfassung selbst als auch an den neuen politischen Amtsträgern im Direktorium ebenso wie im Großen Rat. Die mit der Revolution einhergehenden politischen Neuerungen – die Repräsentativverfassung, das allgemeine Wahlrecht, die Gleichheit aller Schweizer Bürger – lobt er in seiner Schrift sogar ausdrücklich als „ehrwürdiges Monument großer Politik“.47 Auch auf der Kanzel bemühte sich Lavater nach der Proklamation der Helvetischen Republik um staatstragende Töne. Er zeigte sich beispielsweise am Huldigungstag der Zürcher Bürger am 16. August 1798 als staatstreuer Pfarrer, der die neue Ordnung nicht ablehnte oder kritisierte, sondern sie als Zeichen und Folge des göttlichen Willens und göttlichen Ratschlusses annahm. Der Verweis auf Römer 13 tat ein Übriges, um etwaigen Unmut seiner Zuhörer in der Gemeinde von St. Peter gegen die neue Ordnung zu dämpfen.48 Auch wenn Lavater nur wenig später auch harsche Kritik an manchen Maßnahmen der Regierung äußerte, wie an der Deportation kritischer Bürger, lässt sich diese Kritik doch nicht als grundsätzlich antihelvetisch einordnen. Zugespitzt könnte man sagen, dass sich Lavaters Einspruch nicht gegen die Revolution in der Schweiz richtete, sondern ausschließlich gegen die französische Okkupation und ihre Folgen. Es war nicht die neue Verfassung selbst, die er kritisierte, sondern die Tatsache, dass diese nicht in freier Diskussion zustande gekommen sei, da deren Annahme von Frankreich erzwungen wurde. Was Lavater in seiner Kritik indes unterschlägt ist die Tatsache, dass die Prinzipien der neuen Verfassung unter dem Regiment der alten Führungsschichten in den Hauptstädten der Schweiz wenig Aussicht auf Durchsetzung gehabt hätten. Dies hatten die Stäfner-Händel gezeigt.

5. Lavaters Sprecherrolle, Lavaters politische Sprachen in seinen „patriotischen Schriften“ Es sind nicht seine politischen Aussagen, die Lavater als einen Fürsprecher der alten Freiheit und damit zumindest implizit als Gegner der neuen Freiheit erscheinen lassen, sondern es ist die von ihm gewählte Rhetorik, die politische Sprache, der er 47 JCLW VIII, 200f. 48 Weigelt, Lavater, 108f. Die neue Konstitution sei so beschaffen, dass „das Wesentliche derselben als gut, ja vorzüglich gut angesehen werden kann, als angemessen der menschlichen Natur und dem Fortschritt des menschlichen Geistes, und dem Geiste des Evangeliums nicht nur nicht zuwider, sondern höchst gemäß“.

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sich bedient hat. Lavater hat seine Interventionen in die öffentlichen Angelegenheiten der Jahre 1798 und 1799, also sowohl sein Wort eines freyen Schweizers als auch sein Vollständiger Briefwechsel zwischen Herrn Pfarrer Johann Caspar Lavater und dem Bürger Reubell – als Sprechakte eines Pfarrers ausgewiesen, der mit seinen Petitionen bei der Obrigkeit zum Wohle seiner Gemeinde das Wort erhob. Fragt man aber in beiden Schriften nach der verwendeten politischen Sprache, so fällt es schwer, die Schriften als Äußerungen eines Geistlichen zu verstehen.49 Es ging in ihnen nicht um Belange der Religion oder der Kirche, auch das leidige Problem der Abschaffung des Zehnten wird von Lavater mit keinem Wort erwähnt. Und er rekurriert zur Legitimation seiner Kritik an Frankreich auch nicht auf die Bibel als Quelle seiner Argumentation.50 Stattdessen bedient er sich ausschließlich der politischen Sprache des klassischen Republikanismus.51 Lavaters Rückgriff auf den klassischen Republikanismus zeigt sich insbesondere in seinem Vokabular: Freiheit gegen Sklaverei und Tyrannei, Demokratie, Recht und Tugend gegen Aristokratie, Oligarchie und Despotismus sind übliche Gegensatzbegriffe im Wörterbuch des Bürgerhumanismus, die sich letztlich aus römisch-antiken Schriften speisen und in der Frühen Neuzeit immer wieder neu intoniert wurden. Diese Gegensatzpaare stimmt auch Lavater an, um auf der einen Seite die Schweiz als Mutterland der Freiheit und das revolutionäre Frankreich als scheinheiligen Unterdrücker zu charakterisieren. Hierbei spielen die inneren

49 Zum Konzept der politischen Sprache vgl. Pocock, John G.A., The State of the Art, in: Ders., Virtue, Commerce and History. Essays on Political Thought, Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge 1998, 1–34, hier 4; ähnlich auch Skinner, Quentin, Conventions and the Understanding of Speech-Acts, Philosophical Quarterly 20 (1970), 118–138; Pocock, John G.A., Language and their Implications. The Transformation of the Study of Political Thought, in: Ders., Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History, Chicago/London 1989, 3–41; ders., The Concept of a Language and the Métier d´Historien: some Considerations on Practice, in: A. Pagden (Hg.), The Languages in Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge 1987, 19–38; Richter, Melvin, Zur Rekonstruktion der Geschichte der Politischen Sprachen: Pocock, Skinner und die Geschichtlichen Grundbegriffe, in: H.E. Bödeker/E. Hinrichs (Hg.), Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, Stuttgart 1991, 134–174; Hellmuth, Eckhart/Ehrenstein, Christoph von, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 149–172; Ottow, Raimund, Die ‚Cambridge School‘ und die Interaktion politischer Diskurse, in: L. Raphael/H.-E. Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit, München 2006, 31–70. 50 Vgl. zur Sprache des Biblizismus Pečar, Andreas, Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England von der Reformation bis zum Bürgerkrieg (1534–1642), München 2011; ders./Trampedach, Kai (Hg.), Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne, München 2007. 51 Zum Begriff des klassischen Republikanismus vgl. Baron, Hans, The Crisis of the Early Italian Renaissance: Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny, Princeton 21967; ders., In Search of Florentine Civic Humanism: Essays on the Transition from Medieval to Modern Thought, 2 Bde., Princeton 1988. Zum Republikanismus allgemein vgl. nur Gelderen, Martin van/Skinner, Quentin (Hg.), Republicanism: A Shared European Heritage, 2 Bde., Cambridge 32006; Pocock, John G.A., The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 2003.

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Verhältnisse der Schweiz und deren vollständige Neuordnung eine untergeordnete Rolle. Was Lavater hingegen in den Vordergrund rückt, ist der Verlust der Selbstbestimmung in der Schweiz wie in deren alten Hauptstädten, ist die französische Besatzung, ist die Einflussnahme Frankreichs auf die inneren Verhältnisse der Schweiz. Der Freiheitsbegriff Lavaters in seinem Wort eines freyen Schweizers meint also wesentlich die politische Selbstbestimmung ohne Einflussnahme einer höheren Gewalt. Da Frankreich sich als eine solche höhere Gewalt gebärde, zeige es sich als Tyrann und würdige die Schweizer zu Sklaven herab. Lavater fragt in seinem Traktat nicht nach den individuellen Freiheitsrechten aller Bürger in der Schweiz, sondern nach der Selbstbestimmung sowohl der Stadtrepubliken wie Zürichs als auch der Eidgenossenschaft insgesamt. Damit propagierte er einen Freiheitsbegriff, den Quentin Skinner als „neo-roman theory of free states“ benennt.52 Zahlreiche römische Autoren beschrieben die Freiheit eines Gemeinwesens damit, keinem fremden Willen unterworfen zu sein, und Sklaverei mit der Existenz eben eines solchen Willens, dem man sich beugen müsse.53 Lavaters Lackmustest für die Frage, ob die Helvetische Republik frei sei oder versklavt, ist letztlich die Frage der politischen Selbstbestimmung, modern gesprochen der Souveränität. Individuelle Bürgerrechte spielten in dieser Rhetorik keine Rolle. Die Stadtrepublik Zürich ist in dieser Perspektive so lange frei, wie sie allein über ihren politischen Kurs bestimmen könne, ungeachtet der Frage, wie viele Zürcher das Bürgerrecht hatten und wie viele an politischen Entscheidungen partizipierten. Da Lavater diese Frage in seiner politischen Sprache in den Mittelpunkt rückt, gibt er sich als Vertreter des klassischen Republikanismus zu erkennen. Lavater hat sich dieser Sprache auch in seinen politischen Stellungnahmen früherer Jahrzehnte ausgiebig bedient. Seiner anonym veröffentlichten Anklageschrift Der ungerechte Landvogt hat er das Motto vorangestellt: „Du, Brutus! und du schläfst? Ach wenn du lebtest“. Als weitere Freiheitshelden stehen im Text Cato und Wilhelm Tell Seite an Seite. Den Appell richtete Lavater an die Patrioten in Zürich, sein Gegner war ein „meineidiger Tyrann“.54 Und die Schweizerlieder des Jahres 1767 sind ein wahrer Tummelplatz für die Sprache des klassischen Republikanismus. Die Freiheitsliebe der alten Schweizer richtete sich mit Mut und Opferbereitschaft gegen die ihnen von den habsburgischen Tyrannen auferlegte Sklaverei, die sie in zahlreichen Schlachten abschüttelten.55 Es ist diese Sprache und diese Rhetorik, die Lavater zum Ende des 18. Jahrhunderts wieder aufleben lässt, um gegen die französische Einmischung in der Schweiz zu protestieren. Keine Rolle spielt in Lavaters Rhetorik hingegen der moderne Republikanismus, der ja nicht zuletzt mit der Französischen Revolution in Europa seinen

52 53 54 55

Vgl. Skinner, Liberty, Kap. 1. Ebd., 36–46. JCLW I/1, 79–84. Ebd., 367–503.

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Siegeszug antrat. Keith Baker unterscheidet mit Blick auf politische Debatten in Frankreich vor und nach der Revolution zwei Spielarten von Republikanismus: einen „republicanism of the moderns“ und einen „republicanism of the ancients“.56 Als Repräsentant eines modernen Republikanismus führt er exemplarisch Thomas Paine an, der klarstellte, dass Republikanismus für ihn nichts zu tun habe mit der Geschichte, sondern deckungsgleich sei mit „government by representation“.57 Der „republicanism of the ancients“ hingegen bestünde darin, bestimmte Formen von Staatlichkeit und die damit einhergehenden Tugendbegriffe und Wertvorstellungen in der Antike zum Ideal zu erheben und die gegenwärtigen politischen Zustände an diesem Ideal zu messen. Lavater rekurrierte in seiner Schrift ausschließlich auf den republicanism of the ancients, um den rhetorischen Furor gegen das revolutionäre Frankreich zu entfachen, und deutete allenfalls zaghaft an, dass er auch dem republicanism of the moderns einiges abgewinnen könne. Letzteres führte jedoch nicht dazu, über die französische Einflussnahme in der Schweiz ein ausgewogeneres oder gar milderes Urteil zu fällen. Die Frage nach der politischen Selbstbestimmung der Schweiz blieb vielmehr in seinem Wort eines freyen Schweizers Lavaters alleiniger Urteilsmaßstab. Die nächste politische Veröffentlichung Lavaters, sein Vollständiger Briefwechsel zwischen Herrn Pfarrer Johann Caspar Lavater und dem Bürger Reubell, Mitglied des Direktoriums der französischen Republik,58 drehte sich sogar ausschließlich um die Frage der Souveränität der Schweiz und die Rolle Frankreichs als einflussnehmende Großmacht auf Kosten der schweizerischen Selbstbestimmung. Die Schrift war 1799 erschienen, nach Lavaters Deportation aus Zürich nach Basel auf Geheiß der helvetischen Regierung.59 Lavater bekräftigte in seinen Briefen an Reubell seine Argumente gegen die in seinen Augen illegitime und gewaltsame Einmischung Frankreichs in die inneren Angelegenheiten der Schweiz, die er bereits in seinem Wort eines freyen Schweizers dargelegt hatte. Reubell hingegen wies diese Kritik zurück und betonte, dass Frankreich die Schweiz nicht von sich aus angegriffen habe, sondern nur seinen Bündnispartnern zu Hilfe gekommen sei, nämlich den aufständischen Landsgemeinden. Die Verfassung, für die ja auch Lavater nur lobende Worte fände, sei der Schweiz nicht aufgezwungen worden, sondern die Mehrheit der Kantone hätten diese selbst in Kraft gesetzt. Und dass diejenigen, die sich mit Gewalt dem französischen Einmarsch widersetzt und diesen Krieg verloren hätten nun die Kosten des Krieges zahlen müssten, sei gängige Praxis und auch im Einklang mit dem Völkerrecht.60 Da diese Auseinanderset-

56 Baker, Keith Michael, Transformations of Classical Republicanism in Eighteenth-Century France, Journal of Modern History 73 (2001), 32–53, hier 32f. Vgl. ferner auch Mager, Wolfgang, Art. Republik, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1994, 549–651. 57 Baker, Transformations, 32. 58 JCLW VIII, 247–349. 59 Ebd., 247–249. 60 Ebd., 285–303.

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zung ausschließlich um Frankreichs Rolle in der Schweiz und die Rechtmäßigkeit der französischen Maßnahmen kreist, ist sie für die Frage, inwiefern sich Lavater hier als Anhänger des klassischen oder des modernen Republikanismus bzw. als Fürsprecher der alten versus der neuen Freiheit zeigt, wenig ergiebig. Die neue Verfassung und die Partizipationsrechte aller Bürger spielten in der Schrift keine Rolle. Und zur Frage der Selbstbestimmung der Schweiz wiederholt Lavater in diesem Briefwechsel die bereits bekannten Argumente aus seiner vorherigen Schrift. Seine ersten beiden Publikationen in der Zeit der Revolution hat Lavater an Frankreich adressiert. Im November 1799 erschien dann eine weitere Schrift Lavaters, seine Mahnung An das helvetische Vollziehungs-Direktorium, die allerdings nicht von ihm veröffentlicht wurde, sondern vom von ihm angesprochenen Adressaten.61 Die von Lavater aufgelisteten Anklagepunkte hängen unmittelbar mit dem Gang der Ereignisse des Jahres 1799 zusammen. Im zweiten Koalitionskrieg gegen Frankreich wurde die Schweiz zum Kriegsschauplatz. Unter Beteiligung eines schweizerischen Emigrantenkorps gelang Österreich in der ersten Schlacht von Zürich im Juni 1799 die Einnahme der Ostschweiz inklusive Zürichs. In der Folge dieser Kriegsereignisse wurde in Zürich eine Interimsregierung von Österreichs Gnaden etabliert.62 In der zweiten Schlacht von Zürich nur drei Monate später gelang es den Franzosen jedoch, die Koalitionsarmee aus der Schweiz insgesamt zu vertreiben. Als unmittelbare Konsequenz dieses Sieges wurde das Regiment des helvetischen Direktoriums wieder in Kraft gesetzt. Eine der ersten Maßnahmen des Direktoriums bestand darin, die Mitglieder der Interimsregierung zu inhaftieren, da diese während ihrer Amtszeit zum Widerstand gegen Frankreich aufgerufen habe.63 Lavater richtet in seinem Appell drei Forderungen an das helvetische Direktorium, und wenn dieses nicht einer „abscheulichen Tyrannengewohnheit“ folgend regieren wolle, so müsse es diese Forderungen umgehend erfüllen.64 Erstens müssten alle Deportationen sofort rückgängig gemacht werden, zweitens müsse der Prozess gegen die Interimsregierung in Zürich ein Ende haben und drittens müsse die Aufhebung des Zehntens entweder annulliert werden oder aber für die ca. 3.000 „Kirchen- und Schullehrer Helvetiens“ eine andere Vergütung gefunden werden.65 Lavater richtet diese Forderungen als Pfarrer an die Regierung und begründet seine Wortmeldung mit der Tugend der „Freymüthigkeit“, die ihm als Christen gut anstehe, sowie mit seinem geistlichen Stand, also seinem Amt als Pfarrer, aber auch mit seinen Bürgerpflichten. Als Vorbild für seine Kritik an der Regierung nennt er die Propheten im Alten Testament: „War es eine ungeziemende Einmischung in etwas Politisches, wenn die Propheten ihren Richtern, Regenten 61 JCLW VIII, 355–401, zur Veröffentlichung 355f. 62 Vgl. hierzu Rütsche, Paul, Der Kanton Zürich und seine Verwaltung zur Zeit der Helvetik (1798– 1803), Zürich 1990, 158–183. 63 Ebd., 189–198. 64 JCLW VIII, 390. 65 Ebd., 389f.

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und Fürsten ihre Ungerechtigkeit gegen Wittwen und Waysen in den stärksten Ausdrücken vorwarfen?“ Und kurz darauf: „Waren nicht gewissermassen alle Propheten die Oppositions-Parthey, nicht nur gegen die Abgötterey, nicht nur gegen die herrschenden Volkssünden, sondern auch gegen die Ungerechtigkeiten und Bedrückungen der Regenten?“66 Lavater führt zum einen Daniel als Vorbild für seine Wortmeldung an, aber auch Martin Luther, wie dieser seine harsche Kritik am englischen König Heinrich VIII. rechtfertigte.67 Lavaters Schreiben an das Direktorium, das nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, ist von den vier Schriften im Zusammenhang mit der Revolution und ihren Folgen für die Schweiz die einzige, in der er ausdrücklich auf sein geistliches Amt zu sprechen kommt und er sich – neben seiner Kritik an den Zwangsmaßnahmen gegen die Gegner und Kritiker der helvetischen Regierung – ausdrücklich auch Belangen der Kirche annimmt. Abgesehen vom Tyrannenbegriff greift er in seiner Schrift auch nicht auf die Sprache des klassischen Republikanismus zurück, sondern stellt sich in die Tradition großer Wahrheitszeugen des alten Israel ebenso wie des Protestantismus. Zugleich macht er geltend, dass die Wortmeldungen dieser Wahrheitszeugen keineswegs nur Glaubens- und Kirchenbelange thematisierten, sondern stets Missstände und Ungerechtigkeiten in allen Bereichen kritisierten. Mit dieser Legitimationsstrategie forderte er für sich das Recht auf kritische Meinungsäußerung, und die Veröffentlichung seiner Schrift machte deutlich, dass das Direktorium ihm dieses Recht auch zugestand. Lavater berief sich auch in seiner letzten Veröffentlichung auf die Christenund Bürgertugend der Freimütigkeit. Seine Freymütigen Briefe über das Deportationswesen adressierte er sowohl an den helvetischen Vollziehungsausschuss als auch an die Öffentlichkeit, die er mit „allen Freunden und Feinden der Freyheit und Menschenrechte“ benannte.68 In diesen Briefen schilderte er zum einen seine eigene Ausweisung aus Zürich und seine Zeit in Basel, zum anderen versammelte er zahlreiche Berichte, Briefe und Eingaben anderer Autoren gegen die Praxis der Deportation in der Schweiz. Lavater benutzt in dieser Schrift zum ersten Mal das Vokabular des modernen Republikanismus, wenn er die Einhaltung der „heiligen Menschenrechte“ anmahnt und den „Terrorismus“ einer Regierung anprangert, die mit der Deportationspraxis einer „willkürlichen Gewalt“ den Vorzug gäbe über „Recht und Gesetz“. Der Schutz von Sicherheit und Eigentum der Bürger wird von Lavater zum höchsten Gut erklärt, die Regierung auf die Gewährung dieses Schutzes verpflichtet.69 Er beruft sich bei seiner Publikation auf das „Gesetz der Billigkeit, der Gleichheit und der Menschenrechte“, ferner auf die Pressefreiheit,70 die neue „helvetische Konstitution“ und das System der „Freyheit und Gleich-

66 67 68 69 70

Ebd., 394. Ebd., 395–397. JCLW VIII, 407–1002, hier 461. Ebd., 463f (Widmungsschrift). Ebd., 471.

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heit“,71 um das Deportationswesen zu geißeln und als Angriff auf die individuellen Freiheits- und Menschenrechte zu brandmarken. Die Einforderung individueller Grundrechte war ein neues Argument, mit dem Lavater sich auf die Grundsätze der helvetischen Verfassung berief, um damit die politische Wirklichkeit seiner Zeit als rechtswidrig zu kritisieren und rechtsstaatliche Prinzipien einzufordern. In seinen Freymüthigen Briefen hat Lavater die politische Sprache seiner Zeit von der Freiheit als individuellem Menschenrecht aufgegriffen und daraus seine politischen Forderungen abgeleitet.

6. Ein Fazit Die vier Schriften, mit denen Lavater in den Jahren 1798 bis 1800 Stellung zu den politischen Vorgängen seiner Zeit nahm, zeichnen sich zwar alle durch eine tendenziell revolutionskritische Sicht der Dinge aus. In der Art und Weise jedoch, wie Lavater Position bezog und welche rhetorischen Mittel er dabei anwendete, waren sie bemerkenswert vielseitig. In den ersten beiden Traktaten – dem Wort eines freyen Schweizers und dem Vollständigen Briefwechsel zwischen Herrn Pfarrer Johann Caspar Lavater und dem Bürger Reubell – griff Lavater insbesondere auf die politische Sprache des klassischen Republikanismus zurück, um das Auftreten der französischen Repräsentanten des Direktoriums in der Schweiz zu kritisieren. Er pries die goldene Freiheit der alten Eidgenossenschaft und sah in der Einflussnahme französischer Truppen und Machthaber eine Unterjochung der Schweiz, weshalb die damit einhergehenden Impulse zur Etablierung einer Schweizer Republik auf der Grundlage einer geschriebenen Verfassung von ihm verteufelt wurden als „Freiheit der Hölle“, ungeachtet der von Lavater eingeräumten Errungenschaften der neuen politischen Ordnung. Seine Eingabe An das helvetische Vollziehungs-Direktorium begründete er mit seiner Aufgabe als protestantischer Pfarrer, dem es in der Tradition der alttestamentlichen Propheten und des Reformators Martin Luther zukomme, bei allgemeinen Missständen und bei Fehlverhalten der Regierung unerschrocken das Wort zu ergreifen. Seine Freymütigen Briefe über das Deportationswesen veröffentlichte er als Zeitzeuge und als Betroffener des Deportationswesens, und berief sich bei seiner Kritik an dieser Strafpraxis auf die allgemeinen Menschenrechte ebenso wie auf Recht und Gesetz der Helvetischen Republik und die Pressefreiheit. Lavater machte sich in allen vier Schriften zum Sachwalter der Freiheit. Allerdings meinte Freiheit in den Schriften völlig unterschiedliche Dinge. Seine ersten beiden Schriften rekurrieren auf den alten Freiheitsbegriff, der insbesondere die politische Unabhängigkeit und Selbstbestimmung eines Gemeinwesens in den Vordergrund rückt. In diesem Sinne war die Stadtrepublik Zürich frei. Wie es in 71 Ebd., 485.

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dieser freien Stadtrepublik um die Freiheitsrechte der einzelnen Bürger bestellt war, geht aus diesem Freiheitsbegriff nicht hervor. Die neue helvetische Verfassung hatte zwar die bürgerlichen Freiheitsrechte zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz für alle männlichen Bürger festgeschrieben – da diese Verfassung aber unter Zwang der französischen Repräsentanten eingeführt wurde, richtete Lavater seine Kritik gegen diese Einmischung von außen und sah die Schweizer als Sklaven, die nun einem fremden Willen unterworfen seien. In seiner Eingabe an die helvetische Regierung meinte Lavater mit Freiheit das Recht aller Bürger, insbesondere aber aller Geistlichen, zum Wohle des Landes ihr Wort zu erheben und die Obrigkeit in mahnenden Worten auf Missstände aufmerksam machen zu dürfen. Dieses Freiheitsrecht leitete er letztlich aus der christlichen Tradition ab, und rekurrierte auf die Propheten des Alten Testaments ebenso wie auf Martin Luther als Vorzeigegeistlichen der protestantischen Kirchen. Erst in seinen Freymüthigen Briefen über das Deportationswesen verstand Lavater Freiheit im Sinne individueller Bürger- und Freiheitsrechte, die der Staat und die Regierung zu schützen hätten, anstatt mit ihrem Regierungshandeln gegen diese zu verstoßen. Hier machte sich Lavater den rechtsstaatlichen Freiheitsbegriff zu eigen, wie er in der helvetischen Verfassung verankert worden war. Die vier hier analysierten politischen Schriften Lavaters werden in der historisch-kritischen Werkausgabe als „Patriotische Schriften“ bezeichnet, und auch Horst Weigelt kommt zu dem Ergebnis, dass Lavaters mit den Schriften einhergehendes politisches Engagement von seinem „Patriotismus“ getragen wurde.72 Diese Feststellung ist sicherlich nicht falsch, bedarf aber ebenso wie bei Lavaters Rekurs auf den Begriff der Freiheit weiterer Differenzierung. In den ersten beiden Schriften war die Patria Lavaters zuerst und vor allem die Republik Zürich, eingebunden in das alte System der Eidgenossenschaft. Diese Patria war im Jahr 1798, als Lavater seine politischen Schriften verfasste, gerade eben untergegangen. Weder gab es die Stadtrepublik Zürich als politisch selbständiges Gemeinwesen, noch gab es die alte Eidgenossenschaft. Es mag auch diese Verlusterfahrung sein, die Lavaters harsche Rhetorik gegen die französische Okkupation erklären hilft, und die ihn im Rückblick verklärend von der „goldenen Freiheit“ früherer Jahre schwärmen lässt. In seinen beiden Schriften, die er an das helvetische Direktorium adressierte und in denen er z. B. die Deportationspraxis beklagte, war sein Vaterland dann aber die Helvetische Republik insgesamt, appellierte er als Bürger dieser Republik an die Regierung, die Menschenrechte ihrer Bürger zu achten, statt sie mit Füßen zu treten. Lavater ging es, im Gegensatz zu vielen anderen Kritikern der Helvetischen Republik, nicht darum, die Revolution in der Schweiz rückgängig zu machen und wieder zu den politischen Verhältnissen vor 1798 zurückzukehren. Vielmehr hat er sich im Laufe seines politischen Engagements seit 1798 in seiner Rhetorik und seinen politischen Ordnungsvorstellungen ebenso gewandelt wie die Umstände, 72 Weigelt, Lavater, 109.

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die ihn zum Eingreifen veranlassten. Aus dem Fürsprecher der alten Freiheit hat sich Lavater innerhalb von nur zwei Jahren zu einem Fürsprecher individueller Freiheits- und Bürgerrechte entwickelt. Was die Revolutionäre den alten Obrigkeiten im Jahr 1798 abtrotzten und zur Grundlage der neuen Verfassung machten, forderte Lavater seinerseits von den neuen Machthabern im helvetischen Direktorium ein. Bei aller gleichbleibenden Kritik Lavaters an den Begleiterscheinungen von Revolution und Okkupation sollte dieser fundamentale Wandel zumindest seiner Argumentationsstrategie, vielleicht aber darüber hinaus auch seines politischen Weltbildes nicht übersehen werden.

Wirkungen als Rezeptionen, Rezeptionen als Wirkungen

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Am Rande des Beweisbaren Johann Caspar Lavaters Austausch mit Charles Bonnet über die Auslegung von Wundergaben und die Kraft des Glaubens

Der Genfer Philosoph Charles Bonnet (1720–1793), der 1764 mit seiner Schrift Contemplation de la nature eines der meistgelesenen Welt- und Naturanschauungsbücher der Aufklärungsepoche vorlegte,1 gehört zu jenen Denkern, auf die sich Lavater namentlich berief und denen er eine zentrale Rolle innerhalb seiner geistigen Entwicklung zuwies.2 Prominent erscheint der Genfer zum ersten Mal an einigen Stellen der zwei ersten Bände der Aussichten in die Ewigkeit von 1768 und 1769, in denen Lavater Bonnet als „dem größten und scharfsichtigsten Naturforscher […] dem Vater meines Gedichtes, der, wenn ich so sagen darf, den Keim desselben befruchtete“,3 ein besonderes Zeichen der Anerkennung ausstellt. Die durch diesen namhaften Bezug sowie durch ein längeres Zitat aus der erwähnten Schrift „diese[s] unsterbliche[n] Weltweise[n]“4 untermauerte Hypothese betrifft gewisse, gesteigerte sinnliche und geistige Fähigkeiten, die – Bonnet wie Lavater zufolge – dem Menschen nach der Auferstehung durchaus zufallen könnten. Da­

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Bonnet, Charles, Contemplation de la nature, 2 Bd., Amsterdam 1764. Johann Daniel Tietz’ Übersetzung Betrachtung über die Natur erschien 1766 in Leipzig. Zu Charles Bonnets wissenschaftsund philosophiehistorischer Bedeutung siehe Marx, Jacques, Charles Bonnet contre les Lumières 1738–1850, 2 Bd., Oxford 1976. Vgl. Lavater, Johann Caspar, Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Herrn Joh. George Zimmermann, Königl. Großbrittannischen Leibarzt in Hannover, 4 Bde., Zürich 1768–1778, Bd. 1, Vorbericht, 11; Caflisch-Schnetzler, Ursula, „Wegzuleuchten die Nacht menschlicher Lehren, die Gottes Wahrheit umwölkt“, Johann Caspar Lavaters literarische Suche nach dem Göttlichen im Menschen, dargestellt an den Wurzeln der Zürcher Aufklärung, in: A. Lütteken/B. Mahlmann-Bauer (Hg.), Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, Göttingen 2009, 497–533. In dem auf den 10. Februar 1769 datierten zwölften Brief, in: Lavater, Aussichten, Bd. 2, 197. Zur Bedeutung von Bonnets Schrift beim Verfassen der Aussichten: Vgl. Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd. II: Aussichten in die Ewigkeit, 1768–1773/78, hg. v. U. Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001, Einführung, XX–XXII. Ebd., 197–199. Der zitierte Abschnitt stammt aus Bonnet, Contemplation, Bd. 1, 25f; und taucht bereits in einem Exzerptheft Lavaters auf, wo die Stelle wörtlich abgeschrieben ist. Vgl. Luginbühl-Weber, Gisela, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle, Briefe 1768–1790, Bern 1997, Bd. 1, lv–lvi, Anm. 110.

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runter gehören etwa eine Steigerung der Sinnesvermögen oder gar neue Sinne, ein geschwinderes und tieferes Verständnis der Dinge oder das Hellsehen.5 Erklärt wird dieses anhand des Modells, womit Bonnet die Fortpflanzung aller Lebewesen als eine Entwicklung aus geschaffenen, kleinsten, dem Menschen unsichtbaren Keimen verstand und womit er sich der naturwissenschaftlichen Tradition der Präformationstheorie verschrieb.6 Nichts entstehe in einer momentanen Zusammensetzung von Materie, sondern ein schon vorhandener, ruhender und in der Befruchtung aktivierter Keim wachse in der Tat zum voll ausgebildeten Lebewesen. Nach Bonnet weist zudem jede Entwicklung nicht auf eine absolute Wesensart des Individuums, sondern auf den relativen Ort hin, den es im Prozess der universalen Entwicklung zeitweise besetzt. Dies bekräftigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Mensch in einem zeitlich und räumlich veränderten (postmortalen, himmlischen, auferstandenen) Zustand höhere, sozusagen übermenschliche Fähigkeiten besitzen werde. Die Inanspruchnahme dieser wissenschaftlichen Hypothese durch Lavater bildet gewissermaßen den Kern seines Bezugs auf Bonnet. Dass diese Bezugnahme sich nicht in einer begeisterten Lektüreerfahrung und in einer vielfachen – und doch schlagwortartigen und letztendlich proto­typischen – Nennung des Namens Bonnet erschöpft, sondern sich vielschichtig und komplex gestaltet, zeigt neben dem 1768 mit Übersendung des ersten Bandes der Aussichten angeregten Briefwechsel mit Bonnet auch Lavaters ernsthafte Auseinandersetzung mit den Werken des Philosophen, die ihn über ein Jahrzehnt lang intensiv, in mehreren Schriften und auf unterschiedlichen Ebenen beschäftigten. So ist die oben zitierte Würdigung Bonnets mitten in einer längeren Rezeptionsgeschichte zu verorten, die die Forschung bisher wenig beleuchtet hat. Der Fokus lag dabei vor allem auf der Übersetzungsarbeit Lavaters an Bonnets Palingénésie philosophique7 im Jahr 1769. Die beinahe vollständig überlieferte Korrespondenz, die Lavater durch häufige Vermittlung und Einschaltung des deutschsprechenden Genfers Jacob Bennelle (1717–1794) mit Bonnet führte,8 dokumentiert in ihrer Kernphase die Jahre 1769 bis 1771 und den Austausch über die eigenen Veröffentlichungen: Den zentralen Gegenstand stellt darin die Palingénésie selbst dar, deren Überset-

Siehe dazu die Ausführungen im zwölften und dreizehnten Brief der Aussichten. Vgl. Bäumer, Änne, Geschichte der Biologie, Bd. 3: 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1996, 318–335. Im Einzelnen entscheidet sich Bonnet für die Hypothese der Einschachtelung (emboîtement), nach der jeder Keim jeweils in einem anderen enthalten ist und durch Generationen aus diesem hervorkommt. Alle existierenden menschlichen Keime gelten dadurch als ursprünglich im ersten Menschen präformiert, als zeitgleich geschaffen und verwandt. Siehe z. B. Bonnet, Contemplation, 162–168. 7 Bonnet, Charles, La Palingénésie philosophique, ou Idées sur l’état passé et sur l’état futur des êtres vivans. Ouvrage destiné à servir de Supplément aux derniers Écrits de l’Auteur, Et qui contient principalement le Précis de ses Recherches sur le Christianisme, 2 Bd., Genf 1769. 8 Luginbühl-Weber, Gisela (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle, Briefe 1768–1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung in der Schweiz, 2 Bde., Bern 1997. Die sehr ausführlich kommentierte Ausgabe enthält zahlreiche Quellenhinweise zum brieflichen, freundschaftlichen und schriftstellerischen Verhältnis zwischen Lavater und Bonnet. 5 6

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zung Lavater nach Rücksprache mit dem Verfasser und mit dessen Zustimmung für den ersten Teildruck (Herbst 1769) sowie im darauffolgenden Halbjahr für den Gesamtdruck vorbereitete.9 Diese Publikation prägte aber den gesamten Kontext, in dem nicht nur die klare Bonnet-Rezeption, sondern überhaupt die philosophischtheologische Position Lavaters angesehen und beurteilt wurde. Zunächst geriet die Übersetzung nach Erscheinung sofort in eine theologische Debatte: Der allerersten, separaten Übersetzung der religionsapologetischen Kapitel der Palingénésie stellte Lavater eine Widmung an Moses Mendelssohn (1729– 1786) voran, diesem kündigte er Bonnets Schrift als „die beßte philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum, die mir bekannt ist“,10 an und, von Bonnets Verfahren überzeugt, forderte Mendelssohn auf, die dort durchgeführte Untersuchung zu widerlegen oder die Richtigkeit der Schrift, das heißt die Wahrheit des Christentums öffentlich zu bekennen.11 In Berlin hatten sich Mendelssohn und Lavater 1763/1764 kennengelernt, sodass Lavaters „Fauxpas“12 allerdings seine Anerkennung des jüdischen Philosophen in Untersuchung von Religionsfragen ausdrücken sollte.13 Der offensive Diskussionsbeitrag, den Lavater freilich in Eile und ohne Beratung gelehrter Freunde und Bekannter – darunter Bonnet selbst – zur Herbstmesse verfertigte, oszilliert also zwischen Freundschaftsbezeugung und Judenmission und wird in der Regel als Zeugnis „eine[r] persönliche[n] Differenz in Religionsfragen, die auf unangemessene Weise, nämlich als Zwang zum Bekenntnis, an die Öffentlichkeit gebracht wurde“, bewertet.14

  9 Die unmittelbar nach der Lieferung unternommene Teilübersetzung enthielt zunächst die letzten Kapitel des französischen Originals, in denen sich Bonnets Auslegung und Apologie der biblischen Lehre befinden. Sie erschien als: Bonnet, Charles, Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum, Samt desselben Ideen von der künftigen Glückseligkeit des Menschen. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater, Zürich 1769. Die vollständige Übersetzung wurde nach weniger Zeit abgeschlossen und publiziert: Bonnet, Charles, Philosophische Palingenesie, Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen, Als ein Anhang zu den letztern Schriften des Verfassers; und welcher insonderheit das Wesentliche seiner Untersuchungen über das Christenthum enthält. Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater, Zürich 1769–1770. 10 Bonnet, Untersuchung, Widmung, unpag. 11 Zur genaueren und sprachlichen Analyse und zum philosophischen Hintergrund der Widmung siehe u. a. Luginbühl-Weber, Gisela, „… zu thun, … was Sokrates gethan hätte“. Lavater, Mendelssohn und Bonnet über die Unsterblichkeit, in: K. Pestalozzi/H. Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, (AGP 31), Göttingen 1994, 114–148. 12 Vgl. Bourel, Dominique, Mendelssohn und Lavater. Ein Fauxpas in der Aufklärung? in: H. Kremers/J.H. Schoeps (Hg.), Das jüdisch-christliche Religionsgespräch, Stuttgart/Bonn 1988, 41–54. 13 Vgl. Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebücher, Teil I: Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, hg. v. H. Weigelt, Göttingen 1997. Dort liest man bereits: „Er wundere sich so sehr, sagte Sak, daß Jud Moses hier sich nicht mehr mit der Untersuchung des Christenthums abgäbe. Er hofte ganz gewiß, daß er dasselbe nach seinen reinern Vorstellungen bey der strengsten Untersuchung vernunftmäßig und göttlich finden würde“ (749). 14 Hannemann, Tilman, Religiöser Wandel in der Spätaufklärung am Beispiel der Lavaterschule 1770–1805, Göttingen 2017, 119. Der darauffolgende, als Bekehrungsstreit bekannte Schriften- und Briefwechsel, in den auch Bonnet einbezogen wurde, betraf weniger die philosophische Unter­

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Darüber hinaus gelangte Bonnets Einfluss auf die eschatologischen Vorstellungen Lavaters in den Fokus der Forschung. Dass diese eng auf Lavaters theologischdogmatische Lektüre der Contemplation und der Palingénésie hin interpretiert wurden, stellt allerdings eine gewisse Reduzierung des Gegenstandes dar. Die von Bonnet vertretene und von Lavater positiv aufgenommene Unsterblichkeitslehre basiert letztendlich auf einer Universalisierung der oben angesprochenen Keimund Präexistenzlehre, umfasst ein globales Natur- wie Geschichtsverständnis und gestaltet sich zugleich philosophisch und theologisch. Deren anthropologischer Grundsatz, die Unsterblichkeit der Person, die Bonnet aus der Verbindung von unzerstörbarem Keim und unvergänglicher Seele erklärt, besitzt nicht nur systematischen, sondern biblischen Charakter.15 Die Transformation dieses Grundsatzes durch Lavater geschieht wohl eher in Form einer verstärkten Dogmatisierung, die den unsterblichen Menschen in einen christologischen, soteriologischen und heilsgeschichtlichen Horizont stellt.16 Ausdrücklich findet diese Transformation in der kritischen, mit Anmerkungen versehenen Palingénésie-Übersetzung statt.17 Mit jenen Forschungsbeiträgen setzte sich dauerhaft das Deutungsmuster durch, dass Lavater die naturkundlich-philosophische Unsterblichkeitslehre Bonnets in die eigene christozentrische Religionsauffassung übersetzt habe: Spekulationen über das ewige Leben gehörten demnach zur Sehnsucht nach Christus-Erfahrung, die Lavaters Schaffen ab 1768 kennzeichnet.18 Unabhängig von der unverkennbaren Hinwendung des Zürcher Theologen zu eschatologischen Fragestellungen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Verlust seines eng vertrauten Freundes Felix Hess (1742–1768) am 3. März 1768 erfolgt jedoch die Bonnet-Rezeption bei Lavater vorwiegend im Kontext des philosophischen Wunderdiskurses, den

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suchung als vielmehr das Verhältnis von Judentum und Christentum, von Öffentlichkeit und Glauben in Religionssachen sowie die Bedingungen und Bedeutung der Judenbekehrung im aufgeklärten Christentum. Zu den anthropologischen Unsterblichkeitsvorstellungen in Verbindung mit dem von Bonnet und Lavater zitierten 1 Kor 15, 22f; vgl. ebd., 123–127. Vgl. Kohler, Daniela, Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung. Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder, Berlin u. a. 2015, 17–45. Vgl. Bonnet, Untersuchung, Vorrede des Uebersetzers, III–XII; Kohler, Daniela, Johann Caspar Lavaters Übersetzung der Palingénésie philosophique von Charles Bonnet und ihre Korrespondenz über Fragen der Theologie, Naturwissenschaft und Philosophie, in: B. Mahlmann-Bauer/ M. Crogiez Labarthe (Hg.), Gallotropismus aus helvetischer Sicht, Heidelberg 2017, 237–256. Bekanntlich verortet Horst Weigelt diese „theologisch höchst bedeutsame Umorientierung“ Lavaters „[w]ährend des Jahres 1768“, in der Zeit der Vorbereitung der Aussichten in die Ewigkeit und somit auch in der Phase dessen intensiverer Bonnet-Lektüre. Vgl. Weigelt, Horst, Johann Kaspar Lavater, Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991, 14. Siehe auch Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, Bd. 1, Anm. 84: „Die wichtige theologische Umorientierung, von der Weigelt […] spricht […], vollzog sich also nicht erst 1768, sondern bereits 1766, nach der Lektüre von Bonnets Contemplation de la Nature, die Lavater im französischen Original las“. Diese geistige Neuorientierung, die Lavater von der „milde[n] Aufklärungstheologie“ weggeführt habe, identifizierten beide Forscher im Einzelnen an der zunehmenden Bedeutung der Christologie und des Glaubens, durch Christus „himmlischer Kräfte teilhaftig [zu] werden“, in Lavaters Denken (Weigelt, Lavater, 15).

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er auf den besonderen Fall der Wundergaben und der Gaben des Heiligen Geistes anwendet. Dieser Aneignungsprozess kann seit seinem Aufenthalt bei Johann Joachim Spalding (1714–1804) in Barth 1763/176419 und bis in die 1770er Jahre nachvollzogen werden: Wie eng Lavaters Beschäftigung mit Beweisen für die Möglichkeit außerordentlicher Geistesgaben mit seiner Lektüre der Schriften Bonnets zusammenhängt, soll im Folgenden mit einem Blick auf ihre Rezeptionsgeschichte dargestellt werden.

1. Bonnet: Lektüren und Annäherung Geht man vom Briefwechsel zwischen Lavater und Bonnet als dem zentralen Zeugnis ihrer gegenseitigen Bekanntschaft aus, so begegnet man bereits in den frühen Briefen aus dem Jahr 1769 dem Phänomen der Wundergaben, die als außerordentliche und göttliche Wirkungen gedeutet werden. Darunter werden unterschiedliche Phänomene aus der Historie, aus der Heiligen Schrift und aus der Erfahrung aufgefasst, deren Untersuchung einerseits metaphysischer Natur, andererseits exegetischer Natur ist. Zum einen wird die Möglichkeit außerordentlicher Wundergaben bei einzelnen Individuen anhand sinnlicher oder geistiger Eigenschaften als übernatürliches Ereignis betrachtet, zum anderen sollen sie als allgemeine, den tugendhaften Christen zugedachte Gnadenwirkungen behandelt werden, deren historische Wirklichkeit und zeitübergreifende Wirksamkeit anhand der deutlichsten Bibelstellen theoretisch zu begründen ist. Das Gespräch zwischen ihnen stützt sich dort nicht zuletzt auf die Aussagen, die Lavater in den Aussichten in die Ewigkeit traf: Im fünften Brief, datiert auf den 14. Juni 1768, ist von dem „Beweise des Geistes und der Kraft“ die Rede, der nicht nur für Gelehrte, Exegeten und Kirchenhistoriker, sondern „für Philosophen und Einfältige zugleich von einer unwiderleglichen Stärke“ sein solle.20 Lavater wolle diesen Beweis zum allgemeinverständlichen Gebrauch des Christen „so deutlich, so einfältig, so psychologisch“ formulieren als möglich.21 Wie in Bonnets zur selben Zeit verfasster Palingénésie, so dienen auch hier die göttlich und übermenschlich genannten Kräfte Jesu und der Apostel, „die jedes redliche und vernünftige Gemüth als Siegel einer göttlichen Bevollmächtigung erkennen muß“,22 zunächst zur dauerhaften Bekräftigung des Evangeliums und in diesem Fall der evangelischen Unsterblichkeitslehre.23

19 Dies betont zu Recht: Kemper, Hans-Georg, Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit, Bd. 6/2: Sturm und Drang: Genie – Religion, Tübingen 2002, 107f. 20 Lavater, Aussichten, Bd. 1, 101. 21 Ebd., 100. 22 Ebd., 90. 23 Zum Buchprojekt der Palingénésie, vgl. etwa Grober, Max, The Natural History of Heaven and the Historical Proofs of Christianity: La Palingénésie philosophique of Charles Bonnet, Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 308 (1993), 233–255.

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Doch welche Kenntnisse über den „Palingénésiste“ – eine Selbstbezeichnung, mit der Bonnet z. T. seine Briefe ab 1769 unterzeichnet – sind bei dessen begeistertem Anhänger Lavater vorauszusetzen? Der Name des 1720 geborenen Bonnet stand immerhin bis 1762 nicht etwa für eine metaphysische Kraftlehre, sondern für eine naturgetreue, zeitgemäße und einsichtsvolle experimentelle Methode in den Lebenswissenschaften. Neben Albrecht von Haller (1708–1777), John Turberville Needham (1713–1781) oder Abraham Trembley (1710–1784)24 galt Bonnet als Garant einer aufklärerischen Naturforschung, die in Form einer mikro- und teleskopischen Durchdringung der Naturordnung alle Bereiche der Wissenschaften und der Literatur in Aufregung setzte.25 Gegen Ende des Siebenjährigen Krieges, und somit zeitgleich mit Lavaters Reise nach Berlin und Barth, zeigte sich Bonnet seiner europäischen Leserschaft allmählich in einem veränderten Licht: Die Verbreitung seines schon 1760 erschienenen, allerdings wegen der Kriegsun­ruhen mit großer Verspätung auf den Buchmarkt gekommenen Essai analytique sur les facultés de l’âme26 sowie die Veröffentlichung eines neuen wissenschaftlichen Werks, in dem er die Debatte um die Generation (Fortpflanzung) des Lebens verstärkt zugunsten der Präformationstheorie zu lenken suchte,27 wiesen Bonnet als pointiert argumentierenden spekulativen Philosophen aus. In dieser zweiten, aufsehenerregenden Schrift, die gegen einige der führenden Forscher wie Georges Louis Leclerc de Buffon (1707–1788) oder Needham verfasst war, bestand Bonnets Leistung in erster Linie in einer theoretisch-hypothetischen Analyse der vorliegenden Forschungsergebnisse und weniger in einer eigenen experimentellen Arbeit. Seine von Anfang an umstrittene Formulierung einer neuen Theorie präexistenter Keime, die sowohl die Frage nach dem (göttlichen) Ursprung des Lebens beantwortete als auch diejenige nach der Evolution, im Sinne einer stetigen Entwicklung zur Vollkommenheit hin,28 wurde im Laufe des Jahres 1763 in Deutschland

24 Bonnet stand in dauerhaftem Briefwechsel mit allen drei Forschern. Siehe dazu und zu Bonnets wissenschaftlicher Karriere v. a. Mazzolini, Renato G./Roe, Shirley A., Science against the Unbelievers: The Correspondence of Bonnet and Needham, 1760–1780, Oxford 1986, Einleitung; Dawson, Virginia P., Nature’s Enigma. The Problem of the Polyp in the Letters of Bonnet, Trembley and Reaumur, Philadelphia 1987. 25 Siehe zu literarischen Formen dieses wissenschaftlichen Optimismus und Lavaters nicht geringer Anteilnahme daran Kittelmann, Jana/Baumann, Baptiste, Zwischen Moos und Wetterglas: Naturkundliche Interieurs und Objekte in der Literatur der deutschsprachigen Aufklärung, Neohelicon 47/2 (2020), OpenAccess. 26 Bonnet, Charles, Essai analytique sur les facultés de l’âme, Kopenhagen 1760. 1770/1771 wurde das Werk vom Hallenser Philosophen Christian Gottfried Schütz als Analytischer Versuch über die Seelenkräfte übersetzt. 27 Bonnet, Charles, Considérations sur les Corps Organisés, Où l’on traite de leur Origine, de leur Développement, de leur Réproduction, &c. & où l’on a rassemblé en abrégé tout ce que l’Histoire Naturelle offre de plus certain & de plus intéressant sur ce sujet, 2 Bde., Amsterdam 1762. Die Schrift liegt in einer deutschen Übersetzung des Naturforschers Johann August Ephraim Goeze – der auch andere naturkundliche Arbeiten Bonnets übersetzte – aus dem Jahr 1775 vor. 28 Vgl. Bowler, Peter J., The Changing Meaning of „Evolution“, Journal of the History of Ideas 36/1 (1975), 95–114.

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rezipiert.29 Dass die diskussionswürdigen und teilweise neuartigen Theorien, die Bonnet in seinen psychologischen und naturwissenschaftlichen Schriften entwarf, Lavater während seines Bildungsaufenthalts in Barth zu Ohren kamen, ist wahrscheinlich, jedoch nicht eindeutig belegt. Dem Hauptgedanken einer im Schöpfungsplan angelegten Vervollkommnungstendenz, die alle Stufen der Evolution von Lebewesen und im Besonderen des leiblich-seelischen Lebens des Menschen auf das genaueste bestimmt, widmete Bonnet weiterführende Überlegungen in der Contemplation de la nature. Mit dieser Schrift, die Bonnet ausdrücklich zum populären, leicht verständlichen Kanal seiner Ideen machte,30 bot er das Bild einer harmonischen Natur, die in ihren Gesetzen vollkommen verfährt und zugleich stets auf den vorgefassten Plan des Schöpfers und auf die Prädeterminierung und Sinnhaftigkeit allen Lebens hinweist.31 Die Verbindung einer strengen Präexistenzlehre mit der empirischen Psychologie und beider Elemente mit einem von Leibniz’ Theodizee inspirierten Universalsystem bildeten neben dem zugänglichen Schreibstil Bonnets das Erfolgsrezept der Schrift, die wie nur wenige das philosophische Naturverständnis der Zeit prägte.32 Eine zentrale Anwendung von Leibniz’ Vollkommenheitsidee bestand in der Darstellung der alle Reiche der Natur umfassenden Stufenfolge der Wesen, die als Kette oder Stufenleiter der Wesen im 18. Jahrhundert durchaus Konjunktur und in Bonnets naturhistorischer und sorgfältig ausgearbeiteter Umsetzung großen Erfolg hatte.33 Darüber hinaus machte sich Bonnet die Auffassung von der Mehrheit der Welten zu eigen und bezog sich damit indirekt auf den von ihm bewunderten Beständigen Sekretär der französischen Académie des Sciences Bernard Le Bovier de Fontenelle

29 Siehe Hallers Rezension aus dem Juli 1763, Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 1763, Nr. 84, 675–679; ebd., Nr. 88, 707–712. In den Zürcher Wöchentlichen Anzeigen […] wurde die Schrift erst 1764 rezensiert (ebd., Nr. 19, 227–231; ebd., Nr. 25, 298–302). 30 Während er in der Vorrede einerseits auf die Einwände gegen seinen Essai analytique und seine Considérations sur les corps organisés eingeht, um das Verständnis seines philosophischen Systems zu erleichtern, bedient sich Bonnet im Text andererseits kaum wissenschaftlicher Quellenangaben und wählt eine weniger fachspezifische Sprache als in den früheren Werken. Vgl. Bonnet, Contemplation, Vorrede. 31 Vgl. die sehr häufige Verwendung von Gottesbegriffen (Schöpfer, Weisheit, höchste Intelligenz, Vorsehung) und entsprechenden Umschreibungen in der Contemplation de la nature, beispielsweise: „Maitre de la Nature“ (ebd., Bd. 1, 32), „Etre Ordinateur“ (ebd., Bd. 1, 161), „Ouvrier“ (ebd., Bd. 2, 260), „Source Eternelle de toute Lumière“ (ebd.). 32 Zur teils sehr positiven, teils kontroversen Rezeption der Naturanschauung Bonnets, vgl.: Marx, Bonnet contre les Lumières, 335–361. Vgl. auch zu den Aspekten der Naturbeschreibung in der Contemplation de la nature: Vuillemin, Nathalie, Les beautés de la nature à l’épreuve de l’analyse. Programmes scientifiques et tentations esthétiques dans l’histoire naturelle du XVIIIe siècle (1744–1805), Paris 2009, 277–316. 33 Anderson, Lorin, Charles Bonnet’s Taxonomy and Chain of Being, Journal of the History of Ideas 37/1 (1976), 45–58. Vgl. zu diesem Konzept Lovejoy, Arthur Oncken, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [1936], übers. v. Dieter Turck, Frankfurt a. M. 1985. In der Contemplation bietet die Kapitelüberschrift den Ausdruck „progression graduelle des êtres“ (Bonnet, Contemplation, Bd. 1, 31).

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(1657–1757).34 Dadurch erweiterte er seine Darstellung der gesamten Schöpfung zu einem unüberschaubaren Vorstellungsraum, zu einer Art Stufenfolge der Welten. So war Bonnet innerhalb von drei Jahren 1762 bis 1764 von einem spezialisierten Naturforscher zum überblickenden Philosophen und Metaphysiker aufgestiegen. In Barth und unter Spaldings Einfluss ereignete sich 1763 scheinbar die erste Begegnung Lavaters mit einem Werk Bonnets, überraschenderweise jedoch abseits vom hier beschriebenen Wirkungsverlauf seiner Philosophie. Das anonym im Herbst 1754 in Leiden publizierte Werk Essai de psychologie; ou considérations sur les opérations de l’âme, sur l’habitude et sur l’éducation35 geht auf Bonnets ersten Versuch zurück, die Erforschung der Seele und der Seelenvermögen innerhalb der empiristisch-sensualistischen Tradition zu fundieren und darüber hinaus die Psychologie des Menschen durch Rückführung auf die Präexistenzlehre und auf die Theorie des organischen Keims als eine Entwicklungsgeschichte der Zusammenwirkung von Körper und Seele zu beschreiben. Zu diesem Zweck entwarf der Naturforscher die spekulative Hypothese, dass der Mensch aus einem System zahlreicher, individueller und sensitiver Fasern bestehe, das die Koordination der Sinneseindrücke mit dem Gehirn und dem Sitz der Seele gewährleistet.36 Letzterer soll einen materiellen, aber unsichtbaren Kern – den eigentlichen unverweslichen Keim – bergen, der Sinnlichkeit, Bewusstsein, Gedächtnis und demzufolge Persönlichkeit ermöglicht. Anders als bei Christian Wolff (1679–1754) oder Etienne Bonnot de Condillac (1714–1780), deren psychologische Werke zu dieser Zeit führend waren, ging es Bonnet im Essai de psychologie jedoch nicht um die Grundlegung einer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, sondern um die Erklärung und Absicherung von individuellen Glückseligkeitsvorstellungen.37 Der Kerngedanke der Schrift besteht also in einer physischen und moralischen Theorie der Vervollkommnung, die in Gestalt einer Naturgeschichte des Menschen formuliert wurde. Dem Essai waren darüber hinaus philosophische Grundsätze beigefügt, in denen Bonnet viele Gedanken nur flüchtig und schlagwortartig äußerte: So nahm bereits diese frühe Schrift die später weiter entwickelten Ansätze der relativen Vollkommenheit der Geschöpfe, der Stufenleiter der Welten, der Mehrheit der Wesen u. a. vorweg. 34 Zum Hintergrund und zur Verbreitung dieses Naturkonzepts zu Bonnets Zeiten, vgl. Guthke, Karl S., Der Mythos der Neuzeit. Das Thema der Mehrheit der Welten in der Literatur- und Geistesgeschichte von der kopernikanischen Wende bis zur Science Fiction, Bern/München 1983, 217–250. 35 Bonnet, Charles, Essai de psychologie; ou considérations sur les opérations de l’âme, sur l’habitude et sur l’éducation. Auxquelles on a ajouté des principes philosophiques sur la cause première et sur son effet, London [i. e. Leiden] 1755 [1754]. 36 Vgl. Savioz, Raymond, La philosophie de Charles Bonnet de Genève, Paris 1948, bes. 195–234. Im Essai de psychologie erscheint das neuartige Leib-Seele-Modell mit seiner Semantik noch zögernd und oft unverbindlich. 37 Vgl. dazu Vidal, Fernando, Brains, Bodies, Selves, and Science: Anthropologies of Identity and the Resurrection of the Body, Critical Inquiry 28 (2002), 930–974, hier 965–967.

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2. Theorien der Wunder im Rahmen christlicher Schöpfungslehre Im Tagebuch der Deutschlandreise findet sich der früheste Beleg dieser Lektüre unter dem Eintrag „Barth, 23. September 1763“, in dem Lavater einen längeren Abschnitt aus der Vorrede des Essai de psychologie abschreibt.38 Die jungen Expektanten Lavater und Hess lesen, vermutlich in Spaldings Exemplar,39 studieren und exzerpieren fleißig aus der Schrift bis in den Anfang des Novembers hinein.40 Als entschieden von Leibniz’ Theodizee geprägtes Werk erlebte der Essai de psychologie besonders in Preußen eine sehr frühe und positive Rezeption: Anhänger der Wolffischen Philosophie interessierten sich dafür, wie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) oder der Philosophielehrer Johann Georg Sulzer (1720–1779),41 die beide aufs engste mit dem 1755 noch in Lassan amtierenden Spalding korrespondierten. In diesem Kreis gab man die Schrift allerdings zweifelsfrei als ein Werk des in London lebenden Philosophen Etienne Thourneyser (1715–1763) aus.42 Von Thourneyser kursierte unter Spaldings Besuchern zugleich eine philosophische Untersuchung aus dem Jahr 1750,43 die 1751 in Genf neuaufgelegt wurde und 1752 in einer deutschen Übersetzung von Johann Daniel Tietz (1729–1796) erschien.44 Unübersehbar ist die Anlehnung des Essai de psychologie an Thourneysers kaum bekannte Schrift.45 Beide Schriften formulie38 Lavater, Reisetagebücher, Teil I, 382f. 39 Vgl. Verzeichniß der vom verstorbenen Oberkonsistorialrath und Propst zu Berlin Herrn Spalding hinterlassenen sehr ansehnlichen und wichtigen Sammlung von […] Büchern, Landkarten, Kupferstichen, Bücherspinden mit Glasthüren u. Repositorien […], Berlin 1804, 239, Nr. 212; ebd., 343, Nr. 922. Spalding besaß alle philosophischen Schriften Bonnets. 40 Johann Heinrich Füssli befand sich seit September 1763 wieder in Berlin. 41 Vgl. dazu Sack an Friedrich Karl Kasimir Freiherrn von Creutz, o. O. [Berlin], undatiert [1754], abgedruckt in: Luginbühl-Weber, Thourneyser, 169; Sulzer an Martin Künzli, Berlin, 22.09.1754, Winterthurer Bibliotheken, Ms BRH 512/72. 42 Zu Person und Werk Thourneysers, der von der Forschung weitgehend ignoriert wurde, vgl. Luginbühl-Weber, Gisela, Etienne Thourneyser Basilea Genevensis, Archäologie eines Autors, Bern u. a. 2019. 43 Erstmals publiziert als: Que l’Athéisme & le Déréglement des Mœurs ne sauroient s’etablir dans le Systéme de la Necessité. Lettre de Mr. N. E. écrite de la Campagne à Mr. C. P. à Londres, in: Le Nouveau Magasin François, März 1750, 78–82; ebd., April 1750, 119–123; ebd., Mai 1750, 157– 163; ebd., Juni 1750, 197–206; ebd., Juli 1750, 252–258; ebd., August 1750, 293–303. Der Autor wird am Schluss genannt (ebd., 303). 44 Thourneyer, Etienne, Neue Untersuchung des Satzes: Ob die Gottesleugnung und die verkehrten Sitten aus dem System der Fatalität herkommen? Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Daniel Titius, A.M., Leipzig 1752. 45 Vgl. Luginbühl-Weber, Thourneyser, 62–73. Luginbühl-Weber spricht von einem auffälligen „Schweigen um Thourneyser“ (ebd., 14), das sie aus dem Kontext des Prioritätsstreits zwischen Maupertuis und Samuel König erklärt: Thourneyser, der sich von London aus auf die Seite von König und den Leibnizianern (Sulzer, Merian) gegen Maupertuis und Euler schlug, zog sich wohl nach 1752 und dem Ausgang des Streits aus der Öffentlichkeit und wird in zeitgenössischen Quellen kaum noch genannt. Seine Parteinahme habe demnach die Rezeption seiner Untersuchung untergraben.

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ren bzw. verteidigen ein „Système de la Nécessité“,46 das als eigene, moralphilosophische Prägung der Leibnizschen Philosophie entstand und etwa so zusammengefasst werden kann: Vorausgesetzt, dass der von Gott entworfene vollkommene Plan der Schöpfung den absoluten Maßstab aller Glückseligkeit bestimmt, und dass alle Wesen natürlich, notwendig und unbedingt ihr Glück verfolgen, dann kann allein eine Handlungsnotwendigkeit herrschen, die in einen moralischen Determinismus mündet; letzterer korrespondiert zudem mit dem physischen Determinismus, der die Körperwelt beherrscht. Thourneysers und Bonnets Entwürfe gehen tatsächlich vom moralphilosophischen Grundsatz aus, dass die Seele nur nach ihren beschränkten, empirisch gewonnenen Erkenntnissen das Gute will und durchsetzt, dass dieses relativ Gute jedoch am allgemeinen Vervollkommnungsplan teilhat. Während Thourneyser eine mathematisch-metaphysische Begründung der moralischen Notwendigkeit durchführt, konzentriert sich Bonnet im Essai de psychologie auf eine natürliche, physiologische Erklärung der Seelenvermögen, Ideen und Handlungen. Beide bringen dennoch das deterministische Menschenbild mit Religion und Sittlichkeit in Einklang, worin sie dauerhaften Einfluss auf Lavaters Theologie üben. Denn beide Genfer kommen auf unterschiedliche Weise zu dem Schluss, dass Wunderwerke – einschließlich der neutestamentlich belegten Geistesgaben – auch in der strengsten Naturkausalität ihren Platz haben. So widmet sich Thourneyser, am Ende seiner Untersuchung, der Deduktion einer höchsten Intelligenz, die alle Vollkommenheiten der Naturordnung verkörpert, sodass sie „nebst der besten Reihe von zufälligen Bestimmungen, solche beständige Bedingungen hat, die denen beständigen Bestimmungen der Gottheit die ähnlichsten sind.“47 Jene höchste Intelligenz besitzt nach dieser Definition die höchste Gottesebenbildlichkeit und fällt mit der Schöpferkraft Gottes zusammen. Sie ist an der Schöpfung beteiligt und zuständig für die Ausrichtung der Welt auf die größte Glückseligkeit hin. Demnach ist sie in der Lage, die Ordnung der materiellen Welt wiederherzustellen und zu befördern sowie die geistige Welt entsprechend zu beeinflussen, wozu letztendlich „die Möglichkeit und sogar die Wahrscheinlichkeit der Wunderwerke“48 gehört. Thourneysers Darstellung gewinnt in Lavaters Lektüre vom Sommer 1763 die Züge einer christologischen Lehre, die Idee und metaphysische Begründung der Mittlerrolle Christi wird im Reisetagebuch eindeutig festgehalten, so etwa in folgender Ausführung: Es ist eine große Idee, die Tournise [Thourneyser] von dem Sohn Gottes hat, und die, soviel ich izt einsehe, mit dem, was uns die H[eilige] Schrift von ihm lehrt, übereinstimmt, die ihn so wol von dem ewigen, unabhänglichen Wesen unterscheidet, als ihn über alle Geschöpfe weit, weit erhebet. Er glaubet, daß er mit dem unendlichen Gott gleich ewig, daß Gott unmit-

46 Vgl. Bonnet, Essai de psychologie, 195. 47 Thourneyser, Neue Untersuchung, zit. in: Luginbühl-Weber, Thourneyser, 381. 48 Ebd., 382.

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telbar in ihm seine unveränderliche ewige Thätigkeit in dem vollkommensten Grade geäußert, daß der Sohn die Welt erschaffen, sie durch die von seinem Vater ihm ewig dargeliehene Allmacht erhalte und regiere, daß es vielleicht in der Natur Gottes unmöglich gewesen, die Welt ohne eine solche unendlich vollkommene Mittelsperson zu erschaffen. Dadurch würden dann freylich die Schwierigkeiten wegen der veränderten Thätigkeit Gottes wegfallen.49

Die am Ende erwähnten „Schwierigkeiten“ hat Lavater zuvor darin entdeckt, dass „moralische und physicalische Wirkungen des Geistes Gottes in der Geister- und Cörperwelt“, wie biblische Bücher sie belegen, metaphysisch nicht ohne Verletzung logischer Gesetze angenommen werden können.50 Thourneysers Definition von Christus als unendliches und untergeordnetes, einfaches und allgegenwärtiges Wesen zugleich stellt eine mögliche Antwort darauf dar und löst außerdem das Problem auf, die Einwirkung Gottes in der Natur und die moralische Notwendigkeit unter den geschaffenen Wesen zusammenzudenken. Die Wirkung Christi als Schöpfungskraft zieht sich durch das Tagebuch hindurch und wird dort allmählich als Quelle von Geistesgaben interpretiert.51 Auch der von Lavater und Hess kurz darauf rezipierte Essai de psychologie enthält Ausführungen über die Möglichkeit von Wundern zur Verbesserung in der geistigen Welt. Anders als bei Thourneyser geht es hierbei um den Willen Gottes selbst, um die Vollkommenheit seiner Schöpfung. Darin folgt er sehr getreu der Argumentation, die Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) in den Essais de Théodicée (§ 206–208) zur Möglichkeit von Wundern vorgegeben hat: Dort behauptete dieser vor dem Hintergrund der früheren Wunderdebatte, an der sich namhafte Metaphysiker wie Isaac Newton (1643–1727) und Samuel Clarke (1675–1729) beteiligten,52 dass die angesichts von Naturgesetzen empfundene Gesetzlosigkeit und Willkürlichkeit von Wunderwerken, angesichts umfassenderer Ordnungs­ gesetze wiederum eigene kausale Gründe haben müssten. So glaubt Leibniz, „daß die Wunder sich in nichts von anderen Vorgängen unterscheiden; denn Gründe einer höheren, der Natur überlegenen Ordnung sind es ja, die ihn [Gott] zu ihrer Erschaffung nötigen.“53 Die den Wissenschaften grenzenlos gegenüberstehende Ordnung der Schöpfung enthalte also Gesetze, die sogenannte Wunder und außerordentliche Wirkungen verursachen. Gott „hebt ein Gesetz nur durch ein anderes, besseres auf, und was aus Ordnungsgründen erwünscht ist, muß stets den

49 13.08.1763, in: Lavater, Reisetagebücher, Teil I, 240f. 50 Ebd., 240. 51 Vgl. ebd., 490: Unter dem 3.11.1763 schreibt Lavater vom „Tourneisische[n] System von Christo“. Dessen Schrift berichte laut Lavater von allen Gaben Gottes so, dass Christus „gleichsam der Dispe­nsator und Austheiler derselben sey“. 52 Vgl. Harrison, Peter, Newtonian Science, Miracles, and the Laws of Nature, Journal of the History of Ideas 56/4 (1995), 531–553. 53 Leibniz, Gottfried Wilhelm, Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau, Hamburg 1996, 248.

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Ordnungsgesetzen entsprechen, die zu den allgemeinen Gesetzen gehören.“54 Auf diesem überragenden Ordnungsgedanken, den Leibniz im physischen wie im metaphysischen Sinne entwickelt, stützen sich viele der im Essai de psychologie prägenden Sätze sowie Lavaters christologische Ausführungen. Als Antwort auf diese metaphysische Fragestellung, ob Gott vor oder in der Zeit auf seine Schöpfung einwirke, formuliert Bonnet das konkretere, naturgeschichtliche Modell einer ursprünglichen, „prästabilierten Einrichtung“ der Welt, die sich für ihn insbesondere um die uneingeschränkt angewandte Präformationstheorie dreht.55 Wie bereits erwähnt, führt Bonnet alle psychologischen Vorgänge auf die Prädetermination der menschlichen Leib-Seele-Einheit zurück und verbindet sie mit der reproduktionswissenschaftlichen Keimtheorie. Das erwähnte „System der Notwendigkeit“ wird so von der materiellsten Seite her betrachtet. Selbst die immaterielle Seele, deren bewegende Kraft Handlungsfreiheit genannt wird, besitzt keine Wahl- oder Indifferenzfreiheit: Aber die Weisheit hat die Seele als ein tätiges Wesen geschaffen, und sie hat die Ursachen, die die Ausübung ihrer Tätigkeit bestimmen, außerhalb dieses Wesens gesetzt. […] sie hat also die Tätigkeit der Seele ihrer Empfindlichkeit, ihre Empfindlichkeit dem (Zusammen-)Spiel der Fasern, das (Zusammen-)Spiel der Fasern der Wirkung der Gegenstände untergeordnet.56

Wird jedoch diese Ursachenkette von der überlegenen, nie im Ganzen erschließbaren Ordnung, der sogenannten „prästabilierten Einrichtung“, zeitweise aufgehoben, so werden Sonderereignisse denkbar, die etwa zur Bestärkung des Glaubens und als „notwendiges Mittel der Glückseligkeit“ Heilsrelevanz haben.57 Wundergaben finden auf diese Weise ebenfalls Eingang in das philosophische System des Essai de psychologie. An den Beispielen der Prophetie, Heiligkeit und Märtyrertum wird der physiologische Grundsatz angewandt, dass die Befindlichkeit bestimmter Körperfasern auf die Vermögen des Menschen Einfluss haben: Ob die „repräsentierenden Fasern“, die dem Menschen eine hellseherische Gabe einprägen können, unmittelbar von Gott berührt werden oder in der Evolution des jeweiligen Individuums bereits prädeterminiert waren, zum bestimmten Zeitpunkt vom gewöhnlichen Lauf der Natur abzugehen, sei für Bonnet nicht das Entscheidende.58 Die christliche Religion führe dazu, moralische Schlüsse und Glauben daraus zu schöpfen, da Christus die Übereinstimmung außerordentlicher Fähigkeiten mit dem Willen Gottes ans Licht gebracht hat. Dies betrifft schließlich auch die

54 Ebd., 248f. 55 Bonnet, Essai de psychologie, 293. Er äußert sich dort nicht gerade gegen die Möglichkeit, Gott wirke unmittelbar in der Natur, sondern stellt die Präordinationshypothese als wahrscheinlicher dar. 56 Bonnet, Essai analytique, 86f; vgl. auch Bonnet, Essai de psychologie, 123. 57 Bonnet, Essai de psychologie, 293. 58 Ebd., 357f.

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religiösen Praktiken des Gebets und des Sakraments, die bei Lavater besondere Relevanz erlangen sollten: Der Erretter der Welt, der zweifellos die Mechanik unserer Verfassung besaß, empfiehlt uns auch unaufhörlich zu beten. Das Evangelium ist also die Quelle der Gnade, weil es die zur Überwindung der Wirkung sinnlicher Gegenstände geeignetsten Ideen in den Verstand einführt. Die Sakramente sind noch ein Mittel der Gnade durch ihren Einfluss auf die Sinne.59

Die philosophische Erklärung dieser präordinierten Wunder zielt bei Bonnet nicht allein auf eine moralische Deutung religiöser Dogmen, sondern auf eine unmittelbar mit dem Erlösungswert des Evangeliums verbundene Lehre. Nicht durch seinen Tod und seine Auferstehung, sondern vielmehr durch seine Lehre und sein Beispiel gilt Christus als „Erretter der Welt“.60 Sein durch den Beweis der Wunderwerke gegründetes Gesetz erhebt sich allerdings durch seine Universalität und seinen göttlichen Kern über ein rein moralisches Gesetz und über die bloß erfahrbaren Naturgesetze. Das christliche Gesetz verwirklicht sich gleichsam in der Vervollkommnungsgeschichte der Schöpfung.61 Die heilsgeschichtliche Wirkung der christlichen Religion hängt also entscheidend vom richtigen Verständnis ihres historischen Ursprungs ab. Die Bedeutung Christi und des christlichen, evangelischen Zeugnisses rückt dabei in die Nähe der Argumentation Thourneysers: Christus besitzt fast unmittelbare Einsicht in den Erlösungs- und Heilsplan Gottes, seine Autorität in Sachen Wunder und Gnade beruht nicht auf seiner eigenen Mitteilung des Geistes oder der Gnade, sondern auf seinem wesentlichen Vorrang als höchste Intelligenz. Er ist der „einzige Sohn des Vaters, König der Menschen und der Engel“.62 In Bonnets natursystematischem Ansatz bedeutet dies vor allem, Christus throne auf der obersten Stufe der Stufenfolge der Lebewesen und übersehe die gesamte Schöpfung. Gleichzeitig sei er aber Teil der Schöpfung und Gott nicht gleich: Fleischgewordenes Wort! Erstgeborener unter den Kreaturen! Wenn du sie auch alle an Vortrefflichkeit überragst, was sind deine Vollkommenheiten verglichen mit denjenigen des sich selbst genügenden Wesens, vor dem so viele tausend Welten nur Tautropfen gleichen!63

59 Ebd., 358, [Hervorh. i. O.]. 60 Vgl. ebd., 260 zur religiösen Erziehung: „Ich würde [dem Kind] schließlich in der Erlösung den höchst rührenden Zug der göttlichen Güte entdecken. Ich würde ihm Jesus Christus unter der einfachen und ganz verständlichen Beziehung eines Gesandten vorstellen, dessen Mission den Hauptgegenstand hat, dem bereuenden Sünder die Vergebung zu verkünden und das Leben und die Unsterblichkeit deutlich herauszustellen. Ich würde in seinen Augen den Weg des Heils einebnen. Ich würde aus den Gesetzen des Herrn ein sanftes Joch und eine leichte Last machen“ [Hervorh. i. O.]. 61 Vgl. ebd., 311. 62 Ebd., 374 [Hervorh. i. O.]. 63 Ebd. [Hervorh. i. O.].

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Im Essai de psychologie geht Bonnet insofern über Thourneyser hinaus, als er das Christentum als höchstes Mittel der Vollkommenheit benennt, die Offenbarung in eine Leibnizschen Prinzipien folgende Weltordnung einbettet sowie konkrete, mit der Religion verbundene Handlungen und Ereignisse in direkten Bezug auf diese Ordnung setzt. Die Hypothese der präordinierten Wundergaben wird dabei auf die Konzepte der Kette der Wesen und der Mehrheit der Welten komparativ angewandt: Wie der Mensch eine mittlere Stufe in der Entwicklungslinie bzw. im Vollkommenheitsgrad der Lebewesen bildet, so beleben verhältnismäßig mehr oder weniger entwickelte Lebewesen, deren Vollkommenheitsgrad mit demjenigen unserer Welt abzugleichen wäre, eine Unzahl weiterer Welten. Von eben denselben Überlegungen stammt die anfangs erwähnte „Idee der höchsten vermischten Vollkommenheit“ in dem von Lavater in Gänze übernommenen Abschnitt aus der Contemplation de la nature.64 Eingerahmt von der Vision anderer Welten zum einen und der Existenz höherer mächtiger Wesen zum anderen, und damit klar als kosmologische Hypothese gekennzeichnet,65 wird der Abschnitt allerdings von Lavater in den Aussichten zu einem Kommentar über den Zustand des auferstandenen Leibes umgedeutet. Diesen Aneignungsprozess begleiten in diesen Monaten das intensive Gespräch über allerlei theologische Fragestellungen mit Spalding66 und Hess sowie die Lektüre zahlreicher Werke, die nicht selten Lavaters Meinung zur Kraft des Geistes herausfordern.67 Mit Felix Hess wird immer öfter davon geredet, auf das beliebte Thema wird beispielsweise mit „H[eiliger] G[eist] phys[ische] Wirks[amkeit] auf Orga[nismus]“ hingewiesen.68 Dabei findet Lavater scheinbar eine alternative Lösung zu dieser Wirksamkeit gerade in Bonnets kosmologischem Naturmodell. In Auseinandersetzung mit der Wunderkritik von David Hume (1711–1776) schreibt er zuversichtlich: „Das Rebütante in dem Streit über die Wunder würde sich auch bald verlieren, wenn man sie nicht just als unmittelbare Handlungen der Gottheit, wodurch die Gesetze der Natur aufgehebt würden, sondern als Handlungen höherer Kräfte, die alle menschliche Erkenntniß übersteigen, ansehen würde.“69 Damit wählt er einen mittleren Weg zwischen Bonnets eigentlicher Theorie der Präordination und Thourneysers Vorstellung von Christus als Urheber der Wunderwerke. Wie beide Genfer Philosophen übernimmt der junge Zürcher einerseits den Ordnungsbegriff von Leibniz, nach dem überhaupt die gesamte Schöp64 Siehe Anm. 4. 65 Vgl. Bonnet, Contemplation, Bd. 1, 25–28. 66 Siehe Vogel, Gerd-Helge/Albrecht, Gerd (Hg.), Aufklärung in Barth. Zur 250. Wiederkehr des helvetisch-deutschen Dialogs zwischen Johann Joachim Spalding, Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füßli und Felix Heß in Barth in den Jahren 1763/64, Kiel 2014. Die generell als sehr stark einzuschätzende Einflussnahme Spaldings auf Lavater bedürfte einer besonderen Untersuchung. Leider finden sich zu dieser bekannten Konstellation kaum Forschungsansätze. 67 Auf diese Lektüren, unter denen sich viele Engländer – Clarke, Warburton, Butler, Benson, Taylor – befinden, kann hier nicht eingegangen werden. 68 16.12.1763, in: Lavater, Reisetagebücher, Teil I, 591. 69 2.11.1763, in: Ebd., 488.

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fung zur größtmöglichen Vollkommenheit angelegt ist; wie sie entfernt er sich andererseits von der metaphysischen Hypothese der prästabilierten Harmonie zwischen Geister- und Körperwelt und setzt eine direkte Wirksamkeit gewisser Geister auf andere Wesen voraus. Nimmt man ihre Existenz an, so Lavater, dann erweist sich das Wunder als „eine ganz natürliche Wirkung physicalischer oder verständiger Kräfte“. Ob Lavater hier bloß auf die Macht der Engel und Erzengel anspielt oder selbst Naturgesetze als präordinierte und personifizierte Mittler des göttlichen Willens ansieht, sei dahingestellt. Als es aber zum Weihnachtstag 1763 darum geht, einen kurzen dogmatischen Entwurf zu verfassen, scheint Lavaters Vorstellung von Wunderwerken und Wundergaben bereits eine deutliche Gestalt erhalten zu haben. Gott habe, heißt es dort, Wesen von unendlicher Macht und Einsicht hervorgebracht, die die beständige Aufsicht über die Geschöpfe haben, hier physische, dort moralische Veränderungen in dem Laufe der Natur verursachen, wenn die ordentliche Folge der Dinge nicht schiklich genug ist und nicht die höchste mögliche Vollkommenheit hervorbringt.70

Die Begründung von besonderen Geistesgaben scheint zunächst geleistet: Ihre Existenz bejaht Lavater ausdrücklich aufgrund der Wahrscheinlichkeit mächtig wirkender Wesen, im metaphysischen Sinne definiert er sie als außerordentliche, von Gott orchestrierte Geschehen in der Ordnung der Natur.

3. Vom anonymen Verfasser zum Lieblingsautor Für Lavaters weitere Bonnet-Rezeption scheint die frühe Lektüre des anonymen Essai de psychologie ausschlaggebend gewesen zu sein. Obwohl Bonnet die Autorschaft des Werks beinahe dreißig Jahre lang allen Korrespondenten gegenüber abstritt, erfuhr Lavater noch in Berlin davon, nachdem er einige Tage vor der Rückreise nach Zürich ein Exemplar des mittlerweile selten gewordenen Essai de psychologie kaufte. Es bleibt unbekannt, über welchen Kanal Lavater die Information über das damals noch selten Bonnet zugeschriebene Werk71 erhielt. Ohne Kommentar notierte er sich am selben Tag im Tagebuch: „Bonnet, nicht Thourneiser soll der Verf[asser] des Essais de Psychologie seyn.“72 Diese Anmerkung fällt, wie

70 25.12.1763, in: Ebd., 623. 71 Am prominentesten etwa, jedoch nur in auserwählten Kreisen kursierend, verwies darauf die Correspondance littéraire in einem Zusatz des Herausgebers (wohl Friedrich Melchior Grimm selbst) in Bonnets Aufsatz Observations sur quelques auteurs d’histoire naturelle, Dezember 1759, abgedr. in: Tourneux, Maurice (Hg.), Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister, Etc. revue sur les textes originaux […], Bd. 4, Paris 1878, 163–171, hier 171. 72 Siehe Lavater, Reisetagebücher, Teil I, 776f.

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oben erläutert, in eine Zeit der zunehmenden Berühmtheit des Genfers in philosophischen Kreisen, zudem ist sein zweites psychologisches Werk, der Essai analytique, mit positiven Verweisen auf den (anonymen) Verfasser des Essai de psychologie geradezu angefüllt. Es ist durchaus vorstellbar, dass Berliner Gelehrte, wie etwa Sulzer, Sack oder Mendelssohn, mit denen Lavater in jenen Tagen Umgang hatte, ihn darauf aufmerksam machten. Die Absenz jeglichen anderen Bezugs auf Bonnet lässt dabei vermuten, dass Lavater zu dieser Zeit kein anderes Werk des Genfers kannte. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann geschlussfolgert werden, dass der von Deutschland zurückgekommene Lavater, von dieser Anmerkung angeregt, die übrigen Werke Bonnets allmählich rezipierte. Bereits in den Aussichten vernimmt man aus verstreuten Hinweisen, dass Lavater nun nicht nur die schon erwähnte Contemplation de la nature, sondern auch den Essai analytique und die Considérations sur les corps organisés als Referenzen für sein Menschenbild in Anspruch nimmt.73 Seine Beschreibung des Himmels im neunten Brief entlehnt Lavater allerdings dem Essai de psychologie, dessen Abschnitt zur Mehrheit der Welten er wörtlich zitiert. Nicht nur führt er dort den anonymen Verfasser der betreffenden Schrift mit den Worten „mein Lieblingsautor“ an, sondern verzeichnet ihn im Register des Bands stillschweigend unter dem Namen „Bonnet“.74 Bonnets Signatur ist in der Tat an der ausgewählten Stelle deutlich erkennbar. Diese endet auf den Satz: „Wie ist denn die Vollkommenheit [Perfection] der Stadt Gottes, wo der Engel das geringste unter den lebenden Wesen ist?“75 – und korrespondiert damit eindeutig mit folgendem aus der Contemplation: „Wie ist denn die Vollkommenheit [excellence] des himmlischen Jerusalems, wo der Engel das geringste unter den intelligenten Wesen ist?“76 An dieser Stelle wird zudem ersichtlich, dass die Bezüge auf Bonnets Schriften sich durchgehend in jenem begrenzten Rahmen bewegen, in dem sich die erste Lektüre des Essai vollzogen hat: Die Vorstellung der höchsten Vollkommenheit Christi steht einerseits im Zusammenhang mit seinem Vorrang über alle Wesen und seiner Schöpferrolle und unterstreicht andererseits die Perfektibilität des Universums in Form zahlreicher zur Vervollkommnung fortschreitender Welten.77 Die durch technische Errungenschaften unterstützte Natursystematik sowie die dadurch entgrenzte Auffassung des Universums werden dabei zu einem theologischen und kosmologischen Interpretationsmodell erweitert. In Analogie zur Vollkommenheitsordnung unter den Geschöpfen beschreibt

73 Lavater, Aussichten, Bd. 1, 162f; ebd., Bd. 2, 146, 193, 197–203. Zu Korrespondenzstellen v. a. der Contemplation de la nature in Lavaters Aussichten vgl. die Anmerkungen zum Text in: JCLW II. 74 Lavater, Aussichten, Bd. 1, 254f, 320. Die hypothetische Autorschaft Bonnets bespricht Lavater auch in der Palingénésie-Übersetzung, vgl. Bonnet, Untersuchung, 67f, Anm. 75 Bonnet, Essai de psychologie, 373 [Hervorh. i. O.]. 76 Bonnet, Contemplation, 25 [Hervorh. i. O.]. 77 Lavater spricht in dieser Hinsicht analogisch von „Weltenkeimen“, vgl. Aussichten, Bd. 1, 253. Zur kosmischen Vorstellung des Wesens Christi und seines Einflusses auf das Leben des Menschen, besonders in den nachfolgenden 1770er Jahren, vgl. Hannemann, Religiöser Wandel, 166–177.

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Lavater den Himmel, in dem Christus lebt und in den Auferstandene kommen werden, als den vollkommensten Ort unter den Welten, als den „Ort der Schöpfung, wo Gott auf die sichtbarste und, wenn ich so sagen darf, auf die persönlichste Weise, wohnet.“ Bereits Bonnet hatte den Himmel als „Ort, wo Gott wohnt“, jenseits der „Myriaden von Welten“ gekennzeichnet, dem sich der Mensch mithilfe der Offenbarung annähern könne.78 Diese Verortbarkeit des Himmels und der Himmelsbewohner hat zur logischen Folge, dass gewisse, ins künftige (selige) Leben projizierte Fähigkeiten als übereinstimmend mit der Wunderkraft Christi und anderen Wundergaben befunden werden. Beide zeugen von einem erhöhten Vollkommenheitsgrad, der im Gesamtsystem der Schöpfung seinen Ursprung hat und vom Streben des Individuums selbst unabhängig ist.

4. Lavaters eigene Spuren und die Macht des Glaubens Während Bonnet weiterhin für Lavaters metaphysisches Verständnis der Wunder und außerordentlichen Geistesgaben als entscheidende Quelle gelten kann, widmet sich der Zürcher mit zunehmendem Interesse der vielmehr exegetischen Frage nach dem Beistand des Heiligen Geistes. Auf dieses bei Lavater vorherrschende Thema, das häufig unter den Stichworten Gaben des Heiligen Geistes und Kraft des Glaubens und des Gebetes erscheint, wirken seine Bonnet-Lektüren nur indirekt. Die vom evangelischen Versprechen einer fortdauernden Wirkung des Heiligen Geistes unter den Christen herkommende Vorstellung gründet letztendlich aber auch im Zeugnis der Wunderwerke Christi und ist teilweise mit diesen vergleichbar. Beide behandeln die Möglichkeit einer göttlichen, unmittelbaren Teilnahme an der Naturordnung. Lavaters Position zeichnet sich dabei durch die Kontinuität aus, die er zwischen beiden Fragestellungen herstellt: Die metaphysischen bzw. naturhistorischen Bedingungen für die Realität von Wundergaben geben ihm zugleich Gründe dafür, den Fortbestand der Geistesgaben und Gnadenwirkungen auch in nachapostolischen Zeiten zu behaupten. Hinsichtlich einer solchen Erklärung von Geistesgaben geht es insbesondere um ein Verständnis des Heiligen Geistes als Persönlichkeit, als eigenständige Person in Gott, die zu allen Zeiten, jedoch nicht ununterbrochen wirken kann. In Briefen, die Lavater auf der Rückreise in die Schweiz an Spalding schrieb, fällt auf, dass die exegetische Beschäftigung mit den außerordentlichen Geistesgaben damals schon ins Zentrum seines Denkens und seiner theologischen Position gerückt ist. Darin sondert er sich allerdings von seinem Vorbild und nächstem Freund in Norddeutschland ab: Spalding, der im Frühjahr 1764 sein Amt als Propst der Nikolaikirche in Berlin antritt, nimmt Gnadenwirkungen als allgemeine Zuwendung Gottes an, zeigt sich aber wenig bereit, von einem individuellen und 78 Bonnet, Contemplation, 15.

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punktuellen Wirken Christi bzw. des Heiligen Geistes wörtlich zu sprechen. Wohl in Bezug auf Lavaters Erklärungsversuche schreibt Spalding in der Vorrede zu der während des Aufenthalts der Zürcher in Barth bearbeiteten zweiten Auflage seiner Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum über die Unvereinbarkeit von göttlichem und veränderlichem Beistand: Wenn also eine wahre Wirksamkeit des unendlichen Wesens auf die Seele erfordert wird, so weiß ich nicht, ob sich etwas anders dabey denken lässet, als daß das nichts veränderliches, nichts unterbrochenes seyn kann. […] Ließe es sich behaupten, daß solche Wirkungen von einem Wesen herrühreten, dem man keine schlechterdings uneingeschränkete Unveränderlichkeit zuschreiben dürfte, so wäre dadurch ohne Zweifel der wichtigste Anstoß gehoben, der bey dem, was der unendliche und unveränderliche Gott, auf eine unterbrochen und veränderliche Art, thun soll, allem Anschein nach, unvermeidlich ist.79

Diese Anmerkung Spaldings verweist eindeutig auf die unter dem Eindruck des Systems Thourneysers und Bonnets geführten Diskussionen über die Art der Tätigkeit Christi und höherer Wesen. Vom Göttinger Theologen Johann David Michaelis (1717–1791), den Lavater 1763 viel gelesen hat, erfährt er auch eine ablehnende Reaktion: Aus sehr schwachen Gründen […] läugnet Herr Michaelis den Beystand des Heiligen Geistes, den er doch zu einer wahren göttlichen selbstständigen Person macht. Er müßte beständige Wunder thun, Wunder im höchsten metaphysischen Verstande.80

Vom empfindsamen Schriftsteller Martin Crugot (1725–1790), mit dem sich Lavater in Berlin oft trifft, erhält er über diese Frage Unterstützung: Die Persönlichkeit des H. Geistes schien [Crugot] anfangs ganz in Zweifel zuziehen, wenn er gleich […] annimt, daß das, was die Schrift den H. Geist nennt, Wirkungen der Gottheit sind, dazu vielleicht physische vielleicht moralische Wesen die Mittelwerkzeüge abgegeben haben.81

Lavaters Bemühen um diese Fragen schlägt sich in Texten nieder, die er um 1768/1769 verfasst. Das wohl im Laufe des Jahres 1768 entstandene Gespräch zwischen Christo und einem Christen,82 in dem Lavaters Lehre von den Gnadenwirkungen und Erhörung der Gebete am ausführlichsten enthalten ist, entspricht offensichtlich der in

79 Spalding, Johann Joachim, Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum, Leipzig 2 1764, V–XXIV, hier XXII–XXIV. 80 Lavater an Spalding, o. O., nach dem 14.03.1764, Abschrift, ZBZ, FA Lav Ms 581.71b, Nr. 3. 81 Lavater an Spalding, Berlin, 24.02.1764, Abschrift, ZBZ, FA Lav Ms 581.71b, Nr. 1. 82 Ohne Verfasserangabe und fälschlicherweise auf 1763 rückdatiert (vgl. Weigelt, Lavater, 15) publiziert als: Gespräch zwischen Christo und einem Christen von der Kraft des Glaubens und Gebeths, 1776.

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den zeitgleich verfassten Aussichten angekündigten „Lehre der heil. Schrift vom Glauben und Gebete“,83 die – wie oben erwähnt – den Beweis der wirkenden Kraft Christi weniger gelehrt, sondern „so deutlich, so einfältig, so psychologisch“ wie möglich formulieren sollte.84 Der dialogische Text ist zwar in einer leicht verständlichen, von metaphysischen Ausdrücken freien Sprache verfasst, vermittelt aber deutlich und durch eingeflochtene Bibelzitate die Macht, die Lavater dem Glauben zuschreibt: Dieser sei Voraussetzung für die Aufmerksamkeit Christi und Erhörung der Gebete. Christus antworte auf alle Gebete zu allen Zeiten, denn seine „göttliche Wunderkraft“ sei allgegenwärtig. Dabei findet sich eine genaue Übertragung der bisher festgestellten Komponenten seiner Lehre in geläufigerem Ausdruck: [Christus:] Ich habe mich Vielen an allen Enden der Erden geoffenbaret; ich erhöre täglich Millionen glaubige Gebete; ich erhöre sie, denn mir ist nichts unmöglich, nichts zu schwer; für mich sind die größten Wunder keine Wunder; ich sende täglich meine Engel aus zum Dienst derer, welche die Seligkeit ererben und errettet werden sollen[.]85

Das kleine, im September 1769 gedruckte und hauptsächlich Freunden mitgeteilte Heft Drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes hat hingegen einen rein exegetischen Charakter und unterscheidet sich insofern von früheren Äußerungen, als hier vom dogmatischen – christologisch-soteriologischen – Hintergrund der Fragestellung abgesehen wird: Im Zentrum steht die Untersuchung einzelner Stellen der Heiligen Schrift. So wählt Lavater für die Geistesgaben einen minimalen Ausdruck: „eine Schöpferische Kraft, eine ausserordentliche (nach unserm Sprachgebrauch) übernatürliche Offenbarung oder Wirkung der Gottheit, übernatürliche Einsichten und Kräfte“.86 Dieser Ausschnitt lässt besonders erkennen, dass der Kern der angestrebten Beweisführung in der Unterscheidung von natürlicher und übernatürlicher Ordnung liegt.87 Diese Unterscheidung gründe jedoch weder in der Welt noch in der göttlichen Lehre selbst, sondern zeige das gewöhnliche Empfinden der Betroffenen und Zeugen, demnach auch die Sprache der Heiligen Schrift an. Auf letztere komme die exegetische Arbeit an.88 Hier entfernt sich Lavater dadurch von Bonnet, dass er den Akzent auf die „augenscheinliche Uebernatürlichkeit der Geistes-Gaben“89 und auf den entsprechenden Glauben an diese Übernatürlichkeit setzt. Bonnet, der die erschließbare 83 84 85 86

Lavater, Aussichten, Bd. 1, 102. Ebd., 101. Lavater, Gespräch, 21. Lavater, Johann Caspar, Drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes, Allen Freunden der Wahrheit zur unpartheyisch-exegetischen Untersuchung vorgelegt […]. Im September 1769, in: Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden JCLW], Bd III: Werke 1769–1771, hg. v. M.E. Hirzel, Zürich 2002, 93–99, hier 97. 87 Darauf kommt Lavater noch einmal zurück, in: Zugabe zu den Drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes. Im October 1769, in: JCLW III, 101–107, hier 105. 88 Ebd., 102–104. 89 Ebd., 106, [Hervorh. i. O.].

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Naturordnung und die Idee der Übernatürlichkeit in ein viel undurchsichtigeres Gesamtsystem einfügt, versucht ganz im Gegenteil den Glauben an die Wundergaben in einen philosophischen Glauben, in eine vernünftige Hypothese zu überführen. Als Lavater ihm die Drey Fragen Ende September 1769 zukommen lässt, reagiert er kritisch und hält jener Vorstellung von „Schöpferische[r] Kraft“ entgegen, dass die menschliche Vernunft unmöglich darüber entscheiden könne, ob die als Wunder angegebenen Wirkungen einen „unmittelbaren Eingriff “ Gottes oder eine „passende Präordination“ bedeuteten.90 Außerdem kritisiert er Lavaters Hervorhebung des Übernatürlichen in der Auslegung von Geistesgaben. Weder durch deutliche Erfahrung noch durch innere Gewissheit könnten die Propheten und Apostel jemals darüber im Klaren gewesen sein, denn „Kurzum, wie soll man die außerordentliche Ordnung [Economie] von der ordentlichen Ordnung unterscheiden?“91 Für Bonnet wie für Bennelle kommt es schließlich auf die gründliche Erkenntnis und Beglaubigung einer außerordentlichen Geistesgabe an.92 Mit diesem zentralen Problem befasst sich die von Bonnet in der Palingénésie vorgelegte Religionsapologie. Ganz im Sinne Leibniz’ entwickelt Bonnet in seiner neuen Schrift eine Wundertheorie, die an den Grundsätzen des Essai de psychologie anknüpft, jedoch viel verfeinerter und durchdachter gestaltet ist.93 Sie soll zugleich als philosophischer Gegenentwurf zu den wunderkritischen Schriften David Humes und Jean-Jacques Rousseaus verstanden werden94 und die Hypothese der Präordination unter verschiedenen Facetten präsentieren. In der Möglichkeit und Erklärung von Wunderwerken sieht Bonnet einen der Hauptbeweise für die Lehre Christi, für das Zeugnis der Apostel und für die Glaubwürdigkeit ihrer Berichte.95 Die präzise ausgearbeitete Hypothese hat zwar einen entscheidenden philosophischen Beweis-

90 Bennelle und Bonnet an Lavater, Genthod, 24.10.1769, in: Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, 46. 91 Ebd. 92 Bennelle geht auf Lavaters Nachfragen in einem Brief an ihn ein, Genthod, 17.11.1769, in: Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, 53f. 93 Vgl. Grober, Natural History, 244–255; Sandrier, Alain, Les Lumières du miracle, Paris 2015, 80– 84. 94 Bereits in den Jahren 1763/1764 rezipierte Bonnet intensiver Humes Abhandlung On miracles von 1748, Rousseaus Brief A Christophe de Beaumont, Archevêque de Paris von 1763, aber auch George Campbells Schrift A Dissertation on Miracles von 1762, welche sich gegen Hume richtete. Vgl. Sonntag, Otto (Hg.), The Correspondence between Albrecht von Haller and Charles Bonnet, Bern u. a. 1983, 335f, 400. 95 Die Struktur der Palingénésie könnte u. a. von Leibniz’ 1765 wiederentdeckten und veröffentlichten Nouveaux Essais sowie von ihrer Erkenntnistheorie beeinflusst worden sein, in deren abschließenden Kapiteln die Frage nach den „Motiven der Glaubwürdigkeit“ der biblischen Erzählungen und ihrer Zeugnisse gestellt wird. Ob die verstärkt apologetischen Schlusskapitel der Palingénésie, wie es Luginbühl-Weber nahelegen möchte, „unübersehbar unter dem Einfluß von Lavaters Aussichten in die Ewigkeit [entstanden seien], die Bennelle nach den […] Angaben des Autors auswahlweise für Bonnet übersetzte“, sollte erst nach strengster Textanalyse zu entscheiden sein; vgl. Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, Bd. 1, lxi.

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charakter, ist aber für Bonnet nicht Teil der christlichen Lehre. Dies ist ein gewichtiger Unterschied zu dem, was Lavaters Verständnis von Christentum, Glauben und dem fortdauernden Beistand Christi ausmacht. Die Kritik, die Bonnet und Bennelle an dessen Lehre von den Wundergaben und Gnadenwirkungen äußerten, spitzt sich anlässlich der Teilübersetzung der Palingénésie noch weiter zu und bildet von da an den Grundtenor, nach dem Lavater unter den Genfer Freunden behandelt wird.96 Den Text der Übersetzung betrachtet Bonnet im Allgemeinen als treu und richtig, kritisiert nur wenige Formulierungen – soweit er es im Deutschen und mithilfe der Vermittlung Bennelles beurteilen kann –, stört sich aber vor allem an Lavaters Eigeninitiative, „ziemlich umfangreiche und ziemlich viele Anmerkungen“97 hinzuzufügen. Diese erschweren nicht nur die Lektüre und das Verständnis der vorgelegten Philosophie, sondern verfälschen die Essenz und den Zweck der Schrift: „Ich hätte lieber, er hätte [diese Anmerkungen] nicht gemacht: er kommentiert auf theologische Weise ein rein philosophisches Buch.“98 Viele der umfangreicheren Anmerkungen spiegeln Lavaters bisherige Überlegungen und seine Diskussionen mit Bonnet wider. In einem Kommentar zur Erklärung von Wunderheilungen nach Gebeten beruft sich der Übersetzer auf Leibniz’ Essais de Théodicée und auf Bonnets Essai de psychologie, die es erlaubten, die „Verheissungen positiver Gebetheserhörungen in der Schrift“99 auf philosophische Weise zu verstehen: Die Vorverordnung einer Unzahl von Wundern, Gnaden und Erhörungen sei diesen zufolge mit dem „Plan“ einer göttlichen „Totalregierung“ verträglich.100 Den Empfang der Gnade deutet Lavater jedoch im Gegensatz zu Bonnet als ein subjektives, religiöses Ereignis.101 Die philosophische Erklärung der Präordination sinkt zu einem Nebenumstand, während die Empfänglichkeit des Gläubigen zur Haupthandlung wird. Wenn Bonnet beispielsweise seinem jüngeren Übersetzer vorhält, dieser habe „manchmal die psychologischen Grundsätze des Verfassers nicht genau aufgefasst und der Seele etwas zugeschrieben, was [der Verfasser] nur dem Gehirn zuschreibt“,102 so geht es dabei um mehr als nur ein psychologisches Missverständnis. Dabei stellt Bonnets „Idee über das Physische der Prophetien“103 ein solches Beispiel dar, das auf eine weitere Anmerkung Lavaters hinweist: Dieser erläutert dort die Prophetie nicht so sehr im Sinne Bonnets als

  96 Hier wird auf die bereits vorgelegten Anmerkungen in Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, Bd. 2, sowie Kohler, Lavaters Übersetzung, hingewiesen.   97 Bonnet an Haller, o. O., 4.10.1769, in: Sonntag (Hg.), Haller – Bonnet, 837.   98 Ebd.   99 Bonnet, Untersuchung, 154, Anm. 1, [Hervorh. i. O.]. 100 Ebd., 155. 101 Zum Wert der Empfindung und des Gefühls in Lavaters Religionsauffassung, vgl. Ebeling, Gerhard, Genie des Herzens unter dem genius saeculi – Johann Caspar Lavater als Theologe, in: K. Pestalozzi/H. Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen, Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, (AGP 31), Göttingen 1994, 23–60, hier 28f. 102 Bonnet an Lavater, Genthod, 26.09.1769, in: Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, 41. 103 Ebd.

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eine präordinierte Veränderung in den „repräsentierenden Fasern“,104 sondern durch einen besonderen „Character der Propheten“ und durch die Möglichkeit, diese Gabe „zu erwecken“.105 Eine engere Bindung außerordentlicher Geistesgaben an der Persönlichkeit und der Glaubenskraft einzelner Individuen kennzeichnet in der Tat Lavaters Bestrebungen in den darauffolgenden Jahren. In der ersten praktischen Auseinandersetzung mit einer vermeintlichen Wundergabe wird dieser grundsätzliche Unterschied zwischen Lavaters und Bonnets Haltung noch greifbarer.

5. Zu einem aufgeklärten Umgang mit Geistesgaben? Zu den allerersten Fällen außerordentlicher Geistesgaben, auf die Lavater mit der Zeit zunehmend aufmerksam wird,106 gehört die in Biel lebende Elisabeth Tüscher, geborene Aeschlimann. Ihre vermeintliche übernatürliche Gabe, in einem Glas Wasser entfernte, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse sehen zu können, erregt zunächst in ihrer Heimatstadt und ab dem Herbst 1769 auch in Bern und Zürich viel Aufsehen. Über die Vermittlung des weitvernetzten Berner Patriziers Niklaus Anton Kirchberger (1739–1799) gelangt Lavater zu Berichten über Tüscher. Über ein halbes Jahr lang werden sich Lavater und Bonnet mit großem Interesse über die sogenannte Wasserleserin austauschen, deren „seconde Vuë“107 – obgleich unter völlig verschiedenen Vorzeichen – dem zeitgleich heftig diskutierten hellseherischen Vermögen Emanuel Swedenborgs (1688–1772) ähnelt, dem Immanuel Kant seine Schrift Träume eines Geistersehers 1766 widmete.108 Für Lavater, der bereits 1763 von Swedenborg gehört109 und seitdem Kants Schrift gelesen hat, stellt Elisabeth Tüscher eine Chance dar, seine theoretische Lehre durch praktische Erfahrung zu bestätigen. Bald liefert er den Genfern einen Ausschnitt aus einer persönlichen Befragung und Lebensbeschreibung der Wasserleserin.110 Auf eine Schilderung ihres äußerlichen und innerlichen Charakters folgt ein Bild ihrer Lebensumstände in knappen, zum Teil anekdotenhaften Sätzen. Alles deutet auf eine einfache, gar

104 Bonnet, Essai de psychologie, 357f. 105 Bonnet, Untersuchung, 66. 106 Vgl. Weigelt, Lavater, 19. Hier ist nicht der Ort, auf die vielen Persönlichkeiten, die Lavater im Laufe der Jahre faszinierten, einzugehen. 107 Vgl. Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, 65. 108 Siehe dazu Stengel, Friedemann, Kant – „Zwillingsbruder“ Swedenborgs? in: Ders. (Hg.), Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis, Tübingen 2008, 35–98, bes. 45–55; ders., Aufklärung bis zum Himmel, Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2011, 640–665. 109 Lavater, Reisetagebücher, Teil I, 437. 110 Lavater an Bonnet und Bennelle, 9.12.1769, in: Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, 56–59. Nach Angaben Lavaters entstand aus der Befragung ein längeres Protokoll, das im Brief an Bonnet nur verkürzt wiedergegeben ist.

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einfältige Person „von mittelmäßigem verstand und ziemlich melancholisch“ hin. Die Bielerin, so Lavater, „will nicht wahrsagen. Sie ist sehr bescheiden, redt wenig und ist mit einfältigem Herzen religios.“ Lavater versucht anschließend die Gaben Tüschers in Einklang mit Bonnets Fasernsystem zu bringen, doch der Versuch wird zweimal abgebrochen; es bleiben bloß Erklärungslücken und die Aufforderung an Bonnet: „Die Sache muß noch viel genauer untersucht werden; aber ein Verzeichniß von Regeln wie man dieß Phänomen beobachten, und von Fragen, die man dieser Person vorlegen soll, erwarte ich.“111 In Form eines von Bonnet geführten persönlichen Tagesregisters geht einige Tage später der in solchen Fällen übliche Fragenkatalog an Lavater, der dieses wiederum an einen der Gewährsmänner in Biel weiterleitet. Die Haltung des Genfer Philosophen – der übrigens die Geschehen um Swedenborg und Kants Schrift noch nicht kennt –112 ist eine ganz andere: Während in seinen Briefen eine dauerhafte Grundskepsis über die Beweisbarkeit solcher übernatürlicher Gaben erkennbar ist, stellt er seinem jüngeren Korrespondenten gegenüber eine affirmative Begutachtung in Aussicht, sollte die Gabe jene strenge wissenschaftliche Prüfung bestehen. Daher drängt er auf eine adäquate, wissenschaftlich aufgebaute, durchdachte Methodik, die den objektiven Wert der Ereignisse festzulegen hat. Die sichere Beglaubigung einer solchen Gabe ist kein leichtes Unternehmen. Bennelle wiederholt etwa den zuvor von Bonnet geäußerten Gedanken: „Ein ehrlicher Mensch kann übernatürliche Kräfte oder Gnadenwirkungen erhalten haben; aber wird er sich auf alle Fälle und unmissverständlich versichern können, dass er diese erhalten hat?“113 Die dabei entscheidende Unterscheidung von ordentlichen und außerordentlichen Geistesgaben, bzw. von ordentlicher und außerordentlicher Naturordnung, die in der Palingénésie selbst grundlegend ist,114 soll bei der Aufklärung der untersuchten Gabe streng beobachtet werden. Nachdem Tüscher auf Anfragen Lavaters weder Bonnets äußere Figur noch den Inhalt seines protokollierten Tagesablaufs richtig beschreiben konnte, bannt Bonnet die Wasserleserin in die Sphäre der Legende. Seine „ungläubige“ Haltung gegenüber der „Hydrographischen Wahrsagerin“, dem „weiblichen Tyresias“115 hat sich nun bestätigt. Angesichts der Ermangelung einer plausiblen experimentellen Umgebung, die die Beweisführung unangreifbar machen sollte, richtet sich Bonnets Kritik allerdings nicht an sich gegen die rationale Möglichkeit der angeblichen Geistesgabe, sondern gegen die Leichtgläubigkeit der anwesenden (gebildeten) Zeugen: „ich wäre neugierig zu wissen, wie sie [Tüscher] aufgeklärte Augen hat täuschen

111 Ebd., 59. 112 Bennelle und Bonnet an Lavater, Genthod, 16./18. Dezember 1769, in: Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, 60–65, hier 61. 113 Ebd., 62. 114 Vgl. Bonnet, Untersuchung, 77f. 115 Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle, 69.

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können.“116 Dazu legt Lavater jedoch eine Deutungsverweigerung ein. Wenn die methodologische Prüfung auch gescheitert ist, so verliert das Übernatürliche, das Wunderbare des Erlebnisses nichts von seiner Beweiskraft. Die Gabe des Hellsehens sei ihrer Natur nach nicht kontinuierlich, sondern punktuell, Tüscher habe sie „nur zu einem grade der gewißheit, wie 1 zu 24 besitzet. Ich kann nicht begreifen, wie Sie einige fragen von mir mit einer so erstaunungswürdigen genauigkeit beantwortet hat.“117 Maßstab und epistemologische Kriterien der Beurteilung verschieben sich dabei deutlich: Die metaphysische Beweisführung, die in Bonnets ganzheitlich-kosmologischem System auf die Unterscheidbarkeit des heilsgeschichtlich notwendigen Wunders von der gewöhnlichen Ordnung und steten Vervollkommnung der Schöpfung hinausläuft, gibt Lavater zugunsten einer exegetischen Beweisführung gewissermaßen auf. Die spürbare Wirkung, die bei der Mitteilung göttlicher Kraft stattfinde, insofern sie als übernatürlich empfunden wird, komme mit dem Zeugnis der apostolischen Wundergaben überein. Dabei reicht Lavaters allumfassendes Christus-Bild so weit, dass kein wesentlicher Unterschied zwischen den Wirkungen Christi, des von ihm gesandten Heiligen Geistes, der von ihm ausgesandten Engel und höherer Geister oder sonstiger von ihm verabschiedeten Gesetze zu bestehen scheint.118 Der gewöhnliche Lauf der Natur sowie die Wunderwerke und die Gnadenwirkungen sind letztendlich Christus unterworfen. Die kosmische, allgegenwärtige Herrschaft und Kraft Christi ersetzt ihm die Weltordnung und Präordination durch eine Erste Ursache.119

Epilog Das Verhältnis zwischen Bonnet und Lavater gerät ins Schwanken, als Lavater die göttlichen Gnadenwirkungen der Glaubenskraft und der Gebetserhörung anstatt durch sorgfältige physiologische und psychologische Analyse, wie es Bonnet verlangte, nun zunehmend durch Glauben, durch persönliche religiöse Zuversicht erklärt. Die Erfahrung übernatürlicher Wirkungen dient dabei weniger der philosophischen Beweiskraft der Religion, sondern ist Zeichen für christliches Leben selbst. Auf den von Bonnet geforderten „Parallelismus der Natur und Gnade“120 antwortet Lavater sozusagen durch eine Übereinstimmung von Natur und Gna-

116 Bonnet an Lavater, [Genthod], 29.01.1771, in: Ebd., 104. 117 Lavater an Bonnet, Zürich, 31.01.1771, in: Ebd., 108. 118 Vgl. Bonnet, Untersuchung, 80–83, Anm. 1. 119 Siehe z. B. Lavater, Johann Caspar, Mein Glaubens Bekenntniß von Christo, 1778, Sammlungen zu einem Christlichen Magazin, J.K. Pfenninger (Hg.), 3 (1782), 67–83. 120 Bonnet, Untersuchung, 153.

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de.121 In der Lehre der Empfänglichkeit und Erfahrbarkeit von Gnade, die durch „jede Belebung schlummernder Kräfte“ mitgeteilt wird,122 kann man hier einen Zugang zum Projekt der Physiognomik entdecken, das ab 1770 in Lavaters Denken vorherrscht.123 Bei Lavaters Wissenschaftsanspruch für die Physiognomik, der ja als ein Vorgriff auf eine fernere heilsgeschichtliche Zukunft des Menschen aufgefasst werden kann,124 geht es in der Tat wiederum um Mitteilung von Gnade, um Vorgeschmack künftiger Wundergaben. Auch hier gibt es zahlreiche Spuren von Bonnets Werk, in denen der Verfasser des Essai de psychologie und der Contemplation de la nature für seine philosophische und methodologische Beobachtungskraft eine erneute Würdigung erfährt.125 Zuletzt wird der Zürcher Diakon sogar den Anstoß zur zeitgenössischen Übersetzung des damals noch anonymen Essai geben.126 Aus der systematischen Denkstruktur und der Naturanschauung Bonnets, die Lavater nachweislich übernimmt und in Teilen transformiert, macht er Bonnets eigene Begabung; und dessen Beobachtungskraft, deren Definition als ein Physik und Metaphysik verbindendes analytisches Vermögen Bonnet selber vorlegte,127 deutet er zu „Wahrheitsgefühl“, zu Genie um.128 Doch durch seine Betonung des Gefühls, der individuellen Gnade und letztendlich der persönlichen Erwählung durch Christus verwirkt Lavater endgültig Bonnets philosophische Anerkennung. Im Jahr 1776 übt dieser noch scharfe Kritik: Er ist zu Pferd auf einem Pegasus, dem er zu viel Hafer gibt. Er hätte lange die Geometrie oder zumindest die Logik studieren sollen. Heute ist er, glaube ich, unheilbar. Seine Absichten haben mir immer sehr rein geschienen; aber er liest in der Bibel, wie in den Gesichtern. Ich habe fruchtlose Versuche gemacht, seine Ideen über den Heiligen Geist zu begradigen. Wir schreiben uns nicht mehr.129

121 Vgl. den aufschlussreichen kurzen Aufsatz: Lavater, Johann Caspar, Natur und Gnade, Alle Natur ist Gnade; Alle Gnade Natur [28. März 1778], in: Ders., Antworten auf wichtige und würdige Fragen und Briefe weiser und guter Menschen, eine Monatsschrift, Bd. 1, 1790, 45–47. 122 Ebd., 47. 123 Zu Bonnets Rolle bei der Begründung der Physiognomik, vgl. Pabst, Stephan, Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, Heidelberg 2007, 21–57. 124 Ebd., 52f. 125 Vgl. Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. 1, Zürich 1775, 54. 126 Des Herrn Karl Bonnet psychologischer Versuch als eine Einleitung zu seinen philosophischen Schriften. Aus dem Französischen übersetzt und mit einigen Anmerkungen begleitet von C[hristian] W[ilhelm] Dohm. Die Übersetzung erfolgte auf direkter Anregung Lavaters (Gronau, Wilhelm, C. W. von Dohm nach seinem Wollen und Handeln. Ein biographischer Versuch, Lemgo 1824, 24). Welcher von beiden die gewagte Entscheidung traf, die Schrift unter Bonnets Namen – zehn Jahre vor dessen offizieller Bekanntmachung seiner Autorschaft! – zu publizieren, ist unklar. 127 Eine erste Definition in diesem Sinne entwirft Bonnet 1759 im Essai analytique, Vorrede, If. 128 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, 54. 129 Bonnet an Haller, Genthod, 11.09.1776, in: Sonntag (Hg.), Haller – Bonnet, 1233.

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Baptiste Baumann

Als der 43-jährige Lavater endlich in die Westschweiz reist und Bonnet zum ersten Mal am 6. August 1785 begegnet, ist die Zeit ihres gegenseitigen, fruchtbaren Austausches in Wahrheit längst vorbei.130

130 Vgl. zur Reise: Lavater, Reisetagebücher, Teil II.

Dominique Bourel

Johann Caspar Lavater und Moses Mendelssohn: Eine neue These?

Lassen Sie mich mit einem Mirabeau-Zitat anfangen, obwohl wir wissen, dass er Lavater nicht gern hatte. Er ist einer der ersten Biographen Mendelssohns gewesen und, wie wir wissen, einer der Hauptakteure der Französischen Revolution, die für das erste Mal in Europa die politische Emanzipation der Juden sicherte. Ein Mann, von der Natur in den Schooss einer verachteten Horde geworfen, geboren ohne alles Glück, mit einem schwächlichen und sogar kränklichen Körper, einem furchtsamen Charakter, aber fast übertriebenen Sanfmuth, sein ganzes Leben hindurch an ein fast mechanischenes Gewerbe gefesselt, schwang sich bis zu dem Range der grössten Schriftsteller, welche dies Jahrhundert in Teutschland gesehen hat. Er war einer der Ersten, wenn nicht der Erste, der in eine Sprache, welche nicht einmal die seinige war, Deutlichkeit, Wohlklang, Annehmlichkeit und Energie brachte. Die Teutschen haben ihm den Titel des neuern Plato zuerkannt; man bestimmt ihm ein öffentliches Denkmal in dem Vaterlande, welche seine Verdienst, anstatt der Gesetze, ihm erworben haben. Merkwürdiger noch durch seinen Charakter als durch seine Talente, hatte er einfluss auf seine Nation, und vielleicht in einem gewissen Grade auf das Land, in welchem das Schicksal ihn angesetzt hatte; duch das Uebergewicht einer tiefforschenden Vernunft und eines so unbefleckten Wandels, dass Bigottismus und Verleumdung ihn auch nicht einmal haben beschmutzen können, dieser Mann […]. Dieser philosophische Jude verdient einige Aufmerksamkeit.1

Mirabeau (1749–1791) selbst hat über Lavater einen ironischen, sarkastischen kleinen Text veröffentlicht: Ce Lavater, doué sous les glaces du nord des plus bouillantes extases du midi, composé bizarre d’instruction et d’ignorance, de supersitition et de piété, d’esprit et de démence, dévot

1 Riquetti, Honoré Gabriel de, Comte de Mirabeau, Sur Moses Mendelssohn, sur la réforme politique des Juifs: et en particulier Sur la révolution tentée en leur faveur en 1753, dans la grande Bretagne, Londres 1787, deutsche Fassung, Berlin 1787 in Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften Jubiläumsausgabe (Jub.A), 23, 78 (Dokumente II), Stuttgart/Bad Cannstatt 1998. Diese vorzügliche Ausgabe wurde 1929 angefangen und wird erst wohl 2021 zu Ende geführt. Über das geplante Denkmal, Jub.A. 22, 201–219.

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Dominique Bourel

et magicien, galant et rigoriste, voluptueux et mystique, intriguant et studieux, ce Lavater, auteur à 36 ans de 80 volumes est peut-être un des plus singuliers personages de ce siècle.2

Zunächst folgen hierbei ein paar Eckdaten Mendelssohns.3 Geboren wurde er in Dessau 1729 oder 1728 als Sohn eines Toraschreibers jüdischer Herkunft und starb 1786 in Berlin. Ab 1743 lebt er in Berlin und es beginnt ein reges schriftstellerisches Wirken, bei dem er als Philosoph4, wie zum Beispiel in den Philosophischen Gesprächen und Briefen über die Empfindungen, und als Literaturkritiker (Briefe die neueste Literatur betreffend, Allgemeine deutsche Bibliothek, Deutsches Museum, Berlinische Monatsschrift) tätig ist. Er übersetzt Rousseaus Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründe (1756). 1758 beteiligt er sich an der hebräischen Zeitschrift Kohelet Mussar und veröffentlicht 1761 die Philosophischen Schriften und Biur Millot Ha-Higgajon (Kommentar zu der Logik Maimonides). 1763 gewinnt er den ersten Preis der philosophischen Klasse der Königlichen Akademie zu Berlin mit seiner Abhandlung über die Evidenz in metaphyischen Wissenschaften; Kant erhielt den zweiten Platz. 1767 wurde Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele eine Standartlektüre der Aufklärung. Ab 1769 findet die Auseinandersetzung mit Lavater statt. 1778 beginnt die deutsche Übersetzung der Bibel (mit hebräischen Buchstaben und hebräischem Kommentar5) bis 1783. Jerusalem, oder über die religiöse Macht des Judentums (1783) ist die Magna Charta des modernen Judentums. Die Morgenstunden, oder Vorlesungen uber das Daseyn Gottes erschienen 1785. [Sie sind das] letzte Vermächtniss einer dogmatisirenden Metaphysik zugleich als das vollkommste ‚Produkt derselben sowohl in Ansehung des kettenförmigen Zusammenhanges, als auch der ausnehmenden Deutlichkeit in Darstellung […]. ein nie von seinem Werthe verlierendes Denkmal der Scharfsinnigkeit eines Mannes, der die ganze Stärke einer Erkenntnisart, der sich annimt, kennt und sie in seiner Gewalt hat.6

Das Ende seines Lebens wurde mit dem gegen Friedrich Heinrich Jacobi (1743– 1819) geführten Pantheismusstreit verdunkelt. Es ging um Lessings angeblichen Spinozismus, aber im Grunde genommen wurde eher der Konflikt zwischen der Schwärmerei, der man eher abgeneigt war, und der Aufklärung, die im Vorder2

Riquetti, Honoré Gabriel de, Comte de Mirabeau, Lettre à +++ sur Cagliostro et Lavater, Berlin 1786, ND Charles Porset, La Rochelle, Rumeur des Ages 1996. 3 Die Standardbiographie ist nach wie vor die von Altmann, Alexander, Moses Mendelssohn, A Biographical Study, Alabama London 1973. 4 Letzter Stand der Diskussion : Die Philosophie von Moses Mendelssohn, Kant-Studien, 109 (2018) H. 2, 249–351. 5 Breuer, Edward u. a., Moses Mendelssohn’s Hebrew Writings, übersetzt von Eduard Breuer, New Haven 2018. 6 Immanuel Kant an Christian Gottfried Schütz, Ende November 1785, in: Kant, Immanuel, Briefwechsel, Auswahl und Anmerkungen von Otto Schöndorffer, Hamburg 1972, 281.

Johann Caspar Lavater und Moses Mendelssohn

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grund stand, behandelt. Kurz vor seinem Tod schrieb er noch an Kant: „Ueber­ haupt ist diese Schrift des Hern Jacobi ein seltenes Gemische, eine fast monströse Geburt, der Kopf von Göthe, der Leib Spinoza, u. die Füsse Lavater.“7 In der betrüblichen Lavater-Affäre, auf die wir heute dank der Veröffentlichung von Dokumenten aus verschiedenen schweizerischen Archiven einen neuen Blick werfen können, darf man den Kontext der pietistischen Theologie im damaligen Deutschland nicht aus den Augen verlieren. Diese Tatsachen sind heute bekannter: die jüdische Theologie der Pietisten (Spener und Francke), die Chiliasten-Literatur und ihr Denken, besonders in Württemberg, und die apokatastasis panton (Wiederbringung aller Dinge). Lavater, „der Fénelon des Deutschen“, war damals einer der berühmtesten Männer seiner Zeit.8 Die Fakten sind in jeder Mendelssohn-Biographie nachzulesen:9 1762 gerät Lavater durch die Veröffentlichung eines Flugblatts gegen die Amtswillkür eines Landvogts in eine aufsehenerregende Auseinandersetzung mit der Zürcher Oligarchie, und zwar mit dem Landvogt Felix Grubel, Schwiegersohn des regierenden Bürgermeisters. Er sieht sich gezwungen, rasch zu einer Bildungsreise nach Deutschland aufzubrechen, auf die ihn 1763 zwei Freunde, der Maler Johann Heinrich Füssli und der Theologe Felix Hess, begleiten.10 Er besucht Johann Joachim Spalding (1714–1804), damals noch ein junger pommerscher Pfarrer in Barth. Wir wissen, dass er dann Oberkonsistorialrat in Berlin wurde und eine lange Zeit eine zentrale Figur im geistigen Leben der Hauptstadt spielte. Erst heute wird er mit einer modernen wissenschaftlichen Edition gewürdigt!11 Auf seiner Reise vom 8. März 1763 bis zum 26. März 1764 begibt sich Lavater zweimal nach Berlin (27. März bis 29. April 1763 und 29. Januar bis 1. März 1764). Dort hat er wichtige Akteure der Aufklärung kennengelernt oder Beziehungen vertieft: August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786; Domprediger), Samuel Dietrich (1721–1791; Marienkirche), Martin Crugot (1725–1790; Hofprediger), aber auch den Philosophen Johann Heinrich Lambert (1728–1777), den Dichter Karl Wilhelm Ramler (1725–1798), den berühmten Verleger Friedrich Nicolai (1733–1811) und verschiedene Mitglieder der königlichen Akademie der Wissenschaften, wie Johann Georg Sulzer (1720–1779).12 Während des ersten Aufenthalts ist er mehrfach bei Mendelssohn zu Besuch, wie er in seinem Tagebuch am 7. April 1763 schreibt:   7 Mendelssohn, Moses an Immanuel Kant, 16.10.1785, Jub.A. 13, 312f.   8 Weigelt, Horst/Pestalozzi, Karl (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, (AGP 31), Göttingen 1994 und die vorzüglichen Ausgewählten Werke Lavaters in historisch-kritischer Ausgabe, hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler u. a., Zürich 2001–2018 [im Folgenden JCLW].   9 Jurewicz, Grazyna, Moses Mendelssohn über die Bestimmung des Menschen, Eine deutsch-jüdische Begriffsgeschichte, Hannover 2018. 10 Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebücher, hg. v. Horst Weigelt, 2 Teile, Göttingen 1997. 11 Spalding, Johann Joachim, Schriften und Predigten. Kritische Ausgabe, hg. v. Albrecht Beutel, 6 Bde., Tübingen 2001–2006 und 2008–2013. Lebensbeschreibung, in: Kritische Ausgabe 6/2, hg. v. Albrecht Beutel/Tobias Jersak, Tübingen 2002. 12 Décultot, Elisabeth u. a. (Hg.), Johann Georg Sulzer, Aufklärung im Umbruch, Berlin 2018.

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Wir gingen etwa um 6 Uhr zu Jud Moses, dem Verfasser der philosophischen Gespräche13 und Briefe über die Empfindungen.14 Wir trafen ihn in dem Comtoir mit Seiden beschäftigt an. Ein leütselige, leüchtende Seele im durchdringenden Auge und einer äsopischen Hütte. Schnell in der Aussprache, doch plötzlich durch ein Band der Natur im Laufe gehemmt. Ein Man von scharfen Einsichten, feinem Geschmak und ausgebreiteter Wissenschaft. Ein grosser Verehrer denkender Genies und selbst ein metafysischer Kopf. Ein unpartheyischer Beurtheiler der Werke des Geistes und Geschmaks, vertraulich und offenherzig im Umgange ; bescheidener in seinen Reden als in seiner Litteratur und beym Lobe unverändert, ungezwungen in seinen Gebehrden, entfernt von ruhmbegierigen Kunstgriffen niederträchtiger Seelen, freygebig und dienstfertig. Ein Bruder seiner Brüder, der Juden, gefällig und ehrerbietig gegen sie, auch von ihnen geliebt und geehrt.15

Er ist überrascht, dass Mendelssohn so viel Zeit in seinem Büro verbringen muss – für 300 Reichstaler jährlich. Ab 1754 arbeitete Mendelssohn als Buchhalter und dann (1761) als Prokurist im zweitgrößten jüdischen Großunternehmen in der Seidenherstellung von Isaak Bernhard. Als Letzterer starb, wurde er Leiter der Firma.16 „Er muss die meiste Zeit in dem Comtoir zubringen und hat wenige Musse, seinem Geist eine würdige Ausbreitung zu geben.“17 Das Gespräch drehte sich um Lessing und den englischen Pantomimen David Garrik. Das Reisetagebuch fügt hinzu: „Er erzehlte uns ferner, wie widersinnig der gute Geschmak in den Schönen Wissenschaften den jungen Leüten in Berlin beygebracht werde. Sie lernen Oden critisieren, wenn sie gleich weder die Sprache verstehen, noch eine Zeile recht schreiben können.“18 In Berlin zu Besuch bei Pastor Dietrich am Sonntag, den 26. Februar 1764, notierte Lavater: Über dem Essen kamen wir auf Jud Moses zu sprechen. Er soll ein sehr strenger Beobachter der kirchlichen Gebrauche seiner Nation seyn und, ungachtet er eben in der Wochen nicht viel ihm eigne Zeit zum Studiren übrig hat, am Sabbat auch einmal nicht ein Buch lesen, weil er immer die Feder dabey in der Hand zu haben gewohnt sey, welches im Thalmud verboten ist. Die Gesetze, soll er einmal gesagt haben, seyen mit grosser Weisheit zum Bessten des gemeinen Volkes gemacht, und er würde sich ein Gewissen daraus machen,

13 Mendelssohn, Moses, Philosophische Gespräche, 1755, letzte Studienausgabe, in: Ausgewählte Werke (AW), hg. v. Christoph Schulte/Andeas Kennecke/Grazyna Jurewicz, Bd. 1, Darmstadt 2009, 9–39. 14 Ebd., Briefe über die Empfindungen, 1755, Bd. 1, 41–96. 15 Lavater, Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, hg. v. Horst Weigelt, Göttingen 1997, 38f. Die Jub.A., 7 (1930/1974), hg. v. Simon Rawidowicz, gibt die Mehrheit der wichtigen Belege wider. Siehe auch AW, Bd. 2, 7–55. 16 Engel, Eva J., Moses Mendelssohns Geschäftspapiere, Kommentierte Edition, Wiesbaden 2009. 17 Lavater, Tagebuch, 39. 18 Lavater, Tagebuch, 39.

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jemand durch sein Exempel zu zeigen, dass er nicht Hochachtung für dieselbigen hätte. Er soll zu seinem delassement Neütons Principia19 gelesen haben.20

Nach seiner Rückkehr nach Zürich hören wir nichts über das Gespräch. Im September 1769 sendet ihm Lavater die Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum von Charles Bonnet (1720–1793) zu, die er selbst übersetzt hatte. Schon bei der Lektüre von Bonnets Contemplation de la nature schreibt Lavater am 10. Dezember 1765 an Johann Georg Zimmermann: „Gott welche Seele, welch Genie, welch ein Herz ! Das ist ein Mann für mich. Doch er war es schon lange. Sein Buch ist izt meine Bibel – es macht mir aber die Bibel noch schätzbarer.“21 Bonnet gab auch die Anregung zu Lavaters Aussichten in die Ewigkeit. In dem ersten Band der Aussichten, der vor der Polemik erscheint und mit einer Lobrede auf den Phädon eröffnet wird, liest man: Freylich glaube und erwarte ich die Bekehrung der gesamten jüdischen Nation zum Christenthum. Freylich glaube ich, diese Bekehrung werde mit dem tausendjährigen Reiche Christi in einer sehr genauen Verbindung stehen. Aber das ist mir sonnenklar, dass in der apokalyptischen Stelle durch die erste Auferstehung die Judenbekehrung nicht verstanden werden kann.22

In dem vierten, fast zehn Jahr später publizierten Band von 1778 bekräftigt er seine Erwartung einer Bekehrung wenigstens eines bestimmten Teils der Juden. Diese Bekehrung bedeutet jedoch nicht den Wechsel zu einer anderen, gegenwärtig existierenden Konfession; es gilt nicht, den „ Christus der itzt lebenden Theologen und Christen“ als Messias anzuerkennen, sondern den „Messias der Schrift […] in der Person Christus“.23 Und noch vor der Polemik schrieb er 1768: „Es ist wirklich alles Nachforschens werth, ob nicht die Lehre von einer ersten Auferstehung der Gläubigen, und einem damit verbundenen zukünftigen Reiche unseres Erlösers auf dieser Welt, welches mit der Wiederherstellung des jüdischen Staates angefangen, und bis zu dem allgemeinen Weltgericht währen soll, ihren guten Grund in den heiligen Schriften habe.“24 Kurz zu Charles Bonnet: 1720 geboren, lebte er in Genf und dann in Genthod am Ufer des Genfersees. Er war Naturforscher, Biologe, Philosoph und Mitglied verschiedener Akademien und stand in Briefkontakt mit Reaumur, Fontenelle und

19 Newton, Isaac, Philosophiae naturalis principia mathematica, London 1687. 20 Mendelssohn, Reisetagebücher, Tagebuch von der Fremde, 799. 21 JCLW II: Aussichten in die Ewigkeit 1768–1773/78, hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001, 18, Anm. 65. 22 Ebd., 108. 23 Ebd., 624. 24 Ebd., 109.

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Jussieu.25 Sein Essai analytique sur les facultés de l’âme (1760), der in Berlin viel gelesen wurde, wie auch seine Contemplation de la nature (1764) und die Palingénésie philosophique (1769), machten ihn zu einem Gelehrten, der hohe Achtung genoss und das nicht nur in Genf, wobei seine Arbeit jedoch bald durch seine Erblindung behindert wurde. Die Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum, deren Übersetzung den Anlass für die Debatte mit Mendelssohn bietet, bildet den zweiten Band der Palingénésie; dort entwickelt er seine aus der Präexistenz der Keime abgeleitete Theorie, wie er sie in den Considérations sur les corps organisés (1762) zuerst vorgestellt hatte. Hier nun der Text des Zueignungsschreibens, unterschrieben am 25. August 1769, nur in den nach Deutschland ausgelieferten Exemplaren enthalten:26 Ich weiss die Hochachtung, die mir Ihre fürtreflichen Schriften und Ihr noch fürtreflicher Charackter, eines Israeliten, in welchem kein Falsch ist, gegen Sie eingeflösst haben, nicht besser auszudrucken, und das Vergnügen, das ich vor enigen Jahren in Ihrem liebenswürdigen Umgange genossen, nicht besser zu vergelten, als wenn ich Ihnen die beste philosophische Untersuchung der Beweis für das Christenthum, die mir bekannt ist zu eigen.27

Da die Widmung so wie Zündstoff wirkte, sollte man sie ausführlich und komplett zitieren: Ich kenne Ihre tiefen Einsichten, Ihre standhafte Wahrheitsliebe, Ihre unbestechliche Unpartheylichkeit, Ihre zärtliche Achtung für Philosophie überhaupt, und die Bonnetschen Schriften besonders : Und unvergesslich ist mir jene sanfte Bescheidenheit, mit welcher Sie, bey aller Entferntheit von dem Christenthum, dasselbe beurtheilen; und die philosophische Achtung, die Sie in einer der glücklichsten Stunden meines Lebens über den moralischen Charakter seines Stifters bezeugt haben.28

Und dann fatal: So unvergesslich und dabey so wichtig, dass ich es wagen darf, sie zu bitten, Sie vor dem Gotte der Wahrheit, Ihrem und meinem Schöpfer und Vater zu bitten und zu beschwören: Nicht diese Schrift mit philosophischer Unpartheylichkeit zu lesen; denn das werden Sie gewiss, ohne mein Bitten, sonst thun: Sondern, dieselbe öffentlich zu widerlegen, wofern Sie die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finden: Dafern Sie aber dieselben richtig finden, zu thun, was Klugheit,

25 Savioz, Raymond, La philosophie de Charles Bonnet de Genève, Paris 1948 und seine Ausgabe, Mémoires autobiograhiques de Charles Bonnet de Genève, Paris 1948. Ferner Marx, Jacques, Charles Bonnet contre les Lumières 1738–1850, Oxford 1976. 26 Mendelssohn, Jub.A. 7, 3. Mit seiner sehr weitreichenden Einleitung von Hirzel, Martin Ernst, in: AW, Bd. 3, 120–225. 27 Mendelssohn, Jub.A. 7, 3. 28 Ebd.

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Wahrheitsliebe, Redlichkeit Sie thun heissen; – was Socrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte. Gott lasse noch viel Wahrheit und Tugend durch Sie ausgebreitet werden; lasse Sie alle das Guthe erfahren, das Ihnen mein ganzes Herz anwünscht.29

Die Anspielung auf Sokrates war keine schlechte Idee, weil 1769 die dritte Auflage des Mendelssohnschen Phädon als einer der Bestseller der Aufklärung erschienen war und vor dem Ende des Jahrhunderts in nicht weniger als zehn Sprachen übersetzt wurde.30 Am 4. September schrieb Lavater an Mendelssohn: Ich bitte nicht um Vergebung, mein werthester Herr Moses, dass ich Ihnen beyliegende Schrift zueigne. Wie sollte ich um Vergebung bitten, dass ich Sie hochachte, dass ich Sie liebe? dass ich das, was mich die wichtigste Wahrheit zu seyn dünkt, von Ihnen geglaubt oder beurtheilet wünsche?31

Noch vor Ausbruch der Kontroverse äußerte sich Spalding über den Text Bonnets und die Übersetzung sehr zufrieden: was für ein Unterschied, welcher Kontrast bestehe doch zwischen einem Bonnet und seinem Voltaire; als Philosoph betrachtet, hatte Voltaire Bonnet attackiert, wie Spalding am 8. September 1769 an Lavater schreibt. Sehr schnell reagierte Bonnet am 26. September: Sie können sich wohl vorstellen, mein lieber Freund, in welche Verlegenheit eine solche Widmung den Sohn Abrahams gestürzt hat. Wenn Sie uns vor dem Druck über Ihre Widmung benachtrichtigt hätten, hätten wir Sie aufmerksam gemacht, dass es uns nicht passend scheint, einem Juden ein Buch zu widmen, das einzig für die Ungläubigen im Schosse der Kirche geschrieben wurde. Wir hätten Ihnen überdies gesagt, dass Sie etwas zuviel Druck auf diesen schätzenswerten Juden ausgeübt haben und dass man ihn nicht zu einem Streit herausfordern sollte, so wie der Verfasser (Bonnet) nie die Ungläubigen zu einen Streit herausgefordert hat; dass Sie diesen armen Juden vor die missliche Wahl gestellt haben, das Buch abzulehnen oder sich zu bekennen ; dass Sie ihm ferner Unannehmlichkeiten gegenüber seinen Glaubensbrüdern bereitet haben, als Sie seine Wertschätung für den Gründer (J.von N.) offenbarten.32

29 Ebd. 30 Pollock, Anne, Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele, Hamburg 2013 (Philosophische Bibliothek 595). Über die viel kommentierte Auseinandersetzung, Jurewicz, Grazyna, 99–120. 31 Mendelssohn, Jub.A. 7, 297. 32 Bonnet und Bennelle an Lavater, Genthod, 26.09.1769, in: Luginbühl-Weber, Gisela (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle. Briefe 1768–1790, 2 Bde., Bern 1997, hier Bd. 1, 39f., eigene Übersetzung.

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Am 24. Oktober präzisierte er: Doch Sie werden uns verzeihen, wenn wir widerholen, dass wir gewünscht hätten, Ihre Widmung wäre anders ausgefallen. Unser Standpunkt ist mit dem Ihren im wesentlichen gleich, doch betrachten wir den Gegenstand nicht genauso wie Sie. Es will uns stets scheinen, dass man diesen ausgezeichneten Juden nicht vor eine solche Wahl stellen dürfe. Sie wollten ihm eine Arznei verabreichen; man dürfte ihm nicht ankündigen, dass es sich um eine Arznei handelte usw. Möge es dem Gott Israels gefallen, daß diese dreißig gelehrten Juden ihre Augen dem Licht seines Sohnes öffnen! Der Palingenesist wäre der letzte, der sich schmeilchen würde, seine schwachen Bemühungen hätten dazu betragen: doch sein Herz wünscht es leidenschaftlich. Die Bekehrung des berühmten Moses und dieser dreissig Kinder Abrahams wäre eine bemerkenswerte Epoche in der Geschichte des Christenthums und vielleicht das Vorspiel jener allgemeinen Konversion, die schon so lange von den Propheten und von dem grossen Apostel der Heiden verkündigt wurde. Verdoppeln wir unserer Wünsche und unsere Gebete an den Gott aller Völker, dass jenes Ereignis rascher eintreten möge, das der Triumph der Wahrheit und die Verzweiflung des Ungläubigen wäre.33

Wie man sieht, besteht in der eigentlichen Frage, der künftigen Bekehrung der Juden, nicht der geringste Dissens. Mendelssohns Antwort war genauso direkt wie die Frage: Sein Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater, datiert auf den 12. Dezember: Sie haben für gut befunden, des Herrn Bonnets Untersuchung der Beweise für das Christenthum, die Sie aus dem Französischen übersetzt, mir zuzueignen, und in der Zuschrift mich vor den Augen des Publikums auf die allerfeyerlichste Weise zu beschwören: ‚diese Schrift zu widerlegen, wofern ich die wesentlichen Argumentationen, womit die That­ sachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finde; Dafern ich aber dieselbe richtig finde, zu thun, was Klugheit, Wahrheitsliebe und Redlichkeit mich thun heissen, – was ein Sokrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte‘, d. i. die Religion meiner Väter zu verlassen, und mich zu derjenigen zu bekennen, die Hr. B. vertheidiget. […]. Ich bin völlig überzeugt, dass Ihre Handlungen aus einer reinen Quelle fliessen, und kann Ihnen keine andere, als liebreiche, menschenfreundliche Absichten, zuschreiben. Ich würde keines rechtschaffenen Mannes Achtung würdig seyn, wenn ich die freudschaftliche Zueignung, die Sie mir in ihrer Zuschrift zu erkennen geben, nicht mit dankbarem Herzen erwiederte. Aber läugnen kann ich es nicht, dieser Schritt von Ihrer Seite hat mich ausserordentlich befremdet. Ich hätte alles eher erwartet, als von einem Lavater eine öffentliche Aufforderung. Da Sie sich der vertraulichen Unterredung noch erinnern, die ich das Vergnügen gehabt, mit Ihnen und Ihren würdigen Freunden auf meiner Stube zu halten; so können sie unmöglich vergessen

33 Bonnet und Bennelle an Lavater, Genthod, 24.10.1769, in: Luginbühl-Weber (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle, 42f., eigene Übersetzung.

Johann Caspar Lavater und Moses Mendelssohn

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haben, wie oft ich das Gespräch von Religionssachen ab, und auf gleichgültigere Materien zu lenken gesucht habe ; wie sehr Sie und Ihre Freunde in mich dringen mussten, bevor ich es wagte, in einer Angelegenheit die dem Herzen so wichtig ist, meine Gesinnung zu äussern. Wenn ich nicht irre, so sind Versicherungen vorhergegangen, daß von den Worten, die bey der Gelegenheit vorfallen würden, niemals öffentlich Gebrauch gebracht werden sollte. – Jedoch, ich will mich lieber irren, als Ihnen eine Übertretung dieses Versprechens Schuld geben.34 

Schon vor Jerusalem (1783) liefert Mendelssohn dann hier zwar noch nicht seine Theorie des Judentums, bekennt aber seine vorbehaltlose Zustimmung zum Glauben seiner Väter und zur jüdischen Religion: „Ich darf sagen, dass ich meine Religion nicht erst seit gestern zu untersuchen angefangen [habe]“,35 und fährt fort: Wäre ich gegen beide Religionen gleichgültig, oder verlachte oder verachte in meinem Sinne alle Offenbarung: so wüste ich gar wohl, was die Klugheit räth, wenn das Gewissen schweiget. Was könnte mich abhalten? – Furcht für meine Glaubensgenossen? – Ihre weltliche Macht ist allzu geringe, als dass sie mir fürchterlich seyn könnte. Eigensinn? Trägheit? Anhänglichkeit an gewohnte Begriffe? Da ich den grössten Theil meines Lebens der Untersuchung gewiedmet; so wird man mir Ueberlegung genug zutrauen, solchen Schwachheiten nicht die Früchte meiner Untersuchungen aufzuopfern.36

Sodann erinnert er an seine Abneigung gegen Religionsstreitigkeiten und tadelt Lavater, weil er eine private Unterhaltung öffentlicht gemacht habe. Der Respekt vor dem moralischen Charakter Jesu, den Mendelssohn bei dieser Gelegenheit geäußert hatte, war der jüdischen Tradition keinesweg fremd, wie die zu Lebzeiten Moses Mendelssohns entstandenen Schriften des Rabbiners Jacob Emden belegen. Es folgt dann eine erste Darstellung eines Teils seiner Theorie des Judentums: Nach den Grundsätzen meiner Religion soll ich niemand, der nicht nach unserm Gesetze gebohren ist, zu bekehren suchen. Dieser Geist der Bekehrung, dessen Ursprung einige so gern der jüdischen Religion aufbürden möchten, ist derselben gleichwohl schnurstrakks zuwider. Alle unsere Rabbinen lehren einmüthig, dass die schriftlichen und mündlichen Gesetze, in welchen unsere geoffenbarte Religion bestehet, nur für unsere Nation verbindlich seyen. Mose hat uns das Gesetz geboten, es ist ein Erbtheil der Gemeinde Jacob.37

34 Mendelssohn, Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich von Moses Mendelssohn, Berlin/Stettin 1770, Jub.A. 7, 7–17, hier 7f. Die französischen Texten sind in Mémoires autobiographiques, 254–289, zu lesen. 35 Mendelssohn, Jub.A. 7, 8. 36 Ebd., 7, 9. 37 Ebd., 10f.

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Es folgen dann plötzlich ein paar Zitate aus der jüdischen Tradition (Talmud, Maimoinides, Zohar, Kuzari, die noachidische Tradition etc.), die ein guter Teil des Publikums zum ersten Mal las!38 Am 24. Dezember schickte Mendelssohn Lavater als Weihnachtsgeschenk Folgendes: [E]ine Art von Antwort auf Ihre Aufforderung. Sie werden sehen, dass ich derselben nicht völlig Gnüge leiste, denn annehmen kan ich nicht, und widerlegen möchte ich nicht gerne, und diese Alternative haben sie mir vorgeschrieben. In dessen (einliegende Bogen) zeige ich doch die Gründe an, warum ich mich weigern muss, das letzte zu thun, und einem Weisen, wie Sie, muss dieses genug seyn, die Uebereilung des ersten Schrittes zurück zu nehmen. Soweit ich in dessen in Absicht auf die Glaubenswahrheiten von Ihnen entfernt bin, und so unmöglich es scheinet, dass wir in Religionssachen jemals einstimmen werden ; so hat diese Disharmonie gleichwohl nicht den geringsten Einfluss auf meine Gesinnungen, und ich verehre nichts destoweniger Ihre vortreflichen Talente, und Ihr noch vortreflicheres Herz.39 

Gleich dazu schrieb Lavater an Mendelssohn am 26. Dezember: Verehrungswürdiger Herr. Diesen Namen geb’ ich Ihnen mit vieler Überzeugung. Die redlichste Absicht hat mich gezwungen, Ihnen Bonnets Untersuchung zuzueignen. Bonnet selbst (der sich Ihnen sehr empfehlen lässt) meynt, ich sey indiscret gegen sie gewesen; Freunde aus Berlin meynen es auch. Wenn Sie es auch so ansehen, so dürfen Sie nur sagen, nur einen Wink mir oder einem meiner Freunde geben, ob und wie ich diese Indiscretion, die doch wahrlich im Grunde das nicht seyn sollte, wieder gut machen solle. Ich werde zufrieden seyn, wenn Sie die Sache sonst ihrer Untersuchung würdigen werden. Vergeben Sie mir – was ? daß ich Sie liebe, – hochschätze – Ihr Glük in der gegenwärtigen und zukünftigen Welt innigst wünsche; vergeben Sie mir, wenn ich den unrechten Weg eingeschlagen habe, Ihnen dieses zu bezeugen.40 

Zu Beginn des Jahres 1770 tadelt Bonnet Lavater: Ich habe Ihnen niemals ganz frei heraus gesagt, welche Überraschung und welchen Kummer mir diese Zueignung an den schätzenswerten Moses bereitet hat. Wie konnte man in Zürich auch einen Kopf finden, der Ihnen dazu gerathen hat? Konnte man auf diese Weise einen gebildeten Juden Geschmack an der Wahrheit finden lassen?41

38 Jacobs, Robert A., A jewish Reading of Moses Mendelssohn’s Response to Lavater, in: Albrecht, Michael/ Engel, Eva J. (Hg.), Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung, Stuttgart/ Bad Cannstatt 2000, 89–100 und in: Gottlieb, Michah/Manekin, Charles (Hg.), Moses Mendelssohn, Enlightenment, Religion, Politics, Nationalism, Bethesada 2015. 39 Mendelssohn, Jub.A., 7, 297f. 40 Lavater in Mendelssohn, Jub.A., 7, 298f. 41 Bonnet und Bennelle an Lavater, Genthod, 12.01.1770, in: Luginbühl-Weber (Hg.), Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle, 71f., eigene Übersetzung.

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Am 12. Januar 1770 entschuldigte sich Bonnet, der übrigens kein Deutsch las: „Si Monsieur Lavater avoit bien, voulu, Monsieur, me communiquer l’étrange Idée de sa Dédicace, j’aurois fait les plus grands efforts pour l’en détourner.“42 Aber trotzdem möchte er gern erfahren, was Mendelssohn über die Palingénésie denkt.43 Am 9. Februar 1770 schrieb Mendelssohn an Lavater: Daß wir in Absicht auf die geoffenbarte Religion so wenig übereinstimmend denken, konnte Ihrer Erwartung auch nicht sehr zuwider seyn, und giebt wenigstens keinem von uns gerechte Ursache ungehalten zu seyn. […] Hätte ich es vorher gewusst, daß der würdige Palingenesist Ihre Aufforderung nicht gutheisst, und daß er seine Recherches gar nicht in der Absicht geschrieben, andere Religionen, am wenigsten die jüdische zu widerlegen; so würde ich (ich gestehe es, und bin bereit es bey der ersten Gelegenheit öffentlich zu erklären) gewisse Stellen in meinem Schreiben, die diesen vortreflichen Schrifsteller angehen, anders abgefasst haben.44

Am selben Tag schrieb Mendelssohn einen langen Brief an Bonnet:45 „Es ist seltsam, dass drey gute Menschen, die sich einander aufrichtig wohlwollen mit dem besten Willen von der Welt, sich einander wechselsweise Verdruss machen müssen“. Danach möchte Mendelssohn deutlich werden:  Die wenige Punkte, die uns etwa noch trennen, können, der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts unbeschadet, noch Jahrhunderte unerörtet bleiben. Noch sind die Wahrheiten, die wir gemeinschaftlich erkennen, nicht ausgebreitet genug, dass wir der guten Sache von der Erörterung dieser streitigen Punkte großen Nutzen versprechen könnten.46

Die Diskussion geht weiter über die Wunder, über Leibniz und seine Schule in Deutschland und auch über andere Religionen, von Muhamad und von Confucius. Er deutet aber einen kleinen Hinweis darauf aus seiner Theorie des Judentums an, die er in Jerusalem darstellen wird: Mit der Sendung Moses hat es eine andere Bewandnis. Diese gründet sich nicht blos auf Wunderwerke, denn ich wiederhole es, Wunderwerke sind trüglich, und von Moses selbst als trüglich angegeben worden. Sie beruhet vielmehr auf einem weit sichern Grund. Die gesamte Nation selbst, an welche die Sendung gerichtet war, hat die große Göttliche Erscheinung mit Augen gesehen, und mit ihren Ohren gehöret, wie Gott Moses zu seinem Gesandten und Dolmetscher eingesetzt hat. Die Israeliten waren also sämtlich Augen und Ohren-

42 43 44 45 46

Bonnet in Mendelssohn, Jub.A., 7, 305. Ebd., 7, 305–310. Mendelssohn, Jub.A., 7, 315f. Ebd., 316–326. Ebd., 7, 317.

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zeugen von dem göttlichen Berufe dieses Propheten, und sie bedurften weder eines fernern Zeugnisses noch Beweises.47

Die gedruckte Antwort48 Lavaters, datiert auf den 14. Februar 1770, beginnt gleich direkt: Ich hatte mir die Freyheit genommen, Sie öffentlich aufzufordern, Herr Bonnet’s Untersuchung der Beweise fur das Christenthum entweder zu widerlegen, oder zu thun, was ein Sokrates gethan haben würde, wenn er das Wesentliche dieser Untersuchung unwiderleglich gefunden hätte. Ich will es Ihnen nicht verhehlen, dieser Schritt, der Sie so sehr befremdet, ist beynahe allen meinen Freunden, und insonderheit den auswärtigen, vornehmlich aber dem Herrn Bonnet, übereilt vorgekommen. Dieser letztere mißbilligte ihn sehr; aber es war zu spät. Die dringende Nähe der Messe machte es mir unmöglich, mich mit meinen auswärtigen Freunden hierüber zu berathschlagen.49

Aber Lavater fügt hinzu: Ich konnte freylich das Geschehene darum noch nicht ganz bereuen, und glaube auch jetzo, nach dem Empfange Ihres Schreibens, und nach den so ungleichen Urtheilen des Publikums, noch nicht Ursache zu haben, es ohne Beding zu bereuen. Ich fange aber an, einzusehen, dass ich meine Absicht auf einem anderen Wege vielleicht glücklicher erreicht, und ihnen zugleich diese Verlegenheit erspart haben könnte. Meine Absicht war nicht, Ihnen ein Glaubensbekenntniß abzunöthigen. – Sie gieng nur dahin, der mir so angelegenen Sache des Christenthums, die ich vom Herrn Bonnet sehr wohl vertheidigt glaubte, einen meiner Meynung, nach weit wichtigern Dienst, als die Uebersetzung dieser Schrift war, zu erweisen, indem ich Sie zu bereden hoffte, eine Untersuchung derselben vorzunehmen: Eine Untersuchung, von der ich zum voraus glaubte, sie müsste viel dazu beytragen, die Wahrheit, oder das, was ich nach meiner Ueberzeugung für Wahheit hielt, in das helleste Licht zu setzen.50

Auch hier sollte man die Texte sehr genau lesen: „Ich nehme also meine unbedingte Aufforderung, als eine Sache, zu welcher ich nicht hinlänglich berechtiget war, zurück, und bitte Sie vor dem ganzen Publikum aufrichtig: Verzeihen Sie mir das Allzudringende, das Fehlerhafte in meiner Zuschrift.“51 Aber ein paar Seiten später fügt er hinzu: „Ich lege die Hand auf den Mund – Möchte ich so glücklich seyn, die philosophischen Gründe zu wissen, auf welche Sie die Göttlichkeit der

47 Ebd., 7, 324. 48 Lavater, Johann Caspar, Antwort an den Herrn Moses Mendelssohn zu Berlin, Nebst einer Nacherinnerung von Moses Mendelssohn, Berlin/Stettin 1770, in: Jub.A.7, 23–55. 49 Lavater in Mendelssohn, Jub.A., 7, 27. 50 Ebd., 7, 27f. 51 Ebd., 7, 29.

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jüdischen Religion stützen!“52 Wir sparen uns die ganze Diskussion über Bonnet und die Darstellung von Lavaters Theologie, wo er seinen Wunsch wiederholt: „Wollte Gott, dass Sie ein Christ wären.“53 Am 10. März 1770 schloss Mendelssohn das Kapitel: „Das kleine Vorspiel ist geendiget und der Vorhang herabgelassen. Kommen Sie, wir wollen uns in Gedanken umarmen! Sie sind ein christl. Prediger, ich ein jüdischer Buchhalter.“54 Anscheind will Lavater weiter mit Mendelssohn in Kontakt bleiben: „Als Philosoph dürften Sie also wol auch etwas gutes von Jesu sagen, der doch ein Jude wäre, und also noch als ein Miterb an der gemeine Jacobs in einer nähern Relation mit Ihnen stühnde.“55 Wir besitzen auch Mendelssohns Nacherinnerung56 vom 6. April 1770, wo er nochmals mit Bonnet und Lavater über die Auffassung Mendelssohns diskutiert. Es muss auch gesagt werden, dass Mendelssohn Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesie verfasste, die er damals nicht veröffentlichte.57 Die konnte man erst im 19. Jahrhundert in einer fremden Transkription lesen. Die beste und originalgetreueste wurde also erst 1930 veröffentlicht und beinhaltet die Position Mendelssohns, was das Christentum angeht. Jetzt wird die Polemik ein Teil des Berliner Geisteslebens mit Einmischung von Lüdke, Spalding, Nicolai und anderen. Hinzu kommt, dass Bonnet gern direkt von Mendelssohn erfahren hätte, was er über seine Theorien denkt! Diese Aufforderung wurde nicht nur in Berlin, sondern auch im Ausland diskutiert und noch nach dem Tode Mendelssohns auch bei Lavater, der ihm eines seiner Bücher widmete, erwähnt. Zeitschriften und dritte Personen mischten sich ein.58 In einem Aufsatz59 und in ihrer Edition der Briefe zwischen Lavater, Bonnet und Jacob Bennelle60 versucht Gisela Lüginbuhl-Weber eine andere These zu vertreten, die mehr oder weniger Lavater verteidigt. Jacob Bennel (1725–1794) – die Familie stammte aus Metz – war Pastor in der Schweiz: in Dardagny (1758), Cologny (1760–1763) und in Genthod (1778), wo auch Bonnet lebte. Für ihn war es nicht als Konversionsversuch gemeint, sondern sollte es nur eine philosophische Diskussion sein. Bis jetzt ist die Beweislage hier nur sehr dünn. Dass wir deshalb noch neue Dokumente aus diesen Kreisen abwarten sollten, ist klar. Es wäre wünschenswert, auch noch andere Stimmen zu hören.

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Ebd., 7, 32f. Ebd., 7, 36. Mendelssohn, Jub.A., 7, 336–339. Lavater an Mendelssohn, 19.03.1770, Jub.A. 7, 342–345. Mendelssohn, Jub.A., 7, 38–54. Ebd., 7, 65–107. Ebd., 7, auch Jub.A., 22, 79–106. Luginbühl-Weber, Gisela, „… zu thun … was Sokrates gethan hätte“: Lavater, Mendelssohn und Bonnet über die Unsterblichkeit, in: Pestalozzi, Karl/Weigelt, Horst (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, Göttingen 1994, 114–148. 60 Luginbühl-Weber (Hg.), Lavater – Bonnet – Bennelle.

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In Lavaters Predigt bey der Taufe zweyer Israeliten findet man bei A.B.E. Fränkel aus Fürth, Student der Medizin, und Levi Pinkus Sachs aus Breslau, Schüler einer Yeschiva, noch Argumente bezüglich der Ungereimtheit des Talmuds und der einzigen Erleuchtung durch das Neue Testament. Die Taufe, die am 12. März in der Zürcher Fraumünsterkirche stattfand, bot ihm nicht nur Gelegenheit, an die vielen tausend verlorenen Geschöpfe des Hauses Israel zu erinnern, sondern auch die schrekliche blasphemische Schrift Toledot Jeshou61 zu erwähnen, die immerhin von den einsichtigeren Juden abgelehnt würde. In der Taufrede (Apg 2,22–29) kommt er auf den Bonnetschen Beweis zurück. Anders als man lange geglaubt hat, war es jedoch nicht Lavater selbst, der die Taufe vornahm, sondern der Diakon Johannes Tobler. Auf diese Zeremonie reagierte Lichtenberg mit beißender Ironie in seinem Timorus, das ist Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der lavatersichen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen den wahren Glauben angenommen haben.62 Noch im Sudelbuch aus dem Jahre 1773 schrieb er: Nichts ist mir ärgerlicher als wenn [ein] junger zudringlicher unüberlegter Schwätzer, wie Lavater, dem die ganze Welt offen steht, in der Absicht den Himmel zu verdienen sich über Mendelssohns Ruhe herwirft. Man muss Leute nicht bessern wollen, die es durch eignes Nachdenken dahin gebracht haben, daß sie verträglich sind, wissen was die Welt ist und zweckmäßig tun und leiden. Der Welt mit dem Kopf und den Händen so dienen, wie Mendelssohn, ist besser als Folianten voll Schwärmerei […]. Ein Mendelssohn ist mehr wert als hundert Lavater.63

Wir wissen, dass Mendelssohn durch diese Episode lange Zeit sehr krank war. Die ganze Geschichte hat ihn sehr betroffen. Als er nach seiner Autobiographie gefragt wurde, erwähnte er eine ‚Nervenschwäche‘, „die [ihn] zu aller gelehrten Beschäftigung schlechterdings unfähig macht“. Und kurz vor seinem Tode schrieb er in den Morgenstunden: „Seit zwölf bis fünfzehn Jahren befinde ich mich nehmlich in dem äussersten Unvermögen, meine Kenntnisse zu erweitern. Eine sogenannte Nervenschwäche, der ich seitdem unterliege, verbietet mir jede Anstrengung des Geistes.“64 Über die Nevervenschwäche kommentiert Kant ironisch, dass „man [davon] doch in Jerusalem nicht die mindeste Spuhr antrifft.“65  Lavater widmete Mendelssohn ein Buch und sprach noch lobend über ihn, ohne jedoch die Kontroverse nochmals anzuführen. Was wir noch nicht genau kennen, ist das Echo dieses Falls in der Schweiz selbst. Noch im August 1785 ist

61 Schäfer, Peter u. a. (Hg.), Toledot Yeshu. The Life Story of Jesus Revisited, Tübingen 2011. 62 Wieckenberg, Ernst-Peter, Lichtenbergs Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche – ein AntiLavater?, in: Text+Kritik 114, 1992, 39–56. 63 Schwarz, Hans-Joachim/Schwarz, Renate, Moses Mendelssohn und die Krankheit der Gelehrten, Psychologisch-biographische Studie, Hannover 2014, 145. 64 Mendelssohn, Jub.A., 7, 7. 65 Kant, Immanuel an Moses Mendelssohn, 16.08.1783, Jub.A. 13, 126f.

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Lavater in Genf bei Bonnet und die beiden reden unter anderem auch über Mendelssohn.66 Noch 1786 schrieb Bonnet: Meine Korrespondenz mit dem modernen Phädon hatte schon bei ihrer Geburt ihr Leben ausgehaucht, obwohl ich nichts unterlassen habe, mit ihm eine Verbindung, auf die ich großen Wert legte, aufrecht zu erhalten. Er unterließ es indessen nicht, mir von Zeit zu Zeit die verschiedenen Schriften, die er in der Folgenzeit veröffentlichte, als Geschenk zuzusenden; aber ohne mir jemals ein einziges Wort zu schreiben. Als ich eines Tages durch Privatpost ein Paket von ihm erhielt, fand ich obenauf einen an mich adressierten und gut versiegelten Brief, und beim Öffnen sah ich nur weißes Papier. Es war mir unmöglich, daraus klug zu werden. Sie, mein Freund, gehen richtig in der Annahme, daß ich nicht unterließ, auf die Postsendungen des Sohnes Abrahams zu antworten, indem ich ich ihm die vollständige Sammlung meiner Werke zukommen ließ.67 

Aber er war sicher mehr als ein Fauxpas in der Aufklärung!

66 Lavater, Reisetagebücher, Teil II, 87, 96. 67 Bonnet, Charles, Mémoires, deutsch Jub.A. 22, 106.

Christian Eger

Klapperschlange im Gartenreich? Lavater und das Fürstenpaar Franz und Louise von Anhalt-Dessau

Abb. 1: Lavater-Büste im „Labyrinth“ der Wörlitzer Anlagen. Foto: Christian Eger.

Wenn heute vom Weltkulturerbe Dessau-Wörlitzer Gartenreich die Rede ist, werden gemeinhin die Namen Winckelmann und Basedow genannt; von Lavater ist selten und wenn nur beiläufig die Rede.1 Sehr zu Unrecht: Weder wäre das 1774 von Johann Bernhard Basedow (1724–1790) in Dessau gegründete Philanthropin

1

Zu Lavater und Dessau-Wörlitz: Hosäus, Wilhelm, Johann Kaspar Lavater in seinen Beziehungen zu Herzog Franz und Herzogin Luise von Anhalt-Dessau, Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte und Altertumskunde V (1888), 201–264; Hirsch, Erhard, „Anhaltdessaubiederkeit“ – Dessau-Wörlitz und die Schweiz zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit, in: Ders., Kleine Schriften zu Dessau-Wörlitz, Wettin-Löbejün 2011, 337–360; Caflisch-Schnetzler, Ursula, Die Beziehung Johann Caspar Lavaters zum Fürstenhof in Dessau, festgehalten in Anekdoten, Tagebüchern, Briefen, in: R. B. Sdzuj/R. Seidel/B. Zegowitz (Hg.), Dichtung–Gelehrsamkeit–Disputationskultur (Festschrift für Hanspeter Marti zum 65. Geburtstag), Wien u. a. 2012, 241–268.

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ohne das Engagement des Lavater-Netzwerkes, aus dem sich einige der frühen Förderer und Lehrer rekrutierten, auf die Bahn gekommen,2 noch hätte das seit 1758 von Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740–1817) regierte Fürstentum so umstandslos Kontakt zu den kulturellen, religions- und schulpolitischen sowie landwirtschaftlichen Entwicklungen der philhelvetisch als Musterland umschwärmten Schweiz finden können. 1784 rief der Fürst den Zürcher LavaterGefährten Johann Caspar Häfeli (1754–1811)3 als Hofprediger und Gesellschafter der Fürstin nach Dessau, der 1787 nach Schweizer Vorbild die Anhalt-Dessauische Pastoral­gesellschaft4 gründete; wenige Tage auf Häfeli folgte 1784 der Bauer Heinrich Boßhard (1748–1815)5 aus Rümikon im Kanton Zürich, der bis 1786 in Dessau Landwirtschaft nach neuesten Methoden betrieb. Häfeli und Boßhard, zwei vom Fürsten importierte Schweizer Fachkräfte, mit denen Anhalt-Dessau die Avantgarde-Konkurrenz der Fürstentümer suchte und bediente. Seit den 1770er Jahren zog die von Franz betriebene Bildungs- und Wohlfahrts-Politik das Interesse der gelehrten Öffentlichkeit auf Dessau-Wörlitz. Letzterer hatte der Fürst, der ein herrschaftlicher Projecte-Macher der Gründerzeit nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges war, einiges zu bieten. Als ein Regent neuen, äußerlich aufgeklärten Typs, war Franz entschieden neuerungsbeflissen; „daß so viel Neues um mich herum lebt“,6 lobte Goethe. Der kleine Fürst und die um gesellschaftliche Teilhabe ringenden Gelehrten zielten auf Wahrnehmung und

2

Gemeinsam mit dem Basler Ratsschreiber und Gelehrten Isaak Iselin (1728–1782) gehört Lavater zu den frühen publizistischen, gesellschaftlichen und materiellen Unterstützern der Schule; 1771 veröffentlichen Iselin und Lavater Einige Briefe über das Basedowsche Elementarwerk. Einblicke in das Dessauer Lavater-Netzwerk liefern: Niedermeier, Michael, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780, Dessau-Wörlitzer Beiträge VI. (Zwischen Wörlitz und Mosigkau 44), Dessau 1995; Hannemann, Tilman, Religiöser Wandel in der Spätaufklärung am Beispiel der Lavaterschule 1770–1805, (Beiträge zur Europäischen Religionsgeschichte 5), Göttingen 2017. 3 Der Vorschlag ging von der Fürstin aus, belegen Notate von Häfeli, ZB Zürich V 320.5 (22.10.1783) Nachlass Häfeli. Zu Häfeli: Hosäus, Wilhelm, Johann Kaspar Häfeli in Wörlitz 1784–1793. Mitteilungen aus Briefen J. K. Häfeli’s an J. C. Lavater und J. G. Müller, Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte und Altertumskunde V (1888), 137–163; Hirsch, „Anhaltdessaubiederkeit“, 346–349. 4 Erb, Andreas, Die Anhalt-Dessauische Pastoralgesellschaft. Spontaneität und Kontrolle unter Fürst Leopold Friedrich Franz, in: S. Görtz (Hg.), Geselligkeiten im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Überlieferung in Museen und Archiven Sachsen-Anhalts, (Sachsen-Anhalt und das 18. Jahrhundert 7), Halle 2012, 130–136. 5 Siegert, Reinhart, Heinrich Bosshard und sein Dessauer Abenteuer. Ein Schweizer Kleinstbauer auf Gratwanderung zwischen Rümikon und Anhalt-Dessau, zwischen Pietismus und Aufklärung, zwischen Aufstieg und Absturz, in: H. Schmitt/H. Böning (Hg.), Dessau-Wörlitz und Reckahn. Treffpunkte für Aufklärung, Volksaufklärung und Philanthropismus, (Philanthropismus und populäre Aufklärung 9), Bremen 2014, 159–190. 6 Goethe an Charlotte von Stein, Wörlitz, 5.12.1776. Hosäus, Wilhelm, Großherzog Carl August und Goethe in ihren Beziehungen zu Herzog Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte und Altertumskunde I (1875–1877), 505–531, hier 512.

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Prestige. Franz und die Autoren, die Anschluss an die Höfe und deren kulturelle Initiativen suchten, beförderten sich darin gegenseitig. Zu denen, die das in Dessau schafften, gehörten mit Basedow, Joachim Heinrich Campe (1746–1818) und Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) die führenden reformpädagogischen Schriftsteller der Zeit. Von Anfang an begleiteten Literaten das fürstliche Engagement: Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der vor Goethe international bekannteste deutsche Autor, war der kunstgeschichtliche, Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) der sittliche, Basedow – neben Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) – der schulpolitische und frühe kulturelle sowie Lavater der seelische Berater des Fürsten. Ihm und seiner Gemahlin Louise von Anhalt-Dessau (1750–1811), der von Lavater als „die Königlichste“7 verehrten preußischen Prinzessin, half der Schweizer, sich in den Nöten ihrer Ehe zu arrangieren – ein paartherapeutischer Einsatz, dessen Verlauf so affektreich geriet, wie es dessen Anlass war. Vier Jahre – von 1782 bis 1786 – währte der Umgang des reformierten Fürstenpaares mit dem Geistlichen: Dieser Verkehr begann überaus freundschaftlich, befeuert von Lavaters persönlicher, höfischer und öffentlicher Wirkung; er endete auf Seiten der Fürstin im November 1786, auf Seiten des Fürsten in kleinen Schritten von 1790 an. Um das Verhältnis Lavaters, erstens, zum Fürsten, zweitens, zur Fürstin, und, drittens, seinen Erträgen nach für alle drei Seiten zu konturieren, ist zunächst Karl August Böttiger (1760–1835) in die Wörlitzer Anlagen zu folgen, die Schauseite der von Franz geschaffenen Kunstlandschaft bei Dessau. Im Juli 1797, mithin mehr als zehn Jahre nach der Lavater-Konjunktur in Deutschland, durchstreift der rationalistisch-klassizistisch geprägte Weimarer Altphilologe, Antiquar und Publizist den großen Garten, der nicht allein Züge einer Winckelmann-, sondern auch einer Lavater-Landschaft aufweist. Dieser Garten bietet einige in Stein gemeißelte Lavater­-Zitate sowie das einzige öffentliche Lavater-Denkmal auf deutschem Boden. Laut Rode als „eine Allegorie des menschlichen Lebens – mit einiger Rücksicht auf das individuelle Leben des Fürsten selbst“ entworfen,8 hatte Franz um 1783 ein Labyrinth gestalten lassen. In dessen Mitte stehen drei Sandsteinnischen, von denen eine Gellert und eine Lavater gewidmet ist. Der Sockel der Büste Lavaters zitiert eine – von den Besuchern des Gartens als Selbstbekenntnis des Fürsten gelesene – Formel aus dessen Vermischten unphysiognomischen Regeln zur Menschen- und Selbstkenntniß (1788): „Das mein Sinn dem deinen gleiche“.9 Gegen Gellert, der „Tausenden als ein rettender, tröstender Engel des Lichts“10 erschienen sein soll, hatte Böttiger nichts einzuwenden, hingegen der Anblick Lavaters entsetzt ihn:   7 Variierte Anrede, hier Widmung zum Geburtstag der Fürstin 1784. Hosäus, Lavater, 212.   8 Rode, August, Beschreibung des Fürstlich Anhaltisch-Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz, Dessau 1798, 127.   9 Lavater, Johann Caspar, Vermischte unphysiognomische Regeln zur Menschen- und Selbstkenntniß, Zürich 1788, 216. 10 Boettiger, Carl August, Reise nach Wörlitz 1797, Wörlitz 1988, 22.

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Daß mein Sinn dem Deinen gleiche! Es ist mehr als Duldung, es ist Nichtachtung der öffentlichen Meinung, daß der Fürst diese Inschrift jetzt noch nicht vertilgt hat. Als er sie setzte, war sie ein Beweis, wie kräftig die narkotische Kraft der Klapperschlange (oder ist es tierischer Magnetismus, wie Humboldt in seiner neuesten Schrift von diesem Tiere behauptet) die Eichhörnchen in ihren Kreis gezogen hatte. […] Wie gern möchte ich den edeln Mendelssohn oder Reimarus an seine Stelle gesetzt sehen. Doch diese kannte der Fürst nicht persönlich! Aber kannte er denn Gellerten?11

Tatsächlich gehörte Gellert zu den Gelehrten, zu denen Franz neben Winckelmann und Basedow selbst den Kontakt hergestellt hatte; 1765 hörte das Fürstenpaar eine Privatvorlesung des Moralschriftstellers in Leipzig. Das also wusste Böttiger nicht. Und was über Schlangen zu wissen war, konnte 1797 in Humboldts Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser12 gelesen werden. Darin wird mitgeteilt, dass Menschen ihre „Muskelkraft“ verlieren, „wenn die Augen der Schlange auf sie geheftet sind, ohne dass sie das Thier selbst sehen.“13 Mithin übersetzte Böttiger das Verhältnis des Geistlichen zum Fürsten in das von tückischem Raubund arglosem Opfertier. Klapperschlange Lavater und Eichhörnchen Franz? Soll es so gewesen sein? Wer stellte hier wem nach, mit welchen Interessen und mit welchen Effekten? Denn um das Ermöglichen von praktischen und geistig-symbolischen Effekten ging es bei den an den Höfen ermöglichten Begegnungen zwischen Fürsten und Gelehrten immer.14 Fragen, die hier zu stellen sind; sie führen in die kontroverse Beziehung eines Gelehrten zu einem Fürstenpaar einerseits und in die soziale und kommunikative Mechanik eines fürstlich-gelehrten Kultureinsatzes um 1800.

1. Lavater und Franz: Der Geistliche als Mitarbeiter Es liegt nicht völlig offen, seit wann die direkte Verbindung des Fürstenpaares zu Lavater bestand; dass die Initiative bei dem Zürcher lag, ist indes offenkundig. Der erste nachweisbare Kontaktversuch fällt in den November 1776. Es ist der Schweizer Pädagoge und Lavater-Gefährte Christoph Kaufmann (1753–1795), der während seines Dessauer Einsatzes zur inneren Neuorganisation des Philanthropins dem Fürstenpaar ein Schreiben überreicht. In diesem spricht Lavater von seinem „ersten“, von Basedow und Kaufmann empfohlenen „Vortritt“, was auf ein planvolles Vorgehen verweist. Er bittet um „Genaue Silhouetten und genau crayon11 Ebd. [Hervorh. i. O.]. 12 Humboldt, Alexander von, Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermu­ thungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt, Bd. 1, Posen 1797. 13 Humboldt, Versuche, 468, Anm. 1. 14 Martus, Steffen, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild, Berlin 2015, 22.

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nirte Porträte von dem väterlichsten Fürsten, der edelsten Fürstin und dem hoffnungsvollsten Erbprinzen“.15 Im Jahr darauf widmet Lavater den vierten Band der Physiognomischen Fragmente dem Fürstenpaar16 – sehr zu dessen Überraschung. „Ob er sich gleich auch zu Anfang in die Dedication nicht zu finden wusste“, wie Goethe 1780 Lavater über Franz mitteilte, wolle dieser ihm „schreiben und dir selbst sagen, dass er dich liebt und schätzt.“17 Letzteres bestätigt das Bildnis Lavaters (Abb. 5, 492), das Franz 1781 unter den Gelehrten-Porträts in der Bibliothek des Wörlitzer Schlosses malen lässt: auf der Wand für „Philosophie und Theologie“; hier allerdings nicht unter den Theologen, sondern als Pendant zu Georg Joachim Zolli­kofer (1730–1788) unter den Philosophen.

Abb. 2: Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, Kopie nach dem Original von 1766 von Anton von Maron. Foto: Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, Bildarchiv, Heinz Fräßdorf.

15 Lavater an Franz, Zürich, 30.11.1776. Hosäus, Lavater, 202f. 16 Verfasst am 18.11.1777, preist Lavater das Dessauer Regentenpaar als „Fürstliche Personen, die so sehr Menschen zu sein sich bemühen“, die „rein und gut“ seien, „herzlich teilnehmend an allem Nützlichwahren und Schönguten“. Lavater, J.C., Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. IV, Leipzig u. a. 1778, V–VI. 17 Goethe an Lavater, Weimar, 5.06.1780. Hirsch, „Anhaltdessaubiederkeit“, 341.

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Im Sommer 1782 begegnet Franz dem Geistlichen erstmals persönlich. Im Zuge seiner zweiten Schweizreise sucht der Fürst den Theologen in Zürich auf. Mit dem Blick des Physiognomikers schildert Lavater den Dessauer als einen Menschen, der „über den Augen etwas erhabenes, ernsthaft helles hatte, was ich noch nie sahe! Der Edle, feste, feingute, Allgenießer alles genießbaren.“18 Von 1782 an datiert der Schriftverkehr zwischen Zürich und Dessau-Wörlitz, der von Lavater mit Büchern und Manuskripten bestückt wird. Im Sommer 178319 besucht der Fürst den Theologen ein zweites Mal, nun in Begleitung der Fürstin und des Erbprinzen. Das Fürstenpaar ringt um eine Lösung seiner notorischen Ehekrise, im ersten Durchgang durchaus mit Erfolg, wie Basedow und Zollikofer bestätigten, die von „Versöhnung“ sprachen. „Du gabst mir ein ganz anderes Sein, ich habe fast keine trüben Stunden“, teilt Franz 1784 Lavater mit.20 Der dient fortan als ein sittlich-geistlicher Ratgeber der fürstlichen Kernfamilie, wie seine Briefe an den Erbprinzen21 und an

Abb. 3: Klapperschlange mit ­Eichhörnchen, Lithografie von Christian Schulz. Foto aus: Gotthilf Heinrich von Schubert, Natur­ geschichte der Amphibien […], Esslingen 1849. 18 Funck, Heinrich (Hg.), Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher, (Schriften der Goethe-Gesellschaft 16), Weimar 1901, 216. 19 Zur Schweizreise von 1783: Schweinitz, Anna Franziska von (Hg.), Fürst und Föderalist. Tagebücher einer Reise von Dessau in die Schweiz 1783 und der Bund der Eidgenossen als Modell im Alten Reich, Worms 2004. 20 Ohne Datierung und Ort. Hirsch, „Anhaltdessaubiederkeit“, 344. 21 Hosäus, Lavater, 248ff.

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Häfeli belegen; letzterem trägt er auf: „Sey vom ersten Moment an zum letzten der Segen des Beßten / Aller Fürsten! Sey Lehrer und Stärker der hohen Luise!“22 Die Kommunikation vollzieht sich im Duktus der empfindsamen Freundschaft. Franz redet Lavater als „Herzlich Geliebter“ und „Herzlich Lieber“ an. Entgegen seiner Gewohnheit bringt der Fürst das Du23 ins Spiel: „Wenn ich Dich nicht Du nenne, ist es nur Zurückhaltung, denn Du bist einer meiner Geliebtesten!“24 Wer umgarnte hier wen – und mit welchem Interesse? Wer ist die Klapperschlange, wer das Eichhörnchen? Beide, der Fürst und Lavater, sind einander dienstbar. In einer kollektiven schweizerisch-dessauischen Anstrengung war Franz dem Zürcher Netzwerker zugeführt worden. Die Interessen des Kontakt-Anbahners Basedow liegen auf der Hand: Er versuchte, über das Schweizer Netzwerk seine Dessauer Autorität zu sichern und das Prestige seiner prekär organisierten Schule zu fördern. Auch Lavater folgte einer Agenda: Der Theologe war bei seinem ersten Anschreiben an Franz keinesfalls allein an Zeichnungen, sondern über den Fürsten langfristig an einer Ausweitung seiner religiös vergemeinschaftenden Kontakte zum Hochadel, insbesondere zum preußischen Hof, interessiert. Franz sollte ihm den Weg nach Berlin bahnen, wie die Vorstöße von Zimmermann zeigen werden. Was bewog Franz dem Werben nachzugeben? Zum Ersten das Engagement des Lavater-Zirkels, zweitens der Ruhm des Geistlichen, drittens die hochgestimmte Lavater-Verehrung der Fürstin25 und viertens seine familiäre Lage, die er zu bessern suchte. Lavater stieß als seelisch-sittlicher Mentor bei Franz in die Lücke vor, die 1769 der Tod Gellerts hinterlassen hatte; so wie Häfeli theologisch an die Stelle des 1788 früh gestorbenen Zollikofer26 rücken sollte. Aber noch 22 Die ersten zwei von sieben Zeilen der Widmung „In Häfeli’s Zimmer“, verfasst von Lavater am 28.08.1784. Hosäus, Häfeli, 141. 23 Das freilich, ohne erwidert werden zu dürfen, großzügig jedem auf Zeit verliehen wird, der sich in aristokratischen Kreisen bewegt. „Es heißt nicht, dass der Standesunterschied vergessen ist, sondern nur, dass man sich den Umgang mit dem Bürgerlichen erleichtert, indem man ihn behandelt, als ob er dazu gehörte. Dieses ,als ob’ gehört zu den grandiosen Geschenken, die der Adel machen kann.“ Jessen, Jens, Was vom Adel blieb. Eine bürgerliche Betrachtung, Springe 2018, 38. Franz gebraucht das Du gegenüber Lavater bis 1787. Hirsch, „Anhaltdessaubiederkeit“, 358, Anm. 91. 24 Franz an Lavater, Wörlitz, 24.09.1786. Hosäus, Lavater, 260. 25 Lavater beschrieb die Physiognomie der Fürstin: „Louise von Dessau. / Etwas, nur Etwas von Ihr der Königin unter den Frauen / Etwas ihrer Stirn, und ihres Liebebeladnen / Liebeweckenden Blicks, vom Kinn und vom Munde nur etwas. / Nichts von / der Salbung, welche nur tiefes unnennbares Leiden / Giebt dem frohen Gesicht, das schön und gross die Natur schuff – / Freyheit, Harmonie und Geist fehlt diesem Gesichte.“ Goritschnig, Ingrid/Stephan, Erik (Hg.), Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele, Physiognomische Studienblätter aus der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Jena 2001, 14. 26 Der Schweizer Georg Joachim Zollikofer, seit 1758 deutschsprachiger Prediger der französischen Evangelisch-reformierten Gemeinde in Leipzig, gehört zu den für das Fürstenpaar wichtigsten geistlich-sittlichen Autoritäten. In religiöser Hinsicht steht der vielfach mit Dessau-Wörlitz verbundene Tugend-Theologe dem Fürsten näher als Lavater, an den Franz 1782 schreibt: „Von einem Mann, den ich doch auch liebe, haben wir, dächte ich, gar nicht gesprochen, dieser ist Zollikofer. Könnten Sie mir doch auch sagen, wie nahe Sie mit ihm seien.“ (Franz an Lavater, Dessau, 26.08.1782. Hosäus, Lavater, 246) Seit Anfang der 1770er Jahre hält Franz nachweisbar den regen

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ein fünfter Punkt kommt hinzu: Franz, den nicht das Religiöse, aber alles Theologische kalt ließ, nutzte Lavater als Kontaktbörse und Auskunftei. Dessen erste Briefe zeigen, was den Fürsten interessierte: Psychologisch grundierte Auskünfte, die Lavater über regierende und gelehrte Personen lieferte – über den Herzog von Braunschweig, den Markgrafen von Baden, den Theologen Ewald.27 Auskünfte, die im Zuge der von Franz mitinitiierten, geheimen Fürstenbundverhandlungen von Interesse waren.28 Nach der ersten Begegnung zurückgekehrt nach Dessau, schrieb Franz an Lavater: „Wahre Freude würde mir Ihr öfterer persönlicher Genuß gewähren. Gott, wenn er mir möglich wäre, er macht mich gewiß besser und führet mich also Dir näher!“29

2. Lavater und Louise: Der Geistliche als Erzieher So wie Franz vom Lavater-Netzwerk nach Zürich gezogen wird, führt er selbst die Fürstin dem Seelsorger zu. Am 4. August 1783 kommt es in Baden an der Limmat zur ersten, von Louise seit Jahren ersehnten Begegnung mit Lavater, dessen Familienalltag sie bis Anfang November teilt. Lavaters Ziel ist es, „die Fürstinn in Ansehung aller menschlichen Verhältniße auf feste menschliche Füße zu stellen, auf denen ich auch stehe – obgleich mein ganzes Wesen immer entfliehen will“.30 Es muss 1783 zu für den Fürsten selbstquälerischen, therapeutischen Gesprächen gekommen sein, wie ein Schreiben zeigt, in dem Franz an Lavater mitteilt, „daß ich m. Frau so unglücklich gemacht habe als Sie es schildern“.31 Louise dankt Lavater, „daß durch Dich Franzens Zufriedenheit mit mir bewirkt worden ist, er fühlt sich so glücklich jezt mit mir, daß es wie er sagt zuviel für ihn sey, u. er in diesem Zustand ohne wiedrige Zufalle wohl nicht länger bleiben könne.“32 Um seine herrschaftlichen Projekte voranzutreiben, greift Franz entschlossen auf die Kontakte Lavaters zurück. 1782 bittet der Fürst um die Beschaffung von historischen Schweizer Glasscheiben zur Ausstattung des Gotischen Hauses in Wörlitz; im selben Jahr fragt er Lavater, ob er sich vorstellen könnte, dass ein kundiger Schweizer „Bauernknecht“, den er schließlich mit Boßhard gewinnt, für „einige Jahre“ nach

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Kontakt zu Zollikofer. Dessen Porträt ist in der Bibliothek des Wörlitzer Schlosses auf der philosophisch-theologischen Schauwand unter den Theologen auf einer Höhe mit Lavater zu sehen, der nicht den Theologen, sondern den Philosophen zugeordnet ist. Lavater an Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, Zürich, 19.09. und 28.12.1782. Ruoss, Mylène/Giesicke, Barbara, Die Glasgemälde im Gotischen Haus zu Wörlitz, Bd. 2, Berlin 2012, 128–136, hier 129. Schleicher, Walther, Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau und der Fürstenbund 1785. Diss. Jena 1924, ungedruckt; Schweinitz (Hg.), Fürst und Föderalist, 20–33. Franz an Lavater, Dessau, 26.08.1782. Hosäus, Lavater, 246. Lavater an Goethe, Zürich, 10.12.1783. Funck (Hg.), Goethe und Lavater, 235 [Hervorh. i. O.]. Hirsch, „Anhaltdessaubiederkeit“, 343. Louise an Lavater, o. O., 1783. Caflisch-Schnetzler, Beziehung, 265.

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Abb. 4: Louise ­Henriette ­Wilhelmine von Anhalt-­ Dessau, gemalt 1797 von ­Johann Friedrich August Tischbein. Foto: Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, Bildarchiv, Heinz Fräßdorf.

Dessau käme;33 1784 holt er, wie erwähnt, Häfeli an den Hof. Es ist Louise, die den Briefverkehr mit Lavater am Laufen hält, indem sie dem Vielschreiber das Postgeld34 überweist. Wie der Fürst zieht auch die Fürstin praktische Vorteile aus dem Einsatz Lavaters, den sie für ihr eigenes Schulengagement einzuspannen sucht.35 Ihrerseits erweist sich die Fürstin selbst als eine Schülerin. Wie Elisa von der Recke mitteilt, verpflichtete sich Louise gegenüber Lavater, täglich eine eingehende Herzensprüfung vorzunehmen und über ihre Empfindungen, Stimmungen und Gedanken genau Tagebuch zu führen, ihm dergl. Berichte sodann von Zeit zu Zeit zuzusenden und seine Bemerkungen, Warnungen, Ermunterungen darüber zu vernehmen.36

33 Franz an Lavater, Dessau, 26.08.1782. Hosäus, Lavater, 246. 34 Louise an Lavater, Wörlitz, 19.04.1786: „Hier einliegend bekommst Du die Kontribution Postgeld, wie Du es nennest.“ Hosäus, Lavater, 259. 35 Im Februar 1784 gründete die Fürstin in Wörlitz eine Mädchenschule, um Dienstmädchen auszubilden. 36 Hosäus, Lavater, 210.

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Louise, die von ihrem sechsten Lebensjahr an Tagebücher37 führte, hatte 1782 auf einen Rat ihrer Brieffreundin Jenny von Voigts (1760–1826) hin, der Tochter des Schriftstellers Justus Möser (1720–1794), ihre Journalführung von einem chronikalisch-äußerlichen auf ein therapeutisch-introspektives Beobachten umgestellt. Dass hierbei Lavaters 1771 von Zollikofer herausgegebenes Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner selbst als Anregung diente, ist wahrscheinlich. Während eines gemeinsam mit der Fürstin unternommenen Ausfluges fasste Lavater in Verse, womit sich Louise beschäftigte: „Am Tagebuch schreibt die Königinn / Der Herzen, die nach meinem Sinn / Empfindet, denkt und spricht“.38 Für ihren Gebrauch unterscheidet die Fürstin fortan zwei Sorten von Tagebuch: das „Reisejournal“ und das „psichologische Tagebuch“. Psichologisch bezeichnet hier die vorsätzliche Förderung von Selbsterkenntnis und -läuterung. Wie das Lavatersche dient das Tagebuch-Projekt der Fürstin der christlichen Tugendübung. Louise eröffnet und beendet die Tage mit einem Gebet, flehende Anrufungen werden erwähnt, das Studium der Bibel leistet sie beinahe täglich. Von der Anrufung Gottes über den Gebrauch einer Geheimschrift bis zum Verzeichnen des Zahnschmerzes, sozusagen von A bis Z, korrespondieren das geheime Tagebuch des Geistlichen und das psichologische der Fürstin miteinander – bis hin zu der Empfehlung Lavaters, die Lektüren zu dokumentieren. In Gehalt und Gestalt gehört das von 1782 an geführte Journal der Fürstin zu den bedeutenden Folgeschriften des Geheimen Tagebuches. So wie Lavater aus der Ferne, erzieht Häfeli in der Nähe. Entschieden führt der von Herder und Hamann geprägte Geistliche die religiösen und sittlichen Ansichten Louises, der er wie einer Patientin begegnet, denn „der Gang Ihrer Gesundheit scheint eben so voll Anomalie zu seyn, als der Gang Ihres Geistes, an dem alle Con-

37 In der Dessauer Abteilung des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt liegen 17 Tagehefte und -bücher (mit Lücken von 1756–1811, insgesamt 2844 Seiten) vor sowie eine um 1799 begonnene Zusammenfassung der Tagebücher von 1756 an, die bis zum Jahr 1808 vorangetrieben wurde und die bis 1805 zusätzlich in einer von Matthisson besorgten Abschrift überliefert ist. Im Zuge dieser Bearbeitung waren die Originaltagebücher von Januar 1776 bis April 1795 sowie für die Jahre 1804 und 1805 vernichtet worden, so dass, über diese Zeiträume, ausschließlich die Kurzfassung des Journals Auskunft gibt. Hinzu kommen 15 Positionen von handschriftlichen Notizen, Berichten und Briefen der Fürstin. Veröffentlicht sind bislang eine Auswahl – rund 55 Prozent des vorhandenen Materials – der Originaltagebücher (Kulturstiftung Dessau-Wörlitz [Hg.], Die originalen Tagebücher der Fürstin Louise Henriette Wilhelmine von Anhalt-Dessau. Auszüge aus den Jahren 1759–1811, 2 Bde., Halle 2010), die Matthissonsche Zusammenfassung der Jahre 1756–1805 (Dies., Der Alltag der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau, München 2010), das Journal der England-Reise 1775 (Geyer-Kordesch, Johanna [Hg.], Die Englandreise der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau im Jahr 1775, Berlin 2007) sowie das Tagebuch der Schweiz-Reise 1770, letztere ins Deutsche übersetzt und mit der französischsprachigen Originalfassung vorgelegt von Losfeld, Christophe (Hg.), Die Reise des Fürstenpaares Franz und Louise von Anhalt-Dessau in die Schweiz im Jahr 1770. Aus dem Tagebuch der Fürstin Louise (Juli–Oktober 1770), Hamburg 2018. 38 Notiert am 19.09.1783. Hosäus, Lavater, 208.

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jugationes regulares toll und irre werden.“39 Häfeli zeigt sich als ein pragmatischer Empfindsamer, der scharf zwischen Empfindung und Einbildung unterscheidet. Das demonstrierte er bereits 1776 aus Anlass der von Wieland im Teutschen Merkur gestellten Frage: „Wird durch die Bemühungen kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das, was sie Enthusiasmus und Schwärmerey nennen, mehr Böses oder Gutes gestiftet?“40 Häfeli antwortete auf die Frage: „mehr Böses“. Und „mehr Gutes als Böses“ nur insofern, als das Böse das Gute herausfordere. Wolffs Philosophie nennt er eine „kalte, bedächtliche Dame“,41 den Deismus das „langbeinigte, hundmagre Thier“, das nie satt wird und die Menschen verhungern lässt. Schwärmerei verhält sich für Häfeli zum Enthusiasmus wie Einbildung zur Empfindung. Erstere gilt ihm als schädlich, letztere als unentbehrlich. Eine „Religion ohne Gott“ gilt Häfeli so wenig wie ein „Christenthum ohne Christus“, das nur eine „schöngefächerte Moral“ hervorbringe wie eine „von Affen herumgekollerte Nuß“.42 Seinen Mentor Lavater hält Häfeli mit Nachrichten aus Dessau-Wörlitz auf dem Laufenden. So auch mit der Beschreibung der fürstlich-intimen Feier aus Anlass des 1784er Lavater-Geburtstages, der auf die Aufstellung der Lavaterbüste in den Wörlitzer Anlagen zulief. Es treten auf: das Fürstenpaar, der 14-jährige Erbprinz, die Comtesse von Anhalt, Häfeli und der Wörlitzer Propst Coeler:43 Nach dem Essen brachten Luise und die Kleine eine große Tragbahre mit zwey grünseidenen Kissen. Sie stellten sie ans Fenster einer Kammer, in welcher schon lange Dein steinernes Brustbild diesem Tag aufbehalten wurde. Dieß wurde nun herausgenommen und auf die grünen Kissen gelegt. – Wir fassten die Tragbahre; voran der Fürst und Friedrich, in der Mitte Luise und die Kleine, hinten Köhler und ich – und trugen Dich an den See, schifften uns mit Dir ein, und fuhren von Musik begleitet an das andere Ufer hinüber. Hier gingen Luise und die Kleine voraus, und Franz und Friedrich, Köhler und ich trugen Dich wieder in der vorigen Ordnung von Musik gefolgt weiter. Wir hatten ein ziemlich Gewicht an Dir zu tragen; so schwer wäre Deine leibhafte Persönlichkeit kaum gewesen.44

Zwei Jahre darauf wird Lavater seine Büste in Augenschein nehmen können. Im Zuge seiner Bremen-Reise trifft er am 13. Juli 1786 in Wörlitz ein; es ist der einzige Aufenthalt des Theologen in Dessau-Wörlitz. Über fünf Tage wird die Berühmtheit dem Hof und der Stadt präsentiert, die auf Lavater nicht gewartet

39 Häfeli an Zimmermann, Wörlitz, 8.04.1788. Niedersächsische Landesbibliothek Hannover, Zimmermann-Nachlass, Ms XLII, 1933 A II, 38, Bl. 2v [Hervorh. i. O.]. 40 Wieland, Christoph Martin, Fragen, Der Teutsche Merkur (1. Vierteljahr 1776), 82. 41 Häfeli, Johann Caspar, Eines Ungenannten Antwort, Der Teutsche Merkur (August 1776), 111– 136, hier 118. 42 Häfeli, Antwort, 120f. 43 Karl Friedrich Coeler (1737–1808), von 1770 an Propst in Wörlitz. Wie die Fürstin an Lavater mitteilte, „ein erzguter, rechtschaffener Mann, der gewiß zum lautern Christussinn der empfänglichste Geistliche ist, den wir hier haben.“ Louise an Lavater, Wörlitz, 22.01.1784. Hosäus, Häfeli, 140. 44 Häfeli an Lavater, Wörlitz, 24.11.1784. Hosäus, Lavater, 213.

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Abb. 5: Lavater-Porträt in der Bibliothek des Schlosses Wörlitz, 1781 gemalt auf der Schauwand für Philosophie und Theologie. Foto: Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, Bildarchiv, Heinz Fräßdorf.

hatte. „Es herrscht wenig religiöser Ton hier, am wenigsten der Deinige“,45 hatte Häfeli den Zürcher vorab gewarnt. In Wörlitz besichtigt Lavater das von Schweizer Glasscheiben illuminierte Gotische Haus, in dem er seiner Neigung folgt, an Wänden und Werken handschriftliche Spuren zu hinterlassen. Er predigt in der „außerordentlich zahlreich“ gefüllten Hof- und Stadtkirche in Dessau. Seine Ansprache endet „nicht mit allgemeinem Beifall“.46 Gemeinsam mit Franz verlässt Lavater am 18. Juli Wörlitz in Richtung Weimar. Das Fürstenpaar soll Lavater nie wieder sehen: Ende des Jahres zerbricht die fürstliche Ehe, die auf Anraten des Zürchers in eine Trennung ohne Scheidung verwandelt wird, kurz darauf die Beziehung der Fürstin zu Lavater.47 Auf die ersten48 Ursachen des Zerwürfnisses gibt es zwei Hinweise. Der eine teilt mit, dass Lavater vertraute Briefe der Fürs-

45 Hegner, Ulrich, Beiträge zur nähern Kenntniß und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater’s. Aus Briefen seiner Freunde an ihn, und nach persönlichem Umgang, Leipzig 1836, 192. 46 Crome, August Friedrich Wilhelm, Selbstbiographie, Stuttgart 1833, 80. 47 Der letzte von Louise an Lavater gerichtete Brief datiert vom 29.11.1786. Der Entschluss zur Einstellung des direkten Briefverkehrs muss mindestens einen Monat zuvor getroffen worden sein, s. Anm. 74. Dass die Fürstin 1786 zu Lavater den Kontakt beendet hatte, belegt ihre Tagebuchnotiz vom 30. Mai 1788, in der sie festhält, dass sie an Lavater „nun schon seit zwei Jahren nicht mehr schrieb“. Hirsch, „Anhaltdessaubiederkeit“, 359, Anm. 120; Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, Der Alltag, 65–67. 48 Nach dem Abbruch rissen die Turbulenzen nicht ab. Ursula Caflisch-Schnetzler entdeckte in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich einen am 24.11.1787 handschriftlich von Zimmermann notierten Dialog (ZBZ, FA Lav Ms 598 g, „L’Affaire avec Lavater 1788–1790“) zwischen ihm und Georgette van der Borch (geb. 1766), der Lavater im Umgang mit ihm bekannten Frauen schwere erotische Verfehlungen unterstellte, was zusätzlich zu Diskussionen zwischen Zimmermann, Häfeli und Lavater führte, in die am Rande auch die Fürstin verwickelt wurde (Caflisch-Schnetzler, Ursula, L’Affaire avac Lavater – Lavater und die Frauen, in: J. Frimmel/C. Haug/H. Meise (Hg.), „in Wollust betäubt“ – Unzüchtige Bücher im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2018, 189–206, hier 196–206). Dieser Dialog war der Fürstin von Anfang an bekannt: Er findet sich – notiert zu Zwecken der Unterhaltung – in dem am 28.11.1787 an Louise gerichteten Brief Zimmermanns (Zimmermann, Korrespondenz, 462–475), so wie auch später die Entgegnung Lavaters darauf. Wir haben es bei dieser für die bürgerliche Existenz Lavaters bedrohlichen Affäre also nicht mit der eigentlichen Ursache, sondern

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tin in Umlauf gebracht haben soll,49 der andere – von Häfeli bezeugt – stellt fest, dass Lavater von seinem Postbetrieb überfordert gewesen sei. „Um Gotteswillen schreibet mir nicht mehr; ich bin des Zuchthauslebens müde“,50 soll Lavater der Fürstin mitgeteilt haben; das sagt man keiner Königlichen Hoheit.51 Erschöpft von den Konflikten, wendet sich Häfeli 1792 von Lavater ab. Der Fürst versucht Abstand zu halten – einerseits zu den Lavater-Klagen seiner Frau,52 andererseits zu den Kontroversen um Lavaters angeblichen Krypto-Katholizismus. Im Dezember 1790 schickt der Fürst eine Buchsendung des Geistlichen zurück mit der Begründung, dass er nichts annehmen könne von jemandem, „der mich für einen Gewissenlosen, für einen Teufel hält“. Ohne nähere Angaben bittet Franz „inständig und dringend“ von allen Streitsachen ferngehalten zu werden.53 Es ist Lavater, der den Kontakt mehrfach neu zu beleben versucht, was nicht mehr in alter Stärke gelingt; die Freundschaft macht der Höflichkeit Platz. Am 3. Februar

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mit einer zusätzlichen Begründung des Kontaktabbruches zu tun, wie auch Louise in einer „Deklaration“ am 14.11.1788 erklärte. Darin sagt sie knapp, dass diese „Anekdoten“ nicht der Anlass ihres Bruches mit Lavater gewesen seien, dass diese „zufälligen Ereignisse“ sie in ihrem Beschluss aber bestärken würden (Caflisch-Schnetzler, L’Affaire, 206) – so wie wahrscheinlich die heillosen Auseinandersetzungen zwischen Lavater und den Louise-Freundinnen Caroline von Berg und Elisa von der Recke. Dass die Fürstin davon ausging, dass ihre Briefe von dieser Routine ausgenommen wären, belegt ihr Brief an Lavater, Schierstein, 24.10.1786: „allein ich wuste wirklich nicht daß es eine eingerichtete Gefolgschaft wäre denen Du die Abschriften der Briefe im Creise so herumschikest, ich selbst glaubte daß die, von vorigen Jahren ich nur allein zu lesen bekommen hätte“ (CaflischSchnetzler, Beziehung, 264). Dass der Vorwurf der Indiskretion im Raum stand, bestätigt Lavater in einem Brief an Klopstock, Altona, 19.07.1798. Lappenberg, Johann Martin (Hg.), Briefe von und an Klopstock. Braunschweig 1867, 356–358, hier 357f: „daß ich mich nicht der mindesten indiskreten Mittheilung oder unedlen Eröffnung anvertrauter Schriften oder Geheimnisse von dem Fürsten oder der Fürstin von Dessau, von welcher Art diese immer seyen, schuldig weiß, daß ich gewiß bin, nichts, nicht das mindeste gethan zu haben, was unsern ausdrücklich genommenen Verabredungen zuwider war“. Häfeli zitiert diese Forderung in einem Brief an Lavater, verfasst in Wörlitz, 26.03.1788. Der offenbar zitierte Text findet sich im Lavater-Nachlass: „Ich bitte so sehr ich bitten kann schreibt mir nicht mehr, ich bin des Zuchthauslebens müde, Todesangst zu haben, wenn ein Freünd allenfalles eines Freündes Brief zu sehen bekäme. Ich bin Sclave genug ich will allem was Freünd heißt schreiben, schreibt mir nicht mehr! Urtheilt wie ihr wollt! Thränen rinnen mir aus den Augen! Der Herr erbarme sich unser.“ Offenkundig hatte sich die Fürstin über Lavaters Gewohnheit beschwert, die Briefe seines Adressaten-Kreises in demselben herumgehen zu lassen („Freünde“, die „eines Freündes Brief zu sehen“ bekommen). Caflisch-Schnetzler, Beziehung, 260. Die selbst hielt eine solche Weisung für völlig ausgeschlossen, zeigt ihre Mitteilung an Lavater, Wörlitz, 27.10.1784: „von der Vielschreiberin eine Zeile […] für den, an welchen doch Luise immer schreiben wird, bis er es selbst ausdrücklich verbietet – doch dieses wird nicht geschehen“. Hosäus, Lavater, 258. Der Fürst schreibt am 15.11.1788 von Wörlitz aus an Lavater: „So sehr ich gewünscht hätte, daß die Freundschaft zwischen meinem Lieben [Lavater] und ihr [Louise] ununterbrochen hätte fortdauern mögen, so unbekannt ist mir die erste Veranlassung der Laulichkeit zwischen Euch, und meiner Ruhe willen würde ich nichts durch Nachfragen hierüber erfahren können und das einmal Geschehene noch mehr verwirren als entwickeln.“ Hosäus, Lavater, 263. Johann Jakob Stolz an Lavater, o. O., 15.12.1790. Hegner, Beiträge, 219.

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1796 sendet der Fürst das letzte Schreiben, das mit der Zusage endet, dass er, für den Fall eines Zürichaufenthaltes, nicht versäumen werde, Lavater zu besuchen und ihm „von Angesicht zu Anges. den zu zeigen, der ist und bleibt Ihr treuer Freund und Diener LFFrVA.“54 Treu, aber nicht herzlich; das ,Du‘ ist endgültig dem ,Sie‘ gewichen.

3. Briefe nach Wörlitz: Zimmermann als Lavater-Lobbyist Ein Nachleben führt die Lavater-Affäre in dem Briefwechsel, den die Fürstin von 1786 bis 1790 mit dem Schweizer Prominentenarzt, Bestsellerautor und ambivalenten Lavater-Freund Johann Georg Zimmermann (1728–1798) unterhält.55 Auf Einladung des Fürsten war er vom Krankenbett Friedrichs II. in Sanssouci nach Wörlitz gereist, „um ihn über sich und mich zu consultiren“, notierte Louise. Am 12. Juli 1786 trifft der Arzt in Wörlitz ein, wo er am Tag darauf Lavater begegnet, mit dem er 1779 den schriftlichen Kontakt abgebrochen hatte. In Lavaters Stammbuch schreibt Zimmermann: „Ach, wir sahen uns und sahen uns nicht. Jenes wird mich freuen und dieses wird mich peinigen, solange ich lebe.“56 Ergebnis des Treffens ist eine schriftlich geführte, von wenigen Begegnungen gestützte therapeutische Beratung. „Für unser einen“, schrieb Zimmermann an Nicolai, „ist es aüsserst gut, Freunde unter den Grossen der Erde zu haben, wenn man auch sonst nichts von ihnen will: denn in diesem Falle kann man doch immer die gelehrten Herren auslachen.“57 Die Initiative zum Briefwechsel geht von der Fürstin aus. „Ich schreibe wie mir befohlen ist“, antwortet Zimmermann, den das Vorhaben schmeichelt.

54 Franz an Lavater, Dessau, 3.02.1796. Hosäus, Lavater, 235. 55 „Korrespondenz der Herzogin Louise von Anhalt-Dessau mit Dr. Zimmermann 1786–1790“, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Dessau: LASA, DE, Z 44, A 10, Nr. 296; im Folgenden: Zimmermann, Korrespondenz. Der Briefwechsel wurde medizinhistorisch ausgewertet von Heinicke, Wilfried, Zimmermann als Arzt der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Die medizinhistorische Bedeutung der Korrespondenz, in: H.-P. Schramm (Hg.), Johann Georg Zimmermann – königlich großbritannischer Leibarzt (1728–1795), (Wolfenbütteler Forschungen 82), Wiesbaden 1998, 61–66; ders., Die Leiden der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau (1750–1811). Eine medizinhistorisch-biografische Betrachtung, in: Dessauer Kalender 38 (1994), 29–38 (Teil I); ebd., 39 (1995), 28–37 (Teil II); ebd., 40 (1996), 70–81 (Teil III); ebd., 41 (1997), 42–56 (Teil IV). 56 Albumblatt vom 15.07.1786. Zenker, Markus, Therapie im literarischen Text. Johann Georg Zimmermanns Werk „Über die Einsamkeit“ in seiner Zeit, (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 32), Tübingen 2007, 50. 57 Zimmermann an Nicolai, 26.12.1787. Habersaat, Sigrid, Zimmermann und die Berliner Aufklärung: Friedrich Nicolai, in: Schramm (Hg.), Königlich großbritannischer Leibarzt, 179–184, hier 184.

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Wunderbar klingt es freylich, auch in meinen Ohren, wenn ich mit einer Fürstinn aus königlichem Geblüte wie mit einer geliebten Freundin spreche; aber das gebe ich auch zu, daß in der Sprache der Deutschen mit ihren Fürsten kein Menschenverstand ist.58

Indes nicht nur bei den Deutschen. Bereits nach einem Monat bekommt der Schweizer die herrschaftliche Ungeduld zu spüren. „Es schmerzt mich daß in allen meinen Briefen, in jeder Zeile, und in jedem Zug von meiner Hand, etwas ist, das Sie nicht befriedigt.“59 In dem Maße, in dem sich der medizinisch beratende Wert des Briefwechsels verringert, wächst dessen gesellig-unterhaltende Funktion. Zimmermann reitet seine Themen: die öffentliche Rettung Lavaters, der Kampf gegen die Berliner Aufklärung, der Streit um die historische Gestalt Friedrichs II. Zimmermann dient Lavater als Lobbyist. Er preist ihn, nicht ohne dessen Schwächen zu unterschlagen: Nur glaube ich, daß Lavater selbst nicht so unbegreiflich geschwätzig seyn sollte, zumal vor fremden ihm nach ihrem Charakter ganz unbekannten Menschen von allen Farben, die wohl vielleicht etwas an Nase, Kinn oder Ohrläppchen haben mögen das Ihm gefällt, aber denen er deswegen noch nicht in das Herz sieht, und die dann auch wohl durch Lavaters Vorbild Lavaterisch geschwätzig werden.60

Ende 1786 kommt Zimmermann aus der Deckung. Über das Fürstenpaar versucht er, Lavater in Nachfolge Johann Joachim Spaldings (1714–1804) als Prediger in Berlin zu installieren. Ich las vor einigen Tagen in einer Hamburger-Zeitung im Artikel Berlin: Herder werde nächstens nach Berlin berufen und dort dem Herrn Spalding dajungirt werden. Bey dieser Gelegenheit fiel mir ein, was ich zu Lavater in Wörlitz sagte: Mir ahndet, sprach ich, daß du noch einst nach Berlin berufen werden und vielleicht den Ruf annehmen wirst? Lavaters Antwort war auf keine Weise verneinend. Lavaters Ruf nach Bremen, so vielen Lerm er auch machte, war doch unaussprechlich weniger, als ein Ruf nach Berlin für ihn wäre. Nichts würde seinen Feinden in Zürich und in Berlin so kräftig den Mund stopfen wie ein Ruf nach Berlin, und wenn er wirklich, wie ich glaube, den Ruf annähme, so könnte unaussprechlich viel Gutes daraus entstehen. Lavater würde vielleicht von seiner Seite nachgebender werden, würde vielleicht weniger gegen den gesunden Menschenverstand in der Hervorziehung geheimer, bisher verborgener Wunderkräfte anstossen, würde überhaupt in manchen Dingen behutsamer werden, und dann auf der andern Seite in einem so grossen Wirkungskreise zu ungleich grösserm Grade wirken, Tausende von Menschen, zumal aus den obern Ständen, an sich ziehen, Religiosität verbreiten, wo itzt keine ist, und, zusammengenommen, eine Revolution für Tugend und Reli-

58 Zimmermann an Louise, Hannover, 11.08.1786. Zimmermann, Korrespondenz, 6. 59 15.09.1786. Zimmermann, Korrespondenz, 99. 60 1.12.1787. Zimmermann, Korrespondenz, 495.

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gion nicht nur in Berlin, sondern von da aus in Deutschland stiften, zu der itzt vielleicht die Menschen, da die Irreligiosität aufs Höchste gekommen ist, reifer sind als noch nie. Und alle diese gutgemeinten Träume könnte ein einziger deutscher Fürst, dem es Gott in der Ewigkeit lohnen würde, zur Wirklichkeit bringen; ein Wort der Empfehlung aus dem Munde oder von der Hand des Fürsten von Dessau würde Lavater nach Berlin versetzen, und dann käme Er doch auch alle Jahre auf ein paar Wochen nach Wörlitz.61

Genau daran hat das Fürstenpaar kein Interesse. In keiner Weise will sich Louise instrumentalisieren lassen. Das betrifft auch das 1786 aufgetauchte Gerücht, dass sie unter Lavaters Einfluss zum katholischen Glauben konvertiert sei. Diese Kunde bot Zimmermann einen willkommenen Anlass, um in eigenem Auftrag gegen die Berliner zu Felde zu ziehen. Dabei war es recht eigentlich er selbst, der das Gerede verbreitete, indem er dagegen auftrat. Und noch einmal versuchte Zimmermann, die Nähe zur Fürstin zu gebrauchen. Sie soll Zimmermanns Skandalbuch Ueber Friedrich den Großen und meine Unterredungen mit ihm kurz vor seinem Tode (1788) dem neuen König vorlegen; auch dazu ist es wohl nicht gekommen. 1790 stellt der von Depressionen geplagte Arzt den Briefdienst ein. „Ich bin anjetzt der verrufenste Mensch in Deutschland“, schreibt Zimmermann in die Schweiz.62

4. Lavater und die Dessauer: ,Gabentausch‘ zum fürstlichen Vorteil Klapperschlange und Eichhörnchen? Dass Lavater das Klappern, das zum Handwerk gehört, bis zur Aufdringlichkeit beherrschte, ist unbestritten; Zimmermanns Hinweis auf dessen „zauberische“ Eigenheiten sind in dieser Hinsicht sprechend. Andererseits: Geklappert hat auch der Fürst. Dessen Ringen um die sittliche Mustergültigkeit und überregionale Sichtbarkeit seiner Herrschaft musste einen Mann wie Lavater auf den Plan rufen, der von sich meinte, in dieser Hinsicht hilfreich sein zu können. Indes als eine Schlange zeigte sich Lavater so wenig wie der Fürst als ein Eichhörnchen. Nicht Lavater, sondern das allgemeine Lavater-Verdikt zeigte giftige Wirkungen. Es ist die von Berlin und Weimar aus beförderte LavaterAbwehr nach 1785, die den Blick auf das Dessauer Lavater-Engagement eintrübt; ein Vorgang, der ein Pendant in der wiederum von Böttiger betriebenen und von dem Franz-Biografen Reil übernommenen einseitigen Abwertung des schweizerisch-elsässischen Geniewesens am Philanthropin und von Christoph Kaufmanns Einsatz an der Musterschule finden sollte,63 letzteres zu Unrecht, wie Michael Nie61 13.12.1786. Zimmermann, Korrespondenz, 233–237. 62 Zimmermann an Philipp Albert Stapfer, 17.05.1790. Ischer, Rudolf, Johann Georg Zimmermann’s Leben und Werke. Litteraturhistorische Studie, Bern 1893, 405. 63 Reil, Friedrich, Leopold Friedrich Franz, Herzog und Fürst von Anhalt-Dessau, ältestregierender Fürst in Anhalt, nach Seinem Wirken und Wesen. Mit Hinblick auf merkwürdige Erscheinungen Seiner Zeit geschildert, Dessau 1845, 68–70.

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dermeier zeigte.64 Der Anti-Lavater-Affekt klang noch bei dem Dessau-WörlitzHistoriker Wilhelm Hosäus nach, als er 1887 mit Blick auf die Entscheidung des Fürstenpaares, Lavater als seinen Seelenrat zu berufen, rhetorisch fragte: „Ob die Wahl eine glückliche war?“65 Die Frage lässt sich auch umkehren: War es für den in religiöser Hinsicht grenzgängerischen, rücksichtslos vergemeinschaftenden Lavater eine glückliche Wahl, die Nähe zum Dessauer Fürstenpaar gesucht zu haben? Dass es auch im Zeichen einer als prononciert nichthöfisch und zweckfrei begriffenen Empfindsamkeit66 eine umstandslose Freundschaft mit Fürsten nicht geben konnte, hatte Lavater zu lernen, bei Louise deutlicher als bei Franz. Umstandslos deshalb nicht, weil ein Fürst auch als ‚Mensch‘ immer ein Fürst bleibt;67 das Herrschaftliche ist eine genuine Dimension seiner ganzen Persönlichkeit68 – eine Konstellation auf die notwendigerweise Rücksicht genommen werden muss, was Lavater nicht gelang. Andere schafften das: Sowohl der Fürst als auch die Fürstin unterhielten freundschaftliche Beziehungen in das – ständisch tendenziell ortlose – Milieu der Gelehrten: Franz zu Winckelmann und Friedrich Justin Bertuch (1747–1822), Louise unter anderen zu Johann Friedrich Reichardt (1752–1814), Alois Hirt (1759–1837) und Friedrich von Matthisson (1761–1831); allein keine Beziehung ging in ihrer persönlichen Distanzlosigkeit bei gleichzeitiger öffentlicher Zurschaustellung so weit wie das Verhältnis zu Lavater. Die seelsorgerliche, bei Franz mehr sittlich, bei Louise mehr geistlich geleistete Fürsorge bildete den Kern, die praktische Dienstbarkeit das Gehäuse der Beziehung zu dem Zürcher, deren Nützlichkeit in dem Maße schwand, wie deren Kern ein Gegenstand des öffentlichen Skandals wurde. Dass öffentliche Indiskretionen den Hochadel in Zugzwang setzen müssen, begriff Lavater nicht. Bereits im April 1786 hatte Louise dem Geistlichen mitgeteilt: Der Fürst „läßt Dir sagen, wegen des Biestri’schen69 Unfuges wäre seine Mei-

64 Niedermeier, Gartenreich, 22–42. 65 Hosäus, Lavater, 204. 66 Der Wandel weg von der pragmatischen hin zur nominell zweckfreien, allein auf Gefühl, Aufrichtigkeit und Intimität begründeten Freundschaft vollzog sich nach 1750. „Mit der Entpolitisierung und Privatisierung der Freundschaft geht eine Delegitimierung des Nutzenaspekts einher; utilitaristische Motive gelten nun als Verunreinigung der Freundschaft.“ Kühner, Christian, Politische Freundschaft bei Hofe. Repräsentation und Praxis einer sozialen Beziehung im französischen Adel des 17. Jahrhunderts, (Freunde-Gönner-Getreue. Studien zur Semantik und Praxis von Freundschaft und Patronage 6), Göttingen 2013, 320. 67 Die fürstliche Rolle ist auch im freundschaftlich „menschlichen“ Umgang nie zu verlassen, worauf ein Schreiben von Caroline von Berg an die Fürstin verweist, 28.01.1789: „dieses war nur eine Klage meines Menschenherzens gegen Ihr menschliches, nicht fürstliches Herz. Wenn die gewöhnlichen Menschen, die Sie sowie alle Fürstenkinder umgeben, nicht immer von Ihnen belohnt werden, wenn Sie nicht immer Belohnung ausstreuen für jede kleine Handlung, die sonst weiter nichts als Menschenpflicht ist, so klagt man freilich sogleich über Ungnade. Nicht so – ich“. Hosäus, Lavater, 226. 68 Jeder Adlige ist „per definitionem Politiker“. Kühner, Freundschaft, 74. 69 Johann Erich Biester (1749–1816), gemeinsam mit Friedrich Gedike (1754–1803) Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift (1783–1796).

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nung die, daß Du gar nicht schreiben sollest, wie auch überhaupt gegen und an alle Deine Widersacher nichts.“ Eine Haltung, die Louise teilte: Denn freilich ich glaube auch, daß gar nichts dabei herauskommt, Leute, denen es um nichts weniger als um die Wahrheit zu thun ist, überzeugen zu wollen. Schweigen und Feststehen ist, dünkt mich, das Beste. Was wahr ist, wird die ganze Rottenschaar der Philister, Deisten und Atheisten nicht umstoßen und wegräsonnieren können.70

Doch weder verzichtete Lavater darauf, den Fürsten in öffentliche Streitigkeiten zu verwickeln, noch vermochte er es, Briefe der Fürstin vor fremden Blicken zuverlässig zu schützen. Mithin scheiterte die empfindsame fürstlich-gelehrte Konstellation auf Seiten Lavaters an einem Mangel an politischer Klugheit und sozialer Empathie. Fürsorgliche Duldung, auf die Lavater setzte, war nicht zu erwarten. Dessen Verweis auf seine als Zuchthaus-Existenz begriffene Dienstbarkeit wäre auch als ein Zeichen der Verzweiflung zu lesen gewesen; immerhin brach die Fürstin den Kontakt nicht abrupt ab, sondern sie legte ihn vorläufig still. Über Dritte sandte sie Lavater Zeichen, die dieser aber nicht verstand;71 mithin war das Ende der Freundschaft zur Fürstin nicht nach allgemein menschlichem, aber nach politisch fürstlichem Ermessen notwendig. Freilich hatte Lavater seine praktischen Dienste, die gern in Anspruch genommen worden waren, Ende 1786 getan. Und nicht immer passten diese ins paternalistisch geführte Anhalt-Dessau. Die von Häfeli nach Schweizer Vorbild gegründete Pastoralgesellschaft wurde von Franz von einer freien Gelehrtensozietät in eine zwangsweise Berufsverbindung umgewandelt, der keine Öffentlichkeit gestattet war.72 Der Bauer Boßhard verließ nach 21 Monaten, Häfeli nach neun Jahren Dessau, ohne sich auf Rückkehrangebote einzulassen; sein Abgang glich einer Flucht. Lavater fühlte sich bis zuletzt ungerecht behandelt.73 Betrachtet man indes die Beziehung zwischen dem Schweizer und dem Fürstenpaar als einen ,Gabentausch‘,74 der er nicht sein sollte, so ist festzustellen, dass dessen Bilanz eindeutig zu Gunsten der Dessauer ausfiel; die persönlich-­sozialen, 70 Louise an Lavater, Wörlitz, 19.04.1786. Hosäus, Lavater, 259. 71 Die Fürstin selbst sprach davon, dass sie 1786 den Briefkontakt „förmlich“ (Kulturstiftung DessauWörlitz, Der Alltag, 65, 67) eingestellt hätte, was heißt, sie schrieb nicht mehr direkt an Lavater, sondern über Dritte (die Lavater-Vertraute Barbara Schultheß, 1745–1818, oder Häfeli), wenn ihm etwas mitzuteilen oder er zu grüßen war, bis auch dieser Kontakt 1788 endete. In Briefen an die Schult­ heß hatte sie Lavater ihr Vorgehen erklärt. Dazu Häfeli am 26.03.1788 an Lavater: „Hast Du dies in L. Briefen an Schultheß gelesen u. verstanden; so mögte ich Dich auch fragen: Welch ein Geist hat Dich versteinert u. so eigensinnig gemacht, nicht ein einziges Mahl klar u. umschweiflos sagen zu mögen: Luise, ich habe in bitterer Wehmuth meines Herzens zu viel gesagt …“. Hosäus, Häfeli, 156. 72 Erb, Pastoralgesellschaft, 133. 73 Lavater an Franz, Zürich, 7.11.1795: „Ich sterbe mit der Überzeugung, dass Sie [Louise] mir gross Unrecht gethan, und bethe für Sie“. Ruoss/Giesicke, Glasgemälde, 136. 74 Vgl. Mauss, Marcel, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1990. Im Blick auf frühneuzeitliche Freundschaften wird das „Gabentausch“-Modell stark abstrahiert so operationalisiert: symmetrische Gaben bedeuten Freundschaft, asymmetrische Patronage. Kühner, Freundschaft, 17, 268.

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kulturellen und sachlichen Vorteile des Regentenpaares waren zahlreicher als die von Franz und Louise erbrachten Gnadenbeweise, zu letzteren gehörten ein Schreibtisch und ein Gehrock. Lavater hatte da anderes geliefert.75 Fertigte Basedow den Nimbus von Franz als eines ,guten Vaters‘, wurde dieser von Lavater ins allgemeinmenschlich und sittlich Mustergültige gesteigert, indem er Franz und Louise nicht nur als gute Regenten, sondern als ,gute Menschen‘ bewarb, eine Reklame, die – über die kostspieligen Physiognomischen Fragmente verbreitet – auf die Höfe zielte, mit denen sich Franz in Prestige-Konkurrenz befand. Die Liste der vorteilhaften praktischen Lavater-Effekte ist lang. Letzthin war die enge Verbindung des Dessauer Fürsten zu Lavater auch eine kulturelle Währung, die das Verhältnis zu Friedrich Wilhelm II. stabilisierte, der gegen den gelehrten Trend ein Lavater-Anhänger blieb.76 Wie sich der Kontakt zu Lavater auf die Religiosität des Fürstenpaares auswirkte, steht auf einem anderen Blatt. Über Louises Verhältnis zu Lavater teilt 1786 deren Briefpartnerin, die preußische Hofdame Caroline von Berg (1760–1826), mit, dass „dessen Sinn und der Ihrige Eins sind in Religion, in wahrem innerlichem Gottesdienst“.77 Von „Sinn“ ist auch in der von Franz veranlassten Sockelinschrift der Lavater-Büste die Rede, aber ,Sinn‘ ist hier dem vagen Wortgebrauch der Zeit nach eher als Gesinnung und Streben, weniger als ,Seele‘78 oder als ein Hinweis auf eine eindeutig Lavatersche Religiosität zu lesen. Dass Franz, der nach seiner um 1767 erfolgten Abkehr vom Deismus öffentlich einer rational grundierten, den Offenbarungsglauben einschließenden Frömmigkeit folgte, für Lavaters religiöse Schriften besonders empfänglich war, belegen seine Briefe nicht; dem Mesmerismus galt seine Neugier. Nachweisbar hat Franz das Großepos Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen (1783–1786) und die Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien (1782) gelesen, letztere veröffentlicht in der Dessauer Buchhandlung der Gelehrten. Dass ihm die Betrachtungen, „obgleich ich erst wenige davon gelesen, Freude machen“, teilte er Lavater mit. „Ich glaube, meinen Lieben zu mir reden zu hören, und wenn sie Gutes auf mich wirken, so wird er noch droben, darüber Freude haben. Könnte ich Ihm nur schon hier Freude

75 Worauf Zimmermann verwies, der sich am 13.10.1786 bei der Fürstin für Lavater einsetzte: „Aber Lavater hat doch ihrem Herzen in vorigen Zeiten wohl gethan, hat Ihnen viele Leiden des Lebens erleichtert, hat vielleicht Ihrem Geiste den hohen religiösen Schwung gegeben, den Sie haben und den ich so sehr verehre. O darum […] entfernen Sie diese grosse Hülfsquelle nicht von sich. Dulden Sie und tragen Sie den seltenen und oft seltsamen, aber doch immer äusserst interessanten und liebenswürdigen Mann, wie er ist“. Zimmermann, Korrespondenz, 179–181. 76 Kein zweiter Schriftsteller ist so zahlreich mit seinen Werken in der 1797 eingerichteten Gotischen Bibliothek des Königs in Potsdam vertreten, die insgesamt 36 Lavater-Schriften bereithält. Dorst, Klaus/Röhm, Hannelore, Der „Catalogus der Bücher im Königlichen neuen Garten bei Potsdam“, in: Die Gotische Bibliothek Friedrich Wilhelms II. im Neuen Garten zu Potsdam, Potsdam 1998, 103–140, hier 105–108. 77 Caroline von Berg an Louise, 17.11.1786. Hosäus, Lavater, 221. 78 Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. Leipzig 1854–1961, hier Bd. 16, 1106–1109.

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machen.“79 Hier unten, nicht dort oben, das machte für Franz den Unterschied. „Dieser geistreiche und gutmüthige Mann wollte dem Himmel Bürger zuführen, die der liebe Gott in seinem Reiche noch nicht brauchen konnte“, zitiert Reil den Fürsten. „Er stellte den Christen über den Menschen, da doch der wahre Christ nichts weiter ist, als der, durch das Christenthum, die Religion veredelte, zur Wahrheit und sittlichen Vollkommenheit erzogene Mensch.“80 Böttiger beendete seine 1797er Betrachtung der Wörlitzer Lavater-Büste mit einem Blick in die dritte, die frei gelassene Denkmalsnische. Wo der Fürst sich zu keiner Würdigung hatte entschließen können, war das Publikum eingesprungen. Böttiger beschwerte sich: „Es war zu erwarten, daß unberufene Richter ihren Vorwitz in die leere Nische gekritzelt haben würden. Wirklich stand Kant mit großen Buchstaben darin angeschrieben.“81 Ein Name, der – trotz Kants frühem Engagement für das Philanthropin – für den Fürsten außerhalb seines kulturellen und politischen Wirkens lag. Dessau-Wörlitz war ein Projekt vor und neben Kant. Das ,väterliche‘ Herrschaftskonzept, dem Franz folgte, galt für Kant bereits 1793 als überholt: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Unterthanen […] unmündige Kinder“ sind, „ist der größte Denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt).“82 Das hatten die Männer um Franz bis 1793 noch ganz anders gesehen, bis zu jenem Jahr also, von dem an die im Zeichen der Nachkriegs-Gründerzeit vollzogene Annäherung zwischen Gelehrten, Fürst und Hof auf ihr Ende zulief. Obwohl er 1792 zum Oberkonsistorialrat befördert worden war, wich Häfeli 1793 nach Bremen aus; das Philanthropin wurde im selben Jahr geschlossen. Allein bis dahin ist das franzische ,Besserungs‘-Werk als ein nicht ausschließlich fürstliches, sondern als ein fürstlich-gelehrtes Unternehmen zu begreifen. In dem führte der Fürst, der freilich immer am längeren Hebel saß, nicht allein nach seinen Zielen, sondern auch nach den Anregungen der Gelehrten. Einer von diesen war Lavater. Es ist ein Hinweis auf die Eigenständigkeit des Fürsten, sich zu dessen Einsatz bekannt zu haben, in dem er, als es einer einflussreichen Partei der Gelehrten angesagt schien, Lavaters Andenken nicht aus Wörlitz entfernte.

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Franz an Lavater, Dessau, 24.11.1782. Hosäus, Lavater, 247. Reil, Leopold Friedrich Franz, 102. Boettiger, Wörlitz, 22. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Berlinische Monatsschrift (September 1793), 201–284, hier 236 [Hervorh. i. O.].

Jana Kittelmann

„lavaterisch denke[n]“ Johann Caspar Lavater in Briefen und Schriften Johann Georg Sulzers

1. Prolog oder Spurensuche Von der einst umfangreichen Bibliothek des Philosophen, Ästhetikers, Pädagogen und Naturforschers Johann Georg Sulzer (1720–1779) ist nahezu nichts erhalten geblieben. Zu den wenigen Exemplaren, auf die man heute eher zufällig in Bibliotheken stößt, gehört ein Band aus dem Jahr 1773. Er befindet sich in der Staats­ bibliothek zu Berlin und trägt den Titel Historische Lobrede auf Johann Jacob Breitinger.1 Die Schrift stammt aus der Feder von Johann Caspar Lavater, der sich darin mit dem im 16. Jahrhundert wirkenden Zürcher Theologen beschäftigte. Das auf den ersten Blick unscheinbare Bändchen überrascht beim Aufschlagen mit einer kleinen Sensation: Die handschriftliche Widmung des Verfassers „An Herrn Professor Sulzer in Berlin“ deutet nicht nur auf die Provenienz des Buches, sondern auch auf einen Austausch zwischen zwei zentralen Akteuren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hin. Johann Georg Sulzer und Johann Caspar Lavater haben nicht nur Büchersendungen zwischen Berlin und Zürich hin und her geschickt, sondern überhaupt einen zuweilen recht intensiven Kontakt miteinander gepflegt, der in unterschiedlicher Art und Weise Spuren in ihren eigenen (und anderen) Briefwechseln, Schriften und Arbeiten hinterlassen hat. Diese Reflexionen und wechselseitigen Reaktionen auf Positionen und Ansätze sind neben den Korrespondenzen unter anderem in Werken wie Sulzers ästhetischem Lexikon Allgemeine Theorie der Schönen Künste oder Lavaters Physiognomischen Fragmenten zu spüren. Der Austausch ging so weit, dass Sulzer davon sprach, dass er in zentralen ästhetischen Aspekten und Fragen „lavaterisch denke.“2 Um die Bedeutung von solchen Aussagen wie auch das Verhältnis zwischen Sulzer und Lavater besser verstehen zu können, seien zunächst einige biographische und historische Eckpunkte vorangestellt.

1 2

Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Sign. 19 ZZ 5972. Johann Georg Sulzer an Johann Jakob Bodmer, 7.02.1775, in: Sulzer, Johann Georg, Johann Georg Sulzer – Johann Jakob Bodmer. Briefwechsel, Kritische Ausgabe, hg. v. E. Décultot/J. Kittelmann unter Mitarbeit von B. Baumann, 2 Bde. (Gesammelte Schriften), Basel 2020, 956.

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Die Bekanntschaft zwischen Lavater und Sulzer reicht in die frühen 1760er Jahre und damit in die Anfänge und die Zeit des politisch ambitionierten Lavater zurück. Auslöser und Anlass der persönlichen Annäherung sowie der sich bald intensivierenden Bekanntschaft bildete die Affäre um den Landvogt Felix Grebel. Der Zürcher Patrizier Grebel war seit 1755 Landvogt von Grüningen. Von Einwohnern der Landvogtei erhobene Beschwerden über Grebels Regierung hatten Johann Caspar Lavater und seinen Studienfreund Johann Heinrich Füssli (1741–1825), der später als Maler in England Karriere machte, dazu veranlasst, dessen Amtsmissbräuche in Zürich im Rahmen der Schrift Der ungerechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten bekanntzumachen. Die beiden, die erst im Frühjahr 1762 ordiniert worden waren, legten die privat gedruckte und nicht unterzeichnete Schrift in der Nacht vom 29. November 1762 in versiegelten Kuverts bei 50 Magistratspersonen vor die Haustür. Die sogenannte Grebel-Affäre führte zur Aufdeckung der anonymen Verfasser und zu ihrer ersten Berühmtheit als engagierte Patrioten und Republikaner. Das Gerichtsverfahren zur Anklage Felix Grebels, der im Zürcher Stadtrat besonderen Schutz genoss, dauerte bis zum März 1763 an. Kurz darauf verließen die jungen Patrioten gemeinsam mit Sulzer, der sich im Winter 1762/1763 in der Schweiz aufgehalten hatte, Zürich in Richtung Berlin. Vermittelt hatte die gemeinsame Reise Johann Jakob Bodmer (1698–1783), seit 1728 Professor für Vaterländische Geschichte am Collegium Carolinum in Zürich und Lehrer und Mentor ganzer Generationen begabter junger Gelehrter und Theologen. In seiner Talentschmiede hatte der „Vater der Jünglinge“3 – die Bezeichnung geht auf eine Ode Lavaters zurück – nicht nur einst Sulzer, sondern auch Lavater und viele andere literarisch und politisch geprägt. Für Bodmer, dessen Einfluss auf Lavater Horst Weigelt zufolge gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann,4 stellte die Ausbildung seiner Schüler zu Patrioten ein wesentliches Anliegen dar. Bodmers oft als Republikanismus bezeichnete politische Einstellung ging jedoch in keinem festen Programm auf, sondern blieb auf lockere Weise dem Versuch verpflichtet, politisch vernünftig zu handeln. Diesem Anspruch fühlten sich auch Lavater und Füssli mit ihrer Klage verpflichtet. Bodmer unterstützte sie darin, erkannte aber zugleich die Brisanz der Lage und schätzte in einem Brief an Sulzer die von der Zürcher Obrigkeit ausgehende Gefahr für die beiden richtig ein: „Die gnädigen Herren sind so besorgt für ihre Etiquette daß sie die beyden scribenten [Lavater und Füssli] für schier so criminel als den landvogt ansehen.“5 Lavater und Füssli, zu denen sich der junge, begabte Theologe Felix Hess (1742–1768) gesellte, sollten Zürich für eine Weile verlassen. „Wir müßen zufrieden seyn“, heißt es in einem Schreiben Bodmers an Sulzer, „daß die Würfel für die beyden jungen patrioten

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Vgl. Johann Caspar Lavaters 1770 publizierte Ode an Bodmer sowie Hunziker, Rudolf, Bodmer als Vater der Jünglinge, in: Th. Vetter/H. Bodmer (Hg.), Johann Jakob Bodmer. Denkschrift. zum CC. Geburtstag, Zürich 1900, 79–114. Weigelt, Horst, J. K. Lavater, Göttingen 1991, 7. Johann Jakob Bodmer an Johann Georg Sulzer, 20.02.1763, Briefwechsel, 571.

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gefallen sind. Izt haben sie reisegefährten, die ihnen die Abschiedsschmerzen versüßen können.“6 In Johann Georg Sulzer, Bodmers langjährigem Freund und Korrespondenzpartner, der seit 1744 in Preußen lebte und in Berlin Mitglied der Akademie und Professor für Mathematik war, bot sich eine ideale Reisebegleitung an. Nicht zuletzt war Sulzer ein mit der Berliner Aufklärung und deren Protagonisten wie Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Friedrich Nicolai (1733–1811) oder Moses Mendelssohn (1729–1786) bestens vernetzter Akteur, der schließlich auch den Kontakt zu Johann Joachim Spalding (1714–1804) in Barth herstellte. In dessen Haus verbrachten Lavater, Hess und Füssli nach einem Zwischenstopp in Berlin bekanntlich fast ein Jahr.7 Glücklich über die Gelegenheit dürften die drei jungen Gelehrten schnell die Bedeutung Sulzers als intellektuellen Knotenpunkt und freundschaftlichen Förderer erkannt und schätzen gelernt haben. Im Rechenschaftsbericht an den Examinatorenkonvent der Zürcher Kirche über ihre Deutschlandreise vermerkten Lavater und Hess über Sulzer: Er gilt in Deutschland in allen Wissenschaften als führend, berühmt als ein Mann von scharfem Verstand und einem Reichtum an sorgfältiger, auserlesener Bildung, berühmt vor allem wegen seiner gründlichen Kenntnisse in den Geisteswissenschaften, ein Mann schließlich, der sich durch seine Umgänglichkeit und Freundschaft auszeichnet.8

Bodmer hatte Sulzer, mit dem er einen über dreißig Jahre und mehrere hundert Schreiben umfassenden Briefwechsel pflegte, bereits in einem Schreiben im späten Herbst 1762 auf Lavater und Füssli aufmerksam gemacht und ihn fortlaufend über die Ereignisse informiert. Sulzer nahm im Februar brieflich Kontakt mit Lavater auf. Der erste Brief der leider nur spärlich und einseitig überlieferten Korrespondenz9 zwischen Sulzer und Lavater hatte dabei eher praktische Inhalte zum Thema. Der reiseerprobte Sulzer wies Lavater darauf hin, dass dieser seine „Sachen außer die wenige wäsche, die man auf der Reise braucht durch Fuhren nach Leipzig […] schiken“ solle, „denn es wird uns bey diesen tieffen wegen ein oder zwey Pferde

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Bodmer an Sulzer, 5.03.1763, ebd., 580. Zu dem Aufenthalt siehe Vogel, Gerd-Helge, Aufklärung in Barth. Zur 250. Wiederkehr des helvetisch-deutschen Dialogs zwischen Johann Joachim Spalding, Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füßli und Felix Heß in Barth in den Jahren 1763/64, Hamburg 2014. Zit. n. der deutschen Übersetzung des ursprünglich auf Latein verfassten Berichtes in: Rendtel, Constance, Johann Caspar Lavater (1741–1801) / Felix Hess (1742–1768). Exzerpte aus dem Rechenschaftsbericht an den Examinatorenkonvent der Zürcher Kirche über ihre Deutschlandreise vom Jahre 1763/64, Zwingliana XXX (2003), 127–169, hier 132. Wie ein Großteil von Sulzers Korrespondenzen ist auch der Briefwechsel mit Lavater nur einseitig überliefert. In der Zentralbibliothek Zürich finden sich 12 Briefe von Sulzer an Lavater. Lavaters Briefe an Sulzer sind hingegen nicht überliefert. Siehe Zentralbibliothek Zürich [im Folgenden ZBZ], FA Lav Ms 528. Vgl. auch Caflisch-Schnetzler, Ursula, Sulzer, der „Weltweise“ in seiner Korrespondenz zur Zürcher Aufklärung, in: E. Décultot/P. Kampa/J. Kittelmann (Hg.), Johann Georg Sulzer – Aufklärung im Umbruch, Berlin/Boston 2018, 229–242.

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spahren, wenn wir ohne Bagage reisen.“10 Zugleich stellte Sulzer Lavater interessante Begegnungen und Kontakte in Berlin in Aussicht. Im März reiste man gemeinsam aus Zürich ab und machte Zwischenstationen unter anderem in Schaffhausen, Lindau und Trogen, wo man bei dem berühmten Arzt Laurenz Zellweger (1692–1764) einkehrte, der in seiner Förenen Hütte seinen Gästen nicht nur Molke reichte, sondern zudem einen wahren und dennoch für die republikanischen Schweizer nicht unbedingt selbstverständlichen Kult um Friedrich II. zelebrierte.11 Der das Ende des Siebenjährigen Krieges endgültig besiegelnde feierliche Einzug des preußischen Königs gehörte schließlich zu den ersten Eindrücken Lavaters in Berlin, wo man am 27. März eingetroffen war und zunächst in Sulzers Haus Quartier bezogen hatte.12 Lavater, dem Sulzer eine von ihm verfasste Lobrede auf den König zu lesen gab und ihn so auf den von ihm verehrten und geschätzten Monarchen einstimmen wollte, sah freilich nicht den „Halbgott“,13 den er erwartet hatte. Zurückhaltend schrieb er über den Einzug des Königs am 4. April 1763 an Bodmer, mit dem er während seiner Abwesenheit von Zürich weiterhin per Brief Kontakt hielt: Das Betragen des Königes in Preüßen bey seinem Einzug hatte den Schein von Singularität, aber nur so lange bis man wußte, daß er sich auf dem Wege in allen Dörfern, nach den Gütern, dem Feldbau, dem Vermögen ihrer Einwohner erkundigt u: die Berichte davon in seine Tabletten eingetragen hätte. – Sulzer scheint mit denen wichtigen und hartscheinenden Executionen des Königs zufrieden zu seyn.14

Als er Friedrich den Großen bei einer öffentlichen Parade noch einmal zu Pferd sah, zeigte sich Lavater dann doch beeindruckt. Dessen Erscheinung wirkte nach und Lavater widmete Friedrich sowie dessen Pferd in den Physiognomischen Fragmenten eigene Abschnitte und Bildtafeln.15 Und auch die Bekanntschaft mit einer jungen Frau hinterließ Spuren. Im sechsten Fragment des dritten Bandes der Physiognomischen Fragmente heißt es über deren Porträt: Ein großes Frauenzimmergesicht von vornen. Ich kannte dieses Gesicht als ein Kind – da war’s ein liebenswürdiger Engel – wie ähnlich dieß Bild sey, weiß ich nicht. Genug, es ist das Bild einer edeln, zärtlichen, aufrichtigen, Verstand= Fähigkeitsreichen Seele.16

10 Ebd. Sulzer an Lavater, [1763]. 11 Zum Reiseverlauf siehe auch Lavaters Tagebuch: Lavater, Johann Kaspar, Reisetagebücher, Teil I: Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, hg. v. Horst Weigelt, Göttingen 1997. 12 Vgl. dazu auch Weigelt, Horst, Friedrich der Große im Urteil Johann Kaspar Lavaters, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 35, 4 (1983), 335–351. 13 Lavaters Tagebucheintrag vom 27.07.1777, hier zit. n. Weigelt, Friedrich der Große im Urteil Lavaters, 337. 14 Lavater an Bodmer, 10.06.1763, ZB, Fa Lav Ms Bodmer 4.3. 15 Vgl. dazu Weigelt, Friedrich der Große um Urteil Lavaters, 340f. 16 Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. 3, Leipzig 1776, 303.

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Dabei handelte es sich um Sulzers Tochter Auguste, die den Maler Anton Graff heiratete, nach dessen Gemälde der Stich angefertigt worden war. Diese frühen biographischen Schnittstellen zwischen Sulzer und Lavater schlugen sich in deren Werken nieder. Auch Sulzer erwähnt Lavater in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, an der er seit den 1750er Jahren arbeitete, unter anderem so, wie er ihn zunächst kennengelernt hatte: als Schweizer Patrioten, „als warmen Republicaner, [der] für seine Mitbürger patriotische Lieder gemacht, darin viel Schäzbares ist.“17 Der Aufenthalt in Berlin, der in der Lavater-Forschung bislang kaum im Fokus stand, dürfte somit nachhaltig auf den 22-jährigen Lavater eingewirkt haben, obgleich Sulzer rückblickend vermerkte: „Sie [Lavater, Füssli und Hess] hatten aber die Köpfe zu voll aus ihrem Vaterland gebracht um hier die Sachen ordentlich zu beobachten.“18 Sulzer führte Lavater in die Berliner Gelehrten- und Künstlerkreise ein. Man unternahm gemeinsame Besuche bei dem Hofprediger Friedrich Wilhelm August Sack (1703–1786), bei Johann Samuel Dietrich (1721–1791) – Prediger der Marienkirche –, bei Nicolai und Mendelssohn. Über Sulzer kam Lavater zudem in Bekanntschaft mit dem Künstler Christian Bernhard von Rode (1725–1797), in dessen Atelier er wohl auch Skizzen zu den von Andreas Schlüter stammenden Masken sterbender Krieger am Berliner Zeughaus sah.19 Diese Zeichnungen wie auch Rodes heute noch in der Berliner Marienkirche hängendes Altargemälde Der ungläubige Thomas, das Lavater nachweislich wahrgenommen hat, dürften sein Interesse an Gebärden und Porträts sowie sein bildliches Gedächtnis geschärft haben. Mehrfach konsultiert wurden die Kupferstichsammlungen von Sulzers Freund Georg Friedrich von Arnim (1717–1772), auf dessen Landgut Suckow Lavater auf seinem Weg nach Barth Station machte. Und auch sein Gastgeber Johann Georg Sulzer verfügte über eine umfangreiche Porträtsammlung, die sicher Lavaters ästhetische Aufmerksamkeit, sein ikonographisches Programm und das Interesse gerade für Porträts und Profile berührte. In einem eigens von Sulzer eingerichteten „Cabinet“ fanden neben zahlreichen Bildnissen seiner Freunde auch „schöne Portraite von Newton, Leibniz und Wolffen“20 ihren Platz. Einige Jahre später sandte der mittlerweile berühmte Lavater ebenfalls sein Porträt an Sulzer, der sich darin an Ignatius von Loyola erinnert fühlte, wie aus einem Schreiben Lavaters an Zimmermann hervorgeht: Herr Sulzer, der liebenswürdige Herr Sulzer hat sich nicht satt von dir erzählen, ich mich nicht satt von dir hören können. Auf dein Porträt von Grafen zähle ich Tage und Stunden.

17 Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 2, Leipzig 1774, 715. Die Äußerungen finden sich im Artikel „Lied.“ 18 Sulzer an Bodmer, 8.06.1765, Briefwechsel, 701. 19 Vgl. dazu Althaus, Karin, Die Physiognomik ist ein neues Auge. Zum Porträt in der Sammlung Lavater, Heidelberg 2010, 16. 20 Sulzer an Martin Künzli, 1.10.1756, Stadtbibliothek Winterthur, MS BRH 512/73.

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À propos … bey Portraiten! Du bist ein schöner? dass du mich graviren – so graviren läßest, daß mir Dr. Sulzer schreibt: Welcher Hundsfutt hat unter das Porträt des Ignatius Loyola, das sich vorn an dem XV B. d. A. d. B. befindet. J. C. L. geschrieben?21

Über den weiteren Inhalt von Gesprächen ist freilich kaum etwas belegt. Doch man blieb in Kontakt und hielt das Interesse aneinander nicht zuletzt über die Vermittlung Dritter wie Johann Georg Zimmermann (1728–1795) oder Bodmer aufrecht. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz unterstützte Lavater Sulzer bei der Suche nach einer Schweizer Hofmeisterin für dessen Töchter.22 Überhaupt ging die persönliche Begegnung ab 1763 in eine sowohl kontinuierliche als auch beachtliche Präsenz Lavaters in Sulzers Korrespondenzen über, die sich schließlich im Werk der beiden niederschlug.

2. Lavater als epistolares Phänomen Um das Phänomen Lavater, seine Polarisierung und seine enorme Wirkungskraft und Ausstrahlung auf die Zeitgenossen im Allgemeinen und auf Sulzer im Besonderen zu verstehen, sollte man den Blick nicht nur auf die öffentliche, in Druck- und Streitschriften dokumentierte Rezeption, sondern unweigerlich auch auf Korrespondenzen, also auf private bzw. halböffentliche Medien richten. Lavater als Thema in zeitgenössischen Briefwechseln wäre dabei eine eigene Studie wert. Momentan handelt es sich dabei noch um ein Desiderat der Lavater-Forschung, wohl auch deshalb, weil verbindlichen und systematischen Rückschlüssen eine umfangreiche Sichtung von veröffentlichten und nicht veröffentlichten Quellen vorangehen müsste. Neben Lavaters eigenen Korrespondenzen, die sukzessive erschlossen und ediert werden,23 müssten dabei auch Umfeldbriefe, Parallelkorrespondenzen und flankierende Briefwechsel Beachtung finden. So eröffnet bereits der Blick und die Auswertung einiger weniger, ausgewählter Korrespondenzen neue Perspektiven auf Lavater und seine zeitgenössische Rezeption. Zu diesen Briefwechseln zählt die schon erwähnte Korrespondenz zwischen Johann Georg Sulzer und Johann Jakob Bodmer sowie der Austausch zwischen Sulzer und Lavaters engem Freund und Vertrauten Johann Georg Zimmermann. Beide, auch sonst in ihren Themenspektren äußerst breite Korrespondenzen, weisen ab dem Jahr 1763 ein enormes und kontinuierliches Interesse an Lavater auf. Um die mit dieser Präsenz verbundene Bedeutung zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, was Briefe im 18. Jahrhundert sind. Bodmer, Lavater und Sulzer lebten im 21 Lavater an Zimmermann, 18.01.1772, ZBZ, FA Lav Ms 589d.1. 22 Sulzer an Lavater, 18.04.1764, ZBZ, FA Lav Ms 528: „Für ihre gütigen Bemühungen und Vorschläge wegen einer Hofmeisterin für meine Kinder bin ich Ihnen sehr verpflichtet.“ 23 Siehe die historisch-kritische digitale Edition von Lavaters Korrespondenzen auf dem Portal https://www.lavater.com/briefwechsel.

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Jahrhundert des Briefes, in dem eine der umfangreichsten Transformationen des Mediums stattfand, die sowohl mit einer quantitativen Vervielfachung als auch mit einer qualitativen Perfektionierung einherging. Briefe fungierten dabei nicht nur als bloße Textträger von Informationen oder Mittel der Distanzüberbrückung und Distanzregulierung. Vielmehr war das ästhetische, literarische und sprachliche Programm mehrerer Generationen von aufklärerischen Dichtern an Briefe gebunden. Verbindliche, epochenspezifische Modelle der Verständigung, Empfindung und dichtungstheoretischen bzw. poetologischen Positionierung fanden maßgeblich über Briefe Vermittlung. Grundsätzlich im lebensweltlichen Rahmen verhaftet, bot der Brief als bewegliches und globales Medium die Möglichkeit der transnationalen Verständigung und der Tradierung von Ideen, Konzepten, Bildung, Sprache sowie von Akteuren über Landesgrenzen hinaus. Briefe wirkten kollektiv gedächtnis- und identitätsstiftend. Allein die zwischen der Schweiz und Preußen gewechselten (und bislang kaum erschlossenen) Briefe Sulzers, Bodmers, Lavaters, Zimmermanns, J.W.L. Gleims (1719–1803), Karl Wilhelm Ramlers (1725–1798) oder Salomon Geßners (1730–1788) sind dafür das beste Beispiel. Das aufklärerische Geselligkeitspostulat, das eine über zwei Korrespondenz- bzw. Gesprächspartner hinausgehende Kommunikation und Interaktion implizierte, konnte insbesondere mit Hilfe von Briefen maßgeblich konstituiert, gelenkt und gesteuert werden. Der stets zwischen Privatheit und Öffentlichkeit oszillierende Brief und dessen Weiterverwertung, z. B. in Form von Weitergeben, Kopieren oder Lektüren in Gruppen, boten die Möglichkeit, Gemeinsamkeit und Gleichzeitigkeit zu schaffen, eine Stimmen- und Meinungsvielfalt zu evozieren, Abwesendes mehrstimmig zu vergegenwärtigen, freilich nicht selten unter dem strategischen Aspekt einer verbindlichen gemeinsamen (poetischen) Identitäts- und Meinungsbildung. Nicht nur das eigentliche Verfassen, sondern auch das Abschreiben, Weitergeben und Beilegen von Briefen gehörte dabei zu den festen und bald ritualisierten Praktiken literarisch-geselliger Kreise, zu deren maßgeblichen Akteuren Sulzer und Bodmer gehörten und die auch von deren Schülern und jüngeren Korrespondenzpartnern wie Lavater oder Zimmermann aufgegriffen und weiterentwickelt wurden.24 Lavater hat diese Dimension und Bedeutung von Briefen erkannt und sich selbst über Briefe vermarktet, weit verzweigte Freundschaftsbriefwechsel gebildet und epistolare Netzwerke gepflegt. Seine „Begierde, Epoche zu machen“,25 die ihm Friedrich Nicolai – natürlich in einem Brief – vorwarf, ist in seinen Korre-

24 Vgl. dazu Kittelmann, Jana, Zwischen geselliger Praxis und Lesbarkeit für die Nachwelt. Überlegungen zur Funktion von Briefabschriften Johann Georg Sulzers, in: J. Paulus/A. Hübener/ F. Winter (Hg.), Duplikat, Abschrift und Kopie. Kulturtechniken der Vervielfältigung, Köln 2020, 155–172; Vgl. auch: Peter, Emanuel, Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, hier v. a. 5–37; Immer, Lena, Der ferne Freund. Ungesellige Geselligkeit in der empfindsamen Freundschaft, in: J. Heinz/A. Heinz/N. Immer (Hg.), Ungesellige Geselligkeit, Heidelberg 2005, 133–147. 25 Friedrich Nicolai an Zimmermann, 30.05.1775, in: Bodemann, Eduard, Johann Georg Zimmermann. Sein Leben nach bisher ungedruckten Briefen. Hannover 1878, 308.

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spondenzen dokumentiert. Mit dem legitimen und nicht nur von ihm, sondern auch von vielen anderen Akteuren erhobenen Anspruch, die eigene Rezeption und Nachwirkung über Briefe selbst steuern zu wollen, war Lavater äußerst erfolgreich. Wohl wie keinem Zweiten gelang es ihm, generationen-, geschlechter- und kontextübergreifend in Briefwechseln präsent zu sein. Wenn es so etwas wie ein epistolares Phänomen im 18. Jahrhundert gibt, dann ist es Johann Caspar Lavater. Nicht zuletzt hat Lavater stark auf den Brief als literarische Ausdrucksform gesetzt. Seine Aussichten in die Ewigkeit basieren auf Briefen an Johann Georg Zimmermann. Die Auseinandersetzung mit Johann Salomo Semler (1725–1791) wurde in Form von Briefen geführt und auch in Briefen Dritter wahrgenommen, wie ein Schreiben Johann Jakob Bodmers zeigte, der Sulzer mitteilte, dass „der gute Lavater […] von Dr. Semlern und andern puffe empfangen [habe], die, wenn sie körperlich wären, einen stier niederlegen könnten“.26 Zudem spielten in Lavaters Begeisterung für den Brief graphologische Interessen hinein, wie die zahlreichen Abbildungen von handschriftlichen Briefproben in den Physiognomischen Fragmenten zeigen. Vor diesem Hintergrund erhält die Präsenz Lavaters in zeitgenössischen Korrespondenzen eine besondere Dimension. Lavater wird darin nicht nur genannt, sondern er wird diskutiert, kritisiert, kontextualisiert und rezipiert. Häufig werden die briefinternen Debatten und Diskussionen um den charismatischen Lavater mit hoher Emotionalität, Dynamik und Tempo geführt. So auch im Briefwechsel zwischen Sulzer und Bodmer, in dem Lavater ganze 476-mal vorkommt. Damit gehört er zu den prominentesten Figuren innerhalb der Korrespondenz. Häufiger finden nur Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) und Christoph Martin Wieland (1733–1813) Erwähnung. Bis 1779, als die Korrespondenz mit dem Tod Sulzers – dessen Sterben Lavater in einem Brief an Bodmer theologisch reflektiert27 – endet, sind er bzw. viele seiner Werke in 144 Briefen und damit in fast jedem Schreiben präsent. Frühe Schriften wie sein Christliches Handbüchlein von 1767 wurden dabei ebenso ausführlich diskutiert wie die Physiognomischen Fragmente, die Ode an Gott oder das Drama Abraham und Isaak. Die briefinternen Diskussionen zahlreicher Werke von und über Lavater umfassten zudem Beiträge im Lindauer Journal oder im Erinnerer, der von Lavater herausgegebenen Wochenschrift, die 1767 von der Zensur verboten wurde. Hinzu gesellte sich ein kontinuierlicher Austausch über die Persönlichkeit bzw. die persönliche Entwicklung Lavaters, der auf Bodmer und Sulzer mal begeisternd, mal verstörend, aber doch immer faszinierend wirkte. Auf die ambivalente Wirkung und Wahrnehmung Lavaters weisen nicht zuletzt die Begriffe und Lemmata hin, die mit ihm in Verbindung gebracht werden. Da ist zunächst von dem „braven Patrioten“ Lavater die Rede, der in den folgenden Jahren aufgrund seiner vielseitigen Begabungen und Interessen oft als „Rätsel“

26 Bodmer an Sulzer, 22.12.1775, Briefwechsel, 978. 27 Lavater an Bodmer, 24.03.1779, ZBZ, Ms Bodmer 4.3.

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bezeichnet und schließlich nach seiner „theologischen Umorientierung“ bzw. Eigenständigkeit und seiner „Sehnsucht nach sensitiven Transendenzerfahrungen“28 als „völlig unheilbar und verlohren“29 betrachtet und bedauert wird. Die ‚Verlorenheit Lavaters‘ erscheint als ein eigener Diskurs in den Briefwechseln der Zeit30, die auch in gedruckte Texte wie Johann Jakob Hottingers (1750–1819) anonym publiziertes Sendschreiben an den Verfasser der Nachrichten von den Zürcherischen Gelehrten überging und die Polemik um Lavater weiter befeuerte. Zimmermann, der Sulzer beständig über die Konflikte informierte, versuchte den Freund zu beruhigen und auf den richtigen Weg zurückzubringen.31 In einem Schreiben vom 18. April 1775 an Lavater, in dem von „der fürchterlichen Brochure gegen dich“ die Rede ist, versicherte er: „Lavater – verlasse dich darauf daß du Freunde hast, die für dich stehen werden wie Felsen im Meer. Aber schweig doch um Gottes Willen von Wundern. Und denk an nichts als deine Physiognomik, die ein göttliches Werk ist.“32 Zu den hier erwähnten Freunden zählte Sulzer, der sich entrüstet darüber zeigte, wie Lavaters Gegner in Zürich, darunter Johann Jakob Breitinger, mit diesem umgingen: [I]ch höre sehr viel unangenehmes von den Begegnungen, die der gute Lavater von einigen ihrer dortigen Gelehrten auszustehen hat. Ich dächte doch, daß das viele gute und sogar Große, das Lavater unstreitig hat, ihn manche Schwachheit sollte übersehen machen.33

Zugleich wirkte Sulzer wiederholt auf Zimmermann ein, dass er dessen „ausschweiffende Phantasie“34 zügeln solle. Mit Lavaters Hinwendung und Publikationen zur Physiognomik wendete sich schließlich die Wahrnehmung in Sulzers Korrespondenzen erneut. So kam Sulzer am 29. Mai 1775 zu dem Schluss: „Lavater bleibt seinen Schwermereyen ungeachtet ein verständiger und liebenswürdiger Man, und seine Physiognomik ist kein schlechtes Buch.“35 Die Faszination unterlag deutlichen Schwankungen und war nicht zuletzt abhängig von Nachrichten, die man direkt oder indirekt aus Briefen und Mitteilungen Dritter erfuhr. Sulzers Interesse an Lavater wurde maßgeblich durch seine

28 Weigelt, Lavater, 14, 16. 29 Sulzer an Bodmer, 6.10.1771, Briefwechsel, 863. 30 Vgl. u. a. entsprechende Zeugnisse in: Bodemann, Eduard, Julie von Bondeli und ihr Freundeskreis: Wieland, Rousseau, Zimmermann, Lavater, Leuchsenring, Usteri, Sophie La Roche, Frau v. Sandoz u. a. Nach bisher ungedruckten Briefen der Bondeli an Zimmermann und Usteri, Hannover 1874. 31 Vgl. dazu auch: Glatz, Siegfried, „Ein solcher Freünd wie du bist, deine bisweiligen Lobsprüche abgerechnet, ist mir unentbehrlich“, in: H.-P. Schramm (Hg.), Johann Georg Zimmermann. Königlich großbritannischer Leibarzt (1728–1795), Wiesbaden 1998, 93–108. 32 Zimmermann an Lavater, 18.04.1775, ZB, FA Lav Ms 534.1–51. 33 Sulzer an Bodmer, 29.7.1775, Briefwechsel, 969. 34 Sulzer an Bodmer (über ein Schreiben, das er bezüglich Lavater an Zimmermann geschickt hatte), 11.12.1775, ebd. 977. 35 Sulzer an Bodmer, 25.05.1775, ebd., 967.

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Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann geweckt und lebendig gehalten. Zimmermann bildete eine Art epistolare Schnittstelle und hatte einen zuweilen gänzlich anderen Blick auf seinen dreizehn Jahre jüngeren Freund Lavater als Bodmer, der seinem einstigen republikanischen Schüler dessen Hang zur religiösen Schwärmerei und zu Wundern übelnahm, wie zahlreiche briefliche Äußerungen an Sulzer zeigen. Passagen wie „Er schwazt, er predigt, er singt beständig die Wunderkraft des Glaubens, er hat doch nur einige Weiblein erobert“,36 „sein Enthusiasmus tödet ihn noch“37 oder Lavater kömmt öfters zu mir, nimmt auch seine gute Frau mit ihm. Er redet dann die menschliche sprache mit mir, nicht die ätherische die er mit brüdern und schwestern redet. Wie könnte ich verstehen: Alles was Gott ist, ist Christus menschlich. Und: Gott wird sich durch Vernunft an der Vernunft rächen38

finden sich zahlreich in Bodmers Briefen. Sulzer hingegen war beeindruckt, als ihm Zimmermann Lavater in einem Schreiben vom 1. November 1766, das freilich eher einer überhöhenden Lobeshymne gleicht, als Ausnahmetalent, als Dichter, Naturforscher, Erfinder und Ästhetiker schilderte. Bei Sulzer, der von seinen Zeitgenossen selbst als Nachfolger von Leibniz39 und als einer der letzten Weltweisen und Universalgelehrten gewürdigt wurde, stießen folgende Ausführungen Zimmermanns, den Bodmer als Lavaters „Apollo in Poesie und Metaphysik“40 betitelte, auf großes Interesse: Indeß entstehet ein neüer Tyrtäus oder Gleim, der Schweizerlieder schreibt die Deütschland lesen wird: der gleiche Mann schreibt im Geschmacke des Thomas ein Eloge von dem Antistes Breitinger, wo derbe Warheiten unserm Zeitalter gesagt werden: der gleiche Mann schreibt ein Lehrgedicht über die zukünftige Welt, das ganz gewiß die zukünftige Unterwelt wenigstens lesen wird; der gleiche Mann hat eben izt die Schweizerlieder, das Eloge, und eine Abhandlung vollendet und zum Druke fertig, mit der Aufschrift: die unendliche Theilbarkeit des Raums, demonstrirt und einige folgen daraus hergeleitet. Sie ist mehr physisch als metaphysisch und für mich äußerst frappant. Der gleiche Mann arbeitet beyläufig an der Verbeßerung der Perspective, und glaubt es zu Stand zu bringen daß der Campus visionis dreymal so groß als gewöhnlich, die deutlichkeit merklich besser, und die Ver-

36 Bodmer an Sulzer, 16.02.1771, ebd., 847. Bodmer war vor allem entsetzt über Lavaters reges Interesse an der Bauersfrau Katharina Rinderknecht und an Heinrich Wyss, die beide behaupteten, dass sie göttliche Offenbarungen erhalten hätten und Wunder vollbringen könnten. Die Seelenfreundschaft zwischen der 55-jährigen Rinderknecht und dem 21-jährigen Wyss entpuppte sich bald als erotische Affäre und sorgte für einen Skandal. Vgl. auch Weigelt, Lavater, 19. 37 Ebd. 38 Bodmer an Sulzer, 17.10.1775, ebd., 975. 39 Vgl. u. a. die Ode auf Sulzer von Lavaters Freund Gottlob David Hartmann, in der dieser über Sulzer schreibt, dass dessen Name „Groß, wie Leibnizens Name tönt“. Hartmann, G. D., Ode an S., in: Ders., Hartmanns Hinterlassene Schriften, Gotha 1779, 158–162, hier 158. 40 Bodmer an Sulzer, 29.06.1768, Briefwechsel, 817.

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größerung wie in einem gleichlangen Telescopio Newtoniano, die länge aber nicht mehr als vier fuß werde, und eine ganze Machine die doch nur aus zwölf Gläsern besteht, nicht höher als 16 gulden kommen soll. Er hat gegenwärtig ein Microscopium nach der Helfte dieser Theorie wirklich verfertiget, welche ihm ungemeine dienste thut. – Den gleichen Mann suche ich zu einer ganz neüen, auf Millionen Beobachtungen gegründeten Physiognomik zu ermuntern, worinn er ein ganzer Meister ist; er gründet sein System mehren­ theils auf die Profile.41

Zimmermann, der sich in den letzten Zeilen als derjenige zu erkennen gab, der Lavater maßgeblich zu physiognomischen Studien ermunterte und inspirierte,42 war, wie das Schreiben ebenfalls zeigt, einer der großen Briefförderer Lavaters, der den begabten Gelehrten und seine vielseitigen Interessens- und Arbeitsgebiete auch bei älteren Aufklärern wie Sulzer protegieren, Briefgespräche über Lavater anregen und zugleich ein spezielles Lavater-Bild propagieren wollte. Diese mit dem Brief verbundene Intention fruchtete. Sulzer war angetan und fragte umgehend bei Bodmer nach: Dr. Zimmermann schreibt mir, daß der Lobredner des Ant. Breitingers ein Gedicht von der zukünftigen der Welt, schweizerische Lieder schreibe, daß derselbe eine Merkwürdige Schrift über die unendliche Theilbarkeit des Raums und der Zeit verfertiget habe, und auch an Verbeßerung der Ferngläser arbeite nachdem er bereits die VergrößerungsGläser vollkommener gemacht habe. Wenn alles dieses von unserm Lavater geschieht, so ist er mir ein Rätsel.43

Bodmer winkte freilich ab. Als strikter Anhänger des Hexameters warf er Lavater vor, dass dieser in den Schweizerliedern den „schweizerischen Gedanken […] durch den tändelnden schall der Reime erstikt“ habe und diese „popular moralisch“ seien.44 Zudem sah er die Verbindung zwischen Lavater und dem von ihm einst geförderten Klopstock45 kritisch: Klopstok hat Lavatern den Gesang von der Himmelfarth geschikt; es ist nichts, als Schall; selbst Gabriels Haarloken säuseln. Von Lavaters unendlicher theilbarkeit des raumes, weiß ich nichts, auch von seinen gläsern.46

41 Zimmermann an Sulzer, 1.11.1766, Leibniz Bibliothek Hannover, Ms XLII 1933 A I I 93, 18. 42 Vgl. dazu: Ohage, August, Zimmermanns Anteil an Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“, in: Schramm (Hg.), Johann Georg Zimmermann, 109–122. 43 Sulzer an Bodmer, 20.11.1766, Briefwechsel, 763. 44 Bodmer an Sulzer, 29.03.1768, ebd., 804. 45 Bodmer und Klopstock hatten sich bereits 1750 in Zürich überworfen. 46 Bodmer an Sulzer, 24.12.1766, Briefwechsel, 765.

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Sulzer, der selbst Mikroskope und Barometer konstruiert und zahlreiche physikotheologische Abhandlungen verfasst hatte,47 war von Lavaters Talent und Charisma ergriffen, auch weil er hier einen Gelehrten sah, der sich in die Riege der sowohl in der philosophischen Naturlehre und deren Apparaturen und Praktiken gebildeten als auch in der Ästhetik und Dichtung etablierten Forscher und Gelehrten, zu denen neben Sulzer selbst unter anderem Albrecht von Haller (1708–1777), Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800) und Johann Georg Zimmermann gehörten, einzureihen suchte. Die um die Jahrhundertmitte zunehmende Thematisierung und literarische Überformung einer wissenschaftlichen Erfahrbarkeit von Naturereignissen und Naturphänomenen deutete schließlich auf einen verbreiteten Versuch hin, Dichtung und Ästhetik als einen Ort der fundierten Welt(er)kenntnis zu beanspruchen. Ansätze davon schien Sulzer, der im „Vergrösserungs Glas […] andre Augen“ sah, „die uns mit einer neuen Welt von Wundern bekannt machen und bei dem die sinnliche Erkennung der Natur mit einer ästhetischen Lust verbunden ist“,48 auch bei Lavater zu spüren. Sulzer stand für einen Ansatz, in dem sich naturkundliche Beobachtung, Systematisierung, technische und ästhetische Aneignung der Natur nicht ausschlossen. Er wirkte damit auf Lavater ein, mit dem er sich in einem früheren Schreiben über „Ringförmige Brenn Gläser“49 austauschte. Zimmermann gegenüber verhehlte Sulzer sein Interesse an Lavater nicht. Dessen per Brief betriebene Popularisierung Lavaters zeigte Wirkung. Am 14. Januar 1767 bemerkte Zimmermann gegenüber Lavater: Ich habe an Herrn Prof. Sulzer den 1. Nov. alles geschrieben was ich von dir in Absicht auf das Genie frappantes wusste, und dieses alles ohne dich zu nennen. Er antwortete mir am 13. Decemb. „Was Sie mir von einem neüen Philosophen sagen der zugleich Wissenschaften und Moral so hoch treibt, hat mir etwas räthselhaftes, dessen Aufschluß ich begierig erwarte. Sie haben ihm ein großes Thema aufgegeben. Aber um es aufzuführen wird er erst noch beynahe eine ganze Sprache erfinden müßen. Wer kann die Symptome der Physionomie beschreiben?“50

In Zimmermanns Brief deutet sich bereits eine Diskursverschiebung bei Lavater an, innerhalb derer sich die Beobachtung zunehmend als eine gelernte Fähigkeit emanzipieren und so Anschluss an den Geniegedanken finden sollte. Nahezu 47 Siehe u. a. Sulzers Schriften über das Barometer sowie dessen Unterredungen über die Schönheit der Natur (1750) und Moralische Betrachtungen über die Wercke der Natur (1745). Vgl. dazu Kittelmann, Jana, „Sylvan und die Dryaden gehen noch über die Musen“. Botanisches und gartenbauliches Wissen in Johann Georg Sulzers (Brief)Werk, in: Décultot/Kampa/Kittelmann (Hg.), Aufklärung im Umbruch, 252–285. Vgl. zu Sulzers und Lavaters Beschäftigung mit Apparaturen und naturkundlichen Beobachtungspraktiken auch: Kittelmann, Jana/Baumann, Baptiste, Zwischen Moos und Wetterglas. Naturkundliche Objekte und Interieurs in der Literatur der deutschsprachigen Aufklärung, Neohelicon 47, 2 (2020), 433–454. 48 Sulzer, Johann Georg, Unterredungen über die Schönheit der Natur, Berlin 1750, 48. 49 Sulzer an Lavater, 8.07.17[63], ZBZ, FA Lav Ms 528. 50 Zimmermann an Lavater, 14.01.1757, ZBZ, FA Lav Ms 533, 106.

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zeitgleich wie in Jean Senebiers (1742–1809) bekannter Schrift über die Kunst der Beobachtung von 1775 lässt sich in Lavaters Physiognomik eine Verschiebung von der reinen Praxis und Übung der Beobachtung hin zur Behauptung einer Beobachtungsgabe feststellen. Diese macht sich in Form des Genies bemerkbar und beansprucht eine über die Wahrnehmung der Natur hinausgehende Ahnung des Geistes.51 Hierin lag nun freilich ein Konfliktpotential mit Sulzer und Bodmer. Sulzer, der selbst eine Schrift mit dem Titel Entwickelung des Begriffs vom Genie verfasst hatte, nahm Lavater nicht dessen Auseinandersetzung mit genieästhetischen Diskursen, aber umso mehr die Nähe zu den Stürmern und Drängern Goethe und Herder52 übel und äußerte sich darüber häufig in seinen Briefwechseln. Mit seinem harmonischen und physikotheologisch geprägten Naturbegriff war Sulzer zur Zielscheibe von Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), Johann Gottfried Herder (1744–1803) 53 und Johann Heinrich Merck (1741–1791) avanciert und von diesen in Rezensionen stark angegriffen worden. Sulzer pries die Natur stets als „wahre und ursprüngliche Quelle aller Schönheit“, auch weil ihr „das Stürmische der Paßionen“ fremd sei54 und sorgte damit zu Beginn der 1770er Jahre für heftige Kontroversen. In dem 1772 erschienenen Artikel Die Schönen Künste; in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung schrieb Sulzer: In der ganzen Schöpfung stimmt alles darinn überein, daß das Aug und die andern Sinnen von allen Seiten her durch angenehme Eindrücke gerührt werden. […] Ohne Zweifel wollte die Natur durch die von allen Seiten auf uns zuströmenden Annehmlichkeiten unsre Gemüter überhaupt zu der Sanftmut und Empfindsamkeit bilden.55

Daraufhin fragte Goethe in kritisch-provokantem Ton in einer Rezension in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen:

51 Vgl. den Abschnitt „Die Physiognomik, eine Wissenschaft“ in: Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, 1775, 52–56. 52 Zu Lavater und Herder sowie deren Korrespondenz vgl. u. a. Kohler, Daniela, Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung: Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder, Berlin/Boston 2015, 239–262; Düntzer, Friedrich/Herder, Ferdinand Gottfried von (Hg.), Briefwechsel zwischen Herder und Lavater, 2 Bde. Frankfurt a. M. 1857; siehe auch Caflisch-Schnetzler, Ursula, Johann Caspar Lavater, in: M. Luserke-Jaqui/V. Geuen/L. Wille (Hg.), Handbuch Sturm und Drang, Berlin/Boston, 2017, 136–141. 53 Vor allem mit Herder setzte sich Sulzer äußerst kritisch auseinander. So schrieb er an Zimmermann: „Herder hat Goethe verdorben und Goethe verdirbt hundert andere. Es scheint mir wichtig, daß man sich mit Ernst dem empfindsamen Unsinn der die Stelle der Vernunfft einnehmen will, wiederseze.“ Sulzer an Johann Georg Zimmermann, 12.12.1774, Leibniz Bibliothek Hannover, Ms XLII 1933 A II 93, Bl. 128. 54 Sulzer, Unterredungen, Xf. 55 Ders., Die Schönen Künste, in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung betrachtet von J. G. Sulzer, Leipzig 1772, 11.

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Was würde Herr Sulzer zu der liebreichen Mutter Natur sagen, wenn sie ihm eine Metropolis, die er mit allen schönen Künsten, Handlangerinnen, erbaut und bevölkert hätte, in ihren Bauch hinunterschlänge?56

Die „Raserey der Sentimental Autoren“57 entwickelte sich zu einem dominierenden Thema in Sulzers und Bodmers Korrespondenzen. Lavaters Nähe zu Goethe und Herder stieß auf Befremden. Goethe, dessen Genie Sulzer nicht verkannte, wurde als „excentrisch lauffender Comet“, als „hiziger und unphilosophischer Kopf “ bezeichnet, „der die Empfindungen auf den Thron sezen möchte, von dem er die Vernunfft herunterreißt“.58 Herder, den Lavater sehr verehrte,59 avancierte gar zum „Kind der finsterniß“60 und man zeigte sich entrüstet darüber, dass Lavater dessen „schriften posaunet.“61 Lavaters Reise nach Bad Ems, auf der er in Koblenz mit Goethe und Basedow zusammentraf, wurde als „apostolisch charlatanische Reise“62 kritisch beäugt und zugleich detailliert verfolgt. Spuren dieses Konflikts sind zudem in Sulzers brieflichen Äußerungen über Lavaters Gedicht auf den Rheinfall, das ihm Zimmermann wie viele andere Schriften Lavaters als Beilage übersandt hatte, zu spüren. Zwar fand die Kombination aus Zeichnung und Text63 durchaus Sulzers Zustimmung. Lavaters Verständnis von der Natur als einem „zürnenden Richter“, worin er an Goethes Aussagen erinnert, lehnte er hingegen ab: Lavaters Rheinfall ist sehr schön, die Zeichnung nämlich. Auch der Einfall, dergleichen Zeichnungen als Vehicula zu größern Gedanken zu gebrauchen, ist völlig in meinem System wie Sie aus aus dem Artikel über die Schönen Künste sehen werden. Aber es ist meinem System zuwider, in der Natur den zürnenden Richter zu finden, wo er nicht ist.64

56 Anonym [Johann Wolfgang von Goethe], Rez. zu: Die Schönen Künste, in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung betrachtet von J. G. Sulzer, Frankfurter Gelehrte Anzeigen (18.12.1772), 801–808, hier 803. 57 Sulzer an Bodmer, 22.04.1776, Briefwechsel, 981. 58 Sulzer an Johann Georg Zimmermann, Berlin, 12.12.1774, Leibniz Bibliothek Hannover: Ms XLII 1933 A II 93, Bl. 128. 59 Vgl. Lavaters Brief an Herder vom 6.04.1774 zu dessen „Aeltester Urkunde des Menschengeschlechts“: „Wie der Wächter auf den Morgen wartet, so harrten wir, ach!, wie harrten wir auf Dein Werk. Epoche hat Dein Werk in meinem Herzen noch nicht gemacht, wie ichs hoffte, aber sicher bin ich nun, daß nähere Erläuterung und die Fortsetzung, nach deren ich nun noch mehr dürste, es machen wird.“ (Düntzer/Herder [Hg.], Briefwechsel zwischen Herder und Lavater, 92). 60 Bodmer an Sulzer, 16.05.1775, Briefwechsel, 962. 61 Ebd. Im Gegenzug spottete Lavater über die „kalte Vernünfteley so mancher Lichtköpfe“. Lavater an Zimmermann, 4.05.1773, ZBZ, FA Lav Ms 587.30. 62 Sulzer an Bodmer, 20.09.1774, Briefwechsel, 934. 63 Lavater, J.K., [Der Rheinfall bey Schaffhausen]: den 1. Julius 1771 unten am Schlosse Laufen nach der Natur. Das Gedicht war zunächst als opulent illustrierter Einzeldruck erschienen. Siehe etwa das Exemplar in der ZBZ, Sign.: STF Meyer, Felix VIII, 70 a. Sulzers Exemplar, das ihm Zimmermann übersandte, konnte nicht ermittelt werden. 64 Sulzer an Zimmermann, 13.03.1772, Leibniz Bibliothek Hannover, Ms XLII 1933 A II 93, 34.

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Der Faszination von Lavaters 32 Seiten starker und 1770 als Einzeldruck publizierter Ode an Gott konnten sich Sulzer und Bodmer hingegen nicht verschließen und analysierten sie in ihren Briefen bis auf die Vers- und Wortebene hinab. Zugleich waren sie sicher, dass Lavater damit zum Opfer von gefürchteten Kritikern wie Christian Adolf Klotz (1738–1771) oder Friedrich Nicolai, mit denen sie selbst in einer Art Dauerkonflikt standen, werden würde: Lavater hat eine Ode auf Gott geschrieben, die von Ewigkeiten zu Ewigkeiten fortgehet. Klopstok würde sie nicht erfliegen. Sie ist unerfliegbar, unerschwinglich, unbesiegbar. In dieser Ode sind Fleischnacht; Flammennacht; Nachtthal; staublied; Bilder versengende Geistigkeit; geistige sterblichkeit; Glutlicht der tröpfelnden Planeten; felsenreiches sandkorn; Fersen Jehovas; staubumwundene; tausendseelige Polypen. Cruces Kloziorum et Nicolaorum! Sie werden ihn dafür selbst kreuzigen.65

3. Wechselwirkungen Gleichwohl stießen weniger Lavaters epische, sich durchgängig auf biblische Themen konzentrierende Schriften, sondern seine Arbeiten zur Physiognomik auf das nachhaltige Interesse Sulzers, obgleich der ‚ewig verehrte‘ Bodmer, wie ihn Lavater in seinen Briefen nannte, ironisch warnte: „Was sagen Sie zu Lavaters physiognomik? Wir müßen den Zeichnern gute worte geben, damit sie uns nicht verdammliche Züge geben. Ich fürchte Schellenberg habe mich zum Dunse gezeichnet.“66 Tatsächlich sind Bodmer und Sulzer mit Porträts in Lavaters Physiognomischen Fragmenten vertreten. Letzterer wurde sogar mehrfach und in verschiedenen gesundheitlichen Stadien dargestellt. Dabei zeigte sich Sulzer, der ohnehin bestrebt war, physiognomische Phänomene systematisch und theoretisch zu erfassen,67 dem Projekt gegenüber von Beginn an aufgeschlossen.68 In seinem Vorbericht zu Lavaters Abhandlung Von der Physiognomik führt Johann Georg Zimmermann ausdrücklich Sulzer als Referenz an und zitiert aus einem Brief Sulzers vom 13. Mai 1772: Eine Physiognomanie ist durch die Bekanntmachung dieser Blätter nicht leicht zu befürchten, wenn man erwäget, was mir neulich ein Philosoph ohne Bildsäule, Mantel und Bart,

65 Bodmer an Sulzer, 17.10.1770, Briefwechsel, 841. 66 Bodmer an Sulzer, 14.10.1772, ebd., 881. 67 Vgl. dazu auch Schütz, Anna Christina, Charakterbilder und Projektionsfiguren: Chodowieckis Kupfer, Goethes Werther und die Darstellungstheorie in der Aufklärung, Göttingen 2019, 116. 68 In seiner positiven Haltung zu Lavater nahm Sulzer durchaus eine Sonderstellung in Berliner Gelehrtenkreisen, die Lavaters Physiognomik überaus kritisch beurteilten, ein. Vgl. dazu Kirchner, Thomas, Chodowiecki, Lavater und die Physiognomiedebatte in Berlin, in: E. Hinrichs/K. Zernack (Hg.), Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, Tübingen 1997, 101–142

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aber ein eben so großer Philosoph als irgend einer aus dem Alterthume (Herr Sulzer in Berlin) geschrieben hat: in Lavaters Physiognomik sind wirklich tiefsinnige Einsichten. Aber wehe dem, der glaubt daraus die Kunst zu lernen, wenn er nicht Lavaters Aug und Herz hat.69

Lavater selbst griff diese Position Sulzers auf und kam im ersten Band der Physiognomischen Fragmente zu dem Schluss: „Alle Menschen in der Welt, die Augen und Ohren haben, haben Anlagen zur Physiognomik. Aber unter zehentausenden wird nicht Einer ein guter Physiognomist werden.“70 Nicht zuletzt erweisen sich die Grenzen zwischen Brief und publiziertem Text wiederum als fließend und die damit verbundene Verschaltung unterschiedlicher Medien sowie von Privatheit und Öffentlichkeit als signifikant für die Rezeption bzw. Rezeptionssteuerung Lavaters und seines Werkes. Die Briefwechsel dokumentieren einerseits biographische Schnittstellen und den direkten bzw. indirekten persönlichen Austausch mit und über Lavater. Zugleich entwickelte sich aus der briefinternen gegenseitigen Wahrnehmung eine werkimmanente gegenseitige Rezeption. Am Beispiel von Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste, dem ersten ästhetischen Lexikon in deutscher Sprache, und Lavaters Physiognomischen Fragmenten, lässt sich beobachten, wie aus einem Dialog in Briefen ein Dialog zwischen Werken werden kann. Dieser Dialog umfasste mehrere Themen und Bereiche und reicht von Beobachtungspraktiken über Systematisierungsversuche bis hin zu konkreten Beispielen, wie etwa Sulzers Artikel „Schönheit“, auf den sich Lavater wiederholt bezieht, aus dem er zitiert und den er als grundlegend für seine eigenen Ausführungen anführt: Indem ich dieses schreibe, fällt mir aus Herrn Sulzers Theorie der schönen Künste, der Artikel schön und Schönheit zu Gesichte. Ich kann mich nicht enthalten, einen Auszug daraus meinen Fragmenten einzuverleiben. Seine Gedanken stimmen so sehr mit den meinigen überein, und gehören so eigentlich und genau zu dieser Materie, daß ich keinen Augenblick zweifle, meinen Lesern durch Hersetzung derselben ein wahres Vergnügen zu machen.71

Auf vier Seiten stellte Lavater unter dem Zusatz Von der Harmonie Zitate aus Sulzers Artikel zusammen. Den Auftakt macht die Aussage, „[d]aß die menschliche Gestalt der Schönste aller sichtbaren Gegenstände sey“.72 Den Schluss bilden Sulzers Worte, dass der „schönste Mensch sey, dessen Gestalt den, in Rücksicht auf seine ganze Bestimmung, vollkommensten und besten Menschen ankündiget.“73 Lavater sah darin eine hervorragende Ausgangslage und Basis für seine eigenen Ausführungen, einen – wie er schreibt – „angenehmen Ruheplatz für den Leser und für mich 69 Zimmermann, Johann Georg, Vorbericht, in: Lavater, J.K., Von der Physiognomik, Leipzig 1772, 3–6, hier 5f. 70 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, 170. 71 Ebd., 105. 72 Ebd. 73 Ebd., 108.

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[…] auf der Mitte eines Spazierwegs.“74 Lavater dokumentierte damit ausdrücklich, dass er unter dem Einfluss Sulzers stand. Andererseits bemerkte auch Sulzer Parallelen und kam zu dem Schluss, „daß in Lavaters Physiognomik, nach Abzug viel chimärischen Zeüges, viel Wahres übrig bleiben wird. Der Artikel Schönheit in meiner Theorie, wird Sie überzeügen, daß ich auch etwas lavaterisch denke.“75 Die Wechselwirkungen zwischen dem Sulzerischen und dem Lavaterischen Denken treten insbesondere in den Ausführungen zum Porträt offen hervor und standen vor allem in der kunstwissenschaftlichen Forschung bereits mehrfach im Fokus.76 Lavaters physiognomische Studien und Sulzers Kunsttheorie greifen darin stark ineinander und gleichen nicht selten einem in den Text transformierten Dialog. Tatsächlich lieferte Sulzer mit seinem Artikel „Portrait“77 einen der wichtigsten und einflussreichsten Beiträge zum Porträtideal seiner Zeit,78 auch weil er der anthropozentrischen Perspektive den Vorrang gab und somit den Menschen und dessen Gesicht, dass „das Einzige“ sei, das in der Porträtmalerei „die Aufmerksamkeit an sich ziehen muß“, in den Mittelpunkt stellte. Lavater reagierte umgehend und unmittelbar auf Sulzers Ausführungen. In dem mit Einige Zeugnisse für die Physiognomik betitelten vierten Fragment des ersten Bandes ist Sulzers Bemerkungen zum Porträt ein eigener Abschnitt gewidmet.79 Neben Johann August Ernesti (1717–1781), Haller, Christian Wolff (1679–1754) und Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) ist Sulzer der fünfte zeitgenössische deutschsprachige Gelehrte, den Lavater anführt. Lavater sah in Sulzer, der zugleich Schwiegervater des berühmten Porträtmalers Anton Graff (1736–1813) war und selbst zu einem der am häufigsten porträtierten Gelehrten der Aufklärung gehörte, den einzigen, der die Materie Porträtmalerei zu „umfassen, zu erschöpfen, und ins helleste Licht zu setzen im Stande wäre.“80 Für Sulzer steht der fühlende Mensch im Zentrum. Anknüpfend an den französischen Geistlichen Jean-Baptiste Dubos (1670–1742), mit dem sich Sulzer intensiv auseinandersetzte, stellt der Gesichtssinn das stärkste Medium zur Beeinflussung der Seele des Menschen dar. Das Porträt bedient sich als bildnerisches Kunstwerk natürlicher Zeichen und kann – im Gegensatz zur Dichtung – so sinnlich den ganzen Menschen ansprechen und die Gefühle anregen. Im Gegensatz zu Lavater, der mit dem Porträt bzw. der Porträtmalerei auch eine religiöse Intention (heilige Arbeit) verband, hatte das Porträt für Sulzer eine vornehmlich didaktisch-moralische Funktion im gesellschaftlichen Leben einzunehmen. Lavaters Auffassung von der Physiognomik als „Wissenschaft aus dem Gesicht und der 74 Ebd., 109. 75 Sulzer an Bodmer, 7.02.1775, Briefwechsel, 956. 76 Vgl. u. a. Althaus, Zum Porträt in der Sammlung Lavater, hier v. a. 71–75; Kanz, Roland, Dichter und Denker im Porträt: Spurengänge zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts, München 1993; Schütz, Darstellungstheorie in der Aufklärung, 113–117. 77 Sulzer, J. G., Portrait, in: Ders., Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, 918–921. 78 Vgl. Althaus, Zum Porträt in der Sammlung Lavater, 71f; Kanz, Deutsche Porträtkultur im 18. Jahrhundert, 99. 79 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, 27f. 80 Ebd., Bd. 2, 78.

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Gestalt des Menschen seinen Charakter zu erkennen“, korrespondierte wiederum mit Sulzer, der Schönheit und Hässlichkeit als Spiegelbild der Seele, als Widerspiegelungsverhältnis begriff und in seinem Artikel „Portrait“ betonte: Nichts ist also gewisser, als dieses, daß wir aus der Gestalt der Menschen vorzüglich aus ihrer Gesichtsbildung etwas von dem erkennen, was in ihrer Seele vorgeht; wir sehen die Seele in dem Körper. Aus diesem Grunde können wir sagen, der Körper sey das Bild der Seele, oder die Seele selbst, sichtbar gemacht.81

Daraus zog Sulzer den Schluss, dass der Porträtmaler unweigerlich ein „Seelenmahler“82 sein müsse, und bot so Lavaters Beobachtungen und Darstellungen ein weiteres theoretisches Fundament, nicht zuletzt indem er Sinnlichkeit und sinnliche Wahrnehmung als eine neue Form des Wissens stark machte. Sulzers Einfluss ist nicht nur in seinen ästhetischen Arbeiten zu spüren, sondern schließt zentrale Formen der Beobachtung sowie Bestrebungen der wissenschaftlichen Systematisierung ebenso mit ein. Es klang bereits an, dass Sulzer, dessen Beiträge zur Naturkunde zahlreich, aber heute kaum mehr bekannt sind, ein ausgeprägtes Interesse an Apparaturen, Beobachtungsinstrumenten sowie an Praktiken der Beobachtung, des Sammelns und der wissenschaftlichen und ästhetischen Aneignung von Natur zeigte. Dabei plädierte er mehrfach für die Übertragung von Ordnungen, Praktiken, Terminologien und Verfahrensweisen der Naturgeschichte auf die Erfassung ästhetischer Phänomene. In der Allgemeinen Theorie finden sich zahlreiche methodische Anregungen zur Verwissenschaftlichung und Systematisierung sinnlicher Erkenntnis als Ästhetik. Darin traf er sich wiederum mit Lavater, dem es mit seinem „christlich geprägten Individualbegriff “83 und seiner eher enthusiastisch-anthropologischen Perspektive auch um eine naturwissenschaftliche Verankerung der Physiognomik ging, obgleich er einschränkte, dass er kein „wissenschaftliches System“84 bzw. „irgend eine Art von physiognomischem System“85 liefern wolle. Für die Naturkunde typische und etablierte Praktiken wie das Sammeln, Beobachten und Reflektieren waren für Lavater dennoch zentral und er wies auf spielerische Art und Weise nicht zuletzt in der illustrativen Ausstattung seines Werkes darauf hin. So findet sich etwa im zweiten Band von Lavaters Physiognomischen Fragmenten eine Vignette, die drei kindliche Figuren in ländlicher Szenerie zeigt. Das Mädchen unter ihnen inspiziert mit der Lupe in der Hand einen Schmetterling. Einer der beiden Jungen versucht ein Insekt mit seinem Hut zu fangen, während der andere im Gras liegend und vertieft in ein Fossil der Lektüre im Buch der Natur nachgeht. Dem kleinen Format der Vignette zum Trotz eröffnet sich hier ein ganzer Reigen an Assoziationen und Anspielungen. Nicht 81 Sulzer, Portrait, 918. 82 Ebd. 83 Althaus, Zum Porträt in der Sammlung Lavater, 92. 84 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, 120. 85 Ebd., 19.

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zuletzt kann die Illustration in Bezug auf das Sammeln ästhetischer Phänomene wie Gesichterprofile oder Gebärden und damit auch im Kontext von Sulzer gesehen werden, der einige Jahre zuvor in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste unter dem Lemma „Gebehrden“ vorgeschlagen hatte: Wenn man bedenkt, daß mancher Liebhaber der Naturgeschichte vermittelst der Beobachtung, der Zeichnungen und der Beschreibungen, die Gestalt und die Bildung vieler tausend Pflanzen und Insekte, so genau in die Einbildungskraft gefaßt hat, daß er die kleinesten Abaendrungen richtig bemerket; so laeßt sich auch gewiß vermuthen, daß eine, mit eben so viel Fleis gemachte und in Classen gebrachte Sammlung von Gesichtsbildungen und Gebehrden, und also ein daher entstehender eigener Theil der Kunst, eine ganz moegliche Sach sey. Warum sollte eine Sammlung redender Gebehrden weniger moeglich und weniger nuetzlich seyn, als eine Sammlung von abgezeichneten Muscheln, Pflanzen und Insekten? Und warum sollte man, wenn dieses Studium einmal mit Ernst getrieben wuerde, die dazu gehoerige Kunstsprach und Terminologie nicht eben so gut finden koennen, als sie fuer die Naturgeschichte gefunden worden?86

Lavaters Physiognomische Fragmente lassen sich durchaus als Einlösungsversuch dieser Idee lesen. Und dennoch setzten sich bei Sulzer nach Erscheinen des zweiten Bandes Zweifel durch, die gerade auf Lavaters sprachliche Darstellung und Terminologie zielten. Trotz „herrliche[r] Gedanken und […] edelste[r] Empfindungen“ zeigte sich Sulzer von der „finstern, verstiegenen und in’s Fanatische getriebenen Schreibart“ verstört.87 Sulzer, der sich bereits Jahrzehnte zuvor als „verunheiliget“88 bezeichnete, wollte dann doch im „Licht der Vernunft“89, das er und Bodmer und viele andere „mitten in der Dunkelheit“90 angezündet hatten, bleiben. Die Hoffnung, dass auch Lavater „Schritte näher an die gesunde Vernunfft“91 tun werde, gab er bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1779 nicht auf und verbat sich weiterhin in seinen Korrespondenzen jeglichen Spott und scharfe Kritik gegenüber dem „tieff denkenden Kopf “92 Lavater.

86 Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, 428. Vgl. dazu auch Décultot, Elisabeth, Sulzers „System der schönen Künste“, in: F. Grunert/G. Stiening (Hg.), Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume, Berlin 2011, 211–226. 87 Sulzer an Zimmermann, 27.09.1776, Leibniz Bibliothek Hannover, Ms XLII 1933 A I I, 93. 88 Sulzer an Künzli, 27.03.1759, Stadtbibliothek Winterthur, Ms BRH 512/72. 89 Moses Mendelssohn an Zimmermann, 1.09.1784, in: Bodemann, Zimmermann, 290. 90 Sulzer an Bodmer, 29.05.1775, Briefwechsel, 966. 91 Sulzer an Bodmer, 22.04.1776, ebd., 981. 92 Sulzer an Bodmer, 29.07.1775, ebd., 969.

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4. Epilog Zu den berührendsten Porträts in Lavaters Physiognomischen Fragmenten gehört das des ausgezehrten, schwer kranken Sulzer. Nicht nur weil es einen dem Tode nahe Menschen zeigt, sondern weil es Lavater zum Anlass nahm, noch einmal Sulzers Einfluss auf ihn öffentlich und zugleich in sehr persönlichen Worten zu reflektieren. Lavater charakterisierte Sulzer hier als einen seiner „liebsten“ Menschen, dem er „mehr als keinem Sterblichen zu danken“ habe und „dessen Schriften das reinste Gepräge von Wahrheitsliebe und selbstdenkender Kraft und Eleganz“93 in sich bergen. Lavaters kurzer, aber einprägsamer Text auf Sulzer ist das Zeugnis eines intensiven und für beide offensichtlich nachhaltigen Austausches, der jedoch nicht nur in gedruckten Schriften, sondern auch in Lebenszeugnissen, Briefwechseln und Tagebüchern dokumentiert ist und dessen Auswertung und damit verbundene neue Einblicke und Perspektiven noch längst nicht erschöpft sind.

93 Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 3, 1777, 342.

Personenregister

Die kursiven Angaben beziehen sich auf Nennungen in den Anmerkungen. Adelung, Johann Christoph 323, 329 Albers, Sophie [Catherine] 260, 280 Andreas Peter Graf von Bernstorff  242f Aristoteles 16, 75, 141, 174, 193 Arndt, Johann 302 Arnim, Georg Friedrich von 505 Arriaga, Rodrigo de 104, 105, 111, 114 August Wilhelm von Preußen 58 Auguste (Augusta) Louise, Gräfin von Bernstorff 243 Auguste Eleonore, Gräfin zu StolbergWernigerode 292, 300, 302, 309 Bacon, Francis 63, 111, 112 Bahrdt, Karl Friedrich 10, 335f, 346f, 355, 381, 394 Balsamo, Giuseppe (Graf Alessandro di Cagliostro/Alessandro Cagliostro) 69, 230, 233–238, 241, 249, 282, 284, 327, 329, 333, 466, Barruel, Augustin 344, 345 Basedow, Johann Bernhard 10, 58, 62, 81, 481, 483f, 486f, 499, 514 Batoni, Pompeo 184 Baumgarten, Alexander Gottlieb 54, 61f, 64, 118, 161 Beguelin, Nikolaus 201 Benelle, Jacob 477 Bengel, Johann Albrecht 66, 77, 302 Benoist, Antoine 185 Benz, Ernst 49–52 Bergmann, Horst 50 Bernoulli, Johann 189 Bertuch, Friedrich Justus 497

Biester, Johann Erich 10, 69, 281, 313, 321, 327, 331, 335f, 337f, 340, 344, 397 Bilfinger, Georg Bernhard 54, 112 Blake, William 10 Böckmann, Johann Lorenz 279–281 Bode, Johann Christoph 333f, 338 Bodmer, Johann Jacob 24, 28, 33, 36, 90f, 97, 202–205, 369, 383, 402f, 439, 501– 511, 513–516, 519 Boerhaave, Herman 65, 138, 158 Bogatzky, Carl Heinrich von 385 Böhme, Jakob (Jacob) 65, 77, 163, 302, 330 Bonnet, Charles 11, 34, 54, 62, 65, 108f, 117, 165–167, 175, 213, 218f, 222–224, 246f, 255, 260–268, 276, 283, 318, 321, 390, 439–446, 448, 450–455, 457–464, 469–472, 474–477, 479 Borch, Georgette van der 492 Borel, Pierre 118 Boßhard, Heinrich 482, 488, 498 Bötticher, Jacob Gottfried 183 Böttiger, Karl August 483f, 496, 500 Bourignon, Antoinette 302 Brandis, Joachim Dietrich 250f Braun, Heinrich 285f Breitinger, David 24, 33, 322, 383f, 501, 509–511 Breitinger, Johann Jacob (Jakob) 90f, 97 Bürkli, David 407, 416 Bürkli, Johann Heinrich 362f Burnet, Thomas 118f Bury, Friedrich 192f Büsching, Anton Friedrich 347, 349 Butini, Jean Antoine 246, 267 Butini, Pierre 246f, 249, 253, 256, 267

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Personenregister

Calov, Abraham 106 Calvin, Johannes 67, 83, 158 Campe, Joachim Heinrich 371, 483 Camper, Petrus 172, 174f Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von 406 Canz, Israel Gottlob (Gottlieb) 54, 118 Carl (Karl), Prinz von Hessen-Kassel 241–243 Carriera, Rosalba 184 Casaubon, Isaac 153 Casmann, Otto 106 Chodowiecki, Daniel 21, 155, 304f Clarke, Samuel 449, 452 Classen, Daniel 106 Claudius, Matthias 25, 69, 292, 300–302, 306 Clemens Wenzeslaus, Fürstbischof von Sachsen 301 Clemm, Heinrich Wilhelm 52f, 74 Cochem, Martin von 299 Coeler, Karl Friedrich 491 Condillac, Etienne Bonnot de 446 Cramer, Johann Andreas 107 Crugot, Martin 456, 467 Crusius, Christian August 211, 282 D’Eslon, Charles 279 Dann, Christian Adam 297, 300, 302 De Gasc, Barbara Rosina, geb. Lisiewska 189 Demeter, Ignaz Anton 289 Denon, Dominique-Vivant 176 Descartes, René 63, 331 Diderot, Denis 151 Dietrich, Johann Samuel 467f, 505 Dubos, Jean-Baptiste 517 Dürer, Albrecht 134 Dyck, Anton van 163, 182 Eberhard, Johann August 331 Ebert, Arnold 98 Edlinger, Johann Georg 183 Egli, Johann Heinrich 407, 416

Ehrmann, Johann 381 Engel, Karl Christian 53 Ernesti, Johann August 58, 79, 517 Escher, Heinrich 249, 373, 393 Ewald, Johann Ludwig 387f Fauche, Samuel 166 Feder, Johann Georg Heinrich 70, 301 Felgenhauer, Paul 391 Fénelon, Francois 302, 397, 467 Feyrabend, Antoni 376 Fichte, Johann Gottlieb 302 Ficino, Marsilio 60 Fludd, Robert 118 Flüe, Nicolaus von der 403, 406, 414 Fontenelle, Bernard le Bovier de 445, 469 Francke, August Hermann 302, 467 Fränkel, A.B.E. 317, 478 Franz Joseph (Josef), Graf von Thun und Hohenstein 238, 272 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 21 Frauenholz, Johann Friedrich 190 Friedrich II., König von Preußen (Friedrich der Große) 504 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 350 Füssli, Johann Heinrich 57, 202–205, 400, 447, 467, 502f, 505 Gabler, Matthias 290f Gainsborough, Thomas 184 Gaius Plinius Secundus Maior (Plinius der Ältere) 168 Gall, Franz Joseph 123, 144, 316f Galvani, Luigi 175 Garrik, David 468 Garve, Christian 253f, 258–260, 275, 300f, 306, 332 Gaßner (Gassner), Johann Joseph 215, 220, 225–233, 236, 244f, 255, 277, 282, 284, 289f, 326 Gasc, Barbara Rosina de 189 Gaupp, Eberhard 76, 231 Gebhardi, Brandanus 107

Personenregister

Gedicke, Friedrich 10, 69, 337 Gellert, Christian Fürchtegott 286, 312, 483f, 487, 517 Georges Luis Leclerc, Comte de Buffon 444 Gerhard, Johann 106 Gerhardt, Paul 406 Gervinus, Georg Gottfried 411 Geßner (Gessner), Georg 60, 173, 222, 292–294, 302, 318, 365, 398, 409 Gessner (Geßner), Salomon 205, 507 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 25, 183, 188, 190–192, 196, 399, 400, 507, 510 Gmelin, Eberhard 254, 279, 280 Göchhausen, Ernst August von 342, 345 Goethe, Johann Wolfgang [von] 9, 15–18, 20, 25, 30, 32, 34–38, 47, 68, 95, 99–101, 132, 152, 163, 169, 176, 181, 186f, 188, 199, 202, 235f, 313, 327, 380, 395, 482f, 485, 513–515 Goldbeck, Heinrich Julius von 335 Goßner, Johannes 289 Gottsched, Johann Christoph 34, 90f, 286 Graf von St. Germain 329 Graff, Anton 183f, 200f, 505, 517 Graff, Auguste, geb. Sulzer 505 Graß, Karl Gotthard 361f, 364, 369 Grave, Christian (nicht zu finden) Grebel (Grubel), Felix 202, 417, 467, 502 Grimm, Jakob 177 Grimm, Wilhelm 177 Grolmann, Ludwig Adolf Christian 334, 336, 345 Groznyj, Ivan 316 Gugomos, Gottlieb Franz von 329 Guyon, Jeanne-Marie Bouvier de La Motte (Madame Guyon) 163, 302 Häfeli, Johann Kaspar (Caspar) 387, 392, 482, 487, 489–493, 498, 500 Hagedorn, Friedrich von 286 Hahn, Philipp Matthäus 58, 70 Haller, Albrecht von 54, 110, 120, 158, 286, 406, 444f, 512, 517

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Hamann, Johann Georg 10, 58, 67, 163, 178, 187, 275, 296, 302, 311, 327, 351, 490 Hardenberg, Georg Philipp Friedrich (Novalis) 10, 47 Hardenberg, Karl August von 288 Hartknoch, Johann Friedrich 311 Hasenkamp, Johann Gerhard 76 Hegner, Ulrich 242, 243, 272 Heineken, Minna 63 Heinrich VIII., König von England 432 Heinrich XLIII., Graf von Reuß, Plauen und Kostritz 245 Heinse, Johann Jakob Wilhelm 28 Helmont, Johann Baptista von 65, 235 Henke, Heinrich Philipp Conrad 294, 303 Hennings, Justus Christian 62, 73, 79, 81 Heraklit 178 Herder, Johann Gottfried 9, 15, 25, 34f, 58, 65, 70, 87, 92–97, 102, 163, 169, 172, 178, 187f, 190–193, 296, 300–302, 327, 362, 390, 490, 495, 513f Hermann, Johann Christian 345 Hermann, Rudolph 61 Hess (Heß), Felix 28, 41f, 44, 50, 57–60, 71, 75f, 202f, 221f, 442, 447, 449, 452, 467, 502f, 505 Hess (Heß), Johann Jacob 28, 322 Hess, [Johann] Heinrich 33 Hess, Martha 203 Hirscher, Johann Baptist 289 Hirt, Alois 497 Hirzel, Salomon 403 Hoadly, Benjamin 61 Hoepfner, Ludwig Julius Friedrich 186 Hofbauer, Klemens Maria 288 Hoffmann, Leopold Alois 345 Hogarth, William 169 Holzhalb, Johann Rudolf 26 Homer 158, 203 Honoré-Gabriel, Comte de Mirabeau 237 Horapollon 176 Hottinger, Johann Jacob 231, 509 Hotze, Johannes 234, 249f

524

Personenregister

Humboldt, Alexander von 176, 484 Hume, David 452, 458 Huter, Carl 148 Iselin, Isaak 482 Jacobi, Friedrich Heinrich 301f, 308, 466f Jaucourt, Louis de 151 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 58, 301 Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 232 Joseph, Jacques (Nasenjoseph, Noseph) 148 Jung-Stilling, Johann Heinrich 10, 15, 238, 278f, 300 Junker, Carl Ludwig 185 Jussieu, Antoine-Laurent de 470 Kampe, Joachim Heinrich 247, 272 Kant, Immanuel 51, 54–58, 66, 71, 75, 78–81, 177, 221, 301f, 320f, 326, 349, 378, 460, 466f, 478, 500 Karamzin (Karamsin), Nikolaj Michailowitsch 311–324 Karl Friedrich, Markgraf von Baden 239, 279 Karl Gotthelf, Freiherr von Hund 351 Karl II. Theodor, Kurfürst von Bayern 298 Karl XII., König von Schweden 75 Karl, Freiherr vom Stein zum Altenstein 288 Karoline (Caroline) Friederike, Gräfin von Berg, geb. von Haeseler 493, 497, 499 Kästner, Abraham Gotthelf 512 Katharina II., Zarin von Russland (Katharina die Große) 315 Kauffmann, Angelika 184 Kaufmann, Christoph 231f, 381f, 484, 496 Kaufmann, Ulrich 232 Kehrer, Karl Christian 196 Kepler, Johannes 63 Kindermann, Eberhard Christian 117 Kirchberger, Niklaus Anton 460

Klecks, Simon 190 Klettenberg, Susanna (Susanne) von 17, 100 Kleuker, Johann Friedrich 302 Klopstock, Friedrich Gottlieb 9, 25, 34, 58f, 63, 83, 89, 91, 96–98, 107, 158, 287, 378, 386, 400, 493, 508, 511 Klotz, Christian Adolf 400f., 514 Kluge, Carl Alexander Ferdinand 254, 259 Koester, Martin Gottfried 345 Koller, Johann Jakob 26 Körner, Anna 30 Krause, Christian Gottfried 400 Lairesse (Läreße), Gerard de 138 Lambert, Johann Heinrich 467 Landolt, Anna 203 Langhans, Daniel 246, 248f, 280 Lavater, Anna, geb. Schinz 247–252, 268, 312 Lavater, Diethelm 245, 247–249, 273, 343, 355f. Lavater, Heinrich 28, 31 Lavater, Luise 292 Lavater, Nette 300 Lavater, Regula, geb. Escher vom Glas 28 Le Rond, Jean-Baptiste (d’Alembert) 151 Leibniz, Gottfried Wilhelm 54, 64, 66, 75, 112, 114, 219f, 318, 378, 445, 447, 449f, 452, 458f, 475, 505 Lenz, Jakob Michael Reinhold 16, 35, 312, 314f, 317, 320, 381 Leochares 174 Leopold III. Friedrich Franz, Fürst und Herzog von Anhalt-Dessau 481–483, 485, 490 Lessing, Gotthold Ephraim 183, 189f, 199–201, 301f, 332, 399, 466, 468, 503 Leuchsenring, Franz Michael 333 Leveling, Heinrich Palmaz 290f Lichtenberg, Georg Christoph 10, 169, 315, 324, 395, 478 Linné, Carl von 65, 172, 177 Lips, Johann Heinrich 31, 155, 163, 202f, 305, 365

Personenregister

Lisiewsky, Christoph Friedrich Reinhold 189 Loën, Johann Michael von 117 Lombroso, Cesare 144, 146 Lopuchin, Ivan Vladimirovič 311 Louise Henriette Wilhelmine, Fürstin und Herzogin von Anhalt-Dessau 11, 481, 483, 489 Ludewig I., Großherzog von HessenDarmstadt (Ludwig X.) 325, 347, 355f Lüdke, Friedrich Germanus 59, 385, 477 Ludwig I., König von Bayern 288 Ludwig XIV., König von Frankreich 185 Luise Christine, Gräfin von Reuß, Plauen und Kostritz 245 Luise Ulrike von Preußen, Königin von Schweden 58 Luther, Martin 58, 66f, 75, 83, 302, 326, 432–434 Macklot, Johann Michael 278 Maganephton 239 Malebranche, Nicolas 54 Marcard, Heinrich Matthias 248, 252, 255, 264, 271, 280 Marcus Iunius Brutus 429 Marcus Porcius Cato d.J. 429 Maria Fjodorowna, Zarin von Russland 60 Matthisson, Friedrich von 321, 490, 497 May, Georg Oswald 189 Mayr, Beda 285, 287 Meier, Georg Friedrich 54, 62 Meister, Heinrich 28 Melchior Diepenbrock, Fürstbischof von Breslau 289 Mendelssohn, Moses 11, 50, 54, 70, 76, 302, 318f, 395, 417, 441, 454, 465, 467f, 470–475, 477–479, 484, 503, 505 Mercati, Michele 60 Merck, Johann Heinrich 182, 336, 513 Merz, Aloys 299 Mesmer, Anton 231, 244–247, 249, 251, 253, 258, 272f, 278, 282, 327, 391

525

Mettrie, Julian Offray de La 56 Michaelis, Johann David 347, 456 Milton, John 34, 90, 97, 101 Mirandola, Giovanni Pico della 74 Montravel, Tardy de 258, 260 More, Henry 59 Moritz, Karl Philipp 10, 211f, 243, 262, 330 Möser, Justus 196, 199, 490 Müller, Friedrich Christoph 181–183, 186, 193, 196f, 202 Müller, Johann Georg 187, 300, 302, 308 Muralt, Anna Barbara von 31f Muralt, Beat Ludwig von 402 Myers, Frederic 214 Mynsicht, Adrian von (Theosophus, Henricus Madathanus) 163 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser von Frankreich 350 Nebe, Johann August 39f, 43–47 Needham, John Tuberville 444 Neufville, Matthias Wilhelm de 249 Newton, Isaac 75, 156, 158, 177f, 449, 469, 505 Nicolai, Friedrich 10, 36, 69, 189, 234, 237, 281, 284, 294, 297, 306f, 321, 327– 329, 333, 337, 467, 477, 494, 503, 505, 508, 514 Niemeyer, August Hermann 302 Nieuwentijt, Bernard 391 Nikolaus Ludwig, Graf von Zinzendorf 302 Nösselt, Johann August 228 Novikov, Nikolaj Ivanovič 312 Obereit, Jakob Hermann 59 Ochs, Peter 420 Oelenhainz, August Friedrich 19 Oetinger, Friedrich Christoph 10, 50f, 53, 57–59, 64, 66, 68, 70f, 73f, 77, 79, 81–83, 302 Orell, Conrad 318 Orelli, Johann Conrad von 363

526

Personenregister

Paine, Thomas 430 Paracelsus 235, 355 Pestalozzi, Johann Heinrich 381, 391 Petersen, Johann Wilhelm 109, 302 Petersen, Johanna Eleonora 109, 302 Peuschel, Christian Adam 152–154, 164 Pfeiffer, Carl Hermann 19, 191 Pfenninger, Johann Konrad 69, 76, 290, 291, 300–302, 305, 307, 314 Philipp Ludwig Wenzel, Graf von Sinzendorf 197 Pigott, Marguerite-Henriette 247 Pitt, William 174 Pius VI., Papst 232 Planta, Martin von 397, 411 Plato[n] 128, 158, 163, 178, 465 Plessing, Viktor Leberecht 332 Pockels, Carl Friedrich 212 Poiret, Pierre 302 Polyklet 168 Pontoppidan, Eric 107 Pope, Alexander 178 Porta, Giambattista della 123, 128, 141, 164 Puységur, Armand Marie Jacques de Chastenet de (Marquis de Puységur) 231, 244, 246, 248f, 253f, 260f, 268– 271, 273, 279f, 283 Rabener, Gottlieb Wilhelm 286 Rambach, Johann Jakob/Jacob 406 Rameaus, Jean-Philippe 410 Ramler, Karl Wilhelm 26, 188, 467 Réaumur, René Antoine Ferchault de 469 Recke, Elisabeth (Elisa) Charlotte Con­ stanzia von der 234, 241, 333, 489, 493 Reich, Philipp Erasmus 35, 183, 201 Reichard, Heinrich August Ottokar 345 Reichardt, Johann Friedrich 497 Reimarus, Herrmann Samuel 51, 56, 66, 73, 484 Reinbeck, Johann Gustav 54 Reubell, Jean-François 419, 428, 430, 433 Reynolds, Joshua 184, 190f

Riese, Johann Philipp 345 Rigaud, Hyacinthe 197 Rijn, Rembrandt Harmenszoon van (Rembrandt) 182, 305 Rinderknecht, Katharina 222, 510 Ritter, Johann Wilhelm 175 Robinet, Testard 172 Rochow, Friedrich Eberhard von 483 Rode, Christian Bernhard von 483, 505 Rorschach, Hermann 138 Rosenfels, Karl Ludwig Czekelius von 279 Rousseau, Jean-Jacques 409–411, 458, 466 Rubens, Peter Paul 182 Rüdiger, Andreas 61, 79 Ruoesch, Johann Baptist von 300 Sachs, Levi Pinkus 478 Sack, August Friedrich Wilhelm 348, 447, 454, 467, 505 Sailer, Andreas 287 Sailer, Johann Michael 285–309, 330 Sailer, Maria, geb. Rieger 287 Saint-Martin, Louis Claude de 69, 330 Saiter, Johann Gottfried 37 Salat, Jakob 301 Sales, Franz von 302 Salzmann, Christian Gotthilf 483 Sarasin-Battier, Gertrud 234 Sarasin, Jakob 234, 236f, 283 Sarthe, Jacques-Louis Moreau de la 172 Savigny, Friedrich Karl von 288 Scharff, Johannes 106 Schellenberg, Johann Rudolf [von] 155, 305, 515 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 302, 308 Schiller, Friedrich 192 Schlatter-Bernet, Anna 300 Schleuen, Johann David, d. Ä. 189 Schlüter, Andreas 505 Schmid, Christoph von 289 Schmidlin, Johannes 374, 404, 406, 408f, 411, 414, 416 Schmolck, Benjamin 406

Personenregister

Scholem, Gershom 51 Schröpfer (Schrepfer), Johann Georg 69, 211, 230, 282 Schultheß, Barbara 374, 498 Schultz, Franz Albert 346 Schwar[t]z, Johann Georg 311 Schweizer, Johann Jakob 426 Semler, Johann Salomo (Samuel) 10, 51, 56, 66, 68f, 91, 96, 227–231, 277, 282, 302, 329, 331, 348, 508 Senebiers, Jean 512 Sergel, Tobias 203 Sokrates 138, 471f, 476 Sonnenfels, Joseph von 198 Spalding, Georg Ludwig 274 Spalding, Johann Joachim 25, 33, 50, 53f, 57f, 61, 66, 71f, 75f, 88f, 92, 118, 202, 213, 219, 221, 261, 271f, 295, 301f, 400, 443, 446f, 452, 455f, 467, 471, 477, 495, 503 Spinoza, Baruch de 467 Sprengseisen, Christian Friedrich von 334 Stange, Carl 52 Starck, Johann August 69, 325–327, 329–357 Starck, Maria Albertina, geb. Schultz 346 Stattler, Benedikt 287f, 308 Stein, Charlotte von 99f, 186f, 482 Steiner, Johann Heinrich 35 Sterne, Laurence 190f Stolberg, Friedrich Leopold 362 Stolz, Johann Jakob 392, 395 Strauß, David Friedrich 347 Strobl, Johann Baptist 183 Suárez, Francisco (Francesco) 104f Sulzer, Johann Georg 11, 28, 133, 194f, 197–202, 447, 454, 467, 501–520 Swedenborg, Emanuel 10, 50f, 53, 57–60, 66–83, 119f, 220f, 320, 326, 329, 460f Swift, Jonathan 158 Sykes, Arthur Ashley 65 Tangl, Franz 306 Tell, Wilhelm 403, 408, 412, 414, 421, 429 Teller, Wilhelm Abraham 58, 302 Teller, Wilhelm August 348

527

Tersteegen, Gerhard 406 Thiebault, Dieudonné 201 Thomas von Aquin 104f Thomas von Kempen 302 Thourneyser, Etienne 219, 447–499, 452, 456 Tietz, Johann Daniel 439 Tischbein, Heinrich Jacob 205 Tischbein, Johann Friedrich August 190– 192, 205 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 203 Tissot, Auguste 246, 255, 267 Tobler, Anna Barbara 311 Tobler, Anna Margaretha 311 Tobler, Franz Heinrich 312 Tobler, Georg Christoph 234 Tobler, Heinrich 322 Tobler, Johann 322 Tobler, Johann Konrad 312 Tobler, Johannes 311f, 478 Töllner, Johann Gottlieb 348 Tour, Maurice Quentin de la 184–186 Trembley, Abraham 444 Triller, Daniel 406 Tschiffeli, Margarethe 280 Turgenev, Ivan Petrovič 311f, 324 Tüscher, Elisabeth, geb. Aeschlimann 213, 222–224, 261, 267, 326, 460–462 Tyrtaios 399 Unzer, Johann August 54 Vejtbrecht, Iogann Jakob 313 Ventzky, Georg 118 Villette, Charles de 118f Voigt, Jenny von 490 Voltaire (François-Marie Arouet) 315, 471 Waser, Johann Heinrich 377f Watts, Isaac 119 Weigel, Valentin 302 Weishaupt, Adam 337, 339 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 290 Werkmeister, Benedikt Maria 286

528

Personenregister

Wessenberg, Ignaz Heinrich von 289 West, Benjamin 184 Wieland, Christoph Martin 10, 25, 34, 91, 190, 491, 508f Wienholt, Arnold 254, 256, 260, 280 Wilhelm, Herzog von Gloucester 247 Winckelmann, Johann Joachim 168, 174, 202f, 481, 483f, 497 Winkelhofer, Sebastian 289 Wolff, Christian 54, 56, 64f, 73, 75, 112, 194, 383, 446, 491, 505, 517

Zanchi, Girolamo 106 Zellwenger, Laurenz 402 Zimmermann, Christoph 426 Zimmermann, Johann Georg 63, 187, 336, 345, 469, 487, 492, 494–496, 499, 505–515, 519 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 75, 163, 302 Zollikofer, Georg Joachim 40, 43, 58, 59, 300–302, 485f, 487f, 490 Zwingli, Huldrych 158, 163, 302

Ortsregister

Die kursiven Angaben beziehen sich auf Nennungen in den Anmerkungen. Aachen 288 Aargau 426 Altdorf 290f Amsterdam 40 Aresing 287 Augsburg 288f, 299, 301, 306 Bad Ems 514 Barth 50, 57, 60, 88, 202, 213, 221, 400, 443–447, 456, 467, 503, 505 Basel 323, 414, 430, 432 Benediktbeuern 286 Berditschew 49 Berlin 26, 28, 33, 200–202, 237, 285, 318, 320, 334, 336, 342, 347, 400, 441, 444, 453, 455f, 466–468, 470, 474, 477, 487, 495f, 501–505, 515 Bern 246, 423, 460 Biel 224, 326, 460f Big Sur 214f Bonn 123, 288 Bremen 32, 249, 251, 280f, 387, 491, 495, 500 Breslau 288f, 478 Bülach 291 Camenz 189 Cologny 477 Dardagny 477 Darmstadt 325, 327, 333, 336, 342, 347f, 354f Dessau 382, 466, 481–483, 488f, 491–493, 496, 498 Dietlikon 406 Dillingen 288f, 292, 301, 330

Donauwörth 291 Dresden 200 Ellwangen 225, 227f Esalen 215 Florenz 60 Frankfurt am Main 249, 334 Fürth 478 Genf 245f, 248, 260, 447, 469f, 479 Genthod 469, 477 Gießen 345, 347f Göteborg 58 Göttingen 330, 346f Grüningen 417, 422, 502 Halberstadt 188f Hannover 248 Heilbronn 280 Ingolstadt 288–290, 298, 305 Jelgava 347 Jena 176 Karlsruhe 279, 280 Koblenz 514 Köln 288 Königsberg 320, 326, 347f, 351–353 Kopenhagen 60, 76, 241, 243, 291, 327 Kriwoi Rog 49 Landsberg am Lech 288 Landshut 288

530

Ortsregister

Lassan 447 Lausanne 246, 255, 261 Leipzig 35, 230, 439, 484, 487, 503 Lindau 504 London 184, 202f, 447 Lyon 244, 247, 256

Sokal 49 St. Gallen 292, 300 Stallikon 322 Stockholm 58 Straßburg 187, 234, 244f, 268, 279f Suckow 505

Mailand 184 Metz 477 Mitau siehe Jelgava Moskau 312–314, 316f, 323 München 231, 287f, 290, 304

Trogen 504

Neapel 128, 184 Neuberg/Mürz 306 Nikolajew 49 Nürnberg 290 Paris 246, 327, 333, 346, 350, 353, 402 Petersburg 312, 346f Pondorf 232, 289 Pyrmont 187 Regensburg 288f. Richterswil am Zürichsee 249 Rom 30, 174, 192, 203, 288, 321 Rümikon 482 Schaffhausen 300, 504 Schinznach 397f, 413f

Uman 49 Uppsala 199f. Wädenswil 61 Weimar 17, 395, 492, 496 Wernigerode 300 Wetzikon 406 Wien 22, 231 Winterthur 35, 155, 422 Wismar 346 Wolfenbüttel 190 Wörlitz 488f, 491–496, 500 Zürich 17, 20–28, 30f, 33, 66, 163, 165, 187, 203, 238, 251–253, 261, 291f, 299f, 307, 311, 318, 321, 323, 333, 383, 343, 361f, 367, 377, 379, 382f, 386f, 395, 399, 403, 412–415, 417, 419f, 422–427, 429–434, 453, 460, 469, 474, 486, 488, 495, 501f, 504, 509, 511